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Film- und Fernsehanalyse

0403
2023
978-3-8385-5981-0
978-3-8252-5981-5
UTB 
Lothar Mikos
10.36198/9783838559810

Die Rezeption von Filmen und Fernsehsendungen ist sowohl vom Wissen und den Emotionen der Zuschauer:innen als auch von sozialen Kontexten abhängig. Es reicht daher nicht aus, die "Sprache" von Film und Fernsehen zu analysieren, sondern es müssen auch die Form, die Gestaltung, die Dramaturgie und der Inhalt auf die Kontexte der Rezeption bezogen werden. Dieses Standardwerk von Lothar Mikos ist eine erprobte Anleitung zur Durchführung von Film- und Fernsehanalysen. In der 4. Auflage neu hinzugekommen sind u. a. eine Beispielanalyse zum transmedialen Storytelling in der Echtzeiterzählung "DRUCK" sowie ein Vergleich zur transatlantischen Narration in den Serien "Borgia" und "Die Borgias". Ein Must-have für alle, die Filme und Fernsehsendungen systematisch untersuchen wollen.

<?page no="0"?> ISBN 978-3-8252-5981-5 Die Rezeption von Filmen und Fernsehsendungen ist sowohl vom Wissen und den Emotionen der Zuschauer: innen als auch von sozialen Kontexten abhängig. Es reicht daher nicht aus, die „Sprache“ von Film und Fernsehen zu analysieren, sondern es müssen auch die Form, die Gestaltung, die Dramaturgie und der Inhalt auf die Kontexte der Rezeption bezogen werden. Dieses Standardwerk von Lothar Mikos ist eine erprobte Anleitung zur Durchführung von Film- und Fernsehanalysen. In der 4. Auflage neu hinzugekommen sind u. a. eine Beispielanalyse zum transmedialen Storytelling in der Echtzeiterzählung „DRUCK“ sowie ein Vergleich zur transatlantischen Narration in den Serien „Borgia“ und „Die Borgias“. Ein Must-have für alle, die Filme und Fernsehsendungen systematisch untersuchen wollen. Medien- und Kommunikationswissenschaft | Pädagogik 4. A. Film- und Fernsehanalyse Mikos Dies ist ein utb-Band aus dem UVK Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehr- und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel Lothar Mikos Film- und Fernsehanalyse 4. Auflage 2023_03_03_5981-5_Mikos_M_2415_PRINT.indd Alle Seiten 2023_03_03_5981-5_Mikos_M_2415_PRINT.indd Alle Seiten 03.03.23 09: 28 03.03.23 09: 28 <?page no="1"?> utb 2415 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Brill | Schöningh - Fink · Paderborn Brill | Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen - Böhlau · Wien · Köln Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Narr Francke Attempto Verlag - expert verlag · Tübingen Psychiatrie Verlag · Köln Ernst Reinhardt Verlag · München transcript Verlag · Bielefeld Verlag Eugen Ulmer · Stuttgart UVK Verlag · München Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld Wochenschau Verlag · Frankfurt am Main UTB (M) Impressum_03_22.indd 1 UTB (M) Impressum_03_22.indd 1 23.03.2022 10: 23: 51 23.03.2022 10: 23: 51 <?page no="2"?> Prof. Dr. Lothar Mikos lehrt Medien- und Kommuni‐ kationswissenschaft an der Freien Universität Berlin, der Filmuniversität Babelsberg und der Alpen-Adria Universität Klagenfurt. <?page no="3"?> Lothar Mikos Film- und Fernsehanalyse 4., überarbeitete und erweiterte Auflage UVK Verlag · München <?page no="4"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.36198/ 9783838559810 4., überarbeitete und erweiterte Auflage 2023 3., überarbeitete und aktualisierte Auflage 2015 2., überarbeitete Auflage 2008 1. Auflage 2003 © UVK Verlag 2023 ‒ ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Ver‐ vielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: siegel konzeption | gestaltung CPI books GmbH, Leck utb-Nr. 2415 ISBN 978-3-8252-5981-5 (Print) ISBN 978-3-8385-5981-0 (ePDF) ISBN 978-3-8463-5981-5 (ePub) Umschlagabbildung: © Farknot Architect - Adobe Stock; © Devrimb - iStock Autorenfoto: privat Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 8 10 29 1 30 1.1 34 1.2 40 1.3 46 2 52 2.1 55 2.2 58 2.3 61 2.4 64 2.5 68 2.6 78 3 87 3.1 90 3.2 93 3.2.1 107 3.2.2 112 3.2.3 114 3.3 117 121 1 122 1.1 128 Inhalt Vorwort zur 4. Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teil I: Theorie und Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Kommunikationsmedien Film und Fernsehen . . . . . . . . . . . . . Film- und Fernsehverstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Film- und Fernseherleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zitierte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erkenntnisinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt und Repräsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Narration und Dramaturgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Figuren und Akteur: innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ästhetik und Gestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zitierte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Systematik der Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Operationalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeitsschritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Präsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zitierte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teil II: Film- und Fernsehanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt und Repräsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Plot und Story I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 1.2 131 1.3 135 1.4 138 1.5 142 2 146 2.1 151 2.2 160 2.3 166 2.4 172 2.5 177 2.6 184 3 192 3.1 201 3.2 205 3.3 208 3.4 211 3.5 216 3.6 220 3.7 223 4 230 4.1 231 4.2 248 4.3 256 4.4 277 4.5 282 4.6 288 4.7 293 4.8 304 4.9 307 5 317 5.1 320 5.2 333 5.3 346 Raum und Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interaktionsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Situative Rahmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zitierte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Narration und Dramaturgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Plot und Story II, Sujet und Fabel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Horizontale und vertikale Dramaturgie in Fernsehserien . Spannung und Suspense . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Komik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bedrohung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zitierte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Figuren und Akteur: innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personen und Rollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stars und Celebrities . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Identifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Empathie und Sympathie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Parasoziale Interaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Immersion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zitierte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ästhetik und Gestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kamera . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Licht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schnitt und Montage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausstattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ton und Sound . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Visuelle Effekte und Spezialeffekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3D-Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zitierte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gattung, Genre und Format . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Intertextualität vs. Transmedia Storytelling . . . . . . . . . . . . . Diskurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> 5.4 354 5.5 359 5.6 368 385 1 386 2 392 3 400 4 408 5 417 6 423 7 438 449 1 449 2 451 3 456 4 459 5 460 6 462 7 462 8 463 467 1 468 2 469 3 480 Lebenswelten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Produktion und Markt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zitierte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teil III: Beispielanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Handlungsleitende Themen in »Terminator 2 - Judgement Day« Blockbuster als Metagenre: »Der Herr der Ringe« . . . . . . . . . . . . Transmedia Storytelling und Echtzeiterzählung in »DRUCK« . . Hybridität in Fernsehformaten: die Beispiele »Ich bin ein Star - Holt mich hier raus! « und »Game of Thrones« . . . . . . . . . . . . . . . Adaptionsstrategien in Showformaten: »Germany’s Next Topmodel« und »Wer wird Millionär? « . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dichte Erzählung: Spannungsinszenierung in »24« . . . . . . . . . . . Transatlantische Narration in den Serien »Borgia« und »Die Borgias« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Film- und Fernsehanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Filmtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fernseh- und Medientheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Genretheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Intertextualität und Transmedia Storytelling . . . . . . . . . . . . Diskurstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lebenswelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Film- und Fernsehmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Index . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Filme und Fernsehsendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 7 <?page no="8"?> Vorwort zur 4. Auflage Als die erste Auflage dieses Lehrbuches im Jahr 2003 erschien, gab es noch keinen Gedanken daran, dass es fast 20 Jahre später eine vierte Auflage geben würde. Die Medienlandschaft hat sich in dieser Zeit durch Digitali‐ sierung und Globalisierung stark gewandelt. Filme und Fernsehsendungen werden zwar nach wie vor produziert, aber die Technik der Herstellung hat sich ebenso gewandelt wie die Formen der Verbreitung und der Nutzung. Die Veränderungen werden in der aktuellen Neuauflage des Buches berück‐ sichtigt. Alle Kapitel wurden aktualisiert und überarbeitet. Dabei flossen nicht nur neue Erkenntnisse der Film- und Fernsehwissenschaft ein, sondern auch die veränderte Medienlandschaft wurde berücksichtigt. Drei Kapitel sind neu hinzugekommen (II.3.2, III.3 und III.7), alle anderen Kapitel wurden aktualisiert und überarbeitet. Wenn die vierte Auflage eines Buches gedruckt wird, scheint es den Leser: innen nicht nur zu gefallen, sondern sie können es offenbar auch benutzen. Daher gilt mein Dank allen bisherigen Leser: innen. Wissenschaft‐ liche Erkenntnis, die in ein Lehrbuch einfließt, entsteht nur selten in einsamer Lektüre- und Denkarbeit, sondern im kommunikativen Austausch mit Kolleg: innen und Studierenden. Daher gebührt mein Dank allen, mit denen ich in den vergangenen Jahren Aspekte der Film- und Fernsehanalyse diskutieren durfte. Sie alle namentlich zu nennen, würde den Rahmen sprengen. Einigen Kolleg: innen und Freund: innen möchte ich dennoch persönlich danken, ohne euch wäre mein Leben an der Hochschule und der ‚Scientific Community‘ wesentlich ärmer gewesen: Shari Winona Adlung, Gunhild Agger, Margret Albers, Ilona Ammann, Stefanie Armbruster, Lukas Arnold, Ben Bachmair, Luca Barra, Hauke Bartel, Cathrin Bengesser, Stina Bengts‐ son, Göran Bolin, Esra Bonkowski, Uwe Breitenborn, Christina Burkhardt, Lea Busch, Jörg Buttgereit, Deborah Castro Marino, José Manuel Damasio, Matilde Delgado, Alexander Dhoest, Sarah Dombrink, Cia Edström, Maria Edström, Susanne Eichner, Audun Engelstad, Gina Plana Espinet, Andrea Esser, Karin Fast, Iliana Ferrer, Julia Fidel, Regina Frieß, Lea Gamula, Johannes Gawert, Stephan Görland, Udo Göttlich, Andreas Halskov, Kim Toft Hansen, Christine Hartmann, Line Hassall Thomsen, Conrad Heberling, Olof Hedling†, Katja Herzog, Sebastian Hienzsch, Ulrich Hienzsch, Annette <?page no="9"?> Hill, Matt Hills, Anna Jakisch, Pia Majbritt Jensen, Anna Jurzik, Jesko Jockenhövel, Stan Jones, Richard Kilborn, Barry King, Anna Luise Kiss, Barbara Knabe, Tobias Krell, Nicole Kühner, Leif Ove Larsen, Sandra Lehner, Christine Linke, Sonia Livingstone, Giancarlo Lombardi, Kenneth Longden, Juan Francisco Gutiérrez Lozano, Peter Lunt, Peter Mänz, Janet McCabe, Chris Meir, Andreas Meissner, Ulrich Michel, Claudia Mikat, Kathrin Müller, Klaus Neumann-Braun, Antonia Nooke, Hugh O’Donnell, David Levente Palatinus, Corinna Peil, Marta Perrotta, Anna-Sophie Philippi, Eric Pommer, John Pommer†, Emili Prado, Elizabeth Prommer, Roel Puijk, Julia Queck, Kim Katharina Richter, Kristina Riegert, Alexander Rihl, Edda Rihl, Hella Rihl, Willem Rihl, Dominik Rohrmoser, Anett Sass, Oliver Schablitzki, Re‐ becca Scharlach, Thomas Schick, Kim Christian Schrøder, Carolin Schwarz‐ mann, Stefano Semeria, Francesca Shafé, Tim Soltau, Hans-Jörg Stiehler, Marcus Stiglegger, Paula Syniawa, Claudia Töpper, Joachim Trebbe, Sue Turnbull, Hilde van den Bulck, Verena Veihl, Miguel Vicente, Lea von den Steinen, Anne Marit Waade, Ingela Wadbring, Lutz Warnicke, Michael We‐ del, Carolin Wenzel, Elke Weissmann, Dieter Wiedemann, Gary Whannel, Rainer Winter, Peter Wuss, Yulia Yurtaeva-Martens und Lina Mareike Zopfs. Karin Dirks, Mareike Ellerhoff, Julia Fidel, Evelin Haible, Katja Herzog, Juliane Kranz, Leah Lomb, Linda Pfaff und Verena Veihl leisteten einen we‐ sentlichen Beitrag zur Fertigstellung des Manuskripts dieser und vorheriger Auflagen. Sonja Rothländer begleitete das Projekt von der ersten bis zur dritten Auflage mit Geduld und sachkundiger Kritik. Bei Uta Preimesser und Nadja Hilbig war die Betreuung dieser aktuellen Auflage gut aufgehoben. Ich widme dieses Buch allen Studierenden, mit denen ich Fragen der Film- und Fernsehanalyse diskutieren durfte - und denjenigen Studierenden, denen das Buch eine Hilfe war. Berlin, im Januar 2023 Vorwort zur 4. Auflage 9 <?page no="10"?> Einleitung Wir leben offenbar in einem visuellen Zeitalter. Ohne audiovisuelle Medien geht es nicht mehr. Videos auf Nachrichtenportalen oder auf YouTube, Filme im Kino, im Fernsehen oder auf Streaming-Plattformen, Fernsehsendungen im linearen Fernsehen oder in den Mediatheken, Bilder sind überall. Im Jahr 2020 gab es laut der Mavise-Datenbank des European Audiovisual Observatory 10.839 Fernsehkanäle und 2799 On-Demand-Plattformen in Europa (vgl. Schneeberger 2021, S.-6). Die massive Präsenz audiovisueller Medien hat auch dazu geführt, dass die Beschäftigung mit Filmen und Fernsehsendungen sich weiterhin großer Beliebtheit erfreut. Essayist: innen, Journalist: innen und Wissenschaftler: in‐ nen äußern An- und Einsichten, die sie einerseits aus eigener Anschauung von Filmen und Fernsehsendungen, andererseits aus der Reflexion gewin‐ nen, indem sie über das Gesehene nachdenken und es in theoretische, historische oder pragmatische Zusammenhänge einordnen. Mit anderen Worten: Sie stellen einen Film oder eine Fernsehsendung in einen Kon‐ text. Ähnlich gehen auch die geneigte Kinogängerin und der geneigte Fernsehzuschauer vor, wenn sie sich mit dem, was sie gesehen haben, aus‐ einandersetzen. In Gesprächen nach einem Kinobesuch wird das Gesehene bewertet und eingeordnet. Das Gleiche geschieht beim Austausch über eine Fernsehsendung. Den britischen Medienwissenschaftler Martin Barker hat das zu der Feststellung verleitet: »Jeder analysiert Filme« (Barker 2000, S. 1). Doch wenn jede: r Filme analysiert, stellt sich die Frage, worin sich die wissenschaftliche Analyse von der alltäglichen unterscheidet. Im Duden heißt es zum Stichwort »Analyse«: »Untersuchung, bei der etwas zergliedert, ein Ganzes in seine Bestandteile zerlegt wird« (Duden 2022). Auf Filme und Fernsehsendungen bezogen bedeutet dies, dass alle Komponenten oder Faktoren, die einen Film oder eine Fernsehsendung ausmachen, untersucht werden müssen, und zwar systematisch. Das un‐ terscheidet die wissenschaftliche Analyse von der alltäglichen, die eher unsystematisch vorgeht und sich häufig auf einen gesamten Film bezieht, nicht aber seine einzelnen Komponenten untersucht. Im Alltag werden Filme und Fernsehsendungen zudem häufig inhaltlich interpretiert. Dabei wird ihnen ein subjektiver Sinn zugewiesen. Wissenschaft sollte aber nicht auf die Bildung von subjektivem Sinn, sondern auf die Produktion von <?page no="11"?> objektivierter Erkenntnis, die intersubjektiv nachvollziehbar ist, abzielen. Ziel dieses Buches ist es daher, theoretisches Rüstzeug und methodisches Handwerkszeug für die systematische Untersuchung von Filmen und Fernseh‐ sendungen zur Verfügung zu stellen. Damit ist ein weiteres Ziel verbunden: Die Fähigkeit zur Analyse von Filmen und Fernsehsendungen trägt zur Entwicklung von Medienkompe‐ tenz in weiterem Sinn bei (vgl. Bienk 2006/ 2019, S. 23 ff.; Frederking 2006; Henzler/ Pauleit 2008; Hofmann/ Lassacher 2013; Holzwarth/ Maurer 2019; Kamp/ Braun 2011; Mikos 2005; Spielmann 2011; Wegener 2016; Zahn 2012 sowie die Beiträge in Barg u. a. 2006; Marotzki/ Niesyto 2006). Sie ist nicht nur eine »Schule des Sehens« (Schnell 2000, S. 1 ff.), sondern fördert auch »Prozesse des Mitbedenkens« (Boeckmann 1996, S. 37). In diesem Sinne trägt sie zu einer Professionalisierung des Sehens bei. Dazu gehört die Erkenntnis, dass »jede mediale Repräsentation eine subjektive Konstruktion ist, die aus einer Fülle möglicher Darstellungen herausgewählt wurde und die auch von Interessen bestimmt ist« (ebd., S. 36). Außerdem gehört die Einsicht dazu, dass sich Filme und Fernsehsendungen immer an ein Publikum richten, mal an ein unspezifisches, mal an ein genau definiertes in Form einer speziellen Zielgruppe. Bei Filmen und Fernsehsendungen sind die Prozesse des Mitbedenkens in dreifacher Weise zu leisten: erstens im Hinblick auf die Intentionen, die von Produktionsseite oder institutionell (z. B. Fernsehsender, Hollywoodstudio) hinter den Medienprodukten stehen, zweitens - die Struktur der Filme und Fernsehsendungen betreffend - im Hinblick darauf, welche Funktion die einzelnen Komponenten in Bezug auf den gesamten Film oder die gesamte Fernsehsendung haben, und drittens, welche Funktion diese Komponenten für das Publikum haben. Dieser letzte Aspekt weist darauf hin, dass die in diesem Buch vorgestellten Grundlagen der Film- und Fernsehanalyse auf einem Verständnis von Film und Fernse‐ hen als Kommunikationsmedien basieren. Filme und Fernsehsendungen entstehen in diesem Sinn erst im Kopf ihrer Zuschauer: innen - bzw. in ihrem Körper, denn audiovisuelle Bilder können »erst in der Wahrnehmung […] zu Bewegungsbildern werden« (vgl. Kappelhoff 2018, S. 7). Nur wenn sie gesehen oder erlebt werden, treten sie in einen Kommunikationsprozess ein. Bereits der französische Regisseur und Filmkritiker François Truffaut (1977, S. 100) stellte einst fest: »Wenn ein Film einen gewissen Erfolg hat, ist er ein soziologisches Ereignis und die Frage seiner Qualität wird sekundär.« Allerdings wird hier davon ausgegangen, dass es die Qualitäten der Text‐ strukturen sind, die den Erfolg eines Films wesentlich beeinflussen, denn sie Einleitung 11 <?page no="12"?> sind für die Interaktion mit den Zuschauer: innen zentral. Die Analyse zielt daher darauf ab, die Strukturen von Filmen und Fernsehsendungen funktional im Rahmen der Kommunikationsprozesse zu betrachten, in die sie eingebunden sind. Es geht also um eine kommunikationswissenschaftliche Fundierung der Film- und Fernsehanalyse. Das unterscheidet die hier vorgestellte Film- und Fernsehanalyse von anderen Einführungen und Lehrbüchern. Da keine »universelle Methode der Filmanalyse« existiert (Aumont/ Marie 2020, S. 27), werden im Folgenden verschiedene Ansätze kurz dargestellt. In der Filmanalyse wurde bisher, angeregt durch die seit den 1960er Jahren starke theoretische Beschäftigung mit Film, vor allem aus der wissenschaft‐ lichen Perspektive der Semiotik, in Anlehnung an die Linguistik, versucht, grammatikalische, syntaktische und semantische Strukturen des Films - die »Sprache des Films« - zu untersuchen. Bereits frühe Filmtheoretiker wie Wsewolod Pudowkin (1928, S. 9) hatten die Art des Zusammenfügens der Filmbilder, die Montage, als »Sprache des Filmregisseurs« bezeichnet und verglichen die Kombination der Filmbilder mit dem Satz in der Sprache (ebd.). Dieser Ansatz wurde in den 1960er und 1970er Jahren durch Semioti‐ ker wie Christian Metz (1972) weiterentwickelt und dann in den Einführun‐ gen zur Filmanalyse aufgegriffen. Allerdings hatte Metz (ebd., S. 148) bereits darauf hingewiesen, dass die filmischen Strukturen lediglich denen der Spra‐ che ähneln. Von einer »Filmsprache« oder »Sprache des Films« zu sprechen hat dann lediglich metaphorischen Charakter. Der Literaturwissenschaftler Ralf Schnell folgert daraus: »Die Erzählformen des Films beruhen nicht auf linguistischen Strukturen, sondern entstehen aus technischen Mitteln, die ihrerseits Stiltraditionen generieren« (Schnell 2000, S. 183). Dennoch hat die Rede von der »Filmsprache« bzw. der »Fernsehsprache« weiterhin Konjunktur (vgl. Bienk 2006/ 2019; Edgar u. a. 2010/ 2015; Joost 2008; Jost/ Kammerer 2012; Marshall/ Werndly 2002; Vallet 2016/ 2019; Wharton/ Grant 2007), und es wird davon ausgegangen, dass die Verwendung filmischer Codes auf Sprache basiert (Kuchenbuch 2005, S. 98 ff.), die Beschreibung von filmischen Darstellungsweisen auf linguistische Strukturen zurückgreift (Branigan 2006; Vallet 2016/ 2019), und das »Zeichensystem des Films« (Beil u. a. 2012/ 2016, S. 11) die Grundlage semiotischer Filmanalysen ist (vgl. Gräf u. a. 2011/ 2017; Kanzog 2007). Im vorliegenden Buch geht es nicht darum, die »Filmsprache« oder die »Fernsehsprache« zu analysieren, sondern die Mittel, die ein Film oder eine Fernsehsendung einsetzt, um mit den Zuschauer: innen zu kommunizieren. Dabei spielen inhaltliche, darstellerische, dramaturgische, erzählerische und ästhetisch-gestalterische 12 Einleitung <?page no="13"?> Mittel ebenso eine Rolle wie die Kontexte, in die filmische Strukturen und Zuschauer: innen eingebunden sind. Filmische Strukturen sind während einer Analyse immer auf dreifache Weise zu befragen: erstens im Hinblick auf die inhaltliche und erzählerische Kohärenz eines Films, zweitens im Hinblick auf die gestalterischen Mittel, die auf die Aufmerksamkeit und Wahrnehmung der Zuschauer: innen zielen, und drittens im Hinblick auf den kommunikativen Prozess und dessen Kontexte, denn der Sinn eines Films oder einer Fernsehsendung realisiert sich erst in der Rezeption durch Zuschauer: innen. Die »Sinnhaftigkeit« von Filmen und Fernsehsendungen existiert nicht als quasi objektive faktische Gegebenheit, sondern wird erst während des Zuschauens von den Zuschauer: innen hergestellt. Die Bücher zur Filmanalyse, die seit den 1980er Jahren erschienen sind (vgl. Beil u. a. 2012/ 2016; Faulstich 1988; Faulstich 2002/ 2013; Hickethier 1993/ 2012; Kamp/ Braun 2011; Keutzer u. a. 2014; Korte/ Faulstich 1988; Korte 1999/ 2010; Kuchenbuch 2005; Monaco 1980/ 2009), verfolgen zwar einen etwas weiteren Ansatz und greifen auch auf neuere Filmtheorien aus dem angelsächsischen Raum zurück (vgl. Beil u. a. 2012/ 2016; Kuchenbuch 2005; Kurwinkel/ Schmerheim 2013; Ottiker 2019 sowie die Beiträge in Groß/ Morsch 2021 und Hagener/ Pantenburg 2020), doch der kommunikative Aspekt des Films wird nur am Rand berücksichtigt. In der angelsächsischen Literatur orientieren sich die Einführungen in erster Linie an theoretischen Positionen, die eine Filmanalyse leiten können (vgl. Benshoff 2016; Berger 1982/ 2018; Gledhill/ Williams 2000; Hill/ Church Gibson 1998; Hollows/ Jan‐ covich 1995; Nelmes 1996/ 2012), sie stellen Einzelanalysen von Filmen in den Mittelpunkt, die verschiedene Aspekte der Analyse betonen (vgl. Barker 2000; Cardullo 2015; Carroll 1998; Elsaesser/ Buckland 2002), oder sie gehen von unterschiedlichen theoretischen Standpunkten aus auf die Filme ein (vgl. exempl. die Beiträge in Collins u. a. 1993; Geiger/ Rutsky 2005/ 2013; Gibbs/ Pye 2005). Die wenigen Ausnahmen, in denen die Techniken des Filmemachens auch im Hinblick auf die Konsequenzen für die Zuschauer genauer dargestellt werden, bestätigen die Regel (vgl. Bordwell/ Thompson 1979/ 2020; Caldwell 2005/ 2011; Gillespie/ Toynbee 2006; Phillips 1999/ 2009; Ryan/ Lenos 2012/ 2020; Wharton/ Grant 2007 und zum Teil Salt 1983/ 2009; Salt 2006). Im romanischen Raum steht weiterhin die Semiotik hoch im Kurs (vgl. Aumont/ Marie 1988/ 2020; Bellour 1979/ 1995; Mitry 2000). Ausgehend von linguistischen und semiotischen Ansätzen wurde eine multi-modale Filmanalyse entwickelt (vgl. Bateman/ Schmidt 2014 sowie die Beiträge in Wildfeuer/ Bateman 2019), in der der Beitrag der semiotischen Multimoda‐ Einleitung 13 <?page no="14"?> lität zur Bedeutungsbildung des Films im Mittelpunkt steht. Allerdings gibt es auch Ausnahmen (Casetti/ di Chio 1990/ 1994; Goliot Lété/ Vanoye 1992/ 2015), die über eine rein semiotische Analyse hinausgehen. In jüngerer Zeit hat sich die Soziologie vermehrt dem Thema Film zugewandt. Mit der dokumentarischen Methode wird versucht, Strukturmerkmale von Fotos oder Videos bzw. Filmen zu identifizieren, um in einer reflektierenden Interpretation zur dokumentarischen Sinnebene und zur performativen Struktur zu gelangen (vgl. Bohnsack 2009/ 201, S. 150; siehe auch Bohn‐ sack/ Fritzsche/ Wagner-Willi 2015; Hampl 2017). Es handelt sich bei der dokumentarischen Methode um ein Verfahren der Interpretation und kein Analyseverfahren. In den (wissens-)soziologischen Analyseansätzen geht es in erster Linie um den Beitrag der Filme zur gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit sowie ihre gesellschaftliche Bedeutung (vgl. Peltzer/ Kepp‐ ler 2015 sowie die entsprechenden Beiträge in Dimbath/ Heinze 2021; Gei‐ mer u. a. 2018; Geimer u. a. 2021): »Produkte aus Film und Fernsehen sind grundsätzlich als Instanzen der Sinngebung zu betrachten, die auf verschiedene Arten und Weisen an der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit teilhaben« (Peltzer/ Keppler 2015, S. 10). Filme und Fernsehen werden hier als »Instanzen der Sinngebung« gesehen. So muss es in der Analyse darum gehen zu untersuchen, »welche Auffassungen von Wert und Wirklichkeit sich in den Produkten aus Film und Fernsehen manifestieren« (Peltzer/ Keppler 2015, S.-10). Die Fernsehanalyse hat im Gegensatz zur Filmanalyse bisher kaum Inter‐ esse gefunden und schlägt sich dementsprechend selten in einführenden Publikationen nieder. Die deutschsprachigen Publikationen zur Fernseh‐ analyse versammeln Aufsätze, die sich aus verschiedenen theoretischen Perspektiven auf Einzelaspekte des Fernsehens konzentrieren (Hickethier 1994) oder setzen sich pauschal mit verschiedenen Sendungsformen ausein‐ ander, ohne spezifische Analyseschritte zu vollziehen (Faulstich 2008). Das trifft auch auf die in Großbritannien und Italien erschienenen Bücher zu (Allen/ Hill 2004; Casetti/ di Chio 1997/ 2000; Creeber 2006; Geraghty/ Lusted 1998; McQueen 1998; Miller 2002/ 2010; Wasko 2005). Lediglich Knut Hicke‐ thier geht in seinem Buch »Film- und Fernsehanalyse« (1993/ 2012) neben dem Film explizit auf das Fernsehen ein. Im englischsprachigen Raum bieten Jonathan Bignell (2004/ 2012), Graeme Burton (2000), Karen Lury (2005) und Phil Wickham (2007) eine umfassende Einführung in die Fernsehanalyse. Letztere geht dabei auf Bild und Ton sowie Zeit und Raum ein. 14 Einleitung <?page no="15"?> Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind Filme und Fernsehsendungen nicht nur im Kino und im klassischen linearen Fernsehen verfügbar, sondern werden auch auf Online-Plattformen gestreamt, und sie können auch mobil auf dem Tablet oder dem Smartphone genutzt werden. Die Entwicklung digitaler und mobiler Medien hat neue Möglichkeiten entstehen lassen, die Angebote auf verschiedene mediale Plattformen zu verteilen, um so das Publikum über verschiedene Nutzungsformen einzubinden. Einerseits verschwimmen die Grenzen zwischen den Medien, andererseits ergeben sich neue, technische Differenzen. Während Kino- und Fernsehbilder haupt‐ sächlich im 4: 3 Querformat zu sehen sind, benutzen Instagram oder TikTok für die Bilder das 4: 5 Hochformat. Die Grenzen verschwimmen sowohl in technischer, ökonomischer, in‐ haltlicher und ästhetischer Hinsicht als auch mit Blick auf die Nutzung von Medienangeboten. Menschen handeln in »konvergierenden Medien‐ umgebungen« (Hasebrink u. a. 2004, S. 10). Damit ist »die Gesamtheit der Phänomene der Konvergenz auf den verschiedenen Ebenen sowie der zunehmend ausdifferenzierten Formen von Crossmedialität« (ebd.) gemeint. In ökonomischer Hinsicht kann Konvergenz als eine »Ausweitung der kom‐ merziellen Reichweite einzelner Filme oder Unterhaltungsangebote durch die Verbindung mit anderen Absatzmärkten« (Keane 2007, S. 2) gesehen werden, »deren ultimatives Ziel es ist, den gleichen Markeninhalt über ver‐ schiedene Medien zu verbreiten« (ebd.). Allerdings findet die Konvergenz auf den Ebenen der materiellen Bedingungen der Medienkommunikation, den institutionellen Bedingungen und den Inhalten und Diskursen statt (Bruhn Jensen 2010/ 2022). Auf der Seite der Mediennutzer: innen kommt dem das Bedürfnis entgegen, beliebte Inhalte auf verschiedenen Medien‐ plattformen zu suchen. Das gilt offenbar besonders für Angebote, die der Unterhaltung dienen, wie Henry Jenkins bemerkt: »Unter Konvergenz verstehe ich die Ausbreitung von Inhalten über verschiedene Medienplattformen, die Kooperation zwischen verschiedenen Medienindustrien und das nomadische Verhalten von Medienpublika, die auf der Suche nach den Unterhaltungserlebnissen, die sie wünschen, nahezu überall hingehen« ( Jenkins 2006, S. 2). Dabei zeigen sich allerdings unterschiedliche Muster der konvergenten Medienaneignung (vgl. Wagner u. a. 2006; siehe auch Göttlich 2006, S. 194 ff.; Groebel 2014, S. 79 ff.). Die Verbindung zwischen den Angeboten und der Mediennutzung wird durch eine Ästhetik transmedialen Erzählens herge‐ Einleitung 15 <?page no="16"?> stellt (vgl. Kapitel II-5.2). Es gibt kaum noch einen Film, eine Fernsehserie oder eine Realityshow, die ohne die transmediale Begleitung in den sozialen Medien auskommt. Für Filme und Fernsehsendungen, die auf mehreren medialen Plattformen verbreitet werden, hat sich der Begriff »Franchise« durchgesetzt (vgl. John‐ son 2013; Thompson 2007 sowie die Beiträge in Fleury u. a. 2019) und ist am Beispiel von »Der Herr der Ringe« (Mikos u. a. 2007; Thompson 2007; Wasko 2008), »Matrix« ( Jenkins 2006, S. 101 ff.) und »Star Wars« (Kapell/ Lawrence 2006) untersucht worden. Bei solchen Franchise-Produkten können zwar noch die einzelnen Filme analysiert werden, doch müssen sie im Kontext der anderen medialen Ausprägungen gesehen werden. Denn der Erfolg eines Films oder einer Fernsehsendung hängt zunehmend von der Einbettung in die konvergierenden Medienumgebungen ab. Mit der Digitalisierung sind neue Möglichkeiten der Verbreitung von Filmen und Fernsehsendungen entstanden (vgl. Aigrain 2012; Allen-Robert‐ son 2013; Cunningham/ Silver 2013; Curtin u. a. 2014; Dixon 2013; Jenner 2018; Lobato 2019; Lotz 2022; Smith/ Telang 2016). So findet man auf dem Videoportal YouTube vor allem Ausschnitte aus Fernsehshows, aber auch ganze Sendungen und einzelne Folgen von Fernsehserien. Einige historische Filme können ebenfalls dort angesehen werden. Die neuen Verbreitungs‐ wege ändern auch die Produktionsweisen und die Ästhetik. Wenn die Video-on-Demand-Plattform Netflix eigenproduzierte Fernsehserien nicht mehr Folge für Folge, sondern alle Episoden auf einmal onlinestellt, dann müssen einerseits alle Folgen auch bereits fertig produziert sein, und andererseits bedarf es keiner Cliffhanger mehr, um die Spannung zur nächsten Episode aufzubauen, ebenso wie die sogenannten Recaps - eine kurze Zusammenstellung der wichtigsten Ereignisse aus den vorherigen Folgen - entfallen. Die in den USA übliche Praxis, spätere Episoden der Staffel einer Fernsehserie noch zu produzieren, während die ersten Episoden schon gesendet werden, ist dann nicht mehr möglich. Außerdem macht die veränderte Ästhetik die Fernsehserien für das klassische Fernsehen in gewisser Weise unbrauchbar, da sie sich nicht mehr an dessen Gesetzen und Gewohnheiten der Zuschauerbindung orientiert. Im Kontext der Medienkonvergenz werden Filme und Fernsehformate als medienübergreifende Marken etabliert. Die Geschichte im Kopf der Zuschauer entsteht dann nicht mehr allein über einen Film oder eine Fernsehsendung, sondern die verschiedenen Angebote, die sich um einen Film- oder Fernsehtext gruppieren, tragen ihren Teil dazu bei. Trailer in 16 Einleitung <?page no="17"?> Kino, Fernsehen, Internet und mobilen Endgeräten, Fanseiten, Merchandi‐ sing-Artikel, Comics, Computerspiele, Bücher, Film- und Fernsehkritiken, Presseberichterstattung usw. formen die aktuelle Rezeption vor. In diesem Sinn kann bei all diesen Ausprägungen auf verschiedenen Plattformen in Bezug auf einen einzelnen Film oder ein spezifisches Fernsehformat von »präfigurativem Material« gesprochen werden (vgl. Biltereyst u. a. 2008). In der Film- und Fernsehanalyse müssen daher zunehmend die Kontexte der Filme und Fernsehsendungen ebenso Berücksichtigung finden wie deren Ausweitungen auf anderen medialen Plattformen. Auch wenn das Fernsehen und Video-on-Demand-Plattformen zu Beginn des 21. Jahrhunderts der überwiegende Konsumort für Filme sind, müssen Film und Fernsehen als zwei Medien betrachtet werden, die unterschiedlich strukturiert sind. Gemeinsam haben sie, dass sie mit bewegten Bildern arbeiten. Aber bereits die bildliche Auflösung einer Szene ist bei einem Kinofilm anders als bei einem Fernsehfilm - und bei einem für ein Portal wie YouTube hergestellten Film konzentriert sie sich vorwiegend auf Nahauf‐ nahmen. Ganz allgemein kann man sagen, dass die Kamera umso näher am Objekt bzw. der Person der Darstellung sein muss, je kleiner der Bildschirm ist, auf dem der Film angeschaut wird. Daher werden Film und Fernsehen im vorliegenden Buch auch unterschiedlich behandelt, wenn dies für die Analyse notwendig ist. Ausgangspunkt für die hier vorgestellten Grundlagen der Film- und Fernsehanalyse ist die Auffassung, dass Filme und Fernsehsendungen als Kommunikationsmedien zu begreifen sind: Sie kommunizieren mit dem Publikum, wobei ihre Gestaltungsmittel und Techniken die kognitiven und emotionalen Aktivitäten der Zuschauer vorstrukturieren. Um diesem gedanklichen Ausgangspunkt gerecht zu werden, wird nicht von einer einzigen theoretischen Perspektive aus auf die Filme und Fernsehsendungen geschaut, sondern in einer inter- und transdisziplinären Zugangsweise wer‐ den theoretische Ansätze aus unterschiedlichen Disziplinen berücksichtigt (Interdisziplinarität) und im Hinblick auf die Analyse zusammengeführt (Transdisziplinarität). Letztlich bedeutet das für die Analyse von Film- und Fernsehtexten, dass ihre textuellen Strategien verstärkt daraufhin zu untersuchen sind, wie mit den unterschiedlichen Wissensbeständen und Gefühlsstrukturen sowie dem an konkrete lebensweltliche Kontexte gebundenen praktischen Sinn und der sozial-kommunikativen Aneignung verschiedener Publika unterschiedliche Lesarten gebildet werden können. Wenn Filme und Fernsehsendungen sinn‐ Einleitung 17 <?page no="18"?> tragende Diskurse sind, dann muss die Analyse ihr Sinnpotenzial entfalten und es in die Kontexte der Film- und Fernsehkommunikation einbinden, auch und gerade wegen der zunehmenden Bedeutung konvergierender Medienumgebungen. Film- und Fernsehtexte stellen nach wie vor symbo‐ lisches Material bereit, mit dem die Zuschauer: innen in soziokulturellen Kontexten den sinnhaften Aufbau ihrer Lebenswelt betreiben. Sie sind aber zunehmend als transmediale Erzählungen in ein Netz verschiedener Medien eingebunden. Gegenstand der Analyse müssen die strukturellen Bedingun‐ gen der Texte und der Kontexte sein, welche die Geschichten in den Köpfen der Zuschauer: innen entstehen lassen. Die Film- und Fernsehanalyse trägt dazu bei, an einzelnen Werken die Strukturen offenzulegen, die in der gesellschaftlichen Zirkulation von Bedeutung eine Rolle spielen. Zum Aufbau des Buches: In Teil I werden die theoretischen und me‐ thodischen Grundlagen gelegt, wobei in Kapitel I-1 das Verstehen und Erleben von Filmen und Fernsehsendungen als Zielhorizont der Analyse begründet wird. Kapitel I-2 behandelt die Frage, wie ein Erkenntnisinteresse der Untersuchung gewonnen werden kann. Dabei wird auf fünf Ebenen eingegangen, die eine Analyse leiten können: Inhalt und Repräsentation, Narration und Dramaturgie, Figuren und Akteure, Ästhetik und Gestaltung sowie Kontexte. In Kapitel I-3 werden die Arbeitsschritte der Analyse von der Operationalisierung des Erkenntnisinteresses in konkrete Analysewege über die Datensammlung und Auswertung bis hin zur Präsentation der Ergebnisse beschrieben und die möglichen Hilfsmittel vorgestellt. In Teil-II steht die eigentliche Film- und Fernsehanalyse im Mittelpunkt, d. h. die Techniken und Gestaltungsmittel in ihrer Struktur und ihrem funktionalen Bezug sowohl zum Film bzw. zur Fernsehsendung als Ganzes als auch zu den Zuschauer: innen. Es gliedert sich nach den in Kapitel I-2 beschriebenen Ebenen, die das Erkenntnisinteresse der Analyse leiten. Das hat den Vorteil, dass Leser, die sich grundlegend in alle Aspekte der Film- und Fernsehana‐ lyse einarbeiten möchten, den gesamten Teil II lesen können; wer lediglich Hinweise sucht für die dramaturgische Analyse eines Films, braucht sich nur mit Kapitel II-2 zu beschäftigen. Die Kontexte, in die Filme und Fernseh‐ sendungen und ihre Zuschauer eingebunden sind, bilden den Schwerpunkt in Kapitel II-5. Denn im Gegensatz zu Hans J. Wulff (1999, S. 18), der auf dem Sinn einer Mitteilung und auf der Autorität des Textes besteht, wird hier davon ausgegangen, dass der Sinn eines Films erst im Zusammenspiel von Text, Zuschauer: in und den Kontexten, in die beide eingebunden sind, entsteht. Dazu gehören sicher ein als sinnhaftes Ganzes konzipierter Film 18 Einleitung <?page no="19"?> (oder eine Fernsehsendung) und ein: e Zuschauer: in, der/ die als ein sinnhaft Handelnder zu begreifen ist. Daneben spielen die Produktionsbedingungen, die institutionellen Strukturen der Filmbzw. Fernsehindustrie ebenso eine Rolle wie die Biografie, soziale Situation und psychische Befindlichkeit sowohl der Regisseurin oder des Drehbuchautors bzw. im Fall von Fernseh‐ serien des Showrunners als auch des Zuschauers oder der Zuschauerin sowie der kulturelle Kontext, in dem Film und Zuschauer: in stehen. In Teil III werden Beispielanalysen von Filmen und Fernsehsendungen vorgestellt, die einem spezifischen Erkenntnisinteresse folgen. Leider können sie aus Platzgründen nur kursorischen Charakter haben. Thematisch geordnete Hinweise zur zitierten und weiterführenden Lite‐ ratur sowie Register mit wichtigen Sachbegriffen und den erwähnten Filmen und Fernsehsendungen dienen zur Erleichterung der Arbeit mit diesem Buch. Abschließend sei noch auf einige formale Dinge hingewiesen. Wenn hier von Filmen und Fernsehsendungen die Rede ist, sind in der Regel einzelne Filme oder Fernsehsendungen gemeint (zu Letzteren zählen auch Fernsehserien). Auch wenn sich die zu analysierenden Texte als diskrete, d. h. von anderen unterscheidbare, Werke im Hinblick auf die Lektüren des Publikums immer schwerer bestimmen lassen, da oft von Filmen nicht nur eine, sondern mehrere Versionen auf DVD/ Blu-Ray oder im Streaming zugänglich sind, muss weiterhin in der Analyse von einzelnen Werken ausgegangen werden (vgl. Mikos u. a. 2007, S. 79 ff.; Mikos 2008). Denn es geht hier darum, eine Anleitung für die konkrete Film- und Fernsehanalyse zu bieten, indem deren Grundlagen systematisch dargestellt werden. Im Wesentlichen wird bei den Beispielen, die in den einzelnen Kapiteln genannt werden, sowie bei den Beispielanalysen auf populäre Filme und Fernsehsen‐ dungen eingegangen, die leicht zugänglich sind, sei es über die Verfügbarkeit auf DVD, auf Video-on-Demand-Plattformen oder im Fernsehen. Wenn im Folgenden manchmal von Filmen und Fernsehsendungen als Texten die Rede ist, so ist damit nicht gemeint, dass ihre Struktur mit der von geschrie‐ benen Texten identisch ist. Stattdessen wird davon ausgegangen, dass in der Folge der poststrukturalistischen Debatte in den Geisteswissenschaften Kulturprodukte und -objekte generell als »Texte« bezeichnet werden, die produziert und rezipiert werden und für die Produktion von Bedeutung wichtig sind (vgl. McKee 2003, S. 4). Dem Lehrbuchcharakter des Buches wird dadurch Rechnung getragen, dass die Sprache zwar wissenschaftlich, aber möglichst leicht verständlich ist. Außerdem finden sich am Ende Einleitung 19 <?page no="20"?> jedes Kapitels Fragen, die einerseits auf das Verständnis des jeweiligen Kapitels zielen und die andererseits die Analyse der im jeweiligen Kapitel behandelten Aspekte leiten können. Darüber hinaus wird am Ende jedes Kapitels die zitierte Literatur aufgeführt. Die Nummerierung der zitierten Literatur von einzelnen Autoren aus dem gleichen Erscheinungsjahr (z. B. Müller 1988a; Müller 1988b) in den Kapiteln bezieht sich lediglich auf das Verzeichnis der zitierten Literatur am Ende des jeweiligen Kapitels, nicht aber auf das thematisch geordnete weiterführende Literaturverzeichnis im Anhang. Zitierte Literatur Aigrain, Philippe (2012): Sharing. Culture and the Economy in the Internet Age. Amsterdam Allen, Robert/ Hill, Annette (Hrsg.) (2004): The Television Studies Reader. Lon‐ don/ New York Allen-Robertson, James (2013): Digital Culture Industry. A History of Digital Distri‐ bution. Basingstoke Aumont, Jacques/ Marie, Michel (2020): L’analyse des films. Malakoff (4. Auflage) Barg, Werner/ Niesyto, Horst/ Schmolling, Jan (Hrsg.) (2006): Jugend: Film: Kultur. Grundlagen und Praxishilfen für die Filmbildung. München Barker, Martin (2000): From Antz to Titanic. Reinventing Film Analysis. 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Ein Film ist zwar zunächst das Ergebnis eines künstlerischen Produktionsprozesses und in diesem Sinn als Werk zu sehen, doch verfolgen selbst Filmkünstler: innen, die sich als Autor: innen verstehen, die Absicht, mit einem Publikum in Kommunika‐ tion zu treten, sei es, weil sie etwas mitzuteilen haben, sei es, weil sie von der Arbeit des Filmemachens leben und ihren Lebensunterhalt nur verdienen können, wenn ein zahlendes Publikum den Film zu einem mehr oder minder kommerziellen Erfolg macht. Soll die Kommunikation mit dem Publikum gelingen, muss im Prozess des Filmemachens bereits auf mögliche Erwartungen des Publikums sowie auf kognitive und emotionale Fähigkeiten der Zuschauer: innen Bezug genommen werden. Eine Fernseh‐ sendung kann zwar als pure Unterhaltung genutzt werden, dennoch wird die Zuschauerin die Sendung vielleicht langweilig finden und sich Gedanken über die Absicht der Produzent: innen machen. Die Beispiele zeigen, dass Filme und Fernsehsendungen als bedeutungsvolles symbolisches Material gesehen werden müssen, das nur im Rahmen bedeutungsvoller Diskurse Sinn ergibt. Sie dienen der indirekten Kommunikation zwischen Menschen. Von der direkten, sogenannten Face-to-Face-Kommunikation unterscheidet sich die indirekte Kommunikation dadurch, dass sie über technische Medien vermittelt stattfindet: Medien, die sich an eine anonyme, heterogene Masse richten (Massenmedien), und Medien, die sich an einzelne Personen richten (Individualmedien). Film und Fernsehen sind den Massenmedien zuzuord‐ nen, auch wenn Streamingdienste mittels Algorithmen ein scheinbar indi‐ vidualisiertes Angebot bereitstellen. Einzelne Filme und Fernsehsendungen sind dann Bedeutungsträger in der indirekten Kommunikation. Sie ergeben sowohl für Produzent: innen als auch für Zuschauer: innen Sinn. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es in der Kommunikation zwischen au‐ diovisuellen Werken und Zuschauer: innen nicht nur um Bedeutungsbildung geht. Darauf hat auch James B. Twitchell (1992, S. 203) hingewiesen, der in Bezug auf das Fernsehen kritisch angemerkt hat, dass sich die Auseinander‐ setzung mit diesem Medium vor allem auf die Inhalte konzentriert hat, nicht <?page no="31"?> aber auf das Fernsehen als Erlebnis. Rituelles Fernsehen als Tätigkeit eines zuschauenden Subjekts erschöpft sich im Akt des Sehens selbst und zielt nicht auf eine Bedeutungsproduktion anhand gesendeter Inhalte ab. Das Sinnhafte der Tätigkeit ist nur aus den sozialen Kontexten zu erschließen, in die sie eingebettet ist. Allerdings sind frühere Erfahrungen mit dem Fernsehen bereits im Ritual selbst kondensiert. Die Film- und Fernsehanalyse muss davon ausgehen, dass die zu un‐ tersuchenden Gegenstände (Filme, Fernsehsendungen und andere audio‐ visuelle Bewegtbilder) eine Kommunikation mit ihren Zuschauer: innen eingehen. Das geschieht auf zweifache Weise: Einerseits werden sie von Zuschauer: innen betrachtet bzw. rezipiert, andererseits werden sie von Zuschauer: innen benutzt bzw. angeeignet. Meines Erachtens ist es wichtig, diese Unterscheidung zwischen Rezeption und Aneignung zu treffen, denn dadurch wird ermöglicht, die konkrete Interaktion zwischen einem Film und seinen Zuschauer: innen analytisch von der weiteren Aneignung des Films, z.-B. im Gespräch mit Freund: innen und Bekannten, zu trennen. Mit Rezeption ist die konkrete Zuwendung zu einem Film oder einer Fernsehsendung gemeint. In der Rezeption verschränken sich die Strukturen des Film- oder Fernsehtextes und die Bedeutungszuweisung sowie das Erleben durch die Zuschauer: innen. Es findet eine Interaktion zwischen den Film- und Fernsehtexten und den Zuschauer: innen statt (vgl. Hacken‐ berg 2004; Höijer 1992a und 1992b). Der aktive Rezipient erschafft in der Rezeption den sogenannten rezipierten Text (vgl. auch Mikos 2001a, S. 71 ff.; Mikos 2001b, S. 59 f.), der gewissermaßen die konkretisierte Bedeutung des »Originaltextes« darstellt. Der rezipierte Text ist der Film, den der/ die Zuschauer: in gesehen hat, der mit seinen Bedeutungszuweisungen und seinen Erlebnisstrukturen angereicherte Film. Er ist das Ergebnis der Inter‐ aktion zwischen Film- oder Fernsehtext und Zuschauer: in. Kappelhoff (2018, S. 11ff.) betont dagegen den Prozess der Wahrnehmung, indem er die „Poiesis des Filme-Sehens“ als kreativen Akt der Rezeption hervorhebt. Mit Aneignung ist dagegen die Übernahme des rezipierten Textes in den alltags- und lebensweltlichen Diskurs und die soziokulturelle Praxis der Zuschauer: innen gemeint. Denn die soziale Wirklichkeit der Menschen besteht aus »kommunikativen Handlungen« (Knoblauch 2017, S. 179) und ist als Prozess zu verstehen, in dem Medien eine wichtige Rolle spielen. Eine Fernsehsendung kann Gegenstand weiterer Interaktionen und Handlungen sein, wenn sie z. B. dazu dient, in der Mittagspause am Arbeitsplatz ein Gespräch zu eröffnen. Menschen benutzen Filme und Fernsehsendungen 1 Die Kommunikationsmedien Film und Fernsehen 31 <?page no="32"?> sowohl zur Gestaltung ihrer eigenen Identität als auch zur Gestaltung ihrer sozialen Beziehungen. Die Unterscheidung zwischen Rezeption und Aneignung ist analytischer Natur, empirisch sind sie als Handlungen der Zuschauer: innen nicht zu trennen. Warum nun sind Rezeption und Aneig‐ nung für die Analyse von Filmen und Fernsehsendungen wichtig? Für die Beantwortung dieser Frage muss man sich über die Beschaffenheit der Film- und Fernsehtexte klar werden. Wenn sich, wie es Angela Keppler (2001, S. 131) formuliert hat, im medialen Produkt »die Perspektiven der Produktion und der Rezeption auf eine bestimmte Weise« treffen, ist es Auf‐ gabe der Analyse herauszufinden, auf welche Weise dies genau geschieht. Aus einer rezeptionsästhetischen Perspektive können dann nicht nur die »Medieninhalte als Kommunikationsangebote« (ebd.) verstanden werden, sondern das gesamte symbolische Material der Fernsehsendungen und Filme, also auch Narration und Dramaturgie sowie die gestalterischen Mit‐ tel, mit denen die Aufmerksamkeit der Zuschauer: innen erregt werden soll. Film- und Fernsehtexte werden in diesem Zusammenhang als Anweisungen zur Rezeption und Aneignung verstanden. Die Texte enthalten Handlungs‐ anweisungen für die Zuschauer: innen (vgl. Mikos 2001a, S. 177 ff.) und strukturieren auf diese Weise deren Aktivitäten vor. »Nicht das Medium ist die Message, sondern seine Rolle in der sozialen Anwendung« (Hienzsch/ Prommer 2004, S. 148). Film-- und auch Fernsehen-- kann daher als soziale Praxis gesehen werden (vgl. Turner 2007). Das heißt nicht, dass Film- und Fernsehtexte die Rezeption durch die Zuschauer: innen determinieren. Sie machen lediglich Angebote, die von den Zuschauer: innen genutzt werden können, indem sie sich auf eine Interaktion mit dem jeweiligen Text einlassen. John Fiske (2011, S. 95 f.) spricht aus diesem Grund auch nicht von Texten, sondern von ihrer »Textualität« bzw. von produzierbaren Texten. Damit ist gemeint, dass die Film- und Fernsehtexte nach einer Vervollständigung durch die Zuschauer: innen verlangen, sie werden erst im Akt der Wahrnehmung, Rezeption und Aneignung produziert. Nach diesem Verständnis können Filme und Fernsehsendungen auch keine abge‐ schlossenen Bedeutungen an sich haben, die z. B. Film- oder Fernsehwis‐ senschaftler in einer Analyse »objektiv« freilegen könnten, sondern sie entfalten ihr semantisches und symbolisches Potenzial erst durch die aktiven Zuschauer: innen, d. h., sie können lediglich potenzielle Bedeutungen haben, sie bilden eine »semiotische Ressource« (Fiske). 32 1 Die Kommunikationsmedien Film und Fernsehen <?page no="33"?> »Vielleicht favorisiert ein Text manche Bedeutungen, er kann auch Grenzen ziehen, und er kann sein Potential einschränken. Andererseits kann es auch sein, daß er diese Präferenzen und Grenzen nicht allzu effektiv festschreibt« (Fiske 1993, S. 12 f.). Film- und Fernsehtexte können also nur Angebote machen und mögliche Lesarten inszenieren, über die sie die Aktivitäten der Zuschauer: innen vor‐ strukturieren. Eines können sie aber nicht: Sie können nicht die Bedeutung festlegen. Sie funktionieren als Agenten in der sozialen Zirkulation von Bedeutung und Vergnügen, denn sie können ihr Sinnpotenzial nur in den sozialen und kulturellen Beziehungen entfalten, in die sie integriert sind: »Texte funktionieren immer im gesellschaftlichen Kontext« (ebd., S. 13). Erst da kommt ihre strukturierende Kraft zum Tragen. Die Aneignung von populären Texten wie Filmen und Fernsehsendungen ist nach Fiske am Schnittpunkt von sozialer und textueller Determination lokalisiert. Damit wird auch deutlich, dass sich Texte immer im Feld sozialer Auseinanderset‐ zung befinden (vgl. Mikos 2001c, S. 362). Für die Analyse heißt dies, dass die Struktur von Filmen und Fernsehsendungen zu den Rezeptions- und Aneignungsaktivitäten in Bezug gesetzt werden muss. Dabei ist allerdings zu beachten, dass die strukturierende Kraft der Film- und Fernsehtexte in der Rezeption stärker ist als in der Aneignung, in der die soziokulturellen Kontexte, in die die Zuschauer eingebunden sind, wirksamer sind. Daher stehen die Rezeptionsaktivitäten im Vordergrund der folgenden Ausführun‐ gen, Aneignungsaktivitäten werden dort, wo es sinnvoll erscheint, in die Betrachtungen einbezogen. Film- und Fernsehtexte sind grundsätzlich an ein Publikum gerichtet. Da‐ her sind sie zum Wissen, zu den Emotionen und Affekten, zum praktischen Sinn und zur sozialen Kommunikation der Rezipienten hin geöffnet. Es lassen sich also vier Arten von Aktivitäten unterscheiden, die in der Rezeption und Aneignung eine Rolle spielen: • kognitive Aktivitäten • emotionale und affektive Aktivitäten • habituelle und rituelle Aktivitäten • sozial-kommunikative Aktivitäten Sie alle sind an zwei grundlegende Modi Operandi gebunden, die den Umgang mit den Film- und Fernsehtexten ausmachen: das Film- und Fern‐ sehverstehen und das Film- und Fernseherleben. In der Analyse geht es vor 1 Die Kommunikationsmedien Film und Fernsehen 33 <?page no="34"?> allem darum, diese Prozesse des Verstehens und Erlebens herauszuarbeiten. Film- und Fernsehverstehen meint, anhand eines audiovisuellen Produkts zu untersuchen, wie es sich als bedeutungsvoller Text, der in den kulturellen Kreislauf von Produktion und Rezeption eingebunden ist, konstituiert (vgl. Mikos 1998, S. 3). Dazu müssen jedoch auch die lebensweltlichen Verwei‐ sungszusammenhänge einbezogen werden. Film- und Fernseherleben meint eine eigene Zeitform mit eigenen Höhepunkten, »in denen das zu kulminie‐ ren scheint - sowohl das, das es auf der Leinwand zu besichtigen gilt, wie auch das Erleben selbst« (Neumann/ Wulff 1999, S. 4). Die Zuschauer: innen gehen selbstvergessen im Erlebnis auf (vgl. Renner 2002, S. 153; vgl. auch Kapitel II.3.6). Film- und Fernseherleben schafft eigene Sinnstrukturen, die mit der Alltagswelt und den lebensweltlichen Verweisungszusammenhän‐ gen der Zuschauer: innen verknüpft sind. 1.1 Film- und Fernsehverstehen Filme und Fernsehsendungen ergeben Sinn, denn sie sind sowohl in der Produktion als auch in der Rezeption an sinnhaftes soziales Handeln gebun‐ den (vgl. dazu auch Hall 1980, S. 130; Keppler 2001, S. 129). Darüber treten sie in einen bedeutungsvollen Diskurs ein. Sie prägen die Lebensverhältnisse in der gegenwärtigen Gesellschaft (vgl. Keppler 2006, S. 19 ff.; Keppler 2021; Peltzer/ Keppler 2015, S. 7ff.; Winter 2012). Wie bereits erwähnt, sind Film- und Fernsehtexte grundsätzlich zum Wissen der Rezipient: innen hin geöffnet (vgl. Wulff 1985, S. 13). Um eine Filmszene zu verstehen, muss eine Zuschauerin zunächst einmal Informationen verarbeiten und sie in einen bedeutungsvollen Kontext bringen. Auf diese Weise erhält die Szene einen Sinn. Ein einfaches Beispiel mag das verdeutlichen: Um zu erkennen, dass es sich bei den Figuren auf der Leinwand oder dem Bildschirm um Menschen handelt, die in einem Restaurant an einem Tisch sitzen, muss die Zuschauerin die ihr dargebotene Bildinformation verarbeiten. Sie muss wissen, was Menschen sind, was ein Restaurant ist und was ein Tisch ist. Darüber hinaus wissen wir, dass Menschen immer in bedeutungsvollen Strukturen handeln, aus ihnen können sie nicht heraustreten (vgl. Blumer 1973/ 2013). Das heißt in diesem konkreten Fall, dass die Zuschauerin auch um die Bedeutung von Menschen, Tischen und Restaurants weiß. Anhand des Settings Mensch - Tisch - Restaurant werden Kontexte des Wissens aufgerufen, die deren Bedeutung im Rahmen sinnhaften sozialen Handelns 34 1 Die Kommunikationsmedien Film und Fernsehen <?page no="35"?> an lebensweltliche Verweisungszusammenhänge zurückbinden. Dazu zählt z. B. das Wissen, dass Menschen nicht immer zu Hause essen, sondern sich auch mal in Restaurants von Köch: innen bekochen und von Kellner: in‐ nen bedienen lassen. Auf dieser Ebene nimmt die Zuschauerin zunächst lediglich Informationen aus dem Film- oder Fernsehbild auf und evaluiert sie im Rahmen von sinnhaften Handlungskontexten. Die Bedeutung der beschriebenen Restaurantszene im Film bzw. in der Fernsehsendung ergibt sich außerdem daraus, dass sie in einem narrativen Kontext steht. Die Zu‐ schauerin kann aus der bisherigen Erzählung an dieser Stelle schließen, dass es in der dargebotenen Szene nicht in erster Linie um den Zusammenhang von Hunger und Essen, also die reine Nahrungsaufnahme geht, sondern dass das Gespräch, das die Personen beim Essen führen, bedeutsam ist. Es könnte sich beispielsweise um einen letzten Versöhnungsversuch eines Ehepaares handeln, das kurz vor der Scheidung steht, die letzte Mahnung eines Mafiabosses an eine Untergebene oder um ein Geschäftsessen, bei dem ein heimlicher Deal abgeschlossen wird. Die Bedeutung dieser Szene ergibt sich aber nicht nur aus dem narrativen Kontext, sondern auch daraus, dass die Zuschauerin um diese Möglichkeiten weiß, weil sie sinnhaftes Handeln darstellen - in diesem Fall, dass Gespräche beim Essen eine besondere Bedeutung haben können und Mittelpunkt der Aktivität »Essen im Restaurant« sein können. Die Zuschauerin hat ein Wissen um die soziale Bedeutung von Restaurants, das sie nun in der Rezeption aktivieren kann, um die Szene nicht nur zu verstehen, sondern sie auch mit Bedeutung zu füllen. Dies ist möglich, weil der Filmtext zu ihrem Wissen hin geöffnet ist. Es ist leicht vorstellbar, wie komplex diese Bezüge werden, wenn es nicht um so einfache Alltagsbegebenheiten wie Restaurantbesuche und Gespräche geht, sondern z. B. um politische Macht, Hierarchien, Geschlechterverhältnisse, religiöse Praktiken, ökonomische Krisen und Ähnliches mehr. Die Rolle des Wissens der Zuschauer: innen wird noch deutlicher, wenn es nicht nur um die Informationsverarbeitung des Abgebildeten oder Reprä‐ sentierten und die Bedeutungszuweisung des Erzählten geht, sondern wenn die textuellen Strategien nach der kognitiven Aktivität der Zuschauer: in verlangen. Hierbei spielen die sogenannten Leerstellen eine wichtige Rolle, die aus rezeptionsästhetischen Arbeiten der Literatur- und Kunstwissen‐ schaft bekannt sind (vgl. dazu Adamowsky/ Matussek 2004; Mikos 2001a, S. 15 ff.; Neuß 2002, S. 17 ff.) und auch in der Filmwissenschaft thematisiert wurden (vgl. Dablé 2012, S. 61ff. und 111 ff.; Hanich 2012; Schwenk 2012). 1.1 Film- und Fernsehverstehen 35 <?page no="36"?> In ihnen zeigt sich die Appellstruktur der Texte (vgl. Iser 1979/ 1994; Mikos 2001a, S. 177 ff.). Leerstellen bilden gewissermaßen Lücken im Erzählfluss oder in der Repräsentation von Wirklichkeit. Diese Lücken müssen die Zuschauer: innen mit ihrem Wissen füllen. In diesem Sinn sind sie Hand‐ lungsanweisungen an die Zuschauer: innen, ihr Wissen zu aktivieren und bedeutungsbildend und sinngenerierend tätig zu werden. Norbert Neuß (2002, S. 19 ff.) hat eine Typologie von Leerstellen am Beispiel von Kinder‐ filmen entwickelt. Danach entstehen Leerstellen im Film durch imaginäre Zeiten und Räume, durch Sprachbilder und Metaphern, durch bildliche Symbole, durch die aktive Ansprache des Rezipienten und das Herstellen von »Wir-Gemeinsamkeit«, durch Fantasie öffnende Tätigkeiten, durch die Wahl der Perspektive und durch Abstraktion. Letzteres macht er am Beispiel von animierten Filmen deutlich, in denen abstrakte Bilder und Geräusche die Aktivitäten der Rezipient: innen anregen können. Das trifft auch auf die dargestellten Figuren zu. Je weniger detailreich z. B. die Zeichnung einer Figur ist, desto mehr Raum ist vorhanden, um sie mit eigenem Wissen und eigenen Interpretationen zu füllen. »So wird z. B. Wickie von ›Wickie und die starken Männer‹ von Kindern mal als Junge und mal als Mädchen interpretiert. Je nachdem, wie man diese Figur füllt, entstehen in dem Film ganz neue Perspektiven und Beziehungskonstellationen« (ebd., S. 22). Wenn in einem Western z. B. ein Mensch auf einem Berg steht und in die Ferne schaut, werden die Zuschauer: innen dazu angeregt, ihr Wissen zu aktivieren, um sich vorstellen zu können, was dieser Mensch wohl sieht und welche Gedanken ihm möglicherweise dabei durch den Kopf gehen. Zwar kann die Kamera noch zeigen, wohin der Blick schweift, aber die Gedanken lassen sich bildlich höchstens mit einer Nahaufnahme des Gesichts andeuten. Die Zuschauerin ist an dieser Stelle gefragt, ihr Wissen einzusetzen, um die Bedeutung dieser Bilder im Rahmen des Erzähl‐ kontextes zu verstehen. Leerstellen entstehen in Film und Fernsehen auch durch Auslassungen. So sind in Nachrichtensendungen häufig stereotype Bilder von politischen Treffen zu sehen. Nachdem einige Staatsmänner und Staatsfrauen zunächst einzeln beim Verlassen eines Flugzeugs gezeigt werden, sieht man sie anschließend in trauter Runde versammelt an einem riesigen Konferenztisch sitzen. Da es sich bei dieser Darstellung nicht um die filmische Dokumentation eines Ereignisses in Echtzeit handelt, sondern um die mediale Bearbeitung des dokumentarischen Ausgangsmaterials, 36 1 Die Kommunikationsmedien Film und Fernsehen <?page no="37"?> das das Ereignis im Medium (re)präsentiert, wird nicht gezeigt, wie die Staatsmänner und -frauen vom Flughafen in den Konferenzraum gelangt sind. Diese Lücke müssen die Zuschauer: innen aufgrund der gezeigten Hinweise in dem Nachrichtenfilm mit ihrem Wissen schließen: Sie müssen kognitiv aktiv werden. Filme und Fernsehsendungen sind nicht nur zum Wissen der Zu‐ schauer: innen hin geöffnet, sondern auch zur sozialen Kommunikation. Sie werden im Alltag benutzt, z. B. indem sie Gegenstand von Gesprächen mit Freund: innen, Verwandten und Bekannten werden, sie als »kommu‐ nikative Ressource« dienen (Keppler 2008, S. 211). Der Gebrauch der Me‐ dien im Alltag wird als kommunikative Aneignung bezeichnet (vgl. Faber 2001; Hepp 1998, S. 23 ff.; Holly 2001, S. 13 ff.; Klemm 2000, S. 72 ff.; Weber 2015). Dabei werden Filme und Fernsehsendungen nicht nur bewertet, sondern im Rahmen der Kommunikation wird auch ihre Bedeutung ausge‐ handelt (vgl. Podschuweit 2021), z. B. in Familiengesprächen (vgl. Keppler 1994/ 2008, S. 220 ff.) oder in Paarbeziehungen (vgl. Linke 2010, S. 113ff.). In direkter Kommunikation wird geprüft, ob und wie sie im Alltag und in der Lebenswelt Sinn ergeben und sinnhaft in die alltäglichen Lebens- und Kommunikationsverhältnisse integriert werden können. Die textuellen Strukturen von Filmen und Fernsehsendungen können Hinweise darauf enthalten. Sie generieren Vorschläge, wie sie mit den Lebensverhältnissen des Publikums in Beziehung treten können. Martin Barker (2000, S. 37) hat dies ihre »Modalitäten des Gebrauchs« genannt. Ein Film kann so über seine textuellen Strukturen anzeigen, wie er vom Publikum benutzt werden und kommunikativ angeeignet werden will. Wenn z. B. in Horrorfilmen zahlreiche visuelle und narrative Anspielungen auf frühere Filme des Genres inszeniert werden, ist das u. a. eine Handlungsanweisung auf eine kommu‐ nikative Aneignung im Kreis von Fans dieses Genres. Sie werden sich mit Freund: innen über die erkannten Anspielungen austauschen und so nach und nach die intertextuellen Bezüge des Films erschließen. Ratgebersendun‐ gen im Fernsehen bieten nicht nur Informationen zu bestimmten Themen, die das Wissen der Zuschauer: innen erweitern, sondern sie sind auch auf die kommunikative Aneignung und den Gebrauch im Alltag gerichtet. Wenn z. B. Tipps für das Katerfrühstück am Neujahrstag gegeben werden, ist damit einerseits strukturell die Anregung für die Zuschauer: innen verbunden, sie am betreffenden Tag in die Tat umzusetzen, andererseits können sie auch im Rahmen des sozialen Umfelds als Meinungsführer: innen auftreten und die Tipps an Freund: innen, Nachbar: innen, Kolleg: innen und Familien‐ 1.1 Film- und Fernsehverstehen 37 <?page no="38"?> mitglieder weitergeben (vgl. zum Konzept des Meinungsführers exempl. Schenk 2007, S. 320 ff.). In diesem Sinn können Film- und Fernsehtexte ihre Zuschauer: innen anregen, sozial-kommunikativ aktiv zu werden und sie in die soziale Zirkulation von Bedeutung einzuspeisen. In der Analyse können die Strukturen der Film- und Fernsehtexte heraus‐ gearbeitet werden, die sie zum Wissen und der sozialen Kommunikation der Zuschauer: innen hin öffnen. Allerdings müssen dabei Differenzierun‐ gen vorgenommen werden. So gibt es verschiedene Wissensformen, zu denen die Texte hin geöffnet sind. Peter Ohler (1994, S. 32 ff.) hat zwischen generellem Weltwissen, narrativem Wissen und dem Wissen um filmische Darbietungsformen unterschieden. Der »Rezipient muß mit Hilfe seines generellen Weltwissens aus den gezeigten Szenen Schlußfolgerungen hin‐ sichtlich des nicht gezeigten Geschehens ziehen« (ebd., S. 35). Weltwissen ist also nötig, um z. B. Leerstellen zu füllen. Das Wissen darum, dass man im Restaurant nach dem Essen bezahlen muss und der Bedienung ein Trinkgeld geben sollte, gehört diesem generellen Weltwissen an. Des Weiteren weist Ohler dem narrativen Wissen bei der Verarbeitung filmischer Geschichten eine zentrale Rolle zu. Dabei handelt es sich um Wissen über typische Plots, Rollen von Protagonist: innen, Handlungssequenzen und Handlungssettings im Rahmen typischer Genres. Zum narrativen Wissen gehört z. B., dass ein Überfall, der von Polizist: innen beobachtet wird, eine Verfolgungsjagd nach sich ziehen kann und dass hier Gut gegen Böse kämpft. Dazu gehört das Wissen um die Rolle der Moderatorin in einer Gameshow ebenso wie das Wissen um den typischen Handlungsverlauf eines Fußballspiels, bei dem zwei Mannschaften in einem Stadion gegeneinander antreten, oder das Wissen darum, dass in einem Korrespondent: innenbericht in einer Nachrichtensendung die Korrespondentin selbst irgendwann im Bild zu sehen sein wird. Dieses Wissen ist abstrakt und unabhängig von einer konkreten Moderatorin oder einer konkreten Korrespondentin, einem kon‐ kreten Stadion und den beiden konkreten Mannschaften. Die dritte Form des Wissens nach Ohler ist das Wissen über filmische Darbietungsformen. Einstellungsgrößen, Schnitte, Kameraperspektiven, Toneffekte, Musik und Montage sind einige »dieser formalen Mittel, die dem Rezipienten als Cues (Hinweise, L.M.) dienen, die das Verständnis der filmischen Narra‐ tion erleichtern und narrationsbezogene Erwartungen generieren helfen« (ebd., S. 36). Hierzu gehört z. B. das Wissen, dass zwei Personen, die im Schnitt-Gegenschnitt-Verfahren aneinandergeschnitten sind, sich offenbar in einem Dialog befinden oder, dass dramatische Musik ein spannendes 38 1 Die Kommunikationsmedien Film und Fernsehen <?page no="39"?> Ereignis ankündigt. Das narrative Wissen und das Wissen um die filmischen Darbietungsformen sind miteinander verknüpft. In diesem Zusammenhang spricht Dieter Wiedemann (1993, S. 49) auch von »mentalen Dramaturgien«. In der Analyse kann nun herausgearbeitet werden, welches narrative Wissen erforderlich ist, um die Geschichte eines Films oder einer Fernsehsendung im Kopf entstehen zu lassen, und welches Wissen um filmische Darbietungsformen dabei eine Rolle spielt. Beide Wissensbestände stehen in Bezug zum Weltwissen. Es geht also nicht nur darum, was erzählt wird, sondern wie es erzählt wird und welche Rolle das für die Geschichte im Kopf spielt. Die Wissensformen sind nicht naturgegeben vorhanden, sondern müssen erst erworben werden. Der Umgang mit audiovisuellen Medien ist für jeden Menschen ein Lernprozess. In der audiovisuellen Sozialisation werden die Konventionen und Regeln von Film und Fernsehen erlernt. Daraus folgt, dass die Geschichten im Kopf unterschiedlich ausfallen, weil jeder Mensch eine andere mediale Lerngeschichte erlebt und erfahren hat. So hat z. B. jede Generation ihre ei‐ genen Medienerfahrungen. Die Fernsehgeneration, die mit diesem Medium aufgewachsen ist, entwickelt andere Geschichten im Kopf als die Mitglieder der Generation, die ohne Radio und Fernsehen und nur mit dem Film als Medium aufgewachsen sind. Die sogenannten Digital Natives gehen anders mit Medien um als die letzte analoge Generation. Ebenso hängt z. B. das Verständnis eines Horrorfilms auch vom Wissen um die typischen Gestaltungs- und Erzählmuster des Genres ab. Wer dieses Wissen hat, wird eine andere Geschichte sehen als jemand, der keine entsprechenden Seherfahrungen aufweisen kann. Frey spricht daher auch von einer »erfah‐ rungshaften Rezeption« (vgl. Frey 2017, S. 71ff.), die als Rezeptionsmodalität beim Zuschauen wichtig ist. Gegenstand der Film- und Fernsehanalyse müssen die textuellen Stra‐ tegien sein, mit denen die kognitiven Aktivitäten der Zuschauer: innen den Film im Kopf entstehen lassen. Ebenfalls analysiert werden müssen die Textstrategien, die die sozial-kommunikative Aneignung der Filme und Fernsehsendungen vorstrukturieren. Man kann sagen, dass über die sozial-kommunikativen Aktivitäten der Zuschauer: innen die Filme aus dem Kopf wieder heraustreten und zu einem Bestandteil des sozialen Lebens werden, indem sie sich in die soziale Zirkulation von Bedeutungen in den gesellschaftlichen Diskursen einklinken. 1.1 Film- und Fernsehverstehen 39 <?page no="40"?> 1.2 Film- und Fernseherleben Filme und Fernsehsendungen stellen für Zuschauer: innen auch ein Erlebnis‐ potenzial dar. Sie werden aus Vergnügen angeschaut, weil man lachen oder auch weinen kann. Möglicherweise werden sie aber auch angeschaut, weil ihre Inhalte sich gerade mit spezifischen Lebensthemen der Zuschauer: in‐ nen verbinden. Erlebnisse sind für die einzelne Zuschauerin im Kino- oder Fernsehsessel nur möglich, wenn sich der Film oder die Fernsehsendung in ihre subjektiven Sinnhorizonte einfügt. Norbert Neumann und Hans J. Wulff haben auf diese »Zwischenstellung des Erlebnisses« hingewiesen: »Nun ist gerade die Zwischenstellung des Erlebnisses zwischen den Strukturen des Textes und den aus ihm stimulierten Bedeutungsproduktionen des Subjekts eine methodisch außerordentlich widerspenstige Tatsache. Das Erlebnis ist erst in der Erinnerung abgeschlossen, ist selbst aber eine offene geistige Tätigkeit. Das Erleben ist ein Prozess, eine aktualgenetische Austausch- und Wechselbeziehung zwischen Subjekt und Text. Erleben ist Übersetzen, weil das Bedeutungsangebot des Textes vermittelt werden muss mit den Sinnhorizonten des Erlebenden« (Neumann/ Wulff 1999, S. 4). Im Film- und Fernseherleben vermischt sich das Soziale mit dem Subjekti‐ ven, denn sowohl die Texte als auch die Zuschauer: innen sind in soziale und kulturelle Kontexte eingebunden. Das zeigt sich u. a. schon an der Abhängigkeit des Erlebnisses von der Rezeptionssituation: Während man sich im dunklen Kinosaal selbstvergessen dem Geschehen auf der Leinwand widmen und gegebenenfalls den kommunikativen Kontakt zu den Beglei‐ ter: innen suchen kann, finden das Fernsehen und Streaming vorwiegend im häuslichen Ambiente statt, wo zahlreiche Varianten von Störfaktoren bestehen können, die nicht vom Fernsehenden beeinflussbar sind, aber die involvierte, konzentrierte Hinwendung zum Bildschirm behindern - einmal abgesehen davon, dass die Aktivität »Fernsehen« häufig von anderen Tätigkeiten begleitet werden kann. Allerdings hängt das Erlebnis nicht nur von der Intensität der Zuwendung und dem Involvement ab, sondern vor allem von der Verbindung mit den subjektiven Sinnhorizonten. Es findet seinen Ausdruck im Subjekt: »Manchmal aber erfasst der Prozess des Erlebens die ganze Person, vermag Tiefenschichten der Erfahrung, des Wünschens oder der Moral zu aktivieren« (ebd., S. 5). Der Zuschauer ist bewegt oder gerührt, und die Zuschauerin kann sich vor Lachen kaum noch halten (vgl. Mikos 2011). Kappelhoff (2018, S. 143) sieht darin einen 40 1 Die Kommunikationsmedien Film und Fernsehen <?page no="41"?> Subjektivierungsakt: »eine Erfahrung der Einheit des Gefühls für sich selbst als ein Gefühl für die gegebene Welt.« In diesem Sinn sind Film- und Fernsehtexte nicht nur zum Wissen und zur sozialen Kommunikation der Zuschauer: innen hin geöffnet, sondern auch zu den Emotionen und Affekten sowie zum praktischen Sinn. Der Filmwissenschaftler Marcus Stiglegger (2006 und 2021, S. 210ff.) spricht auch davon, dass die Inszenierung der Filme die Zuschauer: innen verführt. Emotionen und Affekte spielen für das Film- und Fernseherleben eine entscheidende Rolle. »Das Kino ist seit jeher ein privilegierter Ort für Emotionen, und wer über Film und Filmerleben redet, schließt dabei im Grunde stets die emotiven Wirkungen ein, denn sie gehören essenziell dazu« (Wuss 2002, S. 123; vgl. auch Schick 2018, S. 17ff.; Wuss 2020, S. 204ff.). Menschen gehen schließlich ins Kino, »um sich den Emotionen auszusetzen« (Wulff 2002, S. 109). Das stellte auch schon Hugo Münsterberg im Jahr 1916 in seiner psychologischen Studie »Das Lichtspiel« fest. Dort heißt es: »Die Darstellung von Emotionen muß das Hauptanliegen des Lichtspiels sein« (Münsterberg 1996, S. 65). Emotionen und Affekte treten jedoch in Verbindung mit kognitiven Aktivitäten der Zuschauer: innen auf, denn eine Szene muss verstanden und mit Bedeutung gefüllt werden, bevor die Zuschauenden affektiv berührt sein und Emotionen entwickeln können. Genauso müssen sie die Gefühle der Figuren verstehen können, bevor sie möglicherweise in einem Akt der Empathie mitfühlen. Emotionen sind ohne Kognitionen nicht denkbar. In der Psychologie wird in der Regel zwischen Affekt, Emotion und Mood unterschieden (vgl. dazu Kaczmarek 2000, S. 260). Während Emotionen als innere mentale Zustände gesehen werden, sind Affekte auf ein Objekt gerichtet und »Aspekte der Ereignisbewertungen durch das Subjekt« (ebd., S. 261). Unter Mood (Stimmung) wird ein diffuser Zustand eines Subjekts verstanden, der bestimmte emotionale Bewertungen wahrscheinlicher erscheinen lässt als andere. Wenn eine Zuschauerin in einer diffusen Stimmung der Unlust ist, wird es wahrscheinlicher, dass sie bei der Durchsicht des Interface des von ihr abonnierten Streaming-Dienstes kaum etwas findet, dass sie vollauf begeistern könnte. Wenn sie jedoch in einer diffusen Stimmung freudiger Erwartung ist, wird sie wahrscheinlich auch noch dem langweiligsten Gespräch in einer Talkshow etwas abgewin‐ nen können und eben nicht entnervt den Fernseher ausschalten. Um Filme und Fernsehsendungen in ihrem kommunikativen Verhältnis zu den Zuschauer: innen zu analysieren, muss nicht im obigen Sinn zwischen Affekt, Emotion und Mood unterschieden werden. Stattdessen reicht es 1.2 Film- und Fernseherleben 41 <?page no="42"?> meines Erachtens aus, zwei grundlegende Arten von Emotionen zu unter‐ scheiden (vgl. Mikos 2001a, S. 110 ff.): sogenannte Erwartungsaffekte, die in einem engen Zusammenhang mit Kognitionen stehen, und Emotionen als situative Erlebnisqualität und sinnliche Erfahrung, die auf früheren, lebens‐ geschichtlich bedeutsamen Erfahrungen der Zuschauer: innen beruhen. Dies geht weiter als die rein psychologischen Bestimmungen, da Emotionen hier nicht als isolierte, intraindividuelle Erregungsstufen, sondern in Beziehung zur sozialen Realität der Rezipient: innen gesehen werden. Denn Emotionen können nur im situativen Rahmen sozialer Interaktionen auftauchen. Sie sind ebenso wie die Kognitionen notwendiger Bestandteil der Interpretation von Situationen; ohne sie kann das Subjekt nicht handeln. Die »je aktuellen Gefühle sind ein relevanter und unverzichtbarer Teil dafür, daß der Mensch aktiv handelt und erlebt, wie er es tut, also ein inhärenter Bestandteil seiner Interpretation« (Krotz 1993, S. 112). Das wird auch in Bezug zur Film- und Fernsehrezeption deutlich. So hat Ed S. Tan (1996, S. 195 ff.) ein Modell des Emotionsprozesses in Bezug auf die Spielfilmrezeption vorgelegt. Er geht davon aus, dass die narrative Struktur eines Filmtextes ein Situationsmodell aufbaut, in dem eine emotionale Bedeutungsstruktur aufgehoben ist, und erst dadurch kommt es zu einer emotionalen Reaktion bzw. Antwort. Das ist nur möglich, weil Handlungssituationen - ob im Film oder im Alltag - grundsätzlich eine emotionale Bedeutungsstruktur aufweisen. Deutlich wird so, dass die Emotionen nicht nur von Figuren und Charakteren im Film oder der Fernsehsendung angeregt werden (vgl. Smith 1995), sondern auch von dramatischen Konflikten, die z. B. zu einer emotionalen Anspannung der Zuschauer: innen führen können (vgl. Wuss 1999, S. 318 f.; Wuss 2020, S. 199ff.), sowie von den Interaktionsbeziehungen, die sich im »sozialen Kleinsystem« (Wulff) der Handlung eines Films ergeben. In diesem Sinn geht Hans J. Wulff (2002, S. 110) davon aus, dass sich z. B. Empathie nicht einfach auf einzelne Figuren richtet, sondern dass Spielfilme ein »empathi‐ sches Feld« aufbauen. Darunter versteht er imaginierte Szenarien, die als ein symbolischer Kontext »des sozialen Lebens, des Genres, der besonderen Handlung und des besonderen dramatischen Konflikts« (ebd.) gesehen werden, der sowohl in Geschichten als auch in Personenkonstellationen integriert ist. Figuren und Charaktere werden dann im Rahmen dieses symbolischen Kontextes wahrgenommen. Der Filmwissenschaftler Jens Eder begreift Empathie als ein vielschichtiges Phänomen und unterscheidet vier Formen der Empathie im Film: somatische, situierte, projektive und imaginative Empathie. Die somatische Empathie entsteht über eine Anste‐ 42 1 Die Kommunikationsmedien Film und Fernsehen <?page no="43"?> ckung durch körperliches Verhalten; die situierte Empathie durch ähnliche Reaktionen auf geteilte Situationen; die projektive Empathie entsteht aus der Projektion eigener Gefühle auf die Figur, auch jenseits geteilter Situationen; und bei der imaginativen Empathie schließlich geht es um das aktive Erschließen der Situationsbedeutung und Imagination aus der Perspektive der Figur (Eder 2017, S. 257). Die Filmwissenschaftlerin Margrethe Bruun Vaage unterscheidet daher zwischen dem »automatischen Nachvollzug des Gefühlszustands des Anderen anhand seiner Körperhaltung (körperbezo‐ gene Empathie)« und der imaginativen, bei der sich die Zuschauerin »in seiner Vorstellung partiell in die Situation des Anderen versetzen und diese verstehen« kann (Bruun Vaage 2007, S. 101). Nur so kann sich Empathie entwickeln. Man kann zwischen positiven und negativen Erwartungsaffekten unter‐ scheiden (vgl. Bloch 1985, S. 121 ff.). Angst, Schrecken und Verzweiflung zählen nach Bloch zu den negativen, Hoffnung und Zuversicht zu den positiven Erwartungsaffekten. Sie sind in der Regel unbestimmt, denn sie verweisen auf die Zukunft. In der Film- und Fernsehrezeption werden im Rahmen von filmischen und fernsehspezifischen Konventionen, Genremus‐ tern und narrativen Strukturen Situationen aufgebaut, die die Zuschauer: in‐ nen in die Erwartung von Angst und Schrecken versetzen. Die Situation wird mithilfe der kognitiven Wissensbestände als eine interpretiert, die im Rahmen der künftigen Handlung Bedrohliches erwarten lässt. Erst wenn dies gelingt, werden die Zuschauer: innen affektiv vereinnahmt. Die positiven Erwartungsaffekte Hoffnung und Zuversicht gehen nach Bloch auch mit der Erwartung von sogenannten »gefüllten« Affekten einher, die an Erinnerungsvorstellungen gebunden sind (ebd., S. 122). Die aufgebaute Erwartung zielt darauf ab, einen Möglichkeitsraum zu schaffen, in dem die Zuschauer: innen aufgrund ihrer Erinnerungsvorstellung mit der Wie‐ derbelebung vergangener Gefühle wie Freude, Liebe, Glück, Neid, Eifersucht usw. rechnen können. Da diese Gefühle generell an Situationen sozialer Interaktion gebunden sind, können sie anhand entsprechender Situationen in den Film- und Fernsehtexten wieder belebt und aus der Erinnerung heraus erneut empfunden werden. Emotionen stellen so eine situative Erlebnisqua‐ lität dar. Deutlich wird, dass Erwartungsaffekte und Emotionen durch die in den Film- und Fernsehtexten dargestellten Handlungssituationen im Kontext von Konventionen der Darstellung, Genremustern sowie narrativen und dramaturgischen Strukturen vorstrukturiert und angeregt werden. Die textuellen Strategien zielen damit auf die emotionalen Aktivitäten der Zu‐ 1.2 Film- und Fernseherleben 43 <?page no="44"?> schauer: innen ab. Filme und Fernsehsendungen sind in diesem Sinn zu den Affekten und Emotionen der Zuschauer: innen hin geöffnet. In der Analyse können diese Strukturen in ihrer Funktionalität für die Zuschauer: innen herausgearbeitet werden. Daneben sind Film- und Fernsehtexte aber auch zum praktischen Sinn der Rezipient: innen hin geöffnet. Der praktische Sinn regelt die routinisierten und rituellen Handlungen des Alltags, er ist an soziale Praktiken gebunden. Pierre Bourdieu (1976, S. 228 ff.) hat diese Praxisform durch die Analyse der kabylischen Gesellschaft entdeckt und später zu einer Kritik der theore‐ tischen Vernunft weiterentwickelt, indem er dem praktischen Sinn eine ei‐ gene »Logik der Praxis« zuweist (vgl. Bourdieu 1987, S. 147 ff.), die völlig »in der Gegenwart und in den praktischen Funktionen« aufgeht (ebd., S. 167). Der praktische Sinn eines Objekts ist durch den Zusammenhang, den es in einer Handlung hat, bestimmt (vgl. auch Weiß 2001, S. 41 ff.). Auf diese Weise kann z. B. das Kino im Rahmen des praktischen Sinns dadurch bestimmt sein, dass man immer nur am Wochenende mit Freunden in ein Multiplex geht. Das wird zu einer routinisierten und rituellen Handlung, die vollzogen wird, ohne unbedingt ein Bewusstsein von ihr erlangen zu müssen. Genauso kann z. B. das Fernsehen als rituelles Objekt der Entspannung und Zerstreuung Bestandteil des praktischen Sinns sein. Da die Objekte aber an konkrete Praxisformen gebunden sind, können sie »in verschiedenen Praxiswelten Verschiedenes zum Komplement haben und daher je nach Art der Welt verschiedene, sogar entgegengesetzte Eigenschaften annehmen« (Bourdieu 1987, S. 158) und Bedeutungen haben. Im praktischen Sinn des alltäglichen Handelns in unterschiedlichen Situationen zeigt sich die Transformation der gesellschaftlichen Strukturen in subjektives Handeln nach den Prinzipien des Lebenssinns (vgl. Weiß 2000, S. 45). Der lebenspraktische Sinn von Film und Fernsehen ergibt sich aus den routinisierten und rituellen Handlungen der Menschen mit ihnen (vgl. Gauntlett/ Hill 1999; Hartmann 2013; Niemand 2020; Pfaff-Rüdiger/ Meyen 2007; Prommer 2012; Röser 2007; Röser u. a. 2010) zum Fernsehen im Alltag Mikos 2004, Mikos 2017; Röser/ Großmann 2008). Der praktische Sinn des sozialen Handelns umfasst dabei »eine Art ›implizites Wissen‹ von der Relevanz, Bedeutung und Geeignetheit bestimmter Handlungsweisen, das sich im Akteur durch soziale Einübung und Erfahrung im fortlaufenden Handlungsvollzug eingelebt hat« (Hörning 2001, S. 162). Da Filme schauen, fernsehen und streamen als eingeübte Handlungen gelten können, die im Verlauf der Mediensozialisation routi‐ nisiert und ritualisiert wurden, offenbart sich der praktische Sinn gerade 44 1 Die Kommunikationsmedien Film und Fernsehen <?page no="45"?> in den Gewohnheiten, die damit verbunden sind (vgl. dazu am Beispiel Binge-Watching Mikos/ Castro 2021). Die Rezeption von Filmen und Fern‐ sehsendungen wird zu einer gewohnheitsmäßigen performativen Praxis, die aber unterschiedliche Formen annehmen kann (vgl. Naab 2013; zu den Medienritualen von Paaren vgl. Linke 2010). Dabei spielt besonders der lebensweltliche Wissenshorizont als kulturelles Hintergrundwissen eine Rolle, allerdings nur in der Form, in der er sich in der sozialen Praxis zeigt. »Den regelmäßigen Handlungspraktiken unterliegen damit indirekt kulturelle Schemata, die in routinisierten Interpretationen und Sinnzuschreibungen der Akteure Eingang ins Handlungsgeschehen finden und dort als implizite Unter‐ scheidungsraster wirken, die bestimmte Gebrauchsformen nahelegen und andere als unpassend ausschließen« (Hörning 2001, S. 165). Eine Form, in der sich der lebensweltliche Wissenshorizont in der Praxis zeigt, sind die handlungsleitenden Themen der Menschen. In ihnen zeigt sich »die spezifische soziale Prägung der Lebensphase« (Weiß 2000, S. 57; H.i.O.). Sie beziehen sich auf die gesamte Lebenssituation einer Person (vgl. Charlton/ Neumann 1986, S. 31; Mikos 2001a, S. 89). Film- und Fernsehtexte sind sowohl zum praktischen Sinn der Menschen allgemein als auch zu ihren kulturell geprägten handlungsleitenden Themen hin geöffnet. Ihre textuelle Struktur bietet Raum für routinisierte und rituelle Aktivitäten in den lebensweltlichen Zusammenhängen und kulturellen Kontexten der Zu‐ schauer: innen. In der Analyse muss diese Struktur ebenso herausgearbeitet werden wie jene, die die kognitiven, emotionalen und sozial-kommunikati‐ ven Aktivitäten des Publikums vorstrukturieren. In der textuellen Struktur zeigt sich das implizite Publikum (Barker 2000, S. 48 ff.) oder der Zuschauer im Text, der aus der Literaturwissenschaft als impliziter Leser (Iser 1974) und aus der Kunstwissenschaft als impliziter Betrachter (Kemp 1992) bekannt ist. Gegenstand der Film- und Fernsehanalyse ist aus rezeptionsästhetischer Sicht die textuelle Struktur von Filmen und Fernsehsendungen, weil sie die Rezeptions- und Aneignungsaktivitäten vorstrukturieren. Alle Formen der Darstellung, alle Zeichensysteme, die in audiovisuellen Medien benutzt werden, sind sowohl im Rahmen der Struktur der Texte als auch im Rahmen ihrer Funktion für die kognitiven, affektiven und emotionalen, sozial-kom‐ munikativen, routinisierten und rituellen Aktivitäten des Publikums zu un‐ tersuchen. In diesem Sinn muss die Analyse immer mögliche und faktische Rezeptionen und Aneignungen im Blick haben, denn: »Mediale Produkte 1.2 Film- und Fernseherleben 45 <?page no="46"?> sind nicht unabhängig von genutzten und ungenutzten Möglichkeiten ihrer rezeptiven Aneignung zu verstehen« (Keppler 2001, S. 142). Allerdings ist dabei zu berücksichtigen, dass auf allen Ebenen der Publikumsaktivitäten in der Rezeption und Aneignung die kulturellen und sozialen Kontexte zu berücksichtigen sind, in die sowohl die Film- und Fernsehtexte als auch die Aktivitäten der Zuschauer: innen eingebunden sind. »Was einen Text ausmacht, können wir erst dann ganz begreifen, wenn wir untersuchen, wie sich die Texte an ihre Leser oder Zuschauer wenden und wie die Leser, für sich oder als Gruppe betrachtet, Texte interpretieren und in ihre alltägliche Lebenspraxis integrieren, d. h.: wenn wir analysieren, wie Texte in einem bestimmten gesellschaftlichen Raum zirkulieren und Wirkung entfalten« (Casetti 2001, S. 156). 1.3 Zitierte Literatur Adamowsky, Natascha/ Matussek, Peter (2004): Formen des Auslassens. Ein Experi‐ ment zur kulturwissenschaftlichen Essayistik. In: Dies. (Hrsg.): [Auslassungen], Leerstellen als Movens der Kulturwissenschaft. Würzburg, S.-13-28 Barker, Martin (2000): From Antz to Titanic. 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Wiesbaden 1.3 Zitierte Literatur 51 <?page no="52"?> 2 Erkenntnisinteresse Filme, Fernsehsendungen und Videos werden nicht um ihrer selbst willen analysiert, sondern es ist immer ein Erkenntnisinteresse damit verbunden. Eine Analyse kann verschiedenen Zwecken dienen: Sie kann erfolgen, um ganz pragmatisch anhand der Strukturen eines einzelnen Films seinen Erfolg bei einer bestimmten Zielgruppe erklären zu können; sie kann auch erfolgen, um theoretische Überlegungen zur Rolle und Funktion von Moderator: innen im Fernsehen anhand der Adressierungsformen weiterzuentwickeln; sie kann sich in den Dienst struktureller Überlegungen zur Montagetheorie stellen; sie kann aber auch dazu dienen, theoretische Annahmen über Film, Fernsehen und Streaming anhand konkreter Fallbeispiele zu bestätigen oder zu widerlegen. Diese Beispiele mögen genügen, um zu zeigen, dass die Film- und Fernsehanalyse ein komplexes Unterfangen ist. Einerseits steht sie immer im Zusammenhang mit theoretischen Erkenntnissen über audio‐ visuelle Medien, andererseits erfolgt sie in der Regel aus einer bestimmten Perspektive heraus. Es macht z. B. einen Unterschied, ob ein Film wie »Django Unchained« aus der Perspektive einer feministischen Filmwissen‐ schaft analysiert wird oder ob der Film Gegenstand einer Analyse ist, die im Rahmen eines Drehbuchworkshops die narrative und dramaturgische Struktur herausarbeitet. Dieses Beispiel macht auch deutlich, dass Analysen in der Regel in einem Verwendungszusammenhang stehen. Mit anderen Worten: Sie dienen einem Zweck, der nicht nur wissenschaftlicher Art sein kann. Darüber hinaus muss jede Analyse, die nicht nur Einzelaspekte an Filmen und Fernsehsendungen untersucht, je nach Erkenntnisinteresse Theorien aus verschiedenen Disziplinen berücksichtigen. In diesem Sinn ist Film- und Fernsehanalyse notwendigerweise inter- und transdisziplinär: interdiszipli‐ när, weil sie theoretische Annahmen verschiedener Disziplinen in einer Analyse zusammenführt; transdisziplinär, weil sie aus dem Wechselspiel zwischen Analyse und Theorie zur Überwindung von Disziplingrenzen bei‐ tragen kann. Generell gilt der Satz von Hans J. Wulff (1999, S. 11): »Analyse ohne Theorie ist […] sinnlos, selbst dann, wenn sie die Eigenständigkeit des Beispiels gegen die Theorie zu verteidigen sucht.« Den Königsweg der Analyse gibt es nicht (vgl. Aumont/ Marie 2020, S. 27; Salt 1992, S. 27). Sie bedient sich verschiedener theoretischer Annahmen <?page no="53"?> aus unterschiedlichen Disziplinen und verschiedener Methoden, die sich am Erkenntnisinteresse orientieren. Eine Film- und Fernsehanalyse ist nicht unabhängig von den Kontexten, in denen sie steht: »So ist also der analytische Zugang zum Film davon abhängig, welcher sozialen Praxis er dienen soll, welchen theoretischen Aspekt er favorisiert, im Rahmen welcher Forschungstendenzen er erfolgt, auf welche Phasen des schöpferischen, bedeutungsbildenden Prozesses er sich bezieht, welchen Ausschnitt innerhalb der medienkulturellen Beziehungen er wählt usw. Innerhalb jedes Bezugssystems findet sich jeweils ein Spektrum unterschiedlicher Möglichkeiten, so daß die analytischen Aufschlüsse bezüglich ihres Inhalts und Charakters variieren kön‐ nen« (Wuss 1999, S. 22). Jede Film- und Fernsehanalyse ist deshalb eingebunden in wissenschaftliche Diskurse, »sie steht genau in deren diskursiven Rahmenbedingungen« (Wulff 1998, S. 25), und sie ist eingebunden in die diskursiven Kontexte der jeweiligen Bezugsdisziplinen, aus denen heraus der perspektivische Zugriff auf ihren Gegenstand erfolgt. Was aber genau ist eigentlich der Gegenstand der Film- und Fernsehanalyse? Im Rahmen der vorgenommenen theoretischen Einordnung von Film und Fernsehen als Kommunikationsmedien können Gegenstand der Film- und Fernsehanalyse nur konkrete Filme, Fernsehsendungen und Videos sein, deren textuelle Struktur im Hinblick auf die Interaktion mit Zuschauer: in‐ nen untersucht wird. Dabei kann es sich um einen Korpus von Filmen oder Fernsehsendungen handeln, das auf gemeinsame Merkmale oder differente Strukturen bzw. Invariantenbildung (vgl. Wuss 2020) hin untersucht wird. Im Mittelpunkt der Analyse kann aber auch lediglich eine einzelne Szene aus einem Autorenfilm oder einer Gameshow stehen, an der exemplarisch textuelle Strukturen unter einem spezifischen Gesichtspunkt herausgear‐ beitet werden. Einzelne Film- oder Fernsehbilder sind - einmal abgesehen von Pausenzeichen, Senderlogos oder Wetterkarten - nicht Gegenstand der Analyse, weil es sich bei Film und Fernsehen um Medien des bewegten Bildes handelt. Das grenzt die hier vorgeschlagene Art der Analyse auch von bildwissenschaftlichen Verfahren ab (vgl. Frank/ Lange 2010; Lobinger 2019; Sachs-Hombach 2013 sowie die Beiträge in Sachs-Hombach 2005). Die Abfolge von Einzelbildern, die in ihrer chronologischen, linearen Reihung das Wesen von Film und Fernsehen ausmachen, steht im Zentrum der Ana‐ lyse. Dabei können zwar Einzelbilder eine Rolle spielen, sie sind aber immer im Kontext der Bilder davor und der Bilder danach zu sehen. Gegenstand 2 Erkenntnisinteresse 53 <?page no="54"?> einer konkreten Analyse können z. B. einzelne Szenen oder Sequenzen eines Films, typische Szenen eines Samples von Genrefilmen, typische Er‐ öffnungssequenzen von Autorenfilmen, einzelne Episoden von Gameshows, die Adaption einer britischen Realityshow für das deutsche Fernsehen, Beiträge von Magazin- oder Nachrichtensendungen, ganze Filme und Fern‐ sehsendungen sowie eine Gruppe von Filmen, Fernsehsendungen und Videos sein. Letztere kann nach verschiedenen Kriterien gebildet werden, z. B. können alle Filme eines Regisseurs, alle Krimis öffentlich-rechtlicher Sender, alle Western zwischen 1930 und 1960, alle adaptierten Realityshows, alle Netflix-Serien, die im deutschsprachigen Raum zu sehen waren, alle Videos einzelner Influencer auf YouTube oder alle Fußballsendungen einer Woche als Gruppen untersucht werden. Die Bestimmung des Gegenstands einer konkreten Analyse hängt eng mit dem Erkenntnisinteresse zusammen. Wenn davon ausgegangen wird, dass in der Analyse das allgemeine In‐ teresse leitend ist, die Film- und Fernsehtexte in ihrer strukturfunktionalen Bedeutung für die Rezeption zu sehen, kann sich das konkrete Erkenntnis‐ interesse auf fünf Ebenen richten: • Inhalt und Repräsentation • Narration und Dramaturgie • Figuren und Akteure • Ästhetik und Gestaltung • Kontexte Jeder Film, jede Fernsehsendung und jedes Video können auf diesen Ebenen untersucht werden. Dabei ist es möglich, dass sich die Analyse auf eine einzelne Ebene beschränkt, sie kann aber auch mehrere berücksichtigen. Jede Ebene steht in Bezug zu den anderen: Die Kontexte sind z. B. auf der Ebene der Narration und der Dramaturgie wirksam; die Ebene der Ästhetik und Gestaltung spielt eine wichtige Rolle für die Ebene des Inhalts und der Repräsentation; die Ebene der Figuren und Akteure ist eng mit der Ebene der Narration und der Dramaturgie verknüpft. Die genannten Ebenen lassen sich sowohl bei der Analyse fiktionaler wie dokumentarischer Filme, Fernsehsendungen und Videos als auch bei den Fernsehformen, bei denen ein Ereignis im Studio oder an einem anderen Ort für das Fernsehen inszeniert wird, untersuchen. Fiktionale und doku‐ mentarische Filme sowie für das Fernsehen inszenierte Ereignisse haben einen Inhalt, sie repräsentieren reale oder mögliche Welten, sie erzählen Geschichten, die dramaturgisch gestaltet sind, in ihnen sind Figuren und 54 2 Erkenntnisinteresse <?page no="55"?> Akteure aktiv, sie sind medial bearbeitet und ästhetisch gestaltet, schließlich stehen sie in textuellen, kulturellen, sozialen und gesellschaftlichen Kontex‐ ten. So sind es z. B. nicht nur fiktionale Filme, die von Drehbuchautoren erfundene Geschichten erzählen, sondern auch Dokumentarfilme (vgl. Auf‐ derheide 2007; Balke 2021; Fahle 2020; Kiener 1999, S. 157 ff.; Kilborn 2010, S. 125 ff.; Nichols 2017, S. 91 ff.), und selbst in Nachrichtensendungen werden Geschichten erzählt. Im Folgenden wird kurz dargestellt, welche allgemeinen Erkenntnisinte‐ ressen mit den genannten fünf Ebenen verbunden sind, die in späteren Kapiteln konkretisiert werden. 2.1 Inhalt und Repräsentation Diese erste Ebene, auf der Filme und Fernsehsendungen analysiert werden können, ist eng mit der Bedeutungsbildung verknüpft. Gemeinhin kann angenommen werden, dass Filme und Fernsehsendungen einen Inhalt haben und eine soziale Welt repräsentieren. Doch was genau ist der Inhalt und wie genau funktioniert Repräsentation? In Diskussionen zur Inhaltsanalyse wird in der Regel nicht explizit darauf eingegangen, was zum Inhalt z. B. einer Nachrichtensendung gehört. Implizit wird allerdings angenommen, dass es sich um Information und nicht um Unterhaltung handelt. Genauer wird der Inhalt in diesem Fall über Themen bestimmt (vgl. die Beiträge in Wirth/ Lauf 2001 sowie zur qualitativen Inhaltsanalyse Kuckartz 2022; Mayring 2022; Mayring/ Hurst 2017). Zunächst einmal kann allgemein festgehalten werden, dass alles, was gesagt und gezeigt wird, den Inhalt darstellt. Um beim Beispiel der Nachrichtensendung zu bleiben, bilden alle Nachrichten, die in Wort und Bild vermittelt werden, den Inhalt der Sendung. Dabei ergibt sich die Frage, ob die Nachrichtensprecherin, die schriftliche Nachrichten verliest und Bild‐ beiträge ankündigt, auch zum Inhalt gehört. Auf einer allgemeinen Ebene könnte man sagen: Der Inhalt einer Nachrichtensendung besteht darin, dass eine Nachrichtensprecherin Nachrichten verliest und Bildnachrichten in kurzen Filmbeiträgen gezeigt werden. Auf einer konkreteren Ebene können die Themen, die in den Wort- und Bildbeiträgen der Nachrichten abgehan‐ delt werden, als Inhalt verstanden werden. Um diese Inhalte zu erforschen, werden im Rahmen der sogenannten Inhaltsanalyse methodisch Kategorien gebildet, nach denen sie klassifiziert werden können (vgl. Mayring 2022; 2.1 Inhalt und Repräsentation 55 <?page no="56"?> Wegener 2005). Die Art und Weise, wie Nachrichten präsentiert werden, spielt dabei keine Rolle. Das wiederum kann Gegenstand der Film- und Fernsehanalyse sein. Die Film- und Fernsehanalyse interessiert sich nicht für den Inhalt eines Films oder einer Fernsehsendung im eben beschriebenen Sinn. Stattdessen ist für sie interessant, wie der Inhalt präsentiert wird und damit zur Produk‐ tion von Bedeutung und der sozialen Konstruktion von gesellschaftlicher Wirklichkeit beiträgt: »Der auszusagende Inhalt - ein Gedanke, eine Ge‐ schichte, ein Thema-- wird mit einem Darstellungsformat vereinigt. Erst in dieser Gestalt kann er zum Element des kommunikativen Verkehrs werden« (Wulff 1999, S. 32; H.i.O.). Dabei ist grundsätzlich davon auszugehen, dass alles, was die Kamera zeigt, wichtig und bedeutsam ist. Wenn Film- und Fernsehtexte zum Wissen, zu den Emotionen, zur sozialen Kommunikation und zum praktischen Sinn der Zuschauer: innen hin geöffnet sind, steht im Mittelpunkt der Analyse, wie diese Texte zum »sinnhaften Aufbau der sozialen Welt« (Schütz 1932/ 2016) beitragen, und zwar in Bezug auf die strukturelle Rolle der Medien in der gesellschaftlichen Kommunikation so‐ wie in Bezug auf die konkrete Rolle einzelner Medien und Medieninhalte für die Subjektkonstitution und Identitätsbildung konkreter Zuschauer: innen und Zuschauer: innengruppen. Repräsentation meint »die Produktion von Bedeutung durch Sprache« (Hall 2013, S. 14). Dies ist kein unpersönlicher Prozess, sondern es gibt Akteure der Bedeutungsproduktion. Repräsentation ist daher genauer »der Prozess, bei dem Mitglieder einer Kultur Sprache benutzen […], um Bedeu‐ tung zu produzieren« (ebd., S. 45). Als Sprache gilt dabei jede Art von Zeichensystem, also auch Medien wie Film und Fernsehen. Es werden Zeichen benutzt, »die in verschiedenen Arten von Sprachen organisiert sind, um bedeutungsvoll mit anderen kommunizieren zu können« (ebd., S. 14), im Fall von Film und Fernsehen sind dies Bilder, Töne, Schrift, Sprache, Grafik und Musik (vgl. auch Hartley 1994, S. 265). Die Zeichen können für Objekte in der sogenannten realen Welt stehen, sie können aber auch für abstrakte Ideen und Fantasiewelten stehen. Nach Stuart Hall gibt es zwei Repräsentationssysteme: das Zeichensystem, in dem die Artikula‐ tion stattfindet, und mentale Konzepte, die »die Welt in bedeutungsvolle Kategorien klassifizieren und organisieren« (Hall 2013, S. 14). Es existiert keine Realität außerhalb der Repräsentation. In diesem Sinn können die kognitiven Aktivitäten, zu denen die Film- und Fernsehtexte als Zeichen- und damit als Repräsentationssystem hin geöffnet sind, als mentale Reprä‐ 56 2 Erkenntnisinteresse <?page no="57"?> sentationssysteme gesehen werden. Daher ist es aus psychologischer Sicht möglich, dass Kognitionen und Emotionen der Zuschauer: innen bereits in den Filmen modelliert sind, wie Peter Wuss (2020, S.-97ff.) es nennt. Filme und Fernsehsendungen können als Zeichensysteme betrachtet werden, die reale Welten und abstrakte Ideen, die der gesellschaftlichen Wirklichkeit entstammen, oder mögliche Welten, wie sie in Geschichten erzählt werden, repräsentieren. Als Zeichensysteme stehen sie in Bezug zum »historischen, kulturellen und sozialen Wandel. Repräsentationen sind daher ein Ort des Kampfes um Bedeutung« (Taylor/ Willis 1999, S. 40). In der Film- und Fernsehanalyse geht es jedoch nicht nur um das, was gezeigt wird, sondern vor allem auch darum, wie es gezeigt wird. Im ersten Kapitel in Teil II wird auf einzelne Aspekte dieser theoretischen Bezüge genauer eingegangen. Die Analyse des Inhalts und der Repräsentation von Fernsehsendungen und Filmen hat einen besonderen Stellenwert. Sie ist wichtig, um die Prozesse des sinnhaften Aufbaus der sozialen Welt zu verstehen, weil sich darüber die Subjekte in der Gesellschaft positionieren. Als Repräsentationen korrespondieren Film- und Fernsehtexte mit gesellschaftlichen Strukturen. Damit stehen sie auch fundamental in Beziehung zu Macht und Herrschafts‐ verhältnissen (vgl. Orgad 2012, S. 25). Darin liegt ihre ideologische Kompo‐ nente. Zugleich beziehen sie sich auf den gesellschaftlichen Wissensvorrat, der die Positionierung des Individuums in der Gesellschaft bestimmt (vgl. Berger/ Luckmann 2010, S. 43; auch Peltzer/ Keppler 2015. S. 7ff.). Da die Texte aber zugleich zu den Aktivitäten der Zuschauer: innen hin geöffnet sind, spielen sie für Identität und Subjektivität eine wichtige Rolle (vgl. Bachmair 1996, S. 238 ff.; Fiske 2011, S. 4 ff.; Fritzsche 2003; Gauntlett 2002; Weber 2015; Wegener 2008; Wierth-Heining 2004 sowie die Beiträge in Mikos u. a. 2009, Vollbrecht/ Wegener 2009 und Winter u. a. 2003). Auf dieser Basis reflektieren die Menschen »ihre Erfahrungen und ihren Platz in der Welt« (Grossberg u. a. 1998, S. 227). Im Rahmen eines Verständnisses von Film und Fernsehen als Kommunikationsmedien wird die Rezeption und Aneignung von Film- und Fernsehtexten »zu einer kontextuell verankerten gesellschaftlichen Praxis«, in der die Texte »erst auf der Basis sozialer Erfahrung produziert werden« (Winter 1999, S. 56), indem Zuschauer mit ihnen im Alltag und ihrer Lebenswelt sinnvoll handeln. Daraus resultiert die Relevanz von Film- und Fernsehanalysen, die sich z.-B. mit der Darstellung der Frau, der Verwendung von ethnischen Stereotypen oder der Rolle von Kindheit auseinandersetzen. 2.1 Inhalt und Repräsentation 57 <?page no="58"?> 2.2 Narration und Dramaturgie Die zweite Ebene, auf der Filme, Fernsehsendungen und Videos analysiert werden können, ist zwar eng mit der ersten verknüpft, aber nicht mit ihr identisch. Geht es auf dieser Ebene doch um die Art und Weise der Repräsentation von sozialen Welten, sowohl von Aspekten der gesellschaft‐ lichen Wirklichkeit als auch von möglichen Welten, die der Imagination entsprungen sind. Was aber ist unter Narration und Dramaturgie in Bezug auf Filme und Fernsehsendungen zu verstehen? Auf eine knappe Formel gebracht kann man sagen: Die Narration oder Erzählung besteht in der kausalen Verknüpfung von Situationen, Akteuren und Handlungen zu einer Geschichte; die Dramaturgie ist die Art und Weise, wie diese Geschichte dem Medium entsprechend aufgebaut ist, um sie im Kopf und im Körper der Zuschauer: innen entstehen zu lassen. Genauer kann Erzählung zunächst als eine Form der kommunikativen Mitteilung verstanden werden, die sich von anderen Formen unterscheidet, z. B. von der Beschreibung oder der Argumentation (vgl. Chatman 1990, S. 6 ff.). Sie ist das Resultat einer kommunikativen Handlung: des Erzählens. Diese Tätigkeit wird von einer Akteurin ausgeübt, der Erzählerin, die ihre Erzählung an einen Adressaten, das Publikum, richtet. Eine Erzählung entsteht so immer durch die Positionierung und Perspektive der Erzählerin und ihren Blick auf das Erzählte bzw. auf die Geschichte vor dem Hintergrund der Publikumsadressierung. Grundsätzlich kann das Erzählen als eine »alltägli‐ che kommunikative Handlung« (Schülein/ Stückrath 1997, S. 55; vgl. auch Ehlich 2016) begriffen werden. Die Erzählerin kann sich beim Erzählen verschiedener medialer Formen bedienen, z. B. der Sprache, der Schrift, des Films, des Fernsehens oder des Hypertextes. Dabei benutzt sie verschiedene Strategien des Erzählens, die die Zuschauerin einbeziehen: »Narration ist folglich nicht substantiell, sondern prozessural zu verstehen, als kommunikativer Akt, in dem eine Geschichte entfaltet wird, deren Erschließung Aufgabe eines interpretierenden Zuschauers ist. Narration ist damit zugleich eine Aktivität, die das Wissen des Rezipienten und seine Eingeweihtheit in das Geschehen reguliert« (Hartmann/ Wulff 1997, S. 81; vgl. auch Bordwell 1990, S. XI). Erzählungen haben einen Anfang und ein Ende, dazwischen entfaltet sich die Geschichte für die Dauer des Films oder der Fernsehsendung (vgl. auch Bordwell 2008, S. 95). Der prozessuale Charakter der Erzählung verweist 58 2 Erkenntnisinteresse <?page no="59"?> bereits auf ihre zeitliche Dimension, die doppelt konstituiert ist: einerseits über die Dauer der Präsentation des Films, der Fernsehsendung oder des Videos und andererseits über die Dauer des Erzählten, genauer ausgedrückt, der erzählten Zeit der Geschichte (vgl. dazu Chatman 1990, S. 9). In diesem Sinn wird zwischen der Erzählzeit, z. B. den 100 Minuten eines Spielfilms, und der erzählten Zeit, z. B. den fünf Tagen, in denen sich die Geschichte dieses Films ereignet, unterschieden. Zugleich muss differenziert werden zwischen dem, was der Film oder die Fernsehsendung zeigt (Plot oder Sujet) und der erzählten Geschichte (Story oder Fabel), die erst im Kopf der Zuschauer entsteht (vgl. dazu Kapitel II-1.1 und II-2.1). Durch die Erzählung entsteht eine diegetische Welt, die als eine in sich konsistente mögliche Welt erscheint. Sie wird in der erzählten Geschichte geschaffen, sowohl mit dem Inhalt als auch mit der Repräsentation, die in einem Verhältnis zur sozialen Welt außerhalb des Films und des Fernsehens steht. Film- und Fernsehtexte sind in der Regel Erzählungen. Das trifft nicht nur auf fiktionale Texte zu, sondern auch auf dokumentarische wie Nach‐ richtensendungen und für das Fernsehen inszenierte Ereignisse wie Shows. Die meisten Formen der Unterhaltung sind um Erzählungen herum struk‐ turiert. Sie sind eine der »grundlegenden Quellen des Vergnügens« in den Medien (Casey u. a. 2008, S. 138). Allen Erzählungen ist gemeinsam, dass sie Geschichten erzählen. Eine Erzählung kann als »Verkettung von Situationen, in der sich Ereignisse realisieren und in der Personen in spezifischen Umgebungen handeln«, bezeichnet werden (Casetti/ di Chio 1994, S. 165; vgl. auch Berger 1997, S. 4 f.; Eder 2007, S. 5). In der Analyse sind die Situationen und Ereignisse herauszuarbeiten, die miteinander verknüpft werden, sowie die Personen und die Umgebungen, in denen diese Personen handeln. Erzählungen bedienen sich bestimmter Erzählstrategien, um das Publikum in die Geschichte einzubeziehen. Erzählstrategien sind daher immer mit Aktivitäten der Zuschauer: innen verknüpft, die im Verlauf ihrer Mediensozialisation auch ein narratives Wissen erworben haben. Dieses narrative Wissen umfasst typische Handlungsstrukturen und -episoden, typische Protagonistenrollen, typische Erzählkonventionen und typische Plots (vgl. Ohler 1994, S. 34 f.). Peter Wuss hat drei Formen filmischer Struk‐ turen herausgearbeitet, die einerseits mit Wahrnehmungsformen (Wuss 2020, S. 61ff.) und andererseits mit sogenannten Basisformen filmischen Erzählens (Wuss 1999, S. 97ff.) korrespondieren. Bei diesem »PKS-Modell« handelt es sich um perzeptionsgeleitete Strukturen, die auf Topikreihen in offenen Erzählformen basieren, um konzeptgeleitete Strukturen, die 2.2 Narration und Dramaturgie 59 <?page no="60"?> auf Kausalketten in geschlossenen Erzählformen beruhen, und um stereo‐ typengeleitete Strukturen, die auf Story-Schemata und Erzählkonventionen basieren. Erzählformen und -strategien machen deutlich, dass Erzählungen nicht einfach eine Ereignis- und Handlungsabfolge chronologisch darbie‐ ten, sondern dass sie dramaturgisch gestaltet sind: »Dramaturgie ist eine strukturelle Eigenschaft von Erzählungen« (Eder 2007, S. 10), sie liegt dem »Aufbau des Werkes« zugrunde (Eick 2006, S. 37). Film und Fernsehen haben eigene Strukturen des Erzählens und der Dramaturgie ausgebildet, die sich teilweise von literarischen und theatralen Strukturen des Erzählens unterscheiden. Grundsätzlich geht Dramaturgie auf die dramatische Gestaltung einer Erzählung zurück. Als grundlegendes Prinzip der Filmdramaturgie nennt Peter Rabenalt (1999, S. 17) die »sichtbare Erzählung in zeitlichem Verlauf, bildliche Narration«. Dramaturgie steht so zunächst offensichtlich in Beziehung zu dem, was ein Film auf der Leinwand oder eine Fernsehsendung auf dem Bildschirm zeigt. Doch tatsächlich steckt mehr dahinter. Sie ist nicht nur »das System des Handlungsaufbaus einer Erzählung«, dessen Elemente Ereignisse der erzählten Geschichte sind, wie Jens Eder (2007, S. 12) meint, sondern Dramaturgie hat eine grundlegende Aufgabe, »die Strukturierung der Ereignisabläufe, das heißt der Handlungen und Begebenheiten in der Fabel oder Story zu dem Zweck, beim Zuschauer ein Interesse auf den Ausgang und das Ergebnis der Handlungen zu erregen« (Rabenalt 1999, S. 25). Im Zentrum der Dramaturgie stehen Konflikte, die Figuren aktiv werden lassen und die Handlung vorantreiben. Dramaturgie hat also die Aufgabe, die Kette von Ereignissen, in denen Personen handeln, so zu gestalten, dass bestimmte kognitive und emotionale Aktivitäten bei den Zuschauern angeregt werden. Es wird Wissen aufgebaut, und es werden Gefühle hervorgerufen. Die dramaturgische Gestaltung einer Erzählung macht diese z. B. spannend, komisch oder bedrohlich. Die Film- und Fernsehanalyse muss daher herausarbeiten, wie die Ereignisabläufe der Erzählung strukturiert sind. Denn nur so kann gezeigt werden, wie die Film- und Fernsehtexte die Rezeptionsaktivitäten der Zuschauer: innen vorstrukturieren und die Geschichten in deren Köpfen entstehen lassen. Die dramaturgische Strukturierung der Erzählung legt fest, auf welche Art und Weise Informationen das Publikum erreichen und wie diese Informationen kognitiv und emotional verarbeitet werden (vgl. Elsaesser/ Buckland 2002, S. 37). In Kapitel 2 in Teil II wird näher auf die theoretischen Aspekte eingegangen, sofern sie für die Analyse von Bedeutung sind. 60 2 Erkenntnisinteresse <?page no="61"?> Die Analyse von Narration und Dramaturgie ist wichtig, weil sie die Grundlage für die Geschichten in den Köpfen der Zuschauer bilden und deren kognitives und emotionales Verhältnis zur Leinwand oder dem Bild‐ schirm regeln. Das Erkenntnisinteresse in der Analyse kann sich dann z. B. darauf richten, wie Spannung in einem Thriller erzeugt wird, wie das empathische Feld in einem Melodram aufgebaut wird, wie die Komik in einer Sitcom (situation comedy) entsteht oder wie der Konflikt zwischen Prot‐ agonist: innen und Antagonist: innen in einer Krankenhausserie aufgebaut und gelöst wird. Wenn Dramaturgie die Handlungs- und Ereignisabläufe einer Erzählung strukturiert und Erzählung als Verkettung von Situationen gesehen werden kann, in der Personen agieren, dann wird deutlich, wie eng Narration und Dramaturgie von Film- und Fernsehtexten mit Figuren und Akteur: innen verbunden sind. 2.3 Figuren und Akteur: innen Personen spielen in Filmen und Fernsehsendungen eine im wahrsten Sinn des Wortes wichtige Rolle. Nur in Natur- und Tierfilmen werden sie zu Randerscheinungen. In Spielfilmen und Fernsehserien haben sie eine we‐ sentliche Funktion als Handlungsträger: innen. Game- und Rateshows sind ohne Showmasterin und Kandidat: innen nicht denkbar. Nachrichten und Magazine werden von Moderator: innen präsentiert, und in den Beiträgen geht es häufig um menschliche Schicksale. Vor allem Talkshows wären ohne die Moderator: innen und die auftretenden Gäste nicht denkbar. Personen, die in Film und Fernsehen auftreten, stellen etwas dar. Ihrer Darstellung liegt eine Inszenierung zu Grunde (vgl. Eder 2014, S. 325 ff.). Sie werden von Schauspieler: innen oder realen Personen verkörpert. Die Analyse der Personen, Charaktere und Figuren in den audiovisuellen Medienprodukten ist aus zwei Gründen besonders bedeutsam: Zum einen sind die auftretenden Personen als Handlungs- und Funktionsträger: innen für die Dramaturgie und die narrative Struktur der Film- und Fernsehtexte wichtig, denn die zu erzählende Geschichte wird oft aus der Perspektive einer der Figuren dargestellt, und es sind gerade die Interaktionsstrukturen und Rollenzuweisungen, die im Zentrum von Game- und Talkshows stehen. Peter Wuss hat auf die doppelte Konstitution von Figuren im Film hinge‐ wiesen, denn einerseits dient der Begriff als »Bezeichnung eines konkreten Handlungsträgers innerhalb eines filmischen Vorgangs« aber auch als 2.3 Figuren und Akteur: innen 61 <?page no="62"?> Bezeichnung »einer zentralen dramaturgischen Kategorie« (Wuss 2020, S. 227). Zum anderen hängt die Wahrnehmung der auftretenden Personen durch die Zuschauer: innen von den in der Gesellschaft und der Lebenswelt der Zuschauer: innen kursierenden Bedeutungen und Konzepten von Selbst, Person und Identität ab. Mit und durch die Film- und Fernsehfiguren verständigt sich die Gesellschaft u. a. über ihre Identitäts- und Rollenkon‐ zepte. In diesem Sinn haben die Figuren und Akteur: innen eine wesentliche Funktion im Rahmen der Repräsentation für die Subjektpositionierung und Identitätsbildung der Zuschauer: innen. Grundsätzlich muss unterschieden werden zwischen Figuren und Cha‐ rakteren, die in fiktionalen Film- und Fernsehtexten auftreten, und Ak‐ teur: innen, die vor allem im Fernsehen spezifische mediale Funktionsrollen wie Moderatorin oder Showmasterin übernehmen, in YouTube-Videos als Influencer: in auftreten oder in dokumentarischen Film- und Fernsehformen vorkommen. Die Inszenierung von Figuren und Akteur: innen ist grundsätz‐ lich zu dem Wissen und den Emotionen, der kommunikativen Aneignung und dem praktischen Sinn der Zuschauer: innen hin geöffnet. Die kulturel‐ len, lebensweltlichen Konzepte, die in der Wahrnehmung von menschlichen Wesen als Personen eine Rolle spielen, sind auch für die Wahrnehmung von Figuren und Akteur: innen in Film- und Fernsehtexten bedeutsam. Anhand welcher Kriterien und Merkmale werden menschliche Lebewesen als Personen wahrgenommen? Bereits in dieser Formulierung ist ein Kri‐ terium enthalten: Es handelt sich bei Personen offenbar um menschliche Lebewesen. Doch allein das genügt nicht, denn auch künstliche Menschen, Außerirdische, Cyborgs und Roboter, die in Filmen oder Fernsehsendungen auftreten, werden als Personen wahrgenommen und identifiziert. Um ein Wesen als Mensch wahrzunehmen, muss es einen individuellen, menschlichen Körper haben, der durch Zeit und Raum einheitlich bleibt - es sei denn, er verändert sich durch biologische, chemische oder technische Prozesse, die auch im Film erklärt werden. Es muss ferner ein wahrnehmen‐ des Wesen sein, das Gefühle und intentionale Zustände wie Überzeugungen oder Wünsche hat und zur Selbstwahrnehmung fähig ist. Außerdem muss es eine natürliche Sprache benutzen und verstehen können und die Fähigkeit zu eigenen Handlungen und zur Selbstinterpretation haben. Schließlich muss es ein Potenzial an Charaktereigenschaften und unveränderbaren Merkmalen besitzen (vgl. Eder 2014, S. 61 ff.; Smith 2022, S. 21). Um diesen Menschen als eine Person wahrzunehmen, bedarf es weiterer Kriterien: Er oder sie muss einen Namen haben, ein Geschlecht und ein Alter, eine 62 2 Erkenntnisinteresse <?page no="63"?> Herkunft und eine Nationalität. All dies macht ihn oder sie von anderen unterscheidbar und identifizierbar, eben in der Differenz zu anderen. Diese Differenz macht sich auch in einigen der allgemeinen Kriterien für mensch‐ liche Wesen bemerkbar, z. B. in unterschiedlichen Charaktereigenschaften, Gefühlen und Wünschen und nicht zuletzt in unterschiedlichen Körpern. Lebensweltliches Wissen über soziale Typen, Persönlichkeitsprofile, Le‐ bensstile usw. stellt die Muster bereit, die zur Interpretation der Figuren und Akteur: innen sowie ihrer Einordnung in lebensweltliche Verweisungszu‐ sammenhänge beitragen. Wenn beispielsweise davon die Rede ist, dass Fern‐ sehzuschauer: innen das ständige Personal von Familienserien und Daily Soaps als Nachbar: innen oder »gute Freund: innen« (Gleich 1996, S. 128 ff.) betrachten, muss vorausgesetzt werden, dass die Zuschauer: innen genau wissen, was gute Freund: innen oder Nachbar: innen auszeichnet, und dass sich in dem Verhältnis zu den Serienfiguren offenbar ähnliche Merkmale wiederfinden. Es gibt ein lebensweltliches Wissen darüber, was die soziale Rolle »Nachbarin« bzw. »gute Freund: in« in einem bestimmten kulturel‐ len Kontext ausmacht. Dieses Wissen wird sowohl von Zuschauer: innen, die Serienfiguren als Nachbar: innen oder gute Freund: innen bezeichnen, angewendet als auch von Kritiker: innen und Wissenschaftler: innen, die das Verhältnis von Zuschauer: innen zu den Fernsehfiguren mit diesen Begriffen kennzeichnen. David Bordwell (1992, S. 13 f.) hat Personen- und Rollenschemata, die auf Handlungsträger im Film bezogen werden, als ein wesentliches Element von Kognition und Verstehen herausgearbeitet. Das Personal in Film- und Fernsehtexten steht immer in Bezug zu den jeweiligen Vorstellungen von Selbst und Identität sowie zu dem Wissen über Personen- und Rollentypisierungen, das im Rahmen spezifischer kultureller Kontexte in den lebensweltlichen Zusammenhängen zirkuliert. Wenn von einem Verständnis von Film und Fernsehen als Kommunikati‐ onsmedien ausgegangen wird, dann ist für die Film- und Fernsehanalyse ein entscheidendes Moment, dass die Inszenierung von Figuren und Akteur: in‐ nen nicht nur für Kognition und Verstehen von Bedeutung ist, sondern gerade auch für die emotionalen Prozesse in der Rezeption und Aneignung. Die für die Analyse wichtigen Ansätze werden in Kapitel 3 in Teil II ausführlicher dargestellt. Vor allem über die Figuren und Akteur: innen wird das Verhältnis von Nähe und Distanz der Zuschauer: innen zum Geschehen auf der Leinwand oder dem Bildschirm bestimmt. In der Analyse muss daher herausgearbeitet werden, über welche Beziehungsangebote die Film- und Fernsehtexte dieses Verhältnis zwischen Figuren bzw. Akteur: innen und Zu‐ 2.3 Figuren und Akteur: innen 63 <?page no="64"?> schauer: innen vorstrukturieren. Denn die Beziehungen, die Zuschauer: in‐ nen zu Filmfiguren und Fernsehakteur: innen aufbauen, spielen nicht nur bei der Identitätsbildung eine wesentliche Rolle, sondern sind auch für das Fanverhalten und die sozial-kommunikative Konstruktion von Filmstars und Fernsehpersönlichkeiten bedeutsam. 2.4 Ästhetik und Gestaltung Die Faszination von Filmen und Fernsehsendungen gründet vor allem auch darin, dass es sich um Medien des bewegten Bildes handelt. Einzel‐ bilder werden auf spezifische Weise gestaltet und zu einem Bilderstrom zusammengefügt. Die Geschichten, die in den Köpfen der Zuschauer: in‐ nen entstehen, basieren auf dem Wissen um filmische und televisionäre Darstellungsmittel und Gestaltungsweisen (vgl. Ohler 1994, S. 36 f.), das wiederum eng mit dem narrativen Wissen verknüpft ist. Es ist also nicht nur wichtig, was dargestellt wird, sondern auch wie es dargestellt wird. In der Filmwissenschaft wird in diesem Zusammenhang vom Diskurs des Films (vgl. Chatman 1993, S. 146 ff.; Tolson 1996, S. 41 f.), von der Filmform (vgl. Rowe 1996), vom Stil (vgl. Belton 2017, S. 41 ff.; Bordwell 2001; Bord‐ well/ Thompson 2020, S. 112 ff.; Hesse u. a. 2016; Wahl 2016; Wuss 2020, S. 567ff. sowie die Beiträge in Blunk u. a. 2016) oder - im Zusammenhang mit dem Fernsehen - auch von Rhetorik (vgl. Mikos 1994, S. 134 ff. und 2001a, S. 186 ff.; Silverstone 1988) gesprochen. Die spezifischen filmischen und televisionären Darstellungsmittel binden die Zuschauer: innen während der Rezeption eines Films oder einer Fernsehsendung an das Geschehen auf der Leinwand oder dem Bildschirm. Über sie werden die Zuschauer: innen vor allem emotional durch die Erzählung geführt, sie werden in bestimmte Stimmungen versetzt, ihre Aufmerksamkeit wird auf einzelne Aspekte im Film- oder Fernsehbild gelenkt, ohne dass ihnen dies immer bewusst ist. Auf diese Weise werden sie in die Perspektiven der Erzählung und der Repräsentation eingebunden. Im Rahmen einer Analyse gilt es nun, gerade diese Aspekte herauszuarbeiten und sie in Beziehung zum Wissen der Zuschauer: innen über filmische Darstellungsweisen zu setzen, um zur Bewusstmachung dieses Prozesses beizutragen. Die Gestaltungsmittel können auch für die Analyse von Inhalt und Repräsentation, Narration und Dramaturgie sowie der Figuren und Akteur: innen zentral werden. Denn die formalen und stilistischen Gestaltungsmittel bewegter Bilder positionieren 64 2 Erkenntnisinteresse <?page no="65"?> die Zuschauer: innen zum Geschehen auf der Leinwand oder dem Bildschirm und machen die Erlebnisqualität von Filmen und Fernsehsendungen aus. Die Gestaltungsweisen beruhen auf Konventionen der Darstellung. Das bedeutet, dass sie gelernt werden können und das Wissen um sie zur Routine, zum Teil des praktischen Sinns werden kann. Die Prozesse, die bei der Film- und Fernsehrezeption in Bezug auf die Darstellungsweisen ablaufen, können vorbewusst und teilweise unbewusst sein. Eine Analyse kann diese Prozesse bewusst machen, doch wird dies nicht dazu führen, dass sie auch in der konkreten Rezeptionssituation bewusst werden. Wer sich mit seinem Wissen auf einen Film oder eine Fernsehsendung einlässt, wird sich weiterhin emotional durch das Geschehen leiten lassen, im Nachhinein jedoch genauer sagen können, warum der Film eine gewisse Faszination ausgeübt hat. Filmische Darstellungs- und Gestaltungsweisen dienen vor allem dazu, die Zuschauer: innen in bestimmte Stimmungen zu versetzen. So spielen beispielsweise Komödien in hellen, großzügigen Räumen, während sich die Figuren in Psychothrillern in engen, dunklen Räumen bewegen müssen. Zugleich werden mit den Gestaltungsmitteln bei den Zuschauer: innen Erwartungen hinsichtlich des weiteren Geschehens geweckt. Konventionen der Darstellung und Gestaltung beruhen auf ihrem häufigen Einsatz in Fil‐ men und Fernsehsendungen und den damit verbundenen Lernerfahrungen der Zuschauer: innen. Wenn z. B. der Entscheidungswalk in der Castingshow »Germany’s Next Topmodel« stattfindet, sitzt die Jury vor dem Laufsteg und hat diesen im Blick. Die Kamera zeigt anschließend den Anfang des Laufstegs, und die Zuschauer erwarten nun, dass eine der Kandidatinnen dort auftaucht, um mit ihrem »Walk« zu beginnen. Oder es ist z. B. in einer Filmszene eine Frau zu sehen, die eine Straße entlangläuft, sie schaut sich manchmal um und macht einen gehetzten Eindruck, sie wird offenbar verfolgt. Die Kamera zeigt sie zunächst schräg von hinten, dann von der Seite; sie schaut zurück, und die Kamera folgt ihrem Blick. Schließlich übernimmt die Kamera ihren Blick nach vorn, und die Zuschauerin sieht aus ihrer Sicht, wie sie auf eine Hausecke zuläuft. Nun erwartet sie, dass hinter der Hausecke jemand erscheint, den sie dort nicht erwartet. Ist die Frau vorher als Identifikationsfigur aufgebaut worden, wird die Zuschauerin in diesem Moment Angst empfinden, da sie mit ihr mitfühlt oder Angst um sie hat. Mit dieser durch die Darstellungsweise erzeugten gespannten Erwartung werden die Zuschauer: innen in psycho-physiologische Erregung versetzt, der Film zieht sie in seinen Bann. Ein »guter« Film lässt die 2.4 Ästhetik und Gestaltung 65 <?page no="66"?> Zuschauer: innen kognitiv und emotional aktiv werden. Er gönnt ihnen zwar auch mal Ruhepausen, doch am Ende gibt er ihnen das Gefühl, zum Filmer‐ lebnis ihren Teil beigetragen zu haben. Dabei kann die Gestaltungsweise des Films auch zu Überbeanspruchung und damit verbundenen Erschöpfungs‐ zuständen führen. Als Beispiel mag hier »Natural Born Killers« dienen, ein Film, der mit grellen Farben, einer kurzen Schnittfrequenz, zahlreichen Spezialeffekten und lauter Musik arbeitet und damit an die Grenzen der gewohnten Wahrnehmungsweisen geht (vgl. Mikos 2002b). Die Feststellung, dass Filme und Fernsehsendungen aus bewegten Bil‐ dern bestehen, ist nicht ganz richtig, denn tatsächlich setzen sie sich aus unbeweglichen Einzelbildern zusammen, die von den Zuschauer: innen als bewegte Bilder wahrgenommen werden. Jedes einzelne Film- oder Fernsehbild bildet nicht nur etwas ab und stellt etwas dar, sondern ist in einer ganz spezifischen Art und Weise gestaltet. Das trifft nicht nur auf erfundene, fiktionale Geschichten zu, sondern auch auf abgebildete Realität. Jede Wiedergabe von Realität stellt nur einen Ausschnitt dar und ist durch die Technik und die spezifischen Darstellungsmöglichkeiten der Medien geformt. Auf diese Weise wird die Komplexität des Dargestellten auf das Darstellbare reduziert, es bleibt ein Rest - das Unsichtbare, das jedem Bild anhaftet. Dieses Unsichtbare kann aber wiederum durch spezi‐ fische Gestaltungsweisen wahrnehmbar gemacht werden. Darauf zielt die Inszenierung von Filmen oder Fernsehsendungen ab. Seit der Erfindung des Tonfilms können den Bildern Töne, Geräusche, Sprache, Musik hinzugefügt werden. Die Kamera kann durch verschiedene Einstellungsgrößen und Bewegungen das Ihre zur Inszenierung beitragen. Für den Gesamteindruck eines Films ist wichtig, wie die einzelnen Filmbilder montiert sind, und für eine Fernsehsendung ist es nicht unerheblich, wie die Bildregie die einzelnen Kamerabilder zusammenfügt. Doch auch wenn die Medien die Komplexität der wirklichen Welt reduzieren, sind Film- und Fernsehbilder an sich ausgesprochen komplex. Aufgrund dieser Komplexität sind die Zuschauer: innen in der Rezeption genötigt, das Bild auf die wichtigen Informationen für ihre kognitiven und emotionalen Aktivitäten abzutasten. Dabei geht es allerdings nicht darum, einzelne Bildinformationen herauszupicken und als relevant anzusehen, sondern die Aktivität der Zuschauer: innen liegt darin, die verschiedenen Aspekte des Bildes zueinander in Beziehung zu setzen (vgl. Ellis 1992, S. 54). Dabei kommt den einzelnen gestalterischen Mitteln besondere Bedeutung zu, denn sie lenken die Aufmerksamkeit der Zuschauer: innen. Außerdem 66 2 Erkenntnisinteresse <?page no="67"?> haben sie eine narrative Funktion, indem sie den Plot unterstützen. Sie dienen als Hinweise, die zum Verständnis der Filmerzählung beitragen und Erwartungen auf den Fortgang hervorrufen können (vgl. Ohler 1994, S. 36). Daher sind die gestalterischen Mittel für die Geschichte im Kopf der Zuschauer: innen unentbehrlich. Für eine Analyse der formalen, stilistischen Mittel müssen diese sowohl einzeln betrachtet als auch in ihrem Zusammenwirken untersucht werden. Letzteres wird bereits dann deutlich, wenn die Einzelelemente in ihrer narrativen oder dramaturgischen Funktion herausgearbeitet werden. In den Mittelpunkt der Analyse rücken dabei folgende Aspekte eines Films oder einer Fernsehsendung: die Kamera, die Ausstattung, das Licht, der Ton, die Musik, die Spezialeffekte, die Montage bzw. der Schnitt. Abgesehen vom Schnitt gehören alle Elemente zu dem, was in der Filmwissenschaft auch als »Mise en Scène« bezeichnet wird. Knut Hickethier (2012, S. 50 f.) spricht in diesem Zusammenhang von »Bildkomposition«. Manche Wissenschaftler rechnen die Kamera nicht dazu (vgl. dazu auch Rowe 1996, S. 93 f.). Generell umfasst Mise en Scène alle Elemente, die in die Szene gebracht werden (vgl. auch Ritzer 2017). Wichtig ist dabei ihre Beziehung zueinander (vgl. Belton 2017, S. 43 f.; Bordwell/ Thompson 2020, S. 112 ff.) sowie zu Inhalt und Repräsentation, Narration und Dramaturgie, Figuren und Akteur: innen. Das Zusammenspiel der gestalterischen Mittel regt die Aktivitäten der Zu‐ schauer: innen an und bindet sie in den Prozess des Verstehens und Erlebens von Film und Fernsehen ein. Welche Rolle die einzelnen Gestaltungsmittel spielen, wird in Kapitel-4 in Teil-II ausführlich dargestellt. Die konventionellen Darstellungs- und Gestaltungsmittel, auch filmi‐ sche oder televisuelle Codes genannt, lenken die Aufmerksamkeit der Zuschauer: innen und haben einen wesentlichen Anteil an der Produktion von Bedeutung. In diesem Sinn können sie als die ästhetischen Mittel von Film und Fernsehen begriffen werden, die in der sinnlichen Wahrnehmung der Film- und Fernsehtexte durch die Zuschauer: innen konkretisiert werden. Daher kann ein Erkenntnisinteresse, das sich auf diese formalästhetischen Mittel richtet, sehr fruchtbar sein. So ist es beispielsweise möglich, in der Analyse die Rolle der Kamera beim Aufbau der emotionalen Beziehung zwischen einer Filmfigur und der Zuschauerin herauszuarbeiten oder die Bedeutung der Montage für den Aufbau dramaturgischer Spannung zu untersuchen. 2.4 Ästhetik und Gestaltung 67 <?page no="68"?> 2.5 Kontexte Film- und Fernsehtexte erhalten ihre Bedeutung erst in der Interaktion mit ihren Zuschauern. Diese Interaktion steht nicht in einem gesellschaftsfreien Raum, sondern findet in Kontexten statt: in historischen, ökonomischen, juristischen, technischen, kulturellen, sozialen und gesellschaftlichen. Für die Analyse von Filmen und Fernsehsendungen sind in ihrer Funktion für die Bedeutungsproduktion der Zuschauer: innen vor allem fünf Kontexte zentral, die sich auf die textuelle, die mediale und die kulturell-gesellschaft‐ liche Ebene von Film- und Fernsehtexten beziehen: • Gattungen und Genres • Intertextualität und Transmedia Storytelling • Diskurs • Lebenswelten • Produktion und Markt Historische, juristische und gesellschaftliche Kontexte werden hier nur berücksichtigt, insofern sie einen der fünf genannten Kontexte beeinflussen. Das gilt vor allem für die Film- und Fernsehgeschichte, da in aktuellen Filmen, Fernsehsendungen und Videos die ästhetischen und narrativen Eigenschaften historischer Filme und Fernsehsendungen aufgegriffen, ver‐ arbeitet und aktualisiert werden. So beeinflussen z. B. Filmstile wie der deutsche Expressionismus der 1920er Jahre die Ästhethik manch aktueller Filme und Fernsehserien. Generell muss man auch die verschiedenen Wis‐ senschaftsdisziplinen, in denen Film- und Fernsehanalysen durchgeführt werden, zu den Kontexten zählen. Wird in ihnen doch aus spezifischen disziplinären Perspektiven und mit eigener spezifischer Kanonbildung auf Filme, Fernsehsendungen und Videos zugegriffen. Die Kontexte sind für die Analyse in zweierlei Hinsicht bedeutsam: Einerseits spielen sie bei den bisher genannten Ebenen der Analyse (Inhalt und Repräsentation, Narration und Dramaturgie, Figuren und Akteure, Ästhetik und Gestaltung) eine wich‐ tige Rolle, indem sie sich konkret auf die Film- und Fernsehtexte auswirken. Andererseits findet die Produktion von Bedeutung nicht unabhängig von ihnen statt. Je nach Kontext können Zuschauer: innen mit demselben Film oder der‐ selben Fernsehsendung unterschiedliche Bedeutungen produzieren. Denn: »Kulturelle Texte sind immer kontextuell artikuliert, in unterschiedlichem Maße polysem strukturiert, haben widersprüchliche, instabile und bestreit‐ 68 2 Erkenntnisinteresse <?page no="69"?> bare Bedeutungen« (Winter 2017, S. 347). Je nach Genre sind Figuren und Akteur: innen z. B. anders gestaltet, und die Narration korrespondiert auf je andere Weise mit der Ästhetik. So spielen - wie bereits erwähnt - Komödien meist in hellen Räumen, Horrorfilme dagegen sind in dunklen, unübersichtlichen Häusern lokalisiert. Polizist: innenen spielen in Gangster‐ filmen und Thrillern als Antagonist: innenen der Gangster und Nebenfiguren eine andere Rolle als in Polizeifilmen, in denen sie die Protagonist: innen und Held: innen sind. Je nach den Diskursen, die zu einer bestimmten Zeit in einer Gesellschaft zirkulieren, fällt die Produktion von Bedeutung bei einzelnen Filmen und Fernsehsendungen unterschiedlich aus. Tony Bennett und Janet Woollacott (1987, S. 64 f.) haben den Begriff »reading formations« geprägt, mit dem sie ausdrücken, dass Texte zu unterschiedlichen Zeiten abhängig von sozialen und kulturellen Entwicklungen auch unterschiedlich gelesen werden. Filme greifen auch zeitbedingte gesellschaftliche Diskurse auf, die sie bereits in einer bestimmten Epoche verorten, in der sie sich auch für die Zuschauer: innen ganz wesentlich in die Zirkulation von Bedeutung einfü‐ gen. Während z. B. die Science-Fiction-Filme der 1950er und 1960er Jahre sich in den Diskurs des Kalten Krieges einfügten, ist die »Star Trek«-Serie in Film und Fernsehen eher in einem Diskurs des technologischen Aufbruchs und der multikulturellen Gesellschaft verortet. Auch James Bond hatte zu Zeiten des Kalten Krieges andere Aufgaben als in den 1980er Jahren (vgl. Bennett/ Woollacott 1987). Im Folgenden werden die fünf für die Analyse relevanten Kontexte kurz in ihrer Bedeutung für die Film- und Fernsehtexte und deren Zuschauer: innen geschildert, bevor dann in Kapitel 5 in Teil II des Buches ausführlicher auf die damit verbundenen theoretischen Ansätze eingegangen wird. Da narratives Wissen und das Wissen um die filmischen Darstellungs‐ formen eine wichtige Rolle im Prozess des Filmverstehens und der Ent‐ wicklung der individuellen Geschichte im Kopf spielen, ist es wichtig, in der Analyse das Genre des zu analysierenden Films zu bestimmen und die Konventionen der Erzählung und der Darstellung herauszuarbeiten. Denn die Zugehörigkeit eines Films oder einer Fernsehsendung zu einem bestimmten Genre strukturiert bereits die Erwartungen des Publikums vor. Ein Genre ist in diesem Sinn ein Gebrauchswertversprechen. Jeder wird von einer Gameshow die Darbietung von Spielen erwarten und nicht den Bericht über soziale Missstände in Großstädten. Niemand wird von einer Nachrichtensendung erwarten, dass dort ein Fantasy-Rollenspiel oder eine Hundedressur stattfinden, aber jeder wird von einem Western erwarten, 2.5 Kontexte 69 <?page no="70"?> dass dort galoppierende Pferde und schießende Männer zu sehen sind. Die Inszenierung von Figuren, Beziehungen, Handlungsräumen oder Inter‐ aktionsmustern hängt u. a. vom Genre ab. So wird z. B. Gewalt je nach Genre unterschiedlich inszeniert (vgl. Mikos 2001b). Unter dem Begriff »Genre« werden hier Muster und Konventionen der Erzählung bezeichnet, die als »Systeme von Orientierungen, Erwartungen und Konventionen, die zwischen Industrie, Text und Subjekt zirkulieren« (Neale 1981, S. 6), verstanden werden (vgl. zu Genres generell die Beiträge in Stiglegger 2020). Ohne die Genrezuordnung und die Kenntnis der Genrekonventionen können Probleme beim Verständnis des Films oder der Fernsehsendung auftauchen. Die Geschichte im Kopf lässt sich nicht mehr so recht zusam‐ menfügen. Wenn z. B. in einem Film zeitweise Gegenstände durch die Luft schwirren, weil die Gesetze der Schwerkraft nicht gelten, werden die Zuschauer: innen eine andere Geschichte im Kopf bilden, wenn sie wissen, dass es sich um einen Science-Fiction-Film handelt, als wenn sie von einem Melodram ausgehen und die entsprechenden Szenen als symbolischen Ausdruck der Innenwelt der Protagonistin ansehen. Nur wer die Genrekonventionen des Western kennt, wird die komischen und zum Teil ironischen Elemente in einem Film wie »Erbarmungslos« verstehen können und an dem Spiel mit den Genrekonventionen und der damit verbundenen Thematisierung des Western-Mythos seine Freude haben (vgl. Monsees 1996, S. 61 ff.). Die Kenntnis des Genres und seiner Konventionen schafft eine Art kommunikatives Vertrauen, die Zuschauer: innen können sich ihrer Erwartungen sicher sein. Zugleich kann der Text darauf vertrauen, dass die Zuschauer: innen ihr Wissen aktivieren und so ihren Teil zur Geschichte beitragen. Das gilt auch für die Hollywood-Blockbuster zu Beginn des 21. Jahrhunderts, die verschiedene Genreelemente mischen, um ein möglichst großes Publikum zu erreichen (vgl. Mikos u. a. 2007, S. 19 ff.; Schweinitz 2006, S. 90 ff.; Thompson 2003). Wer nicht um die Genrekonven‐ tionen eines Films weiß, wird keine entsprechenden Erwartungen an den Film haben und demzufolge eine andere Geschichte im Kopf entwickeln als eine Zuschauerin mit Genrekenntnissen. Intertextualität spielt als Kontext eine wichtige Rolle. Zunächst einmal muss festgehalten werden, dass mit Intertextualität die Beziehung eines Film- oder Fernsehtextes zu anderen Texten gemeint ist (vgl. Mikos 1999; Pearson 2014). Das können andere Film- und Fernsehtexte sein, aber auch andere mediale Texte wie ein Roman oder ein Gemälde. Intertextualität ist für die Film- und Fernsehanalyse vor allem dann wichtig, wenn die 70 2 Erkenntnisinteresse <?page no="71"?> Bedeutung eines Film- oder Fernsehtextes über und durch die Referenzen zu anderen Texten produziert wird. Jeder neue Film und jede neue Fernsehsendung tritt in ein bereits vor‐ handenes Universum von Texten ein, das alle bisher produzierten Filme, Fernsehsendungen und Videos umfasst. Das ist die produktionsästhetische Perspektive der Intertextualität. Jeder neue Film von Quentin Tarantino steht nicht nur im Kontext aller früheren Filme dieses Regisseurs, sondern auch im Kontext aller anderen amerikanischen Filme, aller europäischen Filme, aller Western usw. Jede neue Quizshow steht im Kontext aller anderen Quizshows, aber auch im Kontext aller anderen Shows mit der jeweiligen Moderatorin. Jeder Film- und Fernsehtext steht also in einer Vielzahl von kontextuellen Bezügen zu anderen Texten. Andererseits wird kein Text unabhängig von den Erfahrungen und Erlebnissen mit anderen Texten rezipiert (vgl. Eco 1987, S. 101), d. h., dass Filme und Fernsehsendungen immer im Kontext der Rezeption anderer Filme, Fernsehsendungen und weiterer Medien der Populärkultur gesehen werden. Das ist die rezeption‐ sästhetische Seite der Intertextualität. Jede neue Episode einer Krimireihe wie »Navy CIS«, »Criminal Minds« oder »Mord mit Aussicht« wird vor dem Hintergrund aller anderen Folgen dieser Reihe sowie vor dem Hintergrund aller anderen Kriminalserien betrachtet, die die jeweilige Zuschauerin in ihrem bisherigen Leben gesehen hat. Jede romantische Komödie mit Sandra Bullock in der Hauptrolle wird vor dem Hintergrund aller Filme mit dieser Schauspielerin, aller romantischen Komödien, aber z. B. auch aller Melodra‐ men, die der jeweilige Zuschauer bisher gesehen hat, angeschaut. Die im Verlauf der sogenannten Mediensozialisation gesammelten Er‐ fahrungen und Erlebnisse mit Medientexten gehen in die intertextuelle Enzyklopädie ein, die den kontextuellen Rahmen für die Produktion von Bedeutungen bildet. Intertextualität ist kein statischer Zustand, sondern ein dynamischer Prozess, der sich erst in der Interaktion der Zuschauer mit Film- und Fernsehtexten realisiert. Jede neue Rezeptionserfahrung erweitert die Enzyklopädie. Jeder neue Film, jede neue Fernsehsendung und jedes neue Video erweitern das Universum der Texte. Dadurch ist auch die Position eines einzelnen Films oder einer einzelnen Fernsehsendung nicht statisch, sondern verschiebt sich im Verlauf der Produktions- und Rezeptionsgeschichte. Jeder neue Thriller bedeutet z. B. eine Verschiebung der Bedeutung von »alten« Thrillern des Regisseurs Alfred Hitchcock, jede neue Show mit der Moderatorin Ruth Moschner lässt ihre alten Shows in einem neuen Licht erscheinen, ebenso wie die alten Hitchcock-Filme und 2.5 Kontexte 71 <?page no="72"?> die alten Moschner-Shows die Bedeutungsproduktion des neuen Thrillers und der neuen Show beeinflussen. Da das Universum der Texte, in dem sich alle Film- und Fernsehtexte verorten, nicht nur aus Filmen und Fernsehsendungen besteht, spielt Inter‐ medialität als ein Typus von Intertextualität (vgl. Hess-Lüttich 1997, S. 131) eine nicht unwichtige Rolle. Intermedialität bezeichnet »Mediengrenzen überschreitende Phänomene, die mindestens zwei konventionell als distinkt wahrgenommene Medien involvieren« (Rajewsky 2002, S. 13). Darunter kann die Reproduktion eines Textes aus einem Medium in einem anderen Medium verstanden werden (vgl. zu Intermedialität und Intertextualität auch Isekenmeier u. a. 2021). So kann z. B. jede Literaturverfilmung unter dem Gesichtspunkt der Intermedialität analysiert werden, indem untersucht wird, wie sich die spezifischen ästhetischen Codes des jeweiligen Mediums auf die Narration oder die Repräsentation auswirken und wie dadurch unterschiedliche Lesarten möglich werden. In den konvergierenden Medienumgebungen des 21. Jahrhunderts spielen crossmediale Vermarktungen und Transmedia Storytelling eine wichtige Rolle. In der Medienwissenschaft gibt es einige Konfusion bezüglich der Begriffe, die oft synonym für die Beschreibung der gleichen Phänomene verwendet werden. Grundsätzlich geht es bei einer crossmedialen Vermark‐ tung darum, eine Geschichte oder ein Produkt über verschiedene Medien zu bewerben. Transmedia Storytelling geht dagegen davon aus, dass eine Geschichte gezielt über verschiedene Medien erzählt wird, sodass jeder Teil auf jedem Medium zu einem tieferen Verständnis der Geschichte führt (vgl. Evans 2011, S. 19 ff.; Ryan 2013; Weaver 2013, S. 8 ff.). Die Nutzer haben dabei die Freiheit zu entscheiden, wie tief sie in eine Geschichte einsteigen wollen. Karin Fast (2012) spricht in dem Zusammenhang von transmedialer Unterhaltung, indem narrative Markenwelten geschaffen werden - solche transmedialen Markenwelten sind Franchise-Filme wie »Der Herr der Ringe«, »Der Hobbit«, »Matrix«, »Transformers« oder »X-Men« und Fernsehserien wie »Dexter«, »Fringe«, »Heroes«, »Lost«, »Stranger Things« oder »True Blood«. Die Bedeutungen, die Zuschauer: innen mit Film- und Fernsehtexten produzieren, sind eng mit den in einer Gesellschaft zirkulierenden Diskursen verknüpft. Daher spielt die Kategorie »Diskurs« als Kontext eine wichtige Rolle. Als Diskurs wird eine Praxis verstanden, in der Zeichensysteme benutzt werden, um eine soziale Praxis aus einem bestimmten Blickwinkel darzustellen (vgl. Fairclough 1995, S. 1 ff.; Fairclough 2013). Daher ist es 72 2 Erkenntnisinteresse <?page no="73"?> angebracht, von diskursiven Praktiken zu sprechen, die auf Formationen von Aussagen und Sets von textuellen Arrangements beruhen. Die enge Verbindung der diskursiven Praxis zu Repräsentationen wird an dieser Stelle bereits deutlich. Diskurse vermitteln einen bestimmten Blick auf die soziale Wirklichkeit und auf soziale Praktiken. Sie sind an Medien gebunden. Dabei ist zu bedenken, dass mediale Repräsentationen selbst Diskursereignisse sind, die Realität erst verfügbar machen (vgl. Fiske 1994, S. 4; Winter 1999, S. 58). Diskurse sind zentral, weil sie den Subjekten helfen, Sinn in die Konstruktion der sozialen Realität zu bringen (vgl. Casey u. a. 2002, S. 64), denn sie entfalten strukturierende Kraft. Zugleich sind sie von Macht und Herrschaft durchdrungen, wie Michel Foucault (2012; 2020) in seinen Analysen gezeigt hat. Die ausdifferenzierten Gesellschaften der westlichen Welt sind von einer Multidiskursivität gekennzeichnet (vgl. Fiske 1994, S. 4). Verschiedene Diskurse konkurrieren miteinander um die Vorherrschaft in der gesellschaftlichen Diskursordnung. Film- und Fernsehtexte als diskursive Praktiken fügen sich in die in der Gesellschaft zirkulierenden Diskurse ein. Damit werden sie selbst zu einem umkämpften Feld. Romantische Komödien können im Rahmen diskursiver Praktiken gesehen werden, die romantische Liebe zum Gegenstand haben, stehen damit aber zugleich in Konkurrenz zum Diskurs, der eine Beziehung rein ökonomisch-materiell sieht. Ein Film wie »Jurassic Park« greift den Diskurs um Gentechnologie auf. Ein erfolgreicher Film wie »Titanic« greift nicht nur den Diskurs um Liebe auf, sondern auch Diskurse um Klassengesellschaft, Fortschritt durch Technik und Naturgewalten. Ein Film wie »I, Robot« greift die Diskurse über künstliche Intelligenz auf. Ein Film wie »Django Unchained« greift Diskurse über Rassentrennung und Sklaverei auf. Ein Film wie »Black Panther« greift Fragen und Diskurse zu schwarzer Identität auf. Ein Film wie »24 Wochen« verhandelt Diskurse über Schwangerschaft mit einem behinderten Ungeborenen und Abtreibung. Ein Film wie „Systemsprenger« steht im Kontext von Diskursen zu schwer erziehbaren Kindern und den Herausforderungen für Erzieher: innen. Fern‐ sehshows wie »Deutschland sucht den Superstar« oder »Germany’s Next Topmodel« greifen Diskurse um die Leistungsgesellschaft, beruflichen Er‐ folg, um Musikstile, um die Rolle von Prominenten in der Öffentlichkeit und um die Bedeutung von Schönheitsidealen auf. In Ärzte-Dramen wie »Grey’s Anatomy« oder »In aller Freundschaft« spielen Diskurse über Liebe am Arbeitsplatz, Ausbildung, Sterbehilfe, ethisches Handeln, Karriere, Altenpflege usw. eine wichtige Rolle. In Filmen und Fernsehsendungen 2.5 Kontexte 73 <?page no="74"?> überlagern sich mehrere Diskurse. Sie werden damit selbst zum Feld der Auseinandersetzung um die Durchsetzung von Bedeutungen. Dadurch sind auch verschiedene Lesarten möglich. In der Film- und Fernsehanalyse kann herausgearbeitet werden, welche Diskurse in einem Film- oder Fernsehtext eine Rolle spielen und wie die Texte sich dadurch im diskursiven Feld der Gesellschaft verorten. Damit wird u. a. möglich, verschiedene Lesarten zu bestimmen, die im Text, der selbst als diskursive Praxis gilt, angelegt sind. Die Diskurse der Texte stehen aber immer in Bezug zu den Diskursen, die in der sozialen Praxis der Zuschauer: innen zirkulieren. Daher muss die Lebenswelt als ein weiterer Kontext in den Analysen berücksichtigt werden. Die Lebenswelt ist als Kontext für die Film- und Fernsehtexte von Bedeu‐ tung, weil sie das Bezugssystem darstellt, auf das sich Produzent: innen und Rezipient: innen beziehen. Sie ist »die subjektiv sinnhafte Erscheinungsform des Wissens von Welt, die als Rahmen der täglichen Lebenspraxis intentional die Handlungen der Subjekte steuert« (Mikos 1992, S. 532). Dieses Wissen von Welt ist allerdings nicht nur kognitiv vermittelt, sondern auch emotional und über den praktischen Sinn. Die Menschen handeln grundsätzlich nur innerhalb ihres lebensweltlichen Horizonts, »aus ihm können sie nicht her‐ austreten« (Habermas 1988, S. 192). Das liegt u. a. daran, dass die Menschen in kollektiven Lebensformen, die kulturell geprägt sind, sozialisiert und in sie integriert werden. Dadurch sind sie in der Lage, sich in der Interaktion mit anderen handlungsfähig zu erweisen und über die kommunikative Aneignung den sinnhaften Aufbau der sozialen Welt zu betreiben. »Die Strukturen der Lebenswelt legen die Formen der Intersubjektivität mögli‐ cher Verständigung fest« (ebd.). Daher sind Medien wie Film und Fernsehen den lebensweltlichen Kontexten verhaftet (vgl. ebd., S. 573), nur so können sie ihr kommunikatives Potenzial entfalten (vgl. dazu auch Knoblauch 2017). Denn Film- und Fernsehtexte sind - wie bereits in Kapitel I-1 beschrieben - zum Wissen, zu den Affekten und Emotionen, zur sozialen Kommunikation und zum praktischen Sinn der Zuschauer: innen hin geöffnet. Mit ihrem Wissen, ihren Emotionen, ihren sozial-kommunikativen Aktivitäten und ihrem praktischen Sinn sind die Zuschauer: innen in ihrer Lebenswelt situ‐ iert. Die Bedeutungsproduktion, die zum sinnhaften Aufbau ihrer sozialen Welt beiträgt, ist jedoch nicht statisch in den lebensweltlichen Horizonten gefangen, sondern ist ein dynamischer Prozess, der aus der individuellen Sicht der Akteure als Lerngeschichte verstanden werden kann. 74 2 Erkenntnisinteresse <?page no="75"?> In den ausdifferenzierten westlichen Gesellschaften kann nicht mehr von der Lebenswelt gesprochen werden. Es muss konstatiert werden, dass es eine Vielzahl von Lebenswelten gibt. Die Lebenswelt eines Landwirtes in einem kleinen Dorf ist sicher eine andere als die einer Barkeeperin in einem großstädtischen Nachtclub. In diesen ausdifferenzierten Gesell‐ schaften übernehmen die Medien - vor allem das Fernsehen, aber auch der Film - eine Vermittlerrolle zwischen den verschiedenen Lebenswelten (vgl. Mikos 2002a). In den Medien werden verschiedene Lebensauffassun‐ gen thematisiert und sind damit der Bedeutungsproduktion zugänglich. Die Zuschauer: innen werden jedoch entsprechend ihren lebensweltlichen Kontexten jeweils andere Bedeutungen produzieren, denn die rezipierten Film- und Fernsehtexte stellen eine lebensweltliche Manifestation des Zu‐ schauerwissens dar. So entstehen unterschiedliche Lesarten von Filmen und Fernsehsendungen. Während ein Film wie »Trainspotting« von manchen Zuschauer: innen als Verherrlichung des Drogenkonsums und damit als amoralischer Film gesehen wird, bietet er für andere einen authentischen Einblick in das Lebensgefühl und die Lebenswelt von Junkies (vgl. Winter 1998, S. 42 ff.). Lebenswelt ist also eine wichtige Kontextkategorie für die Film- und Fernsehanalyse, denn die Film- und Fernsehtexte stehen in Beziehung zu den lebensweltlichen Horizonten der Zuschauer: innen. In der Analyse müssen daher die alltäglichen Erfahrungsmuster, die in die Film- und Fernsehtexte eingegangen sind, herausgearbeitet werden. Auf diese Weise kann die Positionierung von Filmen, Fernsehsendungen und Videos in der sozialen Praxis der Zuschauer: innen bestimmt werden. Für die Analyse von Filmen und Fernsehsendungen haben die Produktion und der internationale Film- und Fernsehmarkt als Kontexte eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Seit den 1990er Jahren hat der internatio‐ nale Formathandel für das Fernsehen einen neuen Aufschwung erlebt, da aufgrund der Digitalisierung eine Ausweitung von Fernsehkanälen statt‐ gefunden hat. Dadurch ist ein immer größerer Programmbedarf entstan‐ den. Zugleich hat die Digitalisierung eine neue Ära der Blockbuster-Filme eingeläutet. In der Entwicklung immer neuer computergenerierter Spezial‐ effekte zeigt sich ebenso wie im Marketing die ökonomische Kapazität von Hollywood. Die globale Verbreitung von Fernsehformaten hat dazu geführt, dass es in vielen Ländern lokale Adaptionen von Shows wie »Wer wird Millionär? «, »America’s Next Top Model«, »X-Factor« und vielen anderen nonfiktionalen Formaten sowie Fernsehserien gibt (vgl. Jin 2019; Moran 2009a und 2009b; Park/ Lee 2019; Waade u. a. 2020; Weber 2.5 Kontexte 75 <?page no="76"?> 2012; Zwaan/ de Bruin 2012). Produktionsbedingungen schreiben sich in die Film- und Fernsehtexte ein. So hat das Studiosystem in Hollywood eine eigene Erzählweise und einen eigenen Stil entwickelt (vgl. Bordwell 2019; Bordwell u. a. 1988; Jewell 2007, S. 155 ff.; Stafford 2014, S. 43 ff.), der sich international durchgesetzt hat. Die Dominanz der USA auf dem globalen Unterhaltungsmarkt liegt vor allem in der Filmindustrie begründet, denn Hollywood-Filme werden in mehr als 150 Ländern der Welt gezeigt und dominieren oft den Filmmarkt in diesen Ländern (vgl. Thussu 2007b, S. 18 f.). Die Arbeitsweise von Hollywood (vgl. Wasko 2003) macht eine globale Vermarktung der Produkte notwendig (vgl. Balio 2018; Miller u. a. 2001 und 2005). Marketing und Distribution werden in der digitalen Medienwelt immer wichtiger und beeinflussen auch die Produktion (vgl. Crisp 2015; Cunningham/ Silver 2013; Davis u. a. 2015, S. 263 ff.; Ulin 2013). Auf dem deutschen Film- und Fernsehmarkt sind seit Beginn des 21. Jahrhunderts aber auch sogenannte Bollywood-Filme populär geworden. Diese aus Indien stammenden Filme haben ebenfalls eine eigene Erzählweise und einen eigenen Stil entwickelt, in dem Musik und Tanz eine wichtige Rolle spielen (vgl. Alexowitz 2003, S. 72 ff.; Kabir 2001; Punathambekar 2013; Vitali 2008). Im Hongkong-Kino wurde eine eigene Form des Actionfilms mit einer eigenen Ästhetik entwickelt (vgl. Bordwell 2000; Teo 1997, S. 87 ff.), die international zahlreiche Nachahmungen gefunden hat (vgl. die Beiträge in Morris u.-a. 2005). Die veränderten Marktbedingungen auf einem zunehmend konvergen‐ ten Medienmarkt, auf dem multimediale Konzerne die Entwicklungen vorantreiben, haben einen wesentlichen Einfluss auf die Filme und Fern‐ sehsendungen (vgl. Lee/ Jin 2018). So wurden vor allem in amerikanischen Serien wie »Breaking Bad«, »Lost« oder »House of Cards« sehr dichte und komplexe Erzählstrukturen entwickelt, um die Zuschauer stärker an das Medium zu binden (vgl. Mittell 2015). Eine Tendenz, die durch die Produktion von Original-Serien für Streaming-Plattformen wie Netflix oder Amazon Prime Video noch verstärkt wurde. Zugleich wurden sie mit Inter‐ netanwendungen, mobilen Adaptionen oder Computerspielen gekoppelt. Zahlreiche Hollywood-Filme wie »Batman«, »Sin City«, »Spider-Man« oder die Filme des Marvel Cinematic Universe wie den »Avengers«- und den »Iron Man«-Filmen entstehen als Adaptionen von Comics, andere wie »Resident Evil« oder »Tomb Raider« beruhen auf Computerspielen. Erfolgreiche Filmserien wie »Blade« und »From Dusk Till Dawn« werden ebenso wie erfolgreiche Filme (z. B. »Fargo«, »Hannibal«), »Das Boot« 76 2 Erkenntnisinteresse <?page no="77"?> oder »Christiane F. - Wir Kinder vom Bahnhof Zoo« als Fernsehserien adaptiert oder erfolgreiche Fernsehserien wie »Paddington« oder »Sex and the City« werden zu Filmen. Die Medienkonzerne sind bemüht, einmal erfolgreiche Erzählungen auf möglichst vielen medialen Plattformen zu vermarkten. Film- und Fernsehtexte werden so Teil einer konvergenten Medienwelt (vgl. Jenkins 2006; Keane 2007), in der sie zwar noch als diskrete Werke von den Zuschauer: innen genutzt werden und der Analyse zugänglich sind, ihre soziale Bedeutung aber zunehmend im Kontext der konvergenten Medienumgebungen gesehen werden muss (vgl. Peil/ Mikos 2017). Da Medienkonzerne auf eine internationale Vermarktung ihrer Filme und Fernsehformate zielen, muss von einem globalen Markt ausgegangen werden, auf dem es »Flüsse« und »Gegen-Flüsse« gibt (vgl. die Beiträge in Thussu 2007a). Die Globalisierung der Medien ist von ambivalenten, widersprüchlichen Tendenzen geprägt. In der Analyse kann herausgearbeitet werden, im Kontext welcher ande‐ ren medialen Ausprägungen eine bestimmte Erzählung als Film, Fernsehsen‐ dung oder Video steht. Es können die typischen Muster der Narration, der Figurenzeichnung, des Einsatzes von Musik und Tanz im Rahmen der Pro‐ duktionsbedingungen in einem kulturell geprägten Markt wie Bollywood, Hollywood oder Europa analysiert werden. Es ist z. B. ein Unterschied, ob das Setting einer Show wie »Ich bin ein Star - Holt mich hier raus! « nur für die deutsche Produktion gebaut wurde oder ob es sich um ein Setting handelt, das von der englischen Produktionsfirma für das englische Originalformat geschaffen wurde und in dem nun die internationalen Adaptionen produziert werden. Die Erkenntnisse, die aus einer Film- und Fernsehanalyse gewonnen werden sollen, können sich auf eine der fünf genannten Ebenen - Inhalt und Repräsentation, Narration und Dramaturgie, Figuren und Akteure, Ästhetik und Gestaltung sowie die Kontexte - richten. Alle Ebenen und Kontexte sind empirisch nicht voneinander zu trennen, in der konkreten Kommuni‐ kation von Film- und Fernsehtexten mit Zuschauer: innen bedingen sie sich gegenseitig. In ihrem Zusammenwirken zeigt sich die Komplexität der Film- und Fernsehkommunikation. Für die Analyse ist es wichtig, die einzelnen Ebenen und die Kontexte zu trennen, um so den jeweiligen Beitrag zum Gelingen (oder Misslingen) der Kommunikation herausarbeiten zu können. 2.5 Kontexte 77 <?page no="78"?> Fragen zum Verständnis • Warum ist eine Film- und Fernsehanalyse ohne theoretische Annah‐ men sinnlos? • Was macht die Spezifik von Film- und Fernsehbildern im Gegensatz zur Fotografie oder Kunst aus? • Auf welche fünf Ebenen kann sich das Erkenntnisinteresse der Analyse richten? • Wie ist das Verhältnis von Inhalt und Repräsentation zu beschrei‐ ben? • Was kennzeichnet eine Erzählung? • Welche Aufgabe hat die Dramaturgie? • Welche Rolle spielen Narration und Dramaturgie für die Aktivitäten der Zuschauer: innen? • Worin unterscheiden sich Figuren und Charaktere auf der einen Seite und Akteur: innen auf der anderen Seite? • Wie werden Personen wahrgenommen? • Welche Rolle spielen Ästhetik und Gestaltung bei der Film- und Fernsehkommunikation? • Welche Gestaltungsmittel kann man bei Film und Fernsehen unter‐ scheiden? • Wie wirken sich die Kontexte Gattungen und Genres, Intertextua‐ lität, Diskurs, Lebenswelten sowie Produktion und Markt auf die Film- und Fernsehtexte als Kommunikationsmedien aus? • Was unterscheidet Transmedia Storytelling von Intermedialität? • Warum sind die Produktionsbedingungen als Kontexte wichtig? 2.6 Zitierte Literatur Alexowitz, Myriam (2003): Traumfabrik Bollywood. 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Wenn dagegen auf dem Laptop, dem Tablet oder dem Smartphone geguckt wird, ist die Konzentration auf den (kleinen) Bildschirm zwar größer, gleichzeitig kann diese Rezeption aber parallel zu anderen Aktivitäten stattfinden, z. B. einer Bahnfahrt oder einem Flug. Die Analysierende richtet dagegen die ganze Aufmerksamkeit auf das Objekt ihrer Arbeit, sei es in einem Seminarraum oder am heimischen Schreibtisch. Das trifft auch dann zu, wenn es sich nicht um das wiederholte Anschauen einer aus der alltäglichen Rezeption bekannten Fernsehsendung handelt, sondern wenn im Seminar erstmals vor der kontrollierten Kulisse eines Dozierende-Studierenden-Verhältnisses ein bisher unbekannter Film angeschaut wird. Während es in der Rezeptionssituation im Kino, vor dem Fernsehgerät oder vor dem mobilen Gerät zu einer Interaktion zwischen Film- oder Fernsehtext und Zuschauer: in kommt, bei der eine gewisse Autorität des Textes gewahrt bleibt, ändert sich dieses Verhältnis in der Analysesituation. Hier kommt es aufgrund des Erkenntnisinteresses, das aus verschiedenen theoretischen Annahmen gespeist wird, zu einer Autorität der Analysieren‐ den gegenüber dem Film- oder Fernsehtext (vgl. auch Elsaesser/ Buckland 2002, S. 287). Während in der Rezeptionssituation der Film, die Fernsehsen‐ dung oder das Video die Aktivitäten der Zuschauer: innen vorstrukturieren, strukturieren in der Analysesituation die Wissenschaftler: innen die Analy‐ seaktivitäten vor, mit denen der Film- oder Fernsehtext untersucht wird. Man könnte sagen, dass in der Analyse die Wissenschaftlerin als besondere <?page no="88"?> Zuschauerin dem Film ein theoretisches Vorverständnis entgegenbringt und sich damit auf eine metakommunikative Ebene begibt, die das kom‐ munikative Verhältnis zwischen Film- oder Fernsehtext und »normalen« Zuschauer: innen reflektiert. Die Analysierenden folgen in ihrer Arbeit einer paradoxen Doppelbewegung: Einerseits müssen sie sich der Bedingungen und Strukturen der »normalen« Rezeption bewusst sein, andererseits müs‐ sen sie aber genau von diesen Bedingungen und Strukturen abstrahieren, um eine methodisch kontrollierten Analyse durchzuführen. Diese Abstraktion ist notwendig, um zum Gegenstand der Untersuchung eine passende Distanz aufzubauen (vgl. Casetti/ di Chio 1994, S. 8 ff.). Aber was ist nun eigentlich unter einer Analyse zu verstehen und was macht sie aus? Generell kann festgestellt werden, dass es sich bei der Film- und Fernseh‐ analyse um eine systematische, methodisch kontrollierte und reflektierte Beschäftigung mit einem Film, einer Fernsehsendung oder einem Video bzw. einer Gruppe von Filmen, Fernsehsendungen oder Videos (vgl. Faulstich 1988, S. 7; Wulff 1998, S. 23) als Kommunikat (Kuchenbuch 2005, S. 27) handelt. Ziel ist es herauszuarbeiten, wie Film- oder Fernsehtexte im kontex‐ tuellen Rahmen das kommunikative Verhältnis mit ihren Zuschauer: innenn gestalten (vgl. auch Barker 2000, S. 175) und wie sie Bedeutung bilden (vgl. auch Elsaesser/ Buckland 2002, S. 13; Geiger/ Rutsky 2013, S. 18), sowohl in Bezug auf die Kohärenz der Erzählung und der Repräsentation als auch in Bezug auf mögliche Lesarten der Zuschauer: innen. Grundsätzlich muss zwischen Analyse, Beschreibung und Interpretation unterschieden werden. Bei der Analyse gilt es, die Komponenten eines Films, einer Fernsehsendung oder eines Videos systematisch herauszuarbeiten und diese in einem zweiten Arbeitsschritt in Beziehung zum gesamten Text, also dem Film, der Fernsehsendung oder dem Video als Gesamtwerk sowie zu den Kontexten zu stellen. Bei der Beschreibung, oder wie Peter Wuss es nennt, dem »Deskriptionsverfahren«, geht es vor allem darum, »die filmischen Darstellungen von fiktiven, doch mehr oder weniger rea‐ litätsnahen Vorgängen im Rahmen jenes Erkenntnisprozesses zu sehen, den sie dem Zuschauer vorgeben« (Wuss 2020, S. 16). Also schon bei der Beschreibung der filmischen Strukturen bleibt die Zuschauerin im Blick. Die Beschreibung ist eine sprachliche Operation, in der das auf der Leinwand, dem Bildschirm oder dem Display Sichtbare in Worte gefasst wird. Es handelt sich also um die sprachliche Sicherung der Datenbasis, die der Analyse zugänglich sein soll. Die Interpretation folgt erst auf die Analyse, denn sie stellt deren Ergebnisse in einen theoretischen und historischen 88 3 Systematik der Analyse <?page no="89"?> Kontext. Beschreibung und Interpretation können mit Peter Wuss (1999, S. 22) als Grundoperationen der Analyse angesehen werden. Damit unterscheidet sich dieses Verständnis von Interpretation deutlich von jenem, das versucht, Analyse durch Interpretation zu ersetzen, indem auf einzelne Aspekte des Inhalts oder der Repräsentation eines Film- oder Fernsehtextes eingegangen wird, um sie im Sinn außerfilmischer theoreti‐ scher Annahmen zu deuten (vgl. zur Kritik daran Bordwell 1989). Dabei wird u. a. davon ausgegangen, dass ein Film oder eine Fernsehsendung gesell‐ schaftliche Wirklichkeit spiegelt. Nach diesem Maßstab der soziologischen Filminterpretation (vgl. Faulstich 1988, S. 56 ff.) erfolgt die Interpretation eines Films »unter dem Aspekt der Wiedergabe von Wirklichkeit« (Flicker 1998, S. 77). Es sollte jedoch klar sein, dass es bei Spielfilmen nicht um die Wiedergabe von Wirklichkeit geht, sondern um die Repräsentation von Wirklichkeit, die dramaturgisch und ästhetisch gestaltet ist (vgl. dazu Kepp‐ ler 2021; Mikos 2021). In Spielfilmen werden Geschichten erzählt, die auf Wirklichkeitseindrücken beruhen, aber nicht Wirklichkeit sind. Derartige Interpretationen zeigen nur, dass »der filmische Text als Ausdrucksfläche von Konstruktionen, Theorien und auch ›alltagswissenschaftlichen Annah‐ men‹ angesehen wird, die nicht spezifisch auf die filmischen Aussageformen hin konzipiert worden sind« (Wulff 1998, S. 29). Außerdem wird deutlich, dass Film- und Fernsehtexte nicht als Medien der Kommunikation begriffen werden. Denn die interpretierenden Wissenschaftler: innen sind lediglich darauf aus, ihre interpretativen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, und sich damit von den Bedeutungsbildungen der »normalen« Zuschauer: innen ab‐ zugrenzen. Dazu zählen z. B. zahlreiche psychoanalytische Interpretationen von Filmen, die vor allem etwas über die psychoanalytischen Kenntnisse der Wissenschaftler: innen aussagen, aber wenig über die Struktur der Filme (vgl. exempl. Doane 1991; Gerlach/ Pop 2012; Hamburger 2018; Indick 2004; Lippert 2002; Piegler 2010; Rall 2011; Wohlrab 2006; Wollnik 2008). Die auf außerfilmischen Kategorien beruhenden Prozesse der Konstruktion von Bedeutungen sind nicht bewusst und werden auch nicht selbstreflexiv thematisiert. Derartige Interpretationen sind Bestandteil des Diskurses über Filme in den jeweiligen Gesellschaften und damit selbst Ausdruck der Ideologie, die sie vermeintlich am Film untersucht haben (vgl. dazu Mikos 1998, S. 4). Sie sind von Film- und Fernsehanalysen zu unterscheiden, die von einzelnen Fernsehsendungen, Videos oder Gruppen von Filmen ausgehen und diese systematisch vor dem Hintergrund film- und fernsehtheoretischer 3 Systematik der Analyse 89 <?page no="90"?> Annahmen untersuchen. Beschreibung und Interpretation sind für die Analyse unentbehrlich, ersetzen sie aber nicht. Bei der Analyse sollten vor allem drei Probleme vergegenwärtigt werden: (1) die Flüchtigkeit des Gegenstandes (vgl. Bellour 1999a, S. 15; Blüher u. a. 1999, S. 5), (2) die prinzipielle Endlosigkeit (vgl. Wulff 1998, S. 22) bzw. Unabschließbarkeit (vgl. Bellour 1999a, S. 16) der Analysearbeit und (3) der Mangel an einer universellen Methode (vgl. Wulff 1998, S. 22 sowie Aumont/ Marie 2020, S. 27). Letzterer führt zu einem Pluralismus an Metho‐ den, die angemessen sowohl in Bezug zu den theoretischen Annahmen als auch zum jeweiligen Gegenstand, dem konkreten Film, der konkreten Fernsehsendung oder dem konkreten Video sein müssen. Es gibt keinen Königsweg der Analyse, sehr wohl aber eine Systematik der Arbeitsschritte, die eine Analyse leiten und zu einer pragmatischen Lösung der genannten Probleme beitragen können. Dazu bedarf es einer Operationalisierung, der Bestimmung von Hilfsmitteln für die Datensammlung und -auswertung sowie Überlegungen zur Darstellung der Analyseergebnisse. 3.1 Operationalisierung Vor Beginn einer Analyse sind die Arbeitsschritte und die Arbeitsweise im Rahmen der zur Verfügung stehenden Zeit und des Analysezweckes festzulegen. Es macht einen Unterschied, ob die Analyse für ein mündliches Referat, eine schriftliche Hausarbeit, einen wissenschaftlichen Aufsatz, eine Masterarbeit, Dissertation, Habilitation oder im Rahmen eines größeren For‐ schungsprojekts, das zeitlich limitiert ist, angefertigt werden soll. Außerdem macht es einen Unterschied, ob die Analyse der wesentliche Gegenstand der Arbeit ist oder lediglich als Hilfsmittel dient, um beispielsweise im Rahmen einer Forschungsarbeit anhand einiger ausgewählter Filme das populäre Kino der 1970er Jahre zu untersuchen. Aus Gründen der For‐ schungsökonomie ist eine Operationalisierung notwendig. Die Festlegung der Arbeitsschritte und der Arbeitsweise erfolgt auf der Grundlage der Beantwortung folgender Frage: Was ist in einer gegebenen Zeit an welchem Gegenstand in welcher Weise zu leisten, um dem Erkenntnisinteresse und den sich daraus ableitenden Fragestellungen gerecht zu werden? Die Operationalisierung hat das Ziel, die im Prinzip endlose Analyse unter den gegebenen Bedingungen endlich und durchführbar zu machen. Es wird festgelegt, was in ihr geleistet werden soll, und zwar im Hinblick auf das 90 3 Systematik der Analyse <?page no="91"?> Erkenntnisinteresse (vgl. Kapitel I.2). »Man muss daher Entscheidungen darüber treffen, welche Aspekte eines Films für eine aufschlussreiche Analyse relevant sind« (Geiger/ Rutsky 2013, S. 29). Das lässt sich am besten durch konkrete Fragestellungen bewerkstelligen, die durch das Wechselspiel von Anschauung und theoretischer Reflexion gewonnen werden. Wenn z. B. die ästhetischen Strukturen der Superhelden-Filme des Marvel Cinematic Universe untersucht werden sollen, muss zunächst das Korpus der Filme, die diesem Kriterium genügen, bestimmt werden. Dann werden die Filme angeschaut, und es wird über sie im Rahmen theoretischer Bezüge nach‐ gedacht. Daraus entwickeln sich die konkreten Fragestellungen. Bei dem genannten Beispiel könnte interessieren, wie verschiedene Genreaspekte miteinander verwoben werden oder welche Eigenschaften die Superhelden kennzeichnen. Anschließend wird das Korpus der Filme, die eingehend analysiert werden sollen, festgelegt. Dabei kann es sich möglicherweise auch nur um einen einzelnen Film handeln, der exemplarischen Charakter hat (z. B. im Rahmen eines Referats). Man muss sich darüber im Klaren sein, was man von den Filmen wissen will. Nur so kann die Analyse in Bezug auf ihr Erkenntnisinteresse eingegrenzt werden. Wie im vorangegangenen Kapitel I.2 erläutert, kann es sich um einen oder mehrere folgender Aspekte handeln: Inhalt und Repräsentation, Narration und Dramaturgie, Figuren und Akteure, Ästhetik und Gestaltung oder Kontexte. Das ist notwendig, weil eine sogenannte »exhaustive Analyse«, in der ein Film nach allen nur erdenklichen Aspekten so vollständig wie möglich analysiert wird (vgl. dazu Wulff 1998, S. 23), in der Regel aus forschungsökonomischen Gründen nicht praktizierbar ist. In der Literatur zur Film- und Fernsehanalyse sind verschiedene Systema‐ tiken für die Analyse vorgeschlagen worden: Einmal werden sie »Arbeits‐ schritte« genannt (vgl. Hickethier 2012, S. 34), einmal »Grundmuster der Analyse« (vgl. Schaaf 1980, S. 112) oder »Grundoperationen der Analyse« (vgl. Wuss 1999, S. 22), andere nennen es »Strecken der Analyse« (vgl. Casetti/ di Chio 1994, S. 7) oder einfach »Systematik« (vgl. Korte 2010, S. 75). Einige Vorschläge sollen hier kurz dargestellt werden. Auf eine Kritik im Einzelnen wird dabei verzichtet. Der umfangreichste Vorschlag stammt von Michael Schaaf (1980, S. 112 f.), der zehn Arbeitsschritte unterscheidet: (1) Analyseziel, (2) Bedeutung - damit ist »eine kurze filmgeschichtliche Charakteristik« gemeint, (3) Ein‐ führung - dazu zählen Daten über den Regisseur, die Entstehung des Films etc., (4) Inhalt, (5) Thema, (6) Darstellungsweise, (7) Gestaltung, 3.1 Operationalisierung 91 <?page no="92"?> (8) Wirkung - dabei geht es um die Rezeption des Films, (9) Auswertung, in der die Ergebnisse der verschiedenen Analysestufen zusammengefasst werden, und (10)-Kritik, die eine abschließende Bewertung enthält. Knut Hickethier (2010, S. 34 f.) geht davon aus, dass das erste subjektive Verständnis eines Films oder einer Fernsehsendung der erste Arbeitsschritt ist. Dem folgen als weitere Schritte die Bewusstmachung des Kontextes der eigenen Lesart bzw. Wahrnehmung, danach die Analyse, »in der nun die Struktur des Produkts und seine filmbzw. fernsehästhetische Gestal‐ tung untersucht wird, seine Ausdrucksformen ermittelt und der Bezug des Films zu den filmischen und fernseheigenen Traditionen und die in ihm vorhandenen Bedeutungspotentiale entschlüsselt werden« (ebd., S. 34). Auf diese eigentliche Analyse folgt die Erschließung der Kontexte, zu denen der Autor die Entstehung, Produktion, Distribution und Rezeption zählt, bevor letztendlich alle bisherigen Arbeitsschritte in einen Zusammenhang gebracht und zueinander in Beziehung gesetzt werden. Auch Francesco Casetti und Federico di Chio (1994, S. 14 ff.) schlagen vor, die Analyse mit einem vorläufigen Verständnis des Films zu beginnen. Es folgen die Entwicklung explorativer Hypothesen, die Begrenzung des Korpus und die Wahl der Methode. Danach geht es darum, die Aspekte der Analyse zu bestimmen (z. B. die Repräsentation, die Narration etc.), bevor sie in vier Schritten durchgeführt wird (vgl. ebd., S. 11 ff.): (1) Erken‐ nen der Einzelteile, (2) Verstehen durch Zusammenfügen der Einzelteile, (3) Beschreiben und (4) Interpretieren der Ergebnisse. Die wesentlichen Operationen der Analyse sind das Segmentieren (das Zerlegen in Einzelteile) und das Stratifizieren (die Bildung von Ebenen), das Nummerieren und das Ordnen. Für Helmut Korte (2010, S. 75) hingegen beginnt die Analyse mit einer kurzen »Inhaltsbeschreibung des Handlungsablaufs als Erinnerungshilfe« (ebd.), bevor es zu einer Problematisierung und der Entwicklung einer Fragestellung kommt. Dem folgt eine formal-inhaltliche Bestandsaufnahme, die in einer weiteren Konkretisierung der Fragestellung mündet. Es schließt sich die eigentliche Analyse an, der die Interpretation folgt. Diese führt zu einer historischen Verankerung des Films und zur »Ermittlung der potenti‐ ellen Lesarten und zeitgenössisch dominanten Rezeptionsangebote« (ebd.). Die »Verallgemeinerung« stellt den letzten Arbeitsschritt dar, in dem die wichtigsten Ergebnisse zusammengefasst und vor dem Hintergrund theore‐ tischer und historischer Zusammenhänge bewertet werden. Die genannten Arbeitsschritte beziehen sich auf vier Dimensionen der Filmanalyse, die 92 3 Systematik der Analyse <?page no="93"?> Korte bestimmt (vgl. ebd., S. 23 ff.): (1) die Filmrealität, zu der die Ermittlung aller am Film selbst feststellbaren Daten gehört, (2) die Bedingungsrealität, zu der die Kontextfaktoren der Produktion zählen, (3) die Bezugsrealität, zu der die »Erarbeitung der inhaltlichen, historischen Problematik, die im Film thematisiert wird« (ebd., S. 24), gehört, und (4) die Wirkungsrealität, zu der die Aufarbeitung der Rezeptionsgeschichte zählt. Allerdings muss sich eine Analyse meines Erachtens nicht zwangsläufig auf alle vier der von Korte genannten Dimensionen erstrecken. Das Erkenntnisinteresse kann sich z. B. auch nur auf Teilaspekte der Filmrealität beziehen. 3.2 Arbeitsschritte Unabhängig von Umfang und Art der Analyseschritte besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass vier Tätigkeiten grundlegend für die Film- und Fernsehanalyse sind: (1) Beschreiben, (2) Analysieren, (3) Interpretieren und (4) Bewerten (vgl. Branigan 1993, S. 8; Casetti/ di Chio 1994, S. 11 ff.; Elsaesser/ Buckland 2002, S. 284 ff.; Korte 2010, S. 75; Wuss 1999, S. 22 f.). Sie können als Grundoperationen angesehen werden und müssen sich in der Abfolge der Arbeitsschritte, die bei der Operationalisierung für eine konkret durchzuführende Analyse festgelegt werden, wiederfinden lassen. Hier sollen vierzehn konkrete Schritte zur Analysearbeit empfohlen werden: 1. Entwicklung eines allgemeinen Erkenntnisinteresses 2. Anschauung des Materials 3. Theoretische und historische Reflexion 4. Konkretisierung des Erkenntnisinteresses 5. Entwicklung der Fragestellung(en) 6. Eingrenzung des Materials bzw. Bildung des Analysekorpus 7. Festlegung der Hilfsmittel 8. Datensammlung 9. Beschreibung der Datenbasis 10. Analyse der Daten: Bestandsaufnahme der Komponenten der Filme oder Fernsehsendungen 11. Auswertung: Interpretation und Kontextualisierung der analysierten Daten 12. Evaluation I: Bewertung der analysierten und interpretierten Daten 3.2 Arbeitsschritte 93 <?page no="94"?> 13. Evaluation II: Bewertung der eigenen Ergebnisse gemessen am Erkennt‐ nisinteresse und der Operationalisierung 14. Präsentation der Ergebnisse - 1. Entwicklung eines allgemeinen Erkenntnisinteresses Vor jeder Analyse sollte aus dem weiten Feld theoretischer oder historischer Ansätze und Annahmen ein allgemeines Erkenntnisinteresse entwickelt werden. Das kann sich sowohl auf eine Gruppe von Filmen als auch auf eine einzelne Fernsehsendung oder ein einzelnes Video beziehen. So können die Filme des italienischen Neorealismus oder die Filme des Marvel Cinematic Universe ebenso interessieren wie die Quizshow »Wer wird Millionär? « oder die Serie »Bridgerton«. Eine Annäherung von allgemeinen theoretischen Überlegungen an ein Korpus von Fernsehsendungen könnte beispielsweise die Repräsentation von Flüchtlingen im deutschen Fernseh‐ krimi beinhalten; ein filmhistorischer Ansatz könnte sich z. B. auf die Entwicklung der Soundtechnik im Actionfilm der 1990er Jahre beziehen. Das allgemeine Erkenntnisinteresse muss sich nicht, kann sich aber auch bereits an den in Kapitel I.2 genannten fünf Ebenen orientieren. Deutlich wird bereits, dass es bei der Analyse darum geht, »sich auf das Exemplarische, das Besondere« einzulassen (Wulff 1998, S. 19). Es wird in diesem Sinn davon ausgegangen, dass sich z. B. die Entwicklung der Soundtechnik im Actionfilm der 1990er Jahre besser beobachten lässt als im Liebesfilm und dass sie für dieses Genre zu dieser Zeit charakteristisch ist oder dass »Wetten, dass …? « eine besonders typische Samstagabend-Show ist. - 2. Anschauung des Materials Eine Film- und Fernsehanalyse ohne Anschauung des Materials ist un‐ denkbar. Geht es in der Analyse doch auch darum, die an sich flüchtige Seherfahrung festzuhalten und zu reflektieren. Das bewegte Bild wird in Worte übersetzt, um es in gewissem Sinn anzuhalten (vgl. Bellour 1999b, S. 19) und es dem Verstehen zugänglich zu machen. Hans J. Wulff (1998, S. 20) spricht im Anschluss an Jakobson auch davon, dass die Analyse »als eine besondere Strategie, eine besondere, kontrollierte und explizite Form des ›Übersetzens‹ lokalisiert werden kann«. Denn im Zentrum der Analyse steht der Versuch, die Strukturiertheit und die Funktion des be‐ wegten Bildes zu verstehen. Daher ist Film- und Fernsehanalyse auch als 94 3 Systematik der Analyse <?page no="95"?> hermeneutisches Unterfangen zu begreifen. Dazu ist es jedoch unerlässlich, die bewegten Bilder anzuschauen, und zwar nicht nur einmal, sondern je nach Arbeitsschritt mehrfach. Ist das allgemeine Erkenntnisinteresse entwickelt, reicht es in der Regel aus, die Fernsehsendungen, Videos oder Filme einmal anzuschauen. Soll es z.-B. um die Filme des Marvel Cinematic Universe gehen, sollten möglichst viele Filme daraus angeschaut werden, um das Besondere an ihnen zu verstehen und im nächsten Arbeitsschritt zu reflektieren. Steht die Quizshow »Wer wird Millionär? « im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, sollten nicht nur mehrere Ausgaben dieser Show aus verschiedenen Jahren angeschaut werden, sondern auch andere Shows, um so einen ersten Eindruck von der Besonderheit bzw. Exemplarität von »Wer wird Millionär? « zu gewinnen. Die Anschauung des Materials ist hier zwar als zweiter Arbeitsschritt aufgeführt, sie begleitet jedoch alle anderen Arbeitsschritte bis hin zur Präsentation der Analyse. Vom ersten bis zum letzten Arbeitsschritt ist die wiederholte Anschauung des Film- und Fernsehmaterials notwendig. Denn es geht nicht nur darum, das Besondere an dem jeweiligen Korpus von Filmen oder der einzelnen Fernsehsendung zu entdecken, sondern sich auch immer wieder der Analysearbeit, des Verstehens zu versichern. Die Analyse steht in einer doppelten Beziehung zum Material der bewegten Bilder: Einerseits werden ihre Erkenntnisse aus der Anschauung des Materials gewonnen, andererseits müssen diese gewonnenen Erkenntnisse immer wieder durch Anschauung überprüft werden. Grundsätzlich gilt, dass Filme, Fernsehsendungen und Videos nicht nur in Ausschnitten, sondern immer in voller Länge angesehen werden müssen. Wenn Gegenstand der Analyse ist, die Komponenten des Films oder der Fernsehsendung herauszuarbeiten, die in ihrer Funktionalität sowohl für die Repräsentation und die Narration als auch für das kommunikative Verhältnis zu den Zuschauer: innen verstanden werden sollen, dann müssen die strukturellen Komponenten auch in Bezug zur Gesamtheit des Films gesetzt werden können. Dazu muss der gesamte Film oder die gesamte Fernsehsendung gekannt werden. Vor allem im vierten Arbeitsschritt, wenn es um die Konkretisierung des Erkenntnisinteresses geht, ist dies besonders wichtig. In der späteren, konkreten Analyse können dann auch einzelne Bilder, Szenen oder Sequenzen genauer betrachtet werden - allerdings immer vor dem Hintergrund des gesamten Films. 3.2 Arbeitsschritte 95 <?page no="96"?> 3. Theoretische und historische Reflexion Die Sichtung der Filme, Fernsehsendungen und Videos geht einher mit der Lektüre theoretischer oder historischer Abhandlungen, die im Rahmen des allgemeinen Erkenntnisinteresses relevant sind. Vor dem Hintergrund der gesichteten Filme, Fernsehsendungen und Videos wird nun Fachliteratur recherchiert und gelesen. So können z. B. aus Büchern und Aufsätzen, die sich mit Superhelden-Filmen befassen, Anregungen für die Analyse gewon‐ nen werden. Die Literatur zu Fernsehshows und Fernsehunterhaltung birgt z. B. manche Hinweise, die für die Konkretisierung des Erkenntnisinteresses bei einer Analyse von »Wer wird Millionär? « hilfreich sein können. Aus der gegenseitigen Befruchtung von Anschauung des Materials und der theoretischen sowie historischen Reflexion lässt sich das konkrete Erkennt‐ nisinteresse entwickeln. - 4. Konkretisierung des Erkenntnisinteresses Mit dem konkreten Erkenntnisinteresse (vgl. Kapitel I.2) ist auch das Ziel der Analyse benannt. Es kann sich ebenso auf Inhalt und Repräsentation oder Narration und Dramaturgie eines einzelnen Films oder Videos oder einer Gruppe von Filmen richten wie auf Figuren und Akteur: innen oder die Gestaltung einer Fernsehsendung. Im Mittelpunkt der Analyse kann z. B. das Verhältnis von weiblichen zu männlichen Superhelden stehen oder die Rolle der Moderatorin oder der Kandidat: innen in einer Quizshow wie »Wer wird Millionär? «. Ebenso können die Kontexte der Filme, Fernsehsendungen oder Videos ins Zentrum des Erkenntnisinteresses rücken. So können beispiels‐ weise die typischen Genremerkmale der Marvel-Filme bestimmt oder die intertextuellen Bezüge zu anderen Fernsehsendungen und zu anderen me‐ dialen Texten der Populärkultur in »Wer wird Millionär? « herausgearbeitet werden. Die Untersuchung der Repräsentation der Superheld: innen in den Marvel-Filmen kann z. B. noch kontextualisiert werden, indem sie in Bezug zu den Diskursen über Gendergerechtigkeit gesetzt werden. Das konkrete Erkenntnisinteresse entwickelt sich aus dem doppelten Zugriff auf die Film- und Fernsehtexte: aus der Anschauung und der theoretischen und/ oder historischen Reflexion. Die eigene alltägliche Rezeptionserfahrung wird mit theoretischer oder historischer Lektüre verbunden. Nun kann von der alltäglichen Erfahrung abstrahiert und eine theoriegeleitete Sichtung des Materials durchgeführt werden. Daraus ergibt sich fast zwangsläufig das 96 3 Systematik der Analyse <?page no="97"?> konkrete Erkenntnisinteresse für die Analyse und die damit verbundenen Fragestellungen. - 5. Entwicklung der Fragestellung(en) Steht das konkrete Erkenntnisinteresse fest, lassen sich Fragestellungen entwickeln, die für die Analyse leitend sind. Für das genannte Beispiel des Verhältnisses von Superheldinnen zu Superhelden können sich folgende Fragen ergeben: Welche Werte vertreten die Superheldinnen? Welche Werte kennzeichnen den Zusammenhalt der Avengers? In welchem Verhältnis stehen die Werte der Superheldinnen zu denen der Superhelden? Zielt die Kommunikation zwischen beiden auf Verständigung oder auf Abgren‐ zung? In welchen Belangen sind die Superheldinnen den Superhelden überlegen? Mit welchen Kamerapositionen und -einstellungen werden die Superheldinnen präsentiert? Werden sie durch Spezialeffekte verfremdet? Oder werden durch die Spezialeffekte die Fähigkeiten der Superheldinnen extra hervorgehoben und betont. Die Liste ließe sich fortsetzen. Für die Analyse der Rolle des Moderators in »Wer wird Millionär? « können folgende Fragen leitend sein: Welches kommunikative Verhältnis baut er zu den Kandidat: innen und zum Saalpublikum auf ? Wie gestaltet er die Gespräche mit den Kandidat: innen? Welche Funktionen übt der Moderator im Verlauf der Sendung aus? Welche Funktion erfüllt er bei Pannen im Ablauf ? Wie wird er von der Kamera inszeniert? Spricht er die Zuschauer: innen am heimischen Bildschirm direkt an? Wenn ja, in welchen Situationen tut er es? Welche Rolle spielt er für die Dramaturgie der Sendung? Steigert oder senkt der Moderator die Spannung? In der Analyse werden Antworten auf diese und ähnliche Fragen gesucht. Sie alle zielen darauf ab, das Exemplarische der Beispielsendungen oder -filme, auf die sich das konkrete Erkenntnisin‐ teresse richtet, herauszuarbeiten. - 6. Eingrenzung des Materials bzw. Bildung des Analysekorpus Aus forschungsökonomischen Gründen wird es in der Regel nicht mög‐ lich sein, alle »Wer wird Millionär? «-Sendungen, die jemals ausgestrahlt wurden, oder alle Filme des Marvel Cinematic Universe zu untersuchen. Folglich muss eine Auswahl aus dem gesamten audiovisuellen Material, das sozialwissenschaftlich gesprochen die Grundgesamtheit darstellt, getroffen werden. Es wird eine Stichprobe (Sample) gebildet. Dazu können verschie‐ dene Verfahren angewendet werden, die sich grob in eine gezielte Auswahl 3.2 Arbeitsschritte 97 <?page no="98"?> und eine Zufallsauswahl unterscheiden lassen (vgl. dazu Diekmann 2020, S. 325 ff.; Klammer 2005, S. 167 ff.). Die gezielte Auswahl kann willkürlich erfolgen, d. h., der Analysierende legt aufs Geratewohl fest, welche Sen‐ dungen von »Wer wird Millionär? « analytisch bearbeitet werden sollen. Dieses Verfahren entspricht jedoch nicht den Anforderungen, die in der Sozialwissenschaft allgemein an Stichproben gestellt werden. Dazu gehört, dass zunächst einmal die Stichprobe eine Grundgesamtheit für Forschungs‐ zwecke verkleinert. Die Grundgesamtheit bilden im Fall der Quizshow alle Sendungen von »Wer wird Millionär? «, die seit 1999 ausgestrahlt wurden. Ferner müssen die Einheiten der Stichprobe klar definiert sein. Letztlich muss das Auswahlverfahren dargestellt werden können. Wird z. B. eine gezielte Auswahl getroffen, müssen die vorher festgelegten Kriterien, nach denen die Stichprobe ausgewählt wird, angegeben werden. Das Kriterium kann hier sein, dass Sendungen mit den alten und solche mit den verän‐ derten Regeln in die Stichprobe aufgenommen werden oder dass nur die Prominenten-Specials der Sendung untersucht werden sollen. Außerdem besteht die Möglichkeit der Quotenauswahl, d. h., es werden mehrere Merkmale vorgegeben, die die Sendungen aufweisen müssen. Sollen z. B. nur »Wer wird Millionär? «-Sendungen analysiert werden, bei denen mindestens eine der Kandidat: innen mehr als 125.000 Euro gewonnen hat oder bei denen keine Kandidat: innen mehr als 8000 Euro gewonnen haben, dann werden nur die Sendungen, die diese Kriterien erfüllen, in die Stichprobe aufgenommen. Wird die Stichprobe per Zufall bestimmt, kann zwischen einfacher und komplexer Wahrscheinlichkeitsauswahl unterschieden werden (vgl. Diek‐ mann 2020, S. 330 ff.). Die reine Zufallsauswahl liegt z. B. vor, wenn alle Filme des Marvel Cinematic Universe die gleiche Chance haben, in die Stichprobe einzugehen. Die Analysierende nummeriert alle Filme durch, um anschließend möglicherweise in einem Glücksspielverfahren wie dem Rou‐ lette Nummern zu erspielen. Die den Nummern entsprechenden Filme gehen dann in die Stichprobe ein. Wenn aus forschungsökonomischen Gründen le‐ diglich drei Filme des Marvel Cinematic Universe analysiert werden können, bietet sich die reine Zufallsauswahl an. Bei größeren Grundgesamtheiten ist eine systematische Zufallsstichprobe angebracht. Wenn zehn »Wer wird Millionär? «-Ausgaben aus den insgesamt ca. 1620 Sendungen (Stand: Dezember 2022) ausgewählt und alle Special-Sendungen ausgeschlossen werden sollen, kann per Zufall eine aus dem ersten Ausstrahlungsjahr bestimmt werden, die weiteren neun Ausgaben werden dann nach einem 98 3 Systematik der Analyse <?page no="99"?> bestimmten System ausgewählt, z. B. jede 40. Sendung in der chronologi‐ schen Abfolge. Bei der komplexen Wahrscheinlichkeitsauswahl werden bestimmte Ver‐ fahren der reinen oder systematischen Zufallsauswahl vorgeschaltet. Man kann ein »cluster sample« (Klumpenauswahl) bilden (vgl. dazu auch Wulff 1998, S. 36). Dabei wird aus der Grundgesamtheit zunächst eine Gruppe ausgewählt, z. B. alle »Wer wird Millionär? «-Sendungen mit Millionenge‐ winnern oder alle in Babelsberg hergestellten Marvel-Filme. Nun werden die auf diese Weise ausgewählten Sendungen oder Filme analysiert. Soll aus diesem »Klumpen« noch einmal mit den beschriebenen Verfahren der reinen oder systematischen Zufallsauswahl eine Auswahl getroffen werden, weil die Stichprobe immer noch zu groß ist, nimmt man eine sogenannte mehrstufige Auswahl vor. Allen Auswahlverfahren liegt die Auffassung zugrunde, dass jeder Film, jedes Video oder jede Fernsehsendung, die aus einer Grundgesamtheit in die Stichprobe aufgenommen wird, exemplarisch ist. Die zu analysierenden Strukturen und Funktionen lassen sich an ihnen stellvertretend für die Grundgesamtheit untersuchen. Die Bildung von Stichproben ist bei der Film- und Fernsehanalyse immer dann erforderlich, wenn sich das konkrete Erkenntnisinteresse nicht von vornherein auf einen einzelnen, prototypi‐ schen Film richtet, sondern auf eine Gruppe von Filmen, Videos oder Fernsehsendungen. Denn aus forschungsökonomischen Gründen lassen sich in der Regel nicht alle Filme, Videos oder Fernsehsendungen der jeweiligen Gruppe analysieren. Doch selbst bei der Analyse einzelner Filme können noch Auswahlverfahren notwendig sein. Wenn beispielsweise die Montage in einem Science-Fiction-Film anhand von »2001 - Odyssee im Weltraum« analysiert werden soll, können aus der Grundgesamtheit aller Schnitte in dem Film einige Szenen ausgewählt werden, die besonders typisch für die Montage sind und daher eingehender analysiert werden. Bei der Eingrenzung des Materials bzw. der Auswahl des Analysekorpus müssen der Zweck der Analyse und die zur Verfügung stehende Zeit berücksichtigt werden. Es kann sich als nützlich erweisen, einen sogenannten »qualitativen Stichprobenplan« zu erstellen (vgl. Kelle 2008, S. 247 ff.), bei dem verschie‐ dene Sampling-Methoden miteinander kombiniert werden. Das ist ein weiterer Schritt, um das Problem der prinzipiellen Endlosigkeit der Analyse zu lösen. Steht die Auswahl der zu analysierenden Film- und Fernsehtexte fest, müssen die Hilfsmittel für die Analyse bestimmt werden. 3.2 Arbeitsschritte 99 <?page no="100"?> 7. Festlegung der Hilfsmittel Grundsätzlich lassen sich zwei Arten von Hilfsmitteln unterscheiden: tech‐ nische Hilfsmittel, die für die Sichtung der Filme und Fernsehsendungen unentbehrlich sind, und Hilfsmittel, die zur Umsetzung des audiovisuellen Materials in Sprache oder grafische Darstellungen dienen. Noch in den 1960er und 1970er Jahren waren die flüchtigen Bilder des Films und des Fernsehens nur sehr mühsam der Analyse zugänglich. Bevor im Fernsehen die magnetische Bildaufzeichnung verwendet wurde, konnten Sendungen lediglich einmal angeschaut werden. Für die Analyse von Filmen benötigte man eine Kopie, die sich die Wissenschaftler am Schneidetisch auch mehr‐ mals anschauen konnten. Inzwischen ist es erheblich einfacher, das audio‐ visuelle Material mehrmals zu betrachten, denn die technische Entwicklung hat den Videorekorder, den DVDbzw. Blu-Ray-Player und den Festplatten‐ rekorder hervorgebracht. Außerdem lassen sich Filme bereits in digitalisier‐ ter Form auf dem Computer anschauen. Zu den Hilfsmitteln, die zu einer Erleichterung der Analysearbeit beitragen, weil sie Beschreibungsverfahren von Filmen und Fernsehsendungen darstellen, gehören das Filmprotokoll in seinen verschiedenen Varianten und die verschiedenen Verfahren der computergestützten Filmanalyse (vgl. dazu ausführlich Kapitel-I.3.2.1). - 8. Datensammlung Steht fest, welche Filme und Fernsehsendungen analysiert werden sollen, müssen sie dokumentiert werden. Dabei ist entscheidend, auf welchem Material sie zur Verfügung stehen. Filme waren in der Regel auf 8 mm, 16 mm, 35 mm oder 70 mm verfügbar. Bei diesen Formaten ist die Sich‐ tung schwierig. Aktuelle und einige historische Filme liegen allerdings inzwischen in digitaler Form vor, ebenso wie manche Fernsehserien - auch wenn einige historische nur auf VHS-Kassetten verfügbar sind. Viele Filme und Fernsehserien sind auf DVD bzw. Blu-Ray bzw. 4K oder online verfügbar und können im entsprechenden Fachhandel gekauft werden oder sie können auf Plattformen gestreamt werden. Fernsehserien, Videos und Filme können auch online betrachtet oder heruntergeladen und auf einer Festplatte gespeichert werden. Allerdings sind nicht alle Filme, Fernsehsen‐ dungen und Videos immer und überall verfügbar. Man kann z. B. davon ausgehen, dass Original-Serien auf Netflix immer auf Netflix vorhanden sind. Filme und Serien, für die Netflix lediglich eine Lizenz erworben hat, sind nur für die Dauer der Lizenz verfügbar. So sind inzwischen alle 100 3 Systematik der Analyse <?page no="101"?> Marvel-Serien nicht mehr auf Netflix verfügbar, weil Disney sie auf der eigenen Streaming-Plattform, Disney+, zeigt. Sofern Filme und Videos noch auf physischen digitalen Trägern wie Blu-Ray zu bekommen sind, ist die Beschaffung für die Analyse einfach. Grundsätzlich gilt: Für die Analyse ist es wichtig, die Filme, Videos und Fernsehsendungen permanent verfügbar zu haben, auf Datenträgern, die die Analysierenden in ihrem Besitz hat. Nur dann kann immer wieder darauf zugegriffen werden. Die Zugänglichkeit vor allem von historischen Fernsehsendungen bereitet eher Probleme. Zwar gibt es einige Fernsehserien und -spiele auf DVD oder Blu-Ray, doch wenn es sich um Sendeformen wie z. B. Fernsehshows, Kulturmagazine oder Nachrich‐ tensendungen handelt, sind die Wissenschaftler: innen darauf angewiesen, im Deutschen Rundfunk Archiv oder bei der Rundfunkanstalt, die die Sendung ausgestrahlt hat, nachzuforschen. In der Regel ist die Beschaffung des Materials auf diese Weise mit zum Teil erheblichen Kosten verbunden. In anderen Ländern wie Frankreich, Großbritannien, den USA oder den skandinavischen Ländern sind viele Filme, Videos und Fernsehsendungen in Archiven vorhanden, die online zugänglich sind. Das größte Online-Archiv für Filme, Fernsehsendungen und Videos ist YouTube. So können z. B. die Videos der International Federation of Television Archives (FIAT/ IFTA) nur auf YouTube angesehen werden (vgl. Mikos 2018, S. 420). Auch viele Filmar‐ chive haben eigene Kanäle auf YouTube wie das Charlie Chaplin Archiv, das National Archive des British Film Institute (BFI), das Film Archiv Thailands oder das Chicago Film Archiv, um nur einige Beispiele zu nennen (vgl. ebd.). Viele Stummfilme und Filme aus dem 20. Jahrhundert können auf YouTube in voller Länge gesehen werden. Der Archivar und Filmwissenschaftler Rick Prelinger hat dazu angemerkt: »YouTube hat implizit erkannt, dass Archive nicht mehr das Ende des Lebenszyklus von Medien darstellen, sondern einen neuen Anfang« (Prelinger 2009, S. 274). Und YouTube macht diese Filme, Fernsendungen und Videos aus den Archiven einem großen Publikum verfügbar. Allerdings hat dies für die Wissenschaftler: innen auch Grenzen. Denn häufig sind lediglich die Filme, Fernsehsendungen oder Videos vorhanden, nicht aber die sogenannten Metadaten, die z. B. Informationen zum Produktionskontext oder der Distribution geben (vgl. dazu auch Mikos 2018, S. 421f.). Das erfordert dann weitere Recherchen in anderen Datenbanken und Archiven. Die Filmwissenschaftlerin Franziska Heller (2020) hat eindrucksvoll gezeigt, wie sich durch die Digitalisierung von Filmen, die Frage nach der Authentizität von Filmoriginalen stellt, z. B. weil bei der Digitalisierung Farbveränderungen vorgenommen wurden, 3.2 Arbeitsschritte 101 <?page no="102"?> wodurch die Farbdramaturgie des Originals nicht mehr vorhanden ist. Daher müssen die Analysierenden »die fehlende Stabilität und Identität von digitalen Bildern« immer mitdenken (ebd.; S. 35). Letztlich geht es dann in der Analyse auch darum deutlich zu machen, welche Version eines Films, einer Fernsehsendung oder einem Video die materielle Grundlage der Analyse bildet. - 9. Beschreibung der Datenbasis In einem nächsten Schritt muss die Datenbasis - die Grundlage der Ana‐ lyse - beschrieben werden. Dazu sollten Ablauf, Inhalt und Plot von Filmen oder Fernsehsendungen in Worte gefasst werden. Die Beschreibung dient dazu, »sich der empirischen Datenbasis zu versichern« (Wuss 1999, S. 22). Dabei reicht es allerdings nicht, sich auf den Inhalt der zu analysierenden Fernsehsendungen oder Filme zu beschränken (vgl. Korte 2010, S. 75), sondern die Beschreibung orientiert sich bereits am Erkenntnisinteresse. Stehen die Figuren und Akteur: innen im Mittelpunkt der Analyse, muss die Beschreibung darauf eingehen. Wenn z. B. die Rolle der Moderation in »Wer wird Millionär? « untersucht werden soll, müssen die ausgewählten Ausgaben der Show so beschrieben werden, dass die Aktivitäten des Mode‐ rators berücksichtigt werden. Geht es z. B. um die Superheldinnen in den Filmen des Marvel Cinematic Universe, muss die Beschreibung alle Elemente der Filme aus der Stichprobe enthalten, die dazu beitragen können: Inhalt und Plot, Narration, Figuren und ästhetische Inszenierung. Denn in der Beschreibung muss bereits deutlich werden, welche Sinnangebote die Film- und Fernsehtexte machen und wie sie Bedeutung bilden, sowohl in Bezug auf die Kohärenz der Erzählung als auch in Bezug auf die Kommunikation mit potenziellen Zuschauer: innen. Die Beschreibung versucht die Bilder der audiovisuellen Texte in Sprache zu übersetzen und zitierbar zu machen. In der Beschreibung werden die Filme, Fernsehsendungen und Videos mit sprachlichen Mitteln fixiert (vgl. Kuchenbuch 2005, S. 37). Allerdings ist bei der Beschreibung darauf zu achten, dass es nicht bereits zur Interpretation, d. h. Bewertung der Daten kommt; denn letztlich geht es in diesem Arbeits‐ schritt nur darum, zu beschreiben, was zu sehen ist bzw. was gesehen werden kann, aber bei der einmaligen Sichtung vielleicht nicht gesehen wurde. 102 3 Systematik der Analyse <?page no="103"?> 10. Analyse der Daten: Bestandsaufnahme der Komponenten der Filme, Video oder Fernsehsendungen Dieser Arbeitsschritt stellt die eigentliche Grundlagenarbeit dar: die Be‐ standsaufnahme der Komponenten der Filme, Fernsehsendungen und Vi‐ deos. Mit dem theoretischen oder historischen Vorverständnis wird eine Perspektive auf die Bestandsaufnahme der Komponenten geschaffen, ohne die eine Analyse nicht durchgeführt werden kann. Das trifft nicht nur auf sogenannte applikative Analysen zu, bei denen theoretische Annahmen an Film- und Fernsehtexten überprüft werden, sondern auch auf sogenannte explorative Analysen, bei denen »aus der genauen Beschreibung von Ein‐ zeltexten oder Gruppen von Einzeltexten Kriterien und Charakteristiken gewonnen werden, die theoriefähig sind, also in einer Theorie interpretiert werden können« (Wulff 1998, S. 22). Denn auch Letztere sind ohne ein theoretisches Vorverständnis nicht möglich. Die Theorie leistet bei der Bestandsaufnahme der Komponenten Wesent‐ liches. Sie macht die unsichtbaren Strukturen des Films bzw. der Fernsehsen‐ dung sichtbar (vgl. Elsaesser/ Buckland 2002, S. 5). Im Rahmen der Analyse des audiovisuellen Materials aus einer Stichprobe müssen alle Komponenten herausgearbeitet werden, die zur Bedeutungsbildung und Gestaltung des kommunikativen Verhältnisses mit den Zuschauer: innen beitragen. Dabei muss immer auf das Exemplarische und das Besondere geachtet werden, und zwar in Bezug auf die einzelnen Komponenten der Film- und Fernsehtexte und deren Rolle bei der Gestaltung des gesamten Textes. In der Analyse werden die Filme, Fernsehsendungen und Videos gewissermaßen zerlegt, um ihre Strukturen offenzulegen. Das kann je nach Erkenntnisinteresse von den Handlungssequenzen bis zu den Einzelbildern reichen, sofern es die Forschungsökonomie zulässt. Filme, Fernsehsendungen und Videos bestehen aus vielen Einzelbildern. Da es sich um Medien des bewegten Bildes handelt, interessiert vor allem die Aneinanderreihung von Einzelbildern und deren Verknüpfung. Daher gilt in der Regel die Einstellung als kleinste der Analyse zugängliche Einheit. Eine Einstellung kann mehrere Einzelbilder umfassen. Sie ist definiert durch den Bildausschnitt und die Nähe bzw. Entfernung der Kamera zu den abgebildeten Objekten und Personen (vgl. Kapitel II.4.1). Der Bildraum ist durch den Bildausschnitt, den die Kamera zeigt, begrenzt. Mit dem Schnitt endet eine Einstellung und eine neue beginnt, d. h., Beginn und Ende einer Einstellung werden durch die Schnitte gesetzt (vgl. Korte 2010, S. 34; 3.2 Arbeitsschritte 103 <?page no="104"?> Kuchenbuch 2005, S. 37; Phillips 2009, S. 127; Schaaf 1980, S. 50). Eine Son‐ derform der Einstellung stellt die Plansequenz dar, in der eine vollständige Handlungseinheit in einer Einstellung ohne Schnitt gezeigt wird (vgl. dazu auch Jehle 2021). So ist z. B. die Anfangssequenz in »Spectre« gestaltet. Die Kamera bewegt sich, um das Geschehen zu dramatisieren und folgte der Hauptfigur James Bond in den ersten acht Minuten des Films. Eine weitere Komponente des Films, der Fernsehsendung oder des Videos ist die Szene. Sie bildet eine Einheit von Ort und Zeit, in der sich eine kon‐ tinuierliche Handlung vollzieht. Allerdings kann sie durch Veränderung des Kamerastandpunktes aus verschiedenen räumlichen Perspektiven gezeigt werden (vgl. Bordwell/ Thompson 2020, S. 100; Phillips 2009, S. 128; Schaaf 1980, S. 50). Nach Daniel Arijon (2000, S. 27) werden drei Arten von Szenen unterschieden: (1) Dialogszenen ohne Aktion, (2) Dialogszenen mit Aktion und (3) Aktionsszenen ohne Dialog. Als vierte Art können meines Erachtens deskriptive Szenen ohne Dialog hinzugefügt werden. Dazu gehören Szenen, in denen atmosphärische Eindrücke z. B. von einer Landschaft oder dem Großstadtleben vermittelt werden. Die größte Komponente bei der Segmentierung eines Films, einer narrati‐ ven Fernsehsendung oder eines Videos stellt die Sequenz dar. Darunter wird in der Regel eine Gruppe von miteinander verbundenen Szenen verstanden (vgl. Phillips 2009, S. 128), die eine Handlungseinheit bilden »und sich durch ein Handlungskontinuum von anderen Handlungseinheiten« unterscheiden (Hickethier 2012, S. 37). Teilweise wird in der Filmwissenschaft der Begriff »Sequenz« synonym mit »Szene« verwendet (vgl. Bordwell/ Thompson 2020, S. 504) und eher formal definiert (vgl. Jehle 2021, S. 18f.). In der Filmpraxis bezeichnet der Begriff Sequenz die »kleineren Bausteine« einer Szene, die als »Szenen innerhalb von Szenen« beschrieben werden (vgl. Armer 2000, S. 142). Als eine Komponente, die zur Bedeutungsbildung und zur Gestaltung des kommunikativen Verhältnisses mit den Zuschauer: innen beiträgt, soll unter Sequenz hier im beschriebenen Sinn eine Gruppe von Szenen verstanden werden, die eine Handlungseinheit bilden. Bei Fernseh‐ shows kann als Äquivalent zu Sequenzen von »Episoden« gesprochen werden, die eine Spieleinheit bilden. So wäre z. B. in »Quizduell« eine Fragerunde mit drei Fragen zu einem Themengebiet als eine Episode anzu‐ sehen, die aus vier Szenen besteht: dem Gespräch der Moderatorin mit den Kandidat: innen und den drei Fragen und Antworten in der Runde. Die Szenen sind wiederum in mehrere Einstellungen aufgelöst. Bei Nachrichten- oder Magazinsendungen ist es dagegen nicht sinnvoll, den Fernsehtext für 104 3 Systematik der Analyse <?page no="105"?> die Analyse in Sequenzen oder Episoden zu segmentieren. Hier grenzen sich die einzelnen Einheiten dadurch ab, dass in ihnen ein Thema behandelt wird. Dabei spielen allerdings verschiedene Elemente wie Moderation, Interview, Bildbericht oder Kommentar eine Rolle, die in unterschiedlichen Einstel‐ lungen präsentiert werden. Als größte Einheit können hier die einzelnen Themen gesehen werden, die dann allerdings kleinere Einheiten wie Szenen und Einstellungen enthalten. Sie alle fügen sich zur Struktur des Film- und Fernsehtextes zusammen. Neben den Strukturen des Textes muss die Analyse auch die »Beschrei‐ bung der Operationen, die der Zuschauer am Text vollzieht« (Wulff 1998, S. 21), leisten. Wissenschaftler: innen müssen in der Analyse offen sein für Unerwartetes, für Besonderes, d. h., sie müssen ihre methodisch kontrol‐ lierte Aufmerksamkeit und Sensibilität gegenüber dem Gegenstand aktivie‐ ren, um zu sehen, was in der »normalen« Rezeption nicht ohne weiteres zu sehen ist. Dazu gehört auch, sich das audiovisuelle Material wieder und wieder anzuschauen, denn nur dabei können die unsichtbaren Strukturen der Film- und Fernsehtexte sichtbar werden. Dann kann z. B. bemerkt werden, dass die Superheldinnen des Marvel Cinematic Universe zwar spezielle Superkräfte haben, die visuell durch Spezialeffekte verdeutlicht werden, die Superhelden aber bei gemeinsamen Kämpfen die dominantere Rolle haben. Erst dann fällt möglicherweise auf, dass die »billigen« Fragen in den »Wer wird Millionär? «-Sendungen häufig auf Sprachspielen und kulturellen Traditionen Deutschlands beruhen. Sind die Komponenten der Film- und Fernsehtexte in der Analyse erfasst, folgt als nächster Arbeitsschritt die Auswertung des analysierten Materials. - 11. Auswertung: Interpretation und Kontextualisierung der analysierten Daten Mit der Auswertung der analysierten Daten kommt man dem Analyseziel näher. Hier werden die strukturellen Komponenten der Film- und Fern‐ sehtexte im Hinblick auf die Bedeutungsbildung und die Gestaltung des kommunikativen Verhältnisses mit den Zuschauer: innen interpretiert und in die Kontexte eingeordnet (vgl. dazu ausführlich Kapitel I.3.2.2). Sie werden in Bezug auf das konkrete Erkenntnisinteresse interpretiert. Auf diese Weise lässt sich z. B. feststellen, dass die Superheldinnen taktischer vorgehen als ihre männlichen Partner und Gegner. Zugleich mag sich zeigen, dass sich dieses Repräsentationsmuster mit einem außerfilmischen 3.2 Arbeitsschritte 105 <?page no="106"?> Diskurs über starke Frauen verbindet. Im Verhalten von Günther Jauch in »Wer wird Millionär? « lässt sich z. B. herausarbeiten, mit welcher Gestik und Mimik er die Raterunden mit den Kandidat: innen begleitet und mit welchen fernsehspezifischen Gestaltungsmitteln dies inszeniert wird, oder die Analyse der Fragen des darin abgefragten Wissens kann ergeben, dass vor allem Fragen in den mittleren Gewinnstufen sich auf das Wissen um populärkulturelle Phänomene beziehen. - 12. Evaluation I: Bewertung der analysierten und interpretierten Daten In diesem Schritt werden die Ergebnisse der eigenen Analyse vor dem Hintergrund der film- und fernsehtheoretischen und film- und fernsehhis‐ torischen Literatur sowie den bisherigen analytischen Studien bewertet. Es wird überprüft, ob die Ergebnisse wirklich neu sind oder ob bereits andere Wissenschaftler: innen zu ähnlichen Ergebnissen gekommen sind, mögli‐ cherweise jedoch in einem anderen Kontext. Die Bewertung bezieht sich bei applikativen Analysen darauf, ob theoretische Annahmen sich tatsächlich an dem analysierten Fernsehtext überprüfen lassen. Bei explorativen Ana‐ lysen ist zu bewerten, inwieweit die gewonnenen Erkenntnisse theoriefähig sind oder neue Einsichten in filmhistorische Zusammenhänge ermöglichen. Diese Bewertungen sind notwendig, weil die Film- und Fernsehanalyse als eine Grundlagenarbeit für die Weiterentwicklung von film- und fernsehthe‐ oretischen Annahmen und film- und fernsehhistorischen Erkenntnissen begriffen werden muss. Eine Ausnahme bilden lediglich Analysen, die aus didaktischen Gründen in pädagogischen Zusammenhängen (universitäre Ausbildung, schulische und außerschulische Bildungsarbeit) durchgeführt werden. Wer im Rahmen eines Seminars zur Film- und Fernsehanalyse eine eigenständige Filmanalyse anfertigt, muss keine neuen Erkenntnisse gewinnen, sondern nur zeigen, dass die Systematik und Methodiken der Analyse beherrscht werden. - 13. Evaluation II: Bewertung der eigenen Ergebnisse gemessen am Erkenntnisinteresse und der Operationalisierung In diesem vorletzten Arbeitsschritt werden die eigenen Ergebnisse vor dem Hintergrund des Erkenntnisinteresses und der Operationalisierung bewertet. Es geht also darum, ob sich der Aufwand gelohnt hat und ob der gewählte Weg der Analyse der angemessene war, um auf die Fragestel‐ lungen eine Antwort zu finden. Da kann z. B. festgestellt werden, dass 106 3 Systematik der Analyse <?page no="107"?> die systematische Zufallsauswahl von »Wer wird Millionär? «-Sendungen eine Stichprobe ergeben hat, in der die Grundgesamtheit nicht angemessen repräsentiert war, weil sich nur Sendungen mit den alten Spielregeln in der Stichprobe befanden, aber keine mit den veränderten. Es kann sich auch ergeben, dass das Sample von Filmen des Marvel Cinematic Universe in der zur Verfügung stehenden Zeit nicht ausreichend analysiert werden konnte, um sinnvolle Aussagen über die Bedeutung der Superheldinnen im Verhältnis zu den Superhelden machen zu können. Für die Durchführung weiterer Analysen im Rahmen der wissenschaftlichen Ausbildung oder Forschung ist es wichtig, die eigene Analysearbeit zu reflektieren und zu bewerten. Nur so lassen sich beim nächsten Mal Fehler vermeiden und Erkenntnisinteresse und Operationalisierung der Analyse in einer Weise gestalten, die den Zweck der Analyse und forschungsökonomische Kriterien angemessen berücksichtigt. - 14. Präsentation der Ergebnisse Den Abschluss jeder Analyse bildet die Präsentation der Ergebnisse, sei es in einer mündlichen Fassung als Referat in einem Seminar, in einer schriftlichen Form als Hausarbeit in einer Lehrveranstaltung, als Aufsatz für eine Publikation bzw. als Kapitel in einem Buch oder als Vortrag im Rahmen einer Tagung. Es ist auch möglich, eine Analyse in einem Vlog z. B. auf YouTube darzustellen. So sind die Filmkritiken auf dem YouTube-Kanal »Cinema Strikes Back« der öffentlich-rechtlichen Content-Netzwerks Funk nah an Analysen dran. Die Präsentation muss generell darauf abzielen, Le‐ ser: innen, Zuhörer: innen oder Zuschauer: innen das audiovisuelle Material, das der Analyse zugrunde lag, in sprachlicher Form so nahezubringen, dass sie die Ergebnisse der Analyse nachvollziehen können, auch wenn sie den oder die betreffenden Filme nicht gesehen haben (vgl. dazu ausführlich Kapitel-I.3.2.3). 3.2.1 Hilfsmittel Generell gilt, dass die Auswahl und der Einsatz der Hilfsmittel den for‐ schungsökonomischen Bedingungen, den Zwecken und den Erkenntnisin‐ teressen der Analyse angepasst werden müssen. Die technischen Hilfsmittel zur Sichtung der Filme und Fernsehsendungen stellen dabei ein geringes Problem dar. Die Länge des Films und einzelner Sequenzen lassen sich 3.2 Arbeitsschritte 107 <?page no="108"?> anhand der Zeitleisten von Festplattenrekordern ablesen. Zugleich ist es möglich, bestimmte Szenen im Film oder Episoden in der Fernsehshow gezielt zu suchen. DVDs bzw. Blu-Rays sind in Sequenzen oder Kapitel aufgeteilt, über die sich die entsprechenden Stellen des Films direkt ansteu‐ ern lassen. Darüber hinaus bieten fast alle DVDbzw. Blu-Ray-Player die Möglichkeit, über einen Timecode nach bestimmten Szenen zu suchen sowie die für die Analyse wichtigen Stellen des Films zu markieren, sodass sie später leichter auffindbar sind. Das Filmprotokoll stammt aus einer Zeit, als es noch nicht die Möglichkeit gab, sich einen Film auf einem Gerät oder online so oft anzuschauen, wie es die Analyse erforderte. Es diente dazu, möglichst viele Informationen über den Film in sprachlicher Form zu sichern und dabei den Ablauf in grafischer Form sichtbar zu machen (vgl. Kuchenbuch 2005, S. 37 ff.). Filmprotokolle zergliedern einen Film in Segmente. Diese Segmente können auf verschiedenen Einheiten beruhen: auf einzelnen Einstellungen, auf Szenen und auf Sequenzen. Die geläufigsten Protokollierungsformen sind das Sequenz- und das Einstellungsprotokoll; Szenenprotokolle spielen eine untergeordnete Rolle. Grundsätzlich wird versucht, jede auditive und visuelle Information schrift‐ lich festzuhalten. Beim Einstellungsprotokoll ist die Grundeinheit der Seg‐ mentierung die einzelne Einstellung. Die kürzeste Einstellung ist das Ein‐ zelbild. Prinzipiell kann ein Film aus nur einer Einstellung bestehen - wie das Beispiel des deutschen Films »Victoria« zeigt -, dann zeigt er das Geschehen aus einer einzigen Kameraperspektive und ohne Schnitt. Das ist in der Regel jedoch nicht der Fall. Die Zahl der Einstellungen schwankt, abhängig von der Länge des Films und der formalen Dynamik, die durch häufige Schnitte hergestellt wird. Ein mit 153 Minuten langer Film wie »Apocalypse Now« kommt z. B. auf 1180 Einstellungen. Ein mittellanger Film, der in ruhigen Bildern erzählt, wie »Die verlorene Ehre der Katharina Blum« kommt dagegen nur auf 368 Einstellungen (vgl. Faulstich 2013, S. 72). Ein kurzer dynamischer Film wie »Toy Story« mit einer Länge von 81 Minuten besteht aus 1623 Einstellungen (vgl. Phillips 2009, S. 128), ein Roadmovie wie »Wild at Heart - Die Geschichte von Sailor und Lula« enthält bei einer Länge von 119 Minuten 896 Einstellungen (vgl. Rodenberg 1995, S. 265 ff.). Allein die Anzahl der Einstellungen in den genannten Filmen deutet darauf hin, wie mühsam die Anfertigung eines Einstellungsprotokolls ist. Werner Faulstich (2013, S. 74 ff.) schlägt ein tabellarisches Protokoll mit sechs Spalten vor. Die erste Spalte enthält die Nummer der Einstellung, die zweite die Handlung, 108 3 Systematik der Analyse <?page no="109"?> die dritte den Dialog, die vierte die Geräusche, die fünfte die sogenannten Kamerahandlungen (Einstellungsgröße, Perspektive, Bewegung) sowie die Arten der Einstellungswechsel (z. B. harter Schnitt, Überblendung usw.) und die sechste Spalte schließlich enthält die Zeitangaben in Sekunden zur Dauer der jeweiligen Einstellung. Helmut Korte (2010, S. 52 f.) empfiehlt lediglich fünf Spalten: die Nummerierung der Einstellungen, ihre Länge in Sekunden, die Kameraaktivitäten, die Beschreibung des Bildinhalts und des Handlungsablaufs sowie den »Tontrakt« (Dialoge, Kommentare, Geräusche und Musik). Ebenfalls fünf Spalten empfiehlt Thomas Kuchenbuch (2005, S. 40): eine Spalte mit der Nummerierung und Dauer der Einstellung, eine mit den Kameraoperationen (Einstellungsgröße und Kamerabewegung), eine mit einer Inhaltsbeschreibung, eine mit einem Screenshot und eine mit den Angaben zu Ton und Sprache. Angela Keppler (2006, S. 109) schlägt ein dreispaltiges Filmprotokoll vor: eine Spalte mit Nummer und Dauer der Einstellung, eine mit der Beschreibung des Bildes und eine mit der Beschreibung der Tonebene. Allein aus forschungsökonomischen Gründen lässt sich ein Einstellungs‐ protokoll von dem ganzen Film oder allen zu untersuchenden Filmen oft nicht anfertigen, auch wenn Kuchenbuch (2005, S. 37) und Keppler (2006, S. 105) davon ausgehen, dass es eine wichtige Basis für die Analyse ist. Faul‐ stich (2013, S. 73 ff.) hat errechnet, dass es etwa vier Wochen mit jeweils acht Arbeitsstunden an fünf Tagen dauert, um ein Einstellungsprotokoll eines durchschnittlichen, 90-minütigen Films anzufertigen. Das sprengt häufig nicht nur den zeitlichen Rahmen der Analyse, sondern ist oft auch ihrem Zweck nicht angemessen. Eine Studentin, die für ein Seminarreferat ein Einstellungsprotokoll von einem Actionfilm mit großer formaler Dynamik anfertigen soll (eine fünfminütige Verfolgungsszene in »The Rock - Fels der Entscheidung« besteht beispielsweise aus etwa 250 Einstellungen), wäre mit dieser Aufgabe eindeutig überfordert, es sei denn, sie ließe alle anderen Lehrveranstaltungen in dem Semester ausfallen und konzentrierte sich auf die Protokollierung von Einstellungen eines einzigen Films. Andererseits schult die genaue, detailreiche Arbeit am Einstellungsprotokoll das Sehen. Dabei können ästhetische Details ans Licht kommen, die selbst bei mehr‐ maliger Betrachtung eines Films leicht übersehen werden. Daher empfiehlt es sich, lediglich einzelne Szenen oder Sequenzen, die für die Ziele der Analyse im Rahmen des Erkenntnisinteresses wichtig sind, genauer in einem Einstellungsprotokoll festzuhalten: 3.2 Arbeitsschritte 109 <?page no="110"?> »Einstellungsprotokolle sollten deshalb dort angefertigt werden, wo Irritationen über das filmische Erzählen entstanden sind, wo bereits eine präzise Frage formuliert ist und Strukturmomente des Films im Detail genauer untersucht und erörtert werden sollen« (Hickethier 2010, S. 38). Grundsätzlich muss überlegt werden, wann und für welchen Zweck der Analyse ein Einstellungsprotokoll für welche Sequenzen oder Szenen eines Films oder mehrerer Filme sinnvoll ist, weil es entscheidend zur Beant‐ wortung der Forschungsfrage beiträgt. Denn Protokolle sind lediglich ein Hilfsmittel bei der Analyse, nicht aber deren eigentlicher Zweck. Das gilt auch für Sequenzprotokolle, die Korte (2010, S. 58) »als Minimal‐ voraussetzung für die Analyse« für unverzichtbar hält. In ihnen werden Handlungseinheiten eines Films aufgelistet. Eine Sequenz beginnt bzw. endet in der Regel mit einem Ortswechsel, einer veränderten Figurenkons‐ tellation oder einer Veränderung in der Zeitstruktur der Erzählung. Die einfache Variante des Sequenzprotokolls enthält eine Spalte mit der Nummer der Sequenz, eine Spalte mit den Angaben zur Handlung sowie eine Spalte mit der Dauer der Sequenz bzw. mit der Laufzeit des Films, die sich am Echt‐ zeit-Zählwerk des Festplattenrekorders oder des Blu-Ray-Players ablesen lässt. Daneben können je nach Erkenntnisinteresse weitere Spalten aufge‐ nommen werden. So kann z. B. in einer Spalte die Anzahl der Einstellungen eingetragen werden, wenn die Dynamik des Films per Schnitt bestimmt werden soll. Eine andere Spalte kann die Art der Musik enthalten, falls ihre Bedeutung für die Dramaturgie und Narration analysiert werden soll. Oder es werden die auftretenden Personen notiert, die für eine Analyse der Identifikationsangebote wichtig sind. Entsprechend dem Sequenzprotokoll bei Filmen kann bei Fernsehshows ein Ablaufprotokoll erstellt werden, in dem eine Spalte die Nummer der Episode enthält, die zweite die Handlung bzw. das Spiel und die dritte Spalte die Länge der Episode festhält. Je nach Er‐ kenntnisinteresse können weitere Spalten hinzugefügt werden, z. B. für die Zuschauerbeteiligung, wenn es um die Analyse von Partizipationsformen in Spielshows geht. Oder es werden die Einblendungen von Zuschauer: innen und deren mimische oder gestische Reaktion in einer Spalte festgehalten, um in der Analyse die Kommentierung der Äußerungen von Talkshowgästen durch die Kamera zu untersuchen. Film- und Fernsehprotokolle zergliedern das audiovisuelle Material der Film- und Fernsehtexte in einzelne Segmente: Einstellungen, Szenen, Se‐ quenzen, Episoden. Die Komponenten eines Films oder einer Fernsehsen‐ 110 3 Systematik der Analyse <?page no="111"?> dung können so genau herausgearbeitet werden. Allerdings muss jedes Protokoll den individuellen Erkenntniszielen und Zwecken einer Analyse angepasst werden. Es kann den analytischen Blick für die einzelnen Kompo‐ nenten eines Films schärfen, die für das Erkenntnisinteresse von besonderer Bedeutung sind. Denn allein durch die tabellarische Form legt es Strukturen der Film- und Fernsehtexte offen, die weder bei einer »normalen« noch bei einer theoriegeleiteten einmaligen Rezeption auffallen. Zugleich zwingt die Anfertigung eines Protokolls zum mehrmaligen Anschauen des audio‐ visuellen Materials aus der Stichprobe. Film- und Fernsehprotokolle stellen jedoch lediglich eine Notationsform dar, mit der Film- und Fernsehtexte in Sprache und grafische Darstellung übersetzt werden. Sie dürfen nicht mit den Filmen, Fernsehsendungen und Videos selbst verwechselt werden, die ja das eigentliche Objekt der Analyse sind. Es geht in der Analyse schließlich darum, das Zusammenwirken der audiovisuellen Darstellungsmittel in ihrer Funktion für die Zuschauer: innenaktivitäten herauszuarbeiten, und nicht darum, ein Filmprotokoll, sei es ein Einstellungs- oder Sequenzprotokoll, zu analysieren. Daher muss bei jeder Analyse abgewogen werden, ob die Erstellung eines Einstellungs-, Sequenz- oder Ablaufprotokolls sinnvoll und wirklich notwendig ist. Das gilt auch für die computergestützten Verfahren der Film- und Fernseh‐ analyse. Sie sind lediglich Hilfsmittel bei der Analyse und können in erster Linie die grafische Aufbereitung von Strukturen der Film- und Fernsehtexte erleichtern. Softwarelösungen erleichtern das Erstellen von Einstellungs- und Sequenzprotokollen (vgl. Hickethier 2010, S. 38). Allerdings setzen sie eine Digitalisierung des audiovisuellen Ausgangsmaterials voraus. Die Vorteile solcher Verfahren liegen einerseits in der Quantität, andererseits in der Visualisierung der Daten, die auch mit einer Netzwerkanalyse kombiniert werden können. Daher eignen sich computergestützte Verfahren zur Film- und Fernsehanalyse insbesondere zur grafischen Veranschaulichung von filmischen Strukturen, wie das Barbara Flückiger (2020, S.-160ff.) am Beispiel der interaktiven Plattform VIAN und der damit verbundenen WebApp gezeigt hat. Das Tool wurde zur Analyse von Farbe entwickelt: »Damit lassen sich nicht nur die Gestaltungselemente eines Films darstellen, sondern auch unmittelbare Schlüsse auf die Verteilung in einem Farbsystem ziehen« (ebd., S. 164). Im Rahmen der Kolleg-Forschungsgruppe »Cinepoetics« an der Freien Universität Berlin wurde zur Visualisierung der analytischen Datensätze auf die frei verfügbare Open-Source-Video-Annotationssoftware ADVENE (https: / / www.advene.org) zurückgegriffen in Kombination mit dem Seman‐ 3.2 Arbeitsschritte 111 <?page no="112"?> tic-Web-Datenstandard RDF (vgl. Bakels u.-a. 2020, S.-110ff.). Auf diese Weise lassen sich z. B. die Verläufe des Einsatzes von Filmmusik verdeutlichen und so »audiovisuelle Rhythmen« nachzeichnen (vgl. Bakels 2017). Damit wird deutlich, dass die Softwarelösungen zur Annotation und Visualisierung von Strukturen des audiovisuellen Ausgangsmaterials einzelne Strukturen im Verhältnis zur Gesamtheit des Films, der Fernsehsendung oder des Videos deutlich machen. Mit anderen Worten: Es sind immer das Ganze und seine Einzelteile im Blick. »Denn was an Filmen so schwer zu erklären ist, ist dass sie sich nie auf einzelne formalästhetische Eigenschaften reduzieren lassen, sondern immer nur mit Blick auf die zeitliche Entfaltung eines Ganzen Sinn ergeben« (Bakels u. a. 2020, S. 116). In diesem Sinn können die Verfahren auch das professionelle Sehen der analysierenden Wissenschaftler: innen schulen. Es muss nur immer klar sein, dass die computergestützten digitalen Verfahren lediglich die theorie- und fragengeleitete Analyse unterstützen, nicht aber mit der Analyse selbst gleichzusetzen sind. 3.2.2 Auswertung Nachdem in der Analyse die Film- und Fernsehtexte in ihre Komponenten zerlegt worden sind, werden die Teile in der Auswertung wieder zusammen‐ gesetzt. Im Zentrum der Arbeit steht hier die Interpretation der Analyse‐ daten in ihrer Funktion für die Bedeutungsbildung. Die Strukturelemente müssen in ihren Beziehungen und unter Berücksichtigung ihrer gegenseitigen Abhängigkeit wieder zu einem systematischen Ganzen gefügt und in die Kontexte eingeordnet werden. Die Auswertung erfolgt theoriegeleitet und am Erkenntnisinteresse orientiert. Dadurch wird auch ein Kontext der Aus‐ wertung generiert. Erst auf dieser Basis lässt sich die besondere Bedeutung einzelner struktureller Komponenten der Filme, Fernsehsendungen und Videos bestimmen. Denn gewisse Beobachtungen sind nur dann möglich, »wenn ein Kontext gegeben ist, in dem sie sinnvoll sein können« (Wulff 1998, S. 30). Die Bedeutung der Strukturelemente der Film- und Fernsehtexte wird nur für die Wissenschaftler: innen sichtbar, für die sie auch mit Bedeutungen besetzt sind. Die Besonderheit eines kommentierenden Zwischenschnitts ist nur für diejenigen sichtbar, die wissen, dass manche Zwischenschnitte eine kommentierende Funktion haben. In diesem Sinn verbindet sich das film- und fernsehtheoretische Verständ‐ nis mit der Anschauung und der Analyse. Nur so lassen sich Interpretationen vermeiden, die lediglich die subjektiven Fähigkeiten der Wissenschaftler: in‐ 112 3 Systematik der Analyse <?page no="113"?> nen verdeutlichen, aber den Bezug zu den strukturellen Komponenten der Filme verloren haben. Es geht in der Auswertung um eine Balance zwischen Theorie und Interpretation: »Die besten Beispiele der Textanalyse sind […] oft auch Gratwanderungen, die jedoch durch die Kraft ihrer theoretischen Reflexion abgesichert und vor dem Absturz in die Willkür der Interpretation bewahrt werden« (Blüher u.-a. 1999, S. 6). Dadurch kann die Gefahr der Überinterpretation gebannt werden. Entschei‐ dend ist, dass die Interpretation der Strukturelemente im Hinblick auf die Bedeutungsbildung und das kommunikative Verhältnis mit den Zuschauern plausibel bleibt, d. h., sie muss für die Zuhörer: innen, Leser: innen oder Zuschauer: innen der präsentierten Analyseergebnisse nachvollziehbar sein. Dabei geht es jedoch nicht darum, die Bedeutungsbildung und das kom‐ munikative Verhältnis herauszuarbeiten. Wenn Film- und Fernsehtexte - wie in Kapitel I.1 beschrieben - zum Wissen, zu den Emotionen, zu den Aneignungen und zum praktischen Sinn der Zuschauer: innen hin geöff‐ net sind, können lediglich mögliche Bedeutungsbildungen und mögliche kommunikative Verhältnisse herausgearbeitet werden. Schließlich - und da zeigen sich die Kontexte, in die Filme, Fernsehsendungen und Videos als Kommunikationsmedien eingebunden sind - sind Wissen, Emotionen, Formen der kommunikativen Aneignung und praktischer Sinn in der Gesell‐ schaft ungleich verteilt. Wer z. B. allein lebt, hat nur wenige Möglichkeiten, sich seine Film- und Fernseherlebnisse in einer Gruppe von Gleichgesinnten kommunikativ anzueignen und dabei Bedeutungen auszuhandeln. Wer nichts über die Bedeutung von Geschäftsessen in Restaurants weiß, wird eine entsprechende Szene in einer Filmerzählung anders verstehen als jemand, der um diese Bedeutung weiß. Wer noch nie beim Tod eines Tieres Trauer empfunden hat, wird dies auch nicht beim Tod eines beliebten Hundes in einer Fernsehserie tun. Wer nicht gerade Beziehungsgespräche in Phasen der Ehescheidung als handlungsleitendes Thema erlebt, der wird solche Gespräche in TV-Movies und Filmmelodramen nicht mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgen. In diesem Sinn sind die Kontexte bei der Inter‐ pretation der Analysedaten immer mit zu berücksichtigen. Der Willkür der Interpretation in der Auswertung wird aber auch durch den Rahmen entgegengewirkt, der durch das Erkenntnisinteresse und die Fragestellungen gesetzt ist. Zwar sind Ästhetik und Gestaltung der Filme und Fernsehsendungen funktional für andere Ebenen des Erkenntnisinteres‐ ses bedeutsam, doch lassen sie sich teilweise auch eigenständig analysieren 3.2 Arbeitsschritte 113 <?page no="114"?> und interpretieren. Bilden Inhalt und Repräsentation den Schwerpunkt der Analyse, dann sind die strukturellen Komponenten des zu analysierenden Films lediglich daraufhin zu interpretieren. Wenn die Rolle des Moderators in der Quizshow »Wer wird Millionär? « genauer untersucht werden soll, um anhand dieses Beispiels die Erkenntnisse zu Rolle und Funktion von Mode‐ rator: innen in Quizshows zu erweitern, dann steht der Moderator dieser Show im Mittelpunkt der Analyse und der Auswertung. Andere Aspekte der Show, wie das Saalpublikum, die auftretenden Quizkandidat: innen, müssen als Akteur: innen nur hinsichtlich ihrer Interaktionsverhältnisse zum Mode‐ rator Günther Jauch berücksichtigt werden. Das Erkenntnisinteresse, das die jeweilige Analyse leitet, muss bei der Interpretation der filmischen und fernsehspezifischen Strukturelemente immer im Blick bleiben, will sich die analysierende Wissenschaftlerin nicht in philosophischen Reflexionen über den Film im Speziellen und das Medium Film im Allgemeinen verlieren. Alle Erkenntnisse, die in der Auswertung gewonnen werden, müssen einen Bezug zum Analysekorpus haben; sie müssen am Material überprüfbar sein. Zwar können sie Verallgemeinerungen darstellen, doch machen sie damit nur deutlich, dass es weiterer Kontexte bedarf, um sowohl die Strukturelemente als auch den gesamten Film oder die Fernsehsendung sinnvoll verstehen zu können. 3.2.3 Präsentation Eine Film- und Fernsehanalyse findet erst in der Präsentation der Ergebnisse ihre Vollendung. Eine Analyse erfüllt ihren Zweck, wenn sie von einer Gruppe von Zuschauer: innen, Zuhörer: innen oder Leser: innen rezipiert wird und damit ihren Weg in den film- und fernsehwissenschaftlichen Diskurs antritt. Die Art der Präsentation hängt davon ab, zu welchem Zweck und in welchem Medium die Ergebnisse präsentiert werden sollen. Ein mündlicher Vortrag auf einer Tagung oder in einem Seminar kann sich an einer schriftlichen Fassung orientieren. Außerdem besteht in der Regel die Möglichkeit, Ausschnitte aus dem analysierten Material zu zeigen. Es sollte jedoch darauf geachtet werden, dass dabei nicht der Zeitrahmen gesprengt wird. Einen kompletten Film zu zeigen, wird sich als nicht praktizierbar erweisen. Für ein Referat steht maximal eine Unterrichtsstunde von 45 Minuten zur Verfügung, für einen Vortrag als Hauptredner auf einer Veran‐ staltung kann es schon mal eine Stunde sein, für einen Vortrag auf einer Tagung sind es in der Regel zwischen 15 und 30 Minuten. Maximal ein 114 3 Systematik der Analyse <?page no="115"?> Drittel der vorhandenen Zeit sollte mit Filmausschnitten bestritten werden. Die übrige Zeit sollte in einer Darstellung der analysierten Daten, ihrer In‐ terpretation und ihrer Bewertung in Bezug auf den aktuellen Stand der film- und fernsehwissenschaftlichen Forschung bestehen. Die Filmausschnitte dienen nur zur Illustration der Thesen und Befunde. Für die Präsentation in Seminaren und auf Tagungen bieten sich auch visuelle Hilfsmittel wie Präsentationssoftware an. So können die Zuhörer: innen den wesentlichen Ergebnissen besser folgen. Allerdings ersetzen derartige Präsentationen nicht das gesprochene Wort, sie unterstützen es nur. Die schriftliche Präsentation hat gegenüber der mündlichen den prin‐ zipiellen Nachteil, dass Filmausschnitte nicht als bewegte Bilder gezeigt werden können. Lediglich der Abdruck von Einzelbildern ist möglich. Zu diesem Zweck angefertigte Screenshots sollten möglichst aus qualitativ gutem Ausgangsmaterial gewonnen werden und eine Bildauflösung von mindestens 300 dpi haben, da sonst die Druckqualität zu wünschen übrig lässt. Unter Gesichtspunkte des Urheberrechts muss dann im Text auf die Screenshots eingegangen werden. Sie dürfen nicht als reine Illustration verwendet werden, sondern müssen im Kotext der Analyse als audiovisu‐ elle Zitate benutzt werden. Damit ist aber kein visueller Eindruck des analysierten Films oder der analysierten Fernsehsendung herstellbar. Daher bedarf es bei der schriftlichen Ergebnispräsentation einer angemessenen Beschreibung des Untersuchungsgegenstandes. Die Beschreibung stellt, wie oben erwähnt, die Übersetzung des Film- und Fernsehtextes in Sprache dar. Sie muss so gewählt sein, dass sie - frei von Interpretationen - eine Bestandsaufnahme des analysierten Materials bietet, die Leser: innen auch nachvollziehen können, wenn sie den betreffenden Film oder die betreffende Fernsehsendung nicht gesehen haben. Das in der Sprache nicht zitierbare bewegte Bild muss mit Mitteln der Sprache erfahrbar gemacht werden. Generell enthält eine mündliche wie schriftliche Präsentation der Ergeb‐ nisse das Erkenntnisinteresse und die Fragestellung(en), Angaben über die Auswahl der Stichprobe, eine kurze Beschreibung der Datenbasis sowie die Auswertungsergebnisse der Analyse und ihre Bewertung im Rahmen des aktuellen Stands der film- und fernsehwissenschaftlichen Forschung. In einem Forschungsbericht sollte auch die Evaluation der eigenen Arbeit dargestellt werden. Dies sollte bei einer mündlichen Präsentation einer studentischen Analyse in einem Seminar aus didaktischen Gründen am Ende stehen. Es hängt von der zur Verfügung stehenden Zeit bzw. dem zur Verfügung stehenden Platz ab, ob das Zeigen von Filmausschnitten oder 3.2 Arbeitsschritte 115 <?page no="116"?> der Abdruck von grafischen Darstellungen, Fotos und Ausschnitten aus Einstellungs- oder Sequenzprotokollen möglich ist. Grundsätzlich gilt, dass die Präsentation für die Zuschauer: innen, Zuhörer: innen oder Leser: innen die wesentlichen Ergebnisse der Analyse plausibel argumentierend darlegt und nachvollziehbar macht. Denn auch für die Film- und Fernsehanalyse gelten Kriterien der empirischen Sozialforschung (vgl. Flick 2017; Klammer 2005, S. 61 ff.; Reichertz 2017; Steinke 1999, S. 131 ff.): Reliabilität, Validität, intersubjektive Nachvollziehbarkeit, Reflexion der Verallgemeinerbarkeit und der Subjektivität, Kohärenz und Relevanz. Fragen zum Verständnis • Was wird unter der Autorität des Analysierenden gegenüber dem Film- oder Fernsehtext verstanden? • Welches Ziel verfolgt eine methodisch kontrollierte und reflektierte Analyse? • Was macht den Unterschied zwischen Beschreibung und Interpre‐ tation aus? • Was unterscheidet Analyse von Beschreibung und Interpretation? • Welchen drei grundsätzlichen Problemen sieht sich die Film- und Fernsehanalyse ausgesetzt? • Welches Ziel verfolgt die Operationalisierung? • Welche vier Tätigkeiten sind grundlegend für die Film- und Fern‐ sehanalyse? • Welche Arbeitsschritte lassen sich bei der Durchführung einer Analyse unterscheiden? • Wie kann das Material eingegrenzt und eine Stichprobe bestimmt werden? • Welche Komponenten eines Films oder einer Fernsehsendung wer‐ den im Arbeitsschritt »Analyse der Daten« untersucht? • Welche Angaben enthält ein Einstellungsprotokoll? • Was leisten computergestützte Analyseverfahren? • Welche Angaben sollte eine mündliche oder schriftliche Präsenta‐ tion der Ergebnisse auf alle Fälle enthalten? 116 3 Systematik der Analyse <?page no="117"?> 3.3 Zitierte Literatur Arijon, Daniel (2000): Grammatik der Filmsprache. 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Theorie und Praxis der »analyse textuelle«. In: Montage/ AV, 8, 1, S. 3-7 Bordwell, David (1989): Making Meaning. Inference and Rhetoric in the Interpreta‐ tion of Cinema. Cambridge, MA/ London Bordwell, David/ Thompson, Kristin (2020): Film Art. An Introduction. New York u.-a. (12. Auflage; Erstausgabe 1979) Branigan, Edward (1993): On the Analysis of Interpretative Language. In: Film Criticism, 17, 2-3, S. 4-21 Casetti, Francesco/ di Chio, Federico (1994): Analisi del film. Milano (6.-Auflage, Erstausgabe 1990) Diekmann, Andreas (2020): Empirische Sozialforschung. Grundlagen, Methoden, Anwendungen. Reinbek (13. Auflage; Erstausgabe 1995) Doane, Mary Ann (1991): Femmes Fatales. Feminism, Film Theory, Psychoanalysis. New York/ London Elsaesser, Thomas/ Buckland, Warren (2002): Studying Contemporary American Film. London u.a. Faulstich, Werner (1988): Die Filminterpretation. Göttingen Faulstich, Werner (2013): Grundkurs Filmanalyse. 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Film- und Mediengeschichte im Zeitalter der digitalen Reproduzierbarkeit. Paderborn Hickethier, Knut (2012): Film- und Fernsehanalyse. Stuttgart/ Weimar (5., aktuali‐ sierte und erweiterte Auflage; Erstausgabe 1993) Indick, William (2004): Movies and the Mind. Theories of the Great Psychoanalysts Applied to Film. Jefferson, NC/ London Jehle, Martin (2021): Ungeschnitten. Zur Geschichte, Ästhetik und Theorie der Sequenzeinstellung im narrativen Kino. Marburg Kelle, Udo (2008): Die Integration qualitativer und quantitativer Methoden in der empirischen Sozialforschung. Theoretische Grundlagen und methodologische Konzepte. Wiesbaden (2. Auflage; Erstausgabe 2007) Keppler, Angela (2006): Mediale Gegenwart. Eine Theorie des Fernsehens am Beispiel der Darstellung von Gewalt. Frankfurt a.M. Keppler, Angela (2021): Filmsoziologie als Teil einer Kultursoziologie. In: Geimer, Alexander/ Heinze, Carsten/ Winter, Rainer (Hrsg.): Handbuch Filmsoziologie. Band-1. Wiesbaden, S.-237-253 Klammer, Bernd (2005): Empirische Sozialforschung. Eine Einführung für Kommu‐ nikationswissenschaftler und Journalisten. Konstanz Korte, Helmut (2010): Einführung in die Systematische Filmanalyse. Ein Arbeits‐ buch. Berlin (4., neu bearbeitete und erweiterte Auflage; Erstausgabe 1999) Kuchenbuch, Thomas (2005): Filmanalyse. Theorien - Methoden - Kritik. Wien u. a. (2.-Auflage) Lippert, Renate (2002): Vom Winde verweht. Film und Psychoanalyse. Frank‐ furt-a.M./ Basel 118 3 Systematik der Analyse <?page no="119"?> Mikos, Lothar (1998): Filmverstehen. Annäherung an ein Problem der Medienfor‐ schung. In: Medien Praktisch, Sonderheft Texte 1, S. 3-8 Mikos, Lothar (2018): Collecting Media Data: TV and Film Studies. In: Flick, Uwe (Hrsg.): The SAGE Handbook of Qualitative Data Collection. Los Angeles u.-a., S.-412-425 Mikos, Lothar (2021): Film und die Repräsentation von Gesellschaft. In: Geimer, Alexander/ Heinze, Carsten/ Winter, Rainer (Hrsg.): Handbuch Filmsoziologie. Band-1. Wiesbaden, S.-205-220 Phillips, William H. (2009): Film. An Introduction. Boston/ New York (4. Auflage; Erstausgabe 1999) Piegler, Theo (2010): »Ich sehe was, was du nicht siehst«. Psychoanalytische Filminterpretationen. Gießen Prelinger, Rick (2009): The Appearance of Archives. In: Snickars, Pelle/ Vonderau Patrick (Hrsg.): The YouTube Reader. Stockholm, S.-268-274 Rall, Veronika (2011): Kinoanalyse. Plädoyer für eine Re-Vision von Kino und Psychoanalyse. Marburg Reichertz, Jo (2017): Gütekriterien qualitativer Sozialforschung. In: Mikos, Lo‐ thar/ Wegener, Claudia (Hrsg.): Qualitative Medienforschung. Ein Handbuch. Konstanz. (2. Auflage; Erstausgabe 2005), S.-27-35 Rodenberg, Hans-Peter (1995): Alte und neue Bauformen des Erzählens. »Wild at Heart-- Die Geschichte von Sailor & Lula« (1990). In: Faulstich, Werner/ Korte, Helmut (Hrsg.): Fischer Filmgeschichte. Band-5: Massenware und Kunst 1977- 1995. Frankfurt a.-M., S. 247-269 Schaaf, Michael (1980): Theorie und Praxis der Filmanalyse. In: Silbermann, Al‐ phons/ Schaaf, Michael/ Adam, Gerhard: Filmanalyse. Grundlagen-- Methoden-- Didaktik. München, S. 33-140 Steinke, Ines (1999): Kriterien qualitativer Forschung. Ansätze zur Bewertung qualitativempirischer Sozialforschung. Weinheim/ München Wohlrab, Lutz (Hrsg.) (2006): Filme auf der Couch. Psychoanalytische Filminterpre‐ tationen. Gießen Wollnik, Sabine (2008): Zwischenwelten. Psychoanalytische Filminterpretationen. Gießen Wulff, Hans J. (1998): Semiotik der Filmanalyse. Ein Beitrag zur Methodologie und Kritik filmischer Werkanalyse. In: Kodikas/ Code, 21, 1-2, S. 19-36 Wuss, Peter (1999): Filmanalyse und Psychologie. Strukturen des Films im Wahrneh‐ mungsprozeß. Berlin (2., durchgesehene und erweiterte Auflage; Erstausgabe 1993) Wuss, Peter (2020): Künstlerische Verfahren des Films aus psychologischer Sicht. Zum Wirkungspotenzial des Spielfilms. Wiesbaden 3.3 Zitierte Literatur 119 <?page no="121"?> Teil II: Film- und Fernsehanalyse <?page no="122"?> Abb. 1: »Borgia« 1 Inhalt und Repräsentation Film- und Fernsehtexte sind über den Inhalt und die Repräsentation mit gesellschaftlichen Diskursen verbunden. In der Analyse die‐ ser Aspekte kann herausgearbeitet werden, wie sich Filme, Fernseh‐ sendungen und Videos im sozialen und diskursiven Feld einer Gesell‐ schaft verorten. Das trifft sowohl auf fiktionale Texte zu, die eine mögliche Welt entwerfen, als auch auf nonfiktionale Texte, die Ereig‐ nisse der sozialen Realität in medial bearbeiteter Form darstellen. Generell können Film- und Fernsehtexte als Teil der gesellschaftlichen Repräsentati‐ onsordnung gesehen werden. Sie sind kulturelle und soziale Dokumente, die »gesellschaftliche Wirklichkeiten« repräsentieren (Winter 2012, S. 43; vgl. auch Felsmann 2020; Keppler 2021; Mai 2006; Mai/ Winter 2006; Mikos 2021a; Peltzer/ Keppler 2015; Schroer 2012; Schroer 2021). Sie korrespondie‐ ren mit gesellschaftlichen Strukturen, darin liegt ihre ideologische Kompo‐ nente (vgl. Kapitel I.2.1). Denn alle Repräsentationen sind »untrennbar in Machtbeziehungen eingeschrieben« (Orgad 2012, S. 25). Dadurch werden die Texte selbst zu einem Feld der sozialen Auseinandersetzung. So wird in der Fernsehserie »Borgia« gezeigt, wie die Kardinäle des Vatikans im Konsistorium vor dem Papst diskutieren (vgl. Abb. 1). Damit wird ein Stück gesellschaftliche Wirklichkeit fiktional bearbeitet dargestellt. Sie folgen keiner einheitlichen ideologischen Linie, denn sie sind polysem organisiert, d. h., sie enthalten »mehrere, strukturell-systematisch verschiedene Bedeu‐ tungen« (vgl. Wulff 1992, S. 101). Im Zusammenhang mit Fernsehtexten spricht Fiske (2011, S. 90 ff.) sogar von einem semiotischen Exzess bzw. Überschuss. Film- und Fernsehtexte können nicht von einer dominanten Ideologie kontrolliert werden (vgl. Jurga 1999, S. 133 ff.), weil sie vielstimmig sind und auch widersprüchlich sein können (vgl. Mikos 2001b, S. 363). Sie sind Teil eines aktiven Prozesses der Produktion von Bedeutung (vgl. Fiske 2011, S.-62ff.; Orgad 2012, S. 17). <?page no="123"?> Der Grund dafür liegt sowohl in der textuellen Struktur der Filme, Fernsehsendungen und Videos selbst als auch in ihrer kommunikativen Funktion. Auf der strukturellen Ebene unterscheiden Francesco Casetti und Federico di Chio drei Ebenen der Repräsentation: Auf der ersten Ebene geht es um den Inhalt, der in den Bildern dargestellt wird und sich in der Szenerie zeigt; auf der zweiten Ebene geht es um die Modalitäten der Repräsentation, also darum, wie etwas in den Bildern dargestellt wird; auf der dritten Ebene geht es um die Verkettung der Bilder mithilfe der Montage, durch die Bedeutungen entstehen, die in den Bildern selbst nicht enthalten sind (vgl. Casetti/ di Chio 1994, S. 115 ff.). Durch die Montage können manche Bedeutungen favorisiert werden und andere nicht. Wenn z. B. in einer Talkshow während der Argumentation eines Gastes Zuschauer: innen als Zwischenschnitte eingeblendet werden, die gelangweilt aussehen oder den Kopf schütteln, entsteht allein durch die Montage bzw. in diesem Fall die Bildregie eine Kommentierung des Gezeigten. Auf diese Weise kann auch eine »moralische Modalisierung der Kommunikation« stattfinden (vgl. Keppler 2001, S. 865). In Filmen hängt dies auch von dem aufgebauten Wissen um Personen und Situationen ab. Als in »Pretty Woman« die Prostituierte Vivian mit dem Broker Edward ein Polospiel besucht, das von seiner Firma gesponsert wird, zeigen uns die Einstellungen und Szenen eine Welt der sogenannten High Society mit Ehrenmännern und Charity-Ladys, die sich um Edward scharen. Zugleich erzählen uns Kamera und Montage die Sequenz aus der Sicht von Vivian. Sie erscheint als Fremdkörper in dieser Scheinwelt. Kamera und Montage nehmen eine klare Wertung vor, die sich an der weiblichen Hauptfigur des Films orientiert. Auf der reinen Inhaltsebene sind in der Sequenz sowohl die wohlwollende als auch die kritische Haltung gegenüber der High Society vorhanden, erst durch die Kamera und die Montage wird jedoch eine bestimmte Bedeutung favorisiert. Hier zeigt sich, wie die drei Ebenen der Repräsentation von Casetti und di Chio in einem konkreten Filmtext zusammenspielen und dadurch in der textuellen Struktur eine Mehrdeutigkeit angelegt ist. Auf der Ebene der kommunikativen Funktion von Film- und Fernsehtex‐ ten entsteht die Mehrdeutigkeit dadurch, dass die Filme, Fernsehsendungen und Videos grundsätzlich zu dem Wissen, den Emotionen, der sozialen Kom‐ munikation und dem praktischen Sinn von Zuschauer: innen hin geöffnet sind. Da die Zuschauer: innen in lebensweltliche Kontexte und gesellschaft‐ liche Diskurse eingebunden sind, konstruieren sie anhand des symbolischen Materials der Film- und Fernsehtexte unterschiedliche Bedeutungen. Auf der 1 Inhalt und Repräsentation 123 <?page no="124"?> Inhalts- und Repräsentationsebene werden Filme, Fernsehsendungen und Videos »zum Anlass für die Manifestation lebensweltlichen Wissens« (vgl. Mikos 2001a, S. 246). Als audiovisuelle Zeichensysteme korrespondieren sie mit dem Repräsentationssystem der mentalen Konzepte der Zuschauer (vgl. Hall 2013, S. 14 sowie Kapitel I.2.1). In diesen mentalen Konzepten sind Ko‐ gnitionen, Emotionen, sozial-kommunikative Situationen und praktischer Sinn repräsentiert. Sie beruhen auf den Lebenserfahrungen der Subjekte, die vor einem Film oder einer Fernsehsendung zu Zuschauer: innen werden. Daher ist in den mentalen Konzepten auch die spezifische Perspektivität sozialer Ungleichheit aus der subjektiven Sicht der persönlichen Erfahrung enthalten. Während es auf der Inhaltsebene in einer Show wie »Traum‐ hochzeit« um ein Spiel geht, an dessen Ende das Gewinnerpaar heiraten kann, sind auf der Ebene der Repräsentation die Bedeutungen, die mit dem sozialen Akt »Hochzeit« verbunden sind, relevant. Schließlich zeichnet die Sendung ein bestimmtes Bild vom Heiraten, sodass aus soziologischer Sicht in der Sendung eine »mediale Erneuerung eines Hochzeitsrituals« stattfindet (vgl. Reichertz 2000, S. 131) und dem Fernsehen damit die Rolle einer Diesseitsreligion zukommt. In der Quizshow »Wer wird Millionär? « geht es auf der inhaltlichen Ebene um ein Quiz, bei dem Kandidat: innen Fragen in einem Multiple-Choice-Verfahren beantworten müssen. Auf der Repräsentationsebene geht es um die Legitimität und Bedeutsamkeit von Wissensformen sowie um Bildungszuschreibungen für Kandidat: innen, Publikums- und Telefonjoker. Für die Analyse der Mehrdeutigkeit von Inhalt und Repräsentation sind auf der Ebene der textuellen Struktur Elemente der Semiotik bedeutsam und auf der Ebene der kommunikativen Funktion Aspekte der kognitiven Filmtheorie sowie der pragmatischen Film- und Fernsehtheorie. Dazu ist es notwendig, sich noch einmal zu vergegenwärtigen, dass Filme, Fernsehsen‐ dungen und Videos sich einer Vielfalt von Zeichen bedienen: sprachlichen, schriftlichen, bildlichen, lautlichen und musikalischen. Sie können als Zei‐ chensysteme gesehen werden. Auch wenn man nicht von einer »Sprache des Films« sprechen kann, die einer bestimmten Grammatik folgt, haben sich in Film und Fernsehen doch Konventionen der Darstellung herausgebildet (vgl. Kapitel II.4). Die Möglichkeiten der Abbildung eines Geschehens vor der Kamera - sei es eine speziell für einen Spielfilm inszenierte Szene oder ein Ereignis der sozialen Realität, das auch ohne Anwesenheit einer Kamera stattfindet - und seine audiovisuelle Darstellung machen die grundlegende Einsicht notwendig, dass zwischen der Darstellung von Ereignissen und 124 1 Inhalt und Repräsentation <?page no="125"?> den Ereignissen selbst unterschieden werden muss. Zudem muss zwischen der konkreten Darstellung von Ereignissen mit Zeichen und den damit ver‐ bundenen mentalen Konzepten als Repräsentationssystem unterschieden werden. Daher kann aus semiotischer Sicht bei einem Zeichen zwischen dem Signifikanten (engl.: signifier), dem Signifikat (engl.: signified) und dem Refe‐ renten, dem Gegenstand der Abbildung, unterschieden werden. Signifikant bezeichnet die Form des Zeichens, Signifikat das damit verbundene Konzept (vgl. Eco 2021, S. 27 ff.; Hall 2013, S. 16; Kanzog 2007, S. 36 ff.; Kessler 2002, S. 106; Thwaites u. a. 2002, S. 32). Da Filme, Videos und Fernsehsendungen mehrere Arten von Zeichen verwenden, die zusammen in vielfältigen Kombinationen erst das Zeichensystem Film, Fernsehen oder Video ergeben, stehen in der Analyse nicht die Syntax, sondern zwei andere Aspekte semiotischer Analysen im Mittelpunkt: die Semantik, die sich mit den Bedeutungen von Zeichen befasst, und die Pragmatik, die Zeichen auf ihre Wirkungen und ihren Gebrauch hin untersucht. Der Besonderheit von Film- und Fernsehtexten, aus einer Kombination verschiedener Zeichenarten zu bestehen, wird damit entsprochen, dass diese Kombination als filmischer oder televisueller Code bezeichnet wird. Für die Analyse der Bedeutung der einzelnen Zeichen und des filmischen bzw. televisuellen Codes ist es wichtig, zwischen der denotativen und der konnotativen Bedeutung zu unterscheiden (vgl. Hall 2013, S. 23; Kanzog 2007, S. 38 f.; Thwaites u.-a. 2002, S. 60 ff.). Denotation meint den Bezug zum referenziellen Gegenstand, die Bedeu‐ tung ist beschreibend und »offensichtlich« (vgl. Casey u. a. 2008, S. 222); Konnotation meint alle möglichen Konzepte, die zu einem Zeichen oder Code existieren (vgl. Thwaites u. a. 2002, S. 60). In dieser zweiten Dimension der Signifikation sind die Zeichen und Codes mit dem »weiteren semanti‐ schen Feld« der Kultur (vgl. Hall 2013, S. 23) verbunden. In der Film- und Fernsehanalyse ist zu beachten, dass sich Denotation und Konnotation auf alle drei Ebenen der Repräsentation beziehen können. Wird in einer Folge von Bildern eine schnell laufende Frau auf der Straße gezeigt, so kann auf der ersten Ebene - dem Inhalt - denotativ von einer schnell laufenden Frau gesprochen werden. In der konnotativen Dimension geht es um eine Frau, die beispielsweise auf der Flucht vor Verfolger: innen sein kann oder einen Zug nicht verpassen will, die vor einem herannahenden Gewitter nach Hause eilt oder Hilfe holen will usw. Auf der zweiten Ebene - der Darstellungsart - kann in der denotativen Dimension z. B. davon gesprochen werden, dass in einzelnen Bildern die Kamera das Gesicht der 1 Inhalt und Repräsentation 125 <?page no="126"?> Frau in Großaufnahme zeigt. In der konnotativen Dimension geht es um den emotionalen Ausdruck des Gesichts, ob es Panik, Furcht, Anstrengung, (Vor-)Freude, Müdigkeit, Anzeichen eines Sinneswandels oder Ähnliches widerspiegelt. Auf der dritten Ebene - der Verkettung der Bilder - geht es in der denotativen Dimension darum, dass die laufende Frau in verschiedenen Einstellungen gezeigt wird, wobei sich die Kamera ihr immer mehr nähert; in der konnotativen Dimension kann dies die Zuspitzung einer dramatischen Situation bedeuten oder eine Annäherung an die Persönlichkeit der Frau. Unter dem Gesichtspunkt, dass Film, Fernsehen und Video als Kommu‐ nikationsmedien gesehen werden, ist es nicht sehr sinnvoll, wie der franzö‐ sische Strukturalist Christian Metz zu versuchen, die Regeln und Strukturen kinematografischer Verfahren zu untersuchen und z. B. die Syntagmen eines Films zu analysieren, um so die konkrete Bedeutung der filmischen Zeichen herauszuarbeiten (vgl. Metz 1972, S. 151 ff.). Gerade die Komplexität des Nebeneinanders verschiedener Zeichenarten in den Medien des bewegten Bildes macht deutlich, dass es sich um »ein dynamisches Beziehungsgefüge« handelt, »das sich einer Vielfalt von Lektüren öffnet« (Kessler 2007, S. 116). Dies kann sich z. B. darin zeigen, dass die visuelle und auditive Ebene unterschiedliche Bedeutungsstrukturen aufbauen, wie das oben genannte Beispiel der kommentierenden Schnittbilder in einer Talkshow gezeigt hat. Grundsätzlich gilt, dass der Prozess der Bedeutungsbildung mittels Zeichen (Signifikation) historisch, kulturell und sozial produziert ist, denn die mit einem Zeichen verbundenen Konzepte werden innerhalb sozialer und kultureller Kontexte gelernt und sind historisch wandelbar. Für die Analyse des Inhalts und der Repräsentation von Film- und Fernsehtexten ist es wichtig, die möglichen Bedeutungen herauszuarbeiten, die sich aus dem filmischen oder televisuellen Code ergeben. Hierfür kann die pragmatische Film- und Fernsehtheorie herangezogen werden, die den kommunikativen Aspekt berücksichtigt. Ihr geht es »um Beziehungen im Sinne systematischer Zusammenhänge zwischen Fernsehtexten und ihren Zuschauern« (bzw. Filmtexten und ihren Zuschauer: innen), denn sie analy‐ siert die »textuellen Strategien, die auf den Zuschauer zielen« (Hippel 1998, S. 17). Dazu ist es notwendig zu untersuchen, wie sich Inhalt und Repräsen‐ tation eines Film- oder Fernsehtextes mit Diskursen verbinden und auf diese Weise von den Zuschauer: innen mit Bedeutung gefüllt werden können. Das Repräsentationssystem des Films, des Videos oder der Fernsehsendung muss mit den mentalen Konzepten der Zuschauer: innen als weiterem Repräsenta‐ tionssystem zusammen gedacht werden. In den mentalen Konzepten sind die 126 1 Inhalt und Repräsentation <?page no="127"?> Bedeutungen von Geschehensabläufen, von interpersonalen Beziehungen und von Raum- und Zeitordnungen repräsentiert. Wenn z. B. in einem Nach‐ richtenbeitrag Bilder von Panzern zu sehen sind, die an zerstörten Häusern vorbeifahren, und die Reporterin von Schießereien zwischen Israelis und Palästinensern als Folge eines Selbstmordattentats berichtet, korrespondiert dies mit mentalen Konzepten der Zuschauer: innen, in denen sowohl das Geschehen selbst als auch die Handlungsträger: innen mit ihrer Beziehungs‐ struktur sowie räumliche und zeitliche Vorstellungen repräsentiert sind. Die Bilder und der Bericht der Reporterin zeigen lediglich einen Ausschnitt des Geschehens, bei dem die wesentlichen Handlungsträger gezeigt oder genannt werden und das zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort stattfand. Zugleich laden die Auswahl der Bilder und die Wahl der Worte den Beitrag mit Bedeutung auf und zeichnen ein mediatisiertes »Bild« des Geschehens und der Handlungsträger: innen. Sieht man die fahrenden Panzer, werden mentale Konzepte der Zuschauer: innen angesprochen, in denen nicht einfach nur ein Panzer repräsentiert ist, sondern dieser Panzer als israelischer Panzer, der durch eine von Israel besetzte palästinensische Stadt fährt, gewusst wird. Auf diese Weise ist der Bericht mit dem Wissen der Zuschauer: innen verknüpft. Wird zudem das Bild eines toten Kindes gezeigt, zielt die textuelle Struktur des Berichts nicht nur auf das Wissen, sondern explizit auch auf die Emotionen der Zuschauer: innen. Dadurch kann der Bericht auf andere Weise mit Bedeutung gefüllt werden, denn es geht nicht mehr einfach um die faktischen gewalttätigen Auseinander‐ setzungen, sondern um deren Bewertung als grausam. Darüber verbindet sich auf der Ebene der Repräsentation dieser Beitrag mit einem Diskurs über die Grausamkeit politisch oder religiös motivierter Gewalt, der neben dem politischen Diskurs über die Geschichte und das Verhältnis zwischen Israel und Palästina existiert. Der Beitrag kann durch seine Repräsentation und die durch sie favorisierte Bedeutung den Zuschauer: innen eine Lesart nahelegen. Dies geschieht im Jahr 2022 vor allem in der Berichterstattung über den Krieg in der Ukraine. Die Perspektivierung erfolgt hier über die Einteilung in die »Guten« (Ukrainer: innen) und »Bösen« (Russ: innen). In der Analyse müssen solche Beiträge zunächst in ihre strukturellen Kompo‐ nenten zerlegt werden, um die einzelnen Elemente in ihrer Bedeutung für Inhalt und Repräsentation bestimmen zu können. In der sich anschließenden Interpretation müssen die entsprechenden Diskurse berücksichtigt werden, in die sich die Beiträge einfügen. 1 Inhalt und Repräsentation 127 <?page no="128"?> 1.1 Plot und Story I Die Begriffe »Plot« und »Story« entstammen der kognitiven Filmtheorie, die sich mit Narration befasst (vgl. Kapitel-II.2.1). Die ihnen zugrunde liegende Differenzierung zwischen dem, was in Film- und Fernsehtexten dargestellt ist, und dem, was mit dem Wissen der Zuschauer: innen über die Darstellung hinaus gemacht wird, kann auch die Analyse auf der Ebene von Inhalt und Repräsentation befruchten. In diesem Rahmen besteht der Plot aus dem Inhalt und den drei Ebenen der Repräsentation, die zu Beginn dieses Kapitels beschrieben wurden. Die Story entspricht dem, was die Zuschauer mit ihrem Wissen, ihren Emotionen und Affekten sowie ihrem praktischen Sinn aus dem Gezeigten machen, um den Film, das Video oder die Fernsehsendung zu einem sinnhaften Ganzen zusammenzufügen. Die Zuschauer: innen sind während der Rezeption eines Films, einer Fernsehsendung oder einem Video permanent damit beschäftigt, das Gese‐ hene mit Bedeutung zu füllen. Dabei gehen sie in der denotativen und der konnotativen Dimension vor. Die Konnotationen beziehen sich sowohl auf die Kohärenz des Inhalts und der Repräsentation als auch auf deren Einbindung in die Diskurse des lebensweltlichen Kontextes. Das Beispiel des Nachrichtenbeitrags über den Konflikt im Nahen Osten mag dies ver‐ deutlichen: Der Bericht beginnt mit Bildern, die fahrende israelische Panzer vor zerstörten Häusern der Palästinenser: innen zeigen. Die Stimme der Reporterin erzählt, dass die israelische Armee gezielt Häuser im besetzten Gazastreifen zerstört habe, in denen sie palästinensische Extremist: innen vermutete. Nach einem Schnitt sind Bilder eines zerstörten Restaurants zu sehen, Sanitäter: innen tragen Verletzte zu Rettungswagen. Die Reporterin wertet die Aktion der israelischen Armee im Gazastreifen als Reaktion auf ein Selbstmordattentat in einem Restaurant in Tel Aviv, bei dem es einen Tag zuvor mehrere Tote und Verletzte gegeben habe. In den folgenden Bildern sind trauernde Palästinenserinnen zu sehen, dazwischen ist das Bild eines toten Palästinenserkindes geschnitten. Die Reporterin erklärt aus dem Off, dass die Frauen um die Toten und Verletzten des israelischen Angriffs trauerten und dass unter den Toten auch ein Kind gewesen sei. Anschließend ist die Reporterin im Bild zu sehen. Auf der Straße stehend erläutert sie, dass demnächst ein neuer Vermittlungsversuch durch europäi‐ sche und amerikanische Politiker starten solle. Während eine Diskussion im israelischen Parlament gezeigt wird, gibt die Reporterin die Äußerungen des israelischen Ministerpräsidenten zu den Aktionen wieder. Drauf folgen 128 1 Inhalt und Repräsentation <?page no="129"?> Aufnahmen des Palästinenserpräsidenten an, der in Mikrofone spricht. Die Reporterin erklärt, dass dieser die Angriffe verurteile, und kommentiert abschließend, der Präsident könne die Extremist: innen nicht kontrollieren. Ende des Berichts. Die Zuschauer: innen müssen das Zeichensystem des Fernsehens mit Bil‐ dern, Geräuschen und Sprache zu einer kohärenten Nachricht zusammen‐ fügen. Dazu gehört, dass sie den Bericht in einen räumlichen und zeitlichen Rahmen bringen: Er handelt von Ereignissen, die sich auf dem Gebiet Israels inklusive der besetzten palästinensischen Gebiete im Verlauf von zwei Tagen abgespielt haben. Die Zuschauer: innen müssen den Zeitsprung, der zwischen den aktuellen Bildern und denen vom Selbstmordattentat liegt, realisieren und so eine Chronologie der Ereignisse rekonstruieren. Dazu gehört ferner, die Ereignisse in die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Palästinensern einzuordnen, in denen Politiker: innen beider Seiten eine Rolle spielen. Der Inhalt der Nachricht besagt, dass innerhalb von zwei Tagen ein palästinensisches Selbstmordattentat und ein Angriff der israelischen Armee auf Häuser von Palästinenser: innen stattge‐ funden haben, mit zahlreichen Toten und Verletzten, darunter auch Kinder. Politiker: innen beider Seiten haben zu den Ereignissen Stellung genommen. Auf der Ebene der Repräsentation werden Israelis und Palästinenser als gewalttätig dargestellt, die auch tote Zivilisten und Kinder in Kauf nehmen. Die Bilder der Zerstörung und des toten Kindes zeigen die Grausamkeit. Die Stellungnahmen der Politiker: innen zeigen, dass der Konflikt eine politische Dimension hat und die Gewalt der einen mit der Gewalt der anderen Seite gerechtfertigt wird. Diese Nachricht wird nun mit den Diskursen des lebensweltlichen Kontextes der Zuschauer: innen verknüpft, sodass sich unterschiedliche Lektüren ergeben. Aus semiopragmatischer Sicht ergeben sich unterschiedliche Lesarten aus dem institutionellen Rahmen, in dem die Nachricht gesehen wird (vgl. Odin 1994, S. 39 ff.). Der institutionelle Rahmen besteht aus drei Dimensionen: einer materiellen, einer imaginär-symbolischen und einer institutionalisierten (vgl. ebd., S. 39). Die materielle Dimension bezieht sich im Fall der Fernsehnachrichten auf die technischen Bedingungen des Fernsehgeräts und den Ort, an dem es aufgestellt ist. Danach macht es einen Unterschied, ob die Nachricht auf einem großen Fernseher in der Zentrale einer politischen Partei oder auf einem Tablet im Bett eines Jugendzimmers gesehen wird. Die imaginär-symbolische Dimension bezieht sich dann auf die Parteizentrale und das Jugendzimmer als Systeme der 1.1 Plot und Story I 129 <?page no="130"?> Repräsentation, d. h. auf die mit diesen beiden Institutionen einhergehenden Vorstellungen und Konzepte. Die institutionalisierte Dimension bezieht sich auf den Raum der Kommunikation, der durch die Institution konstituiert wird. In der Parteizentrale gelten andere Regeln der Kommunikation als im Jugendzimmer. In der Analyse müssen diese drei Dimensionen nicht einzeln berücksichtigt werden, wichtig ist jedoch, sich zu vergegenwärtigen, in welchen institutionellen Rahmen die Film- und Fernsehtexte rezipiert werden können und wie diese »Institutionen« die Lesarten strukturieren. Inhalt und Repräsentation der Nachricht verknüpfen sich mit den Diskur‐ sen, die in den verschiedenen lebensweltlichen Kontexten der Zuschauer: in‐ nen existieren, denn Filme und Fernsehsendungen werden in einem Kontext gesehen, der textuell und sozial ist (vgl. Turner 2009, S. 109). Der soziale Kontext zeigt sich in der Öffnung der Texte zur sozialen Aneignung durch die Zuschauer: innen. Ein Zuschauer, der Mitglied der jüdischen Gemeinde ist, wird die Nachricht mit den in der Gemeinde zirkulierenden Diskursen verbinden; eine Zuschauerin, die sich in einer antiimperialistischen Gruppe bewegt, wird die Nachricht wiederum mit den dort zirkulierenden Diskursen verbinden. In diesen Diskursen spielen Mythen eine wichtige Rolle. Nach Roland Barthes (2022, S. 251) ist der Mythos »ein System der Kommunika‐ tion, eine Botschaft«, die allerdings kein Objekt ist, sondern »eine Weise des Bedeutens, eine Form«. In ihm sind Erfahrungen gebunden. In der Lesart des Mitglieds der jüdischen Gemeinde spielen die Mythen, die sich um das Judentum und das Volk Israel ranken, eine wesentliche Rolle in der Rezep‐ tion der Nachricht. In der Lesart der Aktivistin der antiimperialistischen Gruppe erhält der Mythos vom gerechten Kampf der Palästinenser: innen um einen eigenen Staat einen prominenten Status. Die jeweiligen Lesarten sind kommunizierbar, weil sie in der sozialen Aneignung des jeweiligen lebensweltlichen Kontextes Sinn ergeben. Denn sie werden von den ande‐ ren Mitgliedern der jüdischen Gemeinde bzw. der antiimperialistischen Gruppe geteilt. Beide Mythen sind Teil des Diskursfeldes, das sich um den Nahost-Konflikt rankt. Sie werden in dem Nachrichtenbeitrag durch die Äußerungen der Politiker: innen beider Seiten aufgegriffen. Die textuelle Struktur der Nachricht zielt daher auf Mehrdeutigkeit. 130 1 Inhalt und Repräsentation <?page no="131"?> 1.2 Raum und Zeit Filme, Fernsehsendungen und Videos positionieren sich in einem Raum-Zeit-Gefüge (vgl. dazu auch Kappelhoff/ Lehmann 2021), das in einer spezifischen historischen Zeit angesiedelt ist. Das hat Auswirkungen auf Inhalt und Repräsentation. Räume in Film- und Fernsehtexten beeinflussen Handlungen und haben symbolische Funktionen (vgl. Wulff 1999, S. 103 ff.). Das gilt auch für die Zeit. Wenn z. B. ein Paar ein Restaurant betritt, lässt das in den nächsten Minuten des Films bestimmte Handlungen wahrscheinlich erscheinen. Sie werden in dem Restaurant sicher nicht in eine Verfolgungs‐ jagd mit Autos verstrickt, sie nehmen auch nicht an einem Schwimm- oder Turnwettbewerb teil. Der Ort des Geschehens, das Restaurant, lässt es wahrscheinlicher erscheinen, dass sie dort speisen werden, vielleicht auch Freund: innen treffen, mit denen sie verabredet sind. Verlässt der Held eines Western einen Saloon, in dem er einige Whiskys getrunken und einen Teller Bohnensuppe gegessen hat, wird er sich vermutlich auf sein Pferd schwingen. Er wird sicher kein Taxi rufen, keinen schnellen Sportwagen besteigen oder sich gar auf den Weg zum Flughafen machen - all diese Möglichkeiten sind in der Zeit, in der Western spielen, unwahrscheinlich und damit auch unrealistisch. Die symbolische Funktion von Räumen ist nicht filmspezifisch, sie findet sich auch im Alltagsleben der Zuschauer: in‐ nen. Sie ergibt sich vor allem aus ihrer Kontrastierung mit anderen Räumen: »Die Gegenüberstellung verschiedener oder verschieden interpretierter Räume ist der Zeichenträger, dem ein Bedeutungsgefüge zugeordnet ist, das mit der Bedeutung des jeweiligen Textes koordiniert ist und das oft auf Kategorien der Wahrnehmung, der Beschreibung oder der Metaphorisierung des sozialen Lebens zurückweist« (ebd., S. 122, H.i.O.). Die Enge einer Zelle im Gefängnis steht z. B. im Kontrast zur Weite der Prärie - die symbolische Funktion ist hier durch die beiden Substantive, die den Raum beschreiben, offensichtlich. Ein Gangsterfilm spielt z. B. in einem metaphorischen Raum, der mit zahlreichen Konnotationen verbunden ist: der Unterwelt. Seine Bedeutung erhält er dadurch, dass er im Kontrast zur Oberwelt steht, mit der die normale bürgerliche Welt gemeint ist. Ähnliche Gegensätze, in denen Räume symbolische Funktionen erfüllen, sind z. B. private und öffentliche Räume, dunkle und helle Räume, Himmel und Hölle usw. Die symbolische Funktion der Räume öffnet die Film- und Fernsehtexte zu Raumkonzepten der Zuschauer: innen, wie sie in deren 1.2 Raum und Zeit 131 <?page no="132"?> mentalen Konzepten repräsentiert sind (vgl. zu filmischen Raumkonzepten auch Christen/ Martin 2021). Filme, Fernsehsendungen und Videos orientieren sich zwar in der Regel an einer Zeitebene, sie haben aber dank der Montage die Möglichkeit, verschiedene Zeitebenen miteinander zu verbinden (vgl. Kapitel II.4.3). Eine aktuelle Nachrichtensendung im Fernsehen berichtet über Ereignisse der Jetztzeit. Eine Ausnahme bilden Berichte, in denen auf Archivmaterial zurückgegriffen wird, um ein historisches Ereignis in seiner Bedeutung für eine aktuelle Nachricht darzustellen. Wenn z. B. in Frankreich ein ehemali‐ ger SS-Offizier vor Gericht steht, der sich wegen der Ermordung von Juden während des Nationalsozialismus verantworten muss, wird in wenigen Bildern die Besetzung Frankreichs aufgerollt und mit Bildern von Erschie‐ ßungen aus der damaligen Zeit versehen. In diesem Sinn kann man auch von zeitlich-historischen Rahmen sprechen, die in einer Fernsehsendung präsent sein können. In dem Beispiel gibt es Bilder aus einer vergangenen Zeit, die in einen Beitrag aus der Jetztzeit eingebettet sind. Typisch ist eine derartige zeitliche Rahmung für historische Dokumentationen, in denen Zeitzeugen befragt werden. Das trifft auch auf fiktionale Filme zu. Sie können in einer vergangenen Zeit spielen, ohne einen textuellen Bezug zur Jetztzeit zu haben. Sie können aber auch in der Jetztzeit spielen, in der eine Protagonistin sich z. B. an ihre Jugend oder ihren Aufenthalt als Studentin auf einem britischen Campus in den 1970er Jahren erinnert, was in einem filmischen Rückblick präsentiert wird. Filme, die sich dem Thema Zeitreisen widmen wie »Zurück in die Zukunft«, bewegen sich ebenfalls auf zwei zeitlichen Ebenen. Daneben gibt es Filme, die zwar in der Jetztzeit spielen, deren Rahmenhandlung aber in der Zukunft angesiedelt ist wie bei »Terminator 2 - Judgement Day«. Filme, die in der Zukunft spielen, haben einem ganzen Genre den Namen gegeben: die Science-Fiction-Filme. »Blade Runner«, »Blade Runner 2049«, »Matrix Resurrections«, »Interstellar« oder »Dune« entführen die Zuschauer in eine imaginierte zukünftige Welt, die jedoch auf aktuellen mentalen Konzepten als Repräsentationssystemen basiert. Die Zeit kann auch symbolische Funk‐ tionen in einem Film- und Fernsehtext ausüben. Wenn z. B. ein Film in der Jetztzeit spielt, eine der Protagonist: innen aber in einer Villa aus der vorletzten Jahrhundertwende lebt, die noch mit den Originalmöbeln aus jener Zeit eingerichtet ist, symbolisiert dies möglicherweise den seelischen und geistigen Zustand der Protagonistin. Wenn in einem Familiendrama das Leben eines Teenagers im Mittelpunkt steht und dessen Zimmer mit 132 1 Inhalt und Repräsentation <?page no="133"?> Postern aus Science-Fiction- und Fantasy-Filmen geschmückt ist, verweisen die anderen Zeiten auf den Postern möglicherweise auf die Träume und Wünsche des Teenagers, den gegenwärtigen Zustand zu überwinden. Die Film- und Medienwissenschaftlerin Julia Eckel (2012, S. 29ff.) hat sich mit non-linearen Zeitverläufen in Filmen beschäftigt. Sie unterscheidet sieben Formen von non-linearer Zeit im Film: 1) eine rückwärtslaufende chronologische Zeit wie z. B. in »Memento«, 2) eine »multilineare Zeit« wie in »Lola rennt«, 3) eine »verschachtelte Zeit«, z. B. in »Inception«, 4) eine »multiperspektivische Zeit« wie in »Reservoir Dogs«, 5) eine »subjektive Zeit«, z. B. in »Stay«, 6) eine »zirkuläre Zeit« wie in »Pulp Fiction« (vgl. Kapitel II.2.1), 7) eine »chaotische Zeit«, die Eckel auch »Zeit-Puzzle« nennt (ebd., S. 65), wie in »Sin City«. In der Analyse kann herausgearbeitet werden, ob die Zeit in einem Film oder einer Fernsehserie linear oder non-linear angeordnet ist. Filme, Fernsehsendungen und Videos sind an einem oder mehreren Orten lokalisiert. Ein Nachrichtenbeitrag über eine Schießerei im Gazastreifen ist dort angesiedelt, bezieht die weitere Umgebung, also Israel und Palästina, mit ein und kann noch einen Bogen nach New York schlagen, wo sich der UN-Sicherheitsrat zu dem Vorfall geäußert hat. In diesem Sinn können derartige Beiträge oder Dokumentationen räumliche Rahmen enthalten, in denen die gleichen oder verschiedene Protagonisten agieren können. Im Gegensatz dazu findet eine Spielshow wie »Wer wird Millionär? « nur an einem spezifischen Ort statt, der für die Zuschauer: innen als ein Studio erkennbar ist. Dabei spielt es keine Rolle, ob das Studio in Hürth bei Köln, in Hamburg, München oder Babelsberg steht. Eine andere Variante stellte die Show »Wetten, dass ..? « dar, die zwar in verschiedenen Orten gastierte, in deren Hallen oder Sälen jedoch die immer gleiche Bühnenkulisse aufgebaut wurde. Zudem fand über die Saalwette eine Einbindung in die lokale Region statt, die explizit in der Sendung thematisiert wurde. Hinzu kamen Außen‐ wetten, die wieder an ganz anderen Orten stattfinden konnten. Während »Wer wird Millionär? « eine einfache räumliche Struktur aufweist, waren die Aktionen in »Wetten, dass-..? « an mehreren Orten lokalisiert. Die Sendung wies mehrere räumliche Rahmungen auf. Spielfilme oder fiktionale Fernsehsendungen können lediglich an einem Ort lokalisiert sein. Vor allem Situation Comedys (Sitcoms) im Fernsehen wie »Eine schrecklich nette Familie«, »Alf« oder »Das Amt« spielen sogar vorwiegend in einem Zimmer. In Filmen ist das eher die Ausnahme, doch gibt es auch da Beispiele wie »Das Fenster zum Hof«. In »8 Frauen« 1.2 Raum und Zeit 133 <?page no="134"?> bewegen sich die handelnden Figuren nur innerhalb eines Hauses. Die Handlung zahlreicher Filme spielt jedoch an einem Ort, z. B. »Terminator 2 - Judgement Day« in Los Angeles, »Wenn es Nacht wird in Paris« oder »Am Rande der Nacht« in Paris, »Wenn die Gondeln Trauer tragen« oder »Der Tod in Venedig« in Venedig, »M - eine Stadt sucht einen Mörder«, »Lola rennt«, »Victoria« oder »Berlin Alexanderplatz« in Berlin. Spielfilme, Fernsehfilme und Serien, die an einem Ort der sozialen Realität spielen, unterscheiden sich dahin gehend, dass sie den Ort einerseits lediglich als unspezifische städtische Kulisse benutzen, ihn andererseits aber auch mit seiner Spezifik in die Handlung integrieren können. Zahlreiche Filme spielen an mehreren Orten, weil die Protagonist: innen auf der Flucht, der Reise oder der Suche sind. So ist der Agent Ihrer Majestät, James Bond, als Protagonist innerhalb einzelner Filme der Reihe immer wieder an verschiedenen Orten auf der Spur des Bösen. Ein Genre wie das Roadmovie zeigt Akteur: innen, die sich in der Regel über weite Strecken bewegen wie z. B. in »Wild at Heart - Die Geschichte von Sailor und Lula«. In den »Star Trek«- und anderen Science-Fiction-Filmen brechen die Protagonist: innen gar in die unendlichen Weiten des Alls auf. Ein Genre, das von der ständigen Bewegung seiner Protagonist: innen lebt, ist der Western. In ihm wurde die amerikanische Mythologie der Eroberung des Westens in filmische Gestalt gegossen. Davon zehren auch (post)moderne Roadmovies noch, wie der bereits erwähnte »Wild at Heart« oder »True Romance«, in denen sich die Protagonisten auf den Weg gen Westen nach Kalifornien machen. Neben dem Western und dem Roadmovie gibt es Filmgenres, die bestimmte Orte thematisieren. Manche haben ein eigenes, regional begrenztes Genre begründet wie der deutsche Bergfilm, der, wie der Name schon sagt, in den Bergen spielt, aber zeitlich auf das Ende der 1920er und 1930er Jahre beschränkt bleibt. Filme wie »Der heilige Berg«, »Das blaue Licht« oder »Der Berg ruft« mögen hier als Beispiele dienen. In diesen Filmen wird die Mythologie der Bergwelt mit ihren Naturgewalten repräsentiert (vgl. Rapp 1997). Der deutsche Heimatfilm, der vor allem in den 1950er Jahren Konjunktur hatte und zahlreiche Zuschauer: innen in die Kinos lockte, spielt in den ländlichen Regionen Deutschlands und knüpfte an den Diskurs über Heimat an (vgl. Höfig 1973; Projektgruppe Deutscher Heimatfilm 1989, S. 69 ff.), der sich nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte. Filme wie »Schwarzwaldmädel« oder »Grün ist die Heide« banden den Diskurs an bestimmte Regionen wie den Schwarzwald und die Lüneburger Heide. 134 1 Inhalt und Repräsentation <?page no="135"?> Die räumliche und zeitliche Positionierung in den Film- und Fernsehtex‐ ten ist ein wesentliches Element des Repräsentationssystems. Während z. B. der amerikanische Western die Eroberung und Zivilisierung des Westens thematisiert, widmet sich der Italo-Western dem Nord-Süd-Konflikt. Ihm liegen also spezifische italienische Erfahrungen zugrunde. Dabei geht es inhaltlich um Auseinandersetzungen an der amerikanisch-mexikanischen Grenze. Der amerikanische Western bearbeitet uramerikanische Mythen. Der Italo-Western dagegen ist nach Georg Seeßlen zu einem universellen Bild »für Gesellschaften, in denen neuer Reichtum neue Armut produziert« geworden (Seeßlen 1993, S. 12). In den US-Western ist das Thema der Grenze mythologisiert, im Italo-Western politisiert (vgl. Seeßlen 1995, S. 158). Die beiden Arten des Western sind über die Repräsentation von Raum und Zeit mit unterschiedlichen Diskursen verknüpft. Gegenstand von raumbe‐ zogenen filmanalytischen Arbeiten ist häufig die Repräsentation der Stadt allgemein (vgl. Clarke 1997; Schenk 1999; Vogt 2001), die zu den Diskursen über Urbanität in Bezug gesetzt wird (vgl. Willett 1996 sowie die Beiträge in Ward/ Miller 2017), oder einer spezifischen Stadt wie Köln im »Tatort« (vgl. Bollhöfer 2007) oder Berlin in Fernsehserien (vgl. Eichner/ Mikos 2017) oder in einer spezifischen Serie wie »Babylon Berlin« (vgl. Mikos 2021b). In der Analyse ist es wichtig, die verschiedenen räumlichen und zeitlichen Rahmen herauszuarbeiten, um ihrer spezifischen Funktion für Inhalt und Repräsentation der Film- und Fernsehtexte auf die Spur zu kommen. Dabei müssen zwei Ebenen berücksichtigt werden. Auf der ersten Ebene geht es um den konkreten Film- und Fernsehtext als Repräsentationssystem, auf der zweiten Ebene geht es um den Film- und Fernsehtext in den zeithistorischen Bezügen seiner Entstehung. Denn wenn Filme Elemente der Repräsentationsordnung einer Gesellschaft sind, dann verorten sie sich zum Zeitpunkt ihrer Entstehung in den zu der Zeit zirkulierenden gesellschaftlichen Diskursen. Beim Aufbau des filmischen oder televisuellen Repräsentationssystems spielen Gestaltungsmittel wie Ausstattung (vgl. Ka‐ pitel II.4.4), Kameraarbeit (vgl. Kapitel II.4.1) und Montage (vgl. Kapitel II.4.3) eine wichtige Rolle. 1.3 Interaktionsverhältnisse Ein wesentlicher Bestandteil des filmischen und televisuellen Repräsentati‐ onssystems sind die handelnden Akteur: innen, die nicht nur miteinander, 1.3 Interaktionsverhältnisse 135 <?page no="136"?> sondern auch mit Objekten wie Autos oder Alkohol und mit ihrer Umwelt, z. B. der Stadt, in der sie leben, interagieren. Die Interaktionen können verschiedene Formen annehmen. Sie können z. B. gewalttätig sein wie in dem bereits erwähnten Nachrichtenbeitrag über Schießereien zwischen Israelis und Palästinensern oder wie in Gangsterfilmen und Fernsehkrimis. Sie können romantischer Natur sein wie in romantischen Komödien oder mit psychischen Leiden verbunden wie in Melodramen. Sie können aber auch spielerisch sein wie in Sportsendungen oder Gameshows. Grundsätz‐ lich unterliegen die Interaktionsverhältnisse in Film- und Fernsehtexten - ähnlich denen der sozialen Realität - bestimmten Bedingungen. Dazu zählen unter anderem ökonomische, soziale, kulturelle, politische und biografische Faktoren, die die Position der handelnden Figuren im sozialen Feld bestim‐ men. In den Interaktionsverhältnissen zeigen sich historisch gewachsene Macht- und Herrschaftsverhältnisse ebenso wie strukturelle Beziehungen zwischen sozialen Rollen, Statuspositionen, Ethnien und Geschlechtern. Der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern hat eine politische Geschichte, in der sowohl die unterschiedlichen Religionen als auch die unterschiedliche ethnische Zugehörigkeit eine Rolle spielen. Die Repräsentation des Konflikts im Fernsehen beinhaltet auch ein spezifisches Verhältnis der Geschlechter, denn Frauen werden in der Regel als Trauernde und Leidende gezeigt. Männer dagegen erscheinen aktiv, politisch oder terroristisch. Das knüpft an Diskurse über die Opferrolle von Frauen und die Täterrolle von Männern an. Interaktionsverhältnisse sind ein wesentlicher Aspekt der Einbindung des Publikums in das Geschehen auf der Leinwand oder dem Bildschirm. Sie korrespondieren auf einer strukturellen Ebene mit alltäglichen Lebens‐ erfahrungen der Zuschauer: innen. Auch wenn das Verhältnis von Herr und Sklave in einem Südstaaten-Drama wie »Django Unchained« nicht aus eigener Erfahrung bekannt ist, sind Erfahrungen von Dominanz bzw. Unterwürfigkeit vorhanden, sodass die Repräsentation des Verhältnisses von Herr und Sklave nicht nur auf einer kognitiven Ebene nachvollzogen, sondern auch emotional erlebt werden kann. Liegen die in den Film- und Fernsehtexten dargestellten Interaktionsverhältnisse näher an den Alltags‐ erfahrungen des Publikums, ist die Einbindung der Zuschauer: innen über kognitive und emotionale Aktivitäten sowie über den praktischen Sinn und die soziale Aneignung größer. Die Filme, Fernsehsendungen und Videos fügen sich dann stärker in die lebensweltlichen Diskurse ein. 136 1 Inhalt und Repräsentation <?page no="137"?> Die Ausgestaltung von Handlungs- und Funktionsrollen in den Film- und Fernsehtexten (vgl. Kapitel II.3) hat einen großen Einfluss auf die Inszenierung von Interaktionsverhältnissen. So können die Handlungen einzelner Personen durch eine Vielzahl von Interaktionen gekennzeichnet sein. Die Protagonist: innen eines Spielfilms handeln in vielen verschiedenen Situationen während des Films und sind auf diese Weise in ebenso viele Interaktionen verstrickt. Die von Julia Roberts gespielte Vivian in »Pretty Woman« interagiert im Verlauf des Films mit zahlreichen Personen: in erster Linie mit dem von Richard Gere gespielten Broker Edward, aber auch mit ihrer Freundin Kit De Luca, mit dem Hotelmanager, dem Liftboy, den Verkäuferinnen in Designer-Boutiquen, dem jungen David Morse und anderen. In all diesen Interaktionen sind die strukturellen Bedingungen wirksam, die aus der Statusposition von Vivian als Prostituierte und ihrer Positionierung im sozialen Feld resultieren. Während in den einzelnen situationsabhängigen Interaktionen die Zuschauer: innen in das Geschehen hineingezogen werden, werden sie zugleich mit der Repräsentation von Statuspositionen, sozialen Rollen und Gender konfrontiert. In diesem Sinn kann man davon sprechen, dass in einem Film wie »Pretty Woman« ein bestimmtes Bild der Prostituierten, des Brokers, des Hotelmanagers oder der Designermode-Verkäuferin gezeichnet wird, das auf einer allgemeineren Ebene als ein bestimmtes Bild von Frauen und Männern inszeniert wird. In der Analyse müssen diese Bilder herausgearbeitet werden. Dazu ist es notwendig, sich die einzelnen Interaktionen und die gesamten Interak‐ tionsverhältnisse anzuschauen, über die ein Film- und Fernsehtext eine mögliche Welt inszeniert oder eine reale soziale Welt medial bearbeitet. So beschäftigen sich zahlreiche Analysen mit der Darstellung der Frau in Filmen und Fernsehserien. Doch nicht nur die Geschlechterrollen in Film- und Fernsehtexten können auf der Ebene der Repräsentation analysiert werden, auch die Darstellung der Familie oder - im Hinblick auf die Struktur von Interaktionsverhältnissen - die Repräsentation von Liebe und Sexualität oder die Darstellung von Ärzt: innen oder Rechtsmediziner: innen. Ganz gleich, ob im Mittelpunkt der Analyse das Bild der Frau, die Darstellung von Institutionen oder die Inszenierung von populären Mythen, Idealen, Konzepten steht, sie alle sind über die Interaktionsverhältnisse und die strukturellen Bedingungen, unter denen diese stattfinden, definiert. Bei der Analyse der Interaktionsverhältnisse ist zu beachten, dass Film- und Fernsehtexte mehrdeutig oder polysem organisiert sind. Daher gibt es das Bild der Frau oder der Jugend nicht im Sinn einer einheitlichen ideologischen 1.3 Interaktionsverhältnisse 137 <?page no="138"?> Darstellung, sondern dieses Bild kann auch Brüche und Widersprüche enthalten, die ebenfalls in der Analyse herausgearbeitet werden müssen. Die Moderatorin einer Show wie »Quizduell« muss im Verlauf einer Sendung mit verschiedenen Personen interagieren. Dabei geht sie spezifi‐ sche Interaktionsverhältnisse ein, die mit unterschiedlichen sozialen Rollen verbunden sind. Sie muss mit dem Saalpublikum interagieren und - wie bereits bei der Begrüßung deutlich wird - indirekt mit den Zuschauer: innen vor dem heimischen Bildschirm. Ferner muss sie mit den Kandidat: innen, den Quiz-Expert: innen im Olymp, mit den Kameraleuten und - wenn etwas schiefgeht - auch schon mal mit der Regie interagieren. Jede dieser Interaktionen ist anders strukturiert und begründet ein spezifisches Interak‐ tionsverhältnis, denn mit den Kandidat: innen geht Esther Sedlaczek anders um als mit dem Saalpublikum. Über die Analyse der Interaktionsverhältnisse kann herausgearbeitet werden, wie Moderatorin, Kandidat: innen, Quiz-Ex‐ pert: innen im Olymp und Publikum in der Show inszeniert werden und welche Bedeutung ihnen auf der Ebene der Repräsentation zugeschrieben wird. Dabei ist allerdings darauf zu achten, welche Interaktionsverhältnisse durch Struktur und Funktion der Show beeinflusst sind und welche sich als showübergreifend strukturelle herausstellen. In der Analyse müssen die Interaktionsverhältnisse genau untersucht werden. Zwar sind sie einerseits von strukturellen Bedingungen beein‐ flusst, andererseits kann ihre Gestaltung aber die Repräsentation von Per‐ sonen, Institutionen, Mythen, Idealen und Konzepten beeinflussen. Hier zeigt sich, dass Bedeutungen diskursive Konstruktionen sind. Denn die Repräsentationsebene der Film- und Fernsehtexte ist eng mit den in der Gesellschaft zirkulierenden Diskursen verbunden. Welche Bedeutungen die Zuschauer: innen in der Rezeption dem Geschehen auf der Leinwand oder dem Bildschirm zuweisen, hängt auch von der ästhetischen Gestaltung der Interaktionsverhältnisse ab (vgl. Kapitel II.4), denn darüber wird ihre Aufmerksamkeit gelenkt. 1.4 Situative Rahmungen In der Analyse von Film- und Fernsehtexten ist immer zu berücksichtigen, dass sie durch situative Rahmungen gekennzeichnet sind. Ausgangspunkt der Überlegungen können die Arbeiten des französischen Filmwissenschaft‐ lers Etienne Souriau (1951, S. 234 f.) sein, der zwischen afilmischer und 138 1 Inhalt und Repräsentation <?page no="139"?> profilmischer Realität in Filmen unterschieden hat. Eine afilmische Realität existiert unabhängig von der Kamera und anderen kinematografischen Aktivitäten, eine profilmische wird dagegen mithilfe der Kamera geschaffen und ist auf der Leinwand zu sehen. Der britische Filmwissenschaftler Martin Barker (2000, S. 193) fasst den Begriff »profilmisch« weiter, indem er ihn auch auf die Zuschauer: innen bezieht und damit alle filmischen Mittel meint, die ein Engagement der Zuschauer: innen mit dem filmischen Prozess er‐ möglichen. Wenn diese Unterscheidung auf Situationen bezogen wird, kann man afilmische von profilmischen Situationen unterscheiden. Ein Spielfilm, ein Fernsehfilm, eine Fernsehserie oder eine Sitcom sind danach durch profilmische Situationen gekennzeichnet: Was auf der Leinwand oder dem Bildschirm zu sehen ist, wurde nur für die Kamera erfunden und inszeniert. Es gibt keine »echten« Menschen, die in »echten« Situationen handeln, sondern Schauspieler: innen handeln in inszenierten Situationen nach einem Drehbuch und den Anweisungen der Regisseurin und ermöglichen dadurch im Sinn Barkers ein Engagement der Zuschauer: innen-- allerdings können die Dreharbeiten selbst als afilmische Situation gesehen werden. Die profil‐ mische Situation ist immer auf ihre mediale Repräsentation und damit auf die Rezeption durch Zuschauer: innen hin angelegt. Anders sieht dies bei Dokumentarfilmen, Reportagen und Nachrich‐ tenbeiträgen aus. Dort gibt es zwar auch profilmische Situationen, wenn z. B. Augenzeug: innen direkt in die Kamera von einem Geschehen erzählen oder Bürger: innen zu einem aktuellen politischen Thema ihre Meinung in die Kamera sagen, doch überwiegen die afilmischen Situationen. In dem bereits erwähnten Nachrichtenbeitrag über den Nahost-Konflikt gehören die ge‐ walttätigen Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Palästinensern zur afilmischen Realität, denn sie finden auch ohne die Anwesenheit der Medien statt. Das gilt ebenso für die abgebildeten Situationen, die in dem Beitrag zu sehen sind, nicht jedoch für den Kommentar, den die Korrespondentin in die Kamera spricht. Dabei handelt es sich um eine profilmische Situation, die in eine afilmische eingebettet ist. Die beiden Beispiele machen deutlich, »dass alles, was im fiktionalen Film im Bild zu sehen ist, als profilmisch interpre‐ tiert wird, also als etwas, was zum Zwecke der Abbildung hergestellt wurde. Im Fernsehen dagegen spielt auch die Abbildung afilmischer Situationen eine große Rolle« (Hippel 1998, S. 132). Die Unterscheidung zwischen afilmischen und profilmischen Situationen ist für die Analyse von Nachrichtenbeiträgen, Reportagen oder Shows im 1.4 Situative Rahmungen 139 <?page no="140"?> Fernsehen wichtig, denn es kommt zu Interaktionen zwischen den beiden Situationen und die profilmische kann die afilmische stören (vgl. ebd., S. 132 f.). Letzteres ist z. B. der Fall, wenn die Korrespondentin sich für ihren Aufsager auf einem belebten Platz postiert hat und die Passant: innen um sie herumgehen müssen. Die Aktionen von Kandidat: innen in Quiz- und Gameshows sind so immer doppelt konstituiert: Sie handeln in einer afilmischen Studiosituation, in der sie an einem Spiel teilnehmen, zugleich spielen sie aber für das Studiopublikum und die Zuschauer: innen vor den heimischen Bildschirmen, indem sie in einer profilmischen Situation vor der und für die Kamera agieren. Das wird z. B. bei einer Show wie »Ninja Warrior Germany« deutlich, wenn die Kandidat: innen noch vor dem Start mit der Kamera (und damit mit dem Publikum) interagieren, bevor sie versuchen den Parcours zu meistern, oder wenn die Tanzpaare bei »Let’s Dance« die Zuschauer: innen mit Blick in die Kamera auffordern für sie abzustimmen. Für die Zuschauer: innen ist das Geschehen immer doppelt konstituiert: Sie sehen zwar nur das, was Kamera und Bildregie ihnen zeigen, aber zugleich bezieht sich ihre Rezeption auch auf die afilmische Spielsituation im Studio. Neben dieser generellen Unterscheidung der beiden Situationstypen kön‐ nen in Fernsehshows weitere situative Rahmungen unterschieden werden. Alle situativen Rahmungen korrespondieren mit mentalen Konzepten der Zuschauer: innen und konkurrieren gewissermaßen darum, welcher als der primäre, Wirklichkeit definierende, für die Bedeutungszuweisung relevante angesehen wird. Die Zuschauer: innen haben prinzipiell die Möglichkeit, eine Show (1) als einen Fernsehtext, (2) als eine Unterhaltungsshow im Fernsehen, (3) als eine Quizshow, (4) als die Show »Wer wird Millionär? «, (5) als soziale Wirklichkeit zu sehen. Dadurch kommt es in der tatsächlichen Rezeption solcher Shows zu unterschiedlichen Bedeutungszuweisungen. Je mehr situative Rahmungen eine Show enthält umso mehr verschiedene Bedeutungszuweisungen sind möglich. Dabei können auch bestimmte In‐ szenierungsweisen des Bühnengeschehens in der Show als ein eigener Rahmen angesehen werden. In der Realityshow »Big Brother« wurden z. B. die Ereignisse im Wohncontainer, in dem die Kandidat: innen agierten und an Spielen teilnahmen, »nach Dramaturgie und Darstellungsweisen von Soaps inszeniert« (Mikos u. a. 2000, S. 29). Obwohl die Sendung eine Unterhaltungsshow war, konnte sie auch als Soap-Opera rezipiert werden. Die Realityshow »Ich bin ein Star - Holt mich hier raus! «, in der eine Gruppe von Prominenten in einem Dschungel-Camp Prüfungen bestehen muss, kann aufgrund der karnevalesken Übertreibungen und der Komik 140 1 Inhalt und Repräsentation <?page no="141"?> von den Zuschauern auch als Comedy-Sendung angesehen werden (vgl. Mikos 2007). Jeder situative Rahmen einer Fernsehshow stellt in diesem Sinn einen eigenen Interpretationsrahmen dar. In der Analyse können die verschiedenen situativen Rahmen herausgearbeitet und so die möglichen Lesarten einer Show bestimmt werden. Analyseleitende Fragen • Welche Informationen bietet der Plot an? • Wie wird der Plot auf den drei Ebenen der Repräsentation bearbei‐ tet? • Welches Wissen ist notwendig, um aus dem Plot ein kohärentes Ereignis zu machen? • In welchem Verhältnis stehen Inhalt und Repräsentation? • In welcher Zeit spielt der Film bzw. die Fernsehsendung? • Welche Zeitebenen kommen vor und wie sind sie miteinander verbunden? • Wie ist der Raum im Film bzw. der Fernsehsendung gestaltet? • Welche Rolle spielt der Raum für die Handlung? • Gibt es Orte, denen eine symbolische Funktion zugeschrieben wer‐ den kann? • Welche Interaktionsverhältnisse sind dominant in dem zu analysie‐ renden Film- oder Fernsehtext? • Welche Rolle spielt die Interaktion mit Objekten für die Charakteri‐ sierung der Protagonist: innen? • Sind die dominanten Interaktionsverhältnisse von Macht und Herr‐ schaft gekennzeichnet? • Lässt sich eine dominante Darstellung der Geschlechter feststellen? • Welche Brüche und Widersprüche gibt es in der Repräsentation von Geschlechtern, Ethnien, sozialen Gruppen, Orten, Normen oder Werten? • Wodurch sind die afilmische und profilmische Situation in der Fernsehsendung gekennzeichnet? • Wie viele situative Rahmen überlagern sich in der Fernsehshow? • Welche potenziellen Lesarten ergeben sich aus der situativen Rah‐ mung? 1.4 Situative Rahmungen 141 <?page no="142"?> 1.5 Zitierte Literatur Barker, Martin (2000): From Antz to Titanic. 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Jedes Medium bildet Besonderheiten des Erzählens aus, denn es geht nicht nur um das, was erzählt wird, sondern auch darum, wie es mit den spezifischen ästhetischen Mitteln des jeweiligen Mediums erzählt wird (vgl. Smith 2018, S. 11ff. sowie Kapitel II.4). Narration bezeichnet den Prozess der Entfaltung einer Geschichte in der Zeit. Darin wird die primäre Funktion von Filmen gesehen (vgl. Speidel 2012). Unter Dramaturgie wird die Anordnung der Elemente einer Geschichte verstanden, um sie für Zuschauer: innen interes‐ sant zu machen (vgl. Kapitel-I.2.2). Erzählen ist grundsätzlich als Prozess beschreibbar. In ihm wird eine Geschichte in der Zeit entfaltet, die in der Regel an bestimmbaren Orten spielt, wo Figuren handeln. Über das erzählte Raum-Zeit-Kontinuum wird eine mögliche Welt - eine dargestellte Welt (Schmid 2014, S. 13) - geschaffen, die plausibel gestaltet sein muss (vgl. Bordwell 2006, 2008 und 2019; Bordwell/ Thompson 2020, S. 72 ff.; Casetti/ di Chio 1994, S. 164 ff.; Chatman 1993; Elsaesser/ Buckland 2002, S. 168 ff.; Kuhn 2020; Nowak 2021; Phillips 2009, S. 17 ff.; Thompson 1999; Thompson 2003; Wuss 2020, S. 97ff.). Erzählungen haben einen Anfang und ein Ende. Der Anfang schafft bereits die Rahmenbedingungen für die erzählte Welt, denn dra‐ maturgisch gesehen steht am Anfang die Exposition, in der Zeit und Ort der Handlung sowie die handelnden Figuren vorgestellt werden (vgl. Hartmann 2009). In der einfachen Abfolge einer Erzählung kommt es anschließend zu einem Konflikt, der in der Regel am Ende aufgelöst wird (vgl. Bildhauer 2007, S. 21 ff.; Eder 2007, S. 29 ff.; Krützen 2004, S. 98 ff.). Allerdings heißt erzählen in Film, Fernsehen und Video auch, sich von der chronologischen Abfolge von Ereignissen nach dem kausal-logischen Ursache-Wirkung-Prinzip zu verabschieden. Der Anfang eines Films muss nicht der Beginn der Handlung sein, sondern kann bereits aus der (im klassischen Sinn) Konfliktphase stammen. Gerade Filme mit komplexer Struktur, die auch nonlineare Erzählweisen verwenden, weichen im dra‐ maturgischen Aufbau von der einfachen Abfolge einer Erzählung ab (vgl. Bildhauer 2007, S. 79 ff.; Eckel 2012; Eick 2006, S. 67 ff., Elsaesser 2009; Runge 2008 sowie die Beiträge in Buckland 2009 und 2014). Das trifft <?page no="147"?> auch auf die komplexe dramaturgische Struktur von Fernsehserien zu (vgl. Dunleavy 2018; Mittell 2012, 2015; Rothemund 2013, S. 55 ff.; Schlütz 2016, S. 93 ff., die Beiträge in Newiak u.-a. 2021 sowie Kapitel-II.2.2). Damit eine Geschichte erzählt werden kann, muss es eine Erzählerin und eine Rezipientin geben, denn Erzählungen sind Mittel des kommunikativen Austausches. Diese Erzählerin muss nicht in Form einer Voice-over-Nar‐ ration (vgl. Kapitel II.4.5) aus dem Off vorhanden sein, sondern kann auch durch die Kamera repräsentiert sein, die eine Geschichte aus der Perspektive einer Figur erzählt und die Zuschauer: innen in diese Perspektive einbindet, wie z. B. in den Filmen »Die Truman Show«, »EXistenZ« und »Nomadland«. Beide Varianten können auch miteinander verknüpft sein wie in »Terminator 2 - Judgement Day«, wo einerseits Sarah Connor als Voice-over-Erzählerin agiert, der Film aber die Ereignisse vorwiegend aus der Sicht ihres Sohnes schildert (vgl. Kapitel III.1). Man kann daher bei Film- und Fernsehtexten zwischen einem direkten Erzähler unterscheiden, der als Voice-over-Stimme präsent ist und im Fall des Fernsehens auch als Kommentator: in oder Reporter: in im Bild erscheinen kann, und einem indirekten Erzähler, der über die Perspektivierung der Erzählung mittels Kamera und Montage eine Geschichte erzählt. In beiden Fällen kann es sich um eine auktoriale, allwissende Erzählerin handeln. Filmerzählungen sind oft multiperspektivisch. So weist die »Herr der Ringe«-Trilogie mehrere Er‐ zähler auf, direkte und indirekte. Als direkte Erzählerin fungiert keine hete‐ rodiegetische Erzähler: innenstimme, »die selbst nicht in der Handlungswelt der Erzählung auftaucht und in der dritten Person spricht« (Mikos u. a. 2007, S. 120), sondern mehrere homodiegetische Erzähler: innenstimmen, von Galadriel und Gandalf über Elron und Saruman bis hin zu Sam und Frodo. Hinzu kommt eine multiperspektivische indirekte Erzählweise (vgl. ebd., S. 122 ff.). In der Regel ist es jedoch nicht die Erzähler: in, sondern sind es die Figuren, die die Handlung vorantreiben und Konflikte lösen (vgl. Kapitel-II.3). In der Film- und Fernsehanalyse ist es wichtig, die Positionen der Erzähler: innen offenlegen zu können, weil über sie eine Perspektivierung der Geschichte stattfindet, durch die Inhalt und Repräsentation beeinflusst werden (vgl. auch Nowak 2021, S. 410ff.). Auch wenn keine offensichtliche Erzählinstanz in einem Film, einer Fernsehsendung oder einem Video vorhanden ist, kommuniziert der Film- oder Fernsehtext von einer be‐ stimmten Position aus. Im audiovisuellen Material manifestiert sich die Enunziation als Ort, von dem aus eine Erzählerin über die filmischen Mittel 2 Narration und Dramaturgie 147 <?page no="148"?> zu einer Zuschauerin spricht (vgl. Carroll 1988, S. 150 ff.; Eugeni 2015; Hayward 2017, S. 82 ff.; Metz 1997). Dabei können das Subjekt der Enunzi‐ ation als das »Ich«, das sich äußert, und das Subjekt im Film- oder Fern‐ sehtext auseinanderfallen. Die Analyse muss diese möglichen Differenzen erkennen, weil nur so die Verbindung von Filmen, Fernsehsendungen und Videos mit den gesellschaftlichen Diskursen herausgearbeitet werden kann. Dabei ist nicht nur bedeutend, welches Subjekt erzählt, sondern auch, wie es sich an die Zuschauer: innen wendet. Denn der Film ist durch eine »Verdoppelung der Äußerung« gekennzeichnet, er »erzählt uns von sich selbst (oder vom Kino) oder von der Position des Zuschauers« (Metz 1997, S. 10). Darüber hinaus muss in der Analyse zwischen der Erzählzeit und der erzählten Zeit unterschieden werden - Kuhn (2011, S. 195ff.) spricht von dargestellter Zeit und Darstellungszeit. Erstere bezieht sich auf die Darstel‐ lung der Geschichte (im Fall eines zweistündigen Films stellen diese zwei Stunden die Erzählzeit dar). Die in dem Film erzählte Geschichte kann sich jedoch über einen Zeitraum von ein paar Stunden bis zu Jahrhunderten erstrecken (dieser Zeitraum entspricht der erzählten Zeit). In der Regel sind Erzählzeit und erzählte Zeit nicht identisch. Eine grundlegende Eigenschaft von audiovisuellen Erzählungen ist, dass sie die erzählte Zeit in der Darstel‐ lung dehnen oder raffen können (vgl. auch Kuhn 2021, S. 247). Das trifft auf fiktionale und dokumentarische Formen des Erzählens gleichermaßen zu. Lediglich bei der Live-Berichterstattung im Fernsehen sind Erzählzeit und erzählte Zeit identisch. Im fiktionalen Bereich ist das eher die Ausnahme, wie in der Serie »24«, in der jede der 24 Folgen eine Stunde im Leben des Helden behandelt. Erzählzeit und erzählte Zeit sind auch identisch bei den Formaten des so genannten »Slow TV« (Puijk 2021) in Norwegen, in denen Strickwettbewerbe in Echtzeit gezeigt werden oder die Fahrt eines Schiffes der Hurtigruten entlang der norwegischen Küste. Im Kino gibt es auch Langsamkeit, z. B. in den Filmen des russischen Filmemachers Andrej Tarkovsky. Die »langsame Taktung« in diesen eher meditativen Filmen ermöglicht den Zuschauer: innen »eine intensive Erfahrung von Filmzeit« (Ueberfeldt 2020, S.-409). In seriellen Erzählungen erstreckt sich die Erzählzeit auf die Anzahl der Folgen, während die erzählte Zeit variieren kann. Gerade die horizontale Dramaturgie von Fernsehserien ermöglich eine Dehnung der erzählten Zeit, wie das in fast extremer Form in der Serie »The Walking Dead« passiert (vgl. Käding 2015, S. 54 ff.). Diese Dehnung, die durch den Einschub von 148 2 Narration und Dramaturgie <?page no="149"?> »tendenziell nebensächlichen Ereignissen und Zuständen« führt zu »einer verlangsamenden Ausführlichkeit«, die der Filmwissenschaftler Gregory Mohr (2018, S. 62) auch »Slow-Burn-Narration« nennt. In sogenannten Endlosserien wie der »Lindenstraße« ist zwar die erzählte Zeit nicht mit der Erzählzeit einer einzelnen Folge identisch, da aber jede Folge eine Woche aus dem Leben der »Lindenstraßen«-Bewohner erzählt und die einzelnen Folgen im wöchentlichen Rhythmus gesendet werden, korrespondiert die erzählte Zeit mit der Lebenszeit der Zuschauer: innen, die diese Serie seit ihrem Beginn im Jahr 1985 gesehen haben (vgl. Mikos 1994, S. 135 ff. und S. 235 ff.). In Daily Soaps wie »Gute Zeiten, schlechte Zeiten«, in denen zwischen der Ausstrahlung der einzelnen Episoden lediglich ein Tag ver‐ geht, erstreckt sich die erzählte Zeit in der Regel ebenfalls über einen Tag. Über dieses Erzählprinzip werden Serien und Daily Soaps mit den Le‐ bensrhythmen der Zuschauer: innen synchronisiert. Die komplex erzählten Serien des sogenannten amerikanischen Quality-TV passen sich nicht an die Lebensrhythmen der Zuschauer: innen an, sondern die Zuschauer: innen ver‐ suchen ihre Rezeptionsweisen der komplexen Struktur anzupassen, indem sie mehrere Episoden am Stück schauen. Diese sogenannte Binge-Watching wird dadurch befördert, dass Streaming-Plattformen wie Amazon Prime Video und Netflix komplette Staffeln von Serien gleichzeitig zur Verfügung stellen (vgl. zu den Aspekten des Binge-Watching Czichion 2019 sowie die Beiträge in Jenner 2021). Im Mittelpunkt der Analyse steht der dramaturgisch und ästhetisch gestaltete Prozess der Erzählung, der die Zuschauer: innen an das Geschehen auf der Leinwand oder den Bildschirm bindet. Er regt sie zu kognitiven und emotionalen Aktivitäten an (vgl. Schick 2021). Über ihn wird nicht nur das Filmverstehen, sondern auch das Filmerleben gesteuert. »Was Filme zeigen und darstellen wird vom Zuschauer in hohem Maße als Erzählung aufgefaßt, also unter entsprechenden Erwartungshaltungen erlebt und be‐ wußt gemacht« (Wuss 1999, S. 85). Generell wird davon ausgegangen, dass Erzählungen auf Informationsprozessen der Rezipient: innen aufbauen, die erst das Verstehen ermöglichen (vgl. Berger 1997, S. 12). Die kognitive Filmtheorie setzt hier an und beschreibt diese Prozesse aufseiten der Zuschauer: innen (vgl. Bordwell 1990, S. 30 ff.; Bordwell/ Thompson 2020, S. 87 ff.; Branigan 1992, S. 63 ff.; Carroll 1988, S. 147 ff.; Schick 2021; Wuss 1999, S. 85 ff.; Wuss 2020, S. 61ff). Einerseits müssen die Zuschauer: innen die Hinweise verstehen, die der Film, das Video oder die Fernsehsendung ihnen gibt, andererseits müssen sie daraus aber auch Hypothesen über den 2 Narration und Dramaturgie 149 <?page no="150"?> Fortgang der Handlung bilden und Schlüsse ziehen, die auf die Konstruktion einer Geschichte abzielen. Es wird daher davon ausgegangen, dass die Narration die Regelung und Verteilung von Wissen ist (vgl. Branigan 1992, S. 76), durch die die Zuschauer: innen in ihren Verstehensprozessen durch einen Film geleitet werden. »Indem er eine Filmerzählung versteht, benutzt ein Zuschauer kognitive Top-down- und Bottom-up-Prozesse um die Daten auf der Leinwand in eine Diegese - eine Welt - zu transformieren, die eine besondere Geschichte enthält oder eine Sequenz von Ereignissen« (ebd., S. 115). Die Zuschauer: innen wenden allgemeine Wissensschemata an (top-down) und verarbeiten die Informationen, die ihnen der Film- oder Fernsehtext bietet (bottom-up), um die Geschichte als eine erzählte Welt zu produzieren. In Bezug auf die Narration unterscheidet der amerikanische Filmwissen‐ schaftler David Bordwell (1992, S. 12 ff. und 2008, S. 88 f.) zwischen Schemata, die sich auf die Handlung beziehen, und solchen, die sich auf die Handlungs‐ träger: innen beziehen. Letztere lassen sich wiederum in Personen- und Rol‐ lenschemata differenzieren: Während in den einen personale Eigenschaften von Figuren repräsentiert sind, beziehen sich die anderen auf soziale Rollen wie Mutter, Mieter: in oder Kunde. Die kognitiven Aktivitäten der Zuschauer: innen verfolgen das Ziel, eine verständliche Geschichte zu konstruieren (vgl. Bordwell 1990, S. 33). Die Verarbeitung der filmischen Informationen bezieht sich nach Auffassung des Filmwissenschaftlers Peter Wuss (2020, S. 104 ff.) auf drei »narrative Basisstrukturen«, die in jedem Film in Wechselwirkung stehen - auch wenn in manchen Filmen eine einzelne Form dominant sein kann. Dabei handelt es sich (1) um Topikreihen, die auf wahrnehmungsgeleiteten Strukturen beruhen. Sie entsprechen der »kognitiven Invariantenbildung der Wahrnehmung« und werden »vom Rezipienten relativ unbewußt aufgenommen« (Wuss 1999, S. 57 f.). Offensichtlich für die Zuschauer sind (2) die Kausalketten, die auf konzeptgeleiteten Strukturen beruhen (vgl. Wuss 2020, S.-106ff). In ihnen zeigt sich das Ursache-Wirkung-Prin‐ zip, das häufig als Grundlage der Narration betrachtet wird, die aus einer Kette von kausalen Beziehungen zwischen Ereignissen und Perso‐ nen besteht (vgl. Casetti/ di Chio 1994, S. 165; Eder 2007, S. 5; Schwan 2001, S. 20 f.). Schließlich beziehen Zuschauer ihre Informationen aus (3) Story-Schemata, die auf stereotypengeleiteten Strukturen basieren. »Diese Basisstruktur beruht auf der Konventionalisierung umfangreicher 150 2 Narration und Dramaturgie <?page no="151"?> Handlungsabläufe, was daran erkennbar ist, dass diese nicht nur in einem einzigen Film vorkommen, sondern auf intertextueller Wiederholung des gleichen Ablaufmusters in zahlreichen Werken des Films bzw. benach‐ barter Künste beruhen« (Wuss 2020, S. 135). Dabei handelt es sich um Muster von Motiven, die bei den Zuschauern ein komplexes Geflecht psychischer Tätigkeiten auslösen, zu dem sowohl kognitive als auch emotionale Aktivitäten gehören (vgl. Wuss 1999, S. 60). Hier deutet sich an, dass Geschichten nicht nur auf Prozessen der Informationsverarbeitung beruhen, sondern auch auf emotionalen Aktivitäten der Zuschauer: innen sowie deren praktischem Sinn. Denn Emotionen spielen bei den genannten drei Basisformen des Erzählens eine Rolle. Ausgelöst werden sie vor allem durch dramaturgische Effekte. »Die affektauslösenden Einzelheiten werden vom Zuschauer mit Hilfe seiner Phantasie und Vorstellungskraft zum großen Teil sogar unbewußt in komplexere Zusammenhänge gestellt, die sowohl sinnvolle Verbindungen der Teile unterein‐ ander herstellen als auch assoziative Verbindungen zu seinen Bereichen des Bewußtseins und Unterbewußtseins herstellen« (Rabenalt 1999, S. 37). Die Dramaturgie bindet die Zuschauer: innen in ein Spiel mit Wissen und Emotionen ein, das sich in der Erzählzeit entfaltet. Für die Dauer eines Films, einer Videos oder einer Fernsehsendung können sich die Zuschauer: innen auf dieses Spiel einlassen, das die Grundlage des Filmverstehens und Filme‐ rlebens bildet. 2.1 Plot und Story II, Sujet und Fabel Da die erzählte Geschichte eines Films, eines Videos oder einer Fernseh‐ sendung erst mithilfe der kognitiven und emotionalen Aktivitäten der Zuschauer: innen entsteht, muss zwischen den narrativen und dramaturgi‐ schen Strukturen des Werkes und der Geschichte bzw. der Story unterschie‐ den werden. In der Film- und Fernsehanalyse müssen die Strukturen des Films, des Videos oder der Fernsehsendung herausgearbeitet werden, die zusammen mit dem Wissen, den Emotionen und dem praktischen Sinn der Zuschauer die Geschichte ergeben. Dazu bedarf es einer Unterscheidung zwischen Plot bzw. Sujet und Story bzw. Fabel. Die russischen Formalisten unterschieden eine Inhalts- und eine Ausdrucksebene in Erzählungen, die sie 2.1 Plot und Story II, Sujet und Fabel 151 <?page no="152"?> als Fabel und Sujet bezeichneten (vgl. Hartmann/ Wulff 1997, S. 80; Schmid 2014, S. 205 ff.). »Als ›Fabel‹ wird die zeitlich-lineare und kausal verknüpfte Kette von Ereignis‐ sen und handelnden Figuren bezeichnet. Die Fabel ist eine abstrakte, formale Struktur, die mit dem ›Geschichten-Wissen‹ des Zuschauers - seinem Wissen über die Handlungsschemata, -motive und Genres-- korrespondiert. Das ›Sujet‹ ist dagegen die Präsentation, Auswahl und Anordnung der Fabelereignisse im Film« (Hartmann/ Wulff 1997, S.-80). In der kognitiven Filmtheorie wurde diese Unterscheidung übernommen (vgl. Bordwell 1990, S. 48 ff.). Allerdings wurden die Begriffe »Sujet« und »Fabel« durch »Plot« und »Story« ersetzt. Der Begriff »Plot« dient zur Bezeichnung aller visuellen und auditiven Elemente, die der Film- oder Fernsehtext präsentiert (Bordwell/ Thompson 2020, S. 75). Mit anderen Worten: Der Plot beinhaltet alles, was auf der Leinwand oder dem Bildschirm zu sehen ist (vgl. Davis u. a. 2015, S. 251). Diese Definition ist allerdings unpräzise, denn sie berücksichtigt weder, dass es Elemente im Film- oder Fernsehtext geben kann, die nicht zur erzählten Welt gehören, noch, dass es auch um die Art der Darstellung, die ästhetische Inszenierung der Plotelemente geht. An anderer Stelle hat Bordwell (1990, S. 50) den Begriff präzisiert: »Das Sujet (gebräuchlich als ›Plot‹ übersetzt) ist das aktuelle Arrangement und die Präsentation der Fabel im Film. Es ist nicht der Text in toto«. Der Plot ist vielmehr ein System, in dem Elemente wie Ereignisse und Figuren nach bestimmten Prinzipien zusammengestellt werden. Neben den inhaltlichen, handlungsrelevanten Elementen sind dies aber auch die formalen, ästhetischen, d.-h., der Plot stellt nicht nur etwas vor, sondern auch etwas dar (vgl. Barker 2000, S. 53). Es geht also nicht nur um die Ereignisreihen und die Figuren, sondern auch um ihre Darstellungsweisen. In einigen filmwissenschaftlichen Arbeiten wird daher nicht vom Plot, sondern vom Diskurs gesprochen (vgl. Chatman 1993, S. 146 ff.; Neupert 1995, S. 16; Tolson 1996, S. 41 f.), während Bordwell (1990, S. 49 ff.) die ästhetischen Mittel als Stil bezeich‐ net und vom Plot trennt. Thomas Schick hat im Anschluss an Bordwell, Staiger und Thompson (2005) explizit darauf hingewiesen, dass die stilis‐ tischen Mittel des Films »möglichst ›unsichtbar‹ bleiben« sollen (Schick 2018, S.-135). Diese filmische Diskussion bezieht sich auf die ästhetische Darstellung der Aktivität des Erzählens und das Verhältnis zwischen Text und Publikum. Für die Analyse heißt das: Es sind die Situationen 152 2 Narration und Dramaturgie <?page no="153"?> und Ereignisse herauszuarbeiten, die miteinander verknüpft werden, die Personen und die Umgebungen, in denen diese Personen handeln. Dabei sind die ästhetischen Mittel der Gestaltung zu berücksichtigen, die funktional zum Plot und zur Story eingesetzt werden. In Bezug auf den Plot kann zwischen den Elementen unterschieden werden, die zur diegetischen, erzählten Welt des Film- oder Fernsehtextes gehören, und denen, die nicht dazugehören. So sind z.-B. die Credits eines Films nicht Teil der diegetischen Welt, sie gehören zu den Paratexten des Films (vgl. Böhnke 2007; Stanitzek 2006). Der Plot arrangiert die Ereignisse, Handlungen und Figuren eines Film- oder Fernsehtextes und steuert auf diese Weise den narrativen Prozess. »Eine Erzählung ohne einen Plot ist eine logische Unmöglichkeit« (Chatman 1993, S. 47). Während die Story einen kausal-logischen Zusammenhang ergibt, der sich in ihrer Kohärenz offenbart, muss der Plot die einzelnen Elemente nicht nach dem Ursache-Wirkung-Prinzip darstellen. Da kann in einer Szene zunächst die Wirkung gezeigt werden, bevor in einer späteren Szene die Ursache erscheint. Dieses Prinzip kann einen ganzen Film tragen wie in »Memento«, der die Ereignisse des Plots von der Gegenwart in die Vergangenheit ordnet. Der Film beginnt mit dem Schluss der Geschichte. Nach und nach deckt er zusammen mit dem Helden, der sein Kurzzeitge‐ dächtnis verloren hat, die Ursachen auf. Im Gegensatz zu einem Film, in dem die Geschichte auf die Zukunft (das Ende des Films) hin orientiert ist, kann die Zuschauerin hier keine Hypothesen über den Fortgang der Handlung entwerfen, sondern sie entwirft Hypothesen über die Ursachen von Wirkungen, die ihr der Plot präsentiert. Die Ordnung des Plots wird von der Dramaturgie geliefert. Sie bestimmt die Reihenfolge der präsentierten Ereignisse und legt fest, wann sogenannte Plotpoints der Handlung eine entscheidende Wendung geben, durch die die Figuren in ihrer Entwicklung entscheidend beeinflusst werden. Plotpoints sorgen für neue Perspektiven auf die Ereignisse und die Figuren (vgl. Eick 2006, S. 61 ff.) und sind besonders beliebt, um den Held: innen neue Hindernisse in den Weg zu legen oder am Ende des Films doch noch eine überraschende Lösung zu verheißen. So taucht beispielsweise in zahlreichen Western auf der Höhe des Konflikts zwischen weißen Siedlern und Ureinwohnern immer wieder ein Trupp der Armee auf, der Rettung in letzter Sekunde bringt. Die Unterscheidung zwischen Plot und Story ist wichtig, weil Geschich‐ ten auf verschiedene Arten erzählt werden, die verschiedene Möglichkei‐ ten der Publikumspartizipation erlauben (vgl. Tolson 1996, S. 42). Die 2.1 Plot und Story II, Sujet und Fabel 153 <?page no="154"?> Beteiligung des Publikums bringt erst die Story hervor, die aus den zum Plot gehörenden abgebildeten Ereignissen und den von den Zuschauer: in‐ nen aus den Hinweisen des Textes gefolgerten Ereignissen besteht (vgl. Thanouli 2015, S. 332). Das Publikum muss aktiv Zusammenhänge herstel‐ len, nur so kann sich die Erzählung in der Interaktion von Text und Zu‐ schauer: in realisieren (vgl. Branigan 1992, S. 76). Zwar bietet der Film- oder Fernsehtext Plotinformationen an, doch zum Verständnis der Geschichte bedarf es auch der Rekonstruktion von Ereignissen, die nicht selbst im Film zu sehen sind, aber wesentlich zur Geschichte gehören. Um die Geschichte von »Jurassic Park« verstehen zu können, ist es notwendig, zu rekonstruieren, dass Dinosaurier vor Jahrmillionen ausgestorben sind. Auf diesen Zusammenhang wird im Text zwar mittels Dialog kurz verwiesen, es ist aber nicht expliziter Bestandteil des Plots. Kurz: Zur Rekonstruktion der Geschichte eines Films oder einer Fernsehsendung gehört immer auch die sogenannte Vorgeschichte, die vor dem Beginn des Films, des Videos oder der Fernsehsendung liegt und die die Handlung motiviert. In »Der Herr der Ringe - Die Gefährten«, dem ersten Teil der Trilogie, beginnt die Erzählung mit einer Zusammenfassung der Vorgeschichte in Bildern und der direkten Voice-over-Erzählung von Galadriel. Die Zuschauer: innen werden so auf die folgende Erzählung eingestimmt und sind über den Rah‐ men der Ereignisse informiert. In der Rezeption des Films »Terminator 2 - Judgement Day« gehört dazu das Wissen um den Film »Terminator«. Nur so kann sich der Zuschauer die Reaktion von Sarah Connor auf den von Arnold Schwarzenegger gespielten Terminator erklären. Obwohl die Figur längst als Beschützer ihres Sohnes John eingeführt ist, empfindet Sarah bei der ersten Begegnung Angst. Das lässt sich nur nachvollziehen, wenn die Zuschauerin den ersten Film gesehen hat, in dem genau dieser Terminator der Bösewicht war. In der Rezeption von Fernsehserien wie »Breaking Bad« oder Daily Soaps wie »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« gehören alle bisher gesendeten Folgen zur Vorgeschichte, aus der heraus sich alle aktuellen Handlungen und Ereignisse begründen lassen. In der Regel muss man das nicht alles wissen, denn die einzelnen Episoden sind auch in sich verständlich. Bei den Folgen, auf die das nicht zutrifft, zeigt sich, wer eine Insiderin der Serie oder Daily Soap ist und wer nicht. Aufgrund des unterschiedlichen Wissens über die bisherigen Ereignisse in der Serie sieht jede Zuschauerin eine etwas andere Geschichte. In der Analyse kann z.-B. geklärt werden, welche unterschiedlichen Geschichten je nach Vorwissen und Kenntnis der Vorgeschichte rezipiert werden können. 154 2 Narration und Dramaturgie <?page no="155"?> Die Zuschauer: innen müssen die Elemente des Plots zu einer kohärenten (oder auch widersprüchlichen) Geschichte zusammenfügen. In diesem Sinn hat das Erzählen in Film, Video und Fernsehen nicht die Aufgabe, die Vorstel‐ lung der Rezipient: innen zu füllen, sondern ihnen zu zeigen, »wie sie bereits vorhandenes Wissen nutzen, eingrenzen und daraus selektieren können« (Meyer 1996, S. 126). Die Dramaturgie zielt darauf ab, im Plot Hinweise zu geben, aus und mit denen die Zuschauer: innen kognitiv und emotional die Geschichte produzieren (vgl. Bordwell 2008, S. 93; Eder 2007, S. 16 ff.; Schick 2021). Das spielt insbesondere dann eine Rolle, wenn es Auslassungen oder Leerstellen im Plot gibt. In der Filmwissenschaft spricht man in diesem Fall von einer elliptischen Erzählweise, die darin besteht, dass zwischen zwei Szenen, die durch einen Schnitt getrennt sind, Zeit vergangen ist (vgl. Kapitel II.4.3). Während der Plot gewissermaßen anhält, geht die Geschichte weiter. Es kommt zu einer narrativen Diskontinuität (vgl. Chatman 1993, S. 70 f.). Die Zuschauer: innen müssen nun die beiden Szenen mithilfe ihres Wissens, ihrer Emotionen und ihres praktischen Sinns so verknüpfen, dass sie im Rahmen der Geschichte Sinn ergeben. In »Pretty Woman« gibt es eine Szene, die deutlich macht, wie die Zuschauer: innen solche elliptischen Auslassungen mit ihren Vorstellungen füllen können. Nachdem der Broker Edward die Prostituierte Vivian in sein Hotel mitgenommen hat, verbringen sie dort den ersten Abend. Edward sitzt in einem Sessel. Vivian, die bereits nur noch ihre Dessous trägt, kniet vor ihm und öffnet nach und nach seine Kleidung. In den letzten Einstellungen der Szene ist zu sehen, wie sie mit ihrem Gesicht langsam am Körper von Edward hinuntergleitet (vgl. Abb. 2), der anschließend mit geschlossenen Augen den Kopf zurücklehnt. In der nächsten Einstellung wird Edward unter der Dusche gezeigt (vgl. Abb. 3). Aus dem Arrange‐ ment des Plots können die Zuschauer: innen schließen, dass die beiden Sex miteinander hatten - zu sehen war das aber nicht. Die amerikanische Filmwissenschaftlerin Jane Caputi (1991, S. 5) beschreibt diesen Teil des Plots in einem Aufsatz folgendermaßen: »… als sie über ihn kriecht, um Fellatio auszuüben«. Der Plot bietet nichts dergleichen. Die Filmwissenschaftlerin hat vielmehr die Leerstelle, die durch die elliptische Erzählung entstanden ist, mit ihrem Wissen zu einer Geschichte verbunden. 2.1 Plot und Story II, Sujet und Fabel 155 <?page no="156"?> Abb. 2 und 3: »Pretty Woman« Die Geschichte basiert auf Annahmen und Schlussfolgerungen, die der Film- oder Fernsehtext dem Publikum nahelegt. In der Analyse kann man nun alle Verknüpfungen von Szenen aufsuchen und herausarbeiten, was in der Zwischenzeit passiert sein muss, damit eine kohärente Geschichte entsteht. Dazu kann ein Szenenprotokoll (vgl. Kapitel I.3.2.1) hilfreich sein. Generell muss in der Analyse herausgearbeitet werden, mit welchen Elementen des Plots in Verbindung mit welchen ästhetischen Darstellungsmitteln welche kognitiven und emotionalen Aktivitäten der Zuschauer: innen angeregt werden. Dabei ist besonders darauf zu achten, wie der Film- oder Fernsehtext Wissen bei den Zuschauer: innen aufbaut. Sie müssen die Elemente des Plots in einen meist chronologischen Zusammenhang stellen, bei dem die gezeig‐ ten Ereignisse in einer Kausalkette als Ursache und Wirkung miteinander verbunden werden, und zwar im Rahmen einer gegebenen Zeit und eines gegebenen Raumes (vgl. Bordwell 1990, S. 49). In »Inglourious Basterds« werden die einzelnen Kapitel des Films »als unabhängige Episoden erzählt« (Fahmüller 2014, S. 179). Zwischen den Kapiteln gibt es Auslassungen. Die elliptische Struktur des Films zwingt die Zuschauer: innen zur Mitarbeit. Das ist umso bedeutender, je mehr Diskontinuitäten die Narration aufweist, wie es bei Filmen mit klarer episodischer Struktur wie »Short Cuts« der Fall ist. Dazu muss die Analyse zeigen, wie und wann der Film- oder Fernsehtext welche Informationen den Zuschauer: innen preisgibt. Solche Überlegungen sind besonders bei Filmen wichtig, die ihren Plot nicht chro‐ nologisch angeordnet haben. »Pulp Fiction« ist so ein Film: vordergründig ein Episodenfilm, in dem mehrere Plots miteinander verwoben werden. Der Film beginnt in einem Fast-Food-Restaurant, in dem eine junges Paar einen Überfall begeht. Nach einem Schnitt sieht man zwei Profikillern bei der Arbeit zu. Weitere Episoden folgen. In der Schlusssequenz betreten die 156 2 Narration und Dramaturgie <?page no="157"?> beiden Killer nach getaner Arbeit genau jenes Fast-Food-Restaurant, in dem das Paar aus der Eingangssequenz gerade seinen Überfall startet. Den erlebt das Publikum nun aber nicht mehr aus der Sicht des Paares, sondern aus der Perspektive der beiden Killer. Die Szene erhält so eine andere Bedeutung - die Karten sind so zu sagen neu gemischt. Der Überfall erscheint in einem anderen Licht, denn das Publikum weiß inzwischen um die Gefährlichkeit der beiden Killer. Tarantino hat den Plot zudem so geschickt gewoben, dass der Beginn des Films zugleich das Ende ist und das Ende zugleich der Beginn. Nun fügt das Publikum die Informationen der einzelnen Episoden zusammen, und es entsteht die Geschichte im Kopf der Zuschauer. »Man prüft Zug um Zug und stellt fest, daß alles stimmt: die Chronologie und ihre Aufsplitterung in Episoden, die doch miteinander ein Ganzes bilden. Dieses Ganze entsteht im Kopf des Publikums. Es ist nicht einfach da. Es will gebildet sein. Ein narrativer Zusammenhang existiert nirgendwo als in den Köpfen des Publikums« (Knauss 1995, S. 158). Die Analyse von »Pulp Fiction« zeigt, dass die Zeitstruktur des Films einen Zeitraum von vier Tagen umfasst. Die Chronologie ist aber durch die verschiedenen Episoden unterbrochen. Man kann den Film unterteilen in einen Prolog und einen Epilog sowie drei Episoden, die durch Schrifttafeln angekündigt werden (»Vincent Vega und Marsellus Wallace‘ Frau«, »Die goldene Uhr« und »Die Bonnie-Situation«). Epilog und Prolog geben den Zuschauer: innen Informationen über den ersten Tag. Dabei setzt der Epilog zeitlich vor dem Prolog an. Es dauert eine Weile, bis die Zuschauer: innen erkennen, dass sie wieder die Szene im Fast-Food-Restaurant aus dem Prolog vor sich haben - dass sie diese Szene aber aus der Perspektive der beiden Gangster Jules und Vincent erleben. Der erste Tag wird im Prolog, in der dritten Episode und im Epilog erzählt, immer aus der Sicht eines anderen Protagonisten. Die zweite Episode entspricht dem zweiten Tag, die dritte Episode dem ersten. Damit hat sich der Kreis geschlossen, die Kreisstruktur (vgl. Eick 2006, S. 69) hat sich vollendet. Das Gefühl, trotz der Verschachtelung des Plots und dem zunächst über‐ raschenden Eindruck, am Ende des Films wieder am Anfang zu sein, einer fortlaufenden Geschichte beizuwohnen, resultiert im Wesentlichen daraus, dass der Plot innerhalb der einzelnen Episoden chronologisch angeordnet ist. Es werden verschiedene Geschichten von Paarkonstellationen gezeigt, von Honey Bunny und Pumpkin, von Jules und Vincent, von Mia und Vincent sowie von Butch und Marsellus Wallace. Zugleich werden die ein‐ 2.1 Plot und Story II, Sujet und Fabel 157 <?page no="158"?> zelnen Episoden, in denen jeweils eine Paarbeziehung im Mittelpunkt steht, so miteinander verwoben, dass in ihnen die Paare aus anderen Episoden bereits auftreten oder wieder erscheinen, je nachdem, ob die andere Episode vor oder nach der gerade erzählten liegt. In der Episode von Vincent und Mia werden Butch und Marsellus Wallace eingeführt. Zugleich entwickelt sich die Episode aus dem Besuch von Jules und Vincent in der Bar, in die sie mit Boxershorts kommen. Den Grund dafür erfahren die Zuschauer aber erst in der dritten Episode. In der zweiten Episode taucht Vincent am Boxring auf und spricht mit Mia, die sich bei ihm für den gemeinsamen Abend bedankt. Daraus wird deutlich, dass diese Episode zeitlich nach der Vincent-und-Mia-Episode angesiedelt ist. In der dritten Episode werden die Zuschauer zeitlich wieder zurückversetzt und erleben einen Teil des Prologs aus einer anderen Perspektive, nämlich aus der Sicht eines Jungen, der von einem Nebenraum aus die Erschießung seiner Kumpel durch die Killer beobachtet. Die Plotstruktur zu Beginn der dritten Episode hat eine bestimmte Funktion: »Die Narration führt die Erzählung des Tag 1 fort und repetiert eine bereits gezeigte Szene, um dem Zuschauer den Sprung zurück auf der Zeitachse klar zu machen. Dadurch ermöglicht die Narration, daß ein Charakter (Vincent), der in der Mitte des Films erschossen wurde, am Ende des Films wieder auftaucht« (Nagel 1997, S. 98). Diese Funktion muss sich den Zuschauer: innen aber erst erschließen, indem sie die Teile des Plot-Puzzles zusammenfügen. Die Konstruktion des Plots in »Pulp Fiction« erfordert von den Zuschauer: innen mehr aktive Mitarbeit, um die Geschichte im Kopf zu bilden, als viele in einfacher Chronologie erzählte Filme. Es wird auch deutlich, wie eine solche Erzählweise das für die Zuschauer: innen aufgebaute Wissen immer wieder scheinbar infrage stellt und dadurch irritierend wirkt. Sie müssen sich permanent über das bisher vom Film aufgebaute Wissen bewusstwerden, um die Geschichte als eine einigermaßen kohärente entwickeln zu können. Thomas Elsaesser (2009) hat für diese Art von Filmen den Begriff »Mindgame-Movies« geprägt. Warren Buckland nennt sie »Puzzle-Filme« (vgl. die Beiträge in Buckland 2009 und 2014). Ähnlich kunstvoll geht es in vielen Serien zu, in denen verschiedene Handlungsstränge miteinander verwoben sind (vgl. Dunleavy 2018; Mittell 2012 und 2015). Die handelnden Figuren aus dem einen Handlungsstrang wissen möglicherweise nichts von denen in einem anderen, nur das Publi‐ 158 2 Narration und Dramaturgie <?page no="159"?> kum weiß davon und fügt die einzelnen Elemente zu seiner Geschichte der Serie zusammen. Das heißt auch, dass je nach Fähigkeiten und Wissen unterschiedliche Geschichten im Kopf entstehen. So sind die Geschichten von Kindern andere als die von Erwachsenen - nicht, weil Kinder weniger Wissen hätten, sondern weil das Wissen bei ihnen anders organisiert ist. In einem Alter, in dem Kinder noch nicht abstrakt denken können und alles auf ihre persönlichen Lebensumstände beziehen, wird die Geschichte in ihrem Kopf anders aussehen, als wenn sie abstraktes Denken bereits gelernt hätten. Für die Entwicklung der Geschichte im Kopf ist es wichtig, welche hand‐ lungsleitenden Themen ein Plot anbietet. Handlungsleitende Themen sind solche, die sich »auf die ganze Lebenssituation einer Person« beziehen, »auf ihre Bedürfnisse, Ressourcen und die situativen Widerstände in einem be‐ stimmten Lebensabschnitt« (Charlton/ Neumann 1986, S. 31). Diese Themen können z.-B. sozialisationsbedingt sein, sie können aber auch aus aktuellen sozialen Befindlichkeiten resultieren. Wer gerade eine Trennungserfahrung gemacht hat, wird das entsprechende Thema auch in medialen Texten finden und eine andere Geschichte der Film- oder Fernseherzählung entwickeln als jemand, der diese Erfahrung gerade nicht gemacht hat. Gerade bei Medientexten, die bei Kindern und Jugendlichen populär sind, ist es wichtig, die handlungsleitenden Themen herauszuarbeiten. Groß und stark werden, Geschlechtsrollen entwickeln, Ablösung vom Elternhaus oder die erste Liebe sind allgemeine Themen, die für Kinder und Jugendliche handlungsleitend sein können. Daneben können es aber auch wiederkeh‐ rende alltägliche Konflikte sein, z. B. die Auseinandersetzung über die Unordnung im eigenen Zimmer. In »Terminator 2 - Judgement Day« wird der junge John Connor von seinem Pflegevater angehalten, endlich das Zimmer aufzuräumen, nachdem dessen Ehefrau um sein autoritäres Ein‐ greifen gebeten hatte. Über diese Szene wird den jungen Zuschauer: innen ein Hinweis gegeben, wie sie die Figur John Connor über ihre eigenen Alltagserfahrungen in eine kohärente Geschichte einbauen können (vgl. Kapitel III.1). Eine ähnliche Szene findet sich in »Arielle, die Meerjungfrau«. Dort wird Arielle von ihrem Vater gescholten, weil sie in ihrem Wohnbereich allerlei Dinge der Menschen sammelt, was er ihr von nun an lautstark verbietet. Auf diese Weise korrespondieren einzelne Szenen mit alltäglichen Erfahrungen der jungen Zuschauer: innen, die aufgrund dieser Erfahrungen in der Lage sind, aus dem Plot die Geschichte zu konstruieren. 2.1 Plot und Story II, Sujet und Fabel 159 <?page no="160"?> Das bezieht sich jedoch nicht nur auf einzelne Szenen, sondern auch auf Plotstrukturen ganzer Filme. »Das Schweigen der Lämmer« ist unter ande‐ rem deshalb für Jugendliche interessant, weil hier das handlungsleitende Thema der Ausbildungssituation und des Bestehens von Prüfungen eine wichtige Rolle spielt. Die junge FBI-Agentin Clarice Starling befindet sich noch in der Ausbildung und muss sich nun bei der Lösung eines Falles bewähren. In der Analyse ist es wichtig, solche handlungsleitenden Themen herauszuarbeiten. Sie müssen nicht immer wesentlicher Bestandteil der Geschichte sein, können aber für die Geschichte im Kopf eine zentrale Rolle spielen. Jeder Film kann mehrere Geschichten erzählen, weil sich die Zu‐ schauer: innen an unterschiedlichen Stellen mit ihren eigenen Geschichten in die Film- oder Fernsehtexte einklinken können. 2.2 Horizontale und vertikale Dramaturgie in Fernsehserien Fernsehserien sind ein wichtiger Bestandteil des Fernsehprogramms. Ihre Erzählmuster folgen eigenen Kriterien und Gesetzen, die sich von denen der Filme unterscheiden. Zwar werden auch in ihnen Geschichten erzählt, aber auf eine andere Art und Weise als im Film. Serien (serials) gelten als besondere mediale Form, in denen eine offene, zukunftsorientierte Geschichte erzählt wird. Die Charaktere entwickeln sich über die Zeit weiter, mehrere Handlungsstränge werden miteinander verwoben. »Dallas« und »Denver-Clan« galten in den 1980er Jahren als prototypische Beispiele solcher Serien im Abendprogramm. Der Filmwissenschaftler Michael Wedel (2012, S. 26) hat zu diesen beiden Serien angemerkt: »Gleich auf mehreren Ebenen markieren sie eine entscheidende Zäsur im televi‐ suellen Serienverständnis. Ihre episch mäandernden, tendenziell ins Unendliche gerichteten Erzählungen erreichten eine zuvor nicht für möglich gehaltene Komplexität.« Reihen (series) erzählen mit immer dem gleichen Personal in sich abge‐ schlossene Geschichten pro Folge. »Derrick« und »Tatort« können hier als Beispiele dienen. Mehrteiler oder Mini-Series hingegen erzählen eine abgeschlossene Geschichte über zwei bis zwölf Folgen hinweg. In den Telenovelas konnte dies auch 150 oder mehr Folgen dauern (vgl. auch Rothemund 2013, S. 16 ff.). In den 1990er Jahren kam es zu einer Vermischung der Formen, seitdem ist von sogenannten flexi-narratives (Nelson 1997, 160 2 Narration und Dramaturgie <?page no="161"?> S. 30 ff.) oder von hybriden Serienformen (vgl. Creeber 2004, S. 11) die Rede. Serien- und Reihenelemente (im angloamerikanischen Raum steht serial für Serie und series für Reihe) vermischen sich. Mit dem Begriff flexi-nar‐ rative wird ein »Mix vieler Narrationsebenen und eine Kombination von Formatformen« bezeichnet (Piepiorka 2011, S. 47). In den klassischen Reihen entwickeln sich die Charaktere zunehmend über mehrere Folgen hinweg, während in den Serien zunehmend auch abgeschlossene Handlungsstränge vorkommen. In »Um Himmels Willen« gibt es einen Handlungsbogen, der sich über alle Folgen einer Staffel zieht: Meistens geht es um Bürgermeister Wöllers Plan für eine alternative Verwendung des Klosters mit Schwester Hanna als seine Antagonistin. Zugleich werden in jeder Staffelfolge einzelne Geschichten abgeschlossen, z. B. die Hilfe der Nonnen bei Konflikten von Nebenfiguren. In der Serie dominiert die episodische Struktur. Mit der Vermischung von Formen ist eine klare Definition von Serien schwieriger geworden. Unter Einbeziehung serieller Erzählungen in ver‐ schiedenen Medien hat Christine Mielke folgende Definition vorgeschlagen: »Hauptkennzeichen der zyklisch-seriellen Erzählformen im weitesten Sinne ist die Zusammengehörigkeit mehrerer Erzählungen oder Erzähleinheiten in einem real oder fiktional erkennbar gerahmten Modus, sei es durch eine Programm‐ struktur oder durch die Kommunikationsakte eines fiktionalen bis (massen-)me‐ dial vereinten Publikums« (Mielke 2006, S. 2). Im Zusammenhang mit Fernsehserien wurde bisher wie oben beschrieben zwischen Serie (serial), Reihe (series) und Mehrteiler oder Mini-Serie unter‐ schieden, wobei die lateinamerikanische Variante seriellen Erzählens, die Telenovela, eine Sonderform darstellte. Doch diese Unterscheidungen sind inzwischen nicht mehr so klar zu treffen. Die Medienwissenschaftler Tanja Weber und Christian Junklewitz schlagen deshalb vor dem Hintergrund multimedialer Medienumgebungen eine »Minimaldefinition« vor, die den Kern des televisuellen, seriellen Erzählens treffen soll: »Eine Serie besteht aus zwei oder mehr Teilen, die durch eine gemeinsame Idee, ein Thema oder ein Konzept zusammengehalten werden und in allen Medien vorkommen können« (Weber/ Junklewitz 2008, S. 18). Von dieser allgemeinen Definition ausgehend, schlagen sie weitere Diffe‐ renzierungen vor, z. B. die in fiktional und nonfiktional. Neben Formen wie der Daily Soap (z. B. »Gute Zeiten, schlechte Zeiten«) und der Tele‐ novela (z. B. »Verliebt in Berlin«) kann man im Zusammenhang mit Fern‐ 2.2 Horizontale und vertikale Dramaturgie in Fernsehserien 161 <?page no="162"?> sehserien zwischen Episodenserien (series) und Fortsetzungsserien (serials) unterscheiden, auch wenn es immer mehr Mischformen gibt. Diese Unter‐ scheidung ist wichtig, weil sie für die Dramaturgie einer Serie bedeutsam ist. In Episodenserien ist eine vertikale Dramaturgie dominant, in der die »Geschichte innerhalb einer Folge zu Ende geführt wird« (Lang/ Dreher 2013, S. 78). In Fortsetzungsserien ist dagegen eine horizontale Dramaturgie zu beobachten: »Hier gibt es längere erzählerische Bögen, die sich über zwei oder mehrere Folgen oder auch über eine ganze Staffel und darüber hinaus ziehen« (ebd.). In der vertikalen Dramaturgie geht es darum, dass die Hauptfiguren einer Serie wie »Criminal Minds«, »Navy CIS« oder »Ein starkes Team« eine klare Aufgabe, ein konkretes Ziel haben, auf das sie hinarbeiten, z. B. einen Mörder zu fassen oder eine Entführung zu beenden. In horizontal aufgebauten Serien wie »Breaking Bad«, »Bridgerton«, »Game of Thrones« oder »24« ziehen sich ein oder mehrere Handlungsstränge über eine komplette Staffel oder gar darüber hinaus über die gesamte Serie (vgl. auch Smith 2018, S. 51ff.). Dabei können einzelne Charaktere oder aber ein Ensemble von Figuren im Mittelpunkt der staffelübergreifenden Handlungsbögen stehen. Seit der Jahrtausendwende hat die horizontale Dramaturgie als Erzähl‐ weise in Serien zunehmend an Bedeutung gewonnen. Darüber hinaus erweist sich die Serie »als eine Möglichkeit des Fernsehens, Erzählstrategien der neuen Medien wie beispielsweise hypertextuelle Strukturen, Speicherung und Wiederholung von Informationen etc. zu televisuellen Erzählstrategien umzufunktionieren und dadurch eine Komplexität des Erzählens zu erreichen, die gerade im Medium Fernsehen selbst begründet ist-…« (Rothemund 2013, S. 44). Das trifft auch auf den Vertrieb von Fernsehserien zu. Die Online-Plattform Netflix hat als erste mit »House of Cards« eine Serie produziert, von der alle 13 Folgen zeitgleich auf der Plattform veröffentlicht wurden. Die Zuschauer: innen mussten also nicht wie im Fernsehen eine Woche auf die nächste Folge warten, sondern konnten alle Folgen direkt nacheinander gucken (vgl. Kozak/ Zeller-Jacques 2021). Diese Art der Verbreitung von Fernsehserien wirkt sich auch auf die Erzählweise aus. Die vom amerikanischen Pay-TV-Sender HBO produzierte Mafiaserie »Die Sopranos« gilt als die erste komplex erzählte neuere amerikanische Fernsehserie. Auf der Veranstaltung »TV Drama Vision« des Nordic Film Market während des Internationalen Filmfestivals in Göteborg im Februar 162 2 Narration und Dramaturgie <?page no="163"?> 2012 sagte David Madden, Präsident des amerikanischen Fernsehstudios Fox: »Die ›Sopranos‹ haben das Fernsehen verändert. Die Erzählweise von Serien ist eine andere geworden.« Diese Aussage macht mehr als deutlich, wie sehr sich die Landschaft der Fernsehserien, vor allem der Dramaserien, in den USA verändert hat. Der Medienwissenschaftler Stefan Borsos (2021) hat allerdings darauf hingewiesen, dass komplexe Erzählweisen bereits im US-Fernsehen der 1950er, 1960er und 1970er Jahre eine große Rolle spielten. Mit den »Sopranos« wurde die Hybridität der Serienformen auf die Spitze getrieben und die Produktion von Primetime-Serien nachhaltig beeinflusst. In der Serie werden Strukturen des Gangsterfilms, der Soap-Opera, der Sitcom, der Familienserie und der Psychotherapie im Film verarbeitet (vgl. Winter 2011, S. 163 f.). »[D]urch Anknüpfung und Verwendung verschiedener thematischer Strukturen [entsteht] ein vielschichtiges fiktionales Universum, in dem immer wieder neue Geschichten entwickelt werden, Charaktere sich verändern und neue Situationen entstehen« (ebd., S. 164). Die Erzählung ist so gebaut, dass potenziell auch immer wieder neue Cha‐ raktere eingebaut werden können (vgl. Polan 2009, S. 40). In jeder einzelnen Episode der »Sopranos« gibt es mindestens vier Handlungsstränge, von denen zwei gleichberechtigt sind und jeweils einen Konflikt aufbauen. »Der dritte Strang (C-Strang) kann einen Wesenszug einer Figur erzählen, der in den darauffolgenden Episoden in einem der A- oder B-Stränge zum Tragen kommt. […] In manchen Episoden gibt es auch einen vierten, den sogenannten D-Strang, der komödiantisch zur Auflockerung eingebaut ist« (Kraus 2011, S. 37). Da es zwei gleichberechtigte Handlungsstränge gibt, kann die Spannung anders als in klassischen Serien, in denen ein Handlungsstrang dominiert, verteilt werden und führt so zu einer Verdichtung der Erzählung. Die Handlung ist für die einzelnen Folgen zentral, denn Konflikte werden innerhalb einer Episode aufgebaut und beendet. Was die Serie vorantreibt, sind die Charaktere, ihre Routinen und ihre Entwicklung. »Auf der Grund‐ lage der physischen und psychischen Konstruktion der Figuren entstehen die Konfliktlinien« (ebd.). Die Charaktere sind nicht einfach gestrickt, sondern sehr komplex und voller Widersprüche. Da sie eng an die Handlung gebunden sind, führt das zu einer äußerst komplexen Erzählweise, die die Mitarbeit der Zuschauer: innen bei der Geschichte herausfordert. Das gilt für jede einzelne Folge wie für die gesamte Serie. »Der Zuschauer muss 2.2 Horizontale und vertikale Dramaturgie in Fernsehserien 163 <?page no="164"?> also die Verbindungen zwischen dem Geschehen der einzelnen Episode und dem umfassenderen fiktionalen Universum erkennen und aktiv Bezüge herstellen« (Winter 2011, S. 165). Diese Aktivierung der Zuschauer: innen ist zu Beginn des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts nicht mehr nur für US-Serien typisch, sondern hat sich auch für Serien aus anderen Regionen der Welt etabliert, die vor allem auf Streaming-Plattformen zu sehen sind. Daher streben sie auch nach wiederholtem Konsum, z. B. auf Blu-Ray oder per Video-on-Demand. Auf diese Weise können die Zuschauer: innen immer wieder Neues entdecken. Prototypisch für eine Rätselserie ist sicher »Lost«, eine Serie, die auch in der deutschen Medien- und Kommunikationswissenschaft große Auf‐ merksamkeit erregt hat. Hier werden bis zu zehn Handlungsstränge pro Episode erzählt. Wie in den »Sopranos« stehen auch hier die Charaktere im Mittelpunkt. Ihre Geschichte nach dem Flugzeugabsturz auf der Insel wird bis zum Ende der dritten Staffel mit Rückblenden angereichert, ab dann kommen auch Vorausblenden hinzu. Es gibt also drei Zeitebenen für das Ensemble von Figuren. Das führt zu großer Komplexität der Charaktere (vgl. Piepiorka 2011, S. 62 ff.). Die Zuschauer müssen mit den Ungereimtheiten zwischen den Ebenen leben oder können versuchen, diese im Austausch mit anderen Zuschauer: innen zu lösen. Ein wesentliches Merkmal der Serie ist das Vorenthalten von Informationen: »›Lost‹ erzählt zwar eine komplexe Geschichte, doch bleibt sie in erster Linie auch deshalb so mysteriös, weil kontinuierlich Informationen zurückgehalten werden, also komplex erzählt wird, und weil viele Mechanismen des dargestellten Universums nur angedeutet werden, das dargestellte Universum also selbst als komplex und letztendlich nicht vollständig durchschaubar modelliert wird« (Schmöller 2011, S. 38). Man kann diesen Umstand auch anders sehen. Da die Zuschauer: innen genauso viel oder wenig wissen wie die Figuren, bekommt die Serie einen mysteriösen Charakter. Bis zum Ende werden nicht alle Mysterien geklärt. Die Konflikte der Handlungsstränge werden auch nicht in einer Episode gelöst, sondern erstrecken sich über mehrere Episoden hinweg. »Manche reichen nicht nur über mehrere Episoden, sie reichen sogar bis in die nächste Staffel. Das rührt daher, dass die Handlungsstränge aussetzen, zurückgestellt werden und viel später erst wieder aufgegriffen und weitergeführt 164 2 Narration und Dramaturgie <?page no="165"?> werden. Viele narrative Stränge laufen ins Leere und bleiben offen« (Ziegenhagen 2009, S. 36). Dadurch entstehen »Konfusionen der Handlungsebenen« (Piepiorka 2011, S. 74). Hinzu kommen durch die Flashbacks und Flashforwards Konfusionen auf der Zeitebene (vgl. ebd., S. 88 ff.). Die Serie stellt damit eine große Herausforderung für die Zuschauer: innen dar. Eine andere Serie, die mit einer komplexen Erzählung aufwartet, ist »Breaking Bad«. Auch diese Serie lässt sich als eine neue Form der Hybrid‐ serien sehen. »[›Breaking Bad‹] lebt davon, dass verschiedene Genres virtuos gegeneinander gesetzt werden: Crime Drama gegen Komödie, psychologischer Realismus gegen postmoderne Comic-Ästhetik, handwerkliche Perfektion gegen Trash« (Lang/ Dreher 2013, S. 39). Die Serie hat einen eigenen visuellen Stil, der sich eher am Kino als am Fernsehen orientiert. In der Behandlung der Figuren und der Verbindung verschiedener serientypischer Erzählweisen, reflektiert sie jedoch vor allem das Fernsehspezifische. Im Kino wäre diese Geschichte um einen krebskran‐ ken Lehrer, der zum Drogenhersteller wird, nicht in der gleichen epischen Breite und der den Fernsehserien eigenen Komplexität zu erzählen gewesen. Nach Auffassung von Christine Lang und Christoph Dreher lebt die Serie vor allem von einer starken impliziten Dramaturgie, die sich im visuellen Stil und der Ambivalenz der sich in amerikanischen Mythen verstrickenden Figuren zeigt. Neben der komplexen Erzählweise stechen die neueren US-amerikani‐ schen Serien durch ihre Ästhetik heraus. Die Szenen sind filmisch aufgelöst. Die Serien zeichnen sich durch visuellen Reichtum und ästhetische Dichte aus. Sie sind in der Regel ebenso dynamisch wie punktgenau geschnitten. Eine Serie wie »Mad Men« orientiert sich in der Ausstattung und visuell an den 1960er Jahren, bleibt dabei auf der ästhetischen Ebene historisch genau und kann so auch an nostalgische Emotionen der Zuschauer anknüpfen. In der Serie »24« z. B. werden eine Vielzahl von narrativen und ästhetischen Spannungselementen (Parallelmontage, Splitscreen) eingesetzt, sodass eine äußerst spannende, dichte Erzählung entsteht (vgl. Kapitel III.6). Die nar‐ rative Komplexität wird durch den visuellen Stil und die ästhetischen Gestaltungsmittel unterstützt. Die visuelle Opulenz zeigt sich besonders in Fernsehserien, die Fantasy-Elemente enthalten (z. B. »Game of Thrones«), 2.2 Horizontale und vertikale Dramaturgie in Fernsehserien 165 <?page no="166"?> historische Stoffe verarbeiten (z. B. »Borgia«) oder in spezifischen histori‐ schen Zeiten spielen (z.-B. »Boardwalk Empire« oder »Bridgerton«). Die komplexen Erzählstrukturen der neuen amerikanischen Serien setzen sich aus einer Vielfalt von Faktoren zusammen. Neben der Dominanz der horizontalen Dramaturgie mit ihren über mehrere Folgen oder gar Staf‐ feln hinweg reichenden Erzählbögen sind es besonders ausgefeilte ebenso komplexe wie ambivalente Figuren sowie Nonlinearität, eine prinzipielle Offenheit und Kontingenz der Erzählung sowie die Kollision bzw. Konfron‐ tation von Handlungssträngen (vgl. Mittell 2015, S. 17 ff.; Piepiorka 2017; Rothemund 2013, S. 71 ff.). So werden z. B. in »Breaking Bad« zwei parallele Handlungsstränge gegeneinandergesetzt: die Familiengeschichte auf der einen Seite und die »Drogen-Gangster-Geschichte« auf der anderen Seite (Lang/ Dreher 2013, S. 72). Allerdings erreichen diese komplexen Serien vor allem Zuschauer: innen, die sich auf diese Komplexität einlassen. Denn: »Die vielen fortlaufenden Handlungsbögen erschweren das Verständnis bei spä‐ terem Einstieg und erfordern im Prinzip eine lückenlose Rezeption« (ebd., S. 78). Doch es gibt weiterhin auch zahlreiche Serien, die ihre Geschichten in einer Episode im Sinne der vertikalen Dramaturgie zu Ende führen und auf ambivalente Figuren sowie Diversität und Komplexität der Mittel verzichten. In der Analyse kann herausgearbeitet werden, welche Handlungsstränge zu einem übergeordneten, horizontalen Handlungsbogen gehören und wel‐ che vertikal lediglich zu einer oder zwei Episoden gehören. Außerdem können die Haupt- und Nebenfiguren den einzelnen Handlungssträngen zugeordnet werden. Auf diese Weise kann man sehen, wie die verschiede‐ nen Handlungsstränge miteinander verwoben sind und welche komplexen Erzählmuster der Serie zugrunde liegen. So kann auch geklärt werden, um welche Art von Fernsehserie es sich handelt. 2.3 Spannung und Suspense Spannung und Suspense sind Wirkungsformen der Dramaturgie, die auf der Verteilung von Wissen und der Aktivierung von Emotionen durch den Plot beruhen. Die Narration eines Films oder einer Fernsehsendung regt die Zu‐ schauer: innen zu zwei Fragen an: Was passiert als Nächstes? Und: Wie wird das alles enden? Damit ist eine grundlegende gespannte Erwartungshaltung auf die Abfolge der Ereignisketten und das Ende des Films gegeben. Sie 166 2 Narration und Dramaturgie <?page no="167"?> ist daher auch »als Folge einer Problemsituation aufzufassen« (Wuss 1999, S. 324; H.i.O.), und sie ist das Ergebnis der Film- und Fernsehsozialisation, wie sie sich im Wissen um narrative Muster zeigt (vgl. Ohler 1994, S. 34 f.; Kapitel I.1.1). Die Exposition des Plots macht die Zuschauer: innen bereits neugierig auf den Konflikt, denn aufgrund ihres narrativen Wissens werden sie im Rahmen von Genrefilmen bestimmte Konflikte erwarten, oder sie werden mithilfe von wahrnehmungsgeleiteten Topikreihen unbewusst auf einen Konflikt hingeführt. Zugleich können sie Erwartungen in Bezug auf die Lösung der problematischen Ausgangssituation und des Konflikts gene‐ rieren. Diese gespannte Erwartung, die auch als Neugier auf den Fortgang der Handlung und das Ende des Films, des Videos oder der Fernsehsendung begriffen werden kann, ist in jedem Film- oder Fernsehtext vorhanden. Der Filmwissenschaftler Peter Wuss (2020, S. 270) nennt das »filmische Erzählspannung«. Allerdings kann sie durch die Dramaturgie verschieden gestaltet sein, sodass sie von den Zuschauer: innen in unterschiedlicher Weise erlebt werden kann. »Spannungserleben setzt am Prozess der Informationsverarbeitung an, dieser bildet die erste Leistung, die das Subjekt im Spannungserleben erbringt. Die Steuerung dieses Informationsverarbeitungsprozesses erfolgt nun durch den Film, durch Strukturen der Erzählung, der filmischen Auflösung, der Sequenz der Informationsdarbietung« (Wulff 2002, S. 105). In Filmen, Fernsehsendungen und Videos können daher neben der Grund‐ form der Spannung als Neugier auf den Fortgang der Handlung und das Ende des Films weitere Formen auftauchen, die mit verschiedenen Typen des Spannungserlebens einhergehen (vgl. Wuss 1996). Generell bezeichnet Spannung einen Interaktionsprozess von Filmbzw. Fernsehtext und Zuschauer: innen. Sie wird durch die Struktur des Textes angeregt und von der Zuschauerin empfunden: »Aus rezeptionsästhetischer Perspektive wird filmische Erzählspannung, die den Spezialfall Suspense einschließt, hierbei als eine komplexe Erlebnisqualität gesehen, die sich in einem spezifischen Rezeptionseffekt äußert. Dessen Funkti‐ onsweise ist strukturell in der Komposition des Films vorgebildet« (Wuss 2020, S.-270, H.i.O.) Will ein Film oder eine Fernsehserie Spannung erzeugen, müssen die textu‐ ellen Strukturen darauf ausgerichtet sein, d. h. sie müssen entsprechend 2.3 Spannung und Suspense 167 <?page no="168"?> dramaturgisch gestaltet sein. Nur auf diese Weise lässt sich der von Wuss so genannte »Rezeptionseffekt« erzielen. Der amerikanische Filmwissenschaftler Edward Branigan (1992, S. 74 f.) unterscheidet Spannungsformen danach, wie das Wissen zwischen den Filmfiguren und den Zuschauer: innen zu einem bestimmten Zeitpunkt verteilt ist. Wenn das Wissen zwischen den Filmheld: innen und den Zu‐ schauer: innen gleich verteilt ist, spricht Branigan von Mystery. Diese Form der Spannung taucht häufig in Kriminalfilmen und -serien auf, in denen der oder die Täter sowohl dem Detektiv oder Polizisten als auch der Zuschauerin unbekannt sind. Die ermittelnde Beamtin rekonstruiert aus den Informationen den Fall, um den Täter zu finden. Die gleiche Arbeit leistet das Publikum, es ermittelt mit. Protagonist: in und Zuschauer: in haben den‐ selben Wissensstand. Die zweite Form der Spannung ist die Überraschung (surprise). Die Zuschauer: innen wissen weniger als die handelnden Figuren im Film, im Video oder in der Fernsehsendung. Auf diese Weise werden sie immer wieder von den Figuren überrascht. Das ist z. B. in Filmen der Fall, in denen ein Protagonist ein Geheimnis hat, das sich erst nach und nach im Verlauf der Erzählung enthüllt. Dieses Geheimnis, das aus einem Ereignis in der Vergangenheit der Figur bestehen kann, beeinflusst aber deren aktuelle Handlungen, die so für das Publikum nicht nachvollziehbar sind. Überraschung liegt für die Zuschauer: innen auch dann vor, wenn der Film- oder Fernsehtext ihnen an einem bestimmten Punkt des Plots Informationen vorenthält, sie z. B. nicht wissen, dass die Polizistin nur deshalb zu einem Verdächtigen fährt, weil sie einen Hinweis per Telefon erhalten hat, dies aber nicht zu sehen war. Bei der dritten Form der Spannung, dem Suspense, wissen die Zuschauer: innen mehr als die handelnden Figuren (vgl. ebd., S. 75; Stiegler 2011, S. 61 ff.; Vogel 2003, S. 67 ff. sowie die Beiträge in Vorderer u. a. 1996). Der Altmeister der Spannung, Alfred Hitchcock, hat dies an einem beliebten Beispiel verdeutlicht: »Der Unterschied zwischen Suspense und Überraschung ist sehr einfach, ich habe das oft erklärt. Dennoch werden diese Begriffe in vielen Filmen verwechselt. Wir reden miteinander, vielleicht ist eine Bombe unter dem Tisch, und wir haben eine ganz gewöhnliche Unterhaltung, nichts besonderes passiert, und plötzlich, bumm, eine Explosion. Das Publikum ist überrascht, aber die Szene davor war ganz gewöhnlich, ganz uninteressant. Schauen wir uns jetzt den Suspense an. Die Bombe ist unterm Tisch, und das Publikum weiß es. Nehmen wir an, weil es gesehen hat, wie der Anarchist sie da hingelegt hat. Das Publikum weiß, daß 168 2 Narration und Dramaturgie <?page no="169"?> die Bombe um ein Uhr explodieren wird, und jetzt ist es 12 Uhr 55 - man sieht eine Uhr. Dieselbe unverfängliche Unterhaltung wird plötzlich interessant, weil das Publikum an der Szene teilnimmt. Es möchte den Leuten auf der Leinwand zurufen: Reden Sie nicht über so banale Dinge, unter dem Tisch ist eine Bombe, und gleich wird die explodieren! Im ersten Fall hat das Publikum fünfzehn Sekunden Überraschung beim Explodieren der Bombe. Im zweiten Fall bieten wir ihm fünf Minuten Suspense. Daraus folgt, daß das Publikum informiert werden muß, wann immer es möglich ist. Ausgenommen, wenn die Überraschung wirklich dazugehört, wenn das Unerwartete der Lösung das Salz der Anekdote ist« (Truffaut 1990, S. 64). Die Zuschauer: innen können Suspense empfinden, weil sie durch die Struk‐ tur der Erzählung und der Dramaturgie entsprechend informiert wurden. Hitchcock selbst spricht in dem Zusammenhang auch von »Vorwarnung« (zitiert bei Stiegler 2011, S. 62). Allerdings müssen die Zuschauer: innen einen »doppelten Blick« realisieren, denn einerseits müssen sie ihr eigenes Wissen über die Handlung und die Narration aktivieren, andererseits müssen sie sich »auf ein Konstrukt einer Person der Erzählung und deren Kenntnis der Handlung« beziehen (Wulff 1999, S. 219). Sie müssen wissen, was die Figur weiß, und sie müssen wissen, was sie als Zuschauer: innen wissen (können) - immer in Bezug auf die situative Rahmung der Handlung. Peter Wuss (2020, S. 281) hat darauf hingewiesen, dass der Wissensvorsprung der Zuschauer: innen »gleichsam sukzessive durch minimale Verschiebungen im visuellen Informationsangebot« zustande kommt. Im Fall von Suspense kann man von einer Diskontinuität von Plot und Story ausgehen. Während der Plot die Zuschauer: innen in Suspense versetzt, ist es Teil der Story, dass die Figuren überrascht werden. Die Zuschauer: innen sind im Fall des Suspense zwischen Plot und Story gefangen. Sie kontrollieren mit ihrem Wissen den Plot so, wie der Plot mit seinen Informationen sie kontrolliert. Zugleich haben sie keine Kontrolle über die Story. Die gewinnen sie erst wieder, wenn der Plot die Suspense-Situation aufgelöst hat. Das geschieht in Hitchcocks Beispiel unabhängig davon, ob die Bombe nun tatsächlich explodiert oder nicht. In der Regel wird in einem Film oder einer Fernsehserie nicht nur ein Verfahren der Spannungserzeugung eingesetzt, sondern Mystery, Surprise und Suspense tauchen in wechselnden Kombinationen auf. In komplexen Fernsehserien wie »24«, »Heroes«, »Lost« und »Dark« werden die Zuschauer über einen Spannungsaufbau, der verschiedene 2.3 Spannung und Suspense 169 <?page no="170"?> Varianten der Spannungserzeugung kombiniert, in die Erzählung hin‐ eingezogen. Das Auftauchen der »Anderen« in »Lost« war zu Beginn für die Zuschauer: innen mit Mystery und Surprise verbunden, in dem Augenblick, als einige der Gestrandeten von den »Anderen« wussten und andere nicht, auch mit Suspense. Die verschiedenen Formen der Spannungserzeugung werden in diesen Serien durch ästhetische Mittel unterstützt (vgl. dazu die Beispielanalyse von »24« in Kapitel III.6). Dadurch wird die Erzählung sehr dicht, und die Zuschauer: innen, die sich darauf einlassen, können sich ihr kaum noch entziehen. Die Medi‐ enwissenschaftlerin Jana Zündel (2016, S. 27ff.) hat das als »Spiel mit dem Wissen« der Zuschauer: innen bezeichnet. Ein Film- und Fernsehtext baut gezielt Wissen beim Publikum auf, um es durch die Erzählung zu führen. Die Zuschauer: innen erhalten Informa‐ tionen, die zu einem späteren Zeitpunkt der Erzählung eine Bedeutung im Sinn von Spannung als gespannter Erwartung und Suspense gewinnen. Wenn z. B. Edward in »Pretty Woman« gegenüber Vivian auf der Terrasse seines Penthauses erwähnt, dass er Höhenangst habe, bekommt dadurch die Schlussszene, in der er mit einem Blumenstrauß zwischen den Zähnen die Feuerleiter zu Vivians Wohnung hinaufklettert, eine zusätzliche Bedeutung: Edward zeigt seine Liebe nicht nur dadurch, dass er Vivian aufsucht, sondern er überwindet dafür sogar noch seine Höhenangst. Die Zuschauer: innen können in dieser Situation gespannt darauf sein, ob er die Feuerleiter tatsächlich hinaufklettern kann oder ob die Liebe im letzten Moment an diesem Hindernis doch noch scheitert. Solche Wissenselemente können auch die erzählerische Klammer für einen ganzen Film oder eine ganze Fernsehsendung bilden. So steht zu Beginn des Films ein Problem, das am Ende gelöst ist, oder zu Beginn einer Fernsehsendung wird etwas für das Ende versprochen. In »Wetten, dass ..? « war es die Stadtwette, bei der zu Beginn der Sendung ein Vertreter der Stadt, in der die Show gastierte, eine Aufgabe gestellt bekam und der Moderator einen Wetteinsatz verkünden musste. Erst am Ende der Sendung gab es die Auflösung. Dann stellte sich heraus, ob die Aufgabe erfüllt wurde - oder eben nicht. Wurde sie erfüllt, musste der Moderator seinen Wetteinsatz einlösen. Auf diese Weise wird eine dramaturgische Klammer für die gesamte Show konstituiert. Zu Beginn wird das Publikum auf das Ende verwiesen, und am Ende wird es noch einmal an den Beginn erinnert - der Kreis der Showerzählung hat sich geschlossen. 170 2 Narration und Dramaturgie <?page no="171"?> Abb. 4 und 5: »Jurassic Park« So funktioniert in manchen Filmen oder Fernsehsendungen auch die Erzeu‐ gung von Suspense. In »Jurassic Park« erfahren die Zuschauer: innen zum einen aus den Erzählungen der handelnden Figuren, dass Dinosaurier, ins‐ besondere die Velociraptoren, gefährliche Tiere sind. Ein weiterer Hinweis erfolgt über eine Fütterungsszene, in der zwar nur zu sehen ist, wie ein ausgewachsener Ochse in den mit Starkstrom gesicherten Käfig gehievt wird (vgl. Abb. 4), anhand der anschließenden Geräusche und der heftigen Bewegungen der Pflanzen im Sicherheitskäfig kann man jedoch erahnen, mit welcher Kraft die Saurier den Ochsen auf grausame Art zerteilen und fressen. An diese Szene werden die Zuschauer: innen spätestens dann erinnert, wenn die beiden Kinder in der Hightech-Küche der Anlage von Velociraptoren bedroht und gejagt werden (vgl. Abb. 5). Durch das zu Beginn des Films aufgebaute Wissen um die Gefährlichkeit der Saurier erhält diese Szene erst ihre Brisanz, weil man nun um die Kinder bangen muss. Das würde auch umgekehrt funktionieren, wenn die Zuschauer: innen wüssten, dass die Saurier in der Szene ganz liebe Wesen sind, nur die Kinder wüssten es nicht. Zugleich wird an dem Beispiel deutlich, wie aufgebautes Wissen auch Erwartungen der Zuschauer: innen produziert. Wenn gezeigt wird, wie gefährlich die Saurier sind, kann das Publikum erwarten, dass dies im weiteren Verlauf des Films noch einmal eine Rolle spielen wird. Anders gestaltet sich der Spannungsaufbau, wenn ein Geheimnis im Mittelpunkt der Erzählung steht. Um die Spannung für die Zuschauer zu erhalten, wird häufig mit Rückblenden gearbeitet. Bei den zu Beginn des 21. Jahrhunderts beliebten Krimiserien wie »CSI« oder »Navy CIS« wird dieses Mittel immer wieder eingesetzt, wenn anhand der Spuren vergangene Ereignisse rekonstruiert werden. Die Zuschauer können so auch visuell an der Arbeit der Charaktere teilhaben. Zugleich bewirken die Rückblenden 2.3 Spannung und Suspense 171 <?page no="172"?> eine Dramatisierung der Ereignisse (vgl. Lury 2005, S. 46 f.), und binden die Zuschauer: innen in die Erzählung ein. Das Verfahren, mit Rückblenden zu arbeiten, wird, wie Bordwell (2006, S. 92) bemerkt, bereits seit den 1940er Jahren angewandt, denn: »Plots, die sich um ein Geheimnis drehen, haben schon immer Rückblenden befördert.« Die Analyse von Spannung, Mystery, Surprise und Suspense muss die Elemente des Plots herausarbeiten, in denen den Zuschauer: innen die wichtigen Informationen über Orte, Figuren und erzählter Zeit gegeben werden, die beim Publikum ein Erleben von Spannung auslösen können. Es geht dabei um die Regulation und Verbreitung von Wissen, aber auch um die affektiven Wirkungen dramaturgischer Elemente. 2.4 Komik Ähnlich wie Spannung und Suspense entsteht auch Komik durch Struk‐ turen des Plots, die allerdings nicht nur mit dem narrativen Wissen der Zuschauer: innen korrespondieren, sondern auch mit dem generellen Weltwissen (vgl. Ohler 1994, S. 35 f.; Kapitel I.1.1). Komik ist zwar in den textuellen Strukturen angelegt, sie muss sich aber in den Zuschauer: innen vollenden. Sie ist, wie Wuss (2020, S. 270) für die Spannung genannt hat, auch ein »Rezeptionseffekt«. Das Erleben von Komik ist daher wie das Spannungserleben eine Aktivität der Zuschauer: innen, die durch bestimmte Plotstrukturen ausgelöst wird. Generell wird davon ausgegangen, dass Komik durch Inkongruenz entsteht, indem Elemente, die nicht zueinander passen, nebeneinandergestellt werden (vgl. Carroll 1991, S. 26; Born 2020, S. 557). Komik stellt damit nach Peter Wuss (1999, S. 359) einen Spezialfall der Verfremdung dar. Es findet ein Spiel mit den Erwartungen und dem Wissen der Zuschauer: innen statt, das in einer komischen Situation oder Aktion gelöst wird. Um Filme wie »Der Schuh des Manitu« oder »(T)Raumschiff Surprise - Episode 1« als eine Parodie verstehen und erleben zu können, müssen die Zuschauer: innen um die narrativen und ästhetischen Strukturen von Western oder Science-Fiction-Filmen im Allgemeinen und der »Win‐ netou«bzw. »Star Trek«-Filme im Besonderen wissen. Zugleich müssen sie die Figuren und Handlungen des Plots in der Parodie als inkongruent oder verfremdet gegenüber der erzählten möglichen Welt eines Western bzw. Science-Fiction-Films und der »Winnetou«bzw. »Star Trek«-Filme wahrnehmen. Erst vor diesem Wissenshintergrund können »Der Schuh des 172 2 Narration und Dramaturgie <?page no="173"?> Manitu« und »(T)Raumschiff Surprise - Episode 1« als komische Filme verstanden und erlebt werden. Ebenso ermöglicht das Wissen darum, dass es sich bei der Hauptfigur im Film »Borat« um eine aus einer Fernsehcomedy bekannte Kunstfigur von Sacha Baron Cohen handelt, den Zuschauer: innen, die Episoden des Films als komisch wahrzunehmen, auch wenn die übrigen Protagonist: innen eher unfreiwillig komisch sind. Der amerikanische Wissenschaftler Gerald Mast (1979, S. 4 ff.) unterschei‐ det insgesamt acht Formen komischer Plots, von denen sich einige in ihrer Grundstruktur kaum von ernsthaften Plots unterscheiden. Das trifft z. B. auf (1) die Komödien zu, in denen sich ein Liebespaar findet, sich wieder verliert, zahlreiche absurde Hindernisse zu überwinden hat, um letztendlich zusammenzufinden. Die Komik resultiert aus der Überwindung der absurden Situationen, über die das Paar wieder zueinanderfindet wie in »Leoparden küsst man nicht« oder »Ärger im Paradies«. Ein komischer Plot kann auch darin bestehen, dass (2) ein anderer Film oder ein Film‐ genre parodiert wird wie in »(T)Raumschiff Surprise - Episode 1« oder den »Austin Powers«-Filmen, in denen die »James Bond«-Filme parodiert werden. Daneben kann (3)-ein einfacher Fehler einer Figur oder ein unpas‐ sendes Verhalten in einer sozialen Situation zu Chaos führen und eine absurde Situation nach der anderen auslösen. Das ist z. B. in zahlreichen Slapstick-Komödien der Stummfilmzeit mit Charlie Chaplin, Buster Keaton oder Laurel und Hardy so. Eine weitere Plotstruktur besteht darin, (4) die Struktur einer bestimmten Gesellschaft oder sozialen Gruppe darzustellen und sie mit dem Handeln einzelner sozialer Gruppen zu konfrontieren, die auf die gleichen Ereignisse in unterschiedlicher Weise reagieren. Nach dieser Struktur funktionieren Filme wie »Borat«, »Der große Diktator«, »Sein oder Nichtsein«, »Willkommen Mr. Chance« und »Ganz oder gar nicht« oder Fernsehserien wie »Die Simpsons« (vgl. Gray 2006, S. 43 ff.; Steeves 2005; ), »Ally McBeal« (vgl. Smith 2005), »King of Queens« und »The Big Bang Theory«. Außerdem kann ein Film (5) einer komischen Protagonistin folgen, die in verschiedene Situationen gerät, die sie auf ihre, komische Weise bewältigt. In diese Kategorie fallen z. B. Filme mit Melissa McCarthy, Jacques Tati, Otto Waalkes oder Rowan Atkinson alias Mr. Bean (z. B. in »Bean - Der ultimative Katastrophenfilm«). Daneben gibt es eine Plotstruktur, die (6) eine Ausgangssituation, z. B. einen Platz, ein Ereignis oder ein Objekt nimmt, um dann eine Serie von Gags um diese Situation herum zu platzieren. Das war in einigen Chaplin-Filmen der Fall ebenso wie in »Help! « mit den Beatles oder einigen Woody-Allen-Komödien. 2.4 Komik 173 <?page no="174"?> Eine weitere Plotstruktur (7) ist mit einer melodramatischen weitgehend identisch. Die Protagonistin übernimmt eine schwierige Aufgabe, bei deren Bewältigung sie auch ihr Leben riskieren kann. Die Bewältigung verläuft jedoch nicht tragisch, sondern komisch wie z. B. in »Der General« oder in »Das erstaunliche Leben des Walter Mitty«. Die Komik entsteht bei dieser Plotstruktur nach Mast (1979, S. 8) dadurch, dass der Film ein »komisches Klima« schafft (vgl. dazu auch Born 2020, S. 559). Das trifft auch auf die letzte Plotstruktur zu, in der (8) eine Protagonistin einen Fehler entdeckt, den sie im Verlauf des Lebens gemacht hat, und den sie wiedergutmachen will. Einige Filme von Billy Wilder folgen diesem Muster oder auch »Mr. Smith geht nach Washington«. Das »komische Klima« kann bereits durch den Titel des Films angeregt werden. Die Zuschauer: innen werden einen komischen Film erwarten und die Informationen des Plots unter diesem Gesichtspunkt verarbeiten. Thema und Charaktere können ebenso ein komisches Klima schaffen wie die Filmemacherin, die eine selbstreflexive Ebene einführt, die den Zuschauer: innen deutlich macht, dass die Handlung nicht ernst gemeint ist (vgl. ebd., S. 11). Zur Komik tragen auch witzige Dialoge, visuelle und akustische Gags bei (vgl. auch Born 2020, S. 565ff.). In der Film- und Fernsehanalyse können die Plotstrukturen offengelegt werden, die für die Komik in einem Film, einem Video oder einer Fernsehsendung verantwortlich sind. Komische Plotstrukturen basieren auf Erzählkonventionen. Sie funktio‐ nieren in einem Film- oder Fernsehtext jedoch nur im Zusammenhang mit Gags, die auf der Ebene der Gestaltung oder der Figuren angesiedelt sind (vgl. Charney 1993). Sie entspringen einer »intentionellen Komik« (Born 2020, S. 565). Grundsätzlich kann zwischen sprachlichen, akustischen, musikalischen und visuellen bzw. optischen Gags unterschieden werden. Hier spielen Kameraarbeit und Montage eine wichtige Rolle (vgl. Carroll 1991; Müller 1964, S. 158 ff.). Auf der sprachlichen Ebene sorgen witzige Dialoge für die Komik. Witzig wird ein Dialog dadurch, dass er den Erwartungen der Zuschauer: innen hinsichtlich dessen, was in einer Situation und Handlung angemessen wäre, nicht entspricht. Komik kann ebenso durch unfreiwillig ausgesprochene Worte oder Sätze, die doppeldeutig sind, entstehen. Es kann sich aber auch um bewusste Wortspiele handeln (vgl. Palmer 1994, S. 104). In manchen Serien und Sitcoms entsteht die Komik darüber, dass eine der Figuren als homodiegetische Voice-over-Erzählstimme ihre eigenen Handlungen in der jeweiligen Episode kommentiert, z. B. in »Mein Leben und ich« oder »Sex 174 2 Narration und Dramaturgie <?page no="175"?> and the City«. Ein akustischer Gag liegt z. B. vor, wenn eine Protagonistin aus Versehen eine Stehlampe umstößt, die gegen ein Radio fällt, das sich daraufhin einschaltet und laute Musik oder ein zur Situation absolut unpas‐ sender Kommentar ertönt. Komik auf der musikalischen Ebene entsteht, wenn die Handlung durch einen musikalischen Kommentar konterkariert oder überzeichnet wird. Visuelle bzw. optische Gags funktionieren auf zwei Ebenen. Einerseits spielen Inkongruenzen in der Erzählung bzw. dem Plot eine Rolle, ande‐ rerseits werden ästhetische Mittel der Gestaltung eingesetzt, mit denen den Zuschauer: innen z. B. Plotinformationen vorenthalten werden, sodass sie eine Situation anders interpretieren. In dem Film »Weg! « gibt es eine Naheinstellung, in der die Zuschauer: innen sehen, wie sich die Protago‐ nist: innen langsam mit ihrem Auto voranbewegen. Man kann annehmen, dass sie fahren. In der nächsten Einstellung sieht man jedoch, dass Polizisten den Wagen schieben. Diese Plotinformation hatten die Zuschauer: innen in der ersten Einstellung nicht. Sie mussten aus der Bewegung des Wagens schließen, dass er - wenn auch langsam - fährt. Erst die zweite Einstellung macht deutlich, dass dem nicht so ist. Die Komik entsteht zudem dadurch, dass diese Handlung der Polizisten in der Szene nicht erwartet wurde, denn die Zuschauer: innen wissen, dass der Fahrer keinen Führerschein besitzt. Es findet eine gegenseitige Beeinflussung von zwei unterschiedlichen Er‐ eignissen statt, die dazu führt, »dass zwei Interpretationen von dem, was passiert, verständlich sind« (Carroll 1991, S. 28). Ein anderes Beispiel ist eine Szene aus dem Film »Die 39 Stufen«, in der ein junger Mann und eine junge Frau in einem Landgasthaus ein Zimmer mieten möchten. Das Paar ist mit Handschellen aneinandergekettet und versucht, dies vor der Wirtin zu verbergen. Während die Wirtin meint, ein Liebespaar vor sich zu haben, können die beiden, die sich zudem nicht besonders mögen, aufgrund unglücklicher Umstände keinen Abstand voneinander halten. Die Szene kann sowohl aus der Perspektive der Wirtin als auch aus der Sicht der beiden Protagonist: innen verstanden werden. Visuelle Gags können auf verschiedenen Ebenen der Ereignisse und Handlungen angesiedelt sein. So können z. B. Gegenstände entgegen ihrer eigentlichen Bestimmung oder metaphorisch verwendet werden (vgl. ebd., S. 30 ff.). In zahlreichen Filmen von und mit Charlie Chaplin werden Gegen‐ stände durch die mimischen und gestischen Aktivitäten der Held: innen in einen anderen Bedeutungszusammenhang gestellt. Ähnlich komisch wirkt es, wenn Gegenstände als analoge Objekte verwendet werden: Eine 2.4 Komik 175 <?page no="176"?> teure chinesische Vase findet als Trinkglas Verwendung oder muss als Schirmständer herhalten. In Zeichentrickfilmen kann dies direkt visualisiert werden, indem sich die Objekte verformen oder indem sie als das analoge Objekt dargestellt werden. In »Blitz Wolf« verwandelt sich der Fuß im Stiefel des Wolfes in eine heiße Bockwurst, weil er einen Moment im Feuer gestanden hatte (vgl. Abb.-6). - Abb. 6 und 7: »Blitz Wolf« Komik entsteht gerade in Zeichentrickfilmen auch dadurch, dass sich Lebe‐ wesen und Körper verformen können. In dem genannten Film ist der Wolf einem Kugelhagel der drei kleinen Schweinchen ausgesetzt. Er wähnt sich nicht getroffen. Als er jedoch vor eine Lampe tritt, sieht der Wolf - und mit ihm die Zuschauer: innen--, dass er regelrecht perforiert ist (vgl. Abb.-7). Zwei andere Varianten visueller Gags sind das wechselnde Bild und die wechselnde Bewegung (vgl. Carroll 1991, S. 33 ff.). Das erwähnte Beispiel aus dem Film »Weg! « steht auch für das wechselnde Bild als visueller Gag. In der Regel sehen die Zuschauer: innen dabei eine Figur in Aktion. Da sie nicht die gesamte Szenerie im Bild erfassen oder die Figur nur von hinten sehen, können sie ihr Verstehen und ihre Interpretation nur auf den Ausschnitt der Szene, der ihnen präsentiert wird, richten. Dreht sich die Figur um, sieht man, was sie wirklich getan hat - und das muss nicht mit der vermuteten Tätigkeit übereinstimmen. Die wechselnde Bewegung ist ein beliebtes Mittel in »Das Pfandhaus«. Da versucht der Held mit Boxbewegungen einen Gegenspieler zu beeindrucken. Als ein Polizist auftaucht, wechselt er vom Boxen in eine Art Ausdruckstanz. Eine Bewegung wird dabei fließend in eine andere mit anderen Konnotationen überführt. Komik ist grundsätzlich ein Spiel mit dem Wissen der Zuschauer: innen. Sie kann - ähnlich wie bei Spannung und Suspense - dadurch entstehen, dass die Zuschauer: innen mehr wissen als die Figur. In diesem Fall ist das Rahmenwissen über eine Situation oder ein Ereignis ungleich verteilt. 176 2 Narration und Dramaturgie <?page no="177"?> Weil die Zuschauer: innen über die Bedeutung einer Szenerie in Kennt‐ nis gesetzt sind, können sie über die Figur lachen, die sich aufgrund ihres Nichtwissens unangemessen verhält. Die Komik entsteht aus den unterschiedlichen Definitionen der Handlungssituation durch Figur und Zuschauer: in. Die Zuschauerin kann aber auch weniger wissen als die Figur. Das ist z. B. so, wenn sie eine Figur von hinten sieht und aus deren Bewegungen auf bestimmte Aktivitäten schließt, die sich aber als ganz andere entpuppen, wenn die Figur sich umdreht oder die Montage dann ein Bild anschließt, in dem die Person von vorne oder von der Seite zu sehen ist. In der Film- und Fernsehanalyse müssen diese komischen Insze‐ nierungsformen in ihre Komponenten zerlegt und in Bezug zum Wissen der Zuschauer: innen verortet werden, um komische Strukturen herausarbeiten zu können. Dabei ist allerdings zu beachten, dass die Komik in Filmen; Videos und Fernsendungen häufig an komische Figuren gekoppelt ist. Diese Figuren spielen mit der Repräsentationsordnung, indem sie entgegen den gesellschaftlichen Normen und Werten handeln, sowohl den Normen und Werten der erzählten, diegetischen Welt als auch der Welt, in der die Zuschauer: innen leben. Sie setzen sich über die Normen hinweg, karikieren sie durch Übertreibung oder nehmen sie ganz wörtlich. Die komische Figur hebt durch ihre übertriebene Darstellung und Inszenierung die Fiktionalität des Films, des Videos oder der Fernsehsendung hervor. In manchen Filmen wie den Stummfilm-Klassikern mit Charlie Chaplin oder Buster Keaton, den Filmen mit Heinz Erhardt oder Otto Waalkes, den Fernsehserien mit Mr. Bean oder Benny Hill sind die komischen Figuren klar definiert, sie treiben die komische Handlung voran. In manchen Komödien wie »American Pie« oder »Wir können auch anders …« und Sitcoms im Fernsehen wie »The Big Bang Theory« agiert ein Ensemble von Figuren. Hier kann erst die Analyse klären, ob sich darunter auch komische Figuren befinden oder ob die Komik lediglich aus der Regulation und Verteilung von Wissen in den dargestellten Handlungssituationen entspringt. 2.5 Bedrohung Es gibt zwei Genres, in denen Bedrohung eine wesentliche Rolle spielt: im Horrorfilm und im Thriller. Bedrohung entsteht durch ein Spiel mit dem Wissen und den Emotionen der Zuschauer: innen. Auf der emotionalen Ebene geht es nicht um Gefühle wie Liebe, Wehmut oder Mitleid, sondern 2.5 Bedrohung 177 <?page no="178"?> um Angst, Suspense bzw. Spannung, Geschwindigkeit, Bewegung, Schreck, Geheimnis und Aufregung (vgl. Rubin 1999, S. 5 f.). Vor allem Thriller arbei‐ ten oft mit doppelten Emotionen, mit Humor und Spannung, Vergnügen und Schmerz oder Schreck und Aufregung. Dadurch werden die Zuschauer: in‐ nen in einer Ambivalenz der Gefühle gehalten. Sie werden zwischen Angst und Vergnügen hin- und hergeworfen. Ein Thriller untergräbt die emotio‐ nale Stabilität sowohl seiner Figuren als auch der Zuschauer: innen und macht sie dadurch verletzlich. Er bringt sie an den Rand des Kontrollverlusts (vgl. Mikos 1995, S. 174). Doch sind diese Emotionen immer mit dem Wissen der Charaktere und der Zuschauer: innen verbunden. Thriller zielen so nicht nur auf die Emotionen, sondern sie spielen mit dem Wissen von Protago‐ nist: innen und Zuschauer: innen. Aus rezeptionsästhetischer Sicht zielen sie mit ihren dramaturgischen Strukturen auf ein »intensives emotionales Erlebnis« (Hanich 2011, S. 33), das aus dem Wissen um die Bedrohlichkeit der Handlungssituation gespeist wird. Im Thriller ist die normale Realität der Protagonist: innen bedroht. Das kann durch außergewöhnliche Ereignisse geschehen, die sie aus der Bahn werfen: Sie werden unschuldig verdächtigt, sie beobachten ein Verbrechen, sie werden mit Gangstern oder Spionen verwechselt, sie werden Opfer von Machtspielen und Intrigen durch Kolleg: innen, Vorgesetzte oder Fami‐ lienmitglieder, oder Unbekannte drängen sich in ihr Leben und verändern es. »Ein Triller ist ein Film, der sich konsequent in die Perspektive des Opfers der Intrige stellt und den Zuschauer nicht über diesen Rahmen hinaus informiert« (Koebner/ Wulff 2013, S. 10). Die Protagonisten verlieren das grundsätzliche Vertrauen in die alltägliche Wirklichkeit, sie verlieren »die ontologische Sicherheit« (Giddens 1995, S. 117 f.) des Alltagslebens, die nach Anthony Giddens ein emotionales Phänomen ist. Roger Silverstone (1994, S. 5ff.) hat gezeigt, dass das Fernsehen als alltägliches Medium gerade für diese ontologische Sicherheit sorgt. Es geht dabei um »ein Gefühl der Zuverlässigkeit von Personen und Dingen« (Giddens 1995, S. 118), die einen im Alltag umgeben. Das kann als zentrales Element von Thrillern gesehen werden. Im Verlauf der Filme lösen die Protagonist: innen in der Regel das Rätsel, das hinter der Bedrohung steht. Im Fernsehen sind es neben Thrillern vor allem Mystery-Serien wie »Akte X«, »Flash Forward« oder »Fringe« (vgl. Graham 1996; Johnson 2005, S. 95 ff.; Jones 1996; Kaminsky 2014), in denen eine permanente Bedrohung der alltäglichen Sicherheiten inszeniert wird. Mit diesen Bedrohungsszenarien spielen auch die »Blade«-Trilogie und das darauf folgende Fernsehsequel »Blade: Die Jagd geht weiter«, in 178 2 Narration und Dramaturgie <?page no="179"?> der eine permanente Bedrohung von den Vampiren ausgeht, der sich nicht nur der Vampirjäger Blade stellen muss, sondern auch die Zuschauer: innen. Ein ähnliches Bedrohungsszenario wird auch in »The Walking Dead« aufgebaut: Die Bedrohung durch die Zombies ist allgegenwärtig. Die Zuschauer: innen werden an diesem Prozess beteiligt, indem sie durch dramaturgische und gestalterische Mittel in die Lösung des Rätsels einbezogen werden. Die Inszenierung von Mystery und Suspense spielt dabei eine wichtige Rolle. Durch sie werden bedrohliche Situationen für die Protagonist: innen und die Zuschauer: innen erzeugt. In Polizei- und Detek‐ tiv-Thrillern gibt es oft eine einzelne auslösende Gewalttat oder eine Reihe von Verbrechen, die den Ermittlern Rätsel aufgeben, wie z. B. in »Sieben«, wo die Morde die sieben Todsünden symbolisieren. Hier muss die besondere Grausamkeit der Täter: innen herausgestellt werden, um die Handlungen der Held: innen zu motivieren. Manchmal muss ein Verdächtiger auch im Verlauf des Films noch eine außergewöhnliche Gewalttat begehen, um zu unterstreichen, dass seine Gefährlichkeit, von der vorher nur die Rede war, tatsächlich gegeben ist. Das ist z. B. in »Das Schweigen der Lämmer« der Fall: Die Zuschauer: innen erfahren zunächst nur aus den Erzählungen von Polizisten und Gefängnisaufsehern etwas über die Gefährlichkeit von Hannibal Lecter, bevor bei seinem Ausbruch die ganze Grausamkeit seiner Taten auch visuell in Szene gesetzt wird. In manchen Filmen bleibt das aus‐ lösende Element der Bedrohung zunächst unsichtbar. Die Zuschauer: innen bekommen durch leichte Verletzungen der Held: innen, zerbrochene und zerstörte Einrichtungsgegenstände und Ähnliches lediglich Indizien an die Hand, wie z. B. in »Schatten der Wahrheit«, in dem der Protagonistin Claire Spencer merkwürdige Dinge widerfahren, die sowohl für sie als auch für die Zuschauer: innen nicht ersichtlich und nachvollziehbar sind. Die Analyse kann zeigen, wie die Bedrohung für die Zuschauer: innen inszeniert ist, wodurch sie (und die Protagonist: innen) die Kontrolle über die Situation und die Ereignisse verlieren. Ein klassisches Beispiel dafür, wie im Thriller die Bedrohung des Helden aufrechterhalten wird, ist die sogenannte Maisfeldszene in »Der unsichtbare Dritte«. Der Held Roger Thornhill ist auf der Suche nach einem Spion namens George Kaplan, für den er fälschlicherweise gehalten wird. Im Zug lernt er Eve Kendall kennen, von der er nicht weiß, dass sie für die feindli‐ chen Spione arbeitet. Sie arrangiert für ihn ein Treffen mit dem ominösen Kaplan. Die Zuschauer: innen wissen, dass es eine Falle ist. Das Treffen soll an einer einsamen Bushaltestelle außerhalb der Stadt stattfinden. Die 2.5 Bedrohung 179 <?page no="180"?> nun folgende Szene ist die Maisfeldszene, deren Spannungsaufbau der Film‐ wissenschaftler Hans J. Wulff eingehend untersucht hat (vgl. Wulff 1999, S. 204 ff.). Thornhill befindet sich auf freiem Feld inmitten von Maisfeldern: »Keine Schatten, Seitengassen, Hinterhöfe. Kein Versteck für den Mörder, obwohl der Zuschauer weiß, daß der Held in eine Falle getappt ist« (ebd., S. 204). Die Szene besteht aus drei Teilen: im ersten Teil wartet der Held, im zweiten erfolgt der Mordversuch, im dritten ist er auf der Flucht. Bereits im ersten Teil der Szene wird Suspense aufgebaut. Die Zuschauer: innen wissen mehr über die Handlungssituation als der Held. Daher kommt es zu unterschiedlichen Situationsdefinitionen. Während also Thornhill auf den von ihm gesuchten Agenten Kaplan wartet, haben die Zuschauer: innen, wie Wulff beschreibt, eine andere Sicht der Dinge: »Der Zuschauer weiß schon, daß Kaplan gar nicht existiert, und er weiß, daß Thornhill einer ›falschen Freundin‹ aufgesessen ist, einer Agentin seiner Gegner. Für den Zuschauer ist die Szene vorbestimmt als Gelegenheit für ein mögliches Attentat, als Falle, in der eine tödliche Gefahr auftreten wird. Es gelten also zwei verschiedene Situationsdefinitionen: Protagonist und Zuschauer konturieren das Handlungs- und Erwartungsfeld nach verschiedenen Gesichtspunkten und auf der Basis verschiedener Eingeweihtheit in die Geschichte« (ebd., S. 206, H.i.O.). Während die Spannung für den Helden in diesem Szenenabschnitt des Wartens in der Frage besteht, ob sein Kontrahent erscheinen wird, besteht sie für die Zuschauer: innen darin, wann denn nun der Mordanschlag erfolgen wird und auf welche Weise er ausgeführt wird. Im zweiten Teil der Szene passiert dieser dann, als Thornhill von einem Flugzeug aus beschossen wird und er versucht, sich in Deckung zu brin‐ gen. Hier sind alternierend Bilder vom herannahenden Flugzeug und dem Deckung suchenden oder weglaufenden Helden zu sehen. Dabei ist eine Steigerung der Bedrohung auszumachen: Zunächst überfliegt das Flugzeug Thornhill in knapper Höhe, dann setzt der unbekannte Mörder ein Maschi‐ nengewehr ein, bevor er auf das Verstreuen von Pestiziden zurückgreift und damit dem Helden auch noch den letzten Schutzraum raubt, das Maisfeld. Über sogenannte Point-of-View-Shots (vgl. Kapitel II.4.3) werden die Zuschauer: innen immer wieder in die Sicht des Helden hineingezogen. Zugleich bleiben sie Beobachter: innen der Szene, wenn sie lediglich den durch die Einschüsse aufwirbelnden Staub sehen. Dieser Teil der Szene endet mit dem Tod des Killers, der mit seinem Flugzeug im Tiefflug in einen Tanklastwagen rast. Die Szene ist interessant, weil sie die Bedrohung für den 180 2 Narration und Dramaturgie <?page no="181"?> Protagonisten und für die Zuschauer: innen in besonderer Weise inszeniert. Das Gefühl der Bedrohung entsteht durch einen gezielten Umgang mit dem Wissen des Helden und dem Wissen der Zuschauer: innen. Die Inszenierung in Thrillern, aber auch in Horrorfilmen zielt darauf ab, emotionale und kognitive Reaktionen bei den Zuschauer: innen her‐ vorzurufen, die als Form der kognitiven Bedrohung beschrieben werden können (vgl. Albers 1996, S. 53 ff.). Dadurch wird Suspense aufgebaut, die Zuschauer: innen können etwas Schreckliches, Angstauslösendes erwarten. Das trägt nicht nur zur Verunsicherung der Protagonist: innen bei, sondern dient vor allem dazu, die Zuschauer: innen in ein Wechselbad sensationeller Gefühle zu stürzen. Dabei spielen jedoch die kognitiven Aktivitäten eine nicht unwesentliche Rolle. Handelt es sich doch bei den Gefühlen, die ausgelöst werden, größtenteils um sogenannte Erwartungsaffekte. Nach Ernst Bloch kann zwischen positiven und negativen Erwartungsaffekten un‐ terschieden werden (vgl. Bloch 2013, nach der Ausgabe von 1985, S. 121 ff.). Zu den positiven zählt er Hoffnung und Zuversicht, zu den negativen Angst, Furcht, Schrecken und Verzweiflung. Diese Gefühle sind vor allem dadurch gekennzeichnet, dass sie unbestimmt und diffus sind. Sie sind auf die Zukunft, auf das Eintreten eines Ereignisses gerichtet. In der Film- und Fernsehrezeption sind sie davon abhängig, dass die Zuschauer: innen eine dargestellte Situation als eine Situation der Bedrohung wissen, die Angst machen kann. Es geht dabei nicht so sehr darum, dass die Zuschauer: innen mit den Held: innen, die Angst haben, mitfühlen, sondern darum, dass im Film mithilfe von Dramaturgie und Gestaltungsmitteln Situationen aufgebaut werden, die sie in die Erwartung von Angst, Furcht oder Schre‐ cken versetzen. Das Beispiel der Maisfeldszene hat das deutlich gezeigt. Das Besondere am Thriller ist nun, dass es nicht nur um die negativen Erwartungsaffekte geht, sondern auch um Hoffnung und Zuversicht. Für die Zuschauer: innen wird es damit möglich, als negativ bewertete Gefühle wie Angst und Furcht lustvoll zu erleben. Die Beschreibung der Gefühle, die bei einem Thriller eine Rolle spielen, lassen sich am besten mit den Worten des Psychoanalytikers Michael Balint beschreiben, der das Phänomen der Angstlust (thrill) bearbeitet hat (vgl. dazu auch Schwanebeck 2020, S. 500ff.). Bei Vergnügungen wie Achterbahn‐ fahrten wird eine bestimmte Form der Angst geweckt. Kennzeichen dieser Angst ist nach Balint der Verlust des Gleichgewichts, der Standfestigkeit, des zuverlässigen Kontaktes mit der sicheren Erde. Dabei lassen sich drei Aspekte beobachten: 2.5 Bedrohung 181 <?page no="182"?> »a) ein gewisser Beitrag an bewusster Angst oder doch das Bewusstsein einer wirklichen äußeren Gefahr; b) der Umstand, dass man sich willentlich und absichtlich dieser äußeren Gefahr und der durch sie ausgelösten Furcht aussetzt; c) die Tatsache, dass man in der mehr oder weniger zuversichtlichen Hoffnung, die Furcht werde durchgestanden und beherrscht werden können und die Gefahr werde vorüber gehen, darauf vertraut, dass man bald wieder unverletzt zur sicheren Geborgenheit werde zurückkehren dürfen. Diese Mischung von Furcht, Wonne und zuversichtlicher Hoffnung angesichts einer äußeren Gefahr ist das Grundelement aller Angstlust (thrill)« (Balint o.-J., S. 20 f.). Das Erleben solch einer Angstlust ist nicht nur in einer direkten angstaus‐ lösenden Situation möglich, z. B. wenn frau nachts durch einen dunklen Wald oder eine dunkle Gasse gehen muss oder wenn man sich auf eine Achterbahn- oder Geisterbahnfahrt begibt, sondern auch, wenn man solch eine Situation beobachtet. Daher ist eine derartige Form des Angsterlebens ebenso für Zuschauer: innen von Filmen und Fernsehsendungen möglich - auch wenn es dabei zu keiner realen Gefahr für Leib und Leben kommt. Aber gerade dadurch ist es möglich, dass der Thrill zu einer »positiven Erlebnisform« wird (vgl. Klippel 1990, S. 85). Aufgrund der Tatsache, dass sich die Zuschauer: innen im Kinosessel und auf dem heimischen Sofa sicher fühlen können, haben sie die Möglichkeit, sich lustvoll den Ängsten hinzugeben, in die sie durch die inszenierten Situationen in den Filmen und Fernsehsendungen gebracht werden (vgl. Mikos 1996, S. 38 ff.). Dieses lust‐ volle Erleben einer bedrohlichen, angstbesetzten Situation in einem Film- oder Fernsehtext wird im Verlauf der Film- und Fernsehsozialisation erlernt. Denn es ist ohne das Fiktionsbewusstsein, das den Zuschauer: innen gestat‐ tet, sich auf die Inszenierungen einzulassen, nicht möglich. Filme können aber auch mit diesem Fiktionsbewusstsein spielen. In »Blair Witch Project« werden Authentisierungsstrategien eingesetzt, die die Zuschauer: innen glauben machen sollen, der Film sei keine Fiktion, sondern eine authentische Dokumentation (vgl. Schopp 2004). In einigen Filmen wie »Hostel« werden Authentisierungsstrategien eingesetzt, um Gewaltakte möglichst realitäts‐ nah zu inszenieren. Dennoch wird durch solche Muster der Inszenierung das Fiktionsbewusstsein der Zuschauer: innen nicht außer Kraft gesetzt. In der Film- und Fernsehanalyse kann herausgearbeitet werden, welche Elemente zur Bedrohung der Protagonist: innen und welche zur Bedrohung der Zuschauer: innen führen. Sie hängen mit einer wesentlichen Funktion 182 2 Narration und Dramaturgie <?page no="183"?> von Narration und Dramaturgie zusammen: der Perspektivierung, Regula‐ tion und Verteilung von Wissen und der Anregung emotionaler Reaktionen. Analyseleitende Fragen • Welche Informationen bietet der Plot? • Wie bietet er diese Informationen an? • Was wird im Film nicht gezeigt, ist aber wichtig, um die Geschichte zu verstehen? • Welche Hypothesen und Erwartungen sind mit einem Ereignis verknüpft? • Welche Hypothesen werden in den nächsten Sequenzen verworfen? • Welche Erwartungen werden bestätigt, welche enttäuscht? • Wo wird auf bereits mitgeteiltes Wissen verwiesen? • Wie fügt sich dieses Wissen zur Geschichte zusammen? • Wie sind nonlineare Plots konstruiert und wie fügt sich hier alles zu einer Geschichte zusammen? • Welches Vorwissen muss eine Zuschauerin mitbringen, um den Film oder die Fernsehsendung verstehen zu können? • Wie geht der Film- oder Fernsehtext mit seinen Informationen um, wie baut er das Wissen beim Publikum auf ? • Wer weiß mehr: die Figuren oder die Zuschauer: innen? • Wo finden sich Ellipsen, an denen das Weltwissen der Zuschauer: in‐ nen gefordert ist, um Leerstellen im Film auszufüllen? • Welches Wissen um Erzählmuster und filmische Darbietungsmittel ist erforderlich, um den Film zu verstehen? • Gibt es typische Handlungsmuster und -situationen? • Welche handlungsleitenden Themen bietet der Text an und für welche Personen oder Personengruppen? • Um welche Art von Serie handelt es sich? • Welche Elemente der Narration in Fernsehserien gehören zur verti‐ kalen und welche zur horizontalen Dramaturgie? • Wie sind horizontale und vertikale Dramaturgie miteinander ver‐ bunden? • Welche Figuren tauchen nur in horizontalen Erzählsträngen auf ? • Arbeitet der Film oder die Fernsehsendung mit Mystery, Surprise oder Suspense? 2.5 Bedrohung 183 <?page no="184"?> • Wie ist das Wissen in komischen Szenen zwischen Protagonist: in‐ nen und Zuschauer: innen verteilt? • Gibt es in dem Film oder der Fernsehsendung eine komische Figur? Wodurch ist sie gekennzeichnet? • Wie sind die visuellen Gags inszeniert? • Mit welchen Mitteln werden akustische und sprachliche Gags insze‐ niert? • Mit welchem Wissen und welchen Erwartungen der Zuschauer: in‐ nen spielen witzige Dialoge? • In welchen Szenen ist mit dem Suspense die Auslösung emotionaler Reaktionen verbunden? Kann in diesen Szenen Thrill entstehen? • Mit welchen Mitteln wird die Bedrohung für Protagonist: innen und Zuschauer: innen inszeniert? 2.6 Zitierte Literatur Albers, Margret (1996): Formen der kognitiven Bedrohung in postmodernen Hor‐ rorfilmen. Diplomarbeit an der Hochschule für Film und Fernsehen »Konrad Wolf« Potsdam-Babelsberg Balint, Michael (o.-J.): Angstlust und Regression. Beitrag zur psychologischen Typenlehre. Stuttgart Barker, Martin (2000): From Antz to Titanic. Reinventing Film Analysis. Lon‐ don/ Sterling, VA Berger, Arthur Asa (1997): Narratives in Popular Culture, Media, and Everyday Life. Thousand Oaks u.a. 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Stuttgart 2.6 Zitierte Literatur 191 <?page no="192"?> 3 Figuren und Akteur: innen Die Analyse der Personen, Charaktere und Figuren in Filmen, Fernsehsen‐ dungen und Videos ist besonders wichtig, weil diese in den Erzählungen die Handlung vorantreiben. Ohne sie gäbe es keine Erzählung, keinen Plot und keine Geschichte. Denn die Figuren ermöglichen es, »dass Zuschauer durch Beobachtung der Figuren individuelle Vorstellungen von Handlungen, Kon‐ flikten, Motiven, ›figurinternen‹ Prozessen und dramaturgisch-normativ gestalteten Narrationsverläufen konstruieren« (Heidbrink 2010, S. 268). Sie können zu »moralischen Agenten« für die Zuschauer: innen werden (vgl. Plantinga 2019). Auch wenn fiktionale Figuren in Filmen keine realen Menschen sind - nur von realen Schauspieler: innen verkörpert werden -, haben sie doch »das Potenzial, im Rahmen der Kommunikationsprozesse als eine Art Homunculi mit wichtigen menschlichen Eigenschaften wirksam zu werden. Dazu gehört, dass sie sich als Individuen mit zielgerichtetem verantwortlichem Handeln zeigen«, und sie ihre Emotionen zeigen (Wuss 2020, S. 241). Fiktionale Figuren können als »eine systemhafte Nachbildung einer Persönlichkeit« gesehen werden (ebd., S.-240). Nicht nur in fiktionalen Filmen gibt es einen »Charakter, der etwas will, aber Probleme hat, es zu bekommen« (Phillips 2009, S. 277), oder mehrere Charaktere, die unterschiedliche Ziele verfolgen, sondern auch in Game- und Talkshows oder Dokumentationen. Die Intentionen der Filmfiguren sind für die Zuschauer: innen wichtig, denn: »Für die Gesamtwirkung des Films sind die Figuren von immenser Bedeutung, machen sie doch wichtige praktische Lebensinteressen der Menschen auf an‐ schauliche Weise bewusst, indem sie ihnen eine physisch wahrnehmbare Gestalt geben, in der sich aktive Tätigkeiten mit ideellen Anliegen verbinden« (Wuss 2020, S.-230). Spielfilme werden meistens aus der Perspektive einer der handelnden Figu‐ ren erzählt. Seltener kommentiert und erläutert eine unsichtbare Erzählerin aus dem Off die Handlung auf der Leinwand bzw. dem Bildschirm, und nur manchmal fungieren Kamera und Montage als allwissende Erzähler: innen. Charaktere als Handlungsträger haben eine wichtige Bedeutung für die Geschichte im Kopf der Zuschauer: innen. Dabei spielen Emotionen eine wichtige Rolle (vgl. Eder 2014, S. 647 ff.; Stadler 2015; Tan 1996, S. 153 ff.; <?page no="193"?> Wuss 1999, S. 38 ff. und S. 318 ff. sowie die Beiträge in Brütsch u. a. 2005; Schick/ Ebbrecht 2008). Je nach Sympathie oder Antipathie gegenüber den Handlungsträgern werden die Zuschauer: innen unterschiedliche Geschich‐ ten konstruieren. Sie werden z. B. mit einer Figur, mit der sie sich identifi‐ zieren, mitlieben und mitleiden. Sie werden einen Racheakt dieser Figur möglicherweise gutheißen, weil sie deren Motive gut verstehen können, werden aber zu dieser Tat eine ganz andere Haltung entwickeln, wenn die Figur sie nicht interessiert oder sie sie sogar ablehnen. Ob es zur Identifika‐ tion mit einer Figur im Film oder in der Fernsehsendung kommt, hängt nicht nur von den persönlichen Einstellungen und Lebenshintergründen der Zuschauer ab, sondern auch von der Funktion der Figur im Rahmen der Narration und den filmischen Gestaltungsmitteln - von der Kamera über die Lichtgestaltung bis hin zur Montage -, kurz: von der Inszenierung der Figur als Sympathieträger und Identifikationsfigur. Anhand des Personals in Spielfilmen, Game- und Talkshows und anderen Sendungen werden die in der Gesellschaft zirkulierenden Konzepte von Selbst und Identität verhandelt, eingebettet in den Rahmen einer Narration oder eines Spiels. Denn die auftretenden Figuren sind nicht nur mit perso‐ nalen Eigenschaften ausgestattet, sie schlüpfen auch in soziale Rollen. Die Analyse der handelnden Personen in Filmen, Fernsehsendungen und Videos gibt also gleichzeitig Auskunft über die gesellschaftlichen Befindlichkeiten. Ihre Inszenierung ist gebunden an die in den jeweiligen Gesellschaften zir‐ kulierenden Bedeutungen, die normativen und moralisch-ethischen Regeln des Zusammenlebens betreffend. Die Einordnung und Kategorisierung insbesondere fiktiver Personen in den Film- und Fernseherzählungen bereitet in der Film- und Fernsehwis‐ senschaft einige Probleme. Zunächst erscheint es sehr einfach, auf den Ebenen Narration und Dramaturgie zwischen Haupt- und Nebenfiguren zu unterscheiden. »Daher unterteilt die klassische Erzählung ihr Personal in Haupt- und Neben‐ figuren, wobei es meist eine deutliche zentrale Figur geben sollte. Sie trifft die wichtigsten handlungsrelevanten Entscheidungen […]. Folglich dominieren die Hauptfiguren die wesentlichen narrativen Entwicklungen. Demgegenüber hat das sekundäre Personal vor allem dienende und unterstützende Funktion« (Taylor 2002, S. 161 f.). Die Nebenfiguren dienen auch der Kontrastierung und Beschreibung der Hauptfigur. Sie sind allerdings nicht mit der klassischen Gegenspielerin, 3 Figuren und Akteur: innen 193 <?page no="194"?> der Antagonistin, zu verwechseln, die versucht, die Pläne und Ziele der Hauptfigur zu durchkreuzen. Jens Eder (2014, S. 468) unterscheidet zudem noch Randfiguren und Statist: innen. Jenseits dieser Hierarchisierung schlägt er vor, die Figuren nach der Aufmerksamkeit, die »sie vom Publikum jeweils bekommen« (ebd.), zu unterscheiden. Narration, Dramaturgie und Ästhetik (vor allem Kamera und Licht, vgl. Kapitel II.4.1 und II.4.2) lenken dabei sowohl die Aufmerksamkeit der Figur im diegetischen Prozess als auch die Aufmerksamkeit der Zuschauer: innen. Die Haupt- und Nebenfiguren in fiktionalen Filmen können auch referen‐ zielle, biografische Figuren sein, wenn es sich um historische Persönlichkei‐ ten handelt. In diesem Fall liegt ein Bezug der Figur zur außerfilmischen Realität vor. Allerdings kann es dabei zu Problemen in der Narration kommen, weil solche referenziellen Figuren dazu tendieren, »zu mächtig für die Diegese zu werden und sie in irgendeiner Form zu sprengen« (Taylor 2002, S. 164 f.). Das war z. B. in dem Film »Marlene« von Joseph Vilsmaier so, bei dem die referenzielle Figur der Marlene Dietrich nicht von der Narration des Films gebändigt werden konnte. In Filmen wie »Ali«, »Get On Up«, »Ray«, »Walk the Line«, »Miles Ahead«, »Respect« oder »Control«, in denen das Leben von Muhammad Ali, James Brown, Ray Charles, Johnny Cash, Miles Davis, Aretha Franklin und Ian Curtis erzählt wird, konnten diese Figuren in die Diegese eingebunden werden, ohne sie zu sprengen. Die Sozialwissenschaftlerin Angela Keppler hat daher vorgeschlagen, zwischen Personen, Figuren und Typen zu unterscheiden (vgl. Keppler 1995, S. 88 ff.; Keppler 1996, S. 15 ff.). Unter Personen versteht sie Individuen, die faktische oder potenzielle Teilnehmer: innen an einer wechselseitigen sozia‐ len Praxis sind, unter Figuren »fiktive Gestalten, die dies nicht sind und nicht sein können« (Keppler 1996, S. 15). Typen oder Typisierungen sind nach Keppler Abstraktionen sozialer Akteur: innen und besitzen im Gegensatz zu wirklichen Personen, die je besondere Individuen sind, keine individuellen Züge. Der Filmwissenschaftler Henry Bacon (2019, S. 91) sieht Typen und Individuen als Gegensatz, die aber auf dialektische Weine funktionieren (ebd., S. 78). Für die Analyse des Personals in Filmen, Fernsehsendungen und Videos ist diese Unterscheidung meines Erachtens jedoch wenig sinnvoll, zumal Keppler selbst feststellt, dass Figuren in den medialen Texten wie Personen wahrgenommen werden können (ebd., S. 17), eine Verwechslung fiktiver Figuren mit realen Personen aber in der Regel nicht stattfindet (vgl. Keppler 1995, S. 88). Ihre Unterscheidung gründet darauf, dass sie 194 3 Figuren und Akteur: innen <?page no="195"?> einen Unterschied zwischen sozialer Wirklichkeit und der fiktiven Welt der Medien konstatiert. Wenn aber der Akt des Filmbzw. Fernsehverstehens stets nur mit dem Wissen der Zuschauer: innen möglich ist und die Wahrnehmung des Personals in den Filmen, Fernsehsendungen und Videos von den Selbst- und Identitätskonzepten der Zuschauer: innen und deren Wissen über soziale Rollen und typische Protagonist: innenrollen abhängt, dann ist diese Unter‐ scheidung nicht sinnvoll. Zentraler ist in dem Fall eher die Kategorie der Glaubwürdigkeit der fiktiven und der inszenierten Personen, weil dies die Voraussetzung dafür ist, dass die Zuschauer: innen sie sich als »wirkliche« Menschen vorstellen können. Dazu müssen sie dreidimensional konstruiert sein, als physische, als psychische und als soziale Personen (vgl. Rush 2012, S. 55 ff.) oder wie es Eder 2014, S. 521) ausdrückt: Sie müssen »Körperlichkeit, Psyche und Sozialität« besitzen. Die Analyse muss sich einerseits an der medialen Konstruktion des Personals und andererseits an dem Wissen der Zuschauer: innen über psychische Befindlichkeiten und soziale Rollen orientieren. Im Zusammenhang mit der Untersuchung von Familienserien hat die britische Medienwissenschaftlerin Christine Geraghty (1981, S. 19 ff.) vorgeschlagen, die fiktiven Personen in drei Gruppen einzuteilen: 1. Individualisierte Charaktere, die Merkmale in sich vereinen, die nur diesen Personen zugeordnet werden können und aufgrund derer sie sich von anderen Personen unterscheiden (z. B. Augenfarbe, Narben, Eigenschaften wie Mut oder Ängstlichkeit) 2. Serientypen, deren Merkmale nur aufgrund ihres Auftretens in der Serie und der Ausprägung der Rolle, die sie dort verkörpern, zu verstehen sind (z. B. die Entwicklung von Walter White zum Drogenproduzenten und Mörder in »Breaking Bad« oder die garstige Dynamik von Leroy Jethro Gibbs in »Navy CIS«) 3. Inhaber von Statuspositionen, die ausschließlich durch ihre Rolle in der Serie gekennzeichnet sind, abhängig von Alter, Geschlecht, Famili‐ enstand, Beruf, Klassen- oder Schichtzugehörigkeit (z. B. Pförtner: in, Ärztin, junge Bankmanagerin, homosexueller Kellner, alleinerziehende Mutter) Diese Einteilung wurde zwar an Serienpersonen vorgenommen, lässt sich aber auch auf fiktive Figuren in Spielfilmen übertragen. Einzelne Akteur: in‐ nen können all diese Merkmale auf sich vereinen, sie sind sowohl indivi‐ dualisierte Charaktere, Serien- oder Filmfiguren und Inhaber: innen von 3 Figuren und Akteur: innen 195 <?page no="196"?> Abb. 8: »Pretty Woman« Statuspositionen. So ist der Detektiv Philip Marlowe in »Tote schlafen fest« sowohl ein individualisierter Charakter als auch Inhaber einer Statusposi‐ tion und die Filmfigur »Detektiv«. Das trifft z. B. auch auf Clarice Starling und Hannibal Lecter in »Das Schweigen der Lämmer«, in »Hannibal« und der Serie »Hannibal« und Lorraine Broughton in »Atomic Blonde« zu. Manche Figuren, wie der Liftboy in »Pretty Woman«, der mit seiner Mimik die Beziehungsdynamik zwischen Vivian und Edward kommentieren darf, tauchen nur in ihren Statuspositionen auf. Grundsätzlich werden die Figuren jedoch durch ihre Erscheinung und ihre Handlungen charakterisiert. Wenn in »Pretty Woman« Edward korrekt mit Schlips und Kragen an seinem Schreibtisch sitzt und Vivian sich in langen Lackstiefeln und Minirock vor ihn auf den Tisch setzt-- unglücklicherweise auch noch auf ein wichti‐ ges Dokument (vgl. Abb. 8), sagt das viel über die Figuren aus, weil die Zuschauer: innen ihr soziales Wissen aktivieren können. Für die Filmanalyse haben Fran‐ cesco Casetti und Federico di Chio (1994, S. 170 ff.) eine Unterschei‐ dung des Personals in Personen, Rollen und Aktanten als Hand‐ lungsträger: innen vorgeschlagen. Dabei unterscheiden sie bei den Personen zwischen platten und runden, linearen und widersprüch‐ lichen sowie statischen und dyna‐ mischen. Bezüglich der Rollen dif‐ ferenzieren sie zwischen aktivem und passivem, beeinflusstem und autonomem, veränderndem (modificatore) und erhaltendem (conservatore) Personal sowie Protagonisten und Antago‐ nisten. Die Aktanten wiederum können nach statischen und sich ändernden, pragmatischen und eher denkenden (cognitivo) sowie nach solchen, die gemäß dem narrativen Diskurs handeln, und solchen, die es nicht tun, unterschieden werden. Für die Analyse gilt es jedoch zu bedenken, dass es nicht nur um fiktive Figuren bzw. Akteur: innen in Film- und Fernseh‐ erzählungen geht, sondern auch um Personen wie die »Lottofee«, die in Inszenierungen des Fernsehens auftreten, sowie um reale Personen wie Andrea Petković, Heidi Klum, Sandra Maischberger, Amira Pocher Anne Will, Hansi Flick, Joko Winterscheidt oder Günther Jauch. Grundsätzlich kann das Personal von Filmen, Fernsehsendungen und Videos als Figuren 196 3 Figuren und Akteur: innen <?page no="197"?> und Akteur: innen bezeichnet werden: Sie sind Figuren in einem Spiel der Inszenierung (einer fiktionalen oder dokumentarischen Erzählung, einer Unterhaltungs- oder Talkshow), und sie sind Akteur: innen von Handlungen, welche die Narration vorantreiben. Figuren können aber auch als Symbole oder Symptome gesehen werden (vgl. Eder 2014, S. 521 ff.). Dann vermitteln sie indirekte Bedeutungen, weil sie z. B. für eine Idee stehen oder für eine Entwicklung, wie Walter White in »Breaking Bad« als Symptom für das schlechte Gesundheitssystem in den USA, aus dem die Verzweiflungstaten des krebskranken Lehrers seine Begründung erfährt (vgl. auch Piepiorka 2017, S.-165). Komplexe Fernsehserien bauen häufig auf ein Figurenensemble im Mit‐ telpunkt oder auf sehr ambivalente Held: innen (vgl. Mittell 2015, S. 118 ff.). In Serien wie »Boardwalk Empire«, »Bridgerton«, »Game of Thrones«, »Heroes«, »Lost«, »Mad Men«, »Squid Game« oder »The Walking Dead« steht eine Gruppe von Charakteren im Mittelpunkt, um den Zuschauer: in‐ nen verschiedene Möglichkeiten zur Identifikation und parasozialen Inter‐ aktion bzw. parasozialen Beziehung anzubieten. Dank der horizontalen Erzählweise kann sich jede der Figuren aus dem Ensemble ausreichend ent‐ falten. Diese Erzählweise ermöglicht auch die Darstellung von ambivalenten Figuren wie Walter White in »Breaking Bad«, Dexter Morgan in »Dexter«, Giovanni Henriksen in »Lilyhammer« oder Tony Soprano in »Die Sopra‐ nos« (vgl. Gormász 2015, S. 141 ff.). Aufgrund der horizontalen Dramaturgie ist es auch möglich, dass Zuschauer: innen zu diesen Figuren eine positive Beziehung herstellen können, weil sie im Lauf der Handlung mehrere, teils widersprüchliche Facetten entfalten können. Für die Analyse ist es wichtig, die komplexe Charakterisierung der Figuren in ihre Einzelbestandteile zu zerlegen. Eines haben die fiktiven Personen in Spielfilmen und Serien, die in Insze‐ nierungen des Fernsehens wie Game- und Talkshows auftretenden Personen und die realen Personen gemeinsam: Sie sind medial inszeniert. Ihre Dar‐ stellung ist nicht nur in narrative Strukturen und Interaktionssituationen wie Spiele oder Gesprächsrunden eingebunden, sondern sie ist auch von Kameras in Szene gesetzt. Filmische und fernsehtypische Gestaltungsmittel wie Ausstattung, Kostüme, Maske, Licht usw. tragen zur Inszenierung bei (vgl. Kapitel II.4). Der fast göttliche Glanz, der sich um die Köpfe von Filmstars wie Greta Garbo in »Ninotschka« oder Rita Hayworth in »Gilda« rankt, ist ein Lichteffekt, der ebendiese Person in einem besonderen Licht erscheinen lässt (vgl. Kapitel II.4.2). Die Kameraposition und die jeweilige 3 Figuren und Akteur: innen 197 <?page no="198"?> Bildeinstellung tragen ebenfalls zur Inszenierung der Personen bei (vgl. Kapitel-II.4.1). Personen können so dominant oder unterdrückt inszeniert werden. Die Gefährlichkeit, die Hannibal Lecter in »Das Schweigen der Lämmer« aus‐ strahlt, wird dadurch unterstützt, dass er aus einer leichten Untersicht mit einer bestimmten Kopfhaltung gezeigt wird: In Groß- und Nahaufnahmen hält er den Kopf leicht nach unten gesenkt und blickt unter seinen Augen‐ lidern hervor. Dadurch entsteht der Eindruck von Macht und Bedrohung, die von ihm auszugehen scheint. Wird eine Person mit ähnlicher Kopfhaltung und ähnlichem Blick gezeigt, aber aus einer leichten Obersicht, wird das nicht als Bedrohung, sondern als Flirtverhalten wahrgenommen. Je näher die Kamera einer handelnden Person »auf die Pelle rückt«, umso mehr erfahren die Zuschauer: innen über ihr Innenleben, weil sie Mimik und Gestik, Wut und Angst genau zu sehen bekommen. Dadurch dass die Zuschauer: innen sie nicht nur beobachten, sondern auch emotional mit ihr in Berührung gebracht werden, wird die Person »runder«. Die Inszenierung kann bestimmte Aspekte der Figuren und bestimmte soziale Rollen in spezifischen Handlungskontexten hervorheben, die im Rahmen der diegetischen Welt der Filmerzählung oder im Rahmen der insze‐ nierten Welt des Videos, der Game- oder Talkshow von dramaturgischer Be‐ deutung sind. So interessiert in Talkshows selten die Gesamtpersönlichkeit eines Gastes, sondern nur bestimmte Eigenschaften oder Verhaltensweisen, die ihn als besondere Person charakterisieren. In der Serie und im Film »Akte X« oder den Serien »Fringe« und »Counterpart« werden nur die Merkmale der Hauptfiguren dargestellt, die in die Dramaturgie der Insze‐ nierung Unheimlichem und Paralleluniversen passen und für das Bestehen der damit verbundenen Actionsituationen und Psychospiele notwendig sind. In Beziehungskomödien wie »Meine erfundene Frau« werden die beiden Hauptfiguren Danny und Kathryn zwar als Persönlichkeiten und individuelle Charaktere entwickelt, doch ist ihre Charakterisierung der Erzählung nachgeordnet. Nicht alle Aspekte der Persönlichkeit von Filmfiguren, die sich in ihrem dargestellten Verhalten zeigen, werden von den Zuschauern: innen in der Rezeption wahrgenommen. »Der Betrachter spielt konkrete Details des Verhaltens der Figur herunter oder läßt sie weg, um eine psychische Identität und ein Handeln von umfassender 198 3 Figuren und Akteur: innen <?page no="199"?> Bedeutung konstruieren zu können, die in die Hypothesen über die folgende oder vergangene Handlung integrierbar sind« (Bordwell 1992, S. 14). Wenn eine Zuschauerin die Figur des Edward in »Pretty Woman« nur als nüchternen, viel arbeitenden Broker wahrnimmt, wird sie andere Erwar‐ tungen an die weitere Handlung entwickeln, als wenn sie ihn als einen charmanten und liebenswürdigen Menschen sieht. Entscheidend für die Wahrnehmung der Personen ist, welches Wissen von ihr im Verlauf der Narration aufgebaut wird. Davon hängt nicht zuletzt ihre Einordnung in Plot und Story durch die Zuschauer: innen ab. Dabei ist z. B. zu beachten, welche Person die Kamera als Hauptfigur in den Mittelpunkt eines Films stellt. Wenn z. B. im Verlauf der Handlung die Persönlichkeit der Protagonistin eine große Rolle spielt, weil von ihr auch entscheidend der Fortgang der Handlung abhängt, dann ist die Kamera während des gesamten Films bei dieser Person, die entweder im Mittelpunkt der Handlung steht, wie der Cop Freddy Heflin in »Cop Land«, Gloria Bell in »Gloria - Das Leben wartet nicht« und Martin in »Der Rausch«, oder aus deren Perspektive erzählt wird, wie Humbert Humbert in »Lolita«. Das ist ebenso in Filmen wie »Lola rennt« zu sehen: In allen drei Episoden des Films bleibt die Kamera fast ausschließlich bei Lola und beobachtet sie bei ihren Läufen durch Berlin. Actionhelden wie Dwayne Johnson, Bruce Willis oder Arnold Schwarzenegger stehen in ihren jeweiligen Rollen ebenfalls im Mittelpunkt. Das Prinzip wird hier aber dadurch unterbrochen, dass ihre Aktionen durch Aktivitäten der Antagonist: innen begründet werden müssen, sodass Letztere auch zu ihrem bildlichen Recht kommen. Protagonisten wie der Bierkutscher Hannes Weber in »Zugvögel - Einmal nach Inari«, der in seinen Handlungen bei der Verfolgung seines Ziels von anderen Figuren beeinflusst wird - von dem ihn jagenden Kommissar ebenso wie von seiner Reisebekanntschaft Sirpa -, werden ebenfalls stets von der Kamera begleitet. In »Die Truman Show« begleitet die Kamera die Hauptfigur Truman, um den Zuschauern die Welt des Films aus seiner Sicht nahezubringen. In sogenannten Biopics, in denen die Biografie eines Menschen nacherzählt wird, bleibt die Kamera immer bei der Hauptperson. In »Control« gibt es nur wenige Szenen, in denen Sam Riley, der den Sänger Ian Curtis spielt, nicht zu sehen ist, ebenso wie es in »Get On Up« nur wenige Szenen gibt, in denen Chadwick Boseman als James Brown oder Jennifer Hudson als Aretha Franklin in »Respect« nicht gezeigt werden. Sie dienen lediglich dazu, die Auswirkungen von deren Handlungen auf andere Personen einzufangen. 3 Figuren und Akteur: innen 199 <?page no="200"?> Die Kamera schwört die Zuschauer: innen auf diese Protagonist: innen ein und schafft damit eine Perspektivierung der Erzählung. In Filmen, in denen zwei Personen und ihre Beziehung zueinander im Mittelpunkt stehen, zeigt die Kamera die Hauptfiguren in trauter Zweisam‐ keit und wechselseitig, wenn sie sich voneinander entfernen. So sind in »Pretty Woman« die Protagonisten Vivian und Edward entweder zusammen bei gemeinsamen Aktivitäten oder abwechselnd in Interaktions- und Hand‐ lungssituationen mit anderen Personen zu sehen. In »L.A. Confidential« stehen die Polizisten Bud White und Ed Exley im Mittelpunkt. Die Kamera folgt ihnen, weil der Film seine Spannung aus diesen beiden gegensätzlichen Charakteren und der Notwendigkeit ihrer Zusammenarbeit bezieht. Die anderen Personen dienen hauptsächlich als Initiatoren der Handlungen dieser zwei Protagonisten. Die Kamera kann auch mehrere Personen bei ihren jeweiligen Aktivitäten im Film begleiten wie z.-B. in »Der Eissturm«, wo alle Personen der im Mittelpunkt stehenden Familien Hood und Carver in Interaktionen untereinander oder mit anderen gezeigt werden. Durch die »Parallelisierung« der Familien können in diesem Film gerade »Kontraste und Vergleiche zwischen den Generationen« dargestellt werden (Tröhler 2007, S. 341). Vor allem in Episodenfilmen wie »Babel«, »Cloud Atlas«, »Liebe Halal«, »Magnolia«, »Nackt«, »Pulp Fiction« oder »Short Cuts« rückt das Figurenensemble in den Mittelpunkt und wird von der Kamera be‐ gleitet. Dabei gibt es manchmal Figuren, z. B. der Fernsehsprecher zu Beginn von »Short Cuts« oder der Polizist in »Magnolia«, die »eine strukturierende und zumindest partiell zentrierende Funktion« haben (ebd., S. 350; vgl. auch Tröhler 2010), weil sie das Ensemble der Figuren miteinander verbinden. Der Wechsel der Perspektive ist besonders für den Wissensaufbau bei den Zuschauer: innen wichtig. Gerade in Szenen, in denen Personen interagieren, die beispielsweise jeweils eine Beziehung mit anderen Personen haben, aber gegenseitig von diesen anderen Beziehungen nichts wissen, entsteht für die Zuschauer: innen ein Stück Suspense, da sie mehr wissen als die handelnden Figuren (vgl. Kapitel II.2.3). Die Zuschauer: innen haben nur zwei Möglichkeiten, etwas über die Personen in den Filmen zu erfahren: Sie können (1) die Personen direkt bei Handlungen und Interaktionen beobachten, oder sie erfahren (2) indirekt etwas über sie, z. B. aus Dialogen anderer Personen, Zeitungsberichten, Tagebüchern oder Ähnlichem. In Filmen, in denen das Motiv des Fremdgehens ein zentrales Moment der Handlung ist, wird dies immer wieder als beliebtes Mittel eingesetzt, wenn z. B. der Ehemann dem Liebhaber der Ehefrau gegenübersteht, von dem die 200 3 Figuren und Akteur: innen <?page no="201"?> Zuschauer: innen nur aus einem Gespräch mit ihrer Freundin wissen, denn dieses Wissen ist lediglich den Zuschauer: innen vorbehalten. Das Wissen von den handelnden Personen in einem Film oder einer Serie hängt also wesentlich davon ab, welche Informationen die Zuschauer: innen über die Personen erhalten haben, akustisch und visuell. Für die Analyse ist es daher wichtig zu untersuchen, welches Personenwissen der Film oder die Serie für die Zuschauer: innen aufgebaut hat und welches Wissen über Personen und Rollen diese an den Film oder die Serie herantragen (vgl. auch Eder 2006 und 2014). 3.1 Personen und Rollen Da die Figuren und Akteur: innen in den Medien auf der Basis der alltäglichen Selbst- und Identitätskonzepte der Zuschauer: innen sowie dem Wissen um soziale Rollen wahrgenommen werden, scheint es zunächst sinnvoll, sie entsprechend der strukturellen und funktionalen Bestimmung von Handlungsrollen im Alltag zu unterscheiden. Generell lassen sich zwei Arten von Handlungsrollen in Film- und Fernsehtexten unterscheiden: (1)-spezifische Funktionsrollen, die sich noch einmal in mediale Funktions‐ rollen wie Talk- und Showmaster: in, Nachrichtensprecher: in, »Lottofee« oder Assistent: innen und soziale Funktionsrollen wie Liftboy, Verkäufer: in oder Unternehmer: in und Politiker: in unterscheiden lassen, und (2) soziale Handlungsrollen, wie sie in den kommunikativen Konstellationen aller Sendeformen und Erzählungen vorkommen. Alle Funktionsrollen enthalten auch einen Handlungsaspekt, doch dieser ist nicht dominant. Eine Sonder‐ form bilden Handlungsrollen, die in erster Linie dramaturgischen Zwecken dienen, wie z. B. in der beliebten Figur in Familienserien der Schwiegermut‐ ter, die zu Besuch kommt und an der sich Konflikte innerhalb der besuchten Familie entzünden. Die Funktionsrollen ergeben sich aus dem Status und der Funktion, die eine Figur innerhalb eines Films, eines Videos oder einer Fernsehsendung innehat. Ihren Charakteren bleibt wenig Spielraum, aus der Rollenübernahme in eine Gestaltung der Rolle überzugehen. Zentral ist die funktionale Bestimmung. So dürfen Assistenten in Gameshows zwar der Moderatorin zur Hand gehen, aber nicht selbst die Moderation übernehmen. Auch Nachrichtensprecher: innen sind in ihrer Funktion eindeutig festge‐ legt, lediglich bei Störungen des Ablaufs haben sie einen gewissen Spielraum zur Gestaltung ihrer Rolle. Die Showmaster: innenrolle gestattet relativ 3.1 Personen und Rollen 201 <?page no="202"?> mehr Freiheit, auch weil die Showmasterin in jeder Situation der Show mit Gästen, Kandidat: innen und Studio- oder Saalpublikum kommunizieren muss und mit ihnen gemeinsam am Handlungsgefüge »Show« teilnimmt. Showmaster: innen, Gäste und Kandidat: innen sind zwar über ihre mediale Funktionsrolle definiert, aus der sie auch nicht heraustreten können, weil das die Regeln der gemeinsamen Situationsdefinition sprengen würde, doch haben sie einen relativ großen Spielraum zur Gestaltung dieser Rollen, da diese in Handlungsrollen überführt werden müssen. Gleiches gilt für die fiktionalen Sendeformen. Auch dort kann zwischen Funktionsrollen und Handlungsrollen unterschieden werden. In der fiktio‐ nalen Erzählung gibt es Randfiguren, die lediglich durch die Übernahme einer Funktionsrolle definiert sind wie der Tankwart, der den Autotank der sich auf der Flucht befindenden Heldin füllt, und die Kioskverkäuferin, bei der die Detektivin noch schnell eine Packung Zigaretten kauft, oder die Eisverkäuferin mit Bauchladen, bei der das Opfer gerade noch ein Eis gekauft hat. Alle diese Rollen, die nur durch Status und Funktion defi‐ niert sind, können natürlich in soziale Handlungsrollen überführt werden. Die Protagonist: innen hingegen sind sowohl über Status und Funktion, aber vor allem über die Handlung selbst definiert, in Ausübung ihrer Handlungsrollen treiben sie die Geschichte voran. Sie verfolgen bestimmte Interessen, haben bestimmte Intentionen und und lassen sich von ihren Motivationen leiten (vgl. dazu auch Wuss 2020, S. 241). Dabei können sie ihre Handlungsrollen wechseln, wenn sich das Thema der erzählten Situation ändert. Aus dem knallharten Detektiv der einen Szene wird in der nächsten ein liebevoller Familienvater. Aus der zielstrebigen Bankmanagerin wird in einer anderen Szene eine liebevoll-chaotische Gastgeberin der Geburts‐ tagsparty ihrer Nichte. In gewisser Weise kann man von einer Hierarchie von Handlungsrollen ausgehen. Denn in einem Detektivfilm nimmt die Detektivin natürlich die Handlungsrolle »Detektivin« ein, zugleich ist sie aber auch in zahlreichen anderen Rollen zu sehen, z. B. als Kundin, Kneipenbesucherin oder Fahrgast eines Taxis. Diese Rollen sind der der Detektivin nachgeordnet, tragen aber zu deren Glaubwürdigkeit bei. Eine fiktive Person in einem Film- oder Fernsehtext handelt ebenso wie eine reale Person in ihrer medialen Inszenierung in vielfältigen sozialen Rollen in spezifischen Interaktionssituationen. In den Handlungsrollen vereinen sich Statusposition, individuelle Cha‐ raktermerkmale sowie die auf die Handlung bezogene Biografie der Prot‐ agonist: innen. Über diese Handlungsrollen wird sowohl die emotionale 202 3 Figuren und Akteur: innen <?page no="203"?> Nähe als auch die kognitive Repräsentation von erfahrungsbezogenen Handlungsmustern in der Rezeption generiert. Zugleich sind alle Funktions- und Handlungsrollen im Fernsehen in doppelter Weise konstituiert: Sie stehen einerseits in Bezug zu Funktion und Handlung, aber andererseits auch in Bezug zur Person, die sie ausfüllt. Sowohl in den fernsehspezifischen Inszenierungen als auch in den fiktionalen Sendeformen werden sie von den Schauspieler: innen, Stars und Medienpersönlichkeiten mit geprägt (vgl. Kapitel II.3.2). Die in den Inszenierungen des Fernsehens auftretenden Personen sind ei‐ nerseits durch die Funktionsrolle bestimmt, z. B. als Nachrichtensprecher: in, andererseits durch die Handlungsrollen, die ihnen mehr Möglichkeiten zur Gestaltung der Rolle lassen. In Game- und Talkshows gibt es klare Rollen‐ zuweisungen, die sich allerdings von Show zu Show unterscheiden können. Die Moderator: innen- und die Gästerolle sind in verschiedenen Talkshows unterschiedlich ausgeprägt. Die Inszenierung der Moderatorin erfolgt nicht nur funktionsbzw. handlungsorientiert, sondern auch personenorientiert. In Talkshows sind in der Regel drei Rollen zentral, die fester Bestandteil der Inszenierung sind: Moderator: in, Gäste und Studiopublikum sowie in manchen abendlichen Talkshows Musiker: innen mit Showauftritten, die als vierte Rolle dazukommen. Die Moderator: innen unterscheiden sich ebenso wie die Gäste nicht nur als individualisierte Charaktere, sondern auch in den abstrahierten sozialen Typen, die sie verkörpern. Ebenso lassen sich die Laiendarsteller: innen als soziale Typen sehen, wobei diese vorwiegend als Selbstdarsteller oder Opfer inszeniert werden (vgl. zum Diskurs über Laiendarsteller: innen in Filmen Kiss 2019). Das gehört zu den dramaturgi‐ schen Prinzipien der meisten Scripted-Reality-Formate. In den Gameshows, Casting- und Realityshows kommen in der Regel ähnliche Rollen vor: Show‐ master: in, Assistent: innen, Kandidat: innen, Showstars und Studiopublikum, das allerdings bei Realityshows in der Regel nicht in Erscheinung tritt. Für die Analyse ist es wichtig, die verschiedenen Beziehungen, in de‐ nen die auftretenden Personen stehen, zu analysieren (vgl. dazu auch Mikos/ Wulff 1990). So macht es z. B. einen Unterschied, ob eine Kandidatin allein zur Show gekommen ist oder ob ein ganzer »Fanclub« von Freunden, Bekannten und Kolleg: innen im Studiopublikum sitzt und sie anfeuert. Als Kandidatin muss sie sich gegenüber den anderen Kandidat: innen, der Show‐ masterin und dem Studiopublikum verhalten. Das kann zu Beziehungs- und Rollenkonflikten führen, die in der Spielsituation ausagiert werden. Gerade in den Episoden von Realityshows wie »Big Brother«, »Newtopia« 3.1 Personen und Rollen 203 <?page no="204"?> oder »Ich bin ein Star - Holt mich hier raus! «, in denen das Geschehen eines Tages zusammengefasst wird, werden diese Beziehungsstrukturen in der Narration besonders betont (vgl. Mikos u. a. 2000; Mikos 2007). In Castingshows wie »Germany’s Next Topmodel« werden vor allem Konflikte zwischen den Kandidat: innen in den Einspielfilmen, die das Leben zwischen den Folgen schildern, betont. In der Analyse geht es dann nicht nur um die offensichtlichen, sondern auch um die versteckten Beziehungsstrukturen, die bedeutsam sein können. Denn in mediatisierten Formen der Kommuni‐ kation und Interaktion sind soziale Bindungspotenziale eingelagert (vgl. Sander 1998, S. 79 ff.), die herausgearbeitet werden müssen. Die Analyse der Personen in Filmen, Fernsehsendungen und Videos muss immer das Doppelverhältnis der kommunikativen Konstellation zwischen Medientext einerseits und Zuschauer: innen andererseits berücksichtigen. Ausgangspunkt der Analyse ist zum einen in fiktionalen, narrativen Filmen und Fernsehsendungen das aufgebaute Wissen um die handlungsleitenden Akteur: innen und entsprechend in den Fernsehinszenierungen der Game- und Talkshows das aufgebaute Wissen um die Personen und ihr Beziehungs‐ gefüge, zum anderen das lebensweltliche Wissen um soziale und typische Protagonist: innen- und Antagonist: innenrollen sowie die Selbst- und Iden‐ titätskonzepte der Zuschauer: innen. Neben diesen kognitiven Elementen geht es auch um die emotionalen Strukturen, die sich in dargestellten In‐ teraktionssituationen manifestieren. Nur wenn beides berücksichtigt wird, kann die Analyse dem Interaktionsverhältnis zwischen Medientexten und Zuschauer: innen gerecht werden. Schwierig ist die Analyse der Personen in den Familienserien und Daily Soaps, weil das Wissen um die Personen nicht in einer einzigen Folge oder Episode aufgebaut wird, sondern über alle bis zum Zeitpunkt der Analyse gesendeten Folgen hinweg. Sowohl die regelmäßigen Zuschauer: innen als auch die Personen in den Serien haben so eine Art kumulatives Gedächtnis (vgl. Mikos 1995, S. 81 ff.), das sowohl als Archiv fungiert, aber auch als aktualisierter und perspektivierter Bestand an Sinn (vgl. Assmann 1988, S. 13). Bleibt die aktuelle Handlung einer Serienperson unverständlich, wird das Seriengedächtnis aktiviert, um der Handlung Sinn und Bedeutung zu verleihen. 204 3 Figuren und Akteur: innen <?page no="205"?> 3.2 Stars und Celebrities Filmstars haben schon früh in der Filmindustrie eine Rolle gespielt (vgl. zur Entstehung des Starsystems DeCordova 2001 und 2007; King 2015; Shail 2022). Sie waren und sind für Produzent: innen und für das Publikum wichtig, sind sie doch einer der Erfolgsfaktoren von Filmen. Bereits im frühen 20. Jahrhundert hatten sich in Hollywood Rezepte für erfolgreiche Filme etabliert. Filme mussten neben einer guten Story (story value) und einer ästhetischen und technischen Qualität (production value) vor allem auch Stars (star value) aufbieten können (vgl. Engell 1992, S. 110ff.). Aller‐ dings sind Stars nicht nur ein Produkt der Filmindustrie, sondern auch eines des Publikums. Stars sind in kulturelle und soziale Diskurse eingebet‐ tet, ebenso wie sie Fantasien und Wünsche des Publikums verkörpern. Zugleich sind sie ökonomisches Kapital für die Produzent: innen. Deshalb sind zahlreiche Akteur: innen an der Kreation von Stars und Celebrities beteiligt, von Manager: innen über Agenturen bis hin zu Journalist: innen (vgl. Turner/ Bonner/ Marshall 2006). Stars sind ein komplexes Phänomen, da verschiedene Aspekte von Produktion und Publicity mit verschiedenen Aspekten der Rezeption zusammenwirken. Das trifft auch auf Fernsehpersönlichkeiten zu, die mit speziellen Rollen und Funktionen im Fernsehen zu Berühmtheit gelangten (vgl. Bennett 2011; Bonner 2016; Langer 2006). Damit waren zunächst Showmaster: innen, Moderator: innen und Charaktere aus Daily Soaps, den täglichen Fernsehse‐ rien, gemeint. Auch in den horizontal erzählten Serien (vgl. Kapitel II.2.2), die oft mehrere Staffeln erleben, können sowohl Schauspieler: innen wie Seriencharaktere zu Stars werden (vgl. Shail 2022, S. 189ff.). Die Entwicklung der Medienlandschaft im 21. Jahrhundert hat zunächst mit dem Reality-TV »gewöhnliche« Menschen zu Berühmtheiten werden lassen, die inzwischen in der Verwertungsmaschine Fernsehen von Realityshow zu Castingshow zu einer weiteren Realityshow tingeln. Zusammen mit dem Aufkommen der sozialen Medien hat sich der Fokus von den Filmstars und Fernsehper‐ sönlichkeiten auf die sogenannten Celebrities verlegt, zu denen ein eigener Forschungszweig, die Celebrity Studies entstanden sind (vgl. exemplarisch Douglas/ McDonnell 2019; Elliott 2020; Marshall 2006; Redmond 2019; Red‐ mond/ Holmes 2007: Turner 2014). In dieser Forschungsrichtung wird nur noch in manchen Studien zu analytischen Zwecken zwischen Filmstars, Fernseh- und Medienpersönlichkeiten und Social-Media-Berühmheiten un‐ terschieden. Das mag auch daran liegen, dass für Filmstars und Fernseh‐ 3.2 Stars und Celebrities 205 <?page no="206"?> persönlichkeiten die Berichterstattung in anderen Medien konstitutiv ist. Mit den sozialen Medien ist ein weiterer Faktor hinzugekommen, der den Diskurs über die Celebrities belebt und einen weiteren Kontaktpunkt mit dem Publikum bietet (vgl. Abidin, 2018; Detel 2017; Douglas/ McDonnell 2019, S. 228ff.; Jerslev/ Mortensen 2020). Der Soziologe Ellis Cashmore (2019) hat das am Beispiel des Kardashian-Clans beschrieben. Auch in den sozialen Medien ist der kommunikative Aspekt wichtig, haben die Zuschauer: innen hier doch vermeintlich die Möglichkeit mit ihrem Star bzw. ihre Celebrity-Person direkt zu kommunizieren. Zudem zeigen die Kommentare in den sozialen Medien, wie Stars und Fernsehpersönlichkeiten ihr Publikum auch emotional erreichen, und wie die Medien- und Kommu‐ nikationswissenschaftlerin Claudia Töpper (2021, S. 151ff.) am Beispiel von »Germany’s Netx Topmodel« gezeigt hat, handeln die Zuschauer: innen ganze Emotionsrepertoires aus. Daher spielt im Kontext der Forschung zu den Beziehungen von Stars bzw. Celebrities zu den Zuschauer: innen auch parasoziale Interaktion und parasoziale Beziehungen eine große Rolle (vgl. Brown 2020; Turner 2014, S. 102ff; Weingart 2021, S. 600 sowie Kapitel II.3.5). Im Kontext der Analyse von Figuren und Akteur: innen in Filmen, Fern‐ sehsendungen und Videos ist vor allem der kommunikative Aspekt von Filmstars und Medienpersönlichkeiten wichtig. Im Wesentlichen waren es vier Ansätze, mit denen versucht wurde, diese Anziehungskraft zunächst von Filmstars zu analysieren und zu erklären: Semiotik, Intertextualität, Psychoanalyse und Publikumsstudien (vgl. McDonald 1995, S. 80). Mit Hilfe semiotischer Ansätze wurde versucht, die Anziehungskraft der Stars nicht als ein Ausdruck individuellen Charismas der jeweiligen Starperson zu erklären, sondern als Produkt bestimmter Bedeutungen, die der jeweilige Star verkörperte. Stars wurden dabei als Texte gesehen, die bestimmte ideologische Bedeutungen transportieren (vgl. exemplarisch Dyer 1998). Ihre Anziehungskraft gründete dann in der Art und Weise, in der das Image eines Stars in der Lage war, ideologische Widersprüche für das Publikum zu lösen. Das geschieht vor allem dadurch, dass diese Widersprüche auf eine Starperson vereinigt und so naturalisiert werden, auf das Publikum wirken sie natürlich. Dyer hat dies am Beispiel Marilyn Monroe deutlich gemacht (Dyer 1998, S. 36, Dyer 2004, S. 19ff). Während in psychoanalytisch orientierten Arbeiten vor allem Identifikationsprozesse im Mittelpunkt standen, in denen die Positionierung des Zuschauer: innensubjekts durch ihre Beziehung zu Filmfiguren vermittelt über den Kamerablick und die Blicke der Charaktere im Film untersucht wurde (vgl. exemplarisch Metz 206 3 Figuren und Akteur: innen <?page no="207"?> 2000, Mulvey 1975, Doane 1991), standen in Publikumsstudien Identifikati‐ onsprozesse von empirischen Zuschauer: innen im Mittelpunkt (vgl. Stacey 1994), in denen gezeigt werden konnte, dass es vielfältige Formen der Identifikation mit Stars gibt. In all diesen Ansätzen werden Stars jedoch nur marginal in Beziehung zum Film und zur Filmerzählung gesetzt. Dies geschieht zumindest ansatzweise in den Arbeiten, die sich mit der Intertextualität des Star-Images auseinandersetzen (vgl. exemplarisch Dyer 1998, S. 68ff, Ellis 1992, S. 91ff; zur Intertextualität Kapitel II.5.2). So geht der Medienwissenschaftler John Ellis davon aus: »Stars haben in der Filmindustrie eine vergleichbare Funktion wie die Kreation eines ›narrative image‹: Sie liefern ein Vorwissen auf die Fiktion, eine Einladung ins Kino. Stars sind außerhalb des Kinos nicht vollständig: Ihre Darstellung im Film komplettiert erst ihr Bild aus der unterstützenden Zirkulation in Zeitungen, Fanzines usw.« (ebd., S.-91). Stars laden die Zuschauer: innen ins Kino ein, denn nur dort können diese ihr Bild vom Star vervollständigen, das sie nur unvollständig aus anderen Medien kennen. In diesem Sinn sind Stars ein Aspekt des Filmmarketing. Sie dienen als ein Mittel der Produktunterscheidung. In welchem Verhältnis sie allerdings zu den Filmen und ihren Erzählungen stehen, bleibt bei Ellis ungeklärt, außer der Tatsache, dass sie ein Vorwissen der filmischen Erzählung darstellen. Das legt allerdings nahe, dass Ellis davon ausgeht, dass das »narrative image« der Stars sich in die filmische Erzählung einfügt. Dyer (1998, S. 68ff) stellt hingegen fest, dass sich ein Star-Image aus dem intertextuellen Gefüge von Promotion, Publicity und Kritik (Criticism) zusammensetzt, das mit dem Filmtext, in dem der Star erscheint, interagiert. Dabei geht Dyer nicht nur davon aus, dass das Star-Image in die Filmerzäh‐ lung passt, sondern für sie auch sehr problematisch sein kann. Allerdings wird dieser Punkt nicht weiter diskutiert, denn in der Regel passt sich das Star-Image in die Filmerzählung ein. Zugleich ist das Image des Stars durch immer neue intertextuelle Bezüge der Veränderung unterworfen. Das endgültige Star-Image gibt es nicht, denn aufgrund der intertextuellen Bezüge ist es ein komplexer Prozess der Bedeutungsbildung. Das Star-Image entsteht durch diese Bezüge und mithin aus einer »Kollektion von Texten« (McDonald 2013, S. 281). Stars existieren in diesem Sinn als eine unabge‐ schlossene Erzählung, die sich erst im historischen Prozess ihrer Aneignung im Kontext der Intertextualität realisiert. Das hat Konsequenzen für den Auftritt von Stars in Filmen. Ihre Star-Erzählung kann in Konkurrenz zur 3.2 Stars und Celebrities 207 <?page no="208"?> Filmerzählung, die ja nicht unwesentlich von den Charakteren vorangetrie‐ ben wird, stehen. In den Stars und Medienpersönlichkeiten werden Rolle und Person zur erzählerischen Einheit, zum Startext. Das ist besonders bei Stars bedeutsam, die in Franchise-Filmen auftreten, wie Daniel Craig als James Bond, Chris Hemsworth als Thor in den Filmen des Marvel Cinematic Universe oder Gal Gadot als Wonder Woman, oder für die Stars unter den Serienschauspielern. Für die Analyse ist dies bedeutsam, weil die Figuren und Akteur: innen, die in den Film- und Fernsehtexten in sozialen Rollen zu sehen sind, auch über die Schauspieler: innen bzw. die Stars oder die Medienpersönlichkeiten wahrgenommen werden können (vgl. Hallenberger 2010, S. 286). Dann tritt das Wissen um den Star in Konkurrenz zum Wissen um die fiktive Person, die von dem Star in einem Film verkörpert wird (vgl. Mikos 1997). Bedeutsam ist dies besonders dann, wenn ein Star in einem Film eine Handlungsrolle spielen muss, die seinem Star-Image nicht entspricht. Das kann unbeabsichtigt sein oder aber mit Absicht so besetzt sein. Beispielhaft genannt seien hier die Filme »Spiel mir das Lied vom Tod«, wo Henry Fonda, der als Star das Image des Guten hatte, einen Bösewicht spielen musste, und »Pulp Fiction«, wo der aus dem Diskofilm »Saturday Night Fever« bekannte John Travolta ein Comeback als Gangster erlebte - der sich immerhin in einer Tanzszene selbst zitieren durfte. Das Image der Stars und Celebrities hängt wesentlich auch von den außerfilmischen Aktivitäten ab, die dann wiederum das profilmische Image beeinflussen. Durch den Zivilprozess wegen Verleumdung, der von beiden Beteiligten in die Wege geleitet worden war, wird das Verhalten von Amber Heard und Johnny Depp vor Gericht auch Auswirkungen auf deren Wahrnehmung in Filmen durch die Zuschauer: innen haben. Für die Analyse von Stars und Celebrities an sich wie deren Rolle in Filmen, Videos oder Fernsehserien ist es wichtig, das Geflecht der intertextuellen Bezüge zu entwirren. Dann kann auch herausgearbeitet werden, welche emotionalen Adressierungen für die Rezeption eine Rolle spielen. 3.3 Identifikation Die Wahrnehmung von Personen erfolgt im Alltag aufgrund sogenannter Personen- und Rollenschemata und sinnlich-symbolischer Prozesse wie Identifikationen und Projektionen sowohl kognitiv wie emotional. Schemata 208 3 Figuren und Akteur: innen <?page no="209"?> sind mentale Sets oder Rahmen, die es dem Individuum ermöglichen, Ereig‐ nisse zu interpretieren, Erwartungen zu bilden und die Aufmerksamkeit zu lenken. Diese Schemata sind kulturabhängig und im Rahmen kultureller Kontexte erlernbar (vgl. Smith 2022, S. 47 ff.). Das trifft auch auf das Personal von Film- und Fernsehtexten zu. Die Figuren der Erzählung werden mithilfe von Personenschemata, die das Wissen um die Eigenschaften von Personen repräsentieren, und Rollenschemata, die das Wissen um soziale Rollen beinhalten, wahrgenommen, interpretiert und eingeordnet (vgl. Bordwell 1992, S. 14). Die Zuschauer: innen haben ein Wissen um typische Protago‐ nist: innenrollen, das in der Rezeption eine Rolle spielt. Die Wahrnehmung des Personals der Film- und Fernsehtexte erfolgt nicht nur über die kognitiven Personen- und Rollenschemata, sondern auch über emotionale Aktivitäten wie Identifikation und Projektion (vgl. auch Eder 2014, S. 168 ff. und S. 647 ff.; Mikos 2001, S. 110 ff.), die jedoch teilweise kognitiv induziert sind, weil sie Wissen um die Figuren voraussetzen (vgl. Grodal 1997, S. 81 ff.). »Eine Figur kann nur dann wie eine Person wahrgenommen werden, wenn wir eine Vorstellung davon gewinnen können, wie es ist oder wie es wäre, diese Person zu sein - gerade so, wie wir im Alltag jemanden als Person nur wahrnehmen können, wenn wir aus der wenigstens hypothetisch eingenomme‐ nen Perspektive dieser Person bis zu einem gewissen Grad verstehen können, warum sie handelt, wie sie handelt und empfindet. Die Fähigkeit zur - wie immer hypothetischen - Übernahme der Rolle des anderen ist eine Voraussetzung seiner Anerkennung oder Auffassung als Person. Die Identifikation mit medialen Figuren, bedeutet dies, basiert auf lebensweltlichen Erfahrungen des Umgangs von Personen untereinander, mehr noch: Sie folgt denselben Mustern wie die Identifikation in der Face-to-Face-Situation des Alltags« (Keppler 1996, S. 20, H.i.O.). Identifikation setzt ein Verstehen voraus, das nur möglich ist, wenn man sich in andere Personen hineinversetzt. Eine Identifikation findet jedoch erst dann statt, wenn man diese andere Person mit der eigenen Person vergleicht und Übereinstimmungen feststellt (vgl. Mikos 2001, S. 116 ff.). Zwar sind die Identifikationen auf Personen gerichtet, doch orientieren sie sich an den sozialen Rollen, die diese Personen in den einzelnen Hand‐ lungssequenzen einer Film- oder Fernseherzählung spielen oder die sie in den Inszenierungen von Talk- oder Gameshows einnehmen - und diese Rollen sind an soziale Situationen und deren Interaktionen gebunden, denen 3.3 Identifikation 209 <?page no="210"?> eine Emotionsstruktur zugrunde liegt (vgl. Tan 1996, S. 195 ff.; Kapitel I.1.2). In »Titanic« nimmt Rose die soziale Rolle der Geliebten von Jack Dawson ein. Teenager identifizieren sich nicht völlig mit der inszenierten Filmfigur Rose, sondern mit ihrer sozialen Rolle als Geliebte von Jack Dawson und da‐ mit auch von Leonardo DiCaprio, der diesen jungen Mann im Film darstellt. Wenn sich ein Zuschauer z. B. mit einer Filmfigur wie dem Detektiv Philip Marlow in »Tote schlafen fest«, gespielt von Humphrey Bogart, identifiziert, wird er den ganzen Film über eine Nähe zu der Figur fühlen. Wenn sich eine Zuschauerin jedoch mit Frau Beimer in der »Lindenstraße« als Mutter oder als Ehefrau und Geliebte identifiziert, wird sie diese Nähe immer nur dann spüren, wenn die Figur in den entsprechenden sozialen Rollen auftritt. Bei der Serienrezeption kann die Identifikation anhand einer Person mit ver‐ schiedenen sozialen Rollen wechseln, je nachdem mit welcher sozialen Rolle sich die konkrete Zuschauerin identifiziert. Zugleich ist aber auch durch die Dramaturgie der Serie, die auf ein Netz verschiedener Handlungsstränge baut, die betreffende Person in ihren Rollen nicht in jedem Handlungsstrang präsent, sodass sich auch hierüber ein Wechsel von Nähe und Distanz einstellt. Darüber hinaus besteht gerade bei Serien die Möglichkeit, sich in verschiedenen Handlungssträngen anhand verschiedener Personen mit den gleichen Rollen wie z. B. Mutter, Schülerin, Ärztin usw. zu identifizieren (vgl. auch Mikos 1994, S. 354 ff.). Für die Analyse ist einerseits wichtig, her‐ auszuarbeiten, welche Identifikationsangebote den Zuschauer: innen durch welche sozialen Rollen gemacht werden. Andererseits muss berücksichtigt werden, wie die Figuren in den Film- und Fernsehtexten durch die spezifi‐ schen Gestaltungsmittel in Szene gesetzt werden. Die primäre Identifikation im Kino und auch beim Fernsehen ist noch immer die Identifikation der Zuschauer: innen mit dem Blick der Kamera (vgl. Metz 2000, S. 49 ff.). Erst die Kamera macht es durch die Regulierung von Distanz und Nähe zu den Figuren und Akteuren möglich, dass sich die Zuschauer: innen mit ihnen in spezifischen Handlungskontexten identifizieren können. Verleugnete oder abgelehnte Eigenschaften, Gefühle und Wünsche der Zuschauer: innen werden auf Personen in den Inszenierungen der Film- und Fernseherzählungen projiziert. Dabei handelt es sich oft um Wünsche oder Fantasien, die sozialer oder normativer gesellschaftlicher Sanktionie‐ rung unterliegen, wie z. B. der Tötungswunsch, der in zahlreichen Film- und Fernsehgenres eine Rolle spielt. Projektionen funktionieren jedoch nicht einfach nach diesem psychoanalytischen Modell, sondern sie sind eingebettet in gesellschaftliche Diskurse, die soziale Rollen und die Positio‐ 210 3 Figuren und Akteur: innen <?page no="211"?> nierung von Subjekten im sozialen Gefüge einer Gesellschaft thematisieren. Deutlich wird dies weniger an Figuren in Spielfilmen als vielmehr an Stars wie Marilyn Monroe oder Johnny Depp, an Fernsehpersönlichkeiten wie z. B. Heidi Klum oder Günther Jauch, aber auch an der medialen Inszenierung realer Personen wie z. B. Angela Merkel oder Boris Johnson. In der Analyse von medial inszenierten Personen geht es daher vor allem darum, die Personen und ihre Eigenschaften zur Bedeutung von Wünschen und Fantasien, die in der sozialen Sphäre der Lebenswelt zirkulieren, in Beziehung zu setzen (vgl. Kapitel II.5.4). Dies ist auch deshalb notwendig, weil sich die Zuschauer: innen thematisch voreingenommen mit den Film- und Fernseherzählungen und den Fernsehinszenierungen auseinanderset‐ zen (vgl. Charlton/ Neumann-Braun 1992, S. 93 ff.). Sowohl Projektionen als auch Identifikationen hängen eng mit lebensgeschichtlich bedeutsamen Themen der Zuschauer: innen zusammen, mit aktuellen Lebenssituationen, mit unverarbeiteten Erlebnissen oder bei Kindern und Jugendlichen mit Entwicklungsthemen. 3.4 Empathie und Sympathie Das Verhältnis zu fiktiven Figuren ist prinzipiell dem zu realen Personen in der sozialen Welt ähnlich. In diesem Sinn gibt es keinen Unterschied zwischen der Sympathie, die wir z. B. für unsere Nachbarin empfinden, und der, die wir z. B. der Ärztin Leyla Sherbaz in »In aller Freundschaft - Die jungen Ärzte« entgegenbringen. Zwar stellt der Philosoph Alex Neill (2017, S.-54) fest: »Wenn man Empathie für eine andere Person empfindet, ob diese nun echt oder fiktional ist, stellt man sich die Situation, in der sie sich befindet, aus ihrer Sicht vor; man führt sich ihre Überzeugungen, Wünsche, Hoffnungen, Ängste und dergleichen so vor Augen, als wären es die eigenen.« Und dennoch ist es nicht das Gleiche, »weil das, was zwischen abgebildeten Personen und uns geschieht, dem ähnelt, was sich im täglichen Leben zwischen uns und realen Personen ereignet, und sich zugleich fundamental von jenem unterscheidet, bedingt durch die Medialität des Geschehens ebenso wie durch den kommunikativen Rahmen, der es umgreift« (Wulff 2006, S. 48). 3.4 Empathie und Sympathie 211 <?page no="212"?> Denn als Zuschauer: in ist uns immer bewusst, dass wir einem fiktiven Geschehen auf der Leinwand oder dem Bildschirm folgen, und wir sind uns immer bewusst, in welcher Situation wir uns dabei befinden, z. B. wissen wir - und vergessen es während der Rezeption nicht -, ob wir allein im Kino sind oder ob wir gemeinsam mit den Geschwistern fernsehen. Unsere Gefühle gegenüber den Figuren hängen von zahlreichen Faktoren ab. Sie werden einerseits vom Film, der Fernsehsendung oder dem Video selbst initiiert, denn »ein beträchtlicher Teil der Wirkungsmacht von Filmen liegt in ihrer Fähigkeit, verschiedene Arten der Nähe oder Distanz zu Figuren herzustellen und miteinander zu kombinieren« (Eder 2006, S. 138). Sie hängen aber auch von unserer generellen Befindlichkeit und Stimmung in der jeweiligen Rezeptionssituation, von der sozialen Beschaffenheit der Rezeptionssituation sowie von unseren Werthaltungen ab. So werden wir in der Regel wenig Sympathie für einen Mörder empfinden, dafür umso mehr mit den Angehörigen seiner Opfer mitfühlen können. Beide emotionalen Reaktionen - Sympathie und Empathie - setzen aber voraus, dass wir die Situation auf der Leinwand, in der ein Täter und seine Opfer handeln, verste‐ hen. In diesem Sinn stellt das Verständnis dessen, was auf der Leinwand oder dem Bildschirm vor sich geht, die Voraussetzung für emotionale Reaktionen dar. Damit werden durch die audiovisuellen Erzählungen auch bestimmte Perspektiven auf die Figuren und ihre situationsspezifischen Handlungen vorgegeben (vgl. dazu auch Schmetkamp 2017, S.-142) In der Film- und Fernsehrezeption können die Gefühle der Figuren und Akteure von den Zuschauer: innen verstanden werden, weil sich in den Film- und Fernsehtexten Hinweise finden lassen, die sich aus dem Ausdrucksver‐ halten der Akteur: innen und aus den situationsspezifischen Anforderungen der Handlung ergeben. Dabei spielt die narrative und dramaturgische Gestaltung ebenso eine Rolle wie die ästhetische Inszenierung. Allerdings funktioniert dies nicht nach der einfachen Regel von Drehbuchratgebern, die die Medienwissenschaftler Dirk Ryssel und Hans J. Wulff folgendermaßen zusammengefasst haben: »Je genauer eine Figur charakterisiert wird, ihre Handlungen diegetisch motiviert werden, desto stärker wird das empathische Verhältnis des Zuschauers zum Protagonisten werden« (Ryssel/ Wulff 2000, S. 236). Die Tränen auf der Wange, die in einer Groß- oder Detailaufnahme zu sehen sind, geben den Zuschauer: innen einen Hinweis auf die emotionale Befindlichkeit des Protagonist: innen. Sie sagen aber zunächst nichts über die 212 3 Figuren und Akteur: innen <?page no="213"?> Art der Emotion aus. Die Zuschauer: innen wissen allein aus diesen Bildern nicht, ob die Heldin vor lauter Unglück, das ihr widerfahren ist, vor Wut und Verzweiflung, aus Trauer oder gar vor Freude und Glück weint. Das erschließt sich ihnen erst aus dem narrativen und dramaturgischen Zusam‐ menhang, der den aktuellen Gefühlsausbruch an einem bestimmten Punkt der Handlung hervorgebracht hat. Deshalb plädiert Hans J. Wulff (2002, S. 110) dafür, von einem »empathischen Feld« zu sprechen, welches in einem Film- oder Fernsehtext aufgebaut wird (vgl. Kapitel I.1.2). Es ist unerheblich, ob die Schauspieler: innen die darzustellenden Emotionen selbst empfinden oder nicht, sondern das komplexe Zusammenspiel von Narration, Drama‐ turgie, Ästhetik und Gestaltung schafft für die Zuschauer: innen die Mög‐ lichkeit, Empathie zu empfinden. Ihre empathischen Gefühle werden von den Plotstrukturen motiviert, sind aber Teil der Story im Kopf. Daher bleibt in der Rezeption »das Bewusstsein der Differenz zwischen Zuschauer und Figur erhalten« (ebd., S. 114, H.i.O.). Die Film- und Fernsehanalyse zerlegt die Plotstrukturen in die Elemente, die Empathie bei den Zuschauer: innen anregen können. Die Aktivierung von Empathie basiert zwar auf den Plotstrukturen, aber es sind die Zuschauer: innen, die Gefühle empfinden müssen (vgl. zu Empa‐ thie auch die Beiträge in Hagener/ Ferran 2017). Einerseits müssen sie dazu die Wahrnehmungen der Figuren und Akteur: innen in der Fiktion in einem kognitiven Akt simulieren - der dänische Medienwissenschaftler Torben Grodal (1997, S. 89) nennt diesen Prozess »kognitive Identifikation« -, an‐ dererseits müssen sie sich mit den Interessen der Figuren und Akteur: innen identifizieren (vgl. ebd., S. 93), damit sich in der Rezeption Empathie einstellt. Die Filmwissenschaftlerin Margrethe Bruun Vaage (2007, S. 101) unterschei‐ det zwischen dem »automatischen Nachvollzug des Gefühlszustands des anderen anhand seiner Körperhaltung (körperbezogene Empathie)« und der imaginativen Empathie, bei der sich der Zuschauer »in seiner Vorstellung partiell in die Situation des Anderen versetzen und diese verstehen« kann (ebd.). Auf dieser Grundlage kann jedoch nicht erklärt werden, warum Zuschauer: innen nicht nur mit positiv besetzten Figuren, sondern auch mit negativ besetzten mitfühlen können. Der Filmwissenschaftler Jens Eder begreift Empathie als ein vielschichtiges Phänomen und unterscheidet vier Formen der Empathie im Film: somatische, situierte, projektive und imagi‐ native Empathie (vgl. Eder 2017, S. 257). Die somatische Empathie entsteht über eine Ansteckung durch körperliches Verhalten; die situierte Empathie durch ähnliche Reaktionen auf geteilte Situationen; die projektive Empathie 3.4 Empathie und Sympathie 213 <?page no="214"?> entsteht aus der Projektion eigener Gefühle auf die Figur, auch jenseits geteilter Situationen; und bei der imaginativen Empathie schließlich geht es um das aktive Erschließen der Situationsbedeutung und Imagination aus der Perspektive der Figur (vgl. ebd. S. 257ff.). Allerdings stehen diese vier Em‐ pathie-Formen in „vielfältigen Zusammenhängen“ und verstärken einander oft (ebd., S. 261). Die Möglichkeiten der Empathie sind jedoch grundsätzlich eingebettet in die Plotstrukturen und die Wahrnehmung der Figuren und Akteur: innen sowie der Handlungssituationen und Interaktionsstrukturen. »Empathie ist etwas, das an der Handlungslinie entlang geführt werden muss, sie richtet sich sogar auf die negativen Figuren, die Figuren, die Angst auslösen oder die gespanntes Mitleiden mit dem Helden herbeiführen können, weil sie stark genug sind, jenen ernsthaft in Gefahr zu bringen« (Ryssel/ Wulff 2000, S. 239). Daher ist es sinnvoll, zwischen Empathie und Sympathie zu unterscheiden (vgl. ebd.; Neill 2017; Smith 2022, S. 81 ff.). Grundsätzlich lassen sich drei Ebenen unterscheiden, aus deren Verhält‐ nis zueinander Zuschauer Sympathie zu Figuren entwickeln: Anerkennung, Ausrichtung und Loyalität (vgl. Smith 2022, S. 82 ff.). Anerkennung meint den kognitiven Akt, mit dem Zuschauer: innen eine Figur aufgrund von deren textuellen Elementen als Person wahrnehmen und verstehen. Aus‐ richtung meint den Prozess, mit dem die Zuschauer: innen durch textuelle Strukturen in die Perspektive der Figur eingebunden werden und so ihre Handlungen, ihre Sichtweisen und ihre Gefühle verstehen können. Auf der Ebene der Loyalität findet die moralische Evaluation der Figur durch den Zuschauer: innen statt. Diese moralische Komponente muss zu den beiden anderen Ebenen hinzutreten, damit die Zuschauer: innen eine Figur sympathisch finden können und mit ihr mitfühlen (vgl. dazu auch Plantinga 2019. Sympathie korrespondiert daher nicht »mit persönlichem Geschmack und mit besonderen Vorlieben« (Ryssel/ Wulff 2000, S. 239), sondern mit den moralischen Positionen der Zuschauer: inne. Allerdings können die mora‐ lischen Positionen nicht unabhängig vom Kontext der Diskurse gesehen werden, die in der Gesellschaft zirkulieren (vgl. Kapitel II.5.3). Je nachdem welche moralische Position eine Zuschauerin vor dem Hintergrund ihres lebensweltlichen Kontextes einnimmt, wird sie beispielsweise die Figur Walter White in »Breaking Bad« jeweils anders wahrnehmen und sie sympathisch oder unsympathisch finden. Eine Zuschauerin, die die Werte und Normen von Drogendealer: innen verinnerlicht hat, wird Walter sympa‐ thisch finden. Eine Zuschauerin, die Drogenhandel und -konsum moralisch 214 3 Figuren und Akteur: innen <?page no="215"?> ablehnt, wird die Figur eher unsympathisch finden. Die Handlungsführung in »Breaking Bad« kann die Sichtweise auf die Figur jedoch beeinflussen. Empathie ist im Gegensatz zu Sympathie unabhängig von der Moral der Zuschauer: innen. Dazu ist es einerseits nötig, die Gefühle der Akteur: innen in den dargestellten Handlungssituationen nachvollziehen zu können. Das ist eine kognitiv induzierte affektive Aktivität der Zuschauer: innen, die freiwillig und willentlich erfolgt. Andererseits kann es aufgrund der textuellen Struktur der Filme, Fernsehsendungen oder Videos aber auch zu sogenannten »unwill‐ kürlichen« (Smith 2022, S. 100) Reaktionen der Zuschauer: innen kommen, indem sie den mimischen Ausdruck, die Bewegungen der Akteur: innen sowie Lärm, plötzliche Bewegungen im Bild, Farben usw. auf einer physiologischen Ebene wahrnehmen. Der amerikanische Filmwissenschaftler Murray Smith (ebd.) hat das mit dem sechsten Sinn verglichen, mit dem man die Bedeutung der unmittelbaren Umgebung wahrnimmt. Da Empathie der moralischen Dimension entbehrt, ist es für die Zuschauer: innen nicht notwendig, die Werte der handelnden Figuren zu übernehmen. Das ist bei Serien wie »Dexter« oder »Hannibal« wichtig, in denen die Zuschaur: innen Empathie für die Serienkiller empfinden können, da sie auch in anderen Handlungskontexten und Situationen der Erzählung agieren. »Empathische Vorgänge unterlaufen die Mechanismen personengerichteter und psychologischer Identifikationsmuster, da sie nicht auf die Anerkennung der filmischen Figur als Person mit Werten und Zielvorstellungen basieren, sondern auf der Ebene körperlicher Aneignung angesiedelt sind« (Morsch 1999, S. 34). Sie sind daher vor allem in der Rezeption von Actionfilmen anzutreffen, die von möglichen Welten erzählen, in denen es sehr körperbetont zugeht, wie in den Filmen des Marvel Cinematic Universe (vgl. Kapitel III.3) oder den »X-Men«-, »Mission Impossible«-, »James Bond«- oder »Terminator«-Rei‐ hen. Aber auch in einem Fantasy-Blockbuster wie »Der Herr der Ringe« müssen die Zuschauer die guten Absichten von Aragorn, Legolas und Gimli nicht teilen, um in den Schlachtszenen gegen die Orks und Uruk-Hais mit ihnen mitzufühlen. Die actionreichen Schlachtszenen sprechen für sich. Grundsätzlich sind derartige empathische Prozesse den sympathischen Prozessen nachgeordnet (vgl. Smith 2022, S. 103), die von den Plotstrukturen initiiert werden. In einer konkreten actionreichen Handlungssituation des Films, der Fernsehsendung oder des Videos können sie jedoch Eigenständig‐ keit entfalten und die moralische Position der Zuschauer: innen unterlaufen. In der Film- und Fernsehanalyse müssen die Szenen herausgefiltert werden, 3.4 Empathie und Sympathie 215 <?page no="216"?> die aufgrund der Action oder der Plotstrukturen Empathie und Sympathie als emotionale Aktivitäten bei den Zuschauer: innen hervorrufen können. Da sie an die Figuren und Akteur: innen gebunden sind, müssen sie sowohl im Zusammenhang mit deren Repräsentation als auch mit den Kontexten gesehen werden. 3.5 Parasoziale Interaktion Bedeutsam für die parasoziale Interaktion ist die aktive Rolle der Zu‐ schauer: innen (vgl. Hippel 1992). Die Zuschauer: innen vor dem Bildschirm sind in »zwei strukturelle Rollenbzw. Situationsdefinitionen gleichzeitig« (Wulff 1992, S. 281) verstrickt: in die Rolle des Zuschauers und in die Rolle des Mitmachers. In der simultanen Übernahme beider Rollen, deren sich die Zuschauer: innen bewusst sind, kommt es dann zur parasozialen Interaktion mit den handelnden Figuren im Medium, zu einer »Intimität auf Distanz«, wie es die Begründer dieses Konzepts genannt haben (vgl. Horton/ Wohl 2002) oder wie es der Soziologe Chris Rojek (2016) genannt hat, zu einer »vorgestellten Intimität«. Die Beziehungen zwischen den Akteuren im Medium und den Zuschauer: innen sind den Interaktionssituationen im Alltag ähnlich: Beide handeln so, als ob ein direkter, persönlicher Kontakt vorliegen würde. Die parasoziale Beziehung wird als Illusion einer Face-to-Face-Beziehung gesehen (Horton/ Wohl 2002, S. 74). Das darf aber nicht in der Weise missverstanden werden, dass »das Publikum sich etwas einbildet, was nicht da ist-- vielmehr ist die Illusion einer Face-to-Face-Be‐ ziehung eine der konstituierenden Eigenschaften der Situation« (Hippel 1993, S. 130) - und die Zuschauer: innen sind sich dieser Situation bewusst. Sie wissen, dass es sich um eine soziale Beziehung zweiter Ordnung han‐ delt (vgl. Rojek 2016, S. 15). Denn nur aufgrund des Bewusstseins einer Differenz zwischen Face-to-Face-Situationen in der Alltagswelt und in den Film- und Fernsehtexten können die Zuschauer: innen die Illusion einer Face-to-Face-Beziehung aufrechterhalten und entsprechend handeln. Parasoziale Beziehungen zu Figuren und Akteur: innen werden vorwie‐ gend in der Fernsehrezeption aufgebaut. Das liegt unter anderem daran, dass die Herausbildung parasozialer Beziehungen »eine Funktion der Zeit, der Wiederholung, der Routinisierung« ist, denn gerade »die Berechenbarkeit des Auftretens der Persona macht es möglich, daß sie in die Routinen des täglichen Lebens integriert werden kann« (Wulff 1992, S. 289). Das ist 216 3 Figuren und Akteur: innen <?page no="217"?> auch möglich, weil die Figuren im Fernsehen eine »dauerhafte Beziehung« anbieten (Horton/ Wohl 2002, S. 77). »In jeder parasozialen Interaktion lernt der beobachtende Interaktionspartner […] etwas über den anderen, die Medienfigur, aber auch etwas über sich selbst. Jene Erfahrungen werden abgespeichert. Sie überdauern auf diese Weise einzelne flüchtige Interaktionssituationen. Über die Zeit formt das Wissen über den anderen und die typischen Erfahrungen, die ein Zuschauer von sich selbst in der Interaktion mit dem anderen gemacht hat, eine parasoziale Beziehung« (Hartmann 2017, S. 17 f.). Parasoziale Beziehungen sind daher auch »dynamisch und verändern sich über die Zeit« (Gleich 2014, S. 246). Danach sind parasoziale Beziehungen vor allem zu Talk- und Showmas‐ ter: innen wie Maybrit Illner, Anne Will, Klaas Heufer-Umlauf, Günther Jauch oder Joko Winterscheidt möglich. Die Routinisierung kann sich zwar auf wiederholt auftretende, konkrete Figuren im Fernsehen beziehen, doch kann sie auch ein Ergebnis der erworbenen Fernsehkompetenz der Zuschauer sein. Bestandteil ihrer Fernsehkompetenz ist es zu wissen, dass dieses »So-Tun-als-ob«, das einem »Sich-Einlassen« auf das Angebot auf dem Bildschirm gleichkommt, eine der Bedingungen von Film- und Fernsehkommunikation ist. Nur wer sich auf die Film- und Fernsehtexte einlässt, kann ihr kommunikatives Potenzial nutzen und in Verstehens- und Erlebnisprozesse überführen. Grundlegend für die parasoziale Beziehung ist, dass die Figuren auf dem Bildschirm so tun, als befänden sie sich in einer Face-to-Face-Situation und orientierten sich an den - von ihnen angenommenen - Reaktionen der Zuchauer: innen. Diese handeln ebenfalls wie in einer Face-to-Face-Situation und können sich so verhalten, als ob die Figuren auf ihre Reaktionen reagie‐ ren (vgl. Hippel 1993, S. 130). Voraussetzung für das Gelingen einer solchen Beziehung ist natürlich eine stark an Konventionen des Handelns, Verhal‐ tens und Darstellens orientierte Interaktion sowie die soziale Kompetenz der Figuren auf dem Bildschirm - von Donald Horton und R. Richard Wohl auch »Personae« genannt - und der Zuschauer: innen. Die soziale Kompetenz der Personae liegt entscheidend darin, dass sie so tun, als würden sie im Alltag handeln. Die Differenz zum Alltagshandeln ist durch die mediale Konstellation gegeben. Dazu bedarf es natürlich eines Wissens über alltäg‐ liche Interaktionsregeln, die nun auch bei der Darstellung innerhalb des Fernsehrahmens einzuhalten sind, und damit verbunden eines Wissens über 3.5 Parasoziale Interaktion 217 <?page no="218"?> soziale Rollen, die natürlich immer auch Handlungsrollen sind. Zugleich ist das Handeln der Personae immer doppelt bestimmt: Sie müssen so tun, als ob sie »normal« handelten, und wissen doch, dass sie es nicht tun, denn sie agieren in einer für Fernsehzuschauer: innen inszenierten Studiosituation. Ebenso ist das Handeln der Zuschauer: innen doppelt bestimmt: Sie müssen so tun, als ob sie in einer Face-to-Face-Beziehung zu den Personae stünden, und wissen doch, dass es nicht so ist. Aufgrund der technischen Struktur der Film- und Fernsehkommunikation haben die Zuschauer: innen nur eine eingeschränkte Möglichkeit, auf die Personae zu antworten. Deren Handlungen sind zwar von den Zuschauern nicht direkt beeinflussbar, aber andererseits sind sie ohne die ihnen gegen‐ über antizipierten Erwartungen der Zuschauer: innen gar nicht denkbar. Die Aktivitäten der handelnden Personae verlangen nach einer Antwort bzw. Aktivität der Zuschauer: innen, um sie zu vervollständigen und zu schließen. Die parasozialen Beziehungen müssen von den Zuschauer: innen aktiv aufgebaut werden. Das lässt sich z. B. bei Sportübertragungen im Fernsehen beobachten. Die Kommentierungen der Sportreporter: innen sind zu den Zuschauer: innen hin geöffnet. Hier etablieren die Zuschauer: innen von sich aus eine paraso‐ ziale Interaktion, »und zwar auch gegenüber Medienakteuren, die sich nicht unmittelbar an sie wenden« (Püschel 1993, S. 124). Das passiert z. B., wenn ein Zuschauer den Schiedsrichter aufgrund einer vermeintlichen Fehlent‐ scheidung beschimpft. Die Zuschauer: innen greifen Äußerungen der Repor‐ ter: innen auf und kommentieren sie oder setzen deren Gedankengänge fort. In der Rezeptionssituation werden solche parasozialen Aktivitäten häufig nicht nur von mimischen oder anderen nonverbalen Kommunikati‐ onsformen begleitet, sondern können auch verbalen Charakter haben. Beim gemeinsamen Anschauen von Fußballübertragungen kommt es immer wie‐ der zu Äußerungen der Gruppe vor dem Fernseher, in denen der Kommentar der Reporter: innen bestätigt oder abgelehnt wird. Die Sportreporter: innen erlangen den Status von Teilnehmer: innen der Runde vor dem Bildschirm, mit denen man kommunizieren kann. Grundsätzlich lassen sich parasoziale Beziehungen auch zu Charakteren in Spiel- und Fernsehfilmen sowie in Fernsehreihen und -serien aufbauen (vgl. Mikos 1996; auch Liebers 2021). Das setzt voraus, dass die Zuschauer die Figuren und Akteur: innen kennen. Diese Kenntnis kann in einzelnen Spiel- und Fernsehfilmen im Rahmen der Narration und der Dramaturgie inszeniert sein, sodass eine »intime« Nähe zur Heldin oder zum Helden 218 3 Figuren und Akteur: innen <?page no="219"?> entsteht. In Reihen und Serien wird dies durch die serielle Struktur möglich. Das wiederholte Auftreten der Figuren führt aufseiten der Zuschauer: innen zu einer »intimen« Kenntnis ihrer Eigenschaften und Charakterzüge. So bauen Zuschauer: innen z. B. parasoziale Beziehungen zu Serienfiguren wie dem Arzt Elias Bähr in »In aller Freundschaft - Die jungen Ärzte«, Walter White in »Breaking Bad«, Daenerys Targaryen in »Game of Thrones« oder Daphne Basset in »Bridgerton« auf. Auch zu den Kommissar: innen der»Tatort«-Reihe werden parasoziale Beziehungen aufgebaut: »Vor allem ermöglichen die Figuren die Entwicklung und Unterhaltung von para‐ sozialen Beziehungen durch die Zuschauer. Die fortlaufende und sukzessive erzählte Persönlichkeitsentwicklung der Personae macht die parasoziale Interaktion mit den Kommissaren besonders für dauerhafte Seher zu einer wichtigen Motivation. Die besondere serielle Form und die jahrelang beständige Besetzung unterstützen den Eindruck des ›Wiedersehens‹ mit alten Bekannten« (Grün 2007, S. 91). Die Zuschauer: innen können aufgrund ihrer erworbenen Kenntnis der Kommissar: innen mit Karin Gorniak, Lena Odenthal, Peter Faber oder Frank Thiel und Professor Boerne parasozial interagieren. Zentraler ist jedoch, dass im Fernsehen Situationen gezeigt werden, die zum Beziehungshandeln der Zuschauer: innen hin geöffnet sind, sie verlan‐ gen danach. Diese Öffnung wird deutlich in den Adressierungsformen (vgl. Hippel 1998, S. 87 ff.). Da alle Figuren und Akteur: innen für ein Publikum agieren, muss die Adressierung strukturell in die dargestellten Handlungen einbezogen werden. Das geschieht über verschiedene Modalitäten. Die Adressierung kann wie im Fall der narrativen Genres implizit oder indirekt sein, die Zuschauer werden über die Handlungssituationen angesprochen und nur selten direkt von den Akteur: innen (vgl. Mikos 1996); sie kann aber auch explizit sein, indem die Zuschauer: innen in Fernsehinszenierungen wie Nachrichtensendungen, Talk- oder Gameshows von den Personae des Fern‐ sehens direkt angesprochen werden. Letztgenannte Form der Adressierung wendet Günther Jauch als Moderator der Quizshow »Wer wird Millionär? « häufig vor einer Werbepause an: Die Raterunde wird unterbrochen, Jauch schaut in die Kamera und spricht die Zuschauer: innen direkt an: »Ob Herr Meier die richtige Lösung wusste oder ob er total danebenlag, das erfahren Sie nach einer kleinen Pause.« Auf diese Weise macht er sich auch mit den Zuschauer: innen gemein, er stellt Intimität her. Diese Adressierung sind besonders bei den Aktivitäten von Influencer: innen, Stars und Celebrities 3.5 Parasoziale Interaktion 219 <?page no="220"?> (vgl. Kapitel II.3.2) in den sozialen Medien bedeutsam (vgl. Gauthier 2019). Das Beispiel von Jauch zeigt zwei wesentliche Funktionen der Adressierung: »Auf der einen Seite ist offensichtlich, dass versucht wird, dem Zuschauer seine Wichtigkeit zu vermitteln, eine gewisse Nähe zu erreichen, einen Ersatz für fehlende Rückmeldungen bereitzustellen. Kurz, der Konsument am Bildschirm soll nicht nur nebenbei, sondern ›richtig‹ fernsehen. Auf der anderen Seite soll der Zuschauer auch dann als Teilnehmer behalten werden, wenn der Inhalt der Sendung ihn gerade nicht so sehr begeistert« (Hippel 1998, S. 118). In dem Beispiel geht es darum, über die direkte Adressierung die Zu‐ schauer: innen während der Sendeunterbrechung durch Werbung am Bild‐ schirm zu halten. Während bei Identifikation, Empathie und Sympathie die Zuschauer: in‐ nen Gefühle und Gedanken der Figuren und Akteur: innen in den Film- und Fernsehtexten selbst kognitiv und emotional nachvollziehen, bauen sie im Rahmen der parasozialen Interaktion Beziehungen zu den Personae auf, betrachten sie also als ein Gegenüber. In der Analyse stehen zwei Aspekte im Mittelpunkt: Einerseits können die Beziehungsangebote der Figuren und Akteur: innen, wie sie sich in der Narration und der ästhetischen Inszenierung offenbaren, herausgearbeitet werden, andererseits können die direkten und indirekten Adressierungen der Akteure untersucht und in ihrer Funktion für die Zuschauer: innen bestimmt werden. Zudem kann untersucht werden, inwiefern begleitende Auftritte von Figuren, aber auch Stars und Celebrities in den sozialen Medien den Aufbau parasozialer Beziehungen durch parasoziale Interaktion befördern und unterstützen. 3.6 Immersion Immersion ist eine Form des Erlebens, die einem Eintauchen in virtuelle Realitäten entspricht. Im Zusammenhang mit der Nutzung von Computer‐ spielen, in denen die Spieler: innen z. B. eine virtuelle Figur wie Lara Croft in »Tomb Raider« steuern, wurde festgestellt, dass »das Computerspielen eine leistungsorientierte Aktivität ist, die mit dem Gefühl des völligen Aufgehens in dieser Tätigkeit verbunden sein kann« (Fritz 1997, S. 211; Hervorhebung LM). Das wird einerseits durch den Spielcharakter ermöglicht, andererseits aber auch durch Narration und Dramaturgie sowie Figuren und Akteur: in‐ nen des Spiels. Offenbar setzt Immersion eine Identifikation sowie das 220 3 Figuren und Akteur: innen <?page no="221"?> Empfinden von Empathie und Sympathie mit der Spielfigur voraus. Dafür ist es aber auch notwendig, dass die Spieler: innen ein direktes Feedback auf ihr Eingreifen bekommen, d. h., die Spielfigur muss unmittelbar auf ihre Eingabebefehle reagieren (vgl. Fritz 1995, S. 29 ff.). Außerdem müssen die Spieler: innen die Regeln des Spiels verstehen und akzeptieren und auf der Basis ihres lebensweltlichen Wissens der virtuellen Spielfigur und den Spielobjekten Bedeutung zuweisen. Letzteres wird in den meisten Fällen über die narrative und dramaturgische Struktur angeregt. Das Konzept der Immersion kann, da es sich auf ein Erleben in fiktiven, virtuellen Welten bezieht, »relativ leicht auch auf die Rezeption fiktiver Medieninhalte übertragen« werden (Wünsch 2002, S. 29; vgl. auch Hanich 2011, S. 52ff.)). Immersion ist offenbar einerseits immer dann möglich, wenn der Film, das Video oder die Fernsehserie einen hohen Grad an kognitiver und emotionaler Aktivität der Rezipient: innen hervorbringt, die sich mit einem zweckfreien Vergnügen am Text paart. Voraussetzung ist allerdings, dass sich die Rezipient: innen an Figuren und Akteur: innen in den Erzäh‐ lungen der Film- und Fernsehtexte orientieren können. Über die Figuren ist eine aktive Teilhabe am Geschehen auf der Leinwand oder dem Fernseh‐ bildschirm möglich. Andererseits ist Immersion immer dann möglich, wenn es darum geht, ein fiktionales Universum zu erleben (vgl. Ryan 2001, S. 103), das glaubhaft und überzeugend ist. Dabei spielen räumliche, zeitliche und emotionale Aspekte eine Rolle (vgl. Ryan 2001 und 2015). Immersion ist daher ein »diegetischer Effekt«, der dann entsteht, wenn der Film oder die Fernsehserie »die Illusion erzeugt, in der fiktionalen Welt präsent zu sein« (Tan 1996, S. 52). Deshalb wird auch von Präsenzerleben gesprochen (vgl. Eichner 2014, S. 143 f.), das durch Computerspiele, Filme und Fernsehserien erzeugt werden kann. Die Medienwissenschaflerin Susanne Eichner (ebd., S. 146) sieht Immersion und Präsenz als eine Form des Involvement, die »fundamental für die Art und Weise ist, wie wir fiktionale Medien und er‐ zählte Welten wahrnehmen«, um sie in der Rezeption als real anzunehmen. Dieser »Wirklichkeitseffekt« gilt als Voraussetzung für Immersion (vgl. ebd., S. 145; Jockenhövel 2014, S. 187). Insbesondere das stereoskopische Bild des 3D-Films (vgl. Kapitel II.4.8) erweitert die immersiven Möglichkeiten der fiktionalen Welt, denn »es kann uns mit einer komplexen, visuellen Welt konfrontieren« ( Jockenhövel 2014, S. 193). In der Analyse können die Strukturen von Film- und Fernsehtexten (aber auch von Computerspielen) herausgearbeitet werden, welche die Figuren in ihren Handlungen in den fiktiven, virtuellen Welten leiten. Dazu ist es 3.6 Immersion 221 <?page no="222"?> notwendig zu untersuchen, wie die Akteur: innen in die narrativen und spielerischen Strukturen eingebunden sind und welche Formen der aktiven Beteiligung der Zuschauer: innen sich darüber ergeben. Dazu können auch die begleitenden Aktivitäten in den sozialen Medien untersucht werden. Darüber hinaus kann analysiert werden, welche narrativen Elemente den Wirklichkeitseindruck hervorrufen, der ein immersives Erlebnis ermöglicht. Analyseleitende Fragen • Welche Figuren treten auf ? • Wie sind diese Figuren charakterisiert? • Welche Eigenschaften machen ihren individualisierten Charakter aus, welche ihre Statusposition? Welche gibt es nur aufgrund ihres Vorhandenseins in dem Film, der Sendung oder Serie? • Welche Informationen erhalten die Zuschauer: innen über die Ak‐ teure? Was davon können sie sehen, was wird ihnen erzählt? • Erfahren die Zuschauer: innen alles über die Akteure, um ihre Handlungen nachvollziehbar erscheinen zu lassen? • Beeinflusst das Star-Image in einem Film die Narration? • Über welche sozialen Medien wird das Star-Image aufgebaut? • Welche Figuren stellt die Kamera in den Mittelpunkt? • Welches Wissen ergibt sich für die Zuschauer: innen dadurch, dass die Kamera verschiedene Akteure begleitet? • Welche abstrahierten Typen werden von den Figuren verkörpert? • In welchen sozialen Rollen agiert der Held oder die Heldin im Verlauf des Films oder der Serie? • Gibt es eine Hierarchie der sozialen Rollen? Welche sind den Typi‐ sierungen untergeordnet? • Welche Identifikationsangebote werden über welche Personen in welchen Rollen gemacht? • Welche Emotionen spielen in den verschiedenen Interaktionssitua‐ tionen eine Rolle und wie gehen die Personen damit um? • Welches Wissen über Moderator: innen, Schauspieler: innen, Stars und Celebrities, das nicht Bestandteil der Narration oder der Insze‐ nierung ist, wird benötigt, um deren Aktionen zu verstehen? • Werden die Zuschauer: innen durch Filmfiguren oder Akteur: innen im Fernsehen direkt adressiert? Was wird damit bezweckt? 222 3 Figuren und Akteur: innen <?page no="223"?> • Haben die Charaktere oder die Schauspieler: innen einen Account in den sozialen Medien, der den Film oder die Serie begleitet? Wie werden hier die Zuschauer: innen adressiert? Wird zusätzliches Wissen zum Film oder der Fernsehserie verbreitet? • Machen die Moderator: innen der Show Angebote zur parasozialen Interaktion? Wie sehen diese Angebote aus? • Wird im Film- oder Fernsehtext ein empathisches Feld aufgebaut? Wie ist es gekennzeichnet? • Welche moralischen Orientierungen sind notwendig, um eine Figur sympathisch zu finden? • Macht der Film- oder Fernsehtext Angebote zu direkter, körperlicher Empathie? • Mit welchen ästhetischen Mitteln werden Körper und Bewegung in Actionszenen inszeniert? • Welches Konzept von Selbst und von Identität liegt der Repräsenta‐ tion der Figuren zugrunde? • Handeln die Figuren im Film oder in der Serie widersprüchlich? • Gibt es Konflikte zwischen ihrer Charakterisierung und den sozialen Rollen, die sie in Interaktions- und Handlungssituationen einneh‐ men? • Welche narrativen Elemente erzeugen einen Wirklichkeitseindruck als Voraussetzung für immersives Erleben? 3.7 Zitierte Literatur Abidin, Crystal (2018): Internet Celebrity. Understanding Fame Online. Bingley Assmann, Jan (1988): Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. 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Wiesbaden 3.7 Zitierte Literatur 229 <?page no="230"?> 4 Ästhetik und Gestaltung Aufgabe der Film- und Fernsehanalyse ist es, neben der Analyse von Inhalt und Repräsentation, Narration und Dramaturgie, Figuren und Akteur: innen vor allem das »Wie« der Darstellung zu untersuchen. Darauf wurde bereits mehrfach hingewiesen. Darum soll es hier nun im Einzelnen gehen. Bei allen Film- und Fernsehtexten kann davon ausgegangen werden, dass alles, was im Bild zu sehen ist und wie es zu sehen ist, für die Bedeutungsbildung wichtig ist. Ein Unterschied zwischen Film und Fernsehen besteht darin, dass Filmbilder elaborierter und detaillierter als Fernsehbilder sind (vgl. Ellis 1992, S. 53). Man kann daher von einem Unterschied in der Ästhetik von Film und Fernsehen ausgehen. Gerade die Bilder, die in sozialen Medien wie TikTok oder Instagram verbreitet werden, haben nicht nur ein anderes Format als Filmbilder, sondern sind auch weniger detailreich, auch weil sie vorwiegend auf Smartphones konsumiert werden. Die gestalterischen Mittel steuern die Aufmerksamkeit der Zuschauer: in‐ nen: Sie können den Blick auf ein Detail im Hintergrund lenken, z. B. auf die Vase, mit der im nächsten Augenblick die Einbrecherin niedergeschlagen wird. Sie können auf der musikalischen Ebene zur Intensivierung des visuellen Eindrucks und der emotionalen Aktivitäten der Zuschauer: innen beitragen, indem z. B. eine für die Heldin bedrohliche Situation mithilfe der Musik forciert wird. Sie können auf der Tonebene die Aufmerksamkeit auf bestimmte Räume lenken, wenn z. B. Schreie aus einem Haus zu hören sind, das nur von außen im Bild ist. Zugleich unterstützen die gestalterischen Mittel den Plot: Es macht z. B. einen Unterschied, ob die Heldin lediglich an einem Haus vorbeifährt oder ob sie den gehörten Schreien nachgeht und das Haus betritt. Die Gestaltungsmittel haben daher eine wichtige Funktion bei der Bildung von Bedeutung, sowohl in Bezug auf die erzählte Geschichte im Film- oder Fernsehtext als auch in Bezug auf die Geschichte im Kopf der Zuschauer: innen. Sie bestehen aus den spezifischen filmischen und televisuellen Codes, die den Inhalt und die Erzählung im Rahmen des Zeichensystems des Films, des Videos oder des Fernsehens aufbereiten. Dadurch kommt ihnen eine wichtige Funktion in Bezug auf Inhalt und Repräsentation, Narration und Dramaturgie sowie der Inszenierung von Figuren und Akteur: innen zu. <?page no="231"?> Zwar wirken in der Kommunikation mit Film- und Fernsehtexten die verschiedenen gestalterischen Mittel zusammen, doch können sie in der Analyse in ihre einzelnen Komponenten zerlegt werden. Dabei kann zwi‐ schen folgenden Elementen unterschieden werden: Kamera, Licht, Montage/ Schnitt bzw. Bildregie, Ausstattung, Ton/ Sound, Musik, visuelle Effekte und Spezialeffekte sowie 3D. Jedes dieser Elemente trägt mit spezifischen Gestaltungsmitteln zur Ästhetik der Film- und Fernsehtexte bei und lenkt die Aufmerksamkeit der Zuschauer: innen, die in die Texte hineingezogen oder auch auf Distanz zu ihnen gehalten werden. In diesem Sinn regeln die Gestaltungsmittel die Intensität der Kommunikation zwischen Film- und Fernsehtexten und Publikum. 4.1 Kamera Die Analyse der Kameraarbeit in einem Film, einem Video oder einer Fernsehsendung untersucht, wie die Bilder konstruiert sind und wie die Zuschauer: innen das in ihnen Dargestellte sehen können. »Der Kamerablick organisiert das Bild, er setzt den Rahmen, wählt den Ausschnitt, der von der Welt gezeigt wird, er bestimmt, was zu sehen ist« (Hickethier 2012, S. 56). Die Kamera gilt als das Gerät, durch das die Zuschauer sehen. Christian Metz spricht daher auch von der primären Identifikation im Kino, da die Zuschauer: innen sich mit dem eigenen Blick - und das ist der Blick der Kamera - identifizieren (vgl. Metz 2000, S. 49 ff). Die Kamera ist jedoch nicht Stellvertreterin der Zuschauer: innen, auch wenn diese durch sie hindurchsehen, sondern sie positioniert die Zuschauer: innen vor dem Bild. So wie die Zentralperspektive in der Malerei den Betrachter außerhalb des Sehfeldes positioniert und ihn zugleich zum Zentrum und Ausgangspunkt des Blicks macht (vgl. hierzu auch Panofsky 1985), so positioniert das einzelne Filmbild die Zuschauer: innen außerhalb des Bildes - wenn auch nicht immer in der Zentralperspektive. Im Film gibt es darüber hinaus die Möglichkeit, die Zuschauerin mithilfe der Montage (vgl. Kapitel II.4.3) im Filmbild selbst zu positionieren, und zwar über die Zusammenstellung von Bildern aus verschiedenen Zuschauer: innenpositionen. Während die Zentralperspektive in der Malerei ein Element zur Organisation der Raum‐ wahrnehmung ist (vgl. Merleau-Ponty 1984, S. 18 ff.), spielt in den bewegten Bildern neben der Wahrnehmung des Raumes auch die Zeit eine Rolle (vgl. 4.1 Kamera 231 <?page no="232"?> Aab 2014, S. 150 ff.; Deleuze 2017 und 2020; Mikos 1994, S. 19 f.; Wedel 2020). Film- und Fernsehbilder bedienen immer beides, die Raum- und die Zeitwahrnehmung der Zuschauer: innen. In einem Film, einer Fernsehsendung oder einem Video können die Zuschauer: innen tatsächlich nur das sehen, was die Kamera ihnen zeigt, nicht mehr und nicht weniger. Es ist lediglich ein Bildausschnitt zu sehen, auch wenn sich vor der Kamera viel mehr abgespielt hat. Allerdings kann die gleiche Szene von mehreren Kameras parallel aufgenommen werden, die verschiedene Perspektiven auf das Geschehen einnehmen. Doch auf der Leinwand und dem Fernsehbildschirm sehen die Zuschauer: innen lediglich eine Perspektive, es sei denn mithilfe des Splitscreen-Verfahrens werden mehrere Kameraperspektiven gleichzeitig gezeigt (vgl. Bordwell/ Thompson 2020, S. 186; Hagener 2019; Kuhn 2020; Vallet 2019, S. 51ff.; Wulff 1991 sowie am Beispiel Fernsehserien auch Hagener 2013). Der Bildausschnitt, den ein Bild zeigt, wird auch Einstellung genannt. Er hängt davon ab, welches Objek‐ tiv in einer Kamera verwendet wird und in welcher Entfernung die aufge‐ nommenen Objekte zur Kamera positioniert sind. Eine Einstellung beginnt und endet mit einem Schnitt, in ihr selbst wird nicht geschnitten (vgl. Korte 2010, S. 34; Phillips 2009, S. 127). Die Begrenzung des Bildes, wie sie in einer Einstellung zu sehen ist, wird auch Kadrage genannt. Dieser Rahmen des Bildes »legt die Potentiale des Zeigens und der Wahrnehmung fest. Er trennt das Sichtbare vom Nicht-Sichtbaren und eröffnet eine Bildordnung, einen Spielraum des Sehens im abgegrenzten Bildrahmen« (Prümm 1999, S. 29). Die Kadrierung lenkt die Aufmerksamkeit der Zuschauer: innen (vgl. Wuss 2020, S. 454). Damit organisiert sie auch die Bedeutungsproduktion. Denn über die Kadrierung kann die Zuschauerin in den Bildraum hineingezogen oder aus ihm ausgeschlossen werden. Grundsätzlich kann dabei zwischen angeschnittener oder offener und nicht angeschnittener oder geschlossener Kadrierung unterschieden werden: »Als angeschnitten oder offen werden Bildkompositionen bezeichnet, wie man sie normalerweise in Dokumentarfilmen findet, bei denen sich viele Bildelemente der Kontrolle des Filmemachers entziehen. In solchen Arrangements kann es passieren, dass der Bildrand Personen anschneidet oder Vordergrundelemente eine Figur teilweise verdecken. Von nicht angeschnittener Kadrierung oder geschlossener Bildgestaltung spricht man bei Kompositionen, in denen die abgebildeten Personen und Objekte sorgfältig inszeniert werden, damit alles klar erkennbar und grafisch ausgewogen ist. […] Offene Formen erscheinen 232 4 Ästhetik und Gestaltung <?page no="233"?> wirklichkeitsgetreuer, geschlossene Formen wirken eher inszeniert« (Katz 2019, S. 343). In fiktionalen Filmen werden angeschnittene Kadrierungen auch bewusst eingesetzt, um der Zuschauerin bestimmte Informationen vorzuenthalten oder um sie in die Perspektive einer Figur einzubinden. Die Heldin eines Films kann beispielsweise von einer Figur im Vordergrund halb verdeckt sein, sodass die Zuschauerin eine seitliche Bewegung ihres rechten Arms, mit dem sie gerade eine Pistole von einer Kommode in ihre Manteltasche hat gleiten lassen, nicht sieht. Zugleich können in einer Einstellung selbst Rahmungen eingesetzt werden, um z. B. den Eindruck von Tiefe im Bild zu verstärken (vgl. ebd., S. 350) oder um den Aktionen einer Figur eine besondere Bedeutung zu geben, weil die Aufmerksamkeit durch den Rahmen im Bild noch stärker auf die agierende Figur gelenkt wird. Im Verlauf der Filmgeschichte ist die Kamera beweglich geworden, und es gibt nicht mehr nur starre Einstellungen wie noch in der Frühzeit des Films. Die Kamera kann sich auf ein Objekt zubewegen oder von ihm weg, sie kann geschwenkt und bewegt werden, indem sie getragen oder gefahren wird (vgl. Dunker 2012, S. 103ff.; Jehle 2021, S. 76ff.; Vallet 2019, S. 95ff.). Für die Bedeutung, die einem Bild und seiner Funktion für den Plot und die Geschichte beigemessen wird, sind die Einstellungsgröße - die Größe des Bildausschnitts -, die Perspektive und die Bewegung der Kamera besonders wichtig. Mit den gezeigten Bildern wird nicht nur der Plot als Grundlage der Geschichte im Kopf der Zuschauer: innen entwickelt, sondern es werden auch Nähe und Distanz zum Geschehen auf der Leinwand oder dem Bildschirm geregelt. Darüber hinaus kann die Dynamik des Geschehens gesteigert und die Bedeutung der Dinge, die im Bild zu sehen sind, hervorge‐ hoben oder zurückgedrängt werden. Vor allem aber organisiert die Kamera den Bildraum und die Sicht auf ihn. Sie vermittelt den Zuschauer: innen, wo rechts und links, vorn und hinten, oben und unten im Bild sind - und zwar so, dass sie aufgrund ihres Weltwissens von diesen Raumrelationen einen Handlungsraum des Films in ihren Köpfen entwerfen können. - Einstellungsgrößen Die Einstellungsgrößen legen die Nähe und Distanz der Kamera zum abge‐ bildeten Geschehen fest und bestimmen damit auch die Nähe oder Distanz, die der Zuschauer zum Geschehen entwickeln kann. Die Bezeichnungen für die Einstellungsgrößen richten sich nach der Größe der abgebildeten 4.1 Kamera 233 <?page no="234"?> Figuren im Verhältnis zur Bildgrenze. Sie gelten zwar auch für Gegenstände, die im Bild gezeigt werden, doch lassen sie sich an der Größe der Figuren am deutlichsten zeigen. Es wird zwischen vier (Dixon 2022, S. 14; Mitry 2000, S. 66ff.) sechs (vgl. Edgar u. a. 2015, S. 132; Phillips 2009, S. 93 ff.; Vineyard 2001, S. 10), sieben (vgl. Bordwell/ Thompson 2020, S. 190 f.; Gräf u. a. 2011, S. 113 ff.; Katz 2019, S. 169 ff.; Keutzer u. a. 2014, S. 10 ff.; Korte 2010, S. 34 ff.; Kuchenbuch 2005, S. 45; Mercado 2010, S. 29ff.), acht (vgl. Borstnar u. a. 2008, S. 102 ff.; Dunker 2012; Faulstich 2013, S. 117 ff.; Hickethier 2012, S. 56 ff.; Knilli/ Reiss 1971, S. 57 ff., Schaaf 1980, S. 51 f.), neun (Beil u.-a. 2012, S. 79 ff.) und zehn Einstellungsgrößen (vgl. Casetti/ di Chio 1994, S. 77 f.) unterschieden. Teilweise werden für einzelne Einstellungsgrößen auch unterschiedliche Angaben gemacht. So schreibt z. B. Faulstich (2013, S. 120), die Halbnahaufnahme zeige den Menschen vom Kopf bis zu den Füßen. Die meisten Autoren bezeichnen eine derartige Einstellung jedoch als Halbtotale (vgl. Borstnar u. a. 2008, S. 106; Dunker 2012, S. 25; Hickethier 2012, S. 57; Knilli/ Reiss 1971, S. 57; Korte 2010, S. 34; Kuchenbuch 2005, S. 41; Mercado 2010, S.-53; Schaaf 1980, S. 52). In der Regel kann zwischen acht Einstellungsgrößen unterschieden wer‐ den: 1. Super-Totale, Panorama oder Weit (extreme long shot) 2. Totale (long shot) 3. Halbtotale (medium long shot) 4. Amerikanische (american shot) 5. Halbnahe (medium shot) 6. Nahaufnahme (medium close-up) 7. Großaufnahme (close-up) 8. Detailaufnahme (extreme close-up) 1. Die Einstellung Weit, auch Panorama oder Super-Totale genannt, zeigt eine Landschaft in ihrer ganzen flächigen Ausdehnung, um den Zu‐ schauer: innen einen Überblick zu verschaffen. Die in solchen Szenen handelnden Figuren sind gar nicht oder kaum zu erkennen. Eine solche Einstellung wird z. B. benutzt, um am Ende eines Films die unendliche Weite der Landschaft zu verdeutlichen, in die sich der Held oder die Heldin aufmachen. In den ersten 35 Minuten des Films »Titanic« wird die Super-Totale mehrfach eingesetzt, um die gigantischen Ausmaße des Schiffes in Relation zur Weite der Natur zu stellen: In einer weiten Einstellung wird die Küstenlandschaft gezeigt, von der sich der Luxus‐ 234 4 Ästhetik und Gestaltung <?page no="235"?> dampfer entfernt, und in einer anderen sieht man die Titanic auf offener See (vgl. Abb.-9). 2. Die Totale legt den Handlungsraum fest, in dem die Charaktere agieren. Sie vermittelt den Zuschauer: innen Informationen über die Beschaffen‐ heit des Handlungsortes und weckt damit auch Erwartungen bezüglich des künftigen Geschehens. Ein Horrorfilm mag mit einer weiten Einstel‐ lung beginnen, die ein sich bis an die Grenzen des Bildes erstreckendes, einsames Waldgebiet zeigt. Die folgende Totale zeigt ein Blockhaus, das geduckt zwischen den Bäumen steht. Die Zuschauer: innen erwarten nun, dass in diesem Haus zumindest ein Teil des Geschehens stattfinden wird. Zugleich ist klar, dass eventuell benötigte Hilfe von außen nicht kommen kann, denn vorher war in dem weiten Waldgebiet keine Ortschaft zu sehen. In »Titanic« gibt es mehrere Bilder, in denen das Schiff in einer Totaleinstellung zu sehen ist. Damit gewinnt der Zuschauer einen Überblick über die Dimension des Schiffes und wird in den Handlungsraum eingeführt. Das wird insbesondere bei der Einstellung deutlich, in der die Titanic diagonal von rechts nach links durch das Bild fährt (vgl. Abb. 10). Solche Totalen werden in Filmen und Fernsehsendungen gern als Establishing Shot eingesetzt, um zu Beginn einer Handlung den Handlungsort zu etablieren. 3. In der Halbtotalen werden die agierenden Figuren im Handlungsraum präsentiert. Im Horrorfilmbeispiel würden die Zuschauer: innen, nach‐ dem sie das Blockhaus im Wald gesehen haben, durch halbtotale Einstel‐ lungen erfahren, wer sich in dem Haus aufhält. Diese Einstellungsgröße zeigt die Menschen vom Kopf bis zu den Füßen, ihre Aktionen sind für die Zuschauer: innen sichtbar. In »Titanic« sieht man in einer Halbtota‐ len, wie Jack und sein Freund im letzten Moment über die Gangway an Bord rennen (vgl. Abb.-11). 4. Die Einstellung Amerikanisch zeigt die Personen vom Kopf bis zum Oberschenkel. Diese Einstellungsgröße wird viel in Western verwendet: Der am Oberschenkel baumelnde Revolver muss noch zu sehen sein. Schließlich sollen die Zuschauer: innen beim Showdown nicht nur das Pokerface der Schützin, sondern auch deren schnellen Griff zum Revol‐ ver erkennen können. In »Titanic« wird in dieser Einstellung gezeigt, wie Jack und sein Freund mit dem Steward verhandeln, an Bord gelassen zu werden (vgl. Abb.-12). 4.1 Kamera 235 <?page no="236"?> Abb. 9: »Titanic«, Super-Totale Abb. 10: »Titanic«, Totale Abb. 11: »Titanic«, Halbtotale - Abb. 12: »Titanic«, Amerikanische 5. Etwas näher bzw. größer sieht man die Figuren in der halbnahen Einstellung, in der sie von der Hüfte an aufwärts gezeigt werden. Tauschen Personen lediglich Informationen aus, ohne dass es auf ihre Gefühlsregungen ankommt, werden sie halbnah gezeigt. So haben die Zuschauer: innen noch einen Eindruck von der direkten Umgebung der Personen. In »Titanic« ist dies so, als nach der weiten Einstellung mit dem Schiff auf dem Meer, der Kommandostand, der Kapitän und die Offiziere vorgestellt werden (vgl. Abb. 13). Bei diesen Bildern ist nicht wichtig, dass die Zuschauer: innen etwas über die inneren Beweggründe der Figuren erfährt, sondern dass die Funktionsweise des Schiffes im Zusammenspiel von Mensch und Technik gezeigt wird. Da die amerikanische Einstellung und die halbnahe Einstellung nur minimal differieren, wird manchmal auch auf eine Unterscheidung verzichtet. Dann ist nur von amerikanischen Einstellungen die Rede. 6. Eine Naheinstellung zeigt die Figuren nur vom Kopf bis zur Mitte des Oberkörpers. Mimik und Gestik der Personen sind gut zu erkennen. Das ist z. B. bei Pokerrunden von Bedeutung, aber auch beim Blick des Liebhabers in das Dekolleté seiner Angebeteten, während sie seine 236 4 Ästhetik und Gestaltung <?page no="237"?> glatte Brust bewundert, die sich im Ausschnitt des bis zum Bauch aufgeknöpften Hemdes zeigt. Die Zuschauer: innen sehen, wohin die Figuren schauen, können daraus ihre Schlüsse ziehen und Erwartungen auf den Fortgang der Handlung generieren. In einer Runde sitzende Personen werden gern in dieser Einstellungsgröße gezeigt. So findet sie auch in »Titanic« Verwendung, wenn über ein Gespräch bei Tisch die Zuschauer: innen in die gesellschaftlichen Kreise eingeführt werden, in denen Rose verkehrt (vgl. Abb.-14). 7. In der Großaufnahme sind das Gesicht der Figur und möglicherweise noch ihre Schultern zu sehen. Hände oder Füße einer Person können ebenso groß gezeigt werden wie die Saftglas auf dem Tisch, die Uhr auf der Anrichte oder der Teddy neben dem Kopfkissen. Die Zuschauer: in‐ nen erkennen nun zwar nicht mehr, wohin die Figuren schauen, dafür bekommen sie aber alle mimischen Reaktionen genau mit. Sie sehen die kleine Träne, die aus dem Augenwinkel entweicht, oder bemerken, dass der Teddy nur noch ein Auge hat. In dem bereits erwähnten Gespräch bei Tisch in »Titanic« werden die Figuren in Großaufnahme gezeigt, wenn ihre Mimik das Gesagte unterstreichen soll oder sie aufgrund der Aussage einer anderen Figur innerlich erregt sind (vgl. Abb. 15). Großaufnahmen von Objekten werden auch benutzt, um diese in Funktion zu zeigen. So ist einmal die Schiffsschraube der Titanic in einer Großaufnahme zu sehen, wie sie sich gerade zu drehen beginnt. Damit wird den Zuschauer: innen verdeutlicht, dass das Schiff Fahrt aufnimmt. 8. In den Detailaufnahmen wird die Bedeutung einzelner Gesichtspartien und von Gegenständen wie dem Ehering am Finger oder dem Riss im Saftglas auf dem Tisch hervorgehoben. Mit solchen Aufnahmen werden sowohl Begründungen für nachfolgende Handlungen oder Aktionen geliefert als auch rückwirkend Handlungen erklärt. Wenn z. B. in »Terminator 2 - Judgement Day« der T-1000-Terminator mit einem Lkw gegen einen Brückenpfeiler prallt, ist in einer kurzen Detailaufnahme auslaufendes Benzin zu sehen. Damit wird die Begründung für den anschließenden lauten Knall und riesigen Feuerball geliefert. Wenn die Zuschauer: innen das auslaufende Benzin sehen, werden sie erwarten, dass der Lkw explodiert. Sie sind mit ihren kognitiven und emotionalen Aktivitäten über die Detailaufnahme in das Geschehen eingebunden. Als die Titanic das erste Mal hohe See erreicht, befiehlt der Kapitän auf der Brücke: »Volle Kraft voraus! «. Im Folgenden sieht man, wie der 4.1 Kamera 237 <?page no="238"?> Hebel am Maschinentelegrafen zunächst auf »halb« und dann auf »voll« umgelegt wird. Im Bild erscheint das Detail des Maschinentelegrafen (vgl. Abb.-16). Abb. 13: »Titanic«, Halbnahe - Abb. 14: »Titanic«, Nahaufnahme Abb. 15: »Titanic«, Großaufnahme - Abb. 16: »Titanic«, Detailaufnahme Die Einstellungsgrößen regeln die Nähe und Distanz der Zuschauer: innen zu den Figuren und dem Geschehen. Ein Gesicht in Großaufnahme signalisiert Emotionalität. Freude, Trauer oder Betroffenheit sind im Gesichtsausdruck genau zu erkennen (vgl. Bordwell/ Thompson 2020, S. 190). Daher kann bei der Großaufnahme auch von einer intimen Einstellung gesprochen werden, die den Figuren und Akteur: innen gewissermaßen sehr nah »auf den Pelz« rückt. »Die Großaufnahme kann uns eine intimere Beziehung zu den Personen auf der Leinwand vermitteln, als wir sie normalerweise mit einem anderen Menschen hätten, abgesehen von unseren engsten Freunden und Familienangehörigen« (Katz 2019, S. 172 f.). Sie ist eine filmische Konvention, die im Verlauf der Mediensozialisation von den Zuschauern erlernt wird. In »Titanic« werden häufig Großaufnahmen 238 4 Ästhetik und Gestaltung <?page no="239"?> eingesetzt, um die Angst und Panik von Rose und Jack zu zeigen, als sie ver‐ suchen, dem eindringenden Wasser zu entkommen. Diese Einstellungsgröße ist zu einem Standard in Fernsehserien und den Daily Soaps geworden. Um die Spannung für die nächste Serienfolge aufzubauen, wird meist am Ende einer Folge das Gesicht einer der Hauptfiguren in Großaufnahme gezeigt, nachdem eine für den Fortgang der Handlung entscheidende Aussage gemacht worden ist - manchmal wird das Bild des erschreckten Gesichts auch noch eingefroren und der Abspann beginnt. Groß- und Nahaufnahmen sind generell ein wesentliches Mittel der Kameraarbeit in Fernsehserien, da hier besonders die emotionale Seite der zwischenmenschlichen Beziehungen im Mittelpunkt der Erzählungen steht. Außerdem werden sie häufig in Krimiserien wie »Letzte Spur Berlin« oder »Navy CIS« verwendet, um zu zeigen, dass die Ermittler sich so ihre Gedanken über den Fall machen. In Fernsehsendungen dienen sie zudem dazu, die geringere Größe des Bild‐ schirms gegenüber der Leinwand auszugleichen. Groß- und Nahaufnahmen sind in Filmen, Fernsehsendungen und Videos aber auch wichtig, weil in ihnen die Blicke der Protagonist: innen sehr gut erkennbar sind. Dadurch kann z. B. deutlich werden, dass ein Objekt oder eine Aktion außerhalb des Bildes die Aufmerksamkeit der Heldin erregt. Mit einem schnellen Wechsel zwischen Nah-, Groß- und Detailaufnahmen werden die Zuschauer: innen stärker in das Geschehen auf der Leinwand oder dem Bildschirm einbezogen, weil sie mit ihren kognitiven und emotionalen Aktivitäten die verschiede‐ nen Bilder zusammenfügen müssen, um in ihren Köpfen eine Geschichte entstehen zu lassen. Sie müssen selbst mental aktiv sein, um die Orientierung zu behalten, sowohl räumlich als auch in der erzählten Geschichte. - Perspektive Ihre Bedeutung für den Plot und die Geschichte im Kopf entfalten die Einstellungsgrößen in Kombination mit den Perspektiven auf die Figuren und Gegenstände, die von der Kamera angeboten werden. Während die Ein‐ stellungsgrößen Nähe und Distanz der Kamera zum abgebildeten Geschehen regeln, macht die Perspektive den Standpunkt der Kamera gegenüber dem Geschehen deutlich. Die Kameraperspektive - und damit der Blick auf abgebildete Dinge und Personen - kann sowohl horizontal als auch vertikal differieren. Auf der vertikalen Ebene wird zwischen folgenden Perspektiven unter‐ schieden (vgl. Beil u. a. 2012, S. 87 f.; Borstnar u. a. 2008, S. 109; Edgar 2015, 4.1 Kamera 239 <?page no="240"?> S. 130; Faulstich 2013, S. 123; Gräf u. a. 2011, S. 124; Hickethier 2012, S. 61; Keutzer u.-a. 2014, S. 13; Korte 2010, S. 49; Phillips 2009, S. 100 ff): • Obersicht bzw. Aufsicht, im Extremfall Vogelperspektive • Untersicht, im Extremfall Froschperspektive • Normalsicht Bei der Obersicht blicken die Zuschauer: innen aus einer erhöhten Perspek‐ tive auf das Geschehen, das so überschaubar ist. Zahlreiche Filme beginnen mit der Obersicht auf eine Stadt, um den Zuschauern den Handlungsort zu zeigen: In »Codename: Nina« ist es Washington mit dem Kapitol, in »Zimmer mit Aussicht« Florenz mit dem Dom. In »Titanic« sehen wir in der bereits angesprochenen weiten Einstellung den Luxusdampfer aus der Vogelperspektive aufs Meer hinausfahren. Auf diese Weise wird deutlich gemacht, dass das Schiff trotz seiner imposanten Größe auf dem weiten Meer eher klein und verloren ist. Mit dieser Sicht auf einen Ort wird nicht nur das Wissen der Zuschauer: innen über dieses Mittel der Filmgestaltung aktiviert, sondern auch das Wissen über den Ort selbst, das möglicherweise in der Folge noch eine Rolle spielen wird. Wenn solch eine Einstellung in Beziehung zu den Wissensformen gesetzt wird - zum Weltwissen, zum narrativen Wissen und zum Wissen um filmische Gestaltungsmittel (vgl. Kapitel I.1.1) -, können die Zuschauer: innen die Bedeutung dieser Einstellung auf folgende Weise herstellen: Mit dem Wissen um diese Form der Obersicht als filmgestalterisches Mittel können sie feststellen, dass dies der Ort ist, an dem der Film spielt. Ihr Weltwissen sagt ihnen etwas über den Ort, in diesem Fall das Meer, mit dem eine Vielzahl von Konnotationen verbunden ist, und ihr narratives Wissen sagt ihnen, dass die Besonderheiten des Meeres eine Rolle in der Handlung spielen werden. Der Blick auf Figuren und Akteure aus der Obersicht kann verschiedene Funktionen haben. Er kann narrativ begründet sein, wenn eine Figur im Verhältnis zur Umgebung oder zu anderen Figuren als klein oder unterle‐ gen erscheinen soll; sie werden dann von ihrer Umgebung dominiert. Er kann aber auch nur die Größenverhältnisse von miteinander sprechenden Figuren wiedergeben. So wird der Blick eines Erwachsenen auf ein Kind - den Größenverhältnissen entsprechend - aus der Obersicht gezeigt und umgekehrt der Blick des Kindes auf den Erwachsenen aus der Untersicht. Aufgrund der Größenverhältnisse muss in »Terminator 2 - Judgement Day« John zu seinem Terminator aufschauen, während der Terminator auf John herabsieht (vgl. Abb.-17 und 18). 240 4 Ästhetik und Gestaltung <?page no="241"?> Abb. 17 und 18: »Terminator 2 - Judgement Day« Entsprechend dient die Untersicht oder Froschperspektive dazu, die gezeigten Dinge und Figuren als bedeutend und mächtig erscheinen zu lassen. In »Die Spur des Falken« begegnet der Privatdetektiv Sam dem Gangsterboss Kasper Gutman. Da sich Spade in der Höhle des Löwen befindet, wird Gutman als der Mächtigere dargestellt. Der beleibte Gangsterboss sitzt in einem Sessel und wird aus der Untersicht gezeigt - ein eindrucksvolles Bild, das für den armen Spade Schlimmes befürchten lässt (vgl. Abb.-19 bis 21). - - Abb. 19 bis 21: »Die Spur des Falken« Befindet sich die Kamera dagegen auf Augenhöhe der handelnden Figuren, so wird von Normalsicht gesprochen. Sie entspricht der Position, in der sich zwei Personen im Dialog gegenüberstehen. Die Zuschauer: innen sollen als Beobachter »auf gleicher Höhe« sein. Auf der horizontalen Ebene werden Dinge und Personen entweder direkt von vorn gezeigt oder seitlich verzerrt. Entscheidend ist dabei, dass die Kamera den für die Zuschauer: innen aufgebauten Raum beachtet, in dem es rechts und links sowie vorn und hinten gibt. Die Kamera darf die eigene Blickachse nicht überspringen, denn nur so ist die räumliche Orientierung für die Zuschauer: innen am Handlungsort zu gewährleisten. Tut sie es doch, verlieren sie die Orientierung im Raum. Das kann natürlich gewollt sein, z. B. 4.1 Kamera 241 <?page no="242"?> um im Horrorfilm eine bedrohliche Situation zu schaffen, ansonsten erzeugt es eher Irritation. Letzteres ist häufiger bei Fußballspielen zu beobachten, wenn die Zeitlupenaufnahmen von Kameras, die hinter dem Tor stehen oder sich an einer Seitenlinie entlangbewegen, das Spielgeschehen nicht aus der durch die Hauptkamera vorgegebenen Perspektive zeigen. Die Hauptka‐ mera, die von einer Längsseite des Spielfeldes das Spiel zeigt, vermittelt den Zuschauer: innen deutlich, wo rechts und links ist - der Kommentar erklärt zudem meist noch, welche der beiden Mannschaften gerade von rechts nach links spielt. Dadurch ist den Zuschauer: innen eine räumliche Orientierung möglich, die dann in den Zeitlupen aus anderen Kamerapositionen heraus wieder aufgehoben wird - da grätscht der gegnerische Spieler plötzlich von rechts in den ballführenden Spieler, während er eben noch von links kam. Bei einigen Übertragungen ist zu beobachten, dass links unten im Bild als Orientierungshilfe für die Fernsehzuschauer: innen die andere Perspektive der Kamera als Symbol und/ oder Schrift eingeblendet ist. Um den Realitätseindruck und die Kontinuität der Handlung nicht zu zerstören, muss in Filmen auf die Einhaltung dieser Regeln geachtet werden. Wenn in »Titanic« der Bug des Schiffes langsam im Meer versinkt und sich das Heck hebt, müssen die Menschen, die sich nicht mehr festhalten können, alle in eine Richtung rutschen. Das muss dann in allen Einstellungen, ob Nahe, Amerikanische, Halbtotale oder Totale, zu sehen sein. Denn die Zuschauer: innen als Beobachter: innen verharren in einer festen Position im Kino- oder Fernsehsessel, von der aus sie klare Raumvorstellungen über den Ort der Handlung entwickeln. Findet in einem Gangsterfilm eine Verfolgungsjagd statt, muss sich die Verfolgte in die gleiche Richtung wie die Verfolger: innen bewegen - es sei denn, sie wendet einen Trick an, um z. B. in einer parallel verlaufenden Straße ihren Verfolger: innen wieder entgegenzufahren. Bleibt die räumliche Orientierung nicht erhalten, kann z.-B. bei einer Verfolgungsjagd auch keine Spannung erzeugt werden. - Kamerabewegung Neben der Perspektive und der Einstellungsgröße kommt auch der Kame‐ rabewegung eine narrative Funktion zu (vgl. Bordwell 2001, S. 70 ff.). Es können vier Bewegungsarten unterschieden werden (vgl. Beil u. a. 2012, S. 92 ff.; Bordwell/ Thompson 2020, S. 195 ff.; Borstnar u. a. 2008, S. 112 ff.; Dunker 2012, S. 105; Faulstich 2013, S. 125; Gräf u. a. 2014, S. 139 ff.; Hicke‐ 242 4 Ästhetik und Gestaltung <?page no="243"?> thier 2012, S. 62; Korte 2010, S. 36 f.; Phillips 1999, S. 109 ff.): Kamerafahrt, Hand- oder Wackelkamera, Zoom und Schwenk. Zu Beginn der Filmgeschichte war die Kamera noch starr, sie stand auf einem Stativ und beobachtete das vor ihr ablaufende Geschehen. Es war darauf zu achten, dass die handelnden Figuren nicht aus dem Bild liefen. Doch dann entdeckte man, dass die Kamera auch beweglich sein kann. Man montierte sie auf sich bewegenden Gegenständen. Zunächst waren das Schiffe, die an den Kais der Hafenstädte entlangfuhren, dann waren es Eisenbahnen, auf denen die fest montierten Kameras durch die Landschaft bewegt wurden. Daraus entwickelte sich die Kamerafahrt, bei der sich die Kamera durch den Raum bewegt. Sie kann auf kleinen Wagen neben einem Geschehen herfahren. Das kann bei Leichtathletikübertragungen gut beobachtet werden, wenn die Kameras beim 100-m-Lauf entlang der Rennbahn fahren und dabei immer auf der Höhe der Läufer: innen sind. Sie kann aber auch auf einem Auto montiert sein, um den Zuschauer: innen die Sicht der Fahrerin auf die Straße nahezubringen. Die Kamera bewegt sich in der Regel nicht ohne einen Bezug zur Hand‐ lung oder der inneren Gefühlswelt bzw. dem Zustand der Fahrerin. Ist die Autofahrende Heldin z. B. angetrunken, können die Zuschauer: innen aus dieser Perspektive genau miterleben, wie gefährlich nah sie den Mülltonnen und Straßenlaternen kommt, die am Rande ihres Weges stehen. In einer anderen Szene kann die auf dem Auto montierte Kamera verdeutlichen, wie brenzlig die Situation für eine sich auf der Straße befindende Person wird, wenn das Auto auf sie zurast. Ist die Fahrerin eine intrigante Nichte und der alte Mann auf der Straße ein sympathischer, kinderlieber Millionär, den sie beerben möchte, werden die Zuschauer: innen die Situation als sehr bedrohlich für den alten Mann erleben. Ist die Fahrerin jedoch die nette Freundin der von der Mafia zu Unrecht getöteten Postbotin und der schwer bewaffnete junge Mann auf der Straße ein ziemlich brutal aussehender Mafioso, dann werden die Zuschauer: innen die Situation als sehr bedroh‐ lich für die Fahrerin erleben. Worauf es hierbei ankommt, ist, dass die Zuschauer: innen die Situation überhaupt als bedrohlich erleben (vgl. Kapitel II.2.5). Denn wenn sie das tun, sind sie kognitiv und emotional aktiv: Sie erleben den Film und sehen ihn nicht nur. Ebenso wie sich die Kamera auf Personen oder Objekte zubewegen kann, kann sie sich auch von ihnen entfernen. Da macht sich dann schon ein Gefühl der Erleichterung im Kino- oder Fernsehsessel breit, wenn die Zuschauer: innen miterleben können, wie die Heldin ihre Verfolger: innen abhängt oder James Bond mal wieder 4.1 Kamera 243 <?page no="244"?> Abb. 22: »The Blair Witch Project« den bösen Agent: innen entwischt. Gerade bei Verfolgungsszenen wird oft zwischen der Bewegung des Näherkommens und des Abstandgewinnens gewechselt. Um die Dynamik zu steigern, rasen die sich verfolgenden Autos vor festen Gegenständen wie Säulen, Zäunen oder Treppen vorbei, auf die Kamera gerichtet ist und sich nicht bewegt. Ein anderes Mittel die Dynamik zu erhöhen ist, dass sich die Kamera entgegen der Bewegungsrichtung der Autos bewegt, exemplarisch zu bewundern in »Black Panther«, »Captain America - Civil War«, »Drive«, »Mad Max: Fury Road« oder »The Rock - Fels der Entscheidung«. Auf diese Weise erhalten Verfolgungsjagden eine atemberaubende Dynamik. Eine Kamera, die sich z. B. um 360° um eine Person herumbewegt, kreist diese Person förmlich ein. In »Reservoir Dogs - Wilde Hunde« wird dies eingesetzt, um die bedrohliche Situation bei einem Verhör zu verdeutlichen. In »Control« umkreist die Kamera die Hauptfigur Ian Curtis, um seinen angeschlagenen psychischen Zustand zu verdeutlichen. Eine andere Form der Kamerabewegung ist die Hand- oder Wackelkamera, die nicht auf einem beweglichen Gefährt fest installiert ist, sondern von den Kameraleuten getragen wird. Die dadurch entstehenden wackeligen Bilder vermitteln eine besondere Dynamik und Lebendigkeit (vgl. Beier 1999; Borstnar u. a. 2008, S. 114; Dixon 2022, S. 12ff.; Phillips 2009, S. 112 ff.). Jean-Luc Godard hat dies z. B. bewusst als Stilmittel in »Außer Atem« eingesetzt und damit Filmgeschichte geschrieben. Die dänischen Filmema‐ cher der sogenannten »Dogma«-Bewegung arbeiten mit Handkameras, um eine stärkere Authentizität zu erzeugen. In ähnlicher Weise wird dieses Mittel in dem Horrorthriller »The Blair Witch Project« verwendet, um die Bewegungen der Figuren im Unterholz nahezu authentisch wiederzugeben. Generell kann man zudem unter‐ scheiden, ob die Kamera sich auf ein Geschehen, einen Gegenstand oder eine Figur zu- oder wegbe‐ wegt (Ranfahrt oder Rückfahrt), ob sie sich seitlich an Objekten vorbei‐ bewegt (Seitfahrt) oder parallel zu Objekten in Bewegung wie fahren‐ den Autos oder Schiffen (Parallel‐ fahrt). Von diesen Formen der Kamera‐ bewegung ist der Zoom zu unter‐ 244 4 Ästhetik und Gestaltung <?page no="245"?> scheiden, bei dem durch Veränderung der Brennweite des Objektivs Gegen‐ stände oder Personen nah herangeholt oder eben auf Abstand gebracht werden können. Der Fotoingenieur Achim Dunker (2012, S. 118) hat her‐ vorgehoben, dass Zooms eine besondere Akkuratesse erfordern und sehr zeitaufwändig sind. Dabei bleibt die Entfernung zwischen der Kamera und dem gefilmten Objekt gleich, nur die Proportionen des abgebildeten Raumes verändern sich: seine Tiefe verringert oder vergrößert sich. Der Bewegungseindruck für die Zuschauer: innen ist jedoch anders als bei der Kamerafahrt, da hier die Künstlichkeit der Kamera bewusst wird (vgl. ebd.). Hier bewegen sich Objekte oder Personen auf das Auge der Betrachterin zu oder von ihr weg, ohne dass sie ihre Position im abgebildeten Raum verändern würden. Es bewegt sich nur der Kamerablick, der aber dennoch die Wahrnehmung der Zuschauer: innen auf eine Figur oder ein Objekt fokussiert. Eine weitere Form der Kamerabewegung ist der Schwenk. Dabei behält die Kamera ihren Standpunkt bei, bewegt sich aber horizontal oder vertikal durch den Raum. Auf diese Weise kann sie den Zuschauer: innen bedeutsame Informationen über etwas vermitteln, was vorher nicht im Bild zu sehen war. Die Kamera kann z. B. einen Raum abschwenken, um eine räumliche Orientierung zu bieten. Als in »Das Schweigen der Lämmer« Clarice Starling erstmals in das Gefängnis kommt, in dem Hannibal Lecter gefangen gehalten wird, und sie den Wachraum vor den Verliesen betritt, folgt die Kamera ihrem Blick und schwenkt von links nach rechts um mehr als 180° durch den Raum, bis sie auf dem Gesicht des Wärters Barney zum Stehen kommt. Sie kann aber auch einfach den Personen in der Szene folgen, während diese sich durch den Handlungsraum bewegen. Wenn die sorgende Mutter von der Couch aufspringt, um den gerade heimgekehrten, seit Tagen vermissten Töchtern entgegenzueilen, folgt die Kamera ihrer Bewegung, und die Zuschauer: innen wissen, dass sie ihre Kinder gleich in die Arme schließen wird. Mit einem Schwenk kann zugleich die Einstellungsgröße verändert werden, wenn von einem nahen Objekt auf ein weiter entferntes geschwenkt wird. Das ist in »Titanic« zu beobachten, als das Schiff vom Pier ablegt: Zunächst ist in einer Großaufnahme zu sehen, wie eine Leine gelöst wird. Der Pier befindet sich leicht links von der Position der Kamera, die nun weiter nach rechts den Pier entlang zur nächsten Leine schwenkt, die gelöst wird. In der Sequenz, in der das Wrack der Titanic auf dem Meeresboden entdeckt wird, sind mehrere Formen der Kamerabewegung vereint. Es werden Kamerafahrten, Schwenks und Zooms eingesetzt, um die 4.1 Kamera 245 <?page no="246"?> Zuschauer: innen an der Erkundung des Wracks auch kognitiv zu beteiligen. Das Beispiel zeigt, dass in Filmen nicht nur ein bestimmtes Gestaltungsmit‐ tel eingesetzt wird. Ihre volle Funktion in Bezug auf die Narration, die Repräsentation und die handelnden Figuren und Akteur: innen entfalten die Elemente der Kameraarbeit von der Einstellungsgröße über die Perspektive bis hin zur Bewegung erst in ihrem Zusammenspiel. - Funktionen der Kameraarbeit In dem Film »The Player« werden die Zuschauer über eine grandiose erste Einstellung in den Handlungsort eingeführt. Die Kamera wird mit einem Kran über den Schauplatz - ein Hollywood-Studio - bewegt und schwenkt zugleich über das Gelände, um sich letztendlich an einem Gebäude festzubeißen: Die Betriebsamkeit der Kamera fängt die Betriebsamkeit in einem Studio ein. Damit wird zugleich ein Handlungsrahmen geschaffen, der sich durch den ganzen Film zieht. In »Spectre« folgt die Kamera der Hauptfigur James Bond und nimmt dabei verschiedene Perspektiven mit unterschiedlichen Einstellungsgrößen ein, um den Handlungsort zu markieren. Als in »Alles über Eva« der alternde Broadway-Star Margo Channing, gespielt von Bette Davis, ihre ehrgeizige junge Konkurrentin Eve Harrington in einer eindeutig zweideutigen Situation mit dem Kritiker George Sanders erwischt, der die junge Eve mit seinen Kritiken in den Ruhm schreibt, werden die Zuschauer: innen Zeug: innen der Auseinandersetzung zwischen Margo und George: Die Kamera verfolgt Margo durch das Zimmer und zeigt die beiden in halbtotalen, halbnahen, nahen und großen Einstel‐ lungen. In der Halbtotalen sind die heftigen verbalen Attacken zu sehen, in den Nah- und Großaufnahmen die innere Erregung von Margo, in den halbnahen Einstellungen sieht man Margos Griff in eine Dose Pralinen. Durch diese Einstellungswechsel erhält die Szene eine zusätzliche Dynamik, die den Zuschauer: innen den Streit zwischen Margo und George nicht aus einer starren, quasi objektiven Beobachterposition heraus zeigt. Indem die Kamera Margo folgt und in wechselnden Einstellungen ihre innere Gefühlswelt offenlegt, werden die Zuschauer: innen nah an das Geschehen herangeführt und können so die Identitätsprobleme einer alternden Diva empathisch nachvollziehen. Ihnen wird das Angebot gemacht, emotional aktiv zu werden. Im Verlauf ihrer Film- und Fernsehsozialisation erlernen Zuschauer: innen die Bedeutung von filmischen Gestaltungsmitteln wie Kameraperspektive 246 4 Ästhetik und Gestaltung <?page no="247"?> und -bewegung sowie Einstellungsgrößen. Sie denken nicht bewusst dar‐ über nach, was jetzt wie in einem Film eingesetzt wird. Die Bedeutung vermittelt sich über einen routinierten Zugriff auf das, was auf der Leinwand oder dem Bildschirm erscheint. In der Analyse geht man den umgekehrten Weg und versucht, die routinierte Umgangsweise in einen bewussten Zugriff zu verwandeln. Da sich die Zuschauer: innen in der »normalen« Rezeption von den Gestaltungsmitteln durch den Film, das Video oder die Fernsehsen‐ dung leiten lassen, dienen sie dem Aufbau von Erwartungen auf das weitere Geschehen. Wenn z. B. Jeannine Michaelsen in der Show »Joko und Klaas - Das Duell um die Welt« eine neue Herausforderung in einem der Länder auf dieser Erde ankündigt, erwarten die Zuschauer: innen, dass nun der Einspielfilm mit den prominenten Unterstützer: innen von Joko und Klaas kommt. Welche Rolle die Kamera beim Aufbau von Erwartungen und der Gene‐ rierung von Spannung spielt, mag folgendes Beispiel aus »Das Schweigen der Lämmer« verdeutlichen: Zu Beginn des Films, noch während der Titel‐ sequenz sieht man Jodie Foster als Clarice Starling durch einen Wald laufen. Leichter Bodennebel steigt auf, die Stimmung ist etwas unheimlich. Die Ka‐ mera zeigt Clarice zunächst von vorn, dann von der Seite, um anschließend kurz ihre laufenden Beine zu zeigen. Ihr keuchender Atem ist zu hören. Dann ist die Kamera plötzlich hinter ihr und verfolgt sie; eine klassische Konvention, um anzudeuten, dass sich jemand von hinten einem Opfer annähert. Die Zuschauer: innen werden in gespannte Erwartung versetzt, doch dann löst sich die Szene eher unspektakulär auf: Clarice befindet sich auf einem Fitness-Pfad und wird zum Appell zu ihrem Chef gerufen. Mit dieser durch die Darstellungsweise erzeugten gespannten Erwartung werden die Zuschauer: innen in psycho-physiologische Erregung versetzt: Sie werden vom Film vereinnahmt; er zieht sie in seinen Bann. Über die Kameraarbeit wird das Verhältnis der Zuschauer: innen zum Geschehen auf der Leinwand oder dem Bildschirm geregelt. Sie gestattet es, eine distanzierte Beobachterperspektive einzunehmen oder aber nah an den Figuren und Objekten dran zu sein. Während der distanzierte Blick aus der Halbtotalen oder der Totalen es gestattet, sich das Geschehen im Über‐ blick zu vergegenwärtigen, binden Nah-, Groß- und Detailaufnahmen die Zuschauer: innen emotional an das Geschehen. Ein Film, ein Video oder eine Fernsehserie vereinen verschiedene Kamerabewegungen, Bildeinstellungen und Kameraperspektiven, die zur Dynamik der Erzählung beitragen. Ein »guter« Film lässt die Zuschauer: innen in dieser Hinsicht nicht in Ruhe, 4.1 Kamera 247 <?page no="248"?> er veranlasst sie, kognitiv und emotional aktiv zu werden, er gönnt ihnen auch mal Ruhepausen, aber am Ende des Films gibt er ihnen das Gefühl, zum Filmerlebnis ihren Anteil beigetragen zu haben. Die Zuschauer: innen sind es, die die Geschichte des Films erlebt haben, weil sie sie in ihren Köpfen zusammengefügt haben. Analyseleitende Fragen • Welcher Handlungsort wird zu Beginn eines Films oder einer Fern‐ sehserienepisode wie vorgestellt? • Welcher Handlungsrahmen wird dadurch aufgespannt? • Welche Personen werden den Zuschauer: innen von der Kamera nahegebracht, welche bleiben eher distanziert? • Mit welchen Mitteln lädt die Kamera die Zuschauer: innen zur Identifikation mit welcher Figur ein? • Ist die Sicht der Kamera auf die einzelnen Figuren immer gleich oder wechselt sie? • Wie positioniert die Kamera die handelnden Personen im filmischen Raum (oder bei Fernsehshows im Bühnenraum)? • Mit welcher Raumkonstruktion bietet die Kamera den Zuschauer: in‐ nen eine Orientierung im filmischen Raum? • Mit welchen Mitteln werden einzelne Szenen dynamisiert? • Mit welchen Mitteln erzeugt die Kamera Dynamik in Verfolgungs‐ jagden? • Unterstützt die Sicht der Kamera auf Personen und Objekte die generelle Erzählperspektive oder wird sie von ihr konterkariert? • Wie bindet die Kamera die Zuschauer: innen in den Szenen in das Geschehen ein? • Blickt die Zuschauerin direkt durch die Kamera oder ist es der Blick einer der Figuren? 4.2 Licht Das Licht hat eine wesentliche Funktion für die Bedeutung von Film-, Video- und Fernsehszenen. Es kann Objekte und Akteur: innen hervorheben, es kann sie aber auch im Dunkeln verschwinden lassen. Die Lichtgestaltung 248 4 Ästhetik und Gestaltung <?page no="249"?> ist vor allem für die Konzeption des filmischen Raumes wichtig. Mithilfe des Lichts entsteht bei den zweidimensionalen Film- und Fernsehbildern der Eindruck von Dreidimensionalität, die abgebildeten Dinge werden plastisch (vgl. Gans 1999, S. 6). Das ist nicht nur bei Film; Video und Fernsehen so, sondern bereits aus der Fotografie und der Malerei bekannt. Licht und Schatten sind dabei untrennbar miteinander verbunden, denn sie »geben dem Zuschauer den entscheidenden Eindruck von den Dimensionen des Raumes« (Dunker 2014, S. 19), sie schaffen zusammen die Raumwirkung (vgl. Khouloki 2007, S. 42). Ihre Verteilung modelliert die Dinge und ermög‐ licht es der Betrachterin, »auf die Form der Dinge zu schließen, während die An- und Abwesenheit von Glanzlichtern und Reflexen uns über ihre Oberflächenbeschaffenheit unterrichtet« (Gombrich 1987, S. 13). Mit der Lichtgestaltung im Film lassen sich Strukturen hervorheben. Licht und Schatten ordnen die Gegenstände im Raum. Die Lichtgestaltung im Film erlaubt es, die Beleuchtung zu manipulieren, indem Schatten künstlich aufgehellt werden, indem mit einer besonderen Lichtfarbe bestimmte Stim‐ mungen erzeugt werden oder ganz allgemein bereits dadurch, dass bewusst mit mehreren Lichtquellen gearbeitet wird, die für die Zuschauer: innen nicht erkennbar sind, weil sie außerhalb des Bildes liegen. Hierin offenbart sich die narrative Funktion der Lichtgestaltung. Auch das ist bereits aus der Malerei bekannt. Ein Meister der Lichtge‐ staltung, der nicht nur nachfolgende Malergenerationen, sondern auch Filmschaffende beeinflusst hat, war Caravaggio. Da seine Lichtquellen meist nicht im Bild selbst zu sehen sind, hebt er mit seiner Lichtgestaltung bestimmte Gegenstände, Personen oder Accessoires im Bild hervor. Oft hat die Betrachterin den Eindruck, dass ein Scheinwerfer von außen ins Bild strahlt. Das Licht resultiert nicht aus dem Bildinhalt. Die Gestalten in den Bildern Caravaggios wissen nichts von dem Licht, »das auf sie fällt, sie selbst sehen es nicht. Dieses Licht und damit auch das Helldunkel, dem es zugehört, ist als ein Medium bestimmbar, das nur uns, den Betrachtern, deutlich vor Augen steht; es ist die uns gestellte Bedingung des Sehens« (Prater 1992, S. 26). Das Licht verfährt damit wertend mit dem Bild. Das Helldunkel lenkt die Aufmerksamkeit der Betrachterin und strukturiert so die Bedeutungs‐ bildung vor. Im Zusammenhang mit dem Film noir und den Filmen des deutschen Expressionismus ist immer wieder auf die besondere Rolle der Helldunkel-Gestaltung als narratives Prinzip hingewiesen worden, 4.2 Licht 249 <?page no="250"?> Abb. 23: »Caravaggio« und besonders auf die Tradition des »Chiaroscuro« in der Malerei bei Caravaggio und Rembrandt (vgl. Hickethier 2012, S. 77). Doch ist dabei leider übersehen worden, dass es sich bei den genannten Filmen um Schwarz-Weiß-Filme handelt, der Begriff »Helldunkel« oder »Chiaros‐ curo« sich aber auf eine bestimmte Art der Farbgestaltung bezieht, auf eine Art Zwielicht, in dem Farben nicht mehr rein, sondern in Brauntö‐ nen erscheinen: »Die Entfaltung des Helldunkels ist nur möglich auf Kosten der Reinheit der Farben und der Klarheit der Linien« (Prater 1992, S. 71). Eine entsprechende Umsetzung im Film findet sich unter anderem bezeichnenderweise in »Caravaggio«, der Szenen aus dem Leben des Malers erzählt und versucht, sich in der Lichtgestaltung an den Bildern des Meisters zu orientieren (vgl. Abb. 23). Außerdem arbeiten Farbfilme, die sich in der Tradition des Film noir sehen, mit dem Mittel des Helldun‐ kels, indem Farben und Formen verschwimmen - als Beispiel mag hier »Sieben« gelten. Das Helldun‐ kel erhält eine eigene narrative Bedeutung, die sich weder aus der Handlung, den abgebildeten Gegenständen oder einer symboli‐ schen Bedeutung ergibt. Das Licht dient allein der Aufmerksamkeits‐ lenkung der Betrachter: innen. - Arten der Lichtgestaltung Die Lichtgestaltung in Film, Fernsehen und Video ist in der Regel der Erzählung untergeordnet, sie unterstreicht die Informationen des Plots und gibt Hinweise auf die Story. Licht und Schatten sind filmische Gestaltungs‐ mittel, die sich sowohl dem »natürlichen« Licht in den Szenen anpassen können, die aber auch »künstlich« eingesetzt werden, um die Narration zu unterstützen. Szenen in Film, Fernsehen oder Video spielen am Tag, in der Nacht oder der Dämmerung, sie spielen außen oder innen. Damit sind bestimmte natürliche Lichtverhältnisse verbunden, die in der Ausleuchtung noch betont werden können. Agieren die Figuren in einer Szene tagsüber in einem Innenraum, kann z. B. Sonnenlicht durch ein Fenster fallen und 250 4 Ästhetik und Gestaltung <?page no="251"?> Abb. 24: »Leoparden küsst man nicht« die Szene erleuchten, abends bzw. nachts können im Bild selbst Lichtquellen wie Lampen oder Kerzen zu sehen sein, die das Geschehen erhellen und für die Zuschauer sichtbar machen. Zugleich wird die Szene aber besonders ausgeleuchtet, um die Erzählung zu unterstützen. Im Wesentlichen werden drei Arten der Filmlichtgestaltung, die aus der Schwarz-Weiß-Fotografie bekannt sind, unterschieden (vgl. Beil u. a. 2012, S. 35 ff.; Bordwell/ Thomp‐ son 2020, S. 124 ff.; Dixon 2022, S. 88ff.; Gans 1999, S. 164 ff.; Hickethier 2012, S. 78; Keutzer u. a. 2014, S. 43 ff.; Khouloki 2007, S. 44; Landau 2014, S. 181 ff.): Normalstil, High Key, Low Key. Sie beziehen sich auf die Helligkeit der Bilder und lenken dadurch die Wahrnehmung der Zuschauer: innen. »Der Normalstil entspricht den tagtäglichen Sehgewohnheiten. Die Verteilung von Hell und Dunkel ist ausgewogen. Der Zuschauer empfindet die Szenerie als natürlich und nicht dramaturgisch beeinflusst. Beim High Key prägt Helligkeit den Bildeindruck. Vielzitiertes Extrembeispiel: hellhäutiges, blondes Mädchen, schattenfrei ausgeleuchtet, weiß bekleidet vor weißer Wand. Beim Low Key über‐ wiegen in der Bildkomposition die Schatten und die unbeleuchteten Bildteile« (Dunker 2014, S. 29, H.i.O.). Die Hollywood-Komödien der 1930er und 1940er Jahre waren ent‐ sprechend hell ausgeleuchtet, hier dominierte High Key. Als Beispiele seien »Die Nacht vor der Hoch‐ zeit« und »Leoparden küsst man nicht« genannt (vgl. Abb. 24). In den Detektiv- und Gangsterfilmen des Film noir dagegen dominierte die Low-Key-Ausleuchtung, Schat‐ ten spielten eine entscheidende Rolle. Wer erinnert sich nicht an den langen Schatten des flüchtenden Harry Lime an den Häuserwänden von Wien in »Der dritte Mann« (vgl. Abb. 25). Unvergessen bleibt sicher auch die Mordszene in »Das Cabinet des Dr.-Caligari«, die nur als Schatten an der Wand zu sehen ist (vgl. Abb. 26). In diesem Film des deutschen Expressionismus wird auch sehr deutlich, wie mithilfe von Licht und Schatten sowie gemalten Dekors Raumeindrücke geschaffen werden. 4.2 Licht 251 <?page no="252"?> Abb. 25: »Der dritte Mann« Abb. 26: »Das Cabinet des Dr. Caligari« Zur Ausleuchtung einer Szene werden in der Regel mehrere Lichtquellen eingesetzt. Michael Ryan und Melissa Lenos (2020, S. 93) sprechen von der »Drei-Punkt-Lichtgestaltung« aus Hauptbzw. Führungslicht (key light), dem Fülllicht von der Seite, um die Kontraste zu regulieren und trägt so zum Detailreichtum im Schatten bei, und schließlich das »backlight«, das die handelnden Personen von hinten ausleuchtet, so dass sie sich vom Hintergrund abheben können (vgl. auch Dixon 2022, S. 93). Von besonderer Bedeutung ist dabei das Haupt- oder Führungslicht, die dominanteste Licht‐ quelle (vgl. Bordwell/ Thompson 2020, S. 127). Mit ihm wird bis zu einem gewissen Grad die natürliche Lichtsituation der Szene hergestellt. »Das Hauptlicht oder Führungslicht legt die dramaturgische Aussage fest. Alle anderen Lichtfunktionen sind im Grunde nur noch eine Ergänzung oder Abrun‐ dung des Hauptlichts respektive der Bildgestaltung. Zur Verdeutlichung: Das Hauptlicht oder Führungslicht ist nicht, wie oft behauptet, durch seine Position zur Kamera definiert, sondern ausschließlich durch die prägende Funktion inner‐ halb der Szenenausleuchtung« (Dunker 2014, S. 65). Die anderen Lichtquellen müssen sich nach dem Führungslicht richten, denn es ist das »vorherrschende Licht auf einem Objekt, führt Stimmung und Charakter ein und verleiht einem Objekt die Erscheinung seiner Form und seiner Konturen« (vgl. Gans 1999, S. 136 f.). Grundsätzlich gilt dabei, dass die »alltägliche Erfahrung des Lichts […] in eine Ordnung der Bilder übertragen werden« muss (Prümm 1999, S. 45). Denn: »Was immer an Licht gesetzt wird, stets geht es darum, die natürliche Wirkung des Führungslichts zu bewahren« (Blank 2009, S. 19). Die vom Hauptlicht verursachten Schatten werden, sofern sie keine dramaturgische Bedeutung haben, aufgehellt oder 252 4 Ästhetik und Gestaltung <?page no="253"?> aufgefüllt - man spricht dann auch von Füll-Licht (vgl. Bordwell/ Thompson 2020, S. 127; Gans 1999, S. 136 ff.; Phillips 2009, S. 80 f.). Daneben gibt es das Spitzlicht, das Personen oder Objekte besser vom Hintergrund trennt, um dem Bild mehr Tiefe zu geben. Das Raum- oder Hintergrundlicht gleicht die Kontraste in der Szene an. In Serien und Daily Soaps, die in einer festen Studiodekoration aufgenommen werden, ist dies die dominante Lichtart. Denn hier kann nicht wie im Film jede Szene einzeln ausgeleuchtet werden, sondern die ganze Szenerie muss in einem einigermaßen gleichmäßigen Licht erscheinen. Heraus kommen etwas »matschige«, kontrastarme Bilder. Weitere Bezeichnungen für die Lichtgestaltung orientieren sich am Stand‐ ort der Lichtquelle: Vorderlicht, Oberlicht, Gegenlicht, Seitenlicht, Streiflicht, Unterlicht und Hinterlicht. Das Haupt- oder Führungslicht einer Szene ist kein Vorderlicht, es ist leicht seitlich von der Kameraachse positioniert. Mit dem Seitenlicht und dem Streiflicht werden Schatten sichtbar, die Personen und Objekte in der Szene erhalten Kontur. Daneben lässt sich zwischen hartem und weichem Licht unterscheiden (vgl. Ryan/ Lenos 2020, S. 95ff.). Hartes Licht macht die Konturen sichtbarer - jeder Pickel im Gesicht einer Person ist überdeutlich zu sehen -, weiches Licht lässt dagegen die Konturen verwaschen-- Falten und Fältchen werden unsichtbar. - Narrative Funktion der Lichtgestaltung Die narrative Funktion der Lichtgestaltung ergibt sich vor allem aus dem Umstand, dass Licht Stimmungen schaffen kann - wie ansatzweise bereits beim High und Low Key dargestellt - und dass es zur Charakterisierung der handelnden Figuren eingesetzt werden kann. Die Filmwissenschaftlerin Christine N. Brinckmann (2014, S. 109 ff.) hat die Bedeutung des Lichts im Verhältnis zur Diegese bestimmt, bis hin zu nondiegetischem Licht. Eine wesentliche Rolle spielen dabei sowohl das Weltwissen der Zuschauer: in‐ nen über Licht und Schatten als auch das narrative Wissen über die mit bestimmten Lichtarten verbundenen Geschichten. Eine hell erleuchtete, sonnenbeschienene Landschaft oder eine hell erleuchtete Wohnung rufen Bedeutungshorizonte von Freundlichkeit und Übersichtlichkeit auf, denn nichts deutet darauf hin, dass dort etwas verborgen ist. Ganz anders dagegen in dunklen, regennassen Gassen oder dunklen Räumen, in die nur ein spärlicher Lichtstrahl dringt. Dunkelheit hat immer auch eine doppelte Bedeutung. Sie kann sowohl etwas Unheimliches, Gefährliches verbergen, sie kann aber auch genauso gut Schutz vor Verfolgern bieten. Wenn Jodie 4.2 Licht 253 <?page no="254"?> Foster als Clarice Starling in »Das Schweigen der Lämmer« in den Keller des Sicherheitstrakts der geschlossenen Anstalt für psychopathische Gewalt‐ verbrecher hinabsteigt, um den kannibalistischen Serienmörder Hannibal Lecter aufzusuchen, erinnern sich die Zuschauer: innen an all die Geschich‐ ten, die mit dunklen Kellern verbunden sind - was möglicherweise zur Folge hat, dass sie bei dieser Szene Angst empfinden. Zugleich kann mit dem Licht eine gewisse Grundstimmung erzeugt werden. »Diese Möglichkeit des direkten Zugriffs auf die Stimmungslage des Zuschauers ist ein phantastisches Mittel für die Filmgestaltung. Licht kann die jeweilige Grundstimmung unmittelbar ins Unterbewusstsein der Zuschauer transportie‐ ren. Die Lichtfarbe signalisiert dem Betrachter die Stimmungslage der Szene. Blaues Licht erzeugt eine gewisse Kälte, Rot und Gelb dagegen strahlen Wärme aus« (Dunker 2014, S. 22). So können z. B. zwei unterschiedliche Handlungsorte in einem Film durch eine entsprechende Farbgebung charakterisiert sein. In dem Kultfilm »Diva« wird die chaotische Wohnung des sympathischen Protagonisten Jules in warmen Farbtönen gezeigt (vgl. Abb. 27). Die Fabriketage, in der Gorrodish und Alba wohnen, ist dagegen von Blautönen dominiert (vgl. Abb. 28). Mit den Wohnungen werden zugleich die handelnden Figuren charakterisiert. - Abb. 27 und 28: »Diva« In den Detektiv- und Gangsterfilmen des Film noir wurden die männlichen Helden oft mit einem harten, gerichteten Licht ausgeleuchtet, wodurch sie noch markanter erschienen. Die Filmdiven der 1930er und 1940er Jahre wurden dagegen häufig mit einem weichen, diffusen Licht ausgeleuchtet, bei Nahaufnahmen von ihrem Gesicht zusätzlich mit Gegenlicht, das hinter ihren Köpfen positioniert war (vgl. auch Liptay 2014). Dadurch erhielten sie 254 4 Ästhetik und Gestaltung <?page no="255"?> Abb. 29: »Gilda« eine leichte Gloriole, einen Lichtkranz, der ihr Haar besonders schimmern ließ. Greta Garbo ist in der Komödie »Ninotschka« mehrfach in so einem Licht zu sehen und ebenso Rita Hayworth in »Gilda«, während sie ihren angedeuteten Striptease tanzt und »Put the Blame on Mame« singt (vgl. Abb. 29). Licht und Schatten sind wesent‐ liche Gestaltungsmittel des Films, die sowohl eine eigene narrative Kraft haben als auch den Plot und die Erzählung des Films dramatur‐ gisch unterstützen können. »Durch das rechte Licht bietet der Film dem Zuschauer die Illusion von Wirk‐ lichkeit« (Blank 2009, S. 22). Filme‐ macher: innen entwickeln häufig eine eigene Lichtkonzeption, »um die für einen Film typische Stim‐ mung zu erzeugen« (Khouloki 2007, S. 46). Der sorgsame Umgang mit dem Licht beansprucht die Zuschauer: innen in ihren psychischen Aktivitäten und geleitet sie durch den Film. Allerdings entfaltet sich das Potenzial der Lichtgestaltung in der Regel erst im Zusammenwirken mit den anderen filmischen Gestaltungsmitteln. Analyseleitende Fragen • Wie bestimmt die Lichtgestaltung Raum und Zeit im Filmbild? • Welche Szenen des Films spielen bei Tag, welche bei Nacht? • Ist mit der Tageszeit auch eine bestimmte dramaturgische und erzählerische Funktion verbunden? • Welche Stimmungen werden mit der Lichtgestaltung erzeugt? • Wie werden Personen mithilfe des Lichts charakterisiert? • Sind ihre Konturen klar und deutlich zu erkennen oder eher »ver‐ waschen«? • Treten bestimmte Personen nur in hellen Räumen auf und andere nur in dunklen? • Gibt es eine Lichtquelle im Bild oder ist die Quelle des Lichts außerhalb des Bildausschnitts verortet? 4.2 Licht 255 <?page no="256"?> • Welche dramaturgische und erzählerische Funktion kommt den Schatten zu? • Ist die Schattengestaltung am natürlichen Schatten von Personen und Objekten orientiert oder werden Schatten künstlich überhöht? 4.3 Schnitt und Montage Filme, Fernsehsendungen und Videos bestehen nicht nur aus einzelnen Bildern und Einstellungen, sondern aus der Kombination von Bildern. Der Inhalt und die Repräsentation, der Plot und die Geschichte entstehen nicht allein aus dem, was gezeigt wird, sondern auch aus dem, wie es in der zeitlichen Abfolge gezeigt wird. Die einzelnen Einstellungen und Szenen müssen zu einem sinnhaften Ganzen zusammengefügt werden. Rein tech‐ nisch gesehen wird dieser Vorgang Schnitt genannt, denn am sogenannten Schneidetisch wurden die Filmbilder in die Reihenfolge gebracht, in der sie anschließend auf der Leinwand zu sehen sind. Allerdings haben die klassischen Schneidetische inzwischen ausgedient. An ihre Stelle treten Computer mit entsprechender Schnitt-Software. Am Prinzip der sinnvollen Aneinanderreihung von Bildern hat sich jedoch nichts geändert. »Für den Eindruck ist in der Hauptsache nicht das wichtig, was im gegebenen Stück aufgenommen ist, als vielmehr, wie im Film ein Stück das andere ablöst. Das Wesen der Kinematographie ist nicht in den Grenzen der einzelnen Einstellung zu suchen, sondern im Wechsel dieser Stücke« (Kuleschow, zitiert in Wuss 1990, S. 86). Grundsätzlich ist Montage immer mit einem Selektionsprozess verbunden: »Dieser stützt sich vor allem auf eine Auswahl der in den einzelnen Einstel‐ lungen fixierten optischen und akustischen Reizangebote, die mit dem Ziel einer Neu-Kombination hergestellt werden (Wuss 2020, S. 505). Durch eine bestimmte Zusammenstellung der Bilder können spezifische Effekte erzielt werden. Den Zuschauer: innen wird eine bestimmte Lesart des Gezeigten nahegelegt. Am Beispiel von »Pretty Woman« wurde bereits beschrieben, wie eine elliptische Erzählweise dazu beiträgt, die Geschichte im Kopf der Zuschauer entstehen zu lassen (vgl. Kapitel II.2.1). Aus dem Blickwinkel der Montage heißt das, Bilder, zwischen denen Handlungszeit vergangen ist, 256 4 Ästhetik und Gestaltung <?page no="257"?> schließen aneinander an. Das Filmbeispiel »Victoria« zeigt, dass es auch möglich ist, eine Geschichte ohne einen einzigen Schnitt zu erzählen. Die Handlung spielt dann in Echtzeit, in diesem Fall in zwei Stunden einer Nacht (vgl. Fritsch 2020). Durch das Zusammenfügen verschiedener Bilder kann in Filmen und Fernsehsendungen die Chronologie von Bewegungen überwunden werden, und räumliche Distanzen können zu einem einheitlichen Raum verschmel‐ zen. Der Schnitt bzw. die Montage ist daher eine der wesentlichsten Grund‐ lagen des Films (vgl. Bordwell/ Thompson 2020, S. 218 ff.; Dancyger 2018; Fahle 2020; Fairservice 2001; Hagener/ Kammerer 2021, S.-481ff.; Hickethier 2012, S. 141 ff.; Phillips 2009, S. 122 ff.; Ryan/ Lenos 2020, S. 70; Schnell 2000, S. 51 ff.; Vallet 2019, S. 29). Das befand der russische Filmemacher und Theoretiker Wsewolod I. Pudowkin bereits in seinem 1928 auf Deutsch erschienenen Werk »Filmregie und Filmmanuskript«: »Die Grundlage der Filmkunst ist die Montage«, sie wird damit zur »Schöpferin filmischer Wirklichkeit« (zitiert bei Wuss 1990, S. 184). Bei Fernsehsendungen ist es die Bildmischung. Hier werden aus dem Angebot der verschiedenen Kameras die Bilder ausgewählt, die ausgestrahlt werden. Die Möglichkeiten des Films liegen weniger darin, die äußere Wirklich‐ keit abzubilden, als vielmehr darin, aus diesem Rohmaterial mithilfe der Montage eine neue Wirklichkeit entstehen zu lassen. »Ich möchte betonen, daß die Filmmontage das kreative Element in der Gestal‐ tung der filmischen Realität ist und daß uns die Wirklichkeit nur das Rohmaterial dazu liefert. Genau dies definiert die Beziehung zwischen Filmmontage und dem bloßen Filmmaterial« (Pudowkin 1928, zitiert bei Reisz/ Millar 1988, S. 13). Filmisches Erzählen kann daher als eine Art Interpretation des filmischen Rohmaterials und seiner Zusammenstellung gesehen werden. Erst durch das Zusammenfügen der einzelnen Bilder entsteht die filmische Wirklichkeit, so wie durch die Bildmischung erst die televisionäre Wirklichkeit entsteht. Auch wenn der Filmwissenschaftler Ken Dancyger (2019, S. 74ff.) die technische Dimension der Montage betont, weist er doch darauf hin (ebd., S. 84ff.), dass die kreativen Möglichkeiten das Besondere ausmachen. Mit Schnitt ist im Wesentlichen der technische Vorgang des Zusammenfügens von zwei Einstellungen gemeint, die zu einer Abfolge von Bildern werden. Es ist »in erster Linie ein verknüpfender Prozess« (Orpen 2009, S. 1). Ein normaler Spielfilm besteht aus etwa 800 bis 1200 Einstellungen, ein Action‐ film kann leicht auf das Dreifache kommen. Diese Einstellungen werden auf 4.3 Schnitt und Montage 257 <?page no="258"?> besondere Art geordnet und ergeben erst dann in ihrer Gesamtheit den Film. Montage meint mehr als den reinen technischen Vorgang, mit dem einzelne Einstellungen zu Szenen zusammengefügt werden. Montage meint die Her‐ stellung narrativer und ästhetischer Strukturen durch diesen technischen Vorgang. Der Filmwissenschaftler Peter Wuss (2020, S. 499) hat festgestellt, dass die »Vereinigung und Aneinanderreihung unterschiedlicher Einstel‐ lungen nicht nur zu einer Erweiterung der abgebildeten Vorgänge und ihrer Wahrnehmungsprozesse« führt, »sondern auch zur Herausbildung einer ästhetischen Organisationsform«. Durch die Montage bekommen die Zuschauer: innen den Eindruck einer kontinuierlichen Erzählung, in die sie mithilfe der Ästhetik eingebunden werden (vgl. Dixon 2022, S. 49ff.). Zugleich erhalten sie durch eine bestimmte Anordnung Hinweise zum Aufbau von logischen Verknüpfungen sowie Interpretationen der im Film gezeigten Ereignisse oder Dinge. Die Montage erweitert gewissermaßen die natürlichen Wahrnehmungs‐ möglichkeiten der Zuschauer: innen: Sie können Dinge und Ereignisse zusammenfügen, die in der außerfilmischen Realität nicht zusammengefügt werden können, weil sie zeitlich oder räumlich auseinanderliegen und weil die verschiedenen Einstellungen und Perspektiven der Kamera die Zuschauer: innen in verschiedene Beobachterpositionen bringen, die in der Realität nur schwer oder gar nicht eingenommen werden können. Die Montage erfordert eine kognitiv intensivere Aktivität der Zuschauer: innen an den Schnittstellen, um »Handlungen unter neuen raumzeitlichen Bedin‐ gungen zu verstehen und dem Sinnfluss des Ganzen zu folgen« (Wuss 2020, S.-507). Die Bilder eines Films, einer Fernsehsendung oder eines Videos stehen nicht unverbunden nebeneinander, sie sind auf Narrations- und Repräsen‐ tationsprozesse bezogen und auf Verstehens- und Erlebnisaktivitäten der Zuschauer: innen ausgerichtet. Erst die synthetisierende Tätigkeit der Zu‐ schauer: innen schafft Bedeutung. »Sie folgt der globalen Regel, daß es keine sinnlos nebeneinander stehenden Bildfolgen geben kann, sondern daß sie einem höheren Prinzip unterworfen sind, einer Gestalt des Sinns, einer die Diskontinuität der Orte oder Szenen übergreifenden und sie vereinigenden Handlung, einer unifizierenden Thematik« (Wulff 1999, S. 51). Die Bildmischung erfüllt für das Fernsehen ähnliche Funktionen wie Schnitt und Montage für den Film. Der Medienwissenschaftler Knut Hickethier 258 4 Ästhetik und Gestaltung <?page no="259"?> (2012, S. 156) spricht in diesem Zusammenhang von der Bildmischung als der »Simulation einer Montage«. In der digitalisierten Filmproduktion, bei der computergenerierte Bilder miteinander verbunden werden, spricht man inzwischen statt Montage vom Compositing (vgl. Hagener 2019; Manovich 2002, S.-143). Schnitt und Montage haben sich erst im Verlauf der Filmgeschichte als technische und künstlerische Mittel entwickelt. In der Frühzeit des Films bestanden die meisten Filme aus einer dokumentarischen Ablichtung von Ereignissen, die sich vor der statisch aufgebauten Kamera abspielten (vgl. Bordwell 2001, S. 11 ff.; Dancyger 2018, S. 3 ff.; Fairservice 2001, S. 5 ff.; Lambden 2022, S. 30). Mit dem Ende der Filmrolle war auch das Ende des Films erreicht. Kameramänner kamen dann auf die Idee, quasi mit der Kamera zu »schneiden«, indem sie die Kamera bei demselben abzulichten‐ den Ereignis an unterschiedlichen Positionen und mit unterschiedlichen Perspektiven aufbauten und immer wieder an- und ausschalteten. Einer der ersten Filme, in dem verschiedene Einstellungen aneinandergeschnitten wurden, war »The Life of an American Fireman« aus dem Jahr 1903. In dem Film rückt die Feuerwehr aus, um eine Mutter mit ihrem Kind aus einem brennenden Haus zu retten. Die entscheidende Szene wird dann einmal aus der Sicht der zu rettenden Frau und einmal aus der Sicht der Feuerwehrmänner wiedergegeben. Hier zeigt sich bereits, worum es beim Schnitt und der klassischen Montagetechnik, wie sie sich in Hollywood durchgesetzt hat, geht: um die Herstellung einer erzählerischen Kontinuität, die sich in einem Zeit- und Raumkontinuum ausdrückt. Das wird auch als das »Continuity-System« des Hollywood-Kinos bezeichnet, das sich weltweit in der Filmbearbeitung durchgesetzt hat (vgl. Beller 2005, S. 18 ff.; Bordwell u.-a. 1988, S. 194 ff.; Bordwell/ Thompson 2020, S. 232 ff.; Dancyger 2018, S. 361 ff.; Dixon 2022, S. 49ff.; Fahle 2020, S. 51ff.; Frierson 2018, S. 99ff.; Orpen 2009, S. 16 ff.; Phillips 2009, S. 138 ff.; Wuss 2020, S. 525ff.)). Schnitt und Montage stehen im Dienst der Erzählung. Mit ihnen wird Kontrolle über den Plot ausgeübt und damit die Rezeption durch die Zuschauer: innen vorstrukturiert. Das gilt auch für die alternativ zum klassischen Continuity-System ent‐ wickelten Montageformen russischer Filmemacher der 1920er und 1930er Jahre wie Sergej Eisenstein (vgl. Frierson 2018, S. 146ff.; Lenz 2008). Ihm ging es nicht darum, Bilder so aneinanderzuschneiden, dass ein fließender, vom Zuschauer unbemerkter Übergang von einem Bild zum nächsten entstand, sondern er wollte, dass die Bilder miteinander kollidierten (vgl. Hickethier 4.3 Schnitt und Montage 259 <?page no="260"?> 2012, S. 151 f.; Korte 2010, S. 41 ff.; Lambden 2022, S. 35ff.). Das Neben- und Gegeneinander verschiedener Einstellungen sollte die Zuschauer: innen zum Nachdenken und Schlussfolgern anregen, sie sollten aus dem Kontrast der Einstellungen eine neue Bedeutung gewinnen. Eisensteins Montageprinzip wurde daher auch als »intellektuelle Montage« bezeichnet (vgl. Dancyger 2018, S. 20; Dixon 2022, S.-65; Lambden 2022, S.-38). Es ist wichtig, sich die Kraft der Montage bei der Entstehung der filmi‐ schen Wirklichkeit zu verdeutlichen. Denn daraus resultiert eine Aufgabe der Analyse: die filmische Wirklichkeit zu dekonstruieren und in ihre Komponenten zu zerlegen, um zu erkennen, woraus und wie sie zusammen‐ gesetzt wurde. Eines der Experimente des russischen Filmemachers und -theoretikers Lew Kuleschow, der mit Pudowkin darin übereinstimmte, dass das Wesen des Films in der Verkettung der Einstellungen durch die Montage liege, kann dies verdeutlichen. In dem Experiment geht es um die »ideale Frau«. Kuleschow schreibt dazu: »Ich filmte ein Mädchen, das vor seinem Spiegel sitzt, Augen und Wimpern anmalt, sich die Lippen schminkt und die Schuhe zubindet. Allein durch das Mittel der Montage zeigten wir ein lebendiges Mädchen, das es aber in Wirklichkeit gar nicht gibt, weil wir die Lippen der einen Frau, die Beine einer anderen, den Rücken einer dritten und die Augen einer vierten gefilmt hatten. […] wir verschafften uns eine völlig neue Person, indem wir nichts anderes taten, als völlig authentisches Material zu benutzen« (zitiert bei Beller 2005, S. 21). Die Zuschauer nehmen die fragmentarischen Bilder als Elemente einer einheitlichen, kontinuierlichen Erzählung wahr. Das liegt u. a. daran, dass beim Zusammenschnitt von Einstellungen auf die identische Richtung von Handlungen bzw. Bewegungen in den verknüpften Einstellungen geachtet wird und dass die Handlungen der Einstellungen koordiniert werden. Letzteres bedeutet, dass eine Handlung in der einen Einstellung eine in der anderen kausal begründet. Man sieht z. B. bei einem Banküberfall, wie der Bankräuber eine Pistole zückt und damit die Kassiererin bedroht. In der folgenden Einstellung ist zu sehen, wie die Kassiererin mit dem Knie den kleinen Tresor unter dem Tresen zustößt und sich anschließend fallen lässt. Die Handlung in der zweiten Einstellung folgt als Wirkung auf die Ursache in der ersten Einstellung. Dieses Prinzip wird im Film häufig genutzt, um die Illusion einer kontinu‐ ierlichen Realität zu erzeugen. In zahlreichen Spiel- und Fernsehfilmen gibt es Szenen dieser Art: Eine Person steht auf einem Hochhaus, ein Bösewicht 260 4 Ästhetik und Gestaltung <?page no="261"?> naht, es entspinnt sich ein kurzer Kampf und die Person stürzt in die Tiefe. Bis zum Sturz sind leibhaftige Schauspieler in Aktion zu sehen. Es folgt ein Bild des fallenden Körpers. Je nachdem wie tief es hinuntergeht oder wo die Aufnahmen gemacht werden, fällt dann eine Stuntwoman oder eine Puppe durch die Luft. Anschließend sehen die Zuschauer: innen einen Körper auf dem Boden liegen. Dabei handelt es sich möglicherweise wieder um die Schauspielerin aus der ersten Szene, die mithilfe der Maske als toter Mensch zurechtgemacht wurde. Die Zuschauer: innen nehmen diese Abfolge von Szenen und Einstellungen als eine fortlaufende, kontinuierliche Handlung wahr. Für sie ist die Schauspielerin bzw. die Filmfigur, die sie verkörpert, vom Hochhaus gefallen und durch die Luft geflogen. Mit einem durch die Analyse solcher Szenenfolgen geschulten Blick lassen sich diese filmtechnischen Tricks und Raffinessen erkennen. Das Vergnügen am Film wird dadurch kaum beeinträchtigt, es sei denn, die Verwendung der Puppe ist zu offensichtlich und die Szene wirkt nicht mehr »echt«. Das Beispiel macht deutlich, wie das Prinzip der Kontinuität funktioniert. Es zielt darauf ab, die Montageprinzipien und den Schnitt für die Zuschauer: innen unsichtbar zu machen, um den Eindruck einer fortlaufenden Handlung zu erzeugen. Der Produktionsprozess eines Films sieht die fragmentarische Aufnahme einzelner Handlungselemente, die später mit dem Schnitt zusammengefügt werden, vor. Daher ist bereits beim Drehen auf die Kontinuität zu achten, damit Charaktere, die gerade ihr Büro verlassen, um anschließend in einem Bistro etwas zu essen und dabei wichtige Dinge zu besprechen, auch in all diesen Szenen z. B. die gleiche Kleidung tragen. Mehr noch muss beim Schnitt auf die Kontinuität geachtet werden. In der Filmgeschichte gibt es einige Fälle, in denen dieses Prinzip durchbrochen wird. Zum Beispiel in »Pretty Woman«: Vivian kniet vor dem im Sessel sitzenden Edward und öffnet ihm nach und nach die Kleidung. Zunächst löst sie seinen Krawattenknoten und entfernt die Krawatte; dann knöpft sie sein Hemd auf. Sie zieht ihn näher zu sich heran und öffnet ihm die Hose. Diese Szene ist mehrfach geschnitten. Verschiedene Groß-, Nah- und Halbnahaufnahmen zeigen die Aktivitäten Vivians und die Gesichter der beiden. Nachdem sie ihm bereits die Krawatte abgenommen und das Hemd geöffnet hat, folgt ein kurzer Zwischenschnitt, in dem Edwards Gesicht und seine Schultern zu sehen sind: das Hemd ist geschlossen, die Krawatte noch umgebunden. Dieser Zwischenschnitt dauert nur zwei Sekunden, doch wurde hier, warum auch immer, das Kontinuitätsprinzip verletzt. Im 4.3 Schnitt und Montage 261 <?page no="262"?> Allgemeinen wird es jedoch eingehalten und der Schnitt zielt darauf ab, sich selbst unsichtbar zu machen. Die Kunst des Filmemachens besteht in ihrer Unsichtbarkeit. Mit einem System verschiedener gestalterischer Mittel und Konventionen wird ver‐ sucht, die Zuschauer: innen davon zu überzeugen, dass vor der Kamera alles »natürlich« zugeht und keine Bearbeitung stattgefunden hat. Aufgabe der Analyse ist es, den Schnitt wieder sichtbar zu machen. Denn nur so kann deutlich werden, wie der Film mit den Vorstellungen, der Wahrnehmung und dem Wissen der Zuschauer: innen umgeht, um die Geschichte im Kopf entstehen zu lassen. - Schnittarten Im Wesentlichen lassen sich vier Arten unterscheiden, in denen Einstel‐ lungen aneinandergeschnitten werden (vgl. Bordwell/ Thompson 2020, S. 219 ff.; Dancyger 2018, S. 451 ff.): • der harte Schnitt • die Auf- oder Abblende • die Überblendung • die Trickblende Beim harten Schnitt werden die Einstellungen einfach hintereinander ge‐ schnitten. Dabei wird lediglich darauf geachtet, dass sie im Rahmen der Kontinuität sind und eine Beziehung zwischen den beiden Einstellungen besteht. Wird innerhalb einer Szene oder Sequenz geschnitten, in der Handlungsort und Akteur: innen identisch sind, bleibt dieser harte Schnitt meist unsichtbar. Die Zuschauerin nimmt ihn nur vor- oder unbewusst wahr. Ein Beispiel: Eine Frau geht auf eine Tür zu, öffnet sie und macht Anstalten hindurchzugehen. Anschließend wird die Tür von der anderen Seite gezeigt, und die Zuschauerin sieht, wie die Frau durch die Tür in einen anderen Raum kommt. Hier wird der Schnitt nur unbewusst wahrgenom‐ men, weil die Handlungskontinuität störungsfrei gegeben ist und sich mit dem Weltwissen der Zuschauerin deckt. Wenn die gleiche Szene mit der gleichen Handlungsabfolge gezeigt wird, aber in Zwischenschnitten noch Großaufnahmen von der Hand auf der Klinke und den sich bewegenden Beinen sowie eine Nahaufnahme auf ihr erwartungsvolles Gesicht zu sehen sind, dann werden diese Zwischenschnitte vorbewusst wahrgenommen. Sie stehen zwar im Dienst der Handlungskontinuität, entsprechen aber nicht 262 4 Ästhetik und Gestaltung <?page no="263"?> der alltäglichen Wahrnehmung. Die Zuschauer: innen können zwar beim Betrachten von Ereignissen oder Objekten die Brennweite ihrer Augen verändern, nicht aber die Einstellungsgrößen. Insofern erweitert der Film auch mithilfe des Zusammenfügens verschiedener Einstellungsgrößen das natürliche Sehen. Der Schnitt wird dann bewusst, wenn die wahrgenom‐ mene Handlungskontinuität durchbrochen wird, also wenn z. B. in obiger Szene plötzlich eine andere Frau als diejenige, die auf die Tür zugegangen war, durch die Tür tritt. Der harte Schnitt ist die am häufigsten verwendete Schnittart. Ein Sonderfall des harten Schnitts ist der sogenannte Jump Cut. Dabei werden Diskontinuitäten zwischen zwei Einstellungen nicht nur in Kauf genommen, sondern auch absichtlich herbeigeführt (vgl. Bordwell/ Thomp‐ son 2020, S. 258 ff.; Dancyger 2018, S. 131 ff.; Dixon 2022, S. 59f.). Ein Fluss der Bewegungen in einer Szene wird durchbrochen. Das kann durch eine Änderung der Bewegungsrichtung erfolgen, durch die Fokussierung auf eine unerwartete Aktion, durch eine Veränderung der Kameraposition oder -perspektive. Im Ergebnis wird bei den Zuschauer: innen Irritation erzeugt, weil nicht die Kontinuität, sondern die Diskontinuität in den Mittelpunkt rückt. Das kann z. B. geschehen, um Instabilität von Personen oder Dingen in einer Szene zu verdeutlichen. Jean-Luc Godard hat in »Außer Atem« mit zahlreichen Jump Cuts gearbeitet, um die Wahrnehmung der Zuschauer: innen, die von einer kontinuierlichen Montage mit einem »unsichtbaren« Schnitt geprägt war, herauszufordern (vgl. Frierson 2018, S. 65ff.). Im Verlauf der weiteren medialen Entwicklung wurde der Jump Cut zu einem akzeptierten Stilmittel. Besonders in Musikvideos, in denen es weniger um eine kontinuierliche Narration als vielmehr um die Erzeugung von Stimmungen und den Ausdruck von Lebensgefühl geht, wird mit dieser Montagetechnik gearbeitet (vgl. Dancyger 2018, S. 185). Bei der Aufblende wird die Einstellung immer heller, bis sie fast weiß ist, bei der Abblende immer dunkler, bis sie fast schwarz ist. Diese Form, zwei Einstellungen miteinander zu verknüpfen, wird häufig angewendet, wenn verdeutlicht werden soll, dass die filmische Handlung sich nun in einem anderen zeitlichen oder räumlichen Kontext bewegt. In Episodenfilmen werden die einzelnen Episoden häufig mit einer Abblende beendet. Eine Sonderform des Zusammenfügens von Einstellungen ist das Einfrieren des Bildes - ein beliebtes Mittel, mit dem einzelne Folgen von Fernsehserien beendet werden, z. B. in »Um Himmels Willen«, wenn das Bild von Schwes‐ ter Hanna und Bürgermeister Wöller, die sich direkt gegenüberstehen, 4.3 Schnitt und Montage 263 <?page no="264"?> eingefroren wird. Ist beispielsweise ein Handlungsstrang an einem Ort beendet und der Film führt die Erzählung eines anderen Handlungsstranges an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit fort, dann wird die letzte Einstellung des ersten Handlungsstrangs oft mit einer Abblende verdunkelt oder - seltener - mit einer Aufblende erhellt. Die Aufblende wird eher benutzt, um z. B. Träume oder Erinnerungen eines Protagonisten anzudeuten, wenn die Erzählung also in eine andere Zeit oder einen anderen Wirklichkeitsbereich wechselt und dies für die Zuschauer: innen deutlich gemacht werden soll. In »Das Schweigen der Lämmer« gibt es eine interes‐ sante Variante der Aufblende, über die aus einer Rückschau wieder in die Jetztzeit gewechselt wird: Als Clarice Starling nach ihrem ersten Besuch bei Hannibal Lecter auf ihr geparktes Auto zugeht, denkt sie an ihre Kindheit. Wir sehen in einer Rückblende, wie Clarice als Kind ihren von der Arbeit als Polizist heimkommenden Vater freudig begrüßt. Die Rückblende in ihre Vergangenheit wird beendet, indem die Kamera in den verhangenen grauen Himmel schwenkt, der per Aufblende bis fast ins Weiße aufgehellt wird. In der folgenden Einstellung sehen wir wieder Clarice, die zu ihrem Auto geht. Dieser Rückgriff auf frühere Ereignisse wird auch Rückblende oder Flashback genannt. Sie wird z. B. auch eingesetzt, um den Grund für ein Kindheitstrauma, das eine der Hauptfiguren belastet, zu erklären, so z. B. in »Marnie« oder »Wild at Heart - Die Geschichte von Sailor und Lula«. Die Rückblende hat dabei sowohl erklärende als auch dramatisierende und spannungssteigernde Funktion. Rückblenden oder der Wechsel der Handlung an einen anderen Ort können auch durch Trickblenden oder Überblendungen angezeigt werden. Bei der Überblendung wird die alte Einstellung bereits von der neuen überlagert, d. h., es wird von der ersten Einstellung in die zweite überblendet. Die erste Szene in »Jurassic Park«, die eine Dinosaurierlieferung zeigt, wechselt per Überblendung auf die nächste Szene, die bei einer Bernsteinmine spielt. Eine Überblendung kann nicht nur zum Übergang von einem Handlungsort an einen anderen benutzt werden, sondern auch um zwei Zeitebenen miteinander zu verbinden. Ein Beispiel findet sich in »Titanic«, in der eine Detailaufnahme zur Überblendung benutzt wird: Während sich Rose, nackt auf dem Kanapee liegend, von Jack malen lässt, zeigt uns die Kamera ihr Gesicht von schräg links oben und zoomt auf ihr rechtes Auge, es folgt eine kaum merkliche Überblendung, und die Kamera zoomt zurück vom rechten Auge der alten Rose, die ihre Geschichte erzählt (vgl. Abb.-30 bis 33). 264 4 Ästhetik und Gestaltung <?page no="265"?> - - - - Abb. 30 bis 33: »Titanic« Bei Trickblenden wie z. B. der Wischblende wird die erste Einstellung von der zweiten aus dem Bild geschoben, in der Regel von rechts nach links, weil dies in den westlichen Gesellschaften der Leserichtung von links nach rechts entgegenkommt. Seltener wird die erste Einstellung von oben nach unten aus dem Bild geschoben. Bei der Klappblende fällt das Bild nach hinten oder vorn weg und wird durch ein neues ersetzt. Bei all diesen Techniken, mithilfe der Blende von einer Einstellung zur nächsten zu wechseln, handelt es sich um optische, visuelle Effekte, die vom Zuschauer auch als solche wahrgenommen werden. Sie dienen der deutlichen Unterbrechung einer Einstellung, auf die dann ein Schnitt folgt, während der harte Schnitt den Wechsel der Einstellungen weich und möglichst unsichtbar erscheinen lassen will. Mit dem Schnitt werden zwei Einstellungen miteinander verbunden. Dadurch entsteht eine Beziehung zwischen ihnen, die auf den Ebenen des Inhalts und der Repräsentation, der Narration und der Dramaturgie, der Darstellung von Figuren und Akteur: innen und/ oder der Ebene der Gestaltung begründet sein kann. Die Beziehung zwischen den Einstellungen erhält einen eigenen Stellenwert. Indem sie der narrativen Kontinuität und der Repräsentation dient, können allein durch diese Beziehung ein‐ zelne Einstellungen eine andere Bedeutung erlangen. Der bereits erwähnte »Kuleschow-Effekt« ist ja nichts anderes, als dass die Bedeutung einer Einstellung vom jeweiligen Kontext abhängt und dass z. B. die Verände‐ rung der Reihenfolge von Einstellungen in einer Szene die Bedeutung der Gesamtszene wie der einzelnen Einstellungen verändert. Die Auswahl der einzelnen Einstellungen und ihre durch Montage organisierten Beziehungen werden in der Regel durch den sinnhaften Rahmen der Erzählung und der Repräsentation koordiniert. 4.3 Schnitt und Montage 265 <?page no="266"?> Dimensionen der Montage Es werden vier Dimensionen der Montage unterschieden, mit denen spezi‐ fische Beziehungen zwischen einzelnen Einstellungen hergestellt werden können (vgl. Bordwell/ Thompson 2020, S. 221 ff.; Dancyger 2018, S. 361 ff.; Frierson 2018, S.-260ff): • grafische Beziehungen • rhythmische Beziehungen • räumliche Beziehungen • zeitliche Beziehungen - Abb. 34 und 35: »Aliens - Die Rückkehr« Eine grafische Beziehung zwischen zwei Einstellungen besteht dann, wenn die Elemente der ersten Einstellung wie Farben, Bewegungsrichtungen, Bildaufteilung, Horizontlinien etc. übernommen werden. In »Aliens - Die Rückkehr« wird z. B. vom schlafenden Gesicht der Protagonistin Ripley auf ein Bild übergeblendet, in dem ein Teil der Erde vor dem Hintergrund des Alls zu sehen ist (vgl. Abb. 34 und 35). Die Linie des seitlich leicht nach links gedrehten schlafenden Gesichts bildet eine grafische Einheit mit der Krümmung der Erde; außerdem heben sich Gesicht und Erde jeweils von einem dunklen Hintergrund ab. Ein anderes Beispiel, in dem Bewe‐ gungsrichtung, Bildaufteilung, Licht und Kamerabewegung übernommen werden, ist eine Szene aus »Die sieben Samurai«. Als die Samurai von den Dorfbewohnern bemerkt werden, wird im Dorf Alarm geschlagen und sie rennen los. Kurosawa hat nun Einstellungen aneinandergeschnitten, die in gleichen Bildausschnitten jeweils einen anderen rennenden Samurai zeigen (vgl. Abb. 36 bis 38). Der Körper der Samurai ist von hohem Gras und Büschen verdeckt, lediglich ihre Schultern und Köpfe sind zu sehen; sie laufen alle in die gleiche Richtung. Durch diese grafische Beziehung 266 4 Ästhetik und Gestaltung <?page no="267"?> zwischen den Einstellungen kann die Zuschauerin annehmen, dass alle Samurai dasselbe Ziel haben. - - Abb. 36 bis 38: »Die sieben Samurai« In »Das Schweigen der Lämmer« besteht eine farbliche Beziehung zwischen zahlreichen Einstellungen, die in dunklen Erdtönen gehalten sind, und Einstellungen, die nicht in geschlossenen Räumen spielen, in denen es ohne Sonnenschein immer diesig grau ist. Einstellungen können auch so anein‐ andergeschnitten sein, dass ein grafischer Konflikt entsteht. Beispielsweise kann von einer Einstellung, in der noch warme rote Farbtöne vorherrschen, auf eine andere geschnitten werden, in der nun kalte blaue Farben den Ton angeben. Dieser grafische Konflikt allein macht deutlich, dass in den beiden Einstellungen eine unterschiedliche Stimmung vorherrscht. Das Beispiel der rennenden Samurai aus dem Kurosawa-Film macht auch deutlich, wie rhythmische Beziehungen hergestellt werden können. Dabei werden die Längen der einzelnen Einstellungen zueinander in Be‐ ziehung gesetzt. Ein Rhythmus ergibt sich dabei noch nicht aus zwei Einstellungen allein, sondern durch eine Variation der Länge von mehre‐ ren Einstellungen, die nach einem bestimmten Muster geschnitten sind, sodass eine Regelmäßigkeit auftritt. Es ist ein beliebtes Mittel, bei einer Verfolgungsjagd die Schnittfrequenz zu erhöhen, wenn die Verfolger: innen dem Verfolgten näher kommen und ihn zu erreichen drohen, oder sie zu verkürzen, wenn es dem Verfolgten gelingt, den Abstand zwischen sich und den Verfolger: innen größer werden zu lassen. In einer solchen Szene wenden die Zuschauer: innen ihr Wissen um formale filmische Gestaltungs‐ mittel an, denn allein aus der Erhöhung der Schnittfrequenz kann auf den erzählerischen Aspekt geschlossen werden, dass die Verfolger: innen dem Verfolgten näher gekommen sind, auch wenn der Abstand zwischen beiden in keiner einzigen Einstellung zu sehen ist. In »Das Schweigen der Lämmer« wird dies eingesetzt, als die Polizei versucht, Buffalo Bill in seinem Haus zu überraschen und festzunehmen. Die Wechsel der Einstellungen vor dem 4.3 Schnitt und Montage 267 <?page no="268"?> Haus und im Haus erfolgen in einem bestimmten Rhythmus, der auf einen Höhepunkt zusteuert - die Erstürmung des Hauses. Mit der Erhöhung der Schnittfrequenz kann Verfolgungs- und Action‐ szenen eine größere Dynamik verliehen werden, die wiederum zu einer größeren Anspannung der Zuschauer: innen führt. Eine Verfolgungsszene in »The Rock - Fels der Entscheidung« macht dies überdeutlich. FBI-Agent Stanley Goodspeed, dessen Name in dieser Sequenz Programm ist, verfolgt in seinem gelben Ferrari den angeblichen Spion Patrick Mason, der in einem gepanzerten Wagen in San Francisco unterwegs ist. Die Rasanz der Schnitte bei dieser Verfolgungsjagd bringt die Zuschauer: innen fast an ihre Wahrnehmungsgrenzen, weil nicht mehr alle Einstellungen einzeln wahr‐ genommen werden können, sondern nur noch der Eindruck von Dynamik und Geschwindigkeit bleibt. Geschwindigkeit wird zum dominanten Effekt der Szene. Dabei bedient sich der Film verschiedener Mittel. So sind die Einstellungen, in denen die Fahrer der Autos gezeigt werden, sehr unruhig. Gegenstände kommen auf die Kamera zugeflogen, die rasenden Autos werden z. B. durch Baumreihen oder Gitterstäbe von Zäunen aufgenommen. Dadurch entsteht eine Art Stroboskop-Effekt, der den Eindruck von Schnel‐ ligkeit vermittelt, denn die Bewegung der Autos erscheint im Kontrast zu den fest positionierten Bäumen oder Stäben. Die Geschwindigkeit der Fahrzeuge wird zusätzlich noch dadurch betont, dass die Kamera, wenn sie die fahrenden Autos von der Seite aufnimmt, sich leicht gegen die Fahrtrichtung bewegt. Durch Einstellungen, in denen die Straße mit den fahrenden Autos gezeigt wird, behält die Zuschauerin den Überblick über die Szene. Ihre hohe Dynamik wird erst aufgebrochen, als nach einem Crash eine explodierende Straßenbahn haushoch in die Luft fliegt und dies in Zeitlupe gezeigt wird (zu Charakteristika und Funktionen der Zeitlupe sie Brockmann 2014; Hagener/ Kammerer 2021, S. 487ff.). Das ist zugleich für die Zuschauer: innen das Zeichen zur Entspannung. Die Dynamik entsteht auch, wenn im Rahmen der Continuity eine Handlung oder Aktion durch mehrere Schnitte quasi zerlegt wird. Ein ausgezeichnetes Beispiel dafür ist »Mad Max - Fury Road«, der für seinen Schnitt einen Oscar bekam. Eine kurze Szene mag dafür als Beispiel dienen (vgl. Abb. 39 bis 46). Zu sehen ist, wie ein Fahrzeug in eine Falle im Sand fährt, sich überschlägt und eine Person aus dem Fahrzeug geschleudert wird. Die ganze Szene dauert fünf Sekunden und enthält vier Schnitte, die die Kontinuität der Bewegung und der Bewegungsrichtung wahren. 268 4 Ästhetik und Gestaltung <?page no="269"?> - - - - - - Abb. 39 bis 46: »Mad Max - Fury Road« In vielen Actionfilmen wird auf einen Szenenüberblick keinen Wert mehr gelegt. Die Actionszenen sind dort nach dem sogenannten Konstruktions‐ prinzip oder der konstruktiven Montage geschnitten (vgl. am Beispiel Hongkong Bordwell 2000, S. 210 ff.). Das Verfahren wird bereits seit 1910 angewendet, da damit die Attraktion von Szenen mit physischer Aktion erhöht werden kann. Dabei wird die Action aufgebaut, indem nur einzelne Ausschnitte gezeigt werden. Jeder Überblick über die gesamte Szene wird verweigert. Die Action entsteht im Kopf der Zuschauer: innen, denn sie müs‐ sen die verschiedenen Einstellungen kognitiv zusammenfügen. David Bord‐ well hat gezeigt, dass eine nahe Sicht auf die Elemente in den verschiedenen Einstellungen dazu führt, dass die Aufmerksamkeit der Zuschauer: innen an 4.3 Schnitt und Montage 269 <?page no="270"?> die Hauptaktion gebunden wird, zugleich aber »der schnelle Wechsel der Einstellungen das visuelle Interesse unterstützt« (ebd., S. 212). Ein anfahrendes Auto kann z. B. in einer Überblickseinstellung gezeigt werden: Die Zuschauer: innen sehen ein Haus an einer Straße, vor dem sich ein Auto in Bewegung setzt und auf die Landstraße einbiegt. Bei der konstruktiven Montage hören sie Geräusche eines anspringenden Motors und sehen eine Detailaufnahme des Auspuffs, aus dem bläulicher Rauch gestoßen wird. Anschließend wird ebenfalls in Detailaufnahme gezeigt, wie ein Autoreifen sich zu drehen beginnt und Steine wegspritzen. Dann erhalten die Zuschauer: innen einen Blick aus der Perspektive seitlich der Beifahrertür, bei dem ein schwarz-weißer Begrenzungspfahl dicht am Kotflügel vorbeirauscht. Die Szene endet mit einem Blick durch die Windschutzscheibe auf die schnell unter der Motorhaube des Wagens ver‐ schwindenden weißen Mittelstreifen. In »Jurassic Park« werden Elemente der konstruktiven Montage eingesetzt, als die Protagonisten im Jeep vor dem Tyrannosaurus Rex fliehen. Zwar wird auch noch ein Überblick über die Szene geboten, aber die hektische Fluchtfahrt im Jeep wird über einzelne Einstellungen vermittelt: Man sieht den T. Rex im Rückspiegel, eine Hand am Schaltknüppel und einen Fuß auf dem Gaspedal (vgl. Abb. 47 bis 49). Die Zuschauer: innen bekommen einen Eindruck von der Action, weil sie an der Gestaltung der Szene kognitiv beteiligt sind. In solchen konstruktiv geschnittenen Sequenzen wird die Action gewissermaßen auf die kognitiven Aktivitäten der Zuschauer: innen übertragen, denn sie müssen sich das Gesamtbild der Sequenz durch eigene mentale Anstrengung erschließen. - - Abb. 47 bis 49: »Jurassic Park« Aufgrund der räumlichen Beziehung zwischen den Einstellungen wird der filmische Raum geschaffen. Um den Zuschauer: innen den Eindruck von einem Raum zu verdeutlichen, kann die Kamera einen Rundum-Schwenk machen (wie z. B. in »Das Schweigen der Lämmer«, als Clarice bei ih‐ rem ersten Besuch im Hochsicherheitsgefängnis bei Hannibal Lecter den 270 4 Ästhetik und Gestaltung <?page no="271"?> Wachraum betritt) oder nur einen Teil des Raumes abschwenken. Der Raum kann auch aus verschiedenen Perspektiven aufgenommen werden. Die einzelnen Einstellungen werden so aneinandergeschnitten, dass ein Raumeindruck entsteht, bei dem die wesentlichen auf dem Weltwissen beruhenden Konventionen der Wahrnehmung von Räumen - oben, unten, rechts, links, vorn, hinten, ansteigend, absteigend usw. - eingehalten wer‐ den. Besonders wichtig ist dies bei Thrillern, die ganz oder vorwiegend in einsamen Villen oder Schlössern spielen. Die Zuschauer: innen müssen sich am Handlungsort orientieren können, um Spannung oder Bedrohung empfinden zu können. Wenn die Zuschauer: innen nicht wissen, dass der Psychopath hinter einer der Türen auf dem Flur lauert, den die Heldin gerade entlangläuft, können sie nicht um das Wohl der Heldin fürchten. Theoretisch ist es möglich, dass Filmemacher: innen jeden Ort in einer Einstellung mit jedem beliebigen anderen Ort in einer Einstellung durch einen Schnitt miteinanderverbinden und dadurch Beziehungen herstellen, die auf Ähnlichkeiten, auf Unterschieden und auf Entwicklung beruhen oder aber um metaphorische Assoziationen hervorzurufen (vgl. Ryan/ Leonos 2020, S.-75). Für das Continuity-System ist es besonders wichtig, die Illusion einer räumlichen Realität zu erzeugen. Um diese Illusion aufrechtzuerhalten, gibt es die sogenannte 180°-Regel (vgl. Bordwell/ Thompson 2020, S. 233 ff.). Sie bezieht sich auf die Sichtachse der Handlung. Die Kamera ist auf einer Seite dieser Handlung positioniert und vermittelt den Zuschauer: innen einen Blick auf das Geschehen aus einer bestimmten Perspektive. Nun kann die Kamera auch von anderen Positionen her das Geschehen aufnehmen. Sie darf aber ihre Perspektive nicht über diese Handlungsachse von 180° hinaus verändern, denn dann verliert die Zuschauerin die räumliche Orientierung im Handlungsraum, weil sie sich nicht mehr sicher sein kann, dass rechts auch noch immer rechts ist. Sie ist irritiert, und ihre Aufmerksamkeit bleibt nicht im Realitätseindruck des Films gefangen, sondern wendet sich der Machart zu. Die Illusion einer räumlichen Realität kann durch verschiedene Schnitttech‐ niken und Montageregeln im Dienst der kontinuierlichen Erzählung erzeugt werden. Mit dem Establishing Shot wird ein Überblick über den Handlungs‐ raum, in dem die Szene spielt und die handelnden Charaktere agieren, gegeben (vgl. Dixon 2022, S. 50). Man sieht z. B. einen Raum, in dem sich zwei Personen befinden; die nächste Einstellung zeigt eine Sicht über die Schulter der einen Person auf die andere. Damit ist die Zuschauerin plötzlich im Geschehen drin. 4.3 Schnitt und Montage 271 <?page no="272"?> Zugleich ist die 180°-Handlungsachse etabliert. Als Zuschauerin kann man sich nun im Raum orientieren. Führen die beiden Figuren einen Dialog, werden sie meist im Schuss-Gegenschuss-Verfahren aneinandergeschnitten: Mal sieht man die gerade sprechende, dann die zuhörende Person, anschließend wieder die sprechende und dann die antwortende. Dies ist in »Das Schweigen der Lämmer« gut in den Gesprächsszenen zwischen Hannibal Lecter und Clarice Starling zu beobachten (vgl. Abb.-50 und 51). - Abb. 50 und 51: »Das Schweigen der Lämmer« - Narrative Funktionen der Montage Mit der Montage ist es auch möglich, den filmischen Raum zu erweitern. Das geschieht mit den sogenannten Eyeline-Matches und Point-of-View-Schnit‐ ten. Im ersten Fall ist zunächst eine Filmfigur im Bild zu sehen, die in Richtung auf etwas außerhalb des Filmbildes schaut; es folgt ein Schnitt, und es wird gezeigt, wohin die Person schaut. In »Das Schweigen der Lämmer« ist dies zu beobachten, wenn Clarice in der bereits genannten Szene auf ihr parkendes Auto zugeht. Sie schaut zunächst in Richtung Straße, in der nächsten Einstellung sieht man ihr Auto. In keinem der beiden Bilder sind die schauende Person und das angeschaute Objekt gleichzeitig zu sehen. Ein Sonderfall des Eyeline-Matches ist der Point-of-View-Schnitt. Dabei ist ebenfalls im zweiten Bild zu sehen, wohin die Person blickt, aber die Kamera übernimmt genau die Position des Blickenden. Auf diese Weise werden die Zuschauer: innen in die subjektive Sichtweise und in die mentalen und emotionalen Prozesse der blickenden Akteurin einbezogen. Dadurch haben sie einen privilegierten Zugang zur Psychologie der Akteurin. Hier zeigt sich sehr deutlich, dass ein Film nur in und mit der Rezeption durch die Zuschauer: innen funktioniert. 272 4 Ästhetik und Gestaltung <?page no="273"?> Mithilfe der Montage kann aber auch die Relativität der Perspektiven deutlich gemacht werden. In »Rashomon« wird die Geschichte eines Ban‐ diten, der im Wald einen Samurai und dessen Frau überfällt, aus vier verschiedenen Perspektiven geschildert: des Banditen, der Frau, des Geistes des toten Samurai und eines Holzfällers, der Zeuge der Tat wurde. In den vier Geschichten ist jedes Mal eine andere Person für den Tod des Samurai verantwortlich. Jede der vier Geschichten ist durch einen anderen Montagestil charakterisiert (vgl. Dancyger 2018, S. 129 ff.). Dabei wechseln die Geschichten zwischen einer sehr dynamischen und einer eher langsamen Montage. Auf diese Weise gelingt es dem Regisseur, Akira Kurosawa, die Narration der vier verschiedenen Geschichten durch die Art der Montage zu unterstützen. Das Medium Film bietet zudem die Möglichkeit, die chronologische Ab‐ folge von Erzählungen zu durchbrechen. So können Rückblenden plötzlich die Vergangenheit von handelnden Charakteren und Vorausblenden die Zukunft zeigen. Mithilfe des Schnitts und der Montage ist es möglich, zeitliche Beziehungen zwischen zwei Einstellungen herzustellen. Dabei kann von einer Einstellung zur nächsten in eine andere Zeitebene gewechselt werden. In der Fernsehserie »Lost« wird extensiv mit Rück- und Vorblenden gearbeitet. Das führt allerdings zu »Zeitkonfusionen« (vgl. Piepiorka 2011, S. 88 ff.). Diese zeitlichen Beziehungen müssen nicht linear sein, sie können auch multilinear, verschachtelt oder zirkulär sein (vgl. Eckel 2012, S. 30 ff.; Runge 2008). Außerdem kann zwischen zwei Einstellungen, die aneinan‐ dergeschnitten wurden, in der Erzählung Zeit vergangen sein. Es werden also Elemente der Erzählung ausgelassen, die beiden Einstellungen bilden eine Ellipse (vgl. Kapitel II.2.1). Diese Lücken oder Leerstellen müssen von den Zuschauer: innen mit kognitiven und emotionalen Aktivitäten gefüllt werden. Die Montage ermöglicht es, mehrere dieser genannten Beziehungen zwi‐ schen einzelnen Einstellungen oder ganzen Szenen gleichzeitig herzustellen. Mit einem Schnitt können rhythmische, zeitliche, räumliche und grafische Beziehungen zwischen den verbundenen Einstellungen erzeugt werden. Mit der Parallelmontage und dem sogenannten Cross-Cutting ist es möglich, die Handlungen an räumlich voneinander getrennten Orten zu zeigen (vgl. Vallet 2019, S. 47ff.). Beim Cross-Cutting werden zwei Ereignisse parallel gezeigt, zwischen denen hin und her geschnitten wird. So ist beispielsweise zunächst eine in einem brennenden Fahrstuhl eingeschlossene Personen‐ gruppe zu sehen. In den nächsten Einstellungen eilen die Helfer herbei, 4.3 Schnitt und Montage 273 <?page no="274"?> die aber noch verschiedene Hindernisse wie eingestürzte Treppenhäuser und Ähnliches zu überwinden haben. Zwischen den Eingeschlossenen und den Rettern wird nun hin und her geschnitten, bis Letztere den Fahrstuhl erreichen und die Rettung beginnen kann. In »Das Schweigen der Lämmer« ist die Sequenz, in der die Polizei Buffalo Bill überwältigen will, nach diesem Verfahren geschnitten. Die Einstellungen wechseln zwischen den Polizisten, die an das Haus heranschleichen, sowie dem als Blumenbote verkleideten Polizisten, der an der Haustür klingelt, und den Einstellungen im Haus von Buffalo Bill, der sich aufgrund des Klingelns auf den Weg zur Tür macht. Bei der Parallelmontage werden alternierend vergleichbare Ereignisse gezeigt, die jedoch nicht simultan und chronologisch sein müssen. Damit beginnt z. B. »Jurassic Park«: Zunächst ist eine Szene auf der Isla Nublar zu sehen, danach eine Bernsteinmine in der Dominikanischen Republik, anschließend Ausgrabungen in den Badlands von Montana, gefolgt von einer Szene in San José, Costa Rica, bis schließlich die Held: innen des Films in einem Hubschrauber auf die Insel aus der ersten Szene geflogen werden. All die gezeigten Ereignisse sind für den Plot und die Konstruktion der Geschichte wichtig. Nicht wichtig ist, ob sie sich gleichzeitig, zeitlich nah beieinander oder mit größerem zeitlichem Abstand ereignet haben. Prinzipiell besteht auch die Möglichkeit, mit all diesen Schnitt- und Montagetechniken Diskontinuitäten zwischen den Einstellungen und Sze‐ nen herzustellen. Damit wird den entsprechenden Szenen eine andere Bedeutung verliehen, und zugleich werden die Sehgewohnheiten der Zu‐ schauer: innen herausgefordert. - Elektronischer Schnitt Nachrichten- oder Magazinbeiträge für das Fernsehen werden zwar noch geschnitten, aber sowohl bei Fußballspielen als auch bei Fernseh- oder Talkshows werden die Bilder nur noch in der Bildregie gemischt. In diesen Fällen spielen sich reale oder inszenierte Ereignisse vor mehreren Fernseh‐ kameras ab, die das Geschehen aus verschiedenen Perspektiven gleichzeitig aufnehmen. Zwischen diesen Bildern wird dann hin- und hergeschaltet. Die Organisation der Bilder orientiert sich allerdings an den Regeln des Film‐ schnitts und der Montage. Mit den gemischten Bildern lassen sich ebenfalls grafische, rhythmische, räumliche und zeitliche Beziehungen zwischen den einzelnen Einstellungen herstellen. 274 4 Ästhetik und Gestaltung <?page no="275"?> Mit der Weiterentwicklung elektronischer Verfahren, die zunehmend in der sogenannten Postproduktion eines Films Anwendung finden, lassen sich auch innerhalb der Bilder Veränderungen vornehmen. Die Digitalisierung hat die Möglichkeiten erheblich erweitert. Mit dem Stanzverfahren können beispielsweise mehrere Bilder übereinandergelegt werden. Deutlich wird dies bei Sendungen, die in einem virtuellen Studio stattfinden wie z. B. die Nachrichtensendungen und -magazine. Die Digitalisierung der elektro‐ nischen Bilder eröffnet dem Fernsehen neue Möglichkeiten, die inzwischen in manchen Sendungen bereits verwendet werden. So lassen sich z. B. gra‐ fische Elemente mit Bildern, die von einer Fernsehkamera aufgenommenen wurden, mischen oder mehrere Bilder übereinander und nebeneinander anordnen, ähnlich den Fenstern der verschiedenen Anwendungen auf einem PC-Bildschirm. Es gibt Bildwechsel, in denen das Umblättern von Seiten imitiert wird. Wenn in den »Tagesthemen« die Moderatorin mit einer Korrespondentin oder einer Expertin ein Interview führt, wird nicht mehr nur zwischen den Vollbildern der beiden Personen gewechselt, sondern die Moderatorin ist im Studio zu sehen und in ihrer Blickrichtung ist ein kleines Bild mit den Gesprächspartnern über das erste Bild gelagert. Insbesondere in den Videoclips der Musikbranche finden die zahlreichen Möglichkeiten und Tricks der elektronischen Bildbearbeitung und -mischung, des Compositing, Verwendung. »Die Musikvideos zeigen, dass sich die Montageregeln lockern, größere Lücken zugelassen werden und sich damit ein neues Montageverständnis und andere Erzählkonzepte etablieren. Die Anschlussstücke in den Einstellungen müssen bei diesen Montageformen nicht immer eindeutig sein, es reicht schon die Aneinanderreihung, so dass der Zuschauer versucht, sie mit seinem Wissen von Erzählmustern in Einklang zu bringen« (Hickethier 2012, S. 160). Die räumliche Orientierung in den Bildern wird z. B. dadurch erschwert, dass sich durch grafische Tricks Vorder- und Hintergrund gegeneinander verschieben, sodass die Bildelemente in ihrer Anordnung - ähnlich den surrealistischen Bildern von René Magritte - die Wahrnehmungsmuster infrage stellen, indem sie mit ihnen spielen. Außerdem werden durch die oft schnelle Aneinanderreihung von Einzelbildern, die narrativ nur lose mitein‐ ander verknüpft sind, die Zuschauer: innen stärker gefordert, die einzelnen Elemente mit ihrem Wissen, ihren Emotionen und ihrem praktischen Sinn zu verbinden. Sie werden mehr in den Prozess der Bildabfolge hineingezogen als im konventionellen Film. 4.3 Schnitt und Montage 275 <?page no="276"?> Der Filmschnitt als rein technischer Vorgang der Aneinanderreihung von Einstellungen und die Montage sowie die Bildmischung beim Fernse‐ hen stehen in der Regel im Dienst der Erzählung. Sie haben ordnende, organisierende Funktion. Mit ihnen werden der Plot kontrolliert und die Aktivitäten der Zuschauer: innen strukturiert. Dabei gehen sie auf das Wissen, die Emotionen, den praktischen Sinn und die Wahrnehmung der Zuschauer: innen ein. Indem sie grafische, rhythmische, räumliche und zeit‐ liche Beziehungen zwischen Einstellungen und Szenen herstellen, können sie z. B. dazu beitragen, das gezeigte Geschehen zu dramatisieren oder auch zu entdramatisieren. Sie können Spannung erzeugen oder auf falsche Fährten locken, indem sie durch Zwischenschnitte Details hervorheben, die vielleicht doch nicht von Bedeutung sind. Mit Schnitt und Montage bzw. Bildmischung werden Einzelbilder und -einstellungen in spezifische Kontexte gestellt, die ihnen oft erst eine Bedeutung geben. Sie funktionieren jedoch nur, weil die Zuschauer: innen mit ihrem Wissen und ihrem prakti‐ schen Sinn eine Verbindung zwischen den Bildern herstellen, um sie in einen kohärenten Erzählfluss einordnen zu können. Die Analyse von Schnitt und Montage ist immer auch eine Schule des Sehens. Die klassische Form der Analyse kann je nach technischen Möglichkeiten durch praktische Übungen ergänzt werden. Filme können z. B. neu geschnitten werden, und man kann sich von der veränderten Bedeutung der neu angeordneten Bilder überzeugen und schauen, wie die Erzählung nun funktioniert. Indem man Bilder aus einem Film heraus‐ schneidet, kann man z. B. überprüfen, welche Bilder und Einstellungen für den Plot und die Story bedeutsam sind und welche nicht-- und es ist möglich zu untersuchen, welche Einstellungen und Bilder überflüssig sind, weil sie durch das Wissen und den praktischen Sinn der Zuschauer: innen ersetzt werden können. Analyseleitende Fragen • Gibt es Szenen, in denen Puppen oder Stuntmen oder Stuntwomen eingesetzt wurden? Woran ist das zu erkennen? • Wie verläuft die Handlungsachse in einzelnen Szenen? • Gibt es Achsensprünge in der Handlungsachse? • Welche Raumvorstellung wird durch die montierten Bilder erzeugt? 276 4 Ästhetik und Gestaltung <?page no="277"?> • Sind die Bilder innerhalb einzelner Sequenzen in einem bestimmten Rhythmus geschnitten? Verändert sich dieser Rhythmus? • Gibt es Szenen, in denen durch die montierten Einstellungen ein kontinuierlicher Bewegungsablauf gestört wird? • Kommen zeitliche Auslassungen (Ellipsen) vor? Welchen Zweck haben sie im Rahmen der Erzählung? • Ist die Zeitabfolge zwischen den Einstellungen chronologisch? • Gibt es Einstellungen, in denen die Charaktere aus dem Bild schauen, und wird anschließend gezeigt, wohin sie schauen? • Wird dabei eine rein beobachtende Position eingenommen oder die subjektive Sicht der Charaktere übernommen? • Wo treten grafische Besonderheiten auf ? • Gibt es Parallelmontagen mit alternierenden Ereignissen? • Gibt es zeitliche Diskontinuitäten? • Wo stimmen die Bildanschlüsse nicht? 4.4 Ausstattung Die Ausstattung eines Films ist nicht nur Staffage, sondern hat auch eine narrative Funktion, die sie allerdings erst im Zusammenhang mit den Aktivitäten der Zuschauer: innen entfaltet. Diese narrative Funktion betrifft sowohl den Ort des Geschehens als auch Zeit, Stimmung, soziale Charakteri‐ sierung und kulturelle Rahmen (vgl. dazu auch Affron/ Affron 1995, S. 46 ff.). In der Filmwissenschaft wird auch von »Mise en Scène« gesprochen, die sie als »Organisationsprinzip des telekinematischen Ausdrucks« versteht und »das Erscheinung wie Bedeutung von Körpern und Räumen steuert« (vgl. Ritzer 2017, S. 37). Anders ausgedrückt ist »Mise en Scène« ein Konzept, mit dem die »visuellen Aspekte von Filmstil und Ästhetik und all ihrer komplexen Beziehungen« beschrieben werden (D’Arcy 2019, S. 17). Sie stellt das »visuelle Konzept« eines Films, eines Videos oder einer Fernsehserie dar (vgl. Barnwell 2017, S. 56ff.). Sie ist aber auch »ein wichtiges Mittel der Narration« und kann manchmal auch »selbstreflexive Kommentare« abgeben (vgl. Kirsten 2020, S. 78). Sie konstruiert die »filmische Umgebung« (Dixon 2022, S. 23) und charakterisiert Personen und Räume. Häufig gibt es Begleitbücher zu visuell aufwändigen Filmen, in denen das visuelle 4.4 Ausstattung 277 <?page no="278"?> Konzept und das Produktionsdesign ausführlich erläutert werden (vgl. exemplarisch zu »Mad Max - Fury Road« Bernstein 2015, zu »Terminator: Genisys« Cohen 2015, zu »Thor - The Dark Kingdom« Javins/ Moore 2013; zu »Dune« Lapointe 2021). Hier soll jedoch statt von »Mise en Scène« von Ausstattung gesprochen werden, die das Ergebnis von Location Scouts und Produktionsdesignern ist (vgl. dazu auch Ackland-Snow/ Laybourn 2017, S. 43ff.). Die Ausstattung kann dann im Hinblick auf verschiedene Aspekte des Produktionsdesigns analysiert werden, z. B. indem Kostüme, Mode, Requisiten, Architektur und Inneneinrichtung in ihrer Funktion für die Erzählung und Charakterisierung der filmischen Umgebung betrachtet werden (vgl. dazu auch Berry 2022; Diekmann 2020; Engell 2020; Köhler 2002). Zunächst einmal dient die Ausstattung der Charakterisierung des Hand‐ lungsortes und weckt bestimmte Erwartungen bei den Zuschauer: innen. Wenn zu Beginn eines Fernsehfilms eine ländliche Idylle bei Sonnenschein zu sehen ist, wird die Zuschauerin vielleicht eine romantische Liebesge‐ schichte erwarten (die Verfilmungen der Rosamunde-Pilcher-Romane kön‐ nen hier als Beispiel dienen); sieht sie eine verregnete Großstadtansicht bei Nacht, wird er eher Kriminalität und Verbrechen erwarten. Natürlich stehen solche Bilder in der Regel nicht für sich, sondern im Kontext von Genrebe‐ zeichnungen in den Ankündigungen. Dennoch wird mit stimmungsvollen Landschaftsbildern so etwas wie eine Idylle verbunden, die nicht nur auf die Landschaft selbst bezogen wird, sondern auch auf die dort herrschenden sozialen Verhältnisse. Stadtbilder sind mit mentalen Konzepten von Hektik, Unübersichtlichkeit, Problemen und eben Kriminalität verbunden. So ist der Krimi im Wesentlichen ein urbanes Erzählgenre. In den vergangenen Jahren haben sich allerdings zunehmend Krimis in ländlicher Idylle etabliert, z. B. »Hubert ohne Staller«, »Mord mit Aussicht« oder die »Wallander«-Krimis. Mit idyllischen Bildern von Landschaften und Vorstädten ist für die Zu‐ schauer: innen aber auch immer das Wissen darum verbunden, dass Idyllen trügerisch sein können. Der Horrorfilm nutzt dieses Wissen explizit. Als ein klassisches Genremuster wird zu Beginn eine Idylle gezeigt, in die dann das Böse eindringt. Handlungsorte und Ausstattung dienen des Weiteren dazu, den Zu‐ schauer: innen die räumliche Anordnung der Handlungsschauplätze zu verdeutlichen. Sie lernen darüber, sich genau wie die handelnden Figu‐ ren im Handlungsraum zu bewegen. Weite oder Enge können ebenso vermittelt werden wie die Auflösung des Raumempfindens, z. B. durch 278 4 Ästhetik und Gestaltung <?page no="279"?> Spiegel. Wenn kurz vor Schluss des Films »Die Lady von Shanghai« Elsa Bannister und Michael O’Hara in einem Spiegelkabinett landen, verlieren die Zuschauer: innen ebenso die räumliche Orientierung wie der Mörder, der die beiden zur Strecke bringen will. Ähnlich ergeht es Bruce Lee, der in einem Spiegelkabinett gegen den »Mann mit der Todeskralle« kämpft. Original und Spiegelbild sind nicht mehr zu unterscheiden. Die Spiegel vergrößern nicht nur den Handlungsort, sondern vervielfältigen auch die Spiegelbilder und damit die Anordnung von Ausstattungselementen und Personen im filmischen Raum. Sowohl für die handelnden Figuren als auch für die Zuschauer: innen wird die Orientierung im Raum schwer. Im Verlauf der Film- und Fernsehsozialisation lernen die Zuschauer: in‐ nen mit bestimmten Orten auch eine bestimmte Art von Geschichten zu verbinden. Das Wissen über Orte ist immer auch mit Geschichten über diese Orte verbunden. Wenn zum Beispiel zu Beginn des Films »Der englische Patient« computeranimierte Wüstenbilder zu sehen sind und anschließend eine alte zweisitzige, offene Propellermaschine, die über diese Wüstenland‐ schaft fliegt, dann wird mit diesen Bildern nicht nur das faktische Wissen über den Handlungsort Wüste aktiviert, sondern auch die Geschichten, die es über die Wüste gibt: Geschichten über sich in einem Sandsturm verirrende oder dürstend durch die Wüste torkelnde Personen, Geschichten von halluzinierenden Menschen, die von einer Fata Morgana in die Irre geleitet werden usw. Das alte Flugzeug als Teil der Ausstattung deutet darauf hin, dass der Film nicht in der Jetztzeit spielt, sondern zu einer Zeit, als diese Flugzeuge üblich waren. In diesem Sinn verortet die Ausstattung die Film‐ handlung auch historisch. Das wird nicht nur an Fortbewegungsmitteln wie Raumschiffen, Flugzeugen, Autos, Pferden oder Kutschen deutlich, sondern auch an der Einrichtung von Wohnungen, Hütten und Palästen sowie an der Kleidung der Figuren. Ob die Ausstattung in allen Aspekten historisch korrekt ist, ist noch nicht einmal wichtig. Sie muss nur den Anschein erwecken, es zu sein, also grobe Fehler vermeiden. Wenn z. B. in einem Film wie »Hexenjagd«, der im 17. Jahrhundert spielt, im Haushalt der Proctors plötzlich elektrisches Licht brennt und Elizabeth Proctor zur Vorbereitung einer Mahlzeit das Tiefgefrorene aus dem Gefrierschrank nimmt, dann weiß auch der letzte Zuschauer, dass hier etwas nicht stimmt. Und natürlich flieht Margot im Film »Die Bartholomäusnacht«, der im 16. Jahrhundert spielt, nicht in einem Auto, sondern in einer Kutsche. In den »James Bond«-Filmen spiegelt sich in der Ausstattung ihre Entstehungszeit von den 1960er Jahren bis ins 21. Jahrhundert (vgl. Kissling-Koch 2012, S. 9 f.). 4.4 Ausstattung 279 <?page no="280"?> Die Ausstattung in Fernsehserien wie »Boardwalk Empire«, »Borgia«, »Bridgerton« »Deadwood«, »Downtown Abbey«, »Game of Thrones«, »Mad Men«, »The Crown« oder »Die Tudors« ist der historischen Zeit angepasst, in der Handlung spielt. Die Ausstattung der Handlungsorte macht jedoch nicht nur den histori‐ schen Bezug deutlich, sondern auch die soziale Sphäre, in der ein Film spielt bzw. in der sich die handelnden Figuren bewegen. Wenn in »Mary Shelley’s Frankenstein« das frisch kreierte Monster seine ersten sozialen Kontakte mit einer armen Landfamilie hat, dann ist klar, dass diese armen Leute nicht in hochherrschaftlichen Ballkleidern durch die Gegend laufen, sondern in abgerissenen Lumpen. Dagegen sind die Marquise de Merteuil und der Vicomte de Valmont in »Gefährliche Liebschaften« entsprechend ihrem Stand gekleidet und leben nicht in kleinen Holzhütten im Wald, sondern in Schlössern, die zudem von zahlreichen Bediensteten bevölkert sind. Die Kleidung der Protagonist: innen sowie die Einrichtung ihrer Wohnungen sind Indikatoren für ihren sozialen Status. Für die Zuschauer: innen sind mit dem Wissen um den sozialen Status auch narrative Muster verbunden. Eine klassische Aufsteigersaga kann zunächst nur in einem sozialen Milieu ange‐ siedelt sein, das diesen Aufstieg auch erlaubt. Leben die Heldin und der Held in einer weitläufigen Villa im Tessin kann der Film zwar noch in einer langen Rückblende die Geschichte des Aufstiegs dieser beiden Personen erzählen, doch werden die Zuschauer: innen in der Regel dann keine Aufsteigerge‐ schichte, sondern ein Beziehungsdrama oder kriminelle Verstrickungen erwarten, weil das aus zahlreichen Krimireihen bekannt ist. Entscheidend ist, dass in der Analyse die Elemente der Ausstattung in Beziehung zur erzählten Geschichte gesetzt werden (vgl. dazu auch Bordwell/ Thompson 2020, S. 158), und das ist nur in Bezug zu den Wissensformen, den Emotionen und dem praktischen Sinn der Zuschauer: innen möglich. Das betrifft sowohl ihr Alltagswissen von den Orten und der Ausstattung, ihr narratives Wissen und ihr Wissen um filmische Gestaltungsmittel (vgl. Affron/ Affron 1995, S. 46) als auch die mit bestimmten Orten verbundenen Emotionen und Affekte (z. B. Furcht in dunklen Kellern). Handlungsorte, ihre Ausstattung und die Kleidung der Figuren dienen nicht nur zur Charakterisierung von Ort und Zeit und der Einordnung der Figuren. Sie haben auch ihren eigenen narrativen Wert, indem sie Stimmungen generieren (vgl. Speidel 2012, S. 87 ff.). In den Filmen des deutschen Expressionismus wie »Das Cabinet des Dr. Caligari« oder »Das Wachsfigurenkabinett« schafft die Ausstattung verbunden mit Licht- und Schatteneffekten eine unwirkliche Welt, in der 280 4 Ästhetik und Gestaltung <?page no="281"?> Abb. 52: »Metropolis« die Orientierung schwierig wird. In »Metropolis« bilden die Bauten die fantastische Illusion einer Stadt in der Zukunft, die von der Faszination für Maschinen und Wolkenkratzer als negative Utopie geprägt ist (vgl. Abb. 52 sowie Abb. 57 in Kapitel II.5.3). »In diesem scheinbar nur utopischen Film geriet das zentrale Hochhaus mit Landeplattform zum Synonym der verdorbenen Zivilisationsutopie. Hier wurde nicht mehr unkritisch die futuristische Stadt (›Symphonie aus Glas und Stahl‹) als neue Akropolis (›Tempel des Kommerzes‹) gefeiert, sondern als ›Tötungs‐ maschine‹ dargestellt: der babylonische Wolkenkratzer als Horrorvision, als monströser, diabolischer Machtapparat. Einer Festung oder Gefechtsstation gleich, regiert er über die Stadt, einer von Ängsten und Terror beherrschten Maschinenwelt von extremster Künstlichkeit und Lebensfeindlichkeit« (Weih‐ smann 1988, S. 171). Die Ausstattung des Films korre‐ spondiert mit mentalen Konzepten, die in diesem Fall an einen Dis‐ kurs von der menschenfeindlichen Stadt angebunden sind. So trägt die Ausstattung in »Metropolis« wesentlich zur Repräsentation von »Stadt« bei. Gerade in Science-Fic‐ tion-Filmen spielt die Ausstattung eine wichtige Rolle, sei es nun das Gewimmel eines Los Angeles in der Zukunft wie in »Blade Runner«, »Blade Runner 2049« und »Strange Days« oder die kühle Atmosphäre des Raumschiffes in »2001 - Odyssee im Weltraum« oder des Weltalls in »Gravity«. Von Handlungsorten kann ebenso etwas Unheimliches wie auch etwas Warmes, Geborgenheit Ausstrahlendes ausgehen. Verwinkelten Schlössern haftet etwas Unheimliches und Mysteriöses an. Wohnungen können gemütlich oder kalt und steril sein. Die Akteur: innen ordnen sich in ihrem Tun diesen durch die Handlungsorte vermittelten Stimmungen unter, die die Zuschauer: innen mithilfe ihrer mentalen Konzepte nachvollziehen können. 4.4 Ausstattung 281 <?page no="282"?> Analyseleitende Fragen • Welche Stimmung ist mit dem vorgestellten Handlungsort verbun‐ den? • Lässt der gezeigte Handlungsort eine bestimmte Handlung erwar‐ ten? • Lässt sich anhand der Ausstattung erkennen, in welchem sozialen Milieu der Film spielt? • Ist damit eine bestimmte Stimmung verbunden? • In welcher historischen Zeit ist der Film oder die Fernsehserie angesiedelt? • An welchen Ausstattungsmerkmalen kann man das festmachen? • Gibt es Ausstattungselemente, die die handelnden Personen charak‐ terisieren? • Verschafft die Ausstattung eine Orientierung im filmischen Raum oder verhindert sie diese? • Welchem dramaturgischen Zweck dient die Verhinderung? 4.5 Ton und Sound Der Stummfilm war zwar auch nicht richtig stumm (vgl. Martin 2010, S. 44 ff.) - zum einen wurde er mit Musikbegleitung aufgeführt, zum anderen bestand die Möglichkeit, die Dialoge während der Aufführung einzusprechen -, doch gewannen Töne und Geräusche im Film erst mit der Erfindung des Tonfilms an Bedeutung (vgl. auch Gotto 2020, S. 85). Grundsätzlich muss beim Ton im Film zwischen gesprochener Sprache und Geräuschen unterschieden werden. Hinzu kommt die Musik (vgl. Kapitel II.4.6). All diese akustischen Mittel sind Elemente des Sounddesigns, der künstlerischen Gestaltung der akustischen Ebene in audiovisuellen Medienprodukten (vgl. Segeberg 2005, S. 11). Diese Elemente können sowohl diegetisch, also zur Erzählwelt gehörend, als auch nondiegetisch sein (vgl. dazu auch Bordwell/ Thompson 2020, S. 284 ff.). Die Quelle kann jeweils im Bild zu sehen sein oder nicht. Wenn während einer »Tatort«-Folge die Kommissarin Karin Gorniak in der Wohnung eines Verdächtigen zu sehen ist, dem sie gerade die Motive für die Tat offenlegt, und gleichzeitig durch ein offenes Fenster das Herannahen eines Polizeifahrzeugs zu hören ist, 282 4 Ästhetik und Gestaltung <?page no="283"?> das durch das Näherkommen und Lauterwerden der Polizeisirene markiert wird, dann wissen die Zuschauer: innen, dass die Verhaftung des Täters unmittelbar bevorsteht. Der Ton der Polizeisirene gehört zur diegetischen Welt dieser »Tatort«-Folge. Wenn die Zuschauer: innen jedoch in einem Melodram die Heldin beobachten, wie sie sehnsuchtsvoll mit ihrem Ange‐ beteten telefoniert, um ihn zu einem gemeinsamen Kurzurlaub zu überreden, und dabei ist durch ein offenes Fenster eine Polizeisirene zu hören, die erst näher kommt und sich dann wieder entfernt, ohne dass dies später aufgegriffen wird, so hat dieses Geräusch für die Handlung keine weitere Bedeutung. Es gehört nicht zur erzählten Welt. Möglicherweise hat es lediglich die Funktion, auf der akustischen Ebene das Großstadtambiente zu unterstreichen, in dem das Melodram angesiedelt ist. Geräusche können eine eigene narrative Funktion haben, wenn z. B. in einer Dokumentation über Arbeiter die Geräusche in einer Maschinenhalle dominant sind und alle anderen Geräusche ebenso wie die gesprochene Sprache übertönen. Der Ton nimmt dann eine bestimmte Perspektive ein und dient der Repräsentation. Töne und Geräusche können auch als Adressierung der Zuschauer: innen eingesetzt werden, wenn sie deren Aufmerksamkeit lenken wollen (vgl. Gotto 2020, S. 89ff.). Die Filmwissenschaftlerin Lisa Gotto hat diesen Einsatz von Tönen und Geräuschen auch »akustische Großaufnahme« genannt (ebd., S. 89). Mit Tönen und Geräuschen können sowohl zwischen den Akteur: innen in dem Film, der Fernsehsendung oder des Videos als auch zwischen Film- und Fernsehtext und Zuschauer: innen Nähe und Distanz hergestellt werden. Für das Verhältnis von Ton bzw. Geräuschen und dem Bild, aber auch der Handlung hat der britische Semiotiker Theo van Leeuwen (1999, S. 22 f.) das Muster von Figur und Grund übernommen. Die auditive Ebene kann als Figur im Vordergrund stehen. Das ist immer dann der Fall, wenn sie eine eigenständige Funktion in der diegetischen Welt des Film- oder Fernsehtextes einnimmt. Sie kann in den Hintergrund treten, indem sie z. B. über Geräusche und Musik die Handlung unterstützt und eine Stimmung schafft, ohne dass dies immer bewusst wahrgenommen wird. Dann leitet die auditive Ebene die Zuschauer: innen emotional durch den Film, die Fernsehsendung oder das Video. Grundsätzlich können Töne und Geräusche daher eine narrative Funktion haben (vgl. Flückiger 2007, S. 298 ff.), da sie einerseits für die akustische Raumpräsentation bedeutsam sind, z. B. wenn mit dem Sounddesign die Idylle einer grünen Wiese mit typischen Insektengeräuschen oder die Atmosphäre einer Großstadt mit typischen 4.5 Ton und Sound 283 <?page no="284"?> Stadtgeräuschen wie Verkehrslärm, Polizeisirenen, Gesprächsfetzen usw. dargestellt wird. Sie sind aber auch für die Repräsentation physikalischer Eigenschaften wichtig, z. B. das Quietschen der Gabel, mit der in einem Aluminiumtopf gekratzt wird. Das gilt auch für den Einsatz von Stille. »Obwohl Stille im Alltag eher Assoziationen zu Ruhe und Frieden hervorruft, wird sie im Film bevorzugt zur Verdeutlichung von Unheil, Bedrohung, Verwüs‐ tung, Isolation und Kommunikationslosigkeit eingesetzt« (Hampel 2006, S. 83). Stille im Film führt so eher zu einer unbehaglichen Atmosphäre und weckt in den Zuschauer: innen Erwartungen auf das Kommende (vgl. auch Lensing 2018, S. 44f). Stille steht im Film selten für sich, sondern hat eine narrative Funktion. Allein die Soundebene kann die Handlung des Films unterstreichen. Dazu ist es aber notwendig, dass alle Geräusche, Töne und zusätzlich die Musik auch entsprechend montiert sind (vgl. zur Tonbzw. Soundmontage Lensing 2018; Vallet 2019, S. 46ff.). Als Beispiel mag hier der Film »Mother! « dienen, der fast ganz ohne Musik auskommt, dafür aber mit einem Sounddesign aufwartet, in dem Geräusche verstärkt werden. Das unterstreicht das Un‐ heimliche der Narration. Ein Tonschnitt kann z. B. nicht mit dem Bildschnitt übereinstimmen, wenn z. B. der Dialog zwischen Raumfahrerin und Außerirdischen auf der Tonebene fortgeführt wird, während im Bild bereits eine andere Szene zu sehen ist. Das funktioniert auch umgekehrt, wenn ein Dialog bereits zu hören ist, die Personen aber noch gar nicht im Bild zu sehen sind, sondern erst nach einem verzögerten Bildschnitt. Das Sounddesign kann die Zuschauer: innen emotional durch die Hand‐ lung leiten. Wenn in »Pretty Woman« der Broker Edward Lewis, kurz nachdem ihn die schon fast »bekehrte« Prostituierte Vivian Ward verlassen hat, unruhig auf der Terrasse seiner Hotelsuite auf und ab geht, wird vielleicht noch der Song bewusst wahrgenommen und dessen Textzeile »Touch Me Now« eine gewisse Bedeutung im Handlungszusammenhang beigemessen, doch das Gewitter, das sich gleichzeitig draußen ankündigt, wird nur am Rande registriert. Als in der folgenden Szene Vivian in ihrer Wohnung von ihrer Freundin Kit De Luca Abschied nimmt, ist zu hören, wie Regen gegen die Fensterscheiben klatscht. Edward macht sich inzwischen auf den Weg zu Vivian. Er verlässt den weißen Cadillac kurz, um einen Strauß Blumen zu kaufen. Während er auf regennassem Pflaster zum Blumenstand geht, brechen die ersten Sonnenstrahlen durch, und als er 284 4 Ästhetik und Gestaltung <?page no="285"?> anschließend bei Vivian vorfährt, ist die Szenerie von einer strahlenden Sonne überflutet. Diese komplette Schlusssequenz wird auf der akustischen Ebene atmosphärisch unterstützt und führt die Zuschauer so auch emotional durch die Erzählung (vgl. dazu auch Mikos 1992, S. VII f.). Dieses Mittel wird auch im Film »Mother! « eingesetzt, wenn beim Zeugungsakt des Schriftstellers mit seiner Frau im Hintergrund Regengeräusche zu hören sind, die dem Akt etwas Bedrohliches verleihen. Der integrierte Einsatz von Geräuschen als Musik erfüllt eine genaue dramaturgische Funktion. Peter Sebastian (2006, S. 41f.) beschreibt dies ein‐ drucksvoll anhand einer Szene aus »Blue Velvet«, in der eine Kamerafahrt durch dichtes Gras, in deren Verlauf schwarze Käfer ins Bild kommen, von Klängen begleitet wird, »die offenbar aus Geräuschen gewonnen wur‐ den, die mit Insekten im weitesten Sinn in Verbindung gebracht werden können: Summen, Knistern, Kratzen« (ebd., S. 41). Ferner ist die Szene von einem tiefen Dröhnen unterlegt, das Sebastian als »eine Art Orgelpunkt« beschreibt. Die Geräusche erfüllen hier zusammen mit dem Dröhnen eine dramaturgische Funktion, sie sollen eine bedrohliche Atmosphäre schaffen. Der Einsatz konventioneller Spannungsmusik hätte im Zusammenhang mit den Käfern vermutlich eher lächerlich gewirkt. Die Sprache im Film dient nicht allein der Übermittlung von Informatio‐ nen und der Kommunikation, sondern durch Stimmlage und Sprechweise werden Figuren auch charakterisiert und Aussagen können zusätzlich be‐ wertet werden. Wenn eine Akteurin einem anderen etwas zuflüstert und die Zuschauer: innen werden nicht in das Geheimnis der beiden eingeweiht, schafft dies Distanz. Das hat vermutlich eine dramaturgische Funktion und wird im Verlauf der weiteren Handlung noch eine Rolle spielen. In den Realityshows des Fernsehens tragen die Kandidat: innen kleine Mikrofone direkt am Körper, wodurch nicht nur ihre Sprache, sondern auch alle anderen Körpergeräusche deutlich zu hören sind. In der Regel stehen die Dialoge in Filmen im Zusammenhang mit der Handlung, es sei denn, sie unterstreichen lediglich den Charakter einer Person, indem sie beispielsweise über einen freundlichen Smalltalk in der Parkanlage als sympathische Figur dargestellt werden soll. Dialoge teilen den Zuschauer: innen etwas über die sprechenden Personen mit. Sie informieren handelnde Personen über Ereignisse, an denen sie nicht beteiligt waren, oder über den Charakter von Personen, die sie so noch nicht erlebt haben. In »Terminator 2 - Judgement Day« muss John Connor seine Mutter Sarah bei der ersten Begegnung in der psychiatrischen Anstalt darüber 4.5 Ton und Sound 285 <?page no="286"?> aufklären, dass der T-800-Terminator (Arnold Schwarzenegger) nicht der Böse, sondern der Gute ist. Die Dialoge informieren auch über Ereignisse, die die Zuschauer: innen nicht im Bild gesehen haben, die aber für den Fortgang der Handlung von Bedeutung sind. Grundsätzlich muss unterschieden werden, ob die Quelle der Sprache, also die Sprecherin, im Bild zu sehen ist oder nicht. Dabei geht es weniger darum, ob bei zwei Akteur: innen, die sich in einem Raum befinden und miteinander sprechen, immer die jeweils sprechende oder zuhörende Person im Bild zu sehen ist. Bedeutsamer ist, wenn es eine Stimme außerhalb des Bildes gibt, die als Erzählerin auftritt (offscreen). Dabei kann zwischen Ich-Erzählerin und Erzählerin in der dritten Person unterschieden werden (vgl. Heiser 2014, S. 168). Eine der filmischen Konventionen ist es, zu Beginn eines Films Schrift einzublenden, die von einem Erzähler oder einer Erzähle‐ rin vorgelesen wird, oder es ist z. B. ein Grabstein mit einer Inschrift zu sehen und eine Stimme aus dem Off erzählt etwas über die Person, deren Name auf dem Grabstein steht. In »Terminator 2 - Judgement Day« führt Sarah Connor in die Geschichte ein. Sie ist die Erzählerin, aus deren Perspektive die Zuschauer: innen das Folgende erleben, auch wenn der Plot bei der Figur des Schwarzenegger-Terminators bleibt. In »300«, »Fight Club« und »Memento« ist es die subjektive Sicht der Voice-over-Erzähler, die die Narration perspektiviert (vgl. ebd., S. 312 ff.). In »Der Herr der Ringe - Die Gefährten« führt Galadriel zu Beginn des Films als Voice-over-Erzählerin in die Geschichte von Mittelerde und damit die Vorgeschichte des Films ein. Allerdings werden die drei Teile der »Herr der Ringe«-Trilogie nicht konsequent aus ihrer Perspektive erzählt, sondern auch andere Figuren sind im Verlauf der Erzählung als Voice-over-Erzähler aktiv (vgl. Mikos u. a. 2007, S. 119 ff.). In »Alles über Eva« wird zu Beginn des Films eine Preisstatuette gezeigt. Dazu erzählt eine männliche Stimme, dass dieser Preis den Zuschauer: innen möglicherweise unbekannt sei, dass er aber jährlich verliehen werde. Nach‐ dem der Erzähler noch einiges über den Preis mitgeteilt hat, sieht man ihn selbst im Bild, und er stellt sich - immer noch aus dem Off - als Addison DeWitt, Theaterkritiker, vor. Dann führt die Stimme aus dem Off, die den Zuschauer: innen nun bereits als Person bekannt ist, die Hauptperson Eve vor, um mit den Worten »Es war irgendwann im Oktober. Es war eine regnerische Nacht. Ich erinnere mich, dass ich das Taxi bat zu warten« zur eigentlichen Handlung überzuleiten. Im weiteren Verlauf des Films agiert 286 4 Ästhetik und Gestaltung <?page no="287"?> und spricht Addison DeWitt auch im Bild (onscreen). In dem Film sind einige Rückblenden mit den Stimmen handelnder Figuren aus dem Off versehen. In vielen Fällen agieren die Off-Stimmen, die zu Beginn eines Films in die Geschichte einführen, später selbst im Bild. Das ist auch der Fall in »Letztes Jahr in Marienbad«, in dem ein namenloser Mann in einer fast durchgehenden Erzählung eine junge Frau davon zu überzeugen ver‐ sucht, dass sie sich schon einmal begegnet seien. Mal spricht der Mann, während er im Bild zu sehen ist, mal ist seine Stimme nur offscreen zu hören. Hier macht die Erzählung des Mannes die eigentliche Handlung des Films aus. Die Stimme der Erzähler: innen informiert jedoch nicht nur über die Handlung oder erzählt den Rahmen der Geschichte, sie kann auch die Handlung oder die Personen kommentieren. Jean-Luc Godard hat solche kommentierenden Stimmen häufig in seinen Filmen eingesetzt. Die Voice-over-Stimme kann auch eingesetzt werden, um die innere Stimme einer Figur zu Wort kommen zu lassen (vgl. Heiser 2014, S. 297 ff.). Auf diese Weise kann die Gedanken- und Gefühlswelt der Figur den Zuschauer: in‐ nen nähergebracht werden. Im Gegensatz zu Dokumentarfilmen sind in Spielfilmen Off-Erzähler: innen, die gar nicht im Bild auftauchen, selten. In »Stadt ohne Maske« gibt es einen solchen unsichtbaren Erzähler. Zwar stellt er sich namentlich als Mark Hellinger vor, doch ist er nicht Bestandteil der folgenden sichtbaren Handlung. (vgl. Kozloff 1988, S. 82 ff.). Hellinger ist der allwissende Erzähler, den die amerikanische Filmwissenschaftlerin Sarah Kozloff auch Voice-of-God-Erzähler nennt (ebd.). Doch er ist eine reale Person, der Produzent des Films, der die Geschichte aus dem Off erzählt. Das Besondere an diesem Film ist, dass auch die handelnden Personen oft aus dem Off erzählen und Bilder kommentieren. »Stadt ohne Maske« ist ein Film, in dem die sogenannte Voice-over-Narration explizit eingesetzt wurde. Dadurch werden die Zuschauer: innen in einer Beobachterrolle positioniert. Sie können sich zu den handelnden Figuren nur über den Filter des Kommentars der Erzählerstimme in Beziehung setzen. Die Rezeption ist so anders strukturiert als in einem Film oder einer Fernsehsendung, in der nur onscreen gesprochen wird. Der Ton, Geräusche und Dialoge, stehen immer in Beziehung zu dem, was im Bild gezeigt wird. Erst das Wechselspiel von Soundeffekten und Dialogen mit Musik macht die auditive Ebene der Filme und Fernsehserien vollkommen und führt dazu die »aurale Macht des Kinos« zu verstehen (vgl. Walker 2015, S. 4). 4.5 Ton und Sound 287 <?page no="288"?> Analyseleitende Fragen • Gibt es im Film oder in der Fernsehsendung einen oder mehrere Erzähler: innen, deren Stimmen zu hören sind, die aber nicht im Bild zu sehen sind? • Handelt es sich um Ich-Erzähler: innen oder Erzähler: innen in der dritten Person? • Werden Handlung des Films oder Personen mit Off-Stimmen kom‐ mentiert? • Welche Rolle spielen die Geräusche? Unterstützen sie die Erzählung oder sind sie nur Beiwerk? • Haben die Geräusche eine eigenständige Funktion, z. B. um Orts‐ wechsel in den Szenen anzuzeigen? • Gibt es Szenen, in denen Töne oder Geräusche den Bildschnitt überlagern? • Werden Geräusche eingesetzt, um eine bestimmte Stimmung zu erzeugen? • Dienen Geräusche der Charakterisierung von Personen? 4.6 Musik Bereits die Begleitmusik zur Stummfilm-Aufführung hatte die Funktion, die emotionale Grundstimmung der gerade gezeigten Bilder zu unterstützen. Daran hat sich auch im Tonfilm nichts geändert (vgl. Heinle 1995, S. 7ff.; Lack 1997). Bedeutsam für den Plot und die Erzählung kann sein, ob die Musik‐ quelle im Bild zu sehen ist oder nicht (vgl. auch Hickethier 2012, S. 96). Dabei spielt es keine Rolle, ob in einer Bar eine Band spielt oder ob im Bild ein Radio zu sehen ist, aus dem die Musik kommt. Grundsätzlich kann Filmmusik »zumeist als funktionale Musik klassifiziert werden, d. h., sie bezieht ihren Sinn nicht nur aus musikimmanenten Beziehungen, sondern hauptsächlich aus ihrer Funktion als einer der Gestaltungsfaktoren des Films« (Bullerjahn 2019, S. 59; vgl. auch Tieber 2020, S. 99). Damit dient sie sowohl dem Inhalt und der Repräsentation, der Narration und der Dramaturgie als auch der Darstellung von Figuren und Akteuren (vgl. Phillips 2009, S. 177 ff.). Zugleich zielt sie damit auf mentale Aktivitäten der Zuschauer: innen, indem sie 288 4 Ästhetik und Gestaltung <?page no="289"?> kognitive und emotionale Prozesse unterstützt, den praktischen Sinn der Zuschauer: innen anregt oder für die soziale Aneignung von Bedeutung ist. Die Musikwissenschaftlerin Claudia Bullerjahn (2019, S. 64 ff.) unterschei‐ det zwischen Metafunktionen der Film- und Fernsehmusik und den »Funk‐ tionen im engeren Sinn« (ebd., S. 65). Letztere werden noch einmal in vier verschiedene Funktionskategorien eingeteilt, die sich immer auf einen konkreten Film beziehen: die dramaturgische, die narrative, die strukturelle und die persuasive Funktion (vgl. ebd., S. 69). Der Literaturwissenschaftler Andreas Solbach (2004) unterscheidet lediglich zwischen extradiegetischer und intradiegetischer Filmmusik, wobei Letztere die Erzählung unterstützt, während die extradiegetische Musik zur affirmativen Unterstützung von Gefühlen und zur Kommentierung der Erzählung eingesetzt werden kann. Unterstützt z. B. die Musik die Spannung in einem Film, übernimmt sie eine dramaturgische Funktion. Sie dient dann der Narration und wäre als intradiegetisch zu klassifizieren und nicht als extradiegetisch wie bei Solbach (2004, S. 15). Eine solche Funktion hat sie auch, wenn sie die seelischen Zustände einer Akteurin verdeutlicht, die z. B. gerade in melo‐ dramatischen Erinnerungen schwelgt, oder wenn sie Empfindungen wie Liebe, Leidenschaft und Trauer unterstreicht. Die Musik kann in verschiedenen Verhältnissen zum Bild stehen, wenn von »Parallelbeziehung, Ergänzungsbeziehung und Kontrastbeziehung« die Rede ist (vgl. Liu 2010, S.-169). Diese Unterscheidung spiegelt sich auch in den drei Funktionen der Filmmusik: 1)-sie kann die Handlung unterstützen, 2)-sie kann gegen die Handlung spielen, 3)-sie kann aber auch »den Subtext der Handlung herausarbeiten« (Weidinger 2011, S. 17). Letzteres ist z. B. nach Auffassung der Filmwissenschaftlerin Elsie Walker (2015, S. 5 f.) in der Eröffnungsszene von »Brokeback Mountain« der Fall, sowohl im Hinblick auf das Genre als auch auf die Narration. Narrative Funktionen übernimmt die Film- und Fernsehmusik, wenn sie die Erzählung unterstützt oder sie kontrapunktisch kommentiert, um so eine kritische oder eine ironische Distanz zu den Bildern auszudrücken. Im Sinn der Narration funktioniert sie auch, wenn durch bestimmte Musikgenres und -stile Zeitbezüge deutlich gemacht werden können. Auf diese Weise wird die Musik z. B. in »Kansas City« eingesetzt. Da die Handlung in den 1930er Jahren angesiedelt ist und zum Teil in einem Jazzclub spielt, trägt die dort gespielte Jazzmusik dazu bei, die Zeit der Handlung zu charakterisieren und bei den Zuschauer: innen entsprechende Assoziationen hervorzurufen. In der Serie »Life on Mars« dient die Musik der 1970er Jahre, insbesondere der gleichnamige Titelsong von David Bowie, dazu, die Zeit zu charakterisieren, in 4.6 Musik 289 <?page no="290"?> die die Hauptfigur Sam Tyler zurückversetzt wird. Die Musik kann auch einen Wechsel der Erzählzeit oder der erzählten Zeit ankündigen, indem z. B. der Beginn einer Rückblende durch eine andere Musik angezeigt wird. Darüber hinaus kündigen musikalische Zitate und Leitmotive wiederkehrende Hand‐ lungen an oder begleiten das Auftreten bestimmter Personen (vgl. Bullerjahn 2019, S. 88ff.; Keller 2005, S. 65ff.; Tieber 2020, S. 103). Als Beispiel sei hier an das Mundharmonika-Motiv in dem Film »Spiel mir das Lied vom Tod« erinnert, das mit dem namenlosen Akteur, der von Charles Bronson gespielt wird, verbunden ist. »Schon beim allerersten Erklingen jener berühmten drei Mundharmonika-Töne erahnt man die besondere Tragik, die aus diesen Tönen spricht - selbst, wenn man zu diesem Zeitpunkt noch keinerlei nähere Anhaltspunkte hat. Und das wird auch so bleiben. Denn ›Spiel mir das Lied vom Tod‹ […] ist das Musterbeispiel eines Rätsel-Westerns, bei dem die Auflösung erst ganz am Ende der Handlung gegeben wird. Insbesondere eine Frage steht dabei im Mittelpunkt: wer ist der namenlose Fremde mit der Mundharmonika - und was ist seine Mission? « (Keller 2005, S. 67). Die narrative Funktion der Musik ist allerdings nicht immer so deutlich wie in diesem Film. Über das Leitmotiv lernen die Zuschauer: innen bereits in der Exposition eines Films, das musikalische Motiv einem bestimmten Akteur zuzuordnen. Wenn dieses Motiv im Verlauf der Handlung wieder auftritt, erinnern sie sich daran. Auf diese Weise wird ein innerfilmisches Gedächtnis geschaffen, in das die Zuschauer: innen eingebunden werden. Ihre strukturelle Funktion erfüllt die Musik, wenn sie z. B. Schnitte betont oder einzelne Einstellungen oder Bewegungen besonders hervorhebt. Strukturelle und narrative Funktionen fallen z. B. zusammen, wenn ein spezifischer Musikstil Gewalthandlungen begleitet. Dazu wird seit den 1980er und 1990er Jahren harte Rockmusik der Stilrichtungen Heavy Metal, Death Metal, Grindcore, Grunge oder Punk benutzt. Zu Beginn des Films »Wild at Heart - Die Geschichte von Sailor und Lula« wird die Gewalttat von Sailor, wegen der er ins Gefängnis muss, von Musik der Gruppe Megadeth begleitet. In »Lost Highway« ist eine Gewaltszene mit Musik der deutschen Gruppe Rammstein unterlegt. Zu den strukturellen Funktionen zählen auch die Titel- und Nachspannmusik. Zu den persuasiven Funktionen der Film- und Fernsehmusik gehört es, die Zuschauer: innen emotional anzuregen. 290 4 Ästhetik und Gestaltung <?page no="291"?> »Aufgabe der Musik ist es nicht nur, Emotionen abzubilden, sondern auch beim Betrachter […] Identifikationsprozesse zu erwecken bzw. stimulieren. Funktion der Filmmusik soll es sein, die Distanz zum Geschehen zu mindern und die Wahrnehmung der Bilder affektiv aufzuladen« (Bullerjahn 2019, S. 72 f.). Dadurch kann die Aufmerksamkeit der Zuschauerin auch auf bestimmte Ereignisse, Gegenstände oder Personen gelenkt werden. Die Rezipienten werden so in das Geschehen auf der Leinwand oder dem Bildschirm einge‐ bunden. Durch die Titelmelodie von Serien kann z. B. bei Zuschauer: innen eine freudige Erwartung auf die neue Episode ausgelöst werden. Letztlich kann die Musik auf dieser Ebene die Zuschauer: innen durch tiefe Frequen‐ zen auch physisch überwältigen. Der Filmwissenschaftler Marcus Stiglegger hat darauf hingewiesen, dass vor allem (tiefe) Drones ein beliebtes Stilmittel in Filmen sind, da sie auf eine Körperlichkeit der Wahrnehmung zielen. Als Stilmittel der Vereinnahmung entfalten sie Klangräume, die »zu einem Kennzeichen des Außeralltäglichen, Erhabenen oder Bedrohlichen gewor‐ den sind« (Stiglegger 2021, S. 80). So können sie ihre psychophysiologische Wirkung entfalten. Bei den Metafunktionen unterscheidet Claudia Bullerjahn (2019, S. 65 ff.) zwischen rezeptionspsychologischen und ökonomischen. Diese Metafunkti‐ onen beziehen sich jedoch nicht auf einzelne Filme oder Fernsehsendungen, sondern generell auf Film und Fernsehen. Auf der rezeptionspsychologi‐ schen Ebene erfüllt Filmmusik im Kino die Funktion, ein Gemeinschaftsge‐ fühl beim Publikum zu stiften. In der Frühzeit des Kinos sollte die Musik die Störgeräusche der lauten Projektoren übertönen. Im Fernsehen dienen sogenannte Trailer mit Erkennungsmelodien des Senders oder auch der Werbung dazu, die Zuschauer: innen an den Sender zu binden sowie das Programm von der Werbung zu trennen. Eine ökonomische Funktion von Film- und Fernsehmusik ist es, die Zuschauer: innen als potenzielle Platten‐ käufer anzusprechen. Spätestens seit der Tonträgermarkt ein wichtiger Wirtschaftsfaktor der Unterhaltungsindustrie ist, spielen Songs in Filmen und Fernsehsendungen eine wichtige Rolle, die auch auf Platte, CD oder Streaming-Diensten vermarktet werden können (vgl. Mundy 1999 sowie die Beiträge in Heinze/ Niebling 2016). Das war zwar schon so mit »Wenn der weiße Flieder wieder blüht« aus dem gleichnamigen Film, doch wurde diese Funktion seit den 1950er Jahren immer wichtiger, da man mit der Einbindung von Rock- und Popmusik speziell das jugendliche Publikum ansprechen wollte (vgl. Mundy 1999, S. 82 ff.). Bedeutsam ist dabei, ob ein 4.6 Musik 291 <?page no="292"?> Song durch einen Film erst bekannt wird, wie Coolios »Gangsta’s Paradise« aus dem Film »Dangerous Minds«, oder ob ein bekannter Song in einem Film eingesetzt wird, wie Roy Orbinsons »Pretty Woman« in dem gleichnamigen Film. Zu beachten ist auch, dass die Auswahl der Musik gezielt auf eine bestimmte Zielgruppe hin erfolgen kann, wie es z. B. in den Hip-Hop-Fil‐ men »Boyz ’n the Hood«, »Brooklyn Babylon«, »Colors« oder »Notorious B.I.G.« geschieht, die in den Ghettos der Schwarzen spielen. Mit zahlreichen Elvis-Filmen sollte ein Rock ‚n‘ Roll-Publikum angesprochen werden. In der Regel werden vor allem deskriptive Szenen von Musik begleitet, z. B. Fahrten über den Highway oder Sexszenen. Allerdings kann Musik auch eine narrative Funktion haben, indem sie, wie bereits beschrieben, den emotionalen Eindruck einer Szene unterstützt oder zur Charakterisierung von Figuren herangezogen wird. Dazu zählt z. B. die Montageszene in »Drive«, in der der namenlose Fahrer mit seiner Nachbarin Irene und deren Sohn Benicio einen Ausflug macht. Die Szene ist mit dem Song »A Real Hero«, einem Elektropop-Song unterlegt. Zudem können einzelne Songs in einem inhaltlichen Verhältnis zur Handlung des Films stehen. Die Musik des Soundtracks eines Films kann aber auch eine selbständige Funktion übernehmen, indem sie zwar die Handlung oder den Subtext unterstützt, für die Zuschauer: innen aber so eng mit den Bildern des Filmes verbunden ist, dass sie nur beim Hören der Musik die Filmbilder erinnern. So eine enge Verbindung besteht beim Film »Dead Man« mit der unkonventionellen Gitarrenmusik von Neil Young (vgl. auch Walker 2015, S. 52 ff.). Die Zuschauer: innen erwerben im Verlauf ihrer Film- und Fernsehsoziali‐ sation Wissen über bestimmte Funktionen von Film- und Fernsehmusik. Sie wissen irgendwann, dass in bestimmten Genres stereotyp immer wieder die gleichen Musikstile zu hören sind. Dadurch werden in den Zuschauer: innen bereits beim Vorspann über die Musik bestimmte Erwartungen auf den Fortgang des Geschehens geweckt. »Vermutlich interagieren auditive und visuelle Modalitäten während der Wahr‐ nehmung und resultieren in einem einzigen kognitiven Effekt. Eine Filmbewer‐ tung erfolgt deshalb immer in Bezug auf die Filmgesamtheit. Einzelaspekte des Films, wie z. B. Einstellungsgrößen, aber auch Filmmusik, dringen in der Regel während des Filmerlebens nicht ins Bewusstsein, da vor allem bei narrativen Filmen das Hauptinteresse des Rezipienten auf dem Verfolgen des Fabelverlaufs liegt. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Filmmusik in affektiver und struk‐ 292 4 Ästhetik und Gestaltung <?page no="293"?> tureller Hinsicht kongruent zum Bild eingesetzt und konventionell gestaltet ist« (Bullerjahn 2019, S. 299). Dadurch wird vor allem die emotionale Aktivität der Zuschauer: innen gefördert. Sie werden über die Musik emotional - und manchmal auch physisch - durch den Film und die Fernsehsendung geleitet, wie es die Filmwissenschaftler Senta Siewert (2016) eindrucksvoll am Beispiel des Films »Trainspotting« gezeigt hat. Zugleich wird damit die Wahrnehmung von Figuren und Akteur: innen ebenso beeinflusst wie die Geschichte im Kopf der Zuschauer: innen als Folge von Narration und Dramaturgie. Analyseleitende Fragen • Welche Rolle spielt die Musik: Unterstützt sie die Erzählung oder ist sie nur Beiwerk? • Wird versucht, durch eine bestimmte Art von Musik eine bestimmte Zielgruppe anzusprechen? • Werden bekannte Popsongs eingesetzt und stehen sie im Zusam‐ menhang mit der Narration? • Wird Musik eingesetzt, um eine bestimmte Stimmung zu erzeugen? • Dient die Musik der Kommentierung von Handlungen oder Ereig‐ nissen? • In welchen Szenen wird die Musik in dramaturgischer und narrati‐ ver Funktion eingesetzt? • Gibt es eine dramatische Steigerung auf musikalischer Ebene? • Dient die Musik der Charakterisierung von Personen? • Gibt es ein musikalisches Leitmotiv, das immer wiederkehrt, und in welchen Situationen und Szenen wird es eingesetzt? 4.7 Visuelle Effekte und Spezialeffekte Der Film ist seit seinen Anfängen auch ein Medium der Illusionisten, die mit visuellen Effekten, Spezialeffekten und Tricks versuchen, den Realität‐ seindruck des Fantastischen zu optimieren. Fremde Welten, die in fernen Galaxien oder nur auf dem Mond spielen, werden so zu vorstellbaren Welten, ebenso wie zahlreiche fremde Wesen aus anderen Galaxien, aus 4.7 Visuelle Effekte und Spezialeffekte 293 <?page no="294"?> Urzeiten, aus Sümpfen und Regenwäldern oder aus der »Fabrik« verrückter Wissenschaftler als mögliche reale Schrecken erscheinen. Bereits zu Beginn der Geschichte des Films trat der »Fantast« Georges Méliès als Antipode zu den »Dokumentaristen«, den Brüdern Lumière in Erscheinung. Mit zahlreichen Tricks schuf Méliès bereits 1902 den viel beachteten Film »Die Reise zum Mond«. Grundsätzlich muss zwischen visuellen Effekten (VFX = lautmalerische Abkürzung für visual effects) und Spezialeffekten (SFX = special effects) un‐ terschieden werden. Visuelle Effekte dienen im Allgemeinen der Steigerung des Attraktions- und Schauwerts eines Films. Der Einsatz einer wackeligen Handkamera zur Erzeugung von Authentizität kann als visueller Effekt be‐ zeichnet werden. Diese Effekte können sich als Bestandteil der diegetischen Welt in die Narration einfügen, sie können aber auch aus ihr heraustreten, um sich selbst auszustellen. Letzteres wird vor allem im Zusammenhang mit am Computer generierten Bildern (CGI = computer-generated image) diskutiert (vgl. Denson 2020, S. 56ff.; Kim 2018, S. 99ff.; McClean 2007, S. 85 ff.). Der Film und Medienwissenschaftler Shane Denson (2020) spricht gar von »Diskorrelation der Bilder«. Mit den Spezialeffekten soll die Attraktion und der Schauwert eines Films weiter gesteigert werden (vgl. North 2008, S. 6 ff.). Sacha Bertram (2005, S. 27) zählt die Spezialeffekte zu den »praktischen Effekten«, »die am Set geschehen und von der Kamera aufgezeichnet werden«. Doch insbesondere mit der Digitalisierung ist es möglich, Spezialeffekte erst in der Postproduk‐ tion mit Hilfe verschiedener Software-Tools am Computer zu generieren (vgl. Apodaca/ Gritz 2000; Kim 2018). Spezialeffekte machen einen Film zu einer Attraktion, die Zuschauer: innen ins Kino zieht. Neue Action- oder Science-Fiction-Filme werden häufig mit den besonderen Effekten beworben, die in so einmaliger Weise noch nie zu bewundern gewesen seien. Dazu tragen auch Berichte über die Dreharbeiten bei. Spezialeffekte machen die Filme in diesem Sinn zu einem Attraktionskino, das dem klassischen Erzählkino, in dem es um die Darstellung einer Erzählung geht, gegenübersteht (vgl. Kessler 1993; King 2000). Grundsätzlich kann man zwischen vier Arten von Spezialeffekten unter‐ scheiden: • Effekte, die in das Geschehen vor der Kamera eingreifen • Effekte, die bei der Aufnahme entstehen 294 4 Ästhetik und Gestaltung <?page no="295"?> Abb. 53: »The Walking Dead« • Effekte, die durch die nachträgliche Bearbeitung des Filmmaterials entstehen • Effekte, die bei der Projektion entstehen Zu den Effekten, die in das Geschehen vor der Kamera eingreifen, zählen pyrotechnische Tricks wie grandiose Explosionen. So zu sehen beispielsweise in »Independence Day«: Außerirdische schießen Hochhäuser in Brand und sprengen das Weiße Haus in die Luft. Hierfür braucht man Modelle, denn natürlich wurde anstelle des »echten« Weißen Hauses in Washington ein Miniaturmodell zerstört. Nicht nur Gebäude und Objekte werden nach Bedarf in Modellform angefertigt, sondern auch Monster und Mutanten wie King Kong, Saurier und Aliens aller Art, die die Film- und Fernsehgeschichte bevölkern. Bei den Effekten vor der Kamera spielen Stunts eine wichtige Rolle (vgl. Haslaman 2002). In »Eraser« sieht es so aus, als würde Arnold Schwarzenegger im freien Fall aus einem Flugzeug heraus seinen davon‐ fliegenden Fallschirm noch erwischen und in die Tragegurte schlüpfen. Die Maske, mit der Schauspieler geschminkt und verwandelt werden, ist ebenfalls ein wichtiges Element der Spezialeffekte (vgl. Davis/ Hall 2018, S. 205ff.). So werden die verschiedenen Wesen der interstellaren Welt in der Fernsehserie »Raumschiff Enterprise« oder den »Star Wars«-Filmen geschaffen, das verbrannte Gesicht des Grafen Laszlo Almasy in »Der englische Patient« oder die Antlitze der Zombies in »The Walking Dead« (vgl. Abb. 53). Nicht zu verwechseln mit den Masken, die eingesetzt werden, um Teile des Filmmaterials bei der Belichtung abzudecken. Später können diese abgedeckten Teile mit anderen Aufnahmen kombiniert werden. Mit diesem Verfahren wird z. B. das vorbeifliegende Weltall, das man durch eine Sichtluke des Raumschiffes sieht, hergestellt. Die Rückprojektion ist ein wei‐ terer Spezialeffekt. Hier wird mit einem Projektor ein Film auf eine Leinwand projiziert, die sich hinter den von der Kamera aufgenomme‐ nen Figuren befindet. Während die Akteur: innen z. B. in einem im Stu‐ dio stehenden Auto frontal gefilmt werden, läuft im Hintergrund auf der Leinwand die Projektion einer 4.7 Visuelle Effekte und Spezialeffekte 295 <?page no="296"?> Straße, auf der das Auto sich vermeintlich durch eine Landschaft bewegt: So entsteht der Eindruck, dass die Personen in ihrem Wagen durch die Gegend fahren. Aufgrund der technischen Möglichkeiten, die mit der digitalisierten Bildkomposition gegeben sind, wird das Verfahren der Rückprojektion al‐ lerdings kaum noch angewendet. Ähnlich arbeitet das Schüfftan-Verfahren, bei dem durch eine besondere Spiegelkonstruktion die Kombination von realen, vor der Kamera agierenden Personen und gebauten Miniaturmodel‐ len, die im Film in »normaler« Größe erscheinen, möglich wird. Die Digi‐ talisierung macht auch dieses klassische Verfahren, das von dem Kamera‐ mann Eugen Schüfftan entwickelt worden war (vgl. Flückiger 2008, S. 199; North 2008, S. 77) und beispielsweise in »Metropolis« für die Spezialeffekte sorgte, inzwischen weitgehend überflüssig. Einer der Effekte, die bei der Aufnahme entstehen, ist die Doppelbelichtung, bei der das Filmmaterial zweifach belichtet wird. Dieses Verfahren wurde häufig eingesetzt, um z. B. Gespenster durch nur schwach von Kerzenlicht erhellte Spukschlösser huschen zu lassen. Bei der Mehrfachbelichtung wird das Filmmaterial mehrmals belichtet. Mithilfe dieses Effektes wurde z. B. die Darstellung von Halluzinationen während des Drogenrausches einer Akteurin erzeugt (vgl. auch Kauz/ Weibel 2021, S. 126ff.). Beide Verfahren, die Doppel- und Mehrfachbelichtung, sind heute unüblich, da es dank der computerisierten, digitalisierten Postproduktion andere Möglichkeiten gibt, die gewünschten Effekte zu erzielen. Bei dem sogenannten Stop-Motion-Ver‐ fahren oder Stop-Trick wird die Kamera beim Drehen angehalten, sodass die Positionen der Personen oder Objekte vor der Kamera verändert werden können, bevor das nächste Bild belichtet wird (vgl. North 2008, S. 66 f.). In der Frühzeit des Films ließ man auf diese Weise z. B. Personen verschwinden. Georges Méliès verwandelte mit diesem Trick eine Frau in ein Skelett. Modelle von Monstern werden in Bewegung versetzt, indem ihre sich verändernden Gliedmaßen einzeln Bild für Bild animiert werden. Das war schon bei »King Kong« so, und auch bei »Jurassic Park« wurde der gewaltige Tyrannosaurus Rex mit diesem Verfahren animiert. Der Stop-Trick ist auch die Grundlage für die Animations- und Zeichentrickfilme, bei denen jedes einzelne Bild animiert bzw. gezeichnet wird. Mithilfe des Computers wurde aus dem Stop-Motion-Verfahren das Go-Motion-Verfahren entwickelt, bei dem das Stop-Motion-Modell von einem Computer gesteuert in leichte Bewegung versetzt wird. Zu den visuellen Effekten, die während der Auf‐ nahme erzielt werden, gehört auch die Handkamera, die den Bildern den statischen Charakter nimmt und dadurch eine besondere Dynamik erzeugt 296 4 Ästhetik und Gestaltung <?page no="297"?> (vgl. Kapitel II.4.1). Außerdem ist diese Technik in Fernsehreportagen und -berichten zu einem beliebten Mittel nicht nur der Kriegsberichterstattung, sondern auch der Sozialreportage geworden. Zu den Effekten, die bei der Aufnahme entstehen, zählen auch alle Arten von technischen Hilfsmitteln, die die Kamera beweglich machen wie Kräne, Schienenwagen etc., sowie die computergesteuerte Kamera, die sich auf exakt vorausberechneten Bahnen bewegt. In »Krieg der Sterne« wurde erstmals eine Motion-Control-Kamera eingesetzt, mit der die Flugbewegungen der statischen Raumschiffmodelle simuliert werden konnten. Bei den Effekten, die durch nachträgliche Bearbeitung des Bildmaterials in der Postproduktion entstehen, bedienen sich die Filmemacher: innen verschiedener technischer Hilfsmittel wie z. B. der optischen Bank. Dazu werden ein oder mehrere Projektoren und eine Filmkamera auf eine Schiene montiert, die synchron pro Einzelbild arbeiten. Damit lassen sich z. B. Masken mit Realaufnahmen verbinden, Überblendungen werden ebenso möglich wie Formatwechsel oder die Verzerrung von Bildern. Inzwischen wird das Verfahren immer weniger angewendet, da die digitalisierte Post‐ produktion alle Möglichkeiten der optischen Bank bietet. Vor allem das Digital Compositing ermöglicht das Zusammenfügen von verschiedenen Bildern oder Bildelementen, die aus unterschiedlichen Filmen stammen können (vgl. Flückiger 2008, S. 191 ff.; Richter 2008, S. 76 f.). So lassen sich z. B. dokumentarische Szenen mit fiktionalen, inszenierten Bildern kombinieren. Das wurde in »Forrest Gump« gemacht, wo der von Tom Hanks gespielte Held einige amerikanische Präsidenten trifft. Auf diese Weise lassen sich auch Zeichentrickszenen mit Realaufnahmen kombinieren, wie es in »Fal‐ sches Spiel mit Roger Rabbit« oder »Space Jam« zu sehen ist, in denen Schauspieler zusammen mit Cartoon-Figuren agieren. Auf die Spitze getrieben wird diese Entwicklung durch die Kombination von Realaufnahmen und computeranimierten Bildern, z. B. in »Jurassic Park«, »Matrix Resurrections« oder »Independence Day«. Hierzu gehört auch das Kombinieren von realen Moderator: innen und virtuellen Studios, wie in zahlreichen Fernsehsendungen beobachtet werden kann. In »Der Herr der Ringe« wurden die Massenszenen in den Schlachten erst nach‐ träglich am Computer generiert. Um diese Massenkampfszenen mit Zehn‐ tausenden von einzelnen Kriegern möglichst realitätsnah umzusetzen, bedurfte es des Einsatzes computeranimierter Figuren. Doch die Schlacht‐ szenen in der »Herr der Ringe«-Trilogie waren für eine Einzelanimation jeder Figur viel zu komplex. Ein übliches Verfahren besteht darin, für 4.7 Visuelle Effekte und Spezialeffekte 297 <?page no="298"?> einige wenige Modelle Bewegungsabläufe zu erstellen und diese dann mehrfach zu verwenden. Dies führt aber unweigerlich zu großflächigen Regelmäßigkeiten in den Truppenbewegungen, die dann die Realitätsillu‐ sion zerstören, weil die Effekte aus dem Fluss der Narration heraustreten. Stephen Regelous, damals technischer Leiter von Weta Digital, begann bereits 1996 mit der Programmierung einer revolutionären Massenanima‐ tionssoftware namens MASSIVE (Multiple Agent Simulation System In Virtual Environment). Die Software ist in der Lage, diverse Bewegungs‐ abläufe automatisiert so umzusetzen, dass sie realistisch wirken. Prinzip dieser Software ist es nicht, aufwendige Einzelanimationen herzustellen, sondern sogenannte Agenten zu erschaffen, die in Interaktion mit ihrer virtuellen Umgebung agieren (vgl. zu den Features von MASSIVE-3 auch Mayer/ Halassek 2008; zur Verwendung in »Der Herr der Ringe« auch Mikos u.-a. 2007, S. 101 f.). Mithilfe des Motion-Capture-Verfahrens (vgl. Bertram 2005, S. 54 ff.; Flü‐ ckiger 2008, S. 145 ff., Richter 2008, S. 134 ff.) wurden unzählige Bewegungs‐ abläufe von Schauspielern und Stunt-Experten aufgezeichnet: Gehzyklen für verschiedene Steigungen, der Griff zum Schwert, Ducken oder ein ausweichender Schritt zurück, eine Leiter erklettern, den Feind suchen, angreifen usw. Dabei geht es um Körper- und Gesichtsanimationen, wie Barbara Flückiger (2008, S. 443 ff.) am Beispiel der Figur Gollum aus der »Herr der Ringe«-Trilogie gezeigt hat. Jedem Agenten können so bis zu 350 einzelne Bewegungsabläufe zugeordnet werden. Um der einzelnen Figur individuelle Wesenszüge zu verleihen, erhält jeder Agent ein Set von bis zu 8000 Verhaltensknoten. Je nach Situation und Figur kann diese ihre Umgebung sehen, hören oder tasten und aus einem Pool von Aktionen eine der Situation angemessene aussuchen. Die Agenten haben drei Sin‐ nesfunktionen: sie können hören, sehen und tasten, d. h., sie können in Realzeit auf andere Figuren und ihre Umgebung reagieren (vgl. Thompson 2006, S. 294). Die Bewertung der aktuellen Lage sowie die Entscheidung für eine Aktion beruht auf Fuzzy Logic. Dieses Verfahren unterstützt nicht nur einfache Wahr-/ Falsch-Situationen, sondern auch Zwischenzustände wie »etwas gefährlich«, »ziemlich weit weg« oder »sehr laut«. Diese Ver‐ haltensknoten kann die Animatorin mittels eines grafischen Netzdiagramms erstellen. Selbst physikalische Eigenschaften wie Größe und Kraft oder Art der Kleidung werden von MASSIVE mit einkalkuliert. Masse und Trägheit der Figuren und sogar der Faltenwurf ihrer Kleidung werden somit im Animationsprozess angepasst. Ist das virtuelle 3D-Terrain entwickelt 298 4 Ästhetik und Gestaltung <?page no="299"?> und sind die Agenten platziert, beginnt der autonome Animationsprozess, in den die Animatorin nicht mehr eingreifen kann. Bei Unstimmigkeiten müssen die Parameter für die Agenten neu gesetzt werden. Spezifische Einzelaktionen und Stunts von sogenannten Heros werden im Vorfeld choreografiert, aufgezeichnet und in die Gesamtszenerie eingesetzt. Diese können aus einzelnen Akteur: innen bestehen oder Gruppenaktionen sein, die ein in sich stimmiges Bild von Interaktionen bieten. Die Computeranimation als ein weiteres Verfahren, mit dem Spezialef‐ fekte erzeugt werden, enthält aufgrund der immer größeren Leistungsfä‐ higkeit der Rechner einen immer größeren Stellenwert. »Toy Story« war der erste komplett per Computer erstellte Spielfilm der Filmgeschichte. Seine Herstellung dauerte fast fünf Jahre. Vor »Toy Story« waren ledig‐ lich einzelne Szenen oder Bilder im Computer entstanden, die dann in die Realaufnahmen des Films einmontiert wurden (vgl. dazu auch Baker 1993; Mikos 1995, S. 310 ff.). Mithilfe der Computeranimation wurden lediglich die ästhetischen Qualitäten von Filmen verfeinert, bevor dann in den 1980er Jahren auch eine eigene ästhetische Qualität entstand. In Filmen wie »Terminator 2 - Judgement Day« oder »Abyss« wurde das Morphing-Verfahren eingesetzt, bei dem sich Personen und Objekte dank der Software sukzessive in andere Personen und Objekte verwandeln (vgl. Duncan 2006, S.-126ff.; McLean 2007, S. 61 ff.; Pierson 2002, S.-124f.; Vaz/ Duignan 1996, S. 200ff.; Whissel 2014, S. 151ff.), wie z. B. der T-1000 im »Terminator«-Film (vgl. Abb. 54). In der Fernsehwerbung nutzt man diese Möglichkeit der Verwandlung auch gern. Die Faszination des Verfahrens besteht u. a. darin, dass die Grenzen der personalen Identität der Filmfigu‐ ren fließend werden. Für die Zuschauer: innen entsteht daraus Spannung, da nicht mehr sicher ist, hinter welcher äußeren Form sich ein als gut oder böse eingeführter Charakter verbirgt. Zahlreiche Fantasy-Serien im Fernsehen wie »Herkules« oder »Xena« spielen mit diesem Effekt. Darüber hinaus lassen sich am Computer natürlich auch die räumlichen und zeitlichen Grenzen von Realaufnahmen überschreiten, indem Grö‐ ßenverhältnisse von Personen und Objekten variiert werden, sodass z.-B. der Eindruck von Vorder- und Hintergrund verwischt. Zugleich lassen sich grafische Elemente in die Realaufnahmen kopieren. In zahlreichen Musikvideos ist dies ein gängiges Verfahren. 4.7 Visuelle Effekte und Spezialeffekte 299 <?page no="300"?> Abb. 54: »Terminator 2 - Judgement Day« Effekte, die bei der Projektion er‐ zielt werden, waren in der Frühzeit des Films an der Tagesordnung. Der einfachste war, zwei Projekto‐ ren synchron oder asynchron lau‐ fen zu lassen und so zwei Bilder gleichzeitig auf eine Leinwand zu projizieren. Zu den Projektions‐ tricks gehören die sogenannten Breitwandverfahren, bei denen das Seiten-Höhen-Verhältnis gegen‐ über dem Normalfilm verändert ist (vgl. Wollen 1993). Beim Cinerama-Verfahren, das erstmals in den 1950er Jahren eingesetzt wurde, werden drei Filme parallel auf einer gebogenen Leinwand vorgeführt. Dadurch entsteht der Eindruck von Dreidimensiona‐ lität. Ebenfalls in den 1950er Jahren entstand das Cinemascope-Verfahren, das im Gegensatz zum Cinerama-Verfahren auch noch heute eingesetzt wird. Dabei wird mithilfe einer Speziallinse das breite Bild auf 35 mm aufgenom‐ men und bei der Vorführung mit einer Optik wieder anamorphisch entzerrt. Ein weiteres Breitwandverfahren ist das IMAX, bei dem versucht wird, die Qualitäten des großen Cinerama-Bildes auf einem einzigen Filmstreifen zu vereinen. Das IMAX-Bild ist damit dreimal so groß wie das normale 70-mm-Bild oder zehnmal so groß wie das normale 35-mm-Bild (vgl. Rother 1996). Dadurch wird die Bildqualität enorm verfeinert und die Erlebnisin‐ tensität der Zuschauer: innen gesteigert. Zu den Projektionseffekten gehören natürlich auch der Stereoton und das Dolby-Surround-Verfahren (auch Dolby Atmos genannt), bei dem mit mehreren Tonkanälen gearbeitet wird und die Wiedergabe durch Lautsprecher hinter der Leinwand und im Zuschauer‐ raum erfolgt. Dadurch ist es z. B. möglich, ein Hörerlebnis zu erreichen, bei dem ein Pferd von rechts hinten nach vorne links galoppiert oder ein Dü‐ senjet in der gleichen Richtung vermeintlich über die Köpfe der Kinobesu‐ cher hinwegdonnert. Diese Technik wird auch für das heimische Wohnzim‐ mer angeboten. - Funktionen der Spezialeffekte Grundsätzlich zielen alle Effekte darauf ab, die Erlebnisintensität der Zu‐ schauer: innen zu steigern, indem der sinnliche Realitätseindruck - vor allem 300 4 Ästhetik und Gestaltung <?page no="301"?> Abb. 55: »The Shining« optisch und auditiv - erhöht wird. Ein Film wie »Mad Max - Fury Road« steigert die Erlebnisqualität durch eine hohe Anzahl und Frequenz von visuellen Effekten und Spezialeffekten, die dank der Montage zu einem furiosen Spektakel für die Zuschauer: innen werden und die Handlung in den Hintergrund treten lassen. Die Effekte können aber auch eingesetzt werden, um Realitätseindrücke parodistisch auf die Spitze zu treiben. Die Effekte spielen mit dem Wissen und den kognitiven Fähigkeiten der Zuschauer: in‐ nen, sich mögliche Welten vorzustellen - und diese möglichen Welten sind erzählte Welten, deren Glaubwürdigkeit und Eindrucksintensität unter anderem von den narrativen, rhetorischen und ästhetischen Fähigkeiten der Erzählerin abhängen. Zugleich leben sie von der Fähigkeit der Zuschauer: in‐ nen, Verbindungen zwischen einzelnen Filmbildern herzustellen, gesehene einzelne Einstellungen kausal miteinander zu verknüpfen. Dabei ist das Wissen der Zuschauer: innen doppelt bestimmt. Wenn im Film z. B. eine Leiche zu sehen ist, in deren Brust noch ein riesiges Messer steckt, dann sind die Zuschauer: innen einerseits in der Lage, dies als Schlüsselhinweis im Rahmen des Plots für die Geschichte zu sehen und messerscharf zu schlie‐ ßen, dass die betreffende Person offenbar erstochen wurde. Dabei spielt auch wieder das allgemeine Weltwissen eine Rolle, zu dem es gehört, zu wissen, dass man mit Messern Menschen erstechen kann. Andererseits wissen sie aber auch, dass es sich lediglich um eine fiktionale Geschichte handelt, in der ein lebender Schauspieler am Boden liegt und so tut, als sei er tot, die Maskenbildner jede Menge rote Farbe verteilt haben und lediglich ein Messerschaft auf die Brust des sich tot stellenden Schauspielers geheftet wurde. Das sogenannte Fiktionsbewusstsein als Teil der erlernten Film- und Fernsehkompetenz ist immer vorhanden (vgl. dazu auch Mikos 2001, S. 108 f.). Visuelle Effekte und Spezialef‐ fekte können nicht nur die Erleb‐ nisintensität eines Films steigern, sie können auch die Zuschauer: in‐ nen auf Distanz halten, indem sie auf ihr Fiktionsbewusstsein ver‐ wiesen werden. Das geschieht z. B. mit der Übertreibung von Effek‐ ten. So wird zugleich eine distanz‐ iertere Haltung zum Geschehen auf der Leinwand oder dem Bild‐ schirm hervorgerufen, der Realität‐ 4.7 Visuelle Effekte und Spezialeffekte 301 <?page no="302"?> seindruck wird damit relativiert. Auch die sogenannte »kaleidoskopische Wahrnehmung«, die durch Spezialeffekte hervorgerufen wird (Bukatman 2003, S. 111 ff.), ruft eher eine Distanz zum Geschehen auf der Leinwand hervor. Wenn in Horrorfilmen wie »Braindead« oder »The Shining« eine Unmenge Blut vergossen wird, das sich literweise über alles ergießt, mögen sich manche Zuschauer zwar davor ekeln und andere darüber amüsieren, aber glaubwürdig und realistisch wirkt das nicht mehr (vgl. Abb. 55). Viele Horrorfilme leben von solchen parodistischen Elementen, die selbstreflexiv auf das eigene Genre verweisen. Damit eröffnen sie Möglichkeiten für die kommunikative Aneignung der Filme. Gerade die Machart von Spezialeffekten weist über das konkrete Film‐ erlebnis hinaus auf die soziale Aneignung (vgl. Weber 2015, S. 129 ff.). Insbesondere in Fankreisen wird viel darüber diskutiert, wie bestimmte Ef‐ fekte erzielt wurden. Fans haben ein besonderes Wissen von der technischen Machart der Filme (vgl. Hills 2002, S. 65 ff.). Für sie besitzen die Spezialeffekte einen filmischen Eigenwert, der nicht nur gleichberechtigt neben anderen Werten wie spannende Geschichte, coole Schauspieler: innen etc. steht, sondern wichtiger als diese anderen Werte sein kann. Das Wissen um die Inszeniertheit und die Entwicklung der Spezialeffekte lindert das Vergnügen an den Filmen keineswegs, sondern steigert es noch. Fanzeitschriften zu Horror- und Science-Fiction-Filmen ebenso wie Making-ofs der Filme auf DVD, Blu-Ray oder YouTube sind voll von Berichten, in denen genau geschildert wird, wie die Maskenbildner, Stuntleute, Computeranimateure und andere Spezialisten gearbeitet haben (vgl. Winter 2010, S. 234 ff.). Im Detail wird der Bau der Masken oder der Monster- und Alienmodelle beschrieben, Bauanleitungen werden gegeben und Wettbewerbe um die schönsten selbstgefertigten Masken veranstaltet. In diesen Fanzines zeigt sich die Kreativität der Fans, die Filme mit Spezialeffekten nicht einfach nur passiv konsumieren, sondern sie sich im Konsum aktiv aneignen. In Genres wie Horror-, Science-Fiction-, Actionfilm oder Thriller werden Spezialeffekte aller Art auch zur Erzeugung von Schockbildern eingesetzt. Da werden vermeintliche Leichenteile in Nah- oder Großaufnahmen ge‐ zeigt, es spritzt vermeintliches Blut in großer Menge. Kleine, eklige We‐ sen Schlüpfen aus Menschenkörpern wie in »Alien«, oder außerirdische Kichermännchen mähen mit ihren merkwürdigen Strahlenwaffen ganze Menschenparlamente nieder, die zu bunten Skeletten werden wie in »Mars Attacks! «. In »Das Schweigen der Lämmer« hängt ein vom Serienmörder Hannibal Lecter umgebrachter Wachmann blutverschmiert wie Jesus am 302 4 Ästhetik und Gestaltung <?page no="303"?> Kreuz an einem Käfig, während Lecter selbst mit der vermeintlich abge‐ schnittenen Gesichtshaut des Mannes in einem Notarztwagen liegt. Derselbe Lecter schneidet im Film »Hannibal« einer Figur den Schädel auf, um das Gehirn zu entnehmen und zu braten. Das Beispiel einer Szene in »Der andalusische Hund«, in der mit einem Rasiermesser durch das Auge einer jungen Frau geschnitten wird, zeigt, dass solche Schockbilder nicht auf die oben genannten Genres beschränkt bleiben, sondern auch in anderen Filmen zu finden sind, wie in diesem experimentellen, surrealistischen Stummfilm, den der Regisseur Luis Buñuel gemeinsam mit dem Maler Salvador Dalí inszenierte. Schockbilder sollen die Aufmerksamkeit der Zuschauer: innen auf sich ziehen. Das tun sie aber offenbar nicht nur, »weil sie Schreckliches oder Entsetzliches präsentieren, sondern weil sie nicht in die fortlaufende Erzählung zu passen scheinen« (Wulff 1985, S. 55 f.). Zwar sind sie in den Erzählkontext eingebettet, haben aber nicht den selbstverständlichen Abbildcharakter wie die anderen Bilder, die den Erzählfluss bestimmen. Schockbilder haben eher den Charakter von Gemälden: genau gestaltete Bilder mit einem offenbar schrecklichen Inhalt. Sie zeigen den Zuschauer: in‐ nen etwas, indem sie auf das Besondere des Schreckens hinweisen. In dem Beispiel aus »Das Schweigen der Lämmer« geht es nicht so sehr darum, die grausam zugerichtete Leiche als Abbild zu zeigen, sondern mit dieser Inszenierung einer Kreuzigung wird auf die besondere Grausamkeit von Hannibal Lecter hingewiesen. Schockbilder stehen so in der Regel nicht für sich selbst, sondern verweisen auf jemanden oder etwas. Die digitalen Möglichkeiten in der Film- und Fernsehproduktion haben neue Varianten von Filmen entstehen lassen, z. B. sogenannte »Virtual History«-Filme, in denen altes dokumentarisches Material verwendet wird, das mit neu gedrehtem kombiniert wird. Das neue Material wird dann mithilfe von digitalen Filtern auf alt getrimmt. In dem Film »Virtual History: The Secret Plot to Kill Hitler« wurden zum Beispiel auf der Basis von historischen Dokumentaraufnahmen computergenerierte Bilder von den Gesichtern Hitlers, Stalins, Churchills und Roosevelts erstellt, die auf Schauspieler kopiert wurden. Fehlendes Bildmaterial wurde mithilfe der Computeranimation »regeneriert«. Diese Bilder sollen die Authentizität des Inhalts und der Repräsentation des Films belegen (vgl. Ebbrecht 2007, S. 47). Eine Analyse der Spezialeffekte arbeitet in besonderer Weise die Insze‐ niertheit von Filmen heraus. Dabei legt sie offen, mit welchen filmischen, televisuellen und digitalen Tricks einerseits ein Realitätseindruck erzeugt wird und Zuschauer: innen kognitiv und emotional sowie mit ihrem prakti‐ 4.7 Visuelle Effekte und Spezialeffekte 303 <?page no="304"?> schen Sinn eingebunden werden. Andererseits wird aber auch deutlich, wie die Zuschauer: innen mit Tricks und Effekten auf Distanz gehalten werden, indem ihr Fiktionsbewusstsein aktiviert wird. Die computergenerierten Bilder ermöglichen neue Inszenierungsweisen, die sowohl die Gestaltung der Figuren und der Landschaft als auch die Effekte von Kamera, Montage und Licht betreffen. Analyseleitende Fragen • Gibt es in dem untersuchten Film Schockbilder, die die Aufmerk‐ samkeit der Zuschauer: innen auf sich ziehen? Wenn ja, wie sind sie gestaltet? • Gibt es Vorbilder in anderen medialen Darstellungen, z. B. in der bildenden Kunst? Welche Funktion haben sie? • Gibt es Szenen, in denen die Effekte und Tricks offensichtlich sind? Wenn ja, welchen Einfluss hat das auf die Wirkung der Effekte und das Verstehen des Films? • Lassen sich bestimmte Effekte in einem Film mit früheren Filmen und dem damaligen Entwicklungsstand der Tricktechnik verglei‐ chen? • Dienen die eingesetzten Spezialeffekte der Charakterisierung von Personen oder sind sie der Handlung und der Erzählung funktional zugeordnet? • Lassen sich computergenerierte Bilder erkennen? • Werden computergenerierte Aufnahmen mit Realaufnahmen ver‐ mischt und welchen Zwecken dient dies? • Welchen Realitätseindruck erzeugen die Spezialeffekte? Ist z.-B. die Illusion einer fremden Welt perfekt oder ist sie gebrochen? 4.8 3D-Ästhetik Seit im Jahr 2009 der Film »Avatar - Aufbruch nach Pandora« in die Kinos kam, erlebte der 3D-Film eine Renaissance. Einer der Gründe dafür war, dass mit den neuen digitalen Möglichkeiten Herstellung und Projek‐ tion von 3D-Filmen in einem anderen Maß möglich wurden als bei der 3D-Film-Welle in den 1950er Jahren (vgl. zur Geschichte der 3D-Filme 304 4 Ästhetik und Gestaltung <?page no="305"?> Jockenhövel 2014, S. 47 ff.; Klippel/ Krautkrämer 2012; Liu 2018, S. 11ff.; Wegener u. a. 2012, S. 21 ff.). Unabhängig von den jeweiligen technischen Verfahren geht es besonders um den 3D-Eindruck bei den Zuschauer: innen. Digital hergestellte stereoskopische 3D-Bilder können nicht einfach nur als eine spezielle Form der Spezialeffekte und der Attraktion gesehen werden, sondern sind untrennbar mit der Narration verbunden, auch wenn sie als »optische Immersionstechnik« in einer gewissen Spannung zur Narration steht (vgl. Maeder/ Schröter 2021, S. 557). Der Filmwissenschaftler Jan Distelmeyer (2012, S. 32) geht davon aus, dass digitale 3D-Bilder »als eine neue Grundform des Kinos verstanden« werden müssen, sodass bei Spielfilmen eine Unterscheidung »zwischen Attraktionen bzw. Sensationen und dem, was wir diesen Elementen als Narration oder Diegese traditionell entgegenstellen« (ebd., S. 33), überflüssig wird. 3D kann daher eher als ein spezifisches stilistisches Mittel des Films gesehen werden (vgl. Beil u. a. 2012, S. 335; Jockenhövel 2014, S. 95 ff. sowie die Beiträge zu verschiedenen Filmen in Spöhrer 2016), mit dem eine besondere filmische Immersion für die Zuschauer: innen geschaffen wird. Die stereoskopischen Bilder des 3D-Films verstärken vor allem die räum‐ liche Vorstellung. Sie vermitteln den Eindruck einer größeren räumlichen Tiefe. Das kann durch die proportionale Anordnung der Objekte und Figuren im Bild geschehen. Allerdings gelingt dies nur, wenn die bereits aus der Zentralperspektive bekannten Fluchtlinien eingehalten werden. Im Anschluss an Bernard Mendiburu (2009) spricht der Medienwissenschaftler Jesko Jockenhövel (2014, S. 96) von einer »comfort zone«, die nahe der Bild‐ mitte liegt. Auf diesen Bereich ist die Aufmerksamkeit der Zuschauer: innen fokussiert. Deshalb besteht im 3D-Film die »Tendenz, Einstellungen mit starker Betonung der Fluchtlinien bei dramaturgischen Höhepunkten zu verwenden« (ebd., S. 94). Die Objekte und Personen, die für die Narration bzw. die Diegese von Bedeutung sind, werden daher in der Bildmitte inszeniert. Dies ist auch für die sogenannten fliegenden Objekte wichtig, die nach Auffassung des Medienwissenschaftlers Stephan Günzel (2012, S. 93) »der Tiefenschichtung des Bildes eine Sichtbarkeit verleihen«. Das trifft sicher auf zahlreiche 3D-Filme zu, hat aber nicht in allen Filmen eine Bedeutung. Objekte fliegen nicht nur, sondern ragen aus der Leinwand in den Zuschauerraum hinein und werden als besondere Plastizität wahr‐ genommen. So wähnen sich die Zuschauer: innen im Film »Metallica - Through the Never« mitten auf der Bühne und sind versucht, den Bass- und Gitarrenhälsen auszuweichen, die für sie zum Greifen nahe sind. Diese 4.8 3D-Ästhetik 305 <?page no="306"?> Plastizität von Objekten und Personen ist ein wesentliches Merkmal der Ästhetik des 3D-Films. Das stereoskopische 3D-Bild bietet verschiedene Möglichkeiten, diesen Eindruck zu erwecken: »Neben der Platzierung der Figuren im Raum kann der Raum selber gedehnt oder verkleinert oder die Figuren plastischer oder flacher gestaltet und auch so der Wahrnehmungsprozess beeinflusst werden. Die Figuren werden in Zusammen‐ hang zum Raum gesetzt. Beide wiederum - Raum und Figur - beeinflussen, wie sich der Zuschauer zu der Figur positioniert« ( Jockenhövel 2014, S. 98). Der 3D-Effekt macht sich daher vor allem in der Mise en Scène der Filme bemerkbar, da er Räumlichkeit, Tiefe und Plastizität betont (vgl. Distelmeyer 2012, S. 39; Higgins 2012, S. 198). Zugleich erscheinen die Objekte und Personen schärfer, weil »bei digitalen 3D-Kameras ein größerer Bereich des Bildes scharf erscheint als bei einer 35 mm-Kamera« ( Jockenhövel 2014, S. 103). Die Zuschauer: innen müssen aber in der Lage sein, die Tiefeninformati‐ onen des 3D-Bildes wahrzunehmen. Um dies zu ermöglichen werden in vielen 3D-Filmen wie »Avatar-- Aufbruch nach Pandora«, »Die Abenteuer von Tim und Struppi«, »Guardians of the Galaxy« und anderen Filmen des Marvel Cinematic Universe oder die Filme der »Hobbit«-Reihe Einstel‐ lungen mit langen Kamerafahrten verwendet (vgl. ebd., S. 106). Ruhigere Szenen mit geringer Schnittfrequenz ermöglichen den Zuschauer: innen ei‐ nen genauen Blick in die Tiefe des Raumes. Der kann allerdings auch getrübt werden. Denn die Raumtiefe wird beim 3D-Film durch die interokulare Distanz hervorgerufen, die im Abstand der zwei Kameraobjektive besteht, die die Szene aufnehmen. Ist dieser Abstand falsch eingestellt, kommt es zum sogenannten »Miniaturisierungseffekt, bei dem besonders Figuren wie Spielzeugfiguren wirken« (Wegener u. a. 2012, S. 39). Das ist bei mehreren Szenen in »Der Hobbit - Eine unerwartete Reise« zu beobachten, beson‐ ders wenn die Figuren in einer Totalen oder einer Panoramaeinstellung zu sehen sind. Denn in diesen Einstellungen ist es besonders schwierig, eine Tiefenwirkung zu erzielen. Die Zuschauer: innen haben das Gefühl, dass die Relationen von Figuren, Vorder- und Hintergrund nicht mehr stimmen. Der Miniaturisierungseffekt führt daher zu Irritationen bei den Zuschauer: innen. Am Beispiel von »Avatar - Aufbruch nach Pandora« hat der Medienwis‐ senschaftler Jesko Jockenhövel gezeigt, wie trotz vieler Panoramaaufnah‐ men Tiefe erzeugt werden kann: 306 4 Ästhetik und Gestaltung <?page no="307"?> »Dabei ist festzustellen, dass neben Panoramalandschaften immer wieder ge‐ schlossene Räume mit mehreren Tiefenebenen konstruiert werden, die durch Kamerafahrten betont werden. Diese Inszenierungen betonen die Dreidimen‐ sionalität des Raumes stärker als die Panoramaaufnahmen, weil binokulare Eindrücke ab einer gewissen Entfernung keine zusätzlichen Tiefeninformationen mehr liefern. In abgeschlossenen Räumen dagegen wird der Raum durch im Vordergrund vorhandene Objekte geschichtet und der Zuschauerblick so in die Tiefe geleitet« ( Jockenhövel 2014, S. 215). Es ist das Zusammenspiel von binokularer Optik, Licht und Kontrast und der Inszenierung von Figuren und Objekten entlang der Fluchtlinien, die zusammen mit einer »volumetrischen Dramaturgie« (Liu 2018, S. 113ff.) den 3D-Eindruck für die Zuschauer: innen erzeugen. Analyseleitende Fragen • Ist in den Bildern eine räumliche Tiefe zu erkennen? • Wie wird diese Tiefe inszeniert? • Wie ist das räumliche Verhältnis von Figuren und Objekten? • Mit welchen Mitteln wird Kontrast erzeugt? • An welchen Stellen des Films erscheinen Objekte plastisch und an welchen Stellen eher flächig? • Lassen sich in dem Film Miniaturisierungseffekte beobachten? 4.9 Zitierte Literatur Aab, Vanessa (2014): Kinematographische Zeitmontagen. Zur Entwicklungsge‐ schichte des Kinos. Marburg Ackland-Snow/ Laybourn, Wendy (2017): The Art of Illusion. Production Design for Film and Television. Marlborough Affron, Charles/ Affron, Mirella Jona (1995): Sets in Motion. Art Direction and Film Narrative. 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Sie sind Elemente der Kommunikations- und Medienge‐ schichte, denn sie verweisen sowohl auf die Mediengeschichte von Film, Fernsehen und Video als auch auf die Programmgeschichte dieser Medien. Zugleich stehen sie in Beziehung zu anderen symbolischen Kommunikati‐ onsformen wie dem Theater, der Literatur oder der Kunst. Jeder Film- und Fernsehtext entsteht in diesem Zusammenhang unter spezifischen kulturel‐ len und gesellschaftlichen Bedingungen, die einem historischen Wandel unterliegen. Dabei stehen die Filme, Fernsehsendungen und Videos nicht nur in Beziehung zu aktuellen gesellschaftlichen und kulturellen Entwick‐ lungen, gewissermaßen zum Zeitgeist, sondern eben auch zur Geschichte der jeweiligen Medien, ihrer technischen und ästhetischen Entwicklung so‐ wie zu medienimmanenten und medienübergreifenden Narrationsmustern. Im dynamischen Prozess der Produktion symbolischer Medien sind Filme, Fernsehsendungen und Videos zugleich Produkte, die auf ihre Geschichte und ihre strukturelle Eingebundenheit verweisen, und Produkte, die als Elemente der gesellschaftlichen Repräsentationsordnung wieder in die Ge‐ schichte und damit in die Gesellschaft eintreten. In diesem Prozess spielen die Zuschauer: innen eine nicht unwesentliche Rolle. Sind sie es doch, die mit der Rezeption von Film- und Fernsehtexten und deren Einbindung in ihr Alltagsleben und ihre Lebenswelt den Prozess der kulturellen und gesellschaftlichen Dynamik vorantreiben. Zu diesen Zuschauer: innen gehören auch Filmemacher: innen, die ebenfalls eine Medi‐ ensozialisation durchlaufen haben und ihre Erfahrungen mit Medientexten in die Produktion der eigenen Medientexte einbringen (vgl. Mikos 2020b, S. 378). Zudem können Produktionen auf die Reaktionen und Kommentare der Zuschauer: innen in den sozialen Medien reagieren. Allerdings sind auch die Zuschauer: innen in spezifischen gesellschaftli‐ chen und kulturellen Entwicklungen positioniert. Sie bringen einerseits ihre Erfahrungen mit den Texten symbolischer Medien sowie das Wissen, die Emotionen und den praktischen Sinn in die Rezeption ein und nutzen das symbolische Material der Film- und Fernsehtexte andererseits wiederum in ihrem Alltag und ihrer Lebenswelt zur Arbeit an ihrer Identität und <?page no="318"?> zum sinnhaften Aufbau der sozialen Welt. Die britischen Medien- und Kommunikationswissenschaftler Tony Bennett und Janet Woollacott (1987) gehen deshalb davon aus, dass die Zuschauer Bedeutungen immer im Kontext sogenannter reading formations oder Rezeptionsformationen her‐ stellen. Diese Formationen sind kulturelle und gesellschaftliche Kontexte. Die Rezeption von Filmen, Fernsehsendungen und anderen Medientexten kann nur innerhalb dieser Kontexte stattfinden. Dabei sind zu einer be‐ stimmten historischen Zeit der Rezeption spezifische kulturelle, soziale und ideologische Verhältnisse wirksam (vgl. ebd., S. 64). Das lässt sich nicht nur an den »James Bond«-Romanen und -Filmen zeigen, die in der britischen Studie als Beispiel dienten, sondern generell an der historischen Rezeption von Filmen und Fernsehsendungen. Das Publikum, das zu Beginn des 21. Jahrhunderts den Film »Metropolis« im Kino oder Fernsehen sieht, lebt in ganz anderen sozialen und kulturellen Zusammenhängen als die Zuschauer: innen, die diesen Film Ende der 1920er Jahre im Kino sahen. Während die Rezipient: innen des 20. Jahrhunderts ihm vor dem Hintergrund ihrer spezifischen Kultur und Lebenswelt Bedeutung zuwiesen, werden die Zuschauer: innen den Film im 21. Jahrhundert zugleich als Zeugnis der Film- und Zeitgeschichte betrachten können. Die Abhängig‐ keit der Rezeption von den kulturellen und sozialen Kontexten wird auch deutlich, wenn Filme, Fernsehsendungen und Videos in unterschiedlichen Regionen der Welt rezipiert werden. Fernsehserien wie »Breaking Bad«, »Bridgerton«, »Die Brücke - Transit in den Tod«, »Dallas«, »Game of Thrones«, »Hanna«, »Squid Game«, »Yo soy Betty, la fea« oder »The Crown« erlangen ihre Bedeutung in der lokalen Rezeption und Aneignung vor dem Hintergrund der jeweiligen kulturellen Kontexte - wie Studien zu einigen dieser Serien gezeigt haben (vgl. Liebes/ Katz 1993; Miller 1995). In diesem Sinn stellen auch die lokalen Adaptionen von Fernsehserien eine Aneignung und Rezeption auf lokaler Basis dar (vgl. Bondebjerg 2020; Carpentier-Reifová 2013; Didier 2014; Eichner/ Esser 2020; Larkey 2009 und 2013; Mikos/ Perrotta 2013a und 2013b; Stougaard-Nielsen 2020; Weber 2012 und 2013 sowie die Beiträge in McCabe/ Akass 2013 und Jensen/ Jacobsen 2020). Deutlich wird hier noch einmal, dass derselbe Film- oder Fernsehtext unterschiedlich rezipiert und angeeignet werden kann. Dieser Aspekt wird in Zeiten der Globalisierung des Fernsehmarktes immer wichtiger. Auf dem internationalen Markt werden nicht mehr nur Fernsehfilme, Serien und Dokumentationen gehandelt, sondern auch nonfiktionale Formate wie Realityshows, Lifestyle-Formate, Dating- und 318 5 Kontexte <?page no="319"?> Castingshows. Letztere haben zwar ein feststehendes Formatgerüst, sind aber für lokale Adaptionen offen (vgl. Baltruschat 2008; Ganguly 2012; Stehling 2015; Taddicken 2003 sowie die Beiträge in Zwaan/ de Bruin 2012). Die einzelnen Formate werden als Medienmarken vermarktet (vgl. Gärisch 2018). Die Realityshow »Big Brother« wurde in 51 Länder weltweit verkauft und adaptiert, doch die Ausstattung des Hauses, in dem die Kandidat: innen aus den jeweiligen Ländern leben, wurde den lokalen Gegebenheiten ebenso angepasst wie die Spielanteile und Aufgaben. Da die Kandidat: innen zudem aus den jeweiligen ausstrahlenden Ländern rekrutiert wurden, konnte das Format an die lokale Kultur angepasst werden (vgl. Mikos u. a. 2001; Mikos 2002a). In den 85 internationalen Adaptionen von »Wer wird Millionär? « sind die Fragen, die Kandidat: innen und die Moderator: innen den nationa‐ len bzw. lokalen Gegebenheiten angepasst (vgl. Keane u. a. 2007, S. 97 ff.; Taddicken 2003). Ein weiteres Beispiel hierfür ist das Format »The Farm«, das in mehreren Ländern adaptiert wurde, jedoch mal mit »gewöhnlichen« Menschen als Kandidaten, mal mit Prominenten, die sich beim Landleben beweisen mussten (vgl. Perrotta 2007). Nach dem gleichen Muster funktio‐ nieren die Adaptionen von »Hell’s Kitchen«. Bei dem Kochformat treten z. B. im britischen Original und den beiden deutschen Adaptionen bei RTL und Sat.1 Prominente gegeneinander an, während in der amerikanischen Adaption »normale Leute« um die Wette kochen - allerdings gibt es auch Promi_Specials. Im internationalen Formathandel (vgl. Moran/ Malbon 2006; Moran 2009) operieren die lokalen Adaptionen an der Schnittstelle von Text und Aneignung. Daher sind sie besonders für die Analyse geeignet, weil die Strukturen sowohl der Texte als auch der Aneignung gerade im Vergleich der verschiedenen Adaptionen besonders deutlich zutage treten. In den Cultural Studies wird davon ausgegangen, dass bei der Analyse von Rezeptions- und Aneignungsprozessen nur ein »radikaler Kontextua‐ lismus« (Ang 2006, S. 61) hilfreich ist, um die vielfältigen Kontexte berück‐ sichtigen zu können. »Welche Bedeutungen allerdings konkret aktualisiert werden, bleibt im unklaren, bis wir die gesamte, multikontextuell bestimmte Situation erfasst haben, in der Fernsehkonsum potentiell stattfinden kann« (ebd., S. 66). Das gilt entsprechend für den Filmkonsum. Ein Film- oder Fernsehtext kann nur verstanden und analysiert werden, »wenn man ihn in strukturierten kontextuellen Beziehungen verortet« (Grossberg 1999, S. 70). Allerdings muss berücksichtigt werden, dass man es prinzipiell mit einer »interkontex‐ 5 Kontexte 319 <?page no="320"?> tuellen Unendlichkeit« (Ang 2006, S. 69) zu tun hat. Daher ist zu entscheiden, welche Kontexte für die Analyse relevant sind und welche nicht. Die Bedeu‐ tungen, die Film- und Fernsehtexte in der Rezeption und Aneignung erlan‐ gen, werden von den Kontexten beeinflusst und variieren dementsprechend. Grundsätzlich gilt für sie, was der Soziologe Rainer Winter (2001, S. 169) für populäre Texte festgestellt hat: Sie sind »durch eine erhöhte Instabilität von Bedeutungen« gekennzeichnet. Diese Instabilität lässt sich in der Analyse etwas stabilisieren, indem die Kontexte berücksichtigt werden, die sich in den Film- und Fernsehtexten manifestieren und sich auf die textuelle, die mediale, die kulturell-gesellschaftliche und die kulturell-ökonomische Ebene beziehen: Genre, Intertextualität, Diskurs, Lebenswelten und der internationale Film- und Fernsehmarkt. Während die ersten beiden Kontexte sich auf die Historizität und die Positionierung von Texten im gesellschaft‐ lichen Feld beziehen, zielen die Kontexte Diskurs und Lebenswelt auf die Einbindung der Texte in die soziokulturellen Praktiken, die zeigen, »wo und wie Menschen bestimmte Praktiken und Beziehungen leben« (Grossberg 1999, S. 81). Der internationale Film- und Fernsehmarkt ist als Kontext bedeutsam, weil er sich in den konkreten Produkten zeigt. Zudem hat er sich seit Mitte der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts mit der immer größeren Bedeutung von global operierenden Streaming-Plattformen stark verändert (vgl. Jin 2015; Lobato 2019; Lotz 2022). Da z. B. Fernsehformate in den meis‐ ten Ländern auf internationale Vermarktung hin konzipiert werden, müssen sie einen offenen Rahmen bieten, der viel Raum für lokale Adaptionen lässt (vgl. Esser 2022; Mikos 2020a). Blockbuster-Filme, die mit einem hohen Budget produziert und vermarktet werden, müssen z. B. ebenfalls auf dem internationalen Markt erfolgreich sein, da sie sonst ihre Kosten nicht wieder hereinspielen. Filme und Fernsehsendungen werden erst »lebendig« durch die Zuschauer: innen, die ihnen vor dem Hintergrund ihrer alltäglichen Erfahrungen in den verschiedenen sozialen Räumen und Feldern Bedeutung zuweisen, auch wenn diese Medienprodukte den Gesetzen eines globalen internationalen Marktes gehorchen. 5.1 Gattung, Genre und Format Da es Konventionen der Erzählung und der Darstellung gibt, ist es für die Analyse wichtig, die Form des zu analysierenden Films, Videos oder der zu analysierenden Fernsehsendung und deren Zugehörigkeit zu Gattungen 320 5 Kontexte <?page no="321"?> und Genres sowie deren Formatcharakter zu bestimmen. In der Regel wissen die Zuschauer: innen, nachdem sie eine gewisse Film- und Fernsehsozialisa‐ tion durchlaufen haben, dass eine Nachrichtensendung kein Spielfilm, ein Western kein Kriegsfilm und eine Fußballübertragung keine Quizshow ist. Da sich Konventionen der Erzählung und Darstellung auch im Wissen der Zuschauer: innen niedergeschlagen haben, gibt es einen Zusammenhang zwischen der Zugehörigkeit eines Films, einer Fernsehsendung oder eines Videos zu einer Gattung und einem Genre und der Art und Weise, wie diese Filme; Videos oder diese Fernsehsendungen rezipiert werden. In der Geschichte von Film und Fernsehen haben sich ästhetische und inhaltliche Standardisierungen durchgesetzt, die nicht nur die Produktion und die Sendeabläufe strukturieren, sondern auch mit Sehgewohnheiten und Erwartungshaltungen der Zuschauer: innen korrespondieren. Die un‐ terschiedlichen Formen dieser Standards orientieren sich an strukturellen Zwängen (technischen, ökonomischen, politischen, juristischen etc.) des je‐ weiligen Mediums und an dramaturgischen, narrativen und gestalterischen Mitteln gleichermaßen. Es haben sich Muster und Konventionen gebildet, die mit den Begriffen »Gattung« und »Genre« bezeichnet werden (vgl. Kuhn u. a. 2013, S. 2; Mikos 2001a, S. 201 ff.; Moine 2008, S. 28; Mundhenke 2020; Wuss 2020, S.-293ff.). Filme und Fernsehsendungen lassen sich auf einer sehr allgemeinen Ebene in zwei Kategorien einteilen: fiktional und nonfiktional. Ist die erzählte und dargestellte Geschichte erfunden, gehört sie zum fiktionalen Bereich. Beruht sie auf Ereignissen der sozialen Realität, die im Medium repräsentiert werden, ist sie dem nonfiktionalen Bereich zuzurechnen. In beiden Bereichen gibt es Gattungen, die »zur Klassifikation zusammenge‐ hörender Arten« dienen: »Ein Gattungsbegriff bezeichnet die Bedingungen, nach denen Arten zu einer bestimmten Gattung gehören und andere Arten ausgeschlossen sind« (Viehoff 2002, S. 125 f.). Der Filmwissenschaftler Flo‐ rian Mundhenke (2020, S. 50, H.i.O.) definiert die Unterscheidung zwischen Gattung und Genre folgendermaßen: »Abschließend lässt sich sagen, dass die Ebenen der Weltrepräsentation (künstle‐ risch, animiert etc., das Wie des Weltbezugs) und die Frage nach der Rezeption (als Fiktion oder Non-Fiktion, das Wie der Rezeption) […] primär mit der Institution der Gattung in Verbindung stehen, während technische Fragen (Praxen von Kameraführung und Schnitt) und inhaltliche Fragestellungen (Figuren, filmische 5.1 Gattung, Genre und Format 321 <?page no="322"?> Orte, Anordnungen, Erzählsituationen, das Was der filmischen Diegese und ihrer Gestaltung) mit den Genres korrespondieren.« Demzufolge können Filmgattungen nach verschiedenen Verwendungs- und Darstellungsformen klassifiziert werden. Man kann zwischen Spiel-, Doku‐ mentar-, Animations- und Experimentalfilm sowie Lehr-, Werbe- und In‐ dustriefilm unterscheiden. Fernsehgattungen können nach Verwendungs-, Journalismus-, Darstellungs- und Sendeformen unterschieden werden. Hier gibt es Nachrichten, Dokumentationen, Reportagen, Magazin-, Ratgeber- und Gesprächssendungen, Comedy- und Fernsehshows im nonfiktionalen Bereich und Fernsehfilme bzw. TV-Movies, Spielfilme, Fernsehserien und Sitcoms im fiktionalen Bereich. Innerhalb der Gattungen kann zwischen verschiedenen Genres unterschieden werden, die Filme, Videos oder Fern‐ sehsendungen nach gemeinsamen, typischen Merkmalen zusammenfassen. In der Gattung Spielfilm kann z. B. zwischen den Genres Melodram, Western, Komödie, Kriminal-, Horror-, Science-Fiction-Film usw. unterschieden wer‐ den, die wiederum Subgenres ausbilden können. So kann ein Kriminalfilm durch die Zuordnung zu einem Subgenre beispielsweise als Polizeifilm, Detektivfilm, Thriller oder Gangsterfilm spezifiziert werden. Oder ein Horrorfilm kann je nach Eigenart ein Slasherfilm, ein Splatterfilm oder ein Teen-Scream-Film sein. Im Fernsehen können z. B. in der Gattung Dokumentationen die Genres Dokumentarfilm, Fernsehdokumentation, Theater-, Opern-, Sportsendung usw. unterschieden werden. In der Gattung Fiktion gibt es die Genres Fernsehfilm und Fernsehserie mit den Subgenres Krimiserie, Arzt- und Krankenhausserie, Vampirserie, Mysteryserie usw. In der medien- und kommunikationswissenschaftlichen Literatur wird keine strenge Trennung zwischen Gattung und Genre vorgenommen. Zur Bezeichnung von Filmen und Fernsehsendungen, die ähnliche inhaltliche und formale Merkmale aufweisen, wird in der Regel der Begriff »Genre« verwendet. Genres haben sich in der Film- und Fernsehgeschichte immer dann gebildet, wenn ein Film oder eine Fernsehsendung besonders erfolgreich war und großen Zuspruch beim Publikum fand. Produzent: innen oder Sender versuchten dann, mit neuen Filmen und neuen Sendungen diesen Erfolg zu wiederholen. Dabei griffen sie auf bewährte Muster des Erzählens und der Darstellung zurück und variierten sie mal mehr, mal weniger. Auf diese Weise konnten sich auch gewisse Standardisierungen durchsetzen, die in der Produktion und im Verleih bzw. in der Ausstrahlung ökonomisch von Vorteil 322 5 Kontexte <?page no="323"?> waren (vgl. Bordwell/ Thompson 2020, S. 333 ff.; Engell 1992, S. 118 f.; Kuhn u. a. 2013, S. 5 ff.; Moine 2008, S. 141 ff.; Scheinpflug 2014, S. 19ff.; Schweinitz 2006, S. 99 ff.; Stiglegger 2020b). Zugleich konnte sich das Publikum darauf verlassen, dass ein Genrefilm, der angekündigt war, auch bestimmte Erwar‐ tungen erfüllen würde. Der Filmwissenschaftler Peter Wuss (2020, S. 294) hat dazu angemerkt: »Die Standardisierung der filmischen Form ging also Hand in Hand mit einer solchen auf der ökonomischen Ebene; eines bedingte das andere und formierte eine ökonomisch fundierte kulturelle Instanz.« Genres können in diesem Sinn als Formen kultureller Praxis verstanden werden, die Ordnung in das weite Feld von Medien und in der Gesellschaft zirkulierenden Bedeutungen bringen und so der Bequemlichkeit von Pro‐ duzent: innen und Rezipient: innen entgegenkommen (vgl. Berry 1999, S. 26; Casetti 2001, S. 171; Fiske 2011, S. 110; Kuhn u. a. 2013, S. 22 f.; Langford 2005, S. 1 ff.; Mittell 2004, S. 1 ff.; Moine 2008, S. 71 ff.). Sie basieren auf einer reziproken Beziehung zwischen Produzenten und Publikum, wie es der Filmwissenschaftler Thomas Schatz (1981, S. 6) genannt hat, und dienen damit als »Instrument des Aushandelns von Bedeutungen« oder als »In‐ strument zur Verständigung über Bedeutungen« (Casetti 2001, S. 155). Das heißt, die Produzent: innen können sich darauf verlassen, dass die von ihnen produzierten Texte im Rahmen von Genrekonventionen auch verstanden werden; und die Zuschauer: innen können sich darauf verlassen, dass ihre Erwartungen und Bedürfnisse, die mit bestimmten Genres verbunden sind, von den Filmen; Videos und Fernsehsendungen erfüllt und befriedigt werden (vgl. Berger 1992, S. 34 f.; Neale 2000, S. 31; Wuss 1999, S. 317 f.; Wuss 2020, S. 293ff.). Genres tragen so zur Routinisierung und Ritualisierung der Film- und Fernsehkommunikation durch Stereotypisierung bei (vgl. Schweinitz 2006, S. 43 ff.). Durch ihren Bezug zu den gesellschaftlichen Verhältnissen unterliegen sie auch der historischen Veränderung. Genres sind dynamisch, denn jeder neue Film, jede neue Fernsehsendung oder jedes neue Video eines Genres variiert dieses und verändert es damit. Sie können daher auch als Prozess gesehen werden (vgl. Altman 1999, S. 54 ff.) und bilden keinen festen Kanon aus, weder im Hinblick auf die gemeinsamen narrativen und ästhetischen Muster noch im Hinblick auf eine bestimmte Menge von Filmen, die zu einem Genre gezählt werden können. »Dabei ist zu beachten, dass die Entfaltung eines einzelnen Genres niemals unabhängig von anderen Genres erfolgt. Die Übergänge zwischen Genres sind fließend, die Abgrenzung untereinander nicht eindeutig« (Kuhn u.-a. 2013, S. 8). 5.1 Gattung, Genre und Format 323 <?page no="324"?> Man kann Genres im Anschluss an Jörg Schweinitz (2006, S. 82) als inter‐ textuelle Systeme von Stereotypen begreifen, die historischer Wandlung unterliegen. Die Veränderungen und Wandlungen bleiben jedoch im Rah‐ men der kommunikativen Übereinkunft zwischen Produzent: innen, Filmen bzw. Fernsehsendungen und Zuschauer: innen. Nach Knut Hickethier (2012, S. 205) bestimmt das Genre einen »historisch-pragmatischen Zusammen‐ hang« für Produzent: innen und Rezipient: innen. Denn jeder einzelne Gen‐ retext ist »ein Produkt der Gesellschaft - wie sie sich in der Institution [der Produktion, L.M.] und der Zuschauererwartung ausdrückt - und der Geschichte des Genres« (Lacey 2000, S. 143). Zwar können Genres medien‐ übergreifend sein (vgl. Hickethier 2002, S. 63), doch ist für die Film- und Fernsehanalyse ihre spezifische Ausprägung in Film, Fernsehen und Video relevant. Eine Detektivgeschichte kann als Roman in gedruckter Form, als Fortsetzungsroman in einer Zeitung, als Spielfilm, Fernsehfilm oder Fern‐ sehserie erscheinen, doch differiert ihre narrative und ästhetische Struktur in jedem Medium und innerhalb der medienspezifischen Gattungen. Genres stellen hinsichtlich der Erwartungen der Zuschauer: innen ein Gebrauchswertversprechen dar. Die Kenntnis eines Genres und seiner Kon‐ ventionen schafft eine Art kommunikatives Vertrauen. Die Zuschauer: innen können sich der Erfüllung ihrer Erwartungen sicher sein, und der Film, das Video oder die Fernsehsendung kann darauf vertrauen, dass die Zu‐ schauer: innen ihr Wissen aktivieren und so ihren Teil zur Geschichte beitra‐ gen. In diesem Zusammenhang spricht der italienische Filmwissenschaftler Francesco Casetti (2001, S. 161) auch von einem »kommunikativem Vertrag« (vgl. auch Mikos 2001a, S. 209 ff.). Wer nicht um die Genrekonventionen des Western weiß, wird keine entsprechenden Erwartungen an den Film haben und eine entsprechend andere Geschichte im Kopf entwickeln als eine Zuschauerin mit Genrekenntnissen. Ein konkreter Film, eine Fernsehsendung oder ein Video kann sowohl von den Produzent: innen als auch von den Zuschauer: innen unterschiedlichen Genres zugeordnet werden, je nach ihren Vorstellungen und Erwartungen. Der Filmwissenschaftler Jörg Schweinitz (1994; 2006) führt das auf das »lebendige Genrebewusstsein« zurück. Dem liegt die Erkenntnis zugrunde, dass die Menschen im alltäglichen Denken Kategorien bilden, nach denen sie konkrete und abstrakte Dinge einteilen. Dabei gehen sie nur zum Teil von Gemeinsamkeiten aus, wichtiger sind Erfahrungen und Vorstellungen. Denkt jemand z. B. an einen Restaurantbesuch, werden ihm oder ihr einerseits typische Merkmale dieser Begebenheit einfallen, durch die sich 324 5 Kontexte <?page no="325"?> das Essen in einem Restaurant von anderen Tätigkeiten, z. B. dem Besuch einer Imbissbude, unterscheidet, andererseits wird der Restaurantbesuch als typisch angesehen, weil er mit einem prototypischen Restaurantbesuch vergleichbar ist, mit dem der aktuelle Restaurantbesuch erklärt werden kann. Dieses Muster alltäglichen Denkens lässt sich auch auf Film- und Fernsehgenres übertragen. Schweinitz beschreibt den Vorgang am Beispiel des Western: »Wenn wir spontan (also ohne vorangegangene theoretische Studien) an ›Wes‐ tern‹ denken, dann assoziieren wir meist ein oder zwei Prototypen, die unsere Vorstellung von einem Western und mithin unsere Erwartungen dominieren. Irgendwie scheint dann die Masse der Western hinter dem Prototyp zu ver‐ schmelzen - ein für spontane Klassifikationen sehr charakteristischer General‐ isierungsprozeß findet statt. […] Welche Filme uns jeweils als Prototypen in den Sinn kommen, hängt neben persönlichen Affinitäten vor allem von ›kultureller Normung‹ ab, also etwa davon, welche Werke immer wieder als ›Klassiker‹ des Genres gezeigt, kulturell aufbereitet, also entsprechend konventionalisiert werden« (Schweinitz 1994, S. 111). Welche Prototypen den Zuschauer: innen in den Sinn kommen, hängt aber nicht nur von persönlichen Affinitäten und »kultureller Normung« ab, sondern auch von den sozialen Strukturen, in denen sie leben. Zuschauer: in‐ nen unterschiedlicher Generationen werden vermutlich unterschiedliche Prototypen des gleichen Genres haben, ebenso werden Angehörige ver‐ schiedener sozialer Gruppen jeweils andere Prototypen zur Kategorisierung aktueller Filme heranziehen. Das lässt sich z. B. an den sozialen Gruppen der Polizist: innen und der Straftäter: innen verdeutlichen. Polizist: innen werden als Prototyp eines Polizeifilms vermutlich eher einen nennen, in dem die er‐ mittelnde Polizistin eine gute Figur abgegeben hat. Straftäter: innen werden vermutlich eher an einen Prototyp denken, in dem die ermittelnde Polizistin eine schlechte und die Verbrecherin eine gute Figur gemacht hat. Allerdings kann dies nicht mit Bestimmtheit gesagt werden, da zu dem Phänomen der Bildung von Prototypen bisher keine empirischen Untersuchungen vorliegen. Es ist leichter vorstellbar, dass aufgrund der Tatsache, dass immer wieder neue Filme eines Genres gezeigt werden, bei ein und derselben Person im biografischen Verlauf jeweils andere Filme als prototypisch für das Genre angesehen werden können. Zudem beruht die Prototypenbildung auf der Filmerfahrung. Je mehr Filme eines Genres gesehen wurden, umso größer ist die Auswahl bei der Bildung von Prototypen. 5.1 Gattung, Genre und Format 325 <?page no="326"?> Während für die Produzent: innen ein Film als Prototyp eines Genres gilt, der als erster möglichst viele der narrativen und ästhetischen Merkmale in sich vereint, die später für das Genre als typisch erachtet werden, ist dieser Prototyp aus der Sicht der Zuschauer: innen bei jedem Genre variabel, denn er differiert bei unterschiedlichen Zuschauer: innen in unterschiedlichen Kontexten. Dabei ist auch bedeutend, dass Filme nicht nur die dominanten Merkmale des Genres, dem sie zugerechnet werden, enthalten, sondern auch Elemente, die eigentlich für andere Genres typisch sind. Jeder Genrefilm ist in diesem Zusammenhang durch eine Mischung von verschiedenen Merkmalen gekennzeichnet. Lediglich die dominanten führen dazu, dass er als Film dieses Genres angekündigt wird. Das muss aber längst nicht heißen, dass er auch so rezipiert wird. Die Zuschauer: innen können auch andere Genremerkmale wichtiger finden. Als Beispiel mag »Titanic« dienen. Der Film erzählt zwei Geschichten, die sich überlagern: die Geschichte von Jack und Rose, einer Liebe über Klassenschranken hinweg, und die Geschichte vom Untergang des Luxusliners Titanic, der als unsinkbar galt. Im ersten Teil des Films dominiert die Liebesgeschichte, im zweiten Teil, nachdem das Schiff den Eisberg gerammt hat, die Katastrophengeschichte. Da es aber in der Katastrophe auch noch immer um die beiden Liebenden geht, wird der Film hauptsächlich als romantischer Liebesfilm und nicht als Katastrophenfilm wahrgenommen. Die Fernsehserie »Die Sopranos« kann als Mafia-, Familien- oder Gangsterserie, Sitcom und/ oder Therapieserie gesehen werden (vgl. Winter 2011, S. 163 f.), je nachdem welcher Handlungs‐ strang in einer Episode dominiert. In der Serie »Lilyhammer« werden Elemente aus Mafia-, Gangster-, Comedy- und Familienserien verbunden. Und »Game of Thrones« vereinigt Elemente aus Mystery-, Familien- und Historienserien (vgl. Kapitel III.4). Bei der Zuordnung von Filmen und Fernsehserien zu bestimmten Genres kann es dazu kommen, dass einige für ebendieses Genre typische Elemente nicht weiter beachtet werden. So geht in der Klassifizierung »Horrorfilm« unter, dass viele Filme dieses Genres nicht nur Schockbilder, Spannung und Gemetzel bieten, sondern auch komische Elemente haben und eigentlich als Horrorkomödien bezeichnet werden müssten (vgl. Mikos 2002b, S. 16). Die prototypischen Filme, die zur Einordnung eines aktuellen Films herangezogen werden, basieren auf Ähnlichkeiten. Wenn in »Titanic« mehr Ähnlichkeiten mit einem Katastrophenfilm wie »Twister« gesehen werden, stuft man ihn als Katastrophenfilm ein, werden in ihm jedoch mehr Ähn‐ lichkeiten mit einem romantischen Liebesfilm wie »Zimmer mit Aussicht« 326 5 Kontexte <?page no="327"?> gesehen, ordnet man ihn den romantischen Liebesfilmen zu, und werden in ihm mehr Ähnlichkeiten mit Melodramen wie »Anna Karenina« gefunden, wird er als Melodram betrachtet. Die Genrezuordnung, die Zuschauer: innen aufgrund von Prototypen vornehmen, hängt einerseits von ihrer Kenntnis und ihrer Seherfahrung von Filmen und andererseits von ihrem Wissen über narrative Strukturen und Gestaltungsmittel ab. Genres sind daher weder lediglich ein Merkmal von Filmen und Fern‐ sehsendungen, das sich auf bestimmte Muster bezieht, noch lediglich ein Merkmal von Publikumserwartungen. Sie sind vielmehr als »Systeme von Orientierungen, Erwartungen und Konventionen, die zwischen Industrie, Text und Subjekt zirkulieren«, zu verstehen (Neale 1981, S. 6; vgl. auch Kuhn u. a. 2013, S. 16 ff.). Als solche Systeme stellen sie auch eine Form der Adressierung von bestimmten Zuschauer: innen oder Gruppen von Zuschauer: innen dar, und zwar weil sie auf das narrative Wissen und das Wissen um Gestaltungsmittel Bezug nehmen. Damit verweisen sie auf Gemeinsamkeiten und Abgrenzungen von Zuschauer: innengruppen. Sie sprechen nur das Publikum an, das in der Rezeption entsprechende Film- und Fernseherfahrungen aktualisieren und relevantes Wissen aktivieren kann. Wer sich für Krimis interessiert, weil sie damit bestimmte Rezept‐ ionsbedürfnisse befriedigen kann, die wird sich auch Krimis ansehen und kann sich in der Regel darauf verlassen, dass ihre Erwartungen an das Genre erfüllt werden. Zugleich wissen alle »Krimifeinde«, dass sie sich die entsprechenden Sendungen nicht anzuschauen brauchen. In diesem Sinn sind alle Genresendungen in erster Linie für Kenner des Genres interessant, weil nur sie die kommunikative Übereinkunft zwischen Produzent: in, Text und Rezipient: in kennen und teilen. Das heißt aber nicht, dass andere Zuschauer: innen sich das entsprechende Genre nicht ansehen oder nicht ansehen sollen, weil Genres und ihre Rezeption lediglich in einer Art »In«-Zirkel möglich sind. Diese kommunikative Übereinkunft ist im Verlauf der Fernseh- oder Filmsozialisation erlernt worden und Teil der Fernseh- oder Filmkompetenz. Jeder Film, jedes Video oder jede Fernsehsendung eines Genres wird natürlich auch von »Neuling: innen« angeschaut, die die Konventionen erst noch erlernen müssen. Diese Neuling: innen haben für das Genre noch keinen praktischen Sinn entwickelt, die Rezeption erfordert einen größeren kognitiven und emotionalen Aufwand. Hierin liegt z. B. ein Grund dafür, dass ungeübte Zuschauer: innen von Horrorfilmen oft größere Angst und Furcht empfinden als die gewissermaßen »ausgebufften« Fans und 5.1 Gattung, Genre und Format 327 <?page no="328"?> zudem oft nach logischen Mustern des Handlungsaufbaus suchen, während Fans längst wissen, dass es darum nicht geht, sondern eher z. B. um die Perfektionierung von Spezialeffekten. In diesem Sinn zielen Genres auch immer auf die Aneignung in sozialen Kontexten. Denn in manchen sozialen Gruppierungen werden gern Horrorfilme geguckt, in anderen lieber Daily Soaps wie »Gute Zeiten, schlechte Zeiten«, Arztserien wie »Grey’s Anatomy«, Mysteryserien wie »Stranger Things« oder Science-Fiction wie die »Star Trek«-Filme und -Serie. Genres weisen konventionelle Erzählmuster auf, die zu sozialen Ritua‐ len in Beziehung stehen. Als Beispiel seien hier lediglich die Berichte in den Nachrichtensendungen über die Arbeit der Bundesregierung oder über Staatsbesuche angeführt, in denen soziale Rituale (Händeschütteln, Vorfahren mit schwarzen Limousinen, Rituale der Rede und Widerrede etc.) aneinandergereiht und vorgeführt werden. Grundsätzlich lassen sich die konventionellen Erzählformen der einzelnen Genres nach Zeit, Ort, Haupt- und Nebenfiguren, Handlungsrollen, Themen, Handlungsablauf und Ausstattung unterscheiden. Zum Beispiel spielt ein Western meistens im 19. Jahrhundert irgendwo jenseits der Zivilisation in einem kleinen »Nest«, in dem es einen Sheriff, einen Kaufmann, einen Bankier, mehrere Prostituierte und einen Saloon-Besitzer gibt. Der Ort wird von bösen Pferdedieben und Bankräubern heimgesucht, vor denen die Bewohner und die umliegenden Rancher beschützt werden müssen. Am Ende des Films gibt es oft einen sogenannten »Showdown«, nach dem die Ordnung wiederhergestellt ist. Diese Muster finden sich in (fast) allen Western und unterscheiden dieses Genre von anderen wie dem Science-Fiction-Film, der romantischen Komödie, der Quiz- oder Talkshow, dem Katastrophenfilm oder dem Thriller. Im Zusammenhang mit Formen von Fernsehsendungen wird kaum noch von Genres gesprochen, auch wenn Joan Kristin Bleicher (2013, S. 366) betont, dass »intermediale Bezüge […] eine wesentliche Grundlage der Genreentwicklung im Fernsehen [bilden]« und die Medienwissenschaftlerin Hanne Bruun (2010 und 2011) gezeigt hat, dass das Verständnis von Genre in der Fernsehproduktion durchaus eine Rolle spielt. Fernsehgenres sind flexibler als Filmgenres und verändern sich schneller (vgl. Bleicher 2013, S. 371). Mit der Kommerzialisierung des internationalen Fernsehmarktes hat sich zunehmend der Begriff »Format« für einzelne Sendungen, die seriell auf dem Bildschirm auftauchen, durchgesetzt. 328 5 Kontexte <?page no="329"?> »Als Formate werden jeweils nach ökonomischen Gesichtspunkten in Gestaltung und Dramaturgie konzipierte und in dieser Form für eine serielle Ausstrahlung vermarktete Angebotsformen bezeichnet« (ebd., S. 376). Der Begriff verdeutlicht, dass es Produzent: innen und Sendern eher um eine optimale Vermarktung von Programmformen als um die Pflege von Pro‐ grammtraditionen geht. Während Genres ein System von Orientierungen bieten, die zwischen der Produktion, den Programm- und Sendeabläufen, den Sendungen selbst und den Zuschauer: innen zirkulieren, dienen die Formate der Optimierung von Sendeformen vor allem im Hinblick auf Einschaltquote und Marktanteile (vgl. Armbruster/ Mikos 2009, S. 69 ff.). Der Begriff »Format« wurde im Lizenzhandel geprägt und bezieht sich auf »eine gemeinsame Struktur, auf die jede einzelne Episode einer Serie oder Show aufbaut« (Koch-Gombert 2005, S. 28). Um international ein ähnliches Erscheinungsbild zu gewährleisten, werden beim Lizenzerwerb von Sendungen oder Sendungskonzepten Vereinbarungen über Inszenie‐ rungsstile, Ausstattungsmerkmale, Formen der Präsentation, Abläufe etc. getroffen. Mit der Lizenz eines Formats wird in der Regel eine sogenannte »Bibel« verkauft, die nicht nur alle Bedingungen über die Ausstattung, die Abläufe und das Erscheinungsbild enthält, sondern auch Angaben über Zielgruppen und Zuschauer: innenstrukturen aus dem Herkunftsland (vgl. auch Hallenberger 2004). Ein Format enthält also die unveränderlichen Merkmale einer Sendung, auf deren Basis die verschiedenen einzelnen Sendungen und Episoden mit variablen Elementen produziert werden. Es ist ein Programmkonzept (vgl. Hißnauer 2011, S. 173). Im Fall von »Wer wird Millionär? « sind die Grundregeln des Ratespiels, die räumliche Anordnung von Kandidat: innen und Moderatorin sowie die Farbgebung identisch, doch sowohl die realen Kandidat: innen als auch die Moderator: innen und die Fragen variieren von Land zu Land. Das gilt auch für Formate wie »Germany’s Next Top‐ model« und »The Voice of Germany«, in denen Moderator: innen und Kandidat: innen je nach Land variieren. Unter Format werden alle Elemente des Erscheinungsbildes einer Sendung verstanden. Formate lassen aber zugleich genügend Freiraum für die Käufer: innen, um sie den Erfordernissen des Senders oder des heimischen Fernsehmarktes und seinem Publikum anzupassen. Sendungen, die als Formate gekennzeichnet werden können, lassen sich darüber hinaus aber auch zugleich Genres zuordnen. Sie können zu den 5.1 Gattung, Genre und Format 329 <?page no="330"?> Genres Quizshow, Talent- oder Castingshow, Talkshow oder Daily Soap gehören. Sie weisen gemeinsame Merkmale auf, die deutlich machen, dass sie zu einem bestimmten Genre gehören. Zugleich haben sie unverwechsel‐ bare Merkmale, die sie einzigartig machen, nicht nur gegenüber Sendungen anderer Genres, sondern auch gegenüber Sendungen des gleichen Genres. Im Zusammenhang mit Filmen wird nicht von Formaten gesprochen. Filme werden als einzelne Medienprodukte wahrgenommen. Man könnte höchstens Filmserials als Formate bezeichnen, also z. B. die »James Bond«-, die »Spider-Man«- oder die »Terminator«-Filme. Eine Sonderrolle nimmt hier das Marvel Cinematic Universe ein, in dem z. B. nur bei den »Iron Man«, »Thor« oder »Avengers«-Filmen von einem Format gesprochen werden könnte. Das Marvel Cinematic Universe stellt hingegen eine trans‐ textuelle Erzählwelt dar, die nach einem vorher festgelegten Produktions-, Marketing- und Distributionsplan hergestellt und den Zuschauer: innen zur Ansicht gebracht wurde. Einzelne Filme werden aufgrund von gemeinsamen Merkmalen, die sie mit den anderen Filmen aufweisen, lediglich Genres zugerechnet. Detektiv‐ filme sind z. B. dadurch gekennzeichnet, dass eine Detektivin in ihnen die Heldin gibt, die auf der Spur eines Verbrechens ist. Das Rätsel des Verbrechens wird am Ende meistens gelöst, die Ordnung wiederhergestellt - wenn es auch nur die Ordnung im Kleinen ist, die der Detektivin, und nicht die im Großen, weil die Detektivin eben nur eine Täterin erwischt, aber nicht das Verbrechen als solches ausgerottet hat. Bevor die Täter: innen erwischt werden, kommt es zu einer Verfolgungsjagd. Die Detektivin wird in körper‐ liche Auseinandersetzungen und in Schießereien verwickelt. Detektivfilme spielen oft in Großstädten, und es regnet häufig. Da die Verbrecher: innen das Tageslicht scheuen, gibt es viele Nachtszenen. Um eine geheimnisvolle, rätselhafte Atmosphäre zu schaffen, wird in Detektivfilmen mit bestimmten Helldunkel-Kontrastierungen und mit Licht und Schatten gearbeitet (vgl. Kapitel II.4.2). Das sind die wesentlichen Merkmale, die einen Film als einen Detektivfilm ausweisen. Mit einem Genrefilm, einem Genrevideo oder einem Fernsehformat verbinden die Zuschauer: innen Wissen über das Genre bzw. das Format und bestimmte Emotionen, die durch die narrativen und ästhetischen Konventionen angeregt werden. Zugleich können sie ihren praktischen Sinn aktivieren und wissen, in welchen kommunikativen Zusammenhängen sie ihn einsetzen können. Genrefilme erleichtern »es den Zuschauern auch, den Film für ihre lebensweltlichen Zwecke zu nutzen« (Casetti 2001, S. 168). 330 5 Kontexte <?page no="331"?> Als Orientierungssysteme schränken sie die möglichen Bedeutungen eines konkreten Film- und Fernsehtextes ein und binden die Zuschauer: innen in konventionalisierte Bedeutungszuweisungen in Bezug auf Inhalt und Repräsentation, Narration und Dramaturgie, Figuren und Akteure, Ästhetik und Gestaltung ein, weil sie auf Verständigung hin orientiert sind. Der gleiche Inhalt wird in verschiedenen Genres unterschiedlich inszeniert und eröffnet dadurch jeweils andere Bedeutungshorizonte. So differiert die »Erzählung der Gewalt« (Wulff 1985) in den einzelnen Genres und steht auf unterschiedliche Weise zu dem Wissen, den Emotionen, dem praktischen Sinn und der kommunikativen Aneignung in der sozialen Lebenswelt der Zuschauer: innen in Beziehung (vgl. Mikos 2001b). In der Regel lassen sich Filme, Fernsehsendungen und Videos im 21. Jahr‐ hundert nicht mehr eindeutig einem einzelnen Genre zuordnen. Seit den 1990er Jahren hat sich im Zuge der Diskussion über postmoderne Filme der Begriff des Hybridgenres etabliert. Meist wird darunter eine Genremischung verstanden (vgl. Schweinitz 2002, S. 88), die es allerdings bereits seit den frühen Jahren der Filmgeschichte gibt. Daher versucht Schweinitz (ebd., S. 88 f.) den Begriff ausschließlich auf solche Filme anzuwenden, in denen durch die Genremischung eine kohärente Erzählung geschaffen wird. »Eine entscheidende Voraussetzung für den hybriden, fragmentarisierenden Ge‐ brauch von Genre-Stereotypen (nach dem Tod des klassischen Filmgenres) ist de‐ ren weit fortgeschrittene Evolution. Die Muster haben längst ihre ursprüngliche vitale Funktion verloren und sind im kulturellen Gedächtnis zum flottierenden Zeichenmaterial geworden, das nicht mehr die alten Imaginationswelten mit ihren lebendigen kulturellen Kontexten wachsen lässt, sondern nur noch darauf verweist« (Schweinitz 2006, S. 92). Diese Auffassung von Hybridgenre ist jedoch sehr eng gefasst. Zwar wird in Bezug auf Filme manchmal von Genrehybridisierung gesprochen (vgl. Bergfelder 2013; Ritzer/ Schulze 2013), doch im Zusammenhang mit Tenden‐ zen neuerer Hollywood-Filme hat es sich durchgesetzt, von Blockbustern als einem Metagenre zu sprechen (vgl. Mikos u. a. 2007, S. 19 ff.; vgl. auch Kapitel III.2). Hybridität wird dagegen vor allem bei neueren Fernsehfor‐ maten konstatiert. Damit ist in erster Linie eine Genremischung gemeint (vgl. Brauer 2007, S. 41 ff.; Kilborn 2003, S. 12 f.; Kilborn 2006; Mittell 2004, S. 153 ff.; Simon 2005). Der britische Medienwissenschaftler Richard Kilborn (2003, S. 12; 2006, S. 113 f.) unterscheidet dabei zwischen einem »additiven« und einem »integrativen« Modus. Additive Formen der Hybridität finden 5.1 Gattung, Genre und Format 331 <?page no="332"?> sich nach Kilborn vor allem in Magazinformaten, in denen die Einflüsse verschiedener Genres sichtbar werden, z. B. in Boulevardmagazinen. Inte‐ grative Formen dagegen amalgamieren verschiedene Genreelemente zu neuen Formen, z. B. Realityshows wie »Big Brother« oder »Ich bin ein Star - Holt mich hier raus! « (vgl. auch Kapitel III.4). Dabei spielt vor allem die Mischung von Konventionen aus fiktionalen und nonfiktionalen Genres eine große Rolle. Die Film- und Fernsehanalyse muss die konventionalisierten Formen in Bezug auf die vier Ebenen des Erkenntnisinteresses herausarbeiten, denn der Kontext des Genres hat einen entscheidenden Einfluss auf die Rolle des Films, des Videos oder der Fernsehsendung in der Kommunikation mit den Zuschauer: innen. Dies ist umso wichtiger, je mehr verschiedene Kon‐ ventionen und Genreelemente in einzelnen Filmen und Fernsehformaten gemischt werden. Analyseleitende Fragen • Welchem Genre ist der Film, die Serie oder das Video zuzuordnen? • Hält er sich an die Genrekonventionen oder variiert er sie? • Welche prototypischen Filme oder Serien sind für das Genre kenn‐ zeichnend? • Wie annonciert der Film oder die Fernsehsendung sein/ ihr Genre bzw. ihre Gattung? • Welche Merkmale kennzeichnen das Fernsehformat, und welche Rolle spielen sie in der konkreten Fernsehsendung? • Wird über das Genre eine bestimmte Nutzung des Films, des Videos oder der Fernsehsendung in der Lebenswelt der Zuschauer: innen angesprochen? • Welche kognitiven und emotionalen Erwartungen weckt der Film, die Fernsehsendung oder das Video über die Genrezuordnung? • Welche Bedeutungen werden durch die Einordnung des konkreten Film- oder Fernsehtextes in ein Genre favorisiert? • Welches Programmkonzept steht hinter einem Fernsehformat? • Welche Elemente verschiedener Genres sind in einem Film/ einem Fernsehformat kombiniert worden? Welches Genre dominiert? 332 5 Kontexte <?page no="333"?> 5.2 Intertextualität vs. Transmedia Storytelling Film- und Fernsehtexte sind keine singulären Erscheinungen. Sie sind Teil eines Universums anderer Texte, sowohl von Film und Fernsehen als auch von anderen Medien. Während sich Intertextualität auf die Beziehung von Texten zu anderen Texten bezieht, geht der Prozess des Transmedia Story‐ telling von einer bewussten Konstruktion bzw. Produktion von fiktionalen bzw. nonfiktionalen Geschichten auf verschiedenen Medienplattformen aus, die untereinander in Beziehung stehen. In der Begriffsgeschichte von Intertextualität (vgl. Aczel 2008; Allen 2011; Gray 2006, S. 19 ff.; Holthuis 1993, S. 12 ff.; Isekenmeier u. a. 2021, S. 2ff.; Rößler 1999, S. 21 ff.; Worton/ Still 1990) geht es immer darum, dass sich ein aktueller Text im Verhältnis zu anderen Texten positioniert. Dadurch schafft er einen Intertext, einen Raum zwischen Texten, der damit neben dem eigentlichen Text einen zweiten semantischen Raum schafft, der für die Bedeutungsproduktion der Rezipient: innen wichtig ist. Ganz allgemein kann eine sehr einfache Definition von Intertextualität gegeben werden: »Intertextualität meint die Beziehung eines Textes zu anderen Texten« (Mikos 1999a, S. 68). Das bedeutet, dass ein Text immer im Schnittpunkt an‐ derer Texte, zu denen er in Beziehung steht, positioniert ist. Die Referenzen zu anderen Texten tragen zur Bildung von Bedeutung bei (vgl. Abercrom‐ bie/ Longhurst 2007, S. 189). Daraus entsteht ein intertextuell strukturiertes Angebot, das als Prozess gesehen werden kann, »mit dem Texte Bedeutung für Publika durch Referenz zu anderen Texten kommunizieren« (Casey u. a. 2008, S. 126). Das trägt zur »wechselseitigen Erhellung der Texte« bei (vgl. Isekenmeier u.-a. 2021, S.-19). Das ist die eine Seite von Intertextualität. Auf der anderen Seite muss Intertextualität auch als ein in der Rezeption und Aneignung zu realisierender Prozess gesehen werden, bei dem die Rezipient: innen ihre Erfahrungen und Erlebnisse mit anderen Texten an den aktuell rezipierten herantragen. Denn die Medientexte sind immer Produkt einer Rezeptions- und Wirkungsgeschichte anderer Texte, sowohl aufseiten der Produktion als auch auf der Rezeptions- und Aneignungsseite. In diesem Sinn sind alle medialen Produkte Teil eines dynamischen Prozesses der Kom‐ munikation. Intertextualität ist das Element, das diesen Prozess befördert, weil es die Kommunikation in ein historisch-kulturelles Bezugssystem ein‐ bettet, das sich über den Prozess zugleich erneuert (vgl. Mikos 1999a, S. 66 ff.; Wulff 1999, S. 258). Da Intertextualität durch alle Texte, die Zuschauer: innen an die aktuell rezipierten Film- und Fernsehtexte herantragen, bestimmt 5.2 Intertextualität vs. Transmedia Storytelling 333 <?page no="334"?> ist, kann sie auch nur relativ bestimmt werden. Zugleich ist sie aber durch die Einbindung in Adressaten- und Nutzergruppen sozial determiniert. In der Rezeption und Aneignung von Filmen, Videos und Fernsehformaten handeln die Zuschauer: innen auf der Basis ihrer »intertextuellen Kompe‐ tenz«, sie entfalten ihre intertextuelle Enzyklopädie, denn »kein einziger Text wird unabhängig von den Erfahrungen gelesen, die aus anderen Texten gewonnen wurden«, wie Eco (1998, S. 101) für schriftliche Texte festgestellt hat. Intertextualität ist keine statische Funktion von Texten, sondern ein dynamisches Element von Produktion und Rezeption. Auch hier zeigt sich, wie mediale Texte zum Wissen der Rezipient: innen hin geöffnet sind. Sabine Holthuis hat in ihrer auf literarische Texte bezogenen Untersuchung festgestellt, dass »intertextuelle Qualitäten zwar vom Text motiviert werden können, aber vollzogen werden in der Interaktion zwischen Text und Le‐ ser, seinen Kenntnismengen und Rezeptionserwartungen« (Holthuis 1993, S. 31). Daher gründet Intertextualität nicht nur in der Realisation intertextu‐ eller Verweise im Text durch die Leser: innen oder Zuschauer: innen, sondern auch im intertextuellen Wissen der Rezipient: innen, das an den Text heran‐ getragen wird. In der Rezeption und Aneignung vollzieht sich der Prozess der Intertextualität zwischen intertextuell gelenktem Textverstehen und intertextueller Disposition der Rezipient: innen. Er ist als »Wechselwirkung zwischen intertextueller Textdisposition (im Sinn spezifischer Einzelreferen‐ zen) und entsprechender intertextueller Textbedeutungskonstitution durch konkrete Rezipienten im Textverstehen« zu sehen (Rößler 1999, S. 79, H.i.O.). Das bedeutet, dass die tatsächliche Realisation von intertextuellen Bezügen anhand des gleichen Textes unterschiedlich ausfallen kann, entsprechend dem Wissen und den Erwartungen der jeweiligen Rezipient: innen. Intertextualität legt durch die Bezüge, die in der Produktion und Rezep‐ tion zu anderen Texten hergestellt werden, gewissermaßen einen Intertext über den eigentlichen Film- und Fernsehtext. Das kann zu einer »semanti‐ schen Explosion« (Lachmann 1984, S. 134) führen, denn einerseits entfaltet ein Text durch die Kohärenz seiner Erzählung eine spezifische Bedeutungs‐ ebene, andererseits wird genau diese durch die Intertexte erweitert. Die Zuschauer: innen können einem Film- oder Fernsehtext auch Bedeutung zuweisen, ohne die intertextuellen Bezüge zu realisieren. Zugleich können sie aber über die Realisierung dieser Bezüge ein Vergnügen am Text entwi‐ ckeln. Intertextualität kann damit im Wesentlichen durch drei Funktionen bestimmt werden: (1) die Absicherung von Sinn und Bedeutung, (2) die Erweiterung von Sinn und Bedeutung und (3) die Einbindung von Texten 334 5 Kontexte <?page no="335"?> in den Wissenshorizont der Kultur. Film- und Fernsehtexte sichern durch die intertextuellen Bezüge ihre Bedeutung und ihren Sinn ab, weil sie in den anderen Texten bereits vorinterpretiert sind (vgl. Wulff 1999, S. 257). Sie erweitern ihre Bedeutung, da sich durch die Bezüge neue Bedeutungs‐ horizonte eröffnen können, mit denen ein Vergnügen am Text einhergeht. Indem Film- und Fernsehtexte auf Traditionslinien verweisen, die in den anderen Texten manifestiert sind, fügen sie sich nicht nur in das Universum der Texte einer Kultur ein, sondern gerade durch das Wissen, die Emotionen und Erwartungen, die mit den Film- und Fernsehtexten verbundenen sind, auch in die lebensweltlichen Horizonte der Zuschauer: innen. Der Kontext der Intertextualität muss in der Film- und Fernsehanalyse auf zwei Ebenen berücksichtigt werden: Die Analyse muss einerseits die Positionierung des zu analysierenden Film- oder Fernsehtextes im Universum bereits vorhandener Texte der Kultur bzw. der Populärkultur verorten, und sie muss andererseits auf den Kenntnisbzw. Wissensstand und die Rezeptionserwartungen der Zuschauer: innen eingehen. Nur so kann sie das durch die intertextuellen Bezüge generierte Verstehens- und Erlebnispotenzial offenlegen. Bevor dies am Beispiel demonstriert wird, ist es erforderlich, die Unterscheidung zwischen horizontaler und vertikaler Intertextualität einzuführen. Diese Unterscheidung hat John Fiske (2011, S. 109 ff.) im Zusammenhang mit Fernsehtexten getroffen. Sie gilt jedoch ebenso für Filme, Videos und alle anderen medialen Texte. Horizontale Intertextualität stellt einen werkbezogenen Verweisungszusammenhang dar. Der aktuelle Text verweist auf andere Filme, Videos oder Fernsehsen‐ dungen des gleichen Genres oder der gleichen Gattung, indem Bezug auf Charaktere, Schauspieler: innen und Regisseur: innen, auf Inhalte und ihre Traditionen sowie auf ähnliche Texte in anderen Medien genommen wird. Vertikale Intertextualität nimmt Bezug auf sogenannte sekundäre Texte wie Kritiken, Klatschgeschichten in der Regenbogen- oder Jugendpresse und Hintergrundberichte in Film- und Fernsehzeitschriften oder auf On‐ line-Portalen. Außerdem steht sie in Beziehung zu sogenannten tertiären Texten, unter denen Fiske (ebd., S. 125 f.) Leserbriefe sowie Gespräche der Rezipient: innen über die gesehenen Filme, Fernsehformate und Videos versteht. Dazu zählen inzwischen auch die Kommentare in sozialen Medien. Die horizontale Intertextualität als Verweisungszusammenhang ist jedoch immer bereits vertikal verankert, da sie in direkter Beziehung zur kulturellen symbolischen Praxis der Zuschauer: innen steht. 5.2 Intertextualität vs. Transmedia Storytelling 335 <?page no="336"?> Die konkrete Analyse der intertextuellen Bezüge eines Films, einer Fern‐ sehsendung oder eines Videos setzt einerseits am Text an und arbeitet die ho‐ rizontalen und vertikalen Verweise und Anspielungen heraus; andererseits setzt sie am Rezeptionserlebnis selbst an, indem sie die Wissensbestände der Zuschauer: innen und ihre an den Text herangetragenen kognitiven und emotionalen Erwartungen ergründet. So kann ein Film z. B. im Rahmen der Genrezuordnung analysiert werden, indem seine Bezüge zu anderen Filmen desselben Genres - und bei Serials auch zu den Vorgängerfilmen - untersucht werden. Es können also beispielsweise die Bezüge des »God‐ zilla«-Films von Roland Emmerich zu den japanischen »Godzilla«-Filmen (vgl. Buttgereit 2021), aber auch zu anderen Monsterfilmen wie »King Kong« herausgearbeitet werden. Gegenstand einer Untersuchung können ebenso die Verweise, Bezüge und Anspielungen eines »James Bond«-Films auf die anderen seiner Art sein wie jene in »Sieben« auf andere Filme, die dem Film noir zugerechnet werden. Besonders die Filme von Quentin Tarantino wie »Death Proof«, »Kill Bill«, »The Hateful Eight« oder »Once Upon a Time in Hollywood« sind voll von intertextuellen Bezügen, Verweisen und Anspielungen auf andere Filme und andere Medienformen (vgl. Steltz 2006). Unvergessen der intertextuelle Verweis in »Pulp Fiction« auf »Saturday Night Fever« durch die Tanzeinlagen von John Travolta. Wie diese Bezugnahmen in der Aneignung von Filmen aussehen können, ist im Film »Scream 2« zu beobachten, wenn dort die Studierenden darüber diskutieren, welche Teile eines Serials die besseren Filme seien, und dabei zahlreiche Beispiele anführen. Der erste Teil des Serials »Scream« beginnt mit einer Szene, in der der Täter ein junges Mädchen per Telefon bedroht und nach Titeln von Horrorfilmen sowie darin auftauchenden Figuren befragt. Mit der richtigen Antwort würde sie sich angeblich retten können. Im Kino veranlasste dieser Filmbeginn immer wieder Besucher: innen, die Antworten laut durch den Saal zu rufen. Diese Eröffnungssequenz macht ein Feld intertextueller Referenzen auf. Durch das Quiz, das der unsichtbare Täter mit dem Mädchen durchführt, wird explizit auf andere Filme des Horrorgenres Bezug genommen, nämlich auf die Filmserials »Halloween«, »Nightmare on Elm Street« und »Freitag, der Dreizehnte«. Damit ordnet sich der Film »Scream« selbst in das Genre ein. Die Bezüge zu einem einzelnen Film können auch als Einzeltextreferenz bezeichnet werden, die zum ganzen Genre als Textsortenreferenz oder »Systemreferenz« (Isekenmeier u. a. 2021, S. 5). So werden Interpretations‐ folien für die Zuschauer: innen geschaffen, die das aktuelle Filmverstehen 336 5 Kontexte <?page no="337"?> und -erleben auf zweierlei Weise vorstrukturieren: Einerseits wird den Zuschauer: innen die Möglichkeit gegeben, den Film mit den Referenzfilmen zu vergleichen. Die Intertextualität erfüllt hier eine komparative Funktion (vgl. Holthuis 1993, S. 209 ff.). Andererseits erfüllt sie eine konstruktive Funktion, da die intertextuellen Bezüge auch eingesetzt werden können, um dem Film »Scream« einen kohärenten Sinn zu geben. Nicht immer haben die intertextuellen Bezüge so offensichtlich eine dramaturgische Funktion, um das Publikum einzubinden, wie in den »Scream«-Filmen. Zugleich lässt sich der Film als eine Parodie auf andere Horrorfilme lesen, denn Parodie kann nur im Kontext von Intertextualität verstanden werden (vgl. Hutcheon 2000, S. 21). Filme lassen sich aber nicht nur innerhalb des Genres verorten, sondern auch innerhalb von Stilrichtungen, wie z. B. dem deutschen Expressionis‐ mus, der französischen Nouvelle Vague oder der dänischen Dogma-Bewe‐ gung. Wie über Genre- und Stileigenarten so können auch über Schauspieler Bezüge hergestellt werden. Ein Film wie »Red Corner«, in dem Richard Gere einen amerikanischen Geschäftsmann spielt, der unter Mordverdacht in einem chinesischen Gefängnis sitzt, steht in Beziehung zu allen anderen Filmen mit ihm, wie z. B. »Pretty Woman«. In beiden Filmen steht zudem die Beziehung zu einer Frau im Mittelpunkt. Vor allem in der Werbung werden solche Verweise deutlich, wo Prominente aus Film und Fernsehen gezielt eingesetzt werden. So verweisen die Spots mit Joshua Kimmich oder Marco Reus auf diverse Sportsendungen, und der Auftritt von Michael »Bully« Herbig in Haribo-Spots verweist auf seine Filme und Fernsehsendungen. Bedeutsamer als diese recht offensichtlichen Bezüge sind für die Kommu‐ nikation der Film- und Fernsehtexte mit den Zuschauer: innen die Verweise auf andere mediale Texte, die z. B. gleichen Erzählmustern folgen oder sogar den gleichen Stoff bearbeiten. Als Beispiel mag mal wieder »Pretty Woman« dienen. Der Film verweist auf George Bernard Shaws Theaterstück »Pygmalion« und dessen Musical-Bearbeitung »My Fair Lady«, auf die »Kameliendame« von Alexandre Dumas und die Oper »La Traviata« von Giuseppe Verdi. Diese Bezüge sind alle vorhanden, dennoch erzählt der Film eine eigene Geschichte und ist nicht nur eine Adaption der »Kamelien‐ dame«. Eine Analyse kann sich unter dem Gesichtspunkt der Intermedialität mit der Verarbeitung eines Stoffes oder Themas in verschiedenen Medien be‐ fassen. Das ist z. B. bei der filmischen Umsetzung eines literarischen Werkes so. Literaturverfilmungen oder -adaptionen (vgl. Albersmeier/ Roloff 1989; Boyum 1985; Bruhn u. a. 2013; Cahir 2006; Cartmell/ Whelehan 1999; Hut‐ 5.2 Intertextualität vs. Transmedia Storytelling 337 <?page no="338"?> cheon 2013) und Adaptionen von Comics (vgl. Dixon/ Graham 2017; Gardner 2014; Johnson 2013, S. 79 ff.; Potter u. a. 2016; Weaver 2013, S. 213 ff.) sind ebenso wie Remakes von Filmen oder Fernsehserien (vgl. Garncarz 1992; Horton/ McDougal 1998; Klein 2012; Klein/ Palmer 2016; Kühle 2006; Lavigne 2014; Verevis 2006) oder Sequels (vgl. Gray 2010, S. 117 ff.; Jess-Cooke 2009; Jess-Cooke/ Verevis 2010; Jullier 2007, S. 129 ff.; Klein 2012) ein Sonderfall oder Typus von Intertextualität. Mit der Verwendung von bestimmten populären Hits oder Musikstilen in Filmen wird ein Publikum angesprochen, bei dem diese Musik und ihre Interpreten als Erlebnisweise eine Rolle spielen. Das zeigt sich nicht nur an den Filmen, die in den Schwarzen-Ghet‐ tos amerikanischer Großstädte situiert sind und in denen Hip-Hop- und Rap-Künstler: innen mitspielen bzw. deren Musik einen großen Stellenwert einnimmt, sondern generell an allen Filmen oder Fernsehsendungen, in denen Pop- und Rockstars als Schauspieler: innen agieren. So verweisen alle Filme, in denen Blondie, Ariana Grande, Jared Leto, Madonna oder Tom Waits mitwirken, zum einen auf ihre Musik, zum anderen auf ihr aus der Presse bekanntes Image. Das kann im konkreten Film zu Konflikten führen, weil das Image der Musiker: innen nicht mit der Rolle im Film konform geht bzw. weil das Wissen des Publikums über den Star sich von dem unter‐ scheidet, was der Film in der konkreten Filmrolle aufbaut (vgl. Mikos 1997; Kapitel II.3.2). Über die intertextuellen Verweise und über die inszenierten Erlebnisstrukturen verankern sich die Filme, Fernsehsendungen und Videos in den symbolischen Sinnwelten der Zuschauer: innen, sie lassen ebenso ein Gemeinschaftsgefühl zu Gleichgesinnten wie Abgrenzungsgefühle zu den »anderen« entstehen. Intertextualität und Erlebnisstrukturen konstituieren in ihrer ästhetischen Vergegenständlichung Bezüge, die als Hinweise für spezifische soziale Gruppen oder soziale Milieus dienen. Sie aktivieren auf der kognitiven Ebene Wissenselemente der »intertextuellen Enzyklopädie« (Eco) und auf der emotionalen Ebene Gefühls- und Interaktionsstrukturen, die Teil des Gefühlshaushalts der Zuschauer: innen sind. Auf diese Weise werden gruppenspezifisch bedeutsame Erfahrungen angesprochen. Nicht nur über die Verwendung populärer Musik, sondern auch über ein ganzes System von Verweisen und Bezügen auf alle Medien verorten sich Filme und Fernsehsendungen in einem kulturellen Referenzsystem, das von den Rezipient: innen auf unterschiedliche Weise während der Rezeption und Aneignung realisiert wird. Dabei spielen die bisherigen Erlebnisse und Er‐ fahrungen mit medialen Produkten, sozusagen die »Lektüreerfahrungen«, eine wesentliche Rolle. Sie sind Bestandteil der enzyklopädischen »inter‐ 338 5 Kontexte <?page no="339"?> textuellen Kompetenz« (Eco 1987, S. 95) der Rezipient: innen. Gerade bei sogenannten postmodernen Filmen spielt das eine große Rolle, wie Sabine Müller (1995) am Beispiel von »Diva«, einem der ersten dieser Filme, gezeigt hat, sowie bei sogenannten Kultfilmen (vgl. Mathijs/ Sexton 2011, S. 224 ff.), wie Larissa Vogt (1997) am Beispiel der Filme von John Waters, Christian Steltz (2006) am Beispiel von »Kill Bill«, Laurent Jullier (2007, S. 129 ff.) anhand der »Star Wars«-Filme und Michael S. Duffy (2008) am Beispiel der »Star Trek«-Filme untersucht haben. Die Faszination von Fernsehserien wie »Die Simpsons« geht wesentlich von deren intertextuellem Verweissystem aus (vgl. Gray 2006, S. 43 ff.) ebenso wie die Filme des Marvel Cinematic Universe (vgl. Dowd u. a. 2013, S. 239 ff.; Hillmann 2013, S. 44 ff.; Johnson 2012; Weaver 2013, S. 194; Yockey 2017). Wichtig ist, dass Intertextualität nicht nur Wissensbestände der Zuschauer: innen aktiviert, sondern auch u. a. emotional gebundene Erlebnisweisen. Für die Analyse der Intertextualität in Filmen, Fernsehsendungen und Videos ist ein weiterer Aspekt wichtig: die Adressierung von bestimmten Publikumssegmenten oder Zielgruppen. Ein Horrorfilm wendet sich in erster Linie an die Horrorliebhaber im Publikum, an die anderen nicht bzw. unter anderen Vorzeichen. Zwar werden auch Noviz: innen angesprochen, doch werden die intertextuellen Bezüge und Verweise sowie die im Horror‐ erlebnis generierten Erlebnisweisen, zu denen u. a. der Umgang mit der eigenen Angst gehört, vor allem von der anvisierten Zielgruppe der Horror‐ fans realisiert. Sie sind auch in der Lage, die komödiantischen Effekte dieser Filme wahrzunehmen. Denn in vielen Horrorfilmen ist gerade die Komik für die Rezeption wichtig: »Offensichtlich hat sie großen Anteil daran, daß aus dem Grauen ein Vergnügen wird« (Konrad 1994, S. 5; vgl. auch Gerbode 2004). Vor solch einem Hintergrund wird dann das Blutvergießen in einem Film wie »Tanz der Teufel II« »zum Lacherfolg, weil sich das Opfer durch den gesamten Kontext als eine komische Figur identifizieren läßt« (ebd., S. 84). In den Filmen der »Deadpool«-Reihe werden die komischen Effekte nicht nur visuell erzeugt, sondern entspringen der Kommentierung der Handlung durch die Hauptfigur in der Voice-Over-Narration (vgl. Kapitel II.4.5). Gerade aus solchen Elementen ziehen die Fans die Lust am Zuschauen, eine Lust, die anderen Teilen des Publikums oft genug verborgen bleibt, wie auch das Beispiel des indizierten Films »From Dusk Till Dawn« zeigt, dessen Popularität vor allem in den komischen Elementen gründet (vgl. Mikos 1999b). 5.2 Intertextualität vs. Transmedia Storytelling 339 <?page no="340"?> Gerade populäre Film- und Fernsehtexte weisen in der Regel nicht nur eindimensionale Bezüge zu einem anderen Text auf, sondern sind in ein viel‐ fältiges Netz von Bezügen verstrickt. Das zeigt sich besonders deutlich an der Tendenz zum Transmedia Storytelling im 21. Jahrhundert: Eine Geschichte wird gezielt über mehrere Medien erzählt. Dabei geht es nicht darum, einen Stoff aus einem Medium in ein anderes zu transferieren - was man auch als Intermedialität bezeichnen kann -, sondern von vornherein werden bei der Entwicklung einer Geschichte die verschiedenen narrativen und ästhetischen Möglichkeiten der einzelnen Medien einbezogen, um so quasi ein Rundumerlebnis für die Zuschauer: innen bzw. Nutzer: innen zu schaffen. Transmedia Storytelling entfaltet eine Geschichte »über verschiedene Medi‐ enplattformen hinweg, mit jedem neuen Text, der einen unverwechselbaren und wertvollen Beitrag zum Ganzen leistet« ( Jenkins 2006, S. 95). Die amerikanische Medienwissenschaftlerin Marie-Laure Ryan unterscheidet zwei Pole, zwischen denen sich transmediale Geschichten bewegen: Den einen Pol stellen Erweiterungen von populären Geschichten dar, zu denen Prequels, Sequels und Adaptionen in anderen Medien entwickelt werden-- als Beispiele können hier »Herr der Ringe« und »Star Wars« dienen. Den anderen Pol stellt ein System dar, »in dem eine bestimmte Geschichte von Anfang an als ein Projekt konzipiert ist, das sich über viele verschiedene Medienplattformen hinweg entwickelt« (Ryan 2013, S. 89). Doch auch in letzterem Fall gibt es meistens einen Kerntext in einem Medium, von dem aus sich die Geschichte auf anderen Plattformen entfaltet. Der amerikanische Kulturwissenschaftler Henry Jenkins (2006, S. 101 ff.) führt dafür als Beispiel »Matrix« an. Eine Ausnahme ist das Marvel Cinematic Universe, da es unmöglich ist, hier einen Kerntext auszumachen. Die Kunst des transmedialen Erzählens besteht darin, dass zwar eine Geschichte über mehrere Medien hinweg erzählt wird, aber die Geschichte in jedem einzelnen dieser Medien für sich stehen können und verständlich sein muss (vgl. Harvey 2014, S. 278; Weaver 2013, S. 8). Die einzelnen Teile der Geschichte auf den verschiedenen Plattformen stehen in Interaktion miteinander, können aber auch isoliert betrachtet werden. Transmediale Erzählungen überlassen es den Zuschauern, wie tief sie in die Geschichte eindringen und auf wie vielen Plattformen sie sich unterhalten lassen oder partizipieren wollen. In der Regel geht es dabei um fiktive Welten, die mehrfach geschichtet sind. Um den Kerntext herum bilden sich weitere Schichten auf den anderen Plattformen. In der Analyse können diese Schichten entblättert werden, indem vom Kerntext ausgehend die Ausprä‐ 340 5 Kontexte <?page no="341"?> gungen auf den anderen Plattformen untersucht werden können. Auch die Wissenschaftler: innen können entscheiden, wie tief sie in die fiktive Welt eindringen und welche Plattformen sie berücksichtigen wollen. Das ist allein aus forschungsökonomischen Gründen notwendig. Transmediales Erzählen beruht darauf, dass eine fiktive Welt erschaffen wird, die nicht allein in einem Medium erschöpfend dargestellt werden kann (vgl. Jenkins 2006, S. 114). Laut Ryan (2013, S. 91) bestehen diese »Storyworlds« aus statischen und dynamischen Komponenten. Zu den statischen Elementen zählen die Charaktere, »eine Folklore, die sich auf diese Wesen bezieht«, ein geografischer Raum, in dem die Charaktere leben, Naturgesetze sowie soziale Regeln, Werte und Normen. Zu den dynamischen Elementen zählen physikalische Ereignisse, die zu Veränderungen führen sowie mentale Ereignisse, mit denen die Charaktere den physikalischen Ereignissen Bedeutung verleihen. Diesen fiktiven Welten ist eine »Trans‐ fiktionalität« eigen (ebd., S. 92), die sich über verschiedene Medien hinweg aufbaut. Diese fiktionalen Welten breiten sich auf verschiedenen Medien aus, indem populäre Erzählungen erweitert werden. Zu Beginn des 21. Jahr‐ hunderts hat die Entwicklung des transmedialen Erzählens eine neue Dynamik erhalten. Die britische BBC entwickelte eine Politik der »360 Grad«-Produktion als eine transmediale Produktionsstrategie (vgl. Evans 2011, S. 34 f.). Dabei ging es darum, dass neue Produktionen grundsätzlich auf möglichst vielen Plattformen verwertet werden sollten. Im Mittelpunkt stand nicht nur eine einheitliche, transmediale Geschichte, sondern dahinter ging es auch um eine zusammenhängende Produktionspraxis. Daher stehen inzwischen vor allem Fernsehserien als Kerntexte im Zentrum transmedialer Erzählweisen. Für transmediales Erzählen sind drei Dimensionen zentral: (1) die Kohärenz der Narration, (2) die Kohärenz der Autorenschaft bzw. Produktion und (3)-eine zeitliche Kohärenz. »Eine transmediale Fernseherzählung kann als eine Geschichte angesehen wer‐ den, die eine Bandbreite von audio-visuellen Plattformen einbezieht, während eines begrenzten Zeitraumes, und die definiert ist durch episodisch-spezifische narrative Codes sowie entweder einer personalen oder einer unternehmerischen Autorenschaft« (ebd., S. 38). Vor allem die zeitliche Kohärenz mit dem begrenzten Zeitraum, in dem die transmediale Geschichte auf den verschiedenen Plattformen verbreitet wird, und die Kohärenz der Produktion bzw. der Autorenschaft sind von beson‐ 5.2 Intertextualität vs. Transmedia Storytelling 341 <?page no="342"?> derer Bedeutung. Letztere garantiert die Kohärenz und Glaubwürdigkeit der erzählten, fiktionalen Welt. Die zeitliche Kohärenz ermöglicht es, die Zuschauer: innen einzubeziehen und an die Geschichte zu binden. In der Jugendserie »DRUCK« des öffentlich-rechtlichen Content-Netz‐ werks FUNK findet die Einbeziehung der sozialen Medien bereits im Dreh‐ buch statt. Dort sind die Charaktere aus der Serie mit eigenen Seiten auf Instagram und WhatsApp aktiv. Zusätzlich werden Inhalte auch auf Snap‐ chat, Tumblr und Spotify verbreitet (vgl. Hartmann/ Mikos 2020, S. 264ff.). Die Instagram-Profile der Charaktere und ihre WhatsApp-Nachrichten sind dabei direkt in die Erzählung integriert und sind Teil des Drehbuchs. Für die Veröffentlichung wird ein wöchentlicher Plan erstellt, an welchem Tag zu welcher Uhrzeit welcher Charakter eine WhatsApp-Nachricht oder einen Instagram-Post absetzt. Ebenso ist festgelegt, wann die nächste Episode auf YouTube gezeigt wird. Lea von den Steinen hat dazu festgestellt: „Damit bieten sich soziale Medien besonders an, um Erzählwelten Inhalte hinzuzufügen, die von den Fans direkt kommentiert und weiterverbreitet werden können“ (Steinen 2022, S. 39). Zudem fallen in den Videos der Serie »Erzählzeit und erzählte Zeit nur selten auseinander« (Peltzer 2020, S. 236). Das wird durch die Posts in den sozialen Medien unterstützt. »DRUCK« ist damit quasi eine transmediale Echtzeiterzählung (vgl. Kapitel III.3). Vor allem die Kombination von Fernsehserien mit Webserien, Alternative Reality Games, anderen Spielen sowie mit sozialen Medien wie Facebook oder Twitter ist nur sinnvoll, wenn es einen zeitlichen Rahmen gibt, in dem die Ausstrahlung der Serie mit den anderen Aktivitäten kombiniert wird. Das ist und war bei Serien wie »24«, »Alias«, »Dexter«, »Fringe«, »Heroes«, »Lost«, »True Blood« und »The Walking Dead« der Fall. Der italienische Medienwissenschaftler Alessandro Catania (2015, S. 205 ff.) hat auf die besondere Bedeutung der zeitlichen Kohärenz hingewiesen. Da die transmedialen Aktivitäten vorwiegend in Kombination mit amerikanischen Fernsehserien eine Rolle spielen, kommen sie für europäische Zuschauer: in‐ nen nicht infrage, da die Serien hier oft erst mehrere Monate nach den USA im Fernsehen zu sehen sind. Es fehlt dann die Synchronität zwischen der Fernsehepisode und den Aktivitäten in den sozialen Medien sowie den mit der Serie verbundenen Spielen. Grundsätzlich lassen sich verschiedene Formen des Transmedia Storytel‐ ling unterscheiden (vgl. Mikos 2015). Eine Form der transmedialen Erzäh‐ lung kann virales Marketing sein. So wurde 2009 in der Nachrichtensendung »Newstime« auf ProSieben berichtet, dass es in New York ein Neugeborenes 342 5 Kontexte <?page no="343"?> gebe, das sehr schnell altere. Niemand könne dieses Phänomen erklären, daher habe man zur Aufklärung des Falls eine Spezialeinheit gebildet. Am Ende des Beitrags folgte der Hinweis: »Weitere Informationen zu diesen ungewöhnlichen Ereignissen erfahren Sie nach den Nachrichten auf ProSieben«. Danach wurde das »Fringe«-Logo eingeblendet sowie der Sendebeginn um 20.15 Uhr. Auf die Spitze getrieben wurde das virale Marketing im Zusammenhang mit der Vampirserie »True Blood« (vgl. auch Hardy 2011, S. 10 ff.). Nicht nur, dass Werbung für eine Biermarke namens »Tru Blood« betrieben wurde (mit dem Slogan: »Richtiges Blut ist für Trottel«, »Voller Geschmack! Ohne Biss! «), die bereits vor der Ausstrahlung geschaltet wurde und zu der man mehr auf der Website www.trubeverage.com erfahren konnte. Es wurde eine eigene Website für Vampire geschaffen, angeblich von der American Vampire League, die für die Gleichberechtigung von Vampiren in den USA eintrat. Parallel wurden kurze Webclips gedreht, in denen Vertreter der American Vampire League in TV-Magazinen auftraten, um für ihr Anliegen zu werben; ein Sprecher des Weißen Hauses verkündete, dass der Präsident das Anliegen der Vampire ernst nehme. In Straßenumfragen äußerten sich Befürworter: innen und Gegner: innen der Gleichberechtigung für Vampire. Diese Clips wurden u. a. in die Facebook-Seite der Serie eingebunden. Eine weitere Form ist eine Erweiterung der Serienwelt in Webserien hinein, wie das bei »24« und »24 Conspiracy« der Fall war (vgl. Evans 2011, S. 119 ff.) oder bei der Webserie »Torn Apart«, »die als eine Art Lückenfüller zwischen der ersten und der zweiten Staffel der TV-Adaption (»The Walking Dead«, L.M.) im Internet veröffentlicht worden ist« (Schmidt 2014, S. 17). Eine andere Form ist die Verbindung der Fernsehserie mit einem Alternative Reality Game, in dem Rätsel oder Geheimnisse aus der Serie behandelt werden oder aber neue transmediale Erweiterungen durch spielerischen Erfolg freigeschaltet werden können. Das bekannteste Beispiel ist das Spiel »The Lost Experience«, das zwischen der Ausstrahlung der zweiten und dritten Staffel von »Lost« online ging (vgl. dazu Brücks/ Wedel 2013, S. 337 ff.). Eine andere Form des Transmedia Storytelling bezieht sich auf die Charaktere von Fernsehserien, die in Webserien bzw. -episoden aufgegriffen werden. So ist in der Webserie »Little Monk« der Fernsehdetektiv aus der Serie »Monk« zu sehen, wie er schon als Kind Fälle löst und spezifische Cha‐ raktereigenschaften ausbildet. Andererseits können Nebenfiguren aus den Fernsehserien in sogenannten Appisodes ihre Sicht der Dinge aufgreifen, wie 5.2 Intertextualität vs. Transmedia Storytelling 343 <?page no="344"?> Nurse Jeffrey, der mit seinen »Bitch Tapes« seine Meinung über »Dr. House« kundtat. Eine weitere Form stellt die Einführung von neuen Charakteren in bereits etablierten Serien dar. In der Sommerpause 2012 der niederländi‐ schen Version der Soap »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« wurde eine App veröffentlicht, in der es um einen neuen, mysteriösen Charakter ging. In der App »Wer ist Tim? « konnten die Zuschauer Tagebucheinträge der Figur lesen und so nach und nach das Geheimnis lüften. Die App führte dazu, dass die Soap nach der Sommerpause ihre Einschaltquoten steigern konnte. Viele dieser Erweiterungen des Kerntextes, der Fernsehserie, machen deutlich, dass Produzent: innen und Fernsehsender auf die zunehmende Fragmentie‐ rung des Marktes und des Publikums reagieren, indem sie versuchen, mit transmedialen Erzählungen die Zuschauer: innen auf verschiedenen Plattformen zu binden. Das gelingt umso besser, je mehr Erweiterungen es gibt und das Serienerlebnis tatsächlich zu einem multimedialen auf verschiedenen Plattformen wird. Serien wie »24«, »Dexter«, »Fringe«, »Game of Thrones«, »Heroes«, »Lost«, »True Blood« oder »The Walking Dead« oder »Squid Game« versuchen dies, indem sie alle Möglichkeiten der digitalen Welt nutzen, um mithilfe von sozialen Medien, Apps, Spielen und Webserien eine fiktionale Welt zu schaffen, in die die Zuschauer: innen tief eindringen können, aber nicht müssen. Zuschauer: innenbindung und Zuschauer: innenengagement werden aus ökonomischen Gründen gesucht, und in den transmedialen Erweiterungen der Fernsehserien gefunden. Da Filme, Fernsehsendungen und Videos grundsätzlich zum Wissen und den Emotionen der Zuschauer: innen hin geöffnet sind, können in der Ana‐ lyse nicht alle möglichen intertextuellen Bezüge, transmedialen Erweiterun‐ gen und Erlebnisstrukturen herausgearbeitet werden, sondern nur die, die gewusst werden - und die noch recherchiert werden können. Das entspricht auch der Rezeption und Aneignung in der Alltagswelt der Zuschauer: innen. Denn auch da werden nur die intertextuellen Bezüge realisiert, die aufgrund der Lektüreerfahrungen in der intertextuellen Enzyklopädie vorhanden sind, und die Erlebnisstrukturen, die den eigenen handlungsleitenden Themen entsprechen und aus dem eigenen Alltag bekannt sind. Es gibt daher auch keine allwissende Interpretations- und Analysemacht, die einen Film, eine Fernsehsendung oder ein Video quasi erschöpfend analysieren und interpretieren könnte. Das hat eine entscheidende Konsequenz für die Analyse: Sie ist als kommunikativer Prozess zu gestalten, bei dem die verschiedenen Lesarten eines Films, einer Fernsehsendung oder eines Videos sich ergänzen und als ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte des 344 5 Kontexte <?page no="345"?> jeweiligen Films, der Fernsehsendung oder des Videos zu sehen sind. Denn die intertextuellen Bezüge kontextualisieren die Film- und Fernsehtexte in doppelter Weise: im Universum der Texte und im Wissen, den Erfahrun‐ gen und Erwartungen der Zuschauer: innen. Daher muss sich die Analyse sowohl auf die Inszenierung und Darstellung in den konkreten Film- und Fernsehtexten selbst beziehen als auch auf die Zuschauer: innen und die möglichen adressierten Gruppen von Zuschauer: innen. Das gilt auch für die transmedialen Erweiterungen von Fernsehserien und den transfiktionalen Erzählwelten, die sich auf verschiedenen Plattformen und in verschiedenen Medien entfalten. Analyseleitende Fragen • Welche Filme hat der Regisseur oder die Regisseurin noch gemacht? • In welcher Beziehung steht der aktuelle Film dazu? • In welchen anderen Filmen oder TV-Movies haben die Schauspie‐ ler: innen mitgespielt? • In welchem Verhältnis steht die aktuelle Rolle zu den vorangegan‐ genen? • Aus welchen anderen Sendungen sind die in einer Fernsehsendung auftretenden Moderator: innen, Künstler: innen oder Gäste bekannt? • Welche Genres oder Gattungen sind mit dem Film oder der Sendung verbunden, welche Erlebnisweisen? • Wie positioniert sich der Film innerhalb seines Genres oder die Fernsehsendung innerhalb ihrer Gattung? • Geschieht dies mehr über inhaltliche oder gestalterische Mittel? • Welche anderen Filme werden zitiert oder parodiert? • Greift der Film oder die Fernsehsendung Motive und Stoffe auf, die aus anderen Medien bekannt sind? • Welches spezifische Publikum wird adressiert? • Welche inhaltlichen und gestalterischen Mittel des Films, der Fern‐ sehsendung oder des Videos sprechen dieses spezifische Publikum an? • Welche Rolle spielen die eingesetzten Musikstile: Sollen sie Hand‐ lung und Charaktere illustrieren und unterstützen, oder dienen sie der Adressierung eines bestimmten Publikums? 5.2 Intertextualität vs. Transmedia Storytelling 345 <?page no="346"?> • Was können die Zuschauer: innen über den Film oder die Fernseh‐ sendung aus Ankündigungen, Kritiken und anderen Presseartikeln wissen? • Gibt es virales Marketing für eine Fernsehserie oder einen Film? • Welche transmedialen Erweiterungen von Fernsehserien sind be‐ kannt? • Auf welche Weise erweitern sie die fiktive Welt der Fernsehserie? • Lässt sich für eine transfiktionale Erzählwelt ein Kerntext ausma‐ chen? • Wie stehen die einzelnen transmedialen Erweiterungen in Bezie‐ hung zueinander? • Sind sie auch für sich allein verständlich? 5.3 Diskurse Diskurse spielen in der Film- und Fernsehanalyse als Kontexte eine wichtige Rolle, weil Film- und Fernsehtexte in die diskursiven Praktiken einer Gesellschaft eingebunden sind. Mit Diskursen ist hier nicht der Diskurs des Film- oder Fernsehtextes gemeint, wie er in Kapitel II.2.1 beschrieben wurde. Es geht also nicht um die ästhetische Gestaltung des Plots, sondern um Filme und Fernsehsendungen als Diskursereignisse, die für Produzent: innen und Rezipient: innen Sinn ergeben. Diskurse können als Formationen von Aussagen begriffen werden (vgl. Foucault 2013, S. 48 ff.), durch die eine Perspektivierung von Bedeutungen stattfindet. Sie bestehen im kontinuier‐ lichen Prozess der Sinnstiftung und der sozialen Zirkulation dieses Sinns (vgl. Fiske 2016, S. 6). Sie sind soziale Tatsachen, die sich aus der Ordnung des Wissens in der Sozialstruktur einer Gesellschaft formieren. »Der Diskurs, die diskursive Praxis ist nicht gleichzusetzen mit einem Textkor‐ pus oder einer Menge von Aussagen. In Texten und anderen sinntragenden Materialien findet die diskursive Praxis nur ihren materiellen Niederschlag. Unter ›Diskurs‹ wird nicht die Sprechtätigkeit von Individuen verstanden, sondern das in einem Aussagensystem enthaltene Regelsystem, das die Formation der Diskurselemente bewirkt. Es ist die diskursive Praxis, die die Produktion von Aussagen reglementiert und so eine (durch Regeln) strukturierte Praxis und (das Wissen) strukturierende Praxis ist« (Diaz-Bone 2002, S. 129). 346 5 Kontexte <?page no="347"?> In der Gesellschaft zirkulieren verschiedene Diskurse und Diskurstypen, die es für die handelnden Subjekte erst möglich machen, Aussagen über die Realität zu treffen. Das gilt sowohl für Produzent: innen als auch für Rezipient: innen von Film- und Fernsehtexten. Sie können nur über die audiovisuellen Texte kommunizieren, weil die in den diskursiven Praktiken der Gesellschaft verankert sind. Aus dieser Sicht sind Diskurse semiotische Handlungen (vgl. Machin/ Mayr 2012, S. 30ff.). Sie bezeichnen den Ort, an dem sich soziale Praktiken mit Zeichensystemen in der Produktion von Texten verbinden und dadurch die Bedeutungen und Werte einer Kultur reproduzieren und verändern (vgl. Hodge/ Kress 1988, S. 6; Machin/ Mayr 2012, S. 20ff.). Sie stehen damit immer im Zusammenhang mit sozialen Prozessen der Bedeutungsbildung und der Realitätswahrnehmung (vgl. Tol‐ son 1996, S. 192). Sie konstruieren die Realität. Daher spricht der Soziologe Reiner Keller (2011, S. 180) auch von der »diskursiven Konstruktion von Wirklichkeit«. Diskurse sind nicht neutral oder objektiv, denn ihre Produk‐ tion unterliegt spezifischen sozialen Bedingungen und sie repräsentieren damit Macht (vgl. Fairclough 2013, S. 48ff.; Fiske 1993, S. 15; Fiske 2016, S. 7). Es gehen Wertungen in sie ein, wobei konkurrierende Diskurse produziert werden: »Der dominante Diskurs setzt sich schließlich durch und gilt dann als wahr« (Niekisch 2002, S. 29). Verschiedene soziale Gruppen können diesen dominanten Diskurs aber in ihrem Interesse gebrauchen. Es geht nicht nur darum, wie Aussagen gemacht werden, sondern wer welche Aussagen von einem bestimmten Ort im sozialen Feld macht und welche Aussagen machtbedingt ausgegrenzt werden (vgl. Winter 1999, S. 57). Es können verschiedene Formen von Diskursen unterschieden werden: institutionalisierte Diskurse wie Recht, Medizin, Politik, Sport, Wissen‐ schaft; mediale Diskurse wie Film, Fernsehen, Zeitungen; populäre Diskurse wie Esoterik, Popkultur, Fitness usw. (vgl. Hayward 2017, S. 69). Während die Diskursanalyse in einem weiteren Sinn »die sozialen, politischen und kulturellen Funktionen des Diskurses innerhalb von Institutionen, Gruppen oder Gesellschaft und Kultur« untersucht (van Dijk 1997, S. 5), geht es in der Film- und Fernsehanalyse darum, zu zeigen, wie sich die gesellschaftlichen Diskurse in den Film- und Fernsehtexten materialisieren und wie die diskursiven Praktiken in der Produktion und Rezeption wirksam werden können. 5.3 Diskurse 347 <?page no="348"?> Abb. 56: Encoding/ Decoding-Modell von Stuart Hall Bereits Anfang der 1970er Jahre hat der britische Kulturwissenschaftler Stuart Hall (2002) in seinem »Encoding/ Decoding«-Modell grundlegend auf die Rolle von Diskursen in der Fernsehkommunikation hingewiesen (vgl. Abb. 56 ). Das Fernsehprogramm, aber auch Filme werden danach als ein »sinntragender Diskurs« gesehen. Damit eine Fernsehsendung Teil des sinntragenden Diskurses werden kann, muss auf der Produktionsseite im Rahmen der Bedeutungsstrukturen 1 ein kohärenter Fernsehtext entstehen, der sich in die zirkulierenden Diskurse einfügt und interpretiert werden kann (vgl. Bruhn Jensen 1995, S. 135). Bevor die Sendung einen Effekt haben kann, »muss sie zunächst als ein sinntragender Diskurs angenommen und entsprechend dekodiert werden« (Hall 2002, S. 108). Allerdings - und darauf legt Hall besonderen Wert - müssen die Bedeutungsstrukturen 1 und die Bedeutungsstrukturen 2 nicht identisch sein, »der Kodierungsvorgang kann nicht festlegen, welche Dekodierungen zur Anwendung kommen« (ebd., S. 119). Die Sendung kann von den Zuschauer: innen in einer anderen Weise decodiert werden, als sie von den Produzent: innen encodiert wurde: »Der Fernsehzuschauer kann je nach sozialem Hintergrund oder kultureller Kompetenz eine Botschaft gänzlich falsch oder einfach anders verstehen, als das Produktionsteam sie bei der Encodierung beabsichtigt hatte« (Winter 2001, S. 131). Generell nimmt Hall an, dass sich in den sinntragenden Diskursen des Fernsehens die dominanten oder bevorzugten Bedeutungen zeigen, die in einer Gesellschaft zirkulieren. Die Freiheit der Interpretation ist zwar »durch diskursive Praxisformen vorgezeichnet« (Diaz-Bone 2002, S. 129), doch haben die Zuschauer: innen in der Rezeption die Möglichkeit, eine Sendung mithilfe konkurrierender 348 5 Kontexte <?page no="349"?> diskursiver Praxisformen wahrzunehmen. So können sie einerseits die dominanten Bedeutungen übernehmen. Sie können aber auch - und das ist in der Fernsehkommunikation die Regel - die Bedeutung aushandeln. Das kann allein dadurch geschehen, dass sie die Darstellungen des Fernsehens auf ihren eigenen Lebensalltag beziehen. Die dritte Möglichkeit besteht darin, dass sie eine oppositionelle Lesart entwickeln. Sie nehmen das Fern‐ sehprogramm zwar im Rahmen des dominanten Diskurses wahr, bewerten es aber aus einer anderen, gegensätzlichen Position heraus. Wenn z. B. ein Nachrichtenbeitrag über Tarifverhandlungen gezeigt wird, in dem die Forderungen der Gewerkschaft und der Arbeitgeber Thema sind, mag sich dieser Bericht im dominanten Diskurs über die Rolle der Gewerkschaften in den Tarifauseinandersetzungen und der betrieblichen Mitbestimmung bewegen. Eine Zuschauerin hat die Möglichkeit, diesen Beitrag auch auf diese Weise zu decodieren. Vielleicht wird sie ihn mit eigenen Erfahrungen und ihrem historischen Wissen über die Ergebnisse vergangener Tarifver‐ handlungen anreichern - dann handelt sie die Bedeutung aus. Sie kann den Beitrag aber auch im Rahmen der dominanten Lesart decodieren, um ihn aus einer oppositionellen Perspektive zu bewerten, indem sie beispielsweise die Tarifverhandlungen als ein hohles, nicht mehr zeitgemäßes Ritual ansieht. Das Modell von Stuart Hall hat den Blick dafür geschärft, dass die Zu‐ schauer: innen durchaus eigene Bedeutungen entwickeln können, die aller‐ dings an die sozialen Kontexte gebunden sind, in denen sie die Film- und Fernsehtexte rezipieren. In diesen Kontexten »kommt es zu temporären Fixierungen von Bedeutungen« (Winter 1998, S. 41). Das »Encoding/ Deco‐ ding«-Modell in der vorgestellten Urform unterstellt, dass die Film- und Fernsehtexte den dominanten Diskurs aufgreifen und dieser zur Folie der Lesarten für die Zuschauer wird. John Fiske (2011, S. 63 ff.) hat zu Recht daran kritisiert, dass in der Gesellschaft auch konkurrierende Diskurse zir‐ kulieren, die in einem Film- und Fernsehtext repräsentiert sein können. Der Text folgt in dem Fall keiner dominanten Ideologie, sondern bietet aufgrund seiner Vielstimmigkeit verschiedene Lesarten an, von denen er durchaus eine bevorzugen kann (vgl. Kapitel II.1). Damit ordnen sie sich nicht ausschließlich in den dominanten Diskurs ein, sondern sind in die verschiedenen in der Gesellschaft zirkulierenden Diskurse eingebunden. Der bereits erwähnte Nachrichtenbeitrag über die Tarifverhandlungen mag zwar auf der Ebene des Inhalts den dominanten Diskurs aufgreifen, aber die Gestaltung mit Kamera und Montage kann dies bereits durchbrechen und eine oppositionelle Lesart nahelegen. In dem Fall wäre die oppositionelle Lesart im 5.3 Diskurse 349 <?page no="350"?> Text selbst angelegt. In diesem Sinn werden Film- und Fernsehtexte zu einem Feld diskursiver Auseinandersetzung, in dem es um die Durchsetzung von Bedeutungen geht (vgl. Fiske 2016, S. 5 ff.). Da die Diskurse aber an die sozialen Strukturen und damit an die ungleiche Verteilung von Macht und Ressourcen gebunden sind, werden die Filme, Fernsehsendungen und Videos auch zu einem Feld sozialer Auseinandersetzungen. Die Analyse kann die in einem Film- oder Fernsehtext vorhandenen Diskurse freilegen. Dabei geht sie von einer anfänglichen »Hypothese über die Existenz einer in einem Textkorpus freizulegenden, kohärenten diskursiven Praxis« aus (Diaz-Bone 2002, S. 132 und 2005, S. 544 ff.), ist sich aber bewusst, dass es sich dabei immer um mehrere diskursive Praktiken, um Diskursstränge, handelt, die in ihrem Verhältnis zueinander bestimmt werden müssen. Im Fall des Nachrichtenbeitrags über die Tarifverhandlungen ginge es dann darum, die verschiedenen diskursiven Praktiken, die der Fernsehtext anbietet, herauszuarbeiten (z. B. Lohnerhöhun‐ gen als Ritual, Streik als Mittel zur Durchsetzung von Interessen). Außerdem wäre zu untersuchen, auf welchen Ebenen des Textes sie angesiedelt sind, z. B. auf der Inhalts- und Repräsentationsebene, der Akteursebene oder der Ebene der ästhetischen Gestaltung. Film- und Fernsehtexte repräsentieren nicht nur diskursive Praktiken, sondern sind selbst Diskursereignisse, über die Realität erst verfügbar wird (vgl. Fiske 2016, S. 4). Zugleich enthalten sie »immer Spuren von anderen, konkurrierenden Diskursen« (Winter 1999, S. 58). Die Texte sind grundsätz‐ lich doppelt verankert: Einerseits sind sie als Diskursereignisse Teil der medialen Diskurse über Film oder Fernsehen, andererseits sind sie Teil der institutionalisierten und populären Diskurse, die in der Gesellschaft zirkulie‐ ren. Das gilt nicht nur für den Zeitpunkt ihrer Produktion und Erstaufführung, sondern auch für die späteren Rezeptionen, die ihren Beitrag zur Rezeptions‐ geschichte des Films, der Fernsehsendung oder des Videos leisten. Wenn eine Zuschauerin im Jahr 2020 die Wiederholungen der Fernsehserie »Um Himmels Willen« in der ARD ansieht, wird sie die Episoden aufgrund anderer diskursiver Praktiken decodieren als eine Zuschauerin im Jahr 2002 bei ihrer Erstausstrahlung. Das liegt unter anderem daran, dass sie in einer anderen »reading formation« (vgl. Bennett/ Woollacott 1987, S. 60 ff.) situiert sind. Der gesellschaftliche und kulturelle Kontext hat sich gewandelt. Am Beispiel des Films »Metropolis« hat der Amsterdamer Filmwissen‐ schaftler Thomas Elsaesser (2001) gezeigt, wie der Film im Verlauf seiner Re‐ zeptionsgeschichte in verschiedene diskursive Praktiken integriert wurde. In den ersten Kritiken zu dem Film wurde deutlich, dass er vor allem in den 350 5 Kontexte <?page no="351"?> zeitgenössischen Diskurs um die Moderne eingebunden war. Dabei waren die soziale Frage und die Rolle der Technik ebenso zentral wie der damalige Architekturdiskurs. »›Metropolis‹ enthüllt sich als präzise Erwiderung auf die architektonischen und stadtgestalterischen Debatten der 20er Jahre […]. Diese Debatten konzentrierten sich auf die Wünschbarkeit von Wolkenkratzern, die von modernistischen Stadt‐ planern befürwortet, von Kommunisten, Sozialisten und Sozialreformern jedoch abgelehnt wurden. Damit greift ›Metropolis‹ eine weitere Dialektik der Moderne auf« (ebd., S. 97). Die Debatten zwischen Gegnern und Befürwortern der Wolkenkratzer hat‐ ten nach dem Hochhausboom in den amerikanischen Städten Chicago und Manhattan zu Beginn des 20. Jahrhunderts eingesetzt (vgl. Weihsmann 1988, S. 165). Die Produktion von »Metropolis« fiel in eine Zeit, als diese Debatten verstärkt in Deutschland geführt wurden. Hier hatte gerade ein Ideenwett‐ bewerb um den Bau eines Hochhauses am Bahnhof Friedrichstraße in Berlin stattgefunden, der als »Schrei nach dem Turmhaus« gewürdigt wurde (vgl. Bauhaus-Archiv 1988). Die in »Metropolis« entworfene Stadt stellt eine urbane Vision dar, die in den aktuellen Diskurs über die Wolkenkratzer und »Turmhäuser« in den 1920er Jahren eingebunden war (vgl. Abb. 57). Während die Kommunisten den Film als ein Stück bürgerlich-kapitalisti‐ scher Ideologie sahen, der die Unterdrückung der Arbeiter darstellte, sahen die Konservativen in ihm ein Vehikel, um soziale Spannungen zu befördern und den Klassenkampf zu propagieren. Je nach sozialem Kontext wurde die diskursive Praxis des Films anders interpretiert und in die eigene Diskurspra‐ xis integriert. Das setzte sich in der späteren Rezeption des Films fort. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde der Film wegen seiner »bolschewisti‐ schen« Tendenzen kritisiert und in Italien sogar verboten. Nach dem Zweiten Weltkrieg kritisierte der Soziologie Siegfried Kracauer (2014) den Film als Vorläufer der ornamentalen Inszenierung von Massen in der Nazi-Ästhetik und sah in ihm »eine rechtsgerichtete Utopie, die dem politischen Körper der Weimarer Republik die Form einer sozialfaschistischen Allegorie gab« (Elsaesser 2001, S. 66). In den 1980er und 1990er Jahren war »Metropolis« mit seiner Inszenierung von Technologie und Architektur das Vorbild für zahlreiche Science-Fiction-Filme wie »Blade Runner«, »Brazil«, »Batmans Rückkehr« oder »Das fünfte Element« sowie für die Ausstattung von Video‐ clips wie »Radio Gaga« von Queen oder »Express Yourself« von Madonna. Möglich ist dies, weil die Diskurse über Architektur und Urbanität, Technik 5.3 Diskurse 351 <?page no="352"?> Abb. 57: »Metropolis« und Entfremdung als institutionalisierte Diskurse der Bedeutungsproduktion von Film- und Fernsehtexten vorgelagert sind. Die Rezeptionsgeschichte von »Metropolis« und anderen Filmen, Fernsehsendungen und Videos zeigt aber auch, dass in den unterschiedlichen reading formations, den sozialen und kulturellen Kontexten der Rezeption, jeweils andere Bedeutungen favorisiert werden können und verschiedene Lesarten möglich sind. Film- und Fernsehtexte sind nicht unabhängig von den diskursi‐ ven Praktiken in einer Gesellschaft zu sehen. Sie sind in die institutio‐ nalisierten und populären Diskurse eingebettet. Jeder Film ist zudem Teil des filmischen Diskurses, in dem es z. B. um das Verhältnis von Kunstfilm zu Genrefilm, um die Bedeutung des Films für die nationale Kultur oder um seine Einordnung in filmtheoretische Er‐ kenntnisse geht. Jede Fernsehsen‐ dung ist Teil eines televisuellen Diskurses, in dem die Verfasstheit des dualen Rundfunksystems mit der Konkurrenz zwischen öffent‐ lich-rechtlichen und privat-kom‐ merziellen Rundfunksendern so‐ wie Streaming-Plattformen ebenso eine Rolle spielt wie der kulturelle Auftrag des Fernsehens oder im populären Diskurs die mögliche Verdum‐ mung, die auf zu viel Fernsehkonsum basieren soll. Im Zusammenhang mit dem Fernsehen spielen medienpädagogische Diskurse und die Debatten um den Jugendschutz ebenfalls eine nicht unerhebliche Rolle. Institutiona‐ lisierte Diskurse über Gentechnologie sind z. B. solchen Filmen wie »Jurassic Park« vorgelagert, der Medizindiskurs spielt eine Rolle bei den Arzt- und Krankenhausserien wie »St. Angela«, »Emergency Room«, »Der Landarzt«, »In aller Freundschaft«, »Grey’s Anatomy« oder »Praxis Bülowbogen«, aber auch bei Filmen wie »Anatomie« oder »Flatliners - Heute ist ein schöner Tag zum Sterben«. Der Diskurs über die Folgen der Weltwirt‐ schaftskrise von 2008 und der über Wanderarbeiter in den USA wird im 352 5 Kontexte <?page no="353"?> Film »Nomadland« thematisiert. Diskurse über verschiedene Sexualformen werden immer wieder in Filmen behandelt, z. B. die Objektophilie, der Sex mit Objekten wie in »Titane«. Fernsehserien wie »Boardwalk Empire«, »Lilyhammer« und »Die Sop‐ ranos« verorten sich in den Diskursen zur Mafia, »Sons of Anarchy« zu Bikergangs und organisierter Kriminalität. In Filmen, in denen es wie in den »Frankenstein«-Filmen um wissenschaftliche Experimente geht, stehen Wissenschaftsdiskurse ebenso im Mittelpunkt wie in den Serien, in denen Pathologen und die Mitarbeiter der Kriminaltechnik wie »Crossing Jordan«, »CSI: Miami« oder „Navy CIS« ermitteln. Castingshows wie »Deutschland sucht den Superstar« und Germany’s Next Topmodel« klinken sich in neoliberale Diskurse über das »unternehmerische Selbst« ein (vgl. Thomas 2007). Ein Film wie »Trainspotting« fördert zwar primär einen Diskurs über Jugend, Drogen und Kriminalität, doch bedient er auch Diskurse wie den des Neoliberalismus, der sich als dominante Ideologie der Kritiker dieses Films herausstellt (vgl. Winter 1998, S. 46). Gerade dadurch, dass der Film versucht einen genauen, ethnografischen Blick auf einen spezifischen gesellschaftlichen Randbereich zu werfen, bleibt er vielstimmig und legt Lesarten nahe, die in ihm sowohl eine Verherrlichung des Junkiedaseins sehen lassen als auch eine kritische Stellungnahme zur Situation der Jugend in Großbritannien in den 1990er Jahren. Über seinen Soundtrack, der eine wesentliche Funktion in der Konstruktion des Plots hat (vgl. Smith 2002, S. 60 ff.), verortet sich »Trainspotting« auch im populären Popdiskurs. Detektiv- und Gangsterfilme, Kriminalfilme und -serien sowie Anwalts‐ serien treten in die Diskurse über Recht und Gesetz, Kriminalität und Ver‐ brechen sowie die Rolle von staatlichen Kontroll- und Ordnungsinstanzen ein. Realityshows wie »Big Brother« greifen Diskurse über Privatheit und Öffentlichkeit auf. In Shows wie »Ich bin ein Star - Holt mich hier raus! « und anderen Shows, in denen Prominente auftreten, werden die Diskurse über das Leben von Celebrities aufgegriffen. Weder ihre Produktion noch ihre Rezeption sind davon zu trennen. Für die Film- und Fernsehanalyse sind die Diskurse als Kontexte wichtig, weil kein Film, keine Fernsehsendung und kein Video außerhalb der gesell‐ schaftlichen Diskurse Sinn ergibt. Diese Diskurse sind der Produktion und Rezeption vorgelagert. Die Film- und Fernsehtexte selbst können allerdings durch ihren Inhalt und ihre Repräsentation, ihre Narration und ihre Drama‐ turgie, ihre Konstruktion von Figuren und Akteuren und ihre ästhetischen Gestaltungsmittel bestimmte Diskurse in den Mittelpunkt rücken und ten‐ 5.3 Diskurse 353 <?page no="354"?> denziell auch konkurrierende Diskurse ausschließen. In populären Film- und Fernsehtexten, die sich an ein Massenpublikum richten, ist das jedoch nur selten der Fall. Stattdessen finden die diskursiven Auseinandersetzungen in den Texten selbst statt. Die Analyse kann die verschiedenen Diskurse in den Filmen oder Fernsehsendungen offenlegen. Dazu müssen einerseits die Textstrategien untersucht werden, andererseits können zeitgenössische Kritiken (oder bei historischen Filmen auch filmhistorische und -wissen‐ schaftliche Literatur) herangezogen werden, weil sich in ihnen mögliche Lesarten offenbaren. Analyseleitende Fragen • Lässt sich im Rahmen eines bestimmten Diskurses eine eindeutige Botschaft des Films oder der Fernsehsendung feststellen? • Wie verhält sich der Film- oder Fernsehtext zum dominanten Dis‐ kurs in der Gesellschaft? • Favorisiert er eine bestimmte Lesart? • Wie würden eine idealtypische dominante und eine idealtypische oppositionelle Lesart aussehen? • Sind die verschiedenen Ebenen des Films oder der Fernsehsendung (Inhalt und Repräsentation, Narration und Dramaturgie, Figuren und Akteure, Ästhetik und Gestaltung) einem Diskurs zuzuordnen oder zeigen sich auf ihnen unterschiedliche Diskurse? • Welche verschiedenen Diskurse und diskursiven Praktiken sind in den textuellen Strukturen angelegt? • Welche Diskurse werden in den zeitgenössischen Kritiken zu dem Film angesprochen? • Hat die Fernsehsendung bei ihrer Ausstrahlung Debatten ausgelöst? Welche waren das und wie sind sie am Text festzumachen? 5.4 Lebenswelten Filme, Fernsehsendungen und Videos können nur dann ihre Funktion als Kommunikationsmedien entfalten, wenn die Plotstrukturen im Zusammen‐ hang mit dem Wissen, den Emotionen und dem praktischen Sinn der Zuschauer: innen die Geschichte im Kopf ergeben. Die sozialen Strukturen, 354 5 Kontexte <?page no="355"?> in denen die Rezipient: innen leben, haben einen wesentlichen Einfluss auf ihren Umgang mit dem Plot. Ihre Erfahrungen, aus denen sich ihr Wissen, ihre Emotionen und ihr praktischer Sinn speisen, können die Rezipient: innen nur innerhalb der sozialen Strukturen ihrer Lebenswelt machen. Lebenswelt kann begriffen werden als ein auf Kommunikation und damit auf Prozesse symbolischer Verständigung gründender Handlungs- und Erfahrungsraum, in dessen Rahmen die handelnden Menschen die Welt interpretieren (vgl. Mikos 2001a, S. 44 ff.). Das soziale Handeln wird mithilfe von gesellschaftlich vermittelten Sinndeutungen strukturiert, in denen die für das Handeln relevanten Normen und Werte repräsentiert sind. Die Lebenswelt umfasst den Wissens- und Sinnhorizont, der die verschiedenen Wirklichkeitsbereiche überlagert, in denen die Menschen handeln (vgl. auch Berger/ Luckmann 2010; Luckmann 2007; Schütz/ Luckmann 2017). Sie ist der Bezugs- und Orientierungsrahmen der alltäglichen Lebenspraxis: »Die Lebenswelt ist somit vor allem eine intersubjektive Welt vertrauter Wirklichkeit, in der die Subjekte als Handelnde in einer täglichen Lebens‐ praxis gefordert und auf diese intentional ausgerichtet sind« (Greverus 1978, S. 100). Aufgrund der Ausdifferenzierung der Gesellschaft kann nicht mehr nur von der Lebenswelt gesprochen werden, die Menschen leben in verschiedenen Lebenswelten, die sich an unterschiedlichen Sinnhorizonten orientieren. An die Lebenswelten ist der Wissensvorrat gebunden, den die Menschen benötigen, um in alltäglichen Situationen aufgrund von Relevanzstrukturen handeln zu können (vgl. Schütz/ Luckmann 2017, S. 252 ff.). Die Subjekte bewegen sich immer innerhalb des Horizonts ihrer Lebenswelt, »aus ihm können sie nicht heraustreten« (Habermas 1988, S. 192; vgl. auch Berger/ Luckmann 2010, S. 103). Film- und Fernsehtexte können daher nur im Rahmen des lebensweltlichen Horizonts der Zuschauer: innen Sinn ergeben, weil sie hier als sinntragende Diskurse decodiert werden. Dabei spielt das Wissen der Zuschauer: innen, das in seiner Gesamtheit »die Bedeutungs- und Sinnstruktur, ohne die es keine menschliche Gesellschaft gäbe« (ebd., S. 16), bildet, eine ebenso wichtige Rolle wie ihre Emotionen, ihr praktischer Sinn und ihr sozial-kommunikatives Netz. Die Lebenswelt regelt mit ihren strukturellen und funktionalen Zusammenhängen den »sinnhaften Aufbau der sozialen Welt« (Schütz 2016), der über die subjektiven Erlebnisse und Erfahrungen der Menschen hergestellt wird (ebd., S. 100 ff.). Damit ein Film- oder Fernsehtext subjektiv Sinn ergibt, müssen die Zuschauer: innen ihr Wissen - sowohl ihr Weltwissen als auch ihr narratives Wissen und ihr 5.4 Lebenswelten 355 <?page no="356"?> Wissen um filmische Gestaltungsmittel (vgl. Kapitel I.1.1) - anwenden. Sie müssen Gefühlsstrukturen und ihren praktischen Sinn aktivieren, und sie müssen die Texte in der sozialen Kommunikation verwenden können. Fernsehen als Tätigkeit kann als Handeln in den Strukturen der Lebenswelt begriffen werden (vgl. Mehling 2007, S. 143 ff.). Für die lebensweltlichen Zusammenhänge der Zuschauer: innen ist bedeutsam, dass auch Filme, Fernsehsendungen und Videos in der Lage sind, »einzelne Erfahrungen zu objektivieren und diese anderen begreifbar zu machen« (Peltzer/ Keppler 2015, S.-8). In der Film- und Fernsehanalyse können die lebensweltlichen Bezüge der Filme, Fernsehsendungen und Videos herausgearbeitet werden. Die Analyse zeigt: »Was man erfährt ist vielmehr, welchen Beitrag die Medien zur gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit leisten, indem offengelegt wird, welche Arten des Wissens und der Wertung sie durch ihre Gestaltung zur Verfügung stellen« (ebd., S.-14). Daher geht es um die Analyse der Wissensformen und -strukturen, die vom Plot aufgebaut werden, über die Analyse der empathischen Felder, der Interaktionsstrukturen und der situativen Rahmungen, die im Plot auftauchen, und über die Analyse der diskursiven Praktiken und der handlungsleitenden Themen, die im Rahmen des Plots eine Rolle spielen. Vor allem die handlungsleitenden Themen, die eng mit der subjektiven Lebenspraxis der Zuschauer: innen verbunden sind, verankern die Film- und Fernsehtexte in der Lebenswelt. Diese Themen können sich auf die gesamte Lebenssituation einer Zuschauerin beziehen, einzelne Aspekte des Lebens zum Gegenstand haben, sie können aber auch für Gruppen von Zuschauer: innen relevant sein. Die Gruppen eint eine gemeinsame Lebenssituation, die aus einer sozial-strukturellen Lage resultiert. So ist z. B. für alle Mütter die Sorge um ihre Kinder ein handlungsleitendes Thema. Kinder in einem bestimmten Alter beschäftigt dagegen die Ablösung vom Elternhaus - und damit auch von der Mutter. Filme oder Fernsehsendungen, in denen Interaktionsstrukturen zwischen Müttern und Kindern eine Rolle spielen, greifen beide Themen auf. Die Mütter und die Kinder unter den Zuschauer: innen integrieren die Film- und Fernsehtexte jedoch jeweils vor dem Hintergrund ihrer handlungsleitenden Themen in ihren Alltag. Nur so haben die Texte für sie ihren Sinn. Zuschauer: innen entwickeln eine Nähe zu den Themen, die sie in der alltäglichen Praxis ihrer Lebenswelt 356 5 Kontexte <?page no="357"?> betreffen. Das ist bereits bei Kindern so, die sich Themen zuwenden, »die die eigene Lebenssituation in modifizierter Form nacherzählen oder zu einer Lösung gebracht haben« (Charlton/ Neumann-Braun 1992, S. 96). Empirische Rezeptionsstudien haben z. B. gezeigt, dass für Zuschauer: innen von Fami‐ lienserien und Daily Soaps die aktuellen Lebensthemen eine besondere Rolle bei der Rezeption gespielt haben (vgl. Ang 1986, S. 65 ff.; Götz 1999, S. 255 ff. und 2002, S. 251 ff.; Mikos 1994, S. 309 ff.). Voraussetzung ist aber, dass diese Lebensthemen im Rahmen der Plotstrukturen in den Serien auftauchen. Dabei ist es unerheblich, ob die sozialen Strukturen, in denen die Akteur: in‐ nen in den Serien handeln, mit denen der Zuschauer: innen korrespondieren. Wichtiger ist, dass die Themen über die gezeigten Interaktionsverhältnisse mit einem »emotionalen Realismus« einhergehen (vgl. Ang 1986, S. 57) und der Plot ein empathisches Feld (Wulff 2002) aufbaut (vgl. Kapitel II.3.3). Auf diese Weise ergeben die Familienserien im eigenen Alltag Sinn. Filme und Fernsehformate fungieren daher auch als symbolischer Ausdruck; Zuschauer: innen finden in ihnen die Bedingungen und Strukturen ihrer Lebenswelt wieder (vgl. Götz 2002; Wierth-Heining 2004), für Kinder und Jugendliche übernehmen diese Funktion vor allem Helden und Stars aus der Popkultur (vgl. Fritzsche 2003; Götz/ Hannawald 2007; Wegener 2008). Wie die sozialen Strukturen, in denen Menschen leben, auch das Filmer‐ lebnis beeinflussen und zur Sinnbildung beitragen, hat John Fiske (2016, S. 124 ff.) am Beispiel der Rezeption des Films »Stirb langsam« in einem Obdachlosenasyl gezeigt. In dem Film besetzt eine Gangsterbande das 30. Stockwerk eines Bürohochhauses und versucht Geld aus dem Safe eines Konzerns zu erbeuten. Ein zufällig anwesender Polizist - gespielt von Bruce Willis - nimmt den aussichtslosen Kampf gegen die Gangster auf. Für die Obdachlosen erhält der Film auf zwei eng mit ihrer Lebenssituation verbun‐ denen Ebenen seinen Sinn: Einerseits erfreuen sie sich an der Illegitimität der Gewalt, die von den Gangstern ausgeübt wird, weil sie ebenfalls gern die Macht hätten, sich der gesellschaftlichen Ordnung, die sie unterdrückt und marginalisiert, zu widersetzen. Die Gangster nehmen stellvertretend für sie Rache am System. Andererseits stehen sie aber auch auf der Seite des Actionhelden, der gegen die übermächtig erscheinenden Gangster kämpft, und sie empfinden Sympathie für einen schwarzen Polizisten, der sich gegen seinen weißen Chef durchsetzt. Bevor der Film endet und im Plot die Ordnung wieder hergestellt wird, schalten die Obdachlosen jedoch ab. Fiske (ebd., S. 129) sieht darin den Versuch, die begrenzten Siege der Schwachen verstetigen zu wollen. Gegen Ende des Films ist der Held bereits 5.4 Lebenswelten 357 <?page no="358"?> arg zerschunden und mit blutigen Kratzern übersät, hält aber durch. Damit befindet er sich in einem physischen Zustand, der dem sozialen Zustand der Obdachlosen vergleichbar ist. »Die symbolische Gewalt ermöglicht den Marginalisierten nicht nur die Artiku‐ lation ihrer Ressentiments gegenüber der sozialen Ordnung, sondern wird von ihnen auch als Repräsentation ihres eigenen Durchhaltevermögens und ihrer eigenen Kraft wahrgenommen« (Winter 2001, S. 265). Die Lesart des Films durch die Obdachlosen ist zwar durch den Plot motiviert, sie integrieren ihn jedoch in die Bezüge ihrer Lebenswelt. Nur so kann der Film für sie Sinn ergeben und im Rahmen der Rezeption zu einem Moment der Selbstermächtigung werden. Das Beispiel zeigt, dass Medienerleben »einen Beitrag zur ›Wirklichkeitserhaltung‹ im Sinn von Berger und Luckmann« leistet. »Die Akteure können sich im Zuge des Me‐ dienerlebens symbolisch vergewissern, dass ihr subjektiver Lebensentwurf Sinn macht« (Weiß 2000, S. 58 f.). Der Film greift handlungsleitende Themen der Obdachlosen auf, über die sie ihn in ihren Alltag integrieren können. Zugleich eröffnet er die Möglichkeit der sozialen Kommunikation unter »Gleichgesinnten«. Lebenswelten als Kontext der Film- und Fernsehtexte sind daher nicht nur in der Rezeption von Bedeutung, sondern auch in den textuellen Strukturen selbst verankert. Die Erzählung und die Handlungen der Figuren sind in der Regel in spezifischen lebensweltlichen Zusammenhängen angesiedelt. Die Filme und Fernsehsendungen legen dabei je nach Genre unterschiedlichen Wert auf die Repräsentation dieser Lebenswelten. In Familienserien und Daily Soaps, in denen der emotionale Realismus im Vordergrund steht, spielen die Gestaltung der Interaktionsverhältnisse und der Aufbau eines empathischen Feldes die wichtigste Rolle. Andere Sendungen und Filme tauchen tief in die Lebenswelten ihrer dargestellten Figuren und Akteure ein. So wird z. B. in »Trainspotting« die Lebenswelt Heroinabhängiger - sowohl die alltägliche Versorgung mit Heroin als auch die Strapazen des Entzugs - sehr eindringlich mit einem quasi ethnografischen Blick gezeigt. Die Darstellung wird ästhetisch dadurch unterstützt, dass die Erzählung die Perspektive der Junkies einnimmt. Die genaue Zeichnung lebensweltlicher Zusammenhänge geht mit der Darstellung handlungsleitender Themen einher, die zu dem Wissen, den Emotionen und dem praktischen Sinn der Zuschauer: innen bzw. bestimmter Gruppen von Zuschauer: innen geöffnet sind (vgl. Kapitel-III.1). 358 5 Kontexte <?page no="359"?> In der Analyse können die handlungsleitenden Themen, wie sie in einem Film- oder Fernsehtext vom Plot organisiert sind, herausgearbeitet werden. Dadurch kann einerseits die Faszination dieser Texte für bestimmte Zu‐ schauer: innen erklärt werden, andererseits können in Verbindung mit dem lebensweltlichen Wissen die verschiedenen Lesarten untersucht werden, die im Film, der Fernsehsendung oder dem Video angelegt sind. Bezogen auf Rezeptionsprozesse wird es so möglich, aus den Plotstrukturen bereits die differierenden Geschichten im Kopf der Zuschauer: innen herauszuarbeiten. Analyseleitende Fragen • Lässt sich ein konkreter lebensweltlicher Zusammenhang feststel‐ len, in dem die Handlung des Films oder der Fernsehsendung lokalisiert ist? • Wie kann diese Lebenswelt beschrieben werden? • Welche handlungsleitenden Themen spielen dort für die Hauptfigu‐ ren eine Rolle? • An welche sozialen Strukturen sind diese Themen gebunden? • Welches Wissen und welche Emotionen spielen dabei eine Rolle? • Wie wird in den dargestellten Interaktionen ein emotionaler Realis‐ mus hergestellt? • Wie sind die aufgebauten empathischen Felder gestaltet, wie stellt sich darüber ein Bezug zu lebensweltlichen Kontexten der Zu‐ schauer her? • Wie ist das Wissen, das über die Plotstrukturen aufgebaut wird, mit lebensweltlichen Kontexten verbunden? • Werden in der Fernsehserie oder dem Film alltägliche Handlungen dargestellt? 5.5 Produktion und Markt Filme und Fernsehformate, die auf den Bildschirmen zu sehen sind, bilden als zu analysierende Texte lediglich die Oberfläche des medialen Kommu‐ nikationsprozesses. Sie zielen auf die Rezeption und Aneignung durch die Zuschauer: innen und können als bedeutungsvolle Diskurse gesehen werden (vgl. Kapitel II.5.3), hinter denen technische, ökonomische, politische und 5.5 Produktion und Markt 359 <?page no="360"?> juristische Strukturen stehen, die historisch gewachsen sind. Für die Analyse sind diese Strukturen bedeutsam. Es geht dabei nicht um die Abläufe der Produktion von Filmen, Videos und Fernsehformaten, sondern um die Be‐ dingungen und Strukturen des Film- und Fernsehmarktes. Diese können sich in den konkreten Produkten zeigen, denn sie haben teilweise Auswirkungen auf die Dramaturgie, die Figurenkonstruktion und die Ästhetik. In der Analyse können diese Auswirkungen als Kontexte der Filme, Videos und Fernsehformate herausgearbeitet werden. Seit sich das Fernsehen in den 1950er Jahren als Alltagsmedium auszubrei‐ ten begann, hat es aufgrund technischer Entwicklungen zahlreiche Verände‐ rungen in der Medienlandschaft gegeben. Multinationale Medienkonzerne sind entstanden, in denen die Industrien von Film, Fernsehen, Telekommu‐ nikation und Informationstechnologie zusammengewachsen sind (vgl. Artz 2015; Artz/ Kamalipour 2007; Kunz 2007; McPhail 2014; Thussu 2007a; Wasko 2003). Sie sind auf dem internationalen Markt aktiv. Globalisierung der Medienindustrie ist hier das Stichwort (vgl. Artz 2015; Bielby/ Harrington 2008; Havens 2006; Lee/ Jin 2018; McPhail 2014; Miller u. a. 2001; Miller u. a. 2005; Rawle 2018; Shimpach 2020; Stafford 2014, S. 235 ff.; Straubhaar 2007; Wasko 2003). Das klassische Studiosystem Hollywoods (vgl. Schatz 1988) hat sich unter diesen Bedingungen verändert (vgl. Blanchet 2003, S. 79 ff.; Gomery 2005; Miller u. a. 2005), vor allem, weil nicht mehr nur für das Kino, sondern auch für das Fernsehen produziert wurde. Die Weiterentwicklung der Satellitentechnologie hat den Prozess der Globalisierung vorangetrie‐ ben. Bereits Ende der 1960er Jahre waren leistungsstärkere Satelliten in die Erdumlaufbahn geschossen worden. »Damit eröffnete sich die Möglichkeit, flächendeckend Fernsehprogramme über Satellitensender direkt an Heim‐ empfänger mit angeschlossenem Sat-Receiver auszustrahlen« (Walitsch 2002, S. 340). Es dauerte allerdings bis in die 1980er Jahre, bis technische und medienpolitische Regelungen für eine weltweite Popularisierung des Satellitenfernsehens sorgten. Die damit verbundene Liberalisierung der nationalen Fernsehmärkte und die Einführung des privat-kommerziellen Fernsehens in zahlreichen Ländern führten zu einer weitgehenden Verän‐ derung der Fernsehlandschaft in den meisten westlichen Ländern. Das duale Rundfunksystem, das aus einem Nebeneinander von öffentlich-rechtlichen und privat-kommerziellen Sendern besteht, setzte sich durch. Das führte zu einer Ausweitung der Anzahl von Fernsehkanälen. Mit der Digitalisierung der Übertragungswege nahm dies noch weiter zu. Je mehr Fernsehkanäle es gibt, umso mehr Inhalte, also Fernsehsendungen, müssen produziert wer‐ 360 5 Kontexte <?page no="361"?> den. Programminhalte werden zu einer Ressource, die weltweit gehandelt wird (vgl. Havens 2006; Keane u. a. 2007; Moran/ Malbon 2006; Moran 2009; Steemers 2004 sowie die Beiträge in Shimpach 2020). Diese Tendenz hat sich im 21. Jahrhundert durch die Streaming-Plattfor‐ men noch einmal verstärkt. Global agierende Plattformen wie Amazon Prime Video und Netflix vermarkten ihre Filme und Serien im globalen Maßstab, da sie in fast allen Ländern der Welt Abonnent: innen haben (vgl. Jenner 2018; Lobato 2019; Lotz 2022; McDonald/ Smith-Rowsey 2016; Mikos 2021). Sie sind Bestandteil des globalen »Plattform-Kapitalismus« (Srnicek 2018). Die Streaming-Plattformen haben den globalen Film- und Fernsehmarkt nachhaltig verändert (vgl. Evens/ Donders 2018). Produktion und Distribution haben sich transformiert. Netflix begann damit eine Serie komplett produzieren zu lassen und dann gleichzeitig alle Episoden auf ein‐ mal zu veröffentlichen (vgl. Jenner 2018; Lobato 2019; Mikos 2021). Dadurch haben sich auch die Rezeptionsweisen der Zuschauer: innen verändert, indem diese Praxis der Veröffentlichung dem Binge-Watching Vorschub leistete (vgl. Perks 2015; Rubenking/ Bracken 2020 sowie die Beiträge in Jenner 2021). Mit den Streaming-Plattformen ist Bewegung in den Markt für audiovisuelle Medien geraten. Produktion, Distribution und Rezeption haben sich verändert. Die Globalisierung des Mediensystems geht jedoch nur teilweise mit einer Standardisierung und Nivellierung einher. Der Prozess ist von zahlreichen Widersprüchen gekennzeichnet. Globalisierung meint die weltweite Verbin‐ dung von Ökonomie, Politik und Kultur in transnationalen Räumen von Lebensformen und Lebensstilen (vgl. Robertson 2020). Begünstigt werden diese Prozesse durch die elektronischen Medien, die eine transkulturelle Kommunikation (vgl. Hepp 2014) und eine »neue Form globaler Massen‐ kultur« ermöglichen, »die sich stark von derjenigen unterscheidet, die mit der englischen Identität oder anderen, in einer frühen Phase mit dem Nationalstaat verknüpften kulturellen Identitäten verbunden war« (Hall 1994, S. 52). Per Satellit lassen sich fast alle Fernsehsender grenzüberschrei‐ tend überall auf der Welt empfangen. Das indische ZEE-TV ist in England zu empfangen, der deutsche Sender RTL in der Sahara, das chinesische CCTV in Australien. Zugleich ist der Fernsehmarkt jedoch vor allem durch nationale Gesetze geregelt, auch wenn die Europäische Fernsehrichtlinie einen Rahmen vorgibt (vgl. Mikos 2020a). Die Globalisierung stößt auf nationale, lokale Grenzen. 5.5 Produktion und Markt 361 <?page no="362"?> Das zeigt sich auch in der lokalen Aneignung von international vermark‐ teten Filmen und Fernsehformaten (vgl. Thussu 1998). So haben Tamar Liebes und Elihu Katz (1993) bereits Ende der 1980er Jahre in einer Studie zei‐ gen können, wie die Serie »Dallas« in verschiedenen kulturellen Kontexten unterschiedlich rezipiert und angeeignet wurde. Dagegen konnte Miriam Stehling (2015) in ihrer Untersuchung zeigen, dass es bei der Rezeption von »America’s Next Topmodel« in den USA und »Germany’s Next Topmodel« in Deutschland mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede in der Rezeption gibt, sodass man von einer transkulturellen Rezeption sprechen kann (ebd., S. 329 ff.). Die Veränderungen auf dem internationalen, globalen Film- und Fernseh‐ markt haben auch zu einer Neuformierung medialer Macht geführt. Die USA sind zwar nach wie vor »der führende Exporteur von kulturellen Produkten« (Thussu 2007b, S. 15) und die Unterhaltungsindustrie erzielt die größten Exporterlöse. Europa stellt dabei den größten Markt für die ameri‐ kanische Medienindustrie dar. Amerikanische Fernsehprogramme werden jedoch weit darüber hinaus vermarktet, sie sind in mehr als 125 Ländern zu sehen (vgl. ebd., S. 16). Hollywood-Filme werden weltweit in mehr als 150 Ländern gezeigt und dominieren dort meist den Kinomarkt. Der Marktanteil einheimischer Filme ist dagegen gering. Auf dem Fernsehmarkt sind die USA zwar weiterhin im weltweiten Vertrieb von Fernsehprogrammen dominant (Marktanteil etwa 70 Prozent), doch das trifft vor allem auf fiktionale Serien zu. Im Bereich der Showformate ist Großbritannien zum größten Exporteur geworden. Formate wie »Ich bin ein Star - Holt mich hier raus! «, »Die Super Nanny« oder »Deutschland sucht den Superstar« haben ihren Ursprung in Großbritannien. Auf diesem Markt haben auch die Niederlande einen relativ hohen Marktanteil erobert, vor allem dank der Firma Endemol, deren weltweiter Erfolg mit dem Format »Big Brother« begann. In der weltweiten Vermarktung von Telenovelas sind Brasilien, Israel und Mexiko führend. Durch die Streaming-Plattformen hat sich das Verhältnis noch einmal geändert. Zwar sind nach wie vor amerikanische Filme und Serien dominant (vgl. Hoffmann u. a. 2020; Lotz u. a. 2022), doch konnten auch spanische Serien wie »Haus des Geldes«, südkoreanische Serien wie »Squid Game« oder deutsche Serien wie »Dark« auf Netflix weltweit Erfolge verbuchen. Bereits vorher wurden Serien aus Skandinavien unter dem Label »Nordic Noir« weltweit vermarktet (vgl. Bondebjerg u. a. 2017; Gamula/ Mikos 2014; Hansen/ Waade 2017; Hellekson 2014; Hochscherf/ Philipsen 2017; Redvall 362 5 Kontexte <?page no="363"?> 2013 sowie die Beiträge in Badely u. a. 2020; Jensen/ Jacobsen 2020; Waade u.-a. 2020). Beim internationalen Formathandel im globalen Fernsehmarkt kann man drei Varianten unterscheiden (vgl. Mikos 2002a; Mikos/ Perrotta 2013a und 2013b): 1. Einerseits werden die Senderechte für komplett produzierte Serien (meist jedoch nur für einzelne Staffeln) verkauft. Diese Serien treten mit ihrem Titel als Markenlabel den Weg auf die Fernsehschirme fremder Länder an. Es werden also die Senderechte für ein fertiges Produkt verkauft, das von den jeweiligen Käufern mit Ausnahme von Untertiteln oder Synchronisation nicht mehr verändert wird. Die Ver‐ käuflichkeit hängt u. a. von der Dominanz der Formatierung und von der Offenheit der Erzählung ab. Diese Offenheit ist allerdings strukturell über verschiedene Erzählmuster formal in den Fernsehserien angelegt. Dramaserien und Sitcoms wie »The Big Bang Theory«, »Breaking Bad«, »Die Brücke«, »Game of Thrones«, »Grey’s Anatomy«, »Lost«, und »Mad Men« können hier als Beispiele dienen. Allerdings werden nicht nur fiktionale Serien auf diese Weise gehandelt, sondern auch Doku-Serien wie »Die Osbournes« und Shows wie die »Ali G. Show« oder »America’s Next Topmodel«. Letztere sind jedoch Ausnahmen, da sie vor allem für sehr spezifische Zielgruppen vermarktet werden. 2. Andererseits werden die Rechte für Serienkonzepte und einen forma‐ tierten Rahmen verkauft. Es werden hier also keine Rechte für ein fertiges Produkt verkauft, sondern jeder Käufer hat die Möglichkeit, die Serie innerhalb des vereinbarten Rahmens den lokalen Gegebenheiten anzupassen. So wurde die deutsche Daily Soap »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« nach der niederländischen Adaption der australischen Origi‐ nalserie produziert (vgl. Moran 1998, S. 109 ff.; O’Donnell 1999). Auch die Soap »Verbotene Liebe« wurde von einer australischen Serie adap‐ tiert. Die wohl bekannteste deutsche Telenovela »Verliebt in Berlin« basiert auf dem kolumbianischen Original »Yo soy Betty, la fea« (vgl. Mikos/ Perrotta 2013b). 3. Die dritte Variante ist der Verkauf von Lizenzrechten an Quiz- und Gameshows sowie Realityshows. Die einzelnen Shows wie »Big Bro‐ ther« (Original: »Big Brother« in den Niederlanden), »Germany’s Next Topmodel« (Original: »America’s Next Top Model« in den USA), »Ich bin ein Star - Holt mich hier raus! « (Original: »I’m a Celebrity … 5.5 Produktion und Markt 363 <?page no="364"?> Get Me Out of Here! « in Großbritannien) oder »Wer wird Millionär? « (Original: »Who Wants To Be a Millionaire? « in Großbritannien) werden als internationale Marke aufgebaut (vgl. Gärisch 2018). Sie haben überall auf der Welt ein wiedererkennbares Logo, die Inszenierung folgt von der Dramaturgie über die Figurenkonstellation und der Gestaltung den gleichen Regeln. Lediglich die Kandidat: innen und die Spiele bzw. Quizfragen sind lokalen Gegebenheiten angepasst. Für die Formate wird eine sogenannte Formatbibel angefertigt, die alle dramaturgischen und ästhetischen Mittel festlegt. Die Shows werden in den verschie‐ denen Ländern von unterschiedlichen Produktionsfirmen hergestellt. So wurde »Wer wird Millionär? « in Großbritannien von Celador, in Deutschland von Endemol und in Irland von Tyron produziert (vgl. Tad‐ dicken 2003, S. 80 ff.). Für die weltweite Vermarktung von Realityshows werden entweder Tochterfirmen in den jeweiligen Ländern, die Adap‐ tionen produzieren, gegründet oder es werden Kooperationsverträge mit lokalen Produktionsfirmen geschlossen. Im globalen Fernsehmarkt werden Serien und Shows weltweit vermarktet. Je kleiner der Fernsehmarkt, in dem eine Serie oder Show erfunden wurde, umso mehr ist die Produktionsfirma auf eine internationale Vermarktung angewiesen. Welches Ausmaß die internationale Vermarktung angenommen hat, ver‐ deutlichen die Beispiele von »Big Brother«, »Wer wird Millionär? « und »Verliebt in Berlin«. Der Prototyp der Realityshow »Big Brother« ist in mehr als 50 Ländern und Regionen adaptiert worden, von Argentinien über Finnland, Nigeria und Russland bis Venezuela. In Afrika, Skandinavien, im Nahen Osten, im pazifischen Raum und auf dem Balkan gab es sogar panregionale Versionen, in denen Kandidat: innen aus mehreren Ländern im »Big Brother«-Haus lebten. Die Quizshow »Wer wird Millionär? « wird in 92 Ländern in lokalen Varianten ausgestrahlt. Die Adaptionen wurden in den Fragen kulturell angepasst, die Struktur ist jedoch überall gleich (vgl. Kapitel III.5). Die Fragen in den niedrigen Gewinnklassen basieren auf lokalen bzw. nationalen Sprachspielen, in den mittleren Gewinnklassen eher auf der lokalen Kultur, nur bei den höheren Gewinnen geht es um internationales Bildungsgut. 364 5 Kontexte <?page no="365"?> Abb. 58: Beatriz Abb. 59: Lisa Abb. 60: Katya Abb. 61: Betty Während bei den nonfiktionalen Formaten die Adaptionen besonders leicht durch lokale Kandidat: innen und Moderator: innen gelingen, ist es bei fiktionalen Stoffen schwieriger. Hier müssen alle Schauspieler: innen im lokalen Kontext gecastet und die Geschichten der lokalen Kultur angepasst werden. Ein außergewöhnlich erfolgreiches Beispiel für eine internationale Vermarktung stellt hier die kolumbianische Telenovela »Yo soy Betty, la fea« dar (vgl. Larkey 2013; Mikos/ Perrotta 2013a und 2013b). Das Format wurde in mehr als 15 fast ausschließlich spanischsprachigen Ländern - von Argentinien über Guatemala bis Spanien - ausgestrahlt, in synchronisierter oder untertitelter Form in weiteren 17 Ländern - von Bulgarien über China, Indonesien und Japan bis Ungarn und die Türkei. Daneben gab es 18 lokale Adaptionen, bei denen der Titel geändert wurde und die Heldin einen lokalen Namen verpasst bekam; so hieß Betty, die in Kolumbien eigentlich Beatriz heißt, in Deutschland Lisa, in Russland Katya und in den USA eben Betty (vgl. Abb.-58 bis 61). Interessanterweise wurde das Format zuerst in Indien unter dem Titel »Jassi Jaissi Koi Nahin« mit der Hauptfigur Jasmeet adaptiert. Es folgten Belgien mit Sara unter dem gleichnamigen Titel, Deutschland mit Lisa in »Verliebt in Berlin«, Griechenland mit Maria in »Maria, i Aschimi«, Israel mit Esti in »Esti Ha’mechoeret«, Mexiko mit Leticia in »La fea más bella«, die Niederlande mit Lotte unter dem gleichen Titel, Russland mit Katya in »Ne Rodis Krasivoy«, Spanien mit Beatriz in »Yo soy Bea«, die Türkei mit Gönül in »Sensiz Olmuyor«, die USA mit Betty in »Ugly Betty« sowie eine gemeinsame bosnische, kroatische und serbische Version mit Nina in »Ne daj se, Nina«. Die kulturellen Anpassungen erfolgten nicht nur über die Namen der Heldin, sondern auch über die lokalen Settings sowie die Geschichten, die auf den jeweiligen kulturellen Kontext abgestimmt wurden. Neben der internationalen Vermarktung von Filmen und Fernsehforma‐ ten spielt im globalen Medienmarkt die multimediale Auswertung von Inhalten eine immer größere Rolle. Geschichten wie die Filme des Marvel 5.5 Produktion und Markt 365 <?page no="366"?> Cinematic Universe existieren nicht nur als Buch und Film, sondern auch als Comic und Computerspiel, sie werden mit zusätzlichem Material versehen auf DVDs, Blu-Rays und online vermarktet und in zahlreichen Internetforen diskutiert. Zunehmend setzen sich Formen transmedialen Erzählens durch, die auf ein additives Verstehen zielen (vgl. Kapitel II.5.2). Der internationale Medienmarkt setzt auf ökonomische, technische, inhaltliche und ästhetische Konvergenz (vgl. Jenkins 2006; Keane 2007), denn das Publikum nutzt alle Verbreitungswege, um sich mit Geschichten und Shows zu vergnügen. Serien und Shows, die auf dem globalen Markt bestehen wollen, müssen spe‐ zifische dramaturgische und ästhetische Strukturen haben, denn sie müssen für lokale Adaptionen offen sein. Zudem bieten die lokalen Adaptionen für die Analyse die Möglichkeit, internationale Vergleiche durchzuführen (vgl. Bochanty-Aguero 2012; Didier 2014; Larkey 2009 und 2013; Mikos u. a. 2001; Perrotta 2007; Sen 2012; Stehling 2015; Taddicken 2003; Weber 2013; Zwaan/ de Bruin 2012). Komparative Studien bieten den Vorteil, dass die lokalen Besonderheiten und die internationalen Gemeinsamkeiten gut herausgearbeitet werden können. Darüber hinaus haben die ökonomischen Strukturen der Film- und Fernsehindustrie einen Einfluss auf Produktionskulturen und die drama‐ turgische und ästhetische Gestaltung der Filme, Fernsehsendungen und Videos. Die Produktionsbedingungen in Hollywood (vgl. Caldwell 2008) sind andere als in Bollywood (vgl. Ganti 2012), Nollywood (vgl. Jedlowski 2013; Krings/ Okome 2013) oder in Dänemark (vgl. Bondebjerg u.a 2017; Redvall 2013), auch wenn es Gemeinsamkeiten gibt. In der Fernsehindustrie produzieren ein paar Unternehmen wie All3media, die Banijay Group, Fremantle Media, die ITV Studios, Viacom und Warner mit den Firmen, die zu diesen Unternehmen gehören, einen Großteil der Fernsehinhalte im Bereich Unterhaltung (vgl. Artz 2015, S. 102 ff.; FRAPA 2009). Daneben gibt es zahlreiche Verflechtungen, die u. a. dadurch entstehen, dass Produktion und Distribution getrennte Geschäftsfelder sind. Das führt dann z. B. dazu, dass die Serie »Lilyhammer« in Norwegen von der Firma Rubicon TV, die zur Banijay Group gehört, produziert wurde. Der Video-on-Demand-Dienst Netflix hat die Serie gekauft und als »Original Netflix«-Serie vermarktet. Die Vertriebsrechte der Serie hat jedoch Red Arrow International, eine Firma der ProSiebenSat.1 Mediengruppe. Wie sich die Produktionsbedingungen auf die Ästhetik und die Geschichten von Filmen und Fernsehserien auswirken, mögen zwei Beispiele verdeutlichen. Der Film »Valhalla Rising«, eine dänisch-britische Koproduktion mit Mads Mikkelsen in der Hauptrolle, 366 5 Kontexte <?page no="367"?> wurde in Schottland gedreht, wo die schottischen Highlands als Kulisse dienten. Der Grund dafür lag in den Finanzierungsbedingungen. Zwar bekamen die Produzenten Förderung vom Dänischen Filminstitut, von Scottish Screen, vom Fernsehen und von weiteren Institutionen, doch kamen 17 Prozent des gesamten Budgets aus Steuervergünstigungen in Schottland. Im Sommer 2015 wurde die fünfte Staffel der US-Serie »Homeland« des Senders Showtime in Berlin und Potsdam-Babelsberg gedreht. Die Story ist dabei nicht mehr zwischen den USA und dem Mittleren Osten (Irak, Iran, Libanon, Afghanistan) angesiedelt, sondern spielt in Berlin, wo die Heldin im Exil lebt. Einer der Gründe ist, dass die Produktion der Serie mit einer Million Euro von deutschen Förderinstitutionen unterstützt wurde. So gibt es viele Beispiele, bei denen Schauplätze, Geschichte, Ausstattung und Schauspieler: innen nur aufgrund von ökonomischen Bedingungen eine Rolle spielen, wo Produktion und Markt sich auf die Filme und Fernsehserien auswirken. In der Analyse kann dies als Kontext berücksichtigt werden. Analyseleitende Fragen • Lässt sich der kulturelle Kontext des Herstellungslandes in der erzählten Geschichte erkennen? • Ist das zu analysierende Format eine Originalversion oder eine lokale Adaption? • Welches sind die unveränderbaren Strukturen eines Formats? • Für welche Zielgruppe wurde die Serie oder die Show produziert? • Lässt sich die Zielgruppe nur lokal oder auch international bestimmen? • Gibt es dramaturgische und/ oder ästhetische Strukturen, die der lokalen Aneignung im Wege stehen? • Lassen sich in einer Serie oder Show dramaturgische und/ oder ästhetische Strukturen erkennen, die auf globalen Konventionen beruhen? • Auf welchen medialen Verbreitungswegen wird der Film, die Serie oder die Show vermarktet? • Wie konvergieren diese verschiedenen Plattformen miteinander? • Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede gibt es in zwei oder mehreren lokalen Adaptionen von Serien oder Shows? • Welche Produktionsfirmen stehen hinter den Originalserien und -shows und deren internationalen Adaptionen? 5.5 Produktion und Markt 367 <?page no="368"?> 5.6 Zitierte Literatur Abercrombie, Nicholas/ Longhurst, Brian (2007): The Penguin Dictionary of Media Studies. 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Das liegt vor allem daran, dass sie einerseits handlungsleitende Themen ihrer Zielgruppe aufgreifen und andererseits mit Spezialeffekten die Schaulust erhöhen, indem sie mehr bieten als das alltägliche Fernsehen. Kinder und Jugendliche gehen ins Kino, weil ihnen dort visuelle und akustische Attraktionen geboten werden und die erzählten Geschichten etwas mit ihrem eigenen Leben zu tun haben. Viele Superheld: innen haben spezielle Eigenschaften und Kräfte, die sie überlegen machen, ein Wunsch, den auch Kinder und Jugendliche hegen. Symptomatisch sind hier die Filme »Spi‐ der-Man»«, »Spider-Man 2«, »Spider-Man: Homecoming«, »Spider-Man: Far From Home« und »Spider-Man: No Way Home«. Hauptfigur ist der 15-jährige Peter Parker, der auf einem Schulausflug von einer besonderen Spinne gebissen wird, so dass er fortan Superkräfte entwickelt: Er kann Spinnfäden entwickeln und Spinnennetze bauen sowie an glatten Hauswän‐ den hochklettern. Diese Fähigkeiten setzt er ein, um gegen das Böse in der Welt zu kämpfen. Spider-Man sorgt für Gerechtigkeit und lebt ansonsten sein Teenager-Leben. In dieser Filmserie sind handlungsleitende Themen von Jugendlichen zum Gegenstand einer Superhelden-Filmreihe gemacht worden. Im Folgenden liegt der Schwerpunkt der Darstellung bei »Terminator 2 - Judgement Day« auf den handlungsleitenden Themen, die für Jugendliche eine Nähe zu ihrer eigenen alltäglichen Praxis im lebensweltlichen Kontext herstellen (vgl. Kapitel II.5.4). Die Fragestellung lautet: Welche handlungs‐ leitenden Themen von Kindern und Jugendlichen greift der Film auf ? Der Film wurde aus einem Korpus populärer Action- und Science-Fiction-Filme der 1990er Jahre ausgewählt und dient als exemplarisches Beispiel. Für die Analyse stand als Hilfsmittel ein Blu-Ray-Player zur Verfügung War schon der erste »Terminator«-Film auf starken Zuspruch vor allem beim jugendlichen Publikum gestoßen, sollte der zweite Teil diesen Erfolg noch bei Weitem übertreffen und von den weiteren Sequels »Terminator-3 - Rebellion der Maschinen«, »Terminator - Die Erlösung«, »Terminator <?page no="387"?> Genisys« und »Terminator: Dark Fate« nicht wieder erreicht werden. »Terminator 2 - Judgement Day« genießt einen ähnlichen Kultstatus wie die ersten beiden Filme der »Alien«-Trilogie, »Alien - Das unheimliche Wesen aus einer fremden Welt« und »Aliens - Die Rückkehr«, oder der Klassiker »Blade Runner«. Der zweite »Terminator«-Film steht sowohl inhaltlich als auch formal in der Tradition der genannten Filme und schließt inhalt‐ lich an den ersten »Terminator«-Film an (vgl. French 1996, S. 92 ff.; Pabst 2014; Telotte 2001, S. 108 ff.). Zwar hat er nicht das Genre des Science-Fic‐ tion-Films revolutioniert - dafür orientiert er sich zu sehr an klassischen Motiven -, doch hob »Terminator 2« zum Zeitpunkt seiner Entstehung die Spezialeffekte durch den exzessiven Einsatz des digitalen Morphing-Ver‐ fahrens auf ein qualitativ neues Niveau (vgl. Kapitel II.4.7). In Zeiten der computergenerierten Bilder zu Beginn des 21. Jahrhunderts versucht jeder Action-Blockbuster mit neuen Effekten zu überzeugen. Action-Blockbuster wie »Avengers: Age of Ultron«, »Avengers: Endgame«, »Black Panther«, »Doctor Strange in the Multiverse of Madness«, »Jurassic World Dominion« oder »Mad Max: Fury Road« können daher auch dem Attraktionskino zugerechnet werden, das nicht so sehr auf Narration, sondern auf Schaulust setzt. Die audiovisuellen Attraktionen machen einen wesentlichen Teil des Rezeptionsvergnügens aus. Dennoch gibt es in »Terminator 2 - Judgement Day« auch eine Erzählung, in der Spannung und Suspense erzeugt werden und handlungsleitende Themen von Kindern und Jugendlichen eine Rolle spielen. Die Hauptfigur, um die sich in »Terminator 2« alles dreht, ist weder die Erzählerin Sarah Connor noch der von Arnold Schwarzenegger verkörperte T-800-Termina‐ tor, sondern der zehnjährige John Connor, dessen Aufgabe es in der Zukunft sein wird, die Menschheit zu retten (vgl. Mikos 1995, S. 50). Aus dieser Zukunft wurde der T-1000-Terminator geschickt, um John zu vernichten. Dieser Terminator, der aus flüssigem Metall besteht, ist in der Lage, seine Form zu verändern und das Aussehen der Objekte und Menschen, die er berührt hat, anzunehmen (vgl. auch Redmond 2017, S. 11). Diese Eigenschaft macht ihn so gefährlich. Das ältere Terminatormodell, der T-800, soll John beschützen. Er ist dem neuen Terminator unterlegen, weil er auf einer veralteten Technik basiert. Damit sind die wesentlichen Figuren benannt, die für die Dramaturgie der Spannung in »Terminator 2 - Judgement Day« verantwortlich sind: Hightech-Terminator verfolgt Jungen, der von älterem Terminator beschützt wird, welcher zusammen mit der Mutter des Jungen bestrebt ist, den Verfolger unschädlich zu machen. John Connor lebt bei einer 1 Handlungsleitende Themen in »Terminator 2 - Judgement Day« 387 <?page no="388"?> Pflegefamilie, weil seine leibliche Mutter in einer psychiatrischen Anstalt festgehalten wird. Zusammen mit »seinem« Terminator gelingt es ihm, seine Mutter zu befreien. Gemeinsam nehmen sie den Kampf gegen den T-1000 auf. Der gesamte Film ist durchzogen von handlungsleitenden Themen, die für Kinder und Jugendliche in ihrer kognitiven, emotionalen und sozial-ethi‐ schen Entwicklung bedeutsam sind. Die Tatsache, dass John von seinen Pflegeeltern zur Rede gestellt wird, damit er sein Zimmer aufräumt, ist noch ein eher narrativ motivierter Verweis auf die lebensweltlichen Zusammen‐ hänge, in denen Kinder und Jugendliche leben. Hier wird eine allgemeine Erfahrung zum Thema gemacht, die viele Kinder und Jugendliche kennen. Im Film dient die Szene der Charakterisierung von John, der unzufrieden ist und sich gegen die Lebensverhältnisse im Haushalt der Pflegeeltern auflehnt. Dadurch wird die Attraktion, die das Leben (und der moralisch motivierte Kampf) mit seiner leiblichen Mutter und dem Terminator bietet, hervorgehoben. Dort hat er die Möglichkeit, Kompetenz und Stärke zu zeigen, und zwar gewissermaßen unter der Obhut des T-800-Terminators, der eine vaterähnliche Rolle für ihn einnimmt (vgl. Rauscher 2003, S. 431; Tasker 2004, S. 254). Zugleich wechselt John die Rolle vom lernenden zum lehrenden Kind, das versucht, der Maschine »Terminator« menschliche Regungen beizubringen. Aus psychoanalytischer Sicht lässt sich daher feststellen: »[Indem] der Film von einem Jungen erzählt, der dadurch imponiert, daß er mit dem Terminator über einen Superhelden verfügt, der ihn vor allen Gefahren schützt und ihm hilft, andere Menschen zu retten, greift er auch die ödipalen Triebimpulse heranwachsender Kinder und Jugendlicher auf« (König 1994, S. 52). Allerdings steht dem jungen John ein Terminator zur Seite, der viel von ihm lernen kann, z. B. welche Bedeutung Tränen und Lachen haben. Für den Jungen ist vor allem interessant, dass sein maschineller Beschützer auf seine Befehle hört. Das muss ihm aber erst vom Terminator gesagt werden. John probiert es anschließend aus, indem er den T-800 bittet, auf einem Bein zu stehen. Kurze Zeit später, als es beinahe zu einer gewalttätigen Auseinan‐ dersetzung mit zwei Männern kommt und der Terminator aufgrund seiner Programmierung diese automatisch erschießen will, hält John ihn davon ab und belehrt ihn, dass man Menschen nicht einfach so erschießen dürfe. In einer späteren Szene, als die bewaffnete Sarah in das Haus des Com‐ puterspezialisten Dyson eindringt und dessen Familie bedroht, kommen 388 1 Handlungsleitende Themen in »Terminator 2 - Judgement Day« <?page no="389"?> John und der T-800 hinzu, und John hält seine Mutter davon ab, Dyson zu töten. Sarah ahnte das bereits bei Johns Erscheinen und empfängt ihn mit den Worten »Du kommst, um mich zu stoppen? «. Anschließend bricht sie weinend in den Armen ihres Sohnes zusammen. Auch wenn es übertrie‐ ben erscheint, John aufgrund derartiger Handlungen in einer Vaterrolle zu sehen (vgl. Pfeil 1993, S. 246), so tritt er doch als humaner Erzieher auf, der den Terminator ebenso wie seine Mutter zu ethisch-moralischen Handlungsweisen anhält (vgl. Chotiner 2009, S. 79). Damit offenbart er auch einen Sinn für Gerechtigkeit, der gerade bei Jugendlichen sehr ausgeprägt ist. Außerdem erfolgt eine Umkehrung von Statuspositionen und der Hier‐ archie sozialer Rollen, indem der eigentlich Lernende zum Lehrer wird, während die eigentlich Lehrenden zu Lernenden werden. Damit stellt John im Funktionszusammenhang der Filmerzählung Identifikationsfigur und Projektionsfläche für das jugendliche Publikum des Films dar. Im Verhältnis zum Terminator werden die Unterschiede zwischen Mensch und Maschine vertieft, indem der Film die »moralischen und ethischen Prinzipien einer humanen Erziehung gegen die bedrohliche Autonomie einer mutierbaren Technologie« stellt (vgl. Pyle 1993, S. 239). Denn der Cyborg ist nur durch den Kontakt mit Menschen lernfähig - und was er lernt, ist die Entwicklung menschlicher Subjektivität. Die Humanisierung des T-800 wird so weit getrieben, dass er sich am Ende des Films für die Menschheit opfert, eine Handlung, die von einer Maschine nicht erwartet werden kann - es sei denn, es ist in ihrem Programm vorgesehen. In der Rolle des Lehrers und Erziehers kann der zehnjährige John Connor Kompetenz und Wissen zeigen, wozu auch eine ethische Haltung gehört, die sich an den moralischen Imperativen einer humanen Gesellschaft ori‐ entiert. Mit dem Terminator wird er von einer zunehmend humanisierten Maschine unterstützt, die alle Eigenschaften eines Actionhelden verkörpert und zugleich in ihrer Beschützerfunktion eine Vaterrolle annimmt (vgl. Hoberman 2000, S. 33). Actionhelden werden von Kindern und Jugendlichen bewundert, weil sie souverän und kompetent, stark und furchtlos sind. Sie verkörpern alle Eigenschaften, die ihnen selbst fehlen oder nur rudimentär entwickelt sind. In Actionfilmen wie »Terminator 2 - Judgement Day« können Kinder und Jugendliche die »vielen diffusen Gefühle von Minder‐ wertigkeit, Verlassensein, Allmachtsphantasien, Selbstdiskrepanzgefühlen usw.« wiederfinden, denn die Filme geben diesen Gefühlen und Fantasien »einen narrativen Rahmen« (Wierth-Heining 2000, S. 59). In diesem Sinn greifen Filme wie »Terminator 2« lebens- und entwicklungsgeschichtlich 1 Handlungsleitende Themen in »Terminator 2 - Judgement Day« 389 <?page no="390"?> bedeutsame Themen von Kindern und Jugendlichen auf und können in der Rezeption leicht in deren lebensweltliche Kontexte integriert werden. Das wird oft durch intertextuelle Bezüge unterstützt, die auf alltägliche populärkulturelle Praktiken verweisen, so auch in »Terminator 2« (vgl. Mikos 1995, S. 51 f.). Der Film steht dadurch in enger Verbindung zur Lebenspraxis von Kindern und Jugendlichen. Zudem fasziniert er durch seine audiovisuellen Attraktionen Zitierte Literatur Chotiner, Harry (2009): »I Know Now Why You Cry«: »Terminator-2«, Moral Phi‐ losophy, and Feminism. In: Brown, Richard/ Decker, Kevin S. (Hrsg.): Terminator and Philosophy. I’ll Be Back, Therefore I Am. Hoboken, S. 69-81 French, Sean (1996): The Terminator. London Hoberman, J. (2000): Nietzsche’s Boy. In: Arroyo, José (Hrsg.): Action/ Spectacle Cinema. A Sight and Sound Reader. London, S. 29-34 König, Hans-Dieter (1994): Mutter und Sohn und ein Mann aus Stahl. Tiefenherme‐ neutische Rekonstruktion von »Terminator 2«. Dritter Teil. In: Medien Praktisch, 18, 3, S. 52-60 Mikos, Lothar (1995): Die Faszination des Cyborgs im Actionkino. Kritische An‐ merkungen zur tiefenhermeneutischen Rekonstruktion von »Terminator-2«. In: Medien Praktisch, 19, 1, S. 47-53 Pabst, Eckhard (2014): Die beste aller möglichen Welten. James Camerons »The Terminator« und »Terminator-2: Judgment Day«. 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Die Film- und Fernsehindustrie vertraut zwar nach wie vor auf die klassischen Genres, aber zugleich weisen Innovatio‐ nen über Genregrenzen hinaus. Konventionen einzelner Genres werden neu gemischt, um so einerseits etwas Neues entstehen zu lassen und andererseits neue Publika zu gewinnen. Die Blockbuster aus Hollywood benutzen verschiedene Genrekonventionen, um das Zielgruppenspektrum der Filme zu erweitern. Ebenso wird in der Formatentwicklung für das Fernsehen auf Strategien der Hybridisierung gesetzt (vgl. Kapitel-II.5.1). Im Mittelpunkt der folgenden Analysen stehen die Strategien der Mischung von Genrekonventionen in Blockbuster-Filmen. Als Hilfsmittel stand ein Blu-Ray-Player zur Verfügung. Ein Blockbuster ist ökonomisch definiert als aktuelles Spitzenprodukt des kommerziellen Filmwesens, das entweder einen außerordentlichen Kassenerfolg bereits darstellt oder zu diesem aufgrund der investierten Mittel verurteilt ist (Hall 2002, S. 11). Er ist Teil einer auf einen weit überdurchschnittlichen finanziellen Erfolg abzielenden, umfassenden »in‐ dustriellen Geschäftsstrategie« (Gomery 2003, S. 72). Diese beinhaltet nicht allein Produktion, Vermarktung und Vertrieb des Films, sondern ebenso zahlreiche Maßnahmen zu seiner Wieder- und Weiterverwertung: Entlang eines sorgfältig geplanten und in seinem zeitlichen Ablauf genau gestaffel‐ ten release line-up wird er durch mehrere Produktkanäle und verschiedene Auswertungsfenster hindurch in Umlauf gebracht (vgl. Mikos u. a. 2007, S. 19 ff.; vgl. auch Ulin 2013, S. 118 ff.). Vor dem Hintergrund dieser Verwer‐ tungskette wird deutlich, dass das rein ökonomisch definierte Format des Blockbusters nicht ein einzelnes Produkt - den aufwendig produzierten und <?page no="393"?> intensiv beworbenen Kinofilm - beschreibt, sondern eine breit angelegte kommerzielle Strategie, mit der multinationale, vertikal und horizontal in‐ tegrierte Medienkonglomerate gegenwärtig operieren (Gomery 2003, S. 81), sie sind Teil einer globalen Unterhaltungsindustrie (vgl. Artz 2015). Der Blockbuster-Kinofilm entfaltet daher sein finanzielles Potenzial niemals im Alleingang, sondern wird ganz gezielt in einem größeren ökonomischen Bezugsfeld positioniert, das seit Ende der 1970er Jahre zunehmend entlang der horizontalen Integration von Megakonzernen organisiert ist. Insofern oszilliert das Leitprodukt der internationalen Filmindustrie bereits auf der Ebene seiner ökonomischen Funktion zwischen einer Vielzahl von Bezugsebenen. Wie Thomas Schatz (1993, S. 9 f.) schon vor geraumer Zeit festgestellt hat, greifen Blockbuster-Filme als Gravitationszentren einer vielseitigen »Mehrzweck-Unterhaltungsmaschinerie« längst über eine rein industrielle oder ökonomische Beschreibungslogik hinaus und stellen mul‐ tidimensionale Forschungsgegenstände dar, deren Reichweite ästhetisch, kulturell, gesellschaftlich und politisch reflektiert werden muss. Ein integrativ-pragmatischer Ansatz verfolgt die Formation eines Film‐ genres bzw. Fernsehformats als historisch und kulturell spezifischen Aus‐ handlungsprozess zwischen Film und Publikum, der Produktion, Marketing, den Filmtext selbst, die kritische Rezeption (Filmkritiken) und Fandiskurse umfasst (vgl. Berry-Flint 2004; Casetti 2001; Lacey 2000, S. 132 ff.; Moine 2008; Neale 2000; vgl. auch Kapitel I.5.1). Ihm liegt die Überzeugung zu‐ grunde, dass nur ein Verständnis, das Genres »als einen Ort des Kampfes und der Ko-Operation zwischen verschiedenen Nutzern« (Altman 1999, S. 211) betrachtet, relevante Einsichten in kulturspezifische Muster von Ad‐ ressierungs- und Vermittlungsstrategien, Aneignungen und symbolischen Deutungen ermöglicht. Als eine Kategorie, die klassische Genreformationen abgelöst bzw. sich ihnen übergeordnet hat, operieren Blockbuster somit als Chiffren eines neuartigen Diskurssystems, das - analog zu klassischen Gen‐ refunktionen - Richtlinien der Produktion, Textualität und Vermarktung wie der Publikumsorientierung aufstellt und überliefert. Als Modi der Regulierung von Produktion und Rezeption bzw. Inter‐ pretation sind Blockbuster wie klassische Genrestrukturen zu verstehen. Genres als historische und gesellschaftliche Sinnstrukturen bilden eines der Hauptelemente des sogenannten »kommunikativen Vertrags«, der zwischen einem spezifischen Medienprodukt und seinen Nutzer: innen, Konsument: innen oder Rezipient: innen geschlossen wird (Casetti 2001). Sie organisieren die Kommunikation im Kontext von spezifischen situativen 2 Blockbuster als Metagenre: »Der Herr der Ringe« 393 <?page no="394"?> Relevanzstrukturen und können in diesem Sinn als privilegierte Form einer kulturellen Praxis angesehen werden, durch die das weite Feld von Texten und Bedeutungen, die in einer Gesellschaft zirkulieren, geordnet und kontrolliert wird. Wie lassen sich nun vor diesem Hintergrund die Filme der »Herr der Ringe«-Trilogie als Blockbuster verstehen und einordnen? Versuche, das Phänomen der Blockbuster mit kritischen Genrekonzeptionen in Verbin‐ dung zu bringen, haben dafür den Begriff »Metagenre« eingeführt, da solche Filme traditionelle Genreformationen durchschneiden und letztlich transzendieren. Mit dem Blockbuster als big movie hat sich ein eigenstän‐ diges Metagenre etabliert, dessen schiere Opulenz und Größe allein es rechtfertigt, es als Blockbuster zu klassifizieren (vgl. Stringer 2003, S. 3). Jenseits von ökonomischen Kriterien sind es bestimmte ästhetische Merk‐ male, die die »Herr der Ringe«-Trilogie aus der Masse des kommerziellen Filmangebots herausgehoben und ihren Erfolg ausgemacht haben. Eine Reihe dieser Merkmale teilt sie mit anderen Blockbustern jüngeren Datums, etwa den »Harry Potter«- und »Spider-Man«- oder den »Batman«-Filmen, die ebenfalls ästhetisch als Metagenre funktionieren. In Bezug auf »Der Herr der Ringe« wird dies vor allem an den heterogenen Genreelementen und der Diversifikation der Erzählung entlang der verschiedenen Auswer‐ tungsebenen deutlich. Blockbuster als Metagenre zu verstehen, hat daher verschiedene Vorteile gegenüber einem Beschreibungsmodell, das die kul‐ turelle Bedeutung des Formats rein technisch, ökonomisch oder ästhetisch fasst und diese Aspekte isoliert voneinander betrachtet. Allein der weltweite Erfolg der »Herr der Ringe«-Trilogie wirft die Frage nach dem Genrestatus der drei Filme auf. Sie basieren auf einer literarischen Vorlage, werden durch Computerspiele ergänzt, von zahlrei‐ chen Merchandising-Produkten begleitet und auf DVD und Blu-Ray mit speziellen Features ausgewertet. Auf diese Weise sprechen sie mit den Fans der Bücher, Computerspiele und Merchandising-Produkte ein bereits existierendes breites Publikum an. Darüber hinaus positionieren sich die Blockbuster-Filme mit intertextuellen Verweisen ganz bewusst in einem potenziell unbegrenzten Feld kulturellen Wissens, das in der Gesellschaft zirkuliert. Filmische Adaptionen existierender Medienprodukte garantieren als sogenannte Tie-ins einen gewissen Erfolg, weil die Figuren und Ge‐ schichten der Filme bereits Teil der kulturellen Praxis des Publikums sind (vgl. Whiteside 1981, S. 80 ff.). Dieses für den Blockbuster charakteristische Phänomen lässt sich unter dem Aspekt einer kulturell »abgesicherten 394 2 Blockbuster als Metagenre: »Der Herr der Ringe« <?page no="395"?> Rezeption« verstehen. Blockbuster müssen kein neues Publikum generie‐ ren, sondern können auf ein vorgeprägtes kulturelles Wissen und bereits etablierte kulturelle Praktiken zurückgreifen. Neben der abgesicherten Rezeption garantieren ästhetische Alleinstel‐ lungsmerkmale den Erfolg von Blockbustern an Kinokassen. Geoff King zufolge zählen dazu extravagantes Sounddesign, dynamische Kamera- und Montageführung sowie eine besondere Qualität audiovisueller Sensation (vgl. King 2003, S. 114). Letztere zeigen sich besonders in den visuellen Effekten und den Spezialeffekten (vgl. Kapitel II.4.7). Außerdem sind Block‐ buster in der Regel zwar spezifischen Genres wie Action, Fantasy und Science-Fiction zuzuordnen, die vor allem junge männliche Zuschauer ansprechen. Um aber ein größeres Publikum zu erreichen, kombinieren sie die Konventionen dieser Genres mit Elementen anderer Genres, z. B. einer romantischen Liebesgeschichte (Arwen und Aragorn in »Der Herr der Ringe«). Blockbuster praktizieren daher bewusst ein eklektisches Genre‐ sampling, um möglichst viele Zuschauer: innen anzuziehen und ihren Vorlie‐ ben gemäß »abzuholen«. Sie beuten eine Vielzahl existierender Genres aus, um einen mehrfach kodierten Genrefilm herzustellen, der ohne emotionale Distanzierung genossen werden kann. Diese Genre-Multiplizität dient einer möglichst unbegrenzten Zirkulation des Blockbusters in verschiedenen sozialen und diskursiven Kontexten, weil jedes Genreelement ein anderes Publikum adressiert. Daher ist es das erklärte Ziel der Multigenre-Blockbus‐ ter, den ökonomischen Erfolg durch die Anziehung möglichst vieler Publika zu optimieren. In solchen Blockbustern, die als Metagenre fungieren, werden wie in »Der Herr der Ringe« die narrativen Handlungselemente reduziert. Dialoge beschränken sich oft auf ein Minimum, allein um Szenen in ihrer Deutungs‐ weise offenzuhalten und damit ein mehrmaliges Sehen zu ermöglichen. Ein Beispiel hierfür ist der abschließende Kampf zwischen Frodo und Gollum im Schicksalsberg. Als Frodo nur noch mit einer Hand am Felsvorsprung hängt, wirft er einen Blick zurück in Richtung des Rings. Ob er in diesem Moment darüber nachdenkt, hinterherzuspringen oder eher erleichtert ist, ist Interpretationssache. Das Zurücktreten eines klassischen narrativen Aufbaus mag einerseits den Konventionen des Blockbusters als Metagenre geschuldet sein, kann aber auch im Werdegang des Regisseurs seine Ursache haben. Als ehemaliger Splatter- und Horrorfilmregisseur bewegte Peter Jackson sich bisher in Genres, in denen klassische Erzählprinzipien sowieso nur eine untergeordnete Rolle spielen. 2 Blockbuster als Metagenre: »Der Herr der Ringe« 395 <?page no="396"?> In den Methoden des Spannungsaufbaus erinnern viele Szenen in »Der Herr der Ringe« an Elemente aus Horror- und Splatterfilmen. So lassen Orks und Uruk-hais an Splatterfilme denken, »die Schwarzen Reiter […] sind ebenfalls aus Konventionen des Horrorfilms ausgeliehen« (Thompson 2003, S. 49). Zudem wird oft mit Überraschungsmomenten gearbeitet, die sogar Figuren, die an sich auf der Seite des Guten stehen, zunächst eine bedrohliche Aura geben. Arwen etwa scheint bei ihrem ersten Auftritt in »Die Gefährten« Aragorn mit einem Schwert zu bedrohen, denn nur die Klinge ist sichtbar, die Elbin selbst nicht. Eine ähnliche Szene gibt es bei Gandalfs Rückkehr ins Auenland, nachdem er sich über die Bedeutung des Rings informiert hat. Als Frodo das Haus betritt, ist Gandalf zunächst nicht zu sehen, es herrscht nur eine düstere Atmosphäre, bis er plötzlich wie aus dem Nichts auftaucht. Und auch Aragorns erstes Erscheinen in »Die Gefährten« ist wenig vertrauenerweckend, zumal er von einem Wirt im »Tänzelnden Pony« als gefährlicher Waldläufer beschrieben wird. Blockbuster verwenden außerdem einen klassischen Erzählstil mit Ele‐ menten, die bestimmte Erwartungen der Zuschauer: innen an die Narra‐ tion erfüllen. So ist in den »Herr der Ringe«-Filmen im Gegensatz zur Buchvorlage zum einen die Liebesgeschichte von Arwen und Aragorn verstärkt und zum anderen die von Eowyn und Aragorn neu eingeführt. Für den Plot sind diese Nebenhandlungen nicht weiter relevant, sie bringen die Haupthandlung nicht voran. Erst am Ende von »Die Rückkehr des Königs« erhält Erstere eine dramatische Funktion, weil Arwen aufgrund des Vorrückens von Saurons Armeen ins Reich der Schatten zu fallen droht, wie es im Film heißt. Noch unmotivierter ist die angedeutete Beziehung von Eowyn und Aragorn in der Kinofassung von »Die zwei Türme«. Nur einzelne, bewundernde Blicke von Eowyn bringen hier eine mögliche Liebesbeziehung ins Spiel. Die Einführung dieser kurzen Romanze lässt sich nur damit begründen, dass Arwen in »Die zwei Türme« nur in kurzen Rückblenden vorkommt und deshalb hier eine »Ersatz-Liebesgeschichte« für den zweiten Teil der Trilogie angeboten wird. Eine Erklärung für diese Aufwertung der Liebesgeschichten liegt darin, dass Handlungsstränge, in denen heterosexuelle Liebe eine Rolle spielt, in nahezu allen Filmen mit klassischem Erzählstil vorkommen. Ein Großteil dieser Filme zeigt in den Schlusseinstellungen das Bild eines vereinigten Paares (vgl. Blanchet 2003, S. 25). Auch »Die Rückkehr des Königs« endet mit mehreren solcher Schlusseinstellungen. So werden neben Arwen und Aragorn (Abb. 62) sowie Sam und Rosie sogar Eowyn und Faramir andeutungsweise als vereinigtes 396 2 Blockbuster als Metagenre: »Der Herr der Ringe« <?page no="397"?> Paar gezeigt, wobei gerade Letztere eher unmotiviert zusammenkommen. Letztlich zählt aber, dass die Einführung dieser Nebenhandlungen weniger dem Plot als narrativen Konventionen geschuldet ist. Abb. 62: »Der Herr der Ringe - Die Rückkehr des Königs« Die »Herr der Ringe«-Trilogie basiert auf Konventionen des Fantasy-Gen‐ res, diese werden aber von Motiven und Genresignalen des romantischen Liebesfilms, des Melodrams, des Horror- und Splatterfilms, des Historiendramas, des Samurai- und Martial-Art-Films, des Roadmovies, des Western, des Kriegsfilms, der Komödie und des Märchenfilms überlappt. Jedes dieser verschiedenen Genreelemente hat auf den Ebenen der Narration und der ästhetischen Gestaltung den Status punktuell aktivierter Interpretationsrah‐ men, die unter sich spezifische Muster ausbilden. So wird das Publikum die »Herr der Ringe«-Filme zwar dominant als Fantasy rezipieren, einzelne Szenen und Sequenzen kann es aber auch den bekannten Konventionen an‐ derer Genres zuordnen. So ist es z. B. möglich, die Schlachtszenen sowohl als Kriegsfilm wie auch als Splatterfilm, Martial-Arts-Film oder Historiendrama zu sehen. Auf diese Weise generiert die Genremixtur von »Der Herr der Ringe« eine multiple kommunikative Perspektive zur Aushandlung einer Vielfalt von Bedeutungen. Da die meisten Szenen Genrekonventionen unterschiedlicher Herkunft integrieren, etablieren die Filme ein komplexes Netz verschiedener Genre‐ ebenen; entsprechend breit gefächert sind die zwischen Text und Rezipi‐ ent: in zustande kommenden kommunikativen Verträge. Jede einzelne Szene der drei Filme handelt ihren ästhetischen und narrativen Status durch verschiedene sich ablösende und überlagernde Genrekonventionen aus, von denen einige zeitweise dominieren können. Die Zuschauer: innen sind als 2 Blockbuster als Metagenre: »Der Herr der Ringe« 397 <?page no="398"?> Adressaten der Genremerkmale in diesen Prozess involviert, da sie auf der Grundlage der Genrekonventionen, die ihnen als Interpretationsrahmen dienen, ihre Erwartungen an die Handlung, die Ästhetik und die Narration aufbauen. So findet ein permanentes Wechselspiel zwischen textuellen Aushandlungsprozessen einerseits und zwischen Publikumserwartungen und -interpretationen andererseits statt. Blockbuster wie »Der Herr der Ringe« fungieren als Artikulationen eines Metadiskurses um Genrekonventionen, der letztlich wieder ökonomischen Erwägungen und Gesetzmäßigkeiten folgt. Denn nicht zuletzt rechnet das tendenziell mehrdeutige Textangebot mit einer wiederholten Lektüre der Filme entlang ihrer Verwertungskette auf Streaming-Plattformen, auf DVD und Blu-Ray, im Fernsehen und als Computerspiel. Derartige Formen der strategischen Remediatisierung und medienübergreifenden Serialisie‐ rung übernehmen immer mehr die traditionell von Genrekonventionen erfüllte Funktion, Publikumserwartungen zu fixieren und den zukünftigen Erfolg des filmischen Produkts zu garantieren. Vermarktungskampagnen für Blockbuster-Filme antizipieren divergierende Publikumserwartungen und Rezeptionsstrategien. Indem sie die hybriden Genre-Identitäten der Filme herausstellen, versuchen sie, eine maximale Publikumsreichweite für ihre Produkte zu erzielen (Altman 1998, S. 9), indem sie sich in der Produktion, Distribution und der Konsumtion öffnen (vgl. Elsaesser 2012, S. 291). Da Blockbuster allein aufgrund ihrer hohen Produktions- und Mar‐ keting-Kosten ein möglichst globales, breites Publikum ansprechen müssen, bilden sie in der Vermischung einzelner Genrekonventionen zugleich einen (selbst-)reflexiven Meta-Diskurs über Genres und ihre Konventionen. In diesem Sinn können sie als Meta-Genre verstanden werden. Zitierte Literatur Altman, Rick (1998): Reusable Packaging. Generic Products and the Recycling Process. In: Browne, Nick (Hrsg.): Refiguring American Film Genres. Theory and History. Berkeley, CA, S. 1-41 Altman, Rick (1999): Film/ Genre. London Artz, Lee (2015): Global Entertainment Media. A Critical Introduction. Malden/ Ox‐ ford Berry-Flint, Susan (2004): Genre. In: Miller, Toby/ Stam, Robert (Hrsg.): A Companion to Film Theory. Oxford, S. 25-44 398 2 Blockbuster als Metagenre: »Der Herr der Ringe« <?page no="399"?> Blanchet, Robert (2003): Blockbuster. Ästhetik, Ökonomie und Geschichte des postklassischen Hollywoodkinos. Marburg Casetti, Francesco (2001): Filmgenres, Verständigungsvorgänge und kommunikati‐ ver Vertrag. In: Montage/ AV 10, 2, S. 155-173 Elsaesser, Thomas (2012): The Persistence of Hollywood. From Cinephile Moments to Blockbuster Memories. New York/ London Gomery, Douglas (2003): The Hollywood Blockbuster. Industrial Analysis and Practice. In: Stringer, Julian (Hrsg.): Movie Blockbusters. London/ New York, S. 72-83 Hall, Sheldon (2002): Tall Revenue Features. The Genealogy of the Modern Block‐ buster. In: Neale, Steve (Hrsg.): Genre and Contemporary Hollywood. London, S. 11-25 King, Geoff (2003): Spectacle, Narrative, and the Spectacular Hollywood Blockbuster. In: Stringer, Julian (Hrsg.): Movie Blockbusters. London/ New York, S. 114-127 Lacey, Nick (2000): Narrative and Genre. Key Concepts in Media Studies. New York Mikos, Lothar/ Eichner, Susanne/ Prommer, Elizabeth/ Wedel, Michael (2007): Die »Herr der Ringe«-Trilogie. Attraktion und Faszination eines populärkulturellen Phänomens. Konstanz Moine, Raphaëlle (2008): Cinema Genre. Malden/ Oxford Neale, Steve (2000): Genre and Hollywood. New York Schatz, Thomas (1993): The New Hollywood. In: Collins, Jim/ Radner, Hillary/ Collins, Ava Preacher (Hrsg.): Film Theory Goes to the Movies. London/ New York, S. 8-36 Stringer, Julian (2003): Introduction. In: ders. (Hrsg.): Movie Blockbusters. Lon‐ don/ New York, S. 1-14 Thompson, Kristin (2003): Fantasy, Franchises, and Frodo Baggins: »The Lord of the Rings« and Modern Hollywood. In: The Velvet Light Trap, 52, S. 45-63 Ulin, Jeffrey C. (2013): The Business of Media Distribution. Monetizing Film, TV and Video Content in an Online World. New York/ London Whiteside, Thomas (1981): The Blockbuster Complex. Conglomerates, Show Busi‐ ness and Book Publishing. Middletown Zitierte Literatur 399 <?page no="400"?> 3 Transmedia Storytelling und Echtzeiterzählung in »DRUCK« Transmedia Storytelling ist eine Reaktion der Medienindustrie auf die Diversifikation der Plattformen bzw. Vertriebswege und der Fragmentie‐ rung des Publikums in verschiedene soziale Milieus und Zielgruppen (vgl. Kapitel II.5.2). Transmediale Geschichten benutzen ergänzende bzw. erwei‐ ternde Elemente, um ihre fiktionale Welt zu entwickeln und einen Kerntext auszuweiten (vgl. Jenkins u. a. 2013, S. 138). Soziale Medien gehen mit traditionellen Medien eine Verbindung ein (vgl. Cunningham/ Craig 2019). Damit lassen sich neue Zielgruppen erschließen, denn vor allem in den jungen Zielgruppen haben soziale Medien eine große Bedeutung. Das hat noch einmal neue Möglichkeiten für das Transmedia Storytelling eröffnet. In der Jugendserie »DRUCK« des öffentlich-rechtlichen Content-Netzwerks FUNK wurden neue Wege beschritten, indem soziale Medien wie Instagram, Snapchat, Tumblr, WhatsApp sowie die Musik-Streaming-Plattform Spotify in die Erzählung eingebunden wurden. Im Folgenden wird das Transmedia Storytelling und die Echtzeiterzählung der Jugendserie analysiert. Als Da‐ tenbasis dienten die Clips der ersten Staffel der Serie, die alle auf YouTube verfügbar sind sowie die Profile der Charaktere Hanna und David auf Instagram (siehe Abb. 63 und 64). <?page no="401"?> Abb. 63 und 64: Instagram-Profile Hanna und David »SKAM« bediente sich des Transmedia Storytelling, um die Erlebnisse der Protagonist: innen in Echtzeit zu erzählen. Die Szenen wurden exakt in der Woche veröffentlich, in der sie auch in der fiktiven Handlung stattfanden. Waren die Charaktere zum Beispiel am Samstagabend auf einer Party, wurde der entsprechende Clip ebenfalls am Samstagabend publiziert. Zudem dienten die Clips auf der Website, die Videos auf dem Fernsehsender NRK3, die Facebook- und Instagram-Posts der Charaktere dazu, eine kohärente Erzählwelt zu schaffen ( Jørgensen 2017, S. 11ff). Über diese Transmedia-Strategie von »SKAM« wurden junge Zuschauer: innen eingebunden, da Raum für Interaktionen entstand. Auf diese Weise gelang es, eine starke »SKAM«-Community zu schaffen und den internationalen Erfolg zu sichern. Es soll an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, dass es sich bei »DRUCK« um eine Adaption der norwegischen Jugendserie »SKAM« handelt. »SKAM« war nicht nur in Norwegen sehr erfolgreich, sondern wurde in vielen Ländern gesehen, da sie online global verfügbar war. Der norwegische öffentlich-rechtliche Sender NRK nannte die Serie daher auch ein »Online Drama« (vgl. Sundet 2019, S. 2). In der Serie wurden die Episoden auf der eigenen Webseite und dem Fernsehsender NRK3 veröffentlicht. Die Erzählung dreht sich um eine Gruppe von Gymnasiast: innen und Freund: innen, die eine Schule in Oslo besuchen. Es wird das Leben zu Hause und in der Schule gezeigt, und wie die Protagonist: innen mit den 3 Transmedia Storytelling und Echtzeiterzählung in »DRUCK« 401 <?page no="402"?> universellen Themen wie Identität, Liebe, Freundschaft, Sexualität, Religion und Scham umgehen. In jeder Staffel der Serie steht eine andere Person im Mittelpunkt. Das Besondere waren jedoch nicht nur die Themen und Protagonist: innen, sondern die Art und Weise, wie die Geschichte erzählt wurde. In der internationalen Medienlandschaft blieb der Erfolg von »SKAM« nicht unbemerkt. Die deutsche Distributionsfirma Beta sicherte sich die Lizenzrechte für Adaptionen und war dann auch an der Produktion betei‐ ligt (vgl. Mikos 2020, S. 7). Es gab Adaptionen in Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und den USA (vgl. ebd.). Auch hier stehen in jeder Staffel andere Protagonist: innen im Mittelpunkt, und die Geschichten werden transmedial in Echtzeit erzählt. Die deutsche Adaption »DRUCK« folgt diesen Mustern (vgl. zum Adap‐ tionsprozess Hartmann/ Mikos 2020). In den ersten vier Staffeln standen die Charaktere Hanna, Mia, Matteo und Amira im Zentrum der Erzählung. In der fünften bis achten Staffel waren es Nora, Fatou, Inci und Mailin. Während im norwegischen Original auch Facebook eingebunden wurde, verzichtete »DRUCK« darauf. In das transmediale Universum wurden neben den Clips auf YouTube die sozialen Medien Instagram (siehe Abb. 63 und 64), Snapchat, Tumblr und WhatsApp eingebunden (vgl. Hartmann/ Mikos 2020, S. 264ff.; Steinen S. 37ff.). Dadurch konnte eine Echtzeiterzählung kreiert werden, in der die Zeit in der Serie mit der Zeit der Zuschauer: innen synchronisiert werden konnte. Alle Handlungen wurden zu der Zeit, zu der sie auch spielen, veröffentlicht. In den Clips wurden Tages- und Zeitangaben eingeblendet (vgl. Abb. 65). Sie markieren einen zeitlichen Orientierungs‐ rahmen für das Publikum. Abb. 65: Tages- und Zeitangabe in »DRUCK« 402 3 Transmedia Storytelling und Echtzeiterzählung in »DRUCK« <?page no="403"?> Die Social-Media-Beiträge wurden in die Erzählzeit integriert, so dass sich für die Rezipient: innen eine kohärente Erzählung ergibt, in der Erzählzeit und erzählte Zeit zusammenfallen. Die Soziologin Anja Peltzer (2020, S. 236) hat dazu festgestellt: »Es ist diese Ausstellung der Gleichzeitigkeit von fiktivem Handlungsverlauf und sozialer Wirklichkeit, von fiktiver Erzählzeit und tatsächlicher Lebens-, also Echtzeit, die es DRUCK ermöglicht, ganz nah am Alltag seiner Zuschauer*innen zu erzählen und darüber ein hohes Maß an Authentizität zu erreichen.« Dieser Eindruck wird über die Nutzung der sozialen Medien durch die Charaktere verstärkt, da die im Rahmen der fiktiven Handlung erstellten Beiträge auch für die Zuschauer: innen sichtbar sind. Einerseits sind sie in den Clips selbst zu sehen, andererseits sind sie zugleich auf den sozialen Medien selbst vorhanden, auf denen das Publikum den Charakteren folgen kann. Hier (Abb. 66 und 67) ist zu sehen, wie die Protaginistin Hanna auf ihrem Bett liegt und mit Matteo chattet. Im Clip ist sie selbst am Handy zu sehen und der Chat wird zugleich im Bild eingeblendet. - Abb. 66 und 67: Social-Media-Beiträge von Hanna in Clips von »DRUCK« Die Zuschauer: innen können dem Clip folgen und gleichzeitig auf ihrem eigenen Handy dem Chatverlauf folgen. Eine derartige Erzählweise umfasst ein anderes Verständnis von Nar‐ ration und erfordert eine umfassende Organisation. Die Aktivitäten der Charaktere in den sozialen Medien sind bereits im Drehbuch festgehalten und werden in den Drehplan übernommen. Parallel wird ein Veröffentlich‐ ungsplan generiert, in dem genau festgehalten wird, an welchem Tag der Woche zu welcher Uhrzeit welcher Charakter eine WhatsApp-Nachricht verfasst oder eine Instagram-Story bzw. einen Instagram-Post erstellt (vgl. Hartmann/ Mikos 2020, S. 265). Dafür werden neben den Autor: innen, Regisseur: innen und anderen Teammitgliedern noch Social-Media-Produ‐ 3 Transmedia Storytelling und Echtzeiterzählung in »DRUCK« 403 <?page no="404"?> cer: innen beschäftigt. Der Produzent Lasse Scharpen hat diese Arbeit fol‐ gendermaßen beschrieben: »Farid-Philippe Bouatra und Salomon Hörler, die federführenden Social-Me‐ dia-Producer, beurteilen beispielsweise, was der richtige Zeitpunkt für eine Bild- oder Sprachnachricht ist. Was passt zu einer bestimmten Szene am besten und was lässt sich auch noch über die weiteren Kanäle verwerten? Wir streben bei der Social-Media-Auswertung natürlich auch immer den ›Realtime-Effekt‹ an. Während eine Staffel läuft, veröffentlichen wir ja im Grunde jeden Tag zwei, drei Minuten aus den wöchentlichen Episoden vorab, zu dem Zeitpunkt der fiktiven Handlung. Und wenn eine Figur etwas postet, muss das zum gleichen Zeitpunkt auf der entsprechenden Plattform sein. Aber wenn Farid oder Salomon sagen, »das habt ihr auf zwei Uhr nachts geschrieben, da ist unsere Zielgruppe nicht mehr wach, das bringt nichts«, dann überlegen wir uns etwas anderes. Alle müssen sehr, sehr viel miteinander sprechen. Das ist auch für meine Arbeit als Produzent horizonterweiternd. Social Media fließt in alle Gewerke (alle Produktionsabteilungen und -akteure) ein, betrifft also nicht nur die dezidierten Social-Media-Producer, sondern zum Beispiel auch die Autor*innen« (Krauß 2020, S.-276). Das heißt zum Beispiel, dass die Autor: innen in den Prozess der Veröffent‐ lichung eingebunden sind. Nur so lässt sich eine transmediale Erzählung in Echtzeit herstellen, die den drei Bedingungen für Transmedia Storytelling folgt, die die britische Medienwissenschaftlerin Elizabeth Evans (2011, S. 38) definiert hat, eine »Kohärenz der Narration, der Autorenschaft und der Zeit«. Oder mit anderen Worten: Erzählzeit und erzählte Zeit müssen plattformübergreifend zusammenfallen. Bei Evans heißt es dazu: »Eine transmediale Fernsehepisode kann letztendlich als eine Geschichte gesehen werden, die auf einer Reihe von audiovisuellen Plattformen während eines begrenzten Zeitraums veröffentlicht wird und durch gemeinsame episodenspe‐ zifische Erzählcodes und entweder persönliche oder unternehmerische Autoren‐ schaft definiert ist« (ebd.). So kann für die Zuschauer: innen das immersive Erlebnis in den Vordergrund treten. Denn die transmediale Echtzeit-Narration kann auch als Authenti‐ sierungsstrategie verstanden werden. Doch das führt in der Rezeption nicht zu »einer Verwischung von Fiktion und Realität«, sondern dazu, dass sich die Rezipient: innen »selbst‐ bestimmt auf das fiktive Serienerlebnis« einlassen (Peltzer 2020, S. 242). 404 3 Transmedia Storytelling und Echtzeiterzählung in »DRUCK« <?page no="405"?> Die Scoial-Media-Aktivitäten der Protagonist: innen dienen nicht nur der Authentifizierung der Charaktere, sondern ihnen kommt auch die Rolle zu, in den Kommentierungen der Nutzer: innen auch Feedback für die Produktion zu bekommen, worauf Lasse Scharpen hingewiesen hat (vgl. Krauß 2020, S. 278). In ihrer Untersuchung der Kommentare auf dem Insta‐ gram-Profil des Protagonisten David hat Lea von den Steinen (2022, S. 63ff.) mehrere Funktionen benannt, die alle in Verbindung mit der Erzählwelt von »DRUCK« stehen: Bezüge zu anderen Nutzer: innen, Versuche der Interpretation eines Posts, inhaltliche Bezüge zu Serienfolgen oder einzelnen Clips, Identifikation mit den Charakteren, Entwicklung von Szenarien für den weiteren Verlauf der Serie, Informationsvergabe durch Instagram, Thematisierung der Fiktion, Bezüge zu zeitlichen Zusammenhängen, Mei‐ nungen bzw. Affekte zu den Postings sowie das Thematisieren eigener Erfahrungen. Damit ist ein ganzes Spektrum von Aktivitäten genannt, die im Zusammenhang mit einer aktiven Rezeption stehen. Auch wenn die Zuschauer: innen die Serie immersiv erleben, bleibt doch auch immer ein Grad der Reflexion. Hier zeigt sich, dass die Serie zu den kognitiven und emotionalen Aktivitäten der Rezipient: innen hin geöffnet ist sowie zur sozialen Kommunikation, die durch die sozialen Medien befördert wird. Zudem zeigt sich die »Spreadability« ( Jenkins u. a. 2013) von transmedialen Erzählungen, wenn die Zuschauer: innen in den Social-Media-Kommentaren gegenseitig Bezug aufeinander nehmen (vgl. Steinen 2022, S. 63). In manchen Kommentaren zeigt sich auch, dass die Rezipient: innen mit den Charakteren von »DRUCK« parasozial interagieren (vgl. auch Kapitel II.3.5), zumal sie sich durch die Instagram-Stories der Charaktere auch direkt angesprochen fühlen können. Transmediale Erzählungen stellen die Analyse vor Probleme. Denn zu‐ nächst einmal muss festgehalten werden, was genau der Gegenstand der Analyse ist. Sind es nur die audiovisuellen Serienepisoden ergänzt durch die Veröffentlichungen auf Snapchat. Oder sollen auch die Instagram-Posts der Charaktere einbezogen werden. Das kann aber aufgrund der Vielzahl von Accounts, Posts und Stories zum Problem werden. Aus forschungsöko‐ nomischen Gründen muss daher eine Auswahl getroffen werden. Dabei ist klar, dass damit nicht das »echte« »DRUCK«-Erlebnis reproduziert werden kann. Das ist bei einer Erzählung in Echtzeit, die an einen bestimmten Tages- und Wochenablauf der Charaktere und Rezipient: innen gebunden ist, im Nachhinein schlecht möglich. Doch gerade da naht Hilfe von den Fans. Die haben nämlich einen Bot entwickelt, mit dem man ganz in seinem eigenen 3 Transmedia Storytelling und Echtzeiterzählung in »DRUCK« 405 <?page no="406"?> Tempo die Echtzeiterzählung der Serie nacherleben kann (https: / / druck-ex perience-bot.tumblr.com/ about#mce_temp_url#; Zugriff am 5.9.2022). Bei der Analyse des transmedialen Universums der Jugendserie »DRUCK« zeigt sich, wie durch die Einbindung von sozialen Medien on screen und off screen eine Erzählung in Echtzeit erzeugen lässt, bei der erzählte Zeit und Erzählzeit zusammenfallen. Die Kommentierungen der Instagram-Posts der Charaktere zeigen auch, welche vielfältigen Funktion für die Zuschauer: innen mit der Serie verbunden sind. »DRUCK« kann als treffendes Beispiel für Transmedia Storytelling und »Spreadability« in den digitalen Medien gesehen werden. Zitierte Literatur Cunningham, Stuart/ Craig, David (2019): Social Media Entertainment. The New Intersection of Hollywood and Silicon Valley. New York Evans, Elizabeth (2011): Transmedia Television. Audiences, New Media and Daily Life. New York/ London Hartmann, Christine/ Mikos Lothar (2020): Der Adaptionsprozess von DRUCK. In: Krauß, Florian/ Stock, Moritz (Hrsg.): Teen TV. Repräsentationen, Lesarten und Produktionsweisen aktueller Jugendserien. Wiesbaden: Springer VS, S.-25-269 Jenkins, Henry/ Ford, Sam/ Green, Joshua (2013): Spreadable Media. Creating Value and Meaning in a Networked Culture. New York/ London Jørgensen, Signe Spanggaard (2017): The Use of Transmedia Storytelling in the Teen Series SKAM. Unveröffentlichte Seminararbeit an der Filmuniversität Babelsberg Krauß, Florian (2020): »Social Media muss in alle Gewerke einfließen«. Interview mit dem Produzenten Lasse Scharpen über den Herstellungsprozess von DRUCK und Teen TV aus Deutschland. In: Krauß, Florian/ Stock, Moritz (Hrsg.): Teen TV. Repräsentationen, Lesarten und Produktionsweisen aktueller Jugendserien. Wiesbaden: Springer VS, S.-271-282 Mikos, Lothar (2020): SKAM/ DRUCK international. Eine Jugendserie geht in die Welt. In: TV Diskurs, 24, 1, S.-4-7 Peltzer, Anja (2020): ›Oh mein Gott Druck ist so raffiniert! ‹ Repräsentation und Rezeption von Sozialen Medien im Alltag Jugendlicher im Funk-Format DRUCK. In: Krauß, Florian/ Stock, Moritz (Hrsg.): Teen TV. Repräsentationen, Lesarten und Produktionsweisen aktueller Jugendserien. Wiesbaden, S.-219-253 406 3 Transmedia Storytelling und Echtzeiterzählung in »DRUCK« <?page no="407"?> Steinen, Lea von den (2022): Transmediales Erzählen in der Jugendserie DRUCK. Rezeption und Wahrnehmung des Charakters David auf Instagram. Masterarbeit im Studiengang Medienwissenshaft der Filmuniversität Babelsberg Sundet, Vilde Schanke (2019): From ‚Secret‘ Online Teen Drama to International Cult Phenomenon: The Global Expansion of SKAM and its Public Service Mission. In: Critical Studies in Television, 14, S.-1-22 (DOI: 10.1177/ 1749602019879856) Zitierte Literatur 407 <?page no="408"?> 4 Hybridität in Fernsehformaten: die Beispiele »Ich bin ein Star - Holt mich hier raus! « und »Game of Thrones« Seit »Big Brother« im Jahr 2000 das Licht der Bildschirme in aller Welt erblickte, hat sich in der Medien- und Kommunikationswissenschaft zu‐ nehmend die Kategorie der Hybridformate vor allem für Realityshows durchgesetzt. »Big Brother« gehört ebenso wie »Ich bin ein Star - Holt mich hier raus! « zu den Formaten, die nicht nur verschiedene Genreele‐ mente aneinanderreihen (additiver Modus), sondern mehrere Stile und unterschiedliche Genrekonventionen integrieren (integrierter Modus) (vgl. Kilborn 2003, S. 12 f.; Kilborn 2006, S. 113 f. sowie Kapitel II.5.1). Jedes Genre, das in den Genremix der Realityshows eingeht, kann als eigener Interpreta‐ tionsrahmen für die Zuschauer: innen fungieren, da mit seinen Elementen jeweils andere Publika adressiert werden. In der Analyse kann das Verhältnis der verschiedenen Genreelemente zueinander bestimmt werden, z. B. um festzustellen, ob eine Show einen dominanten Genrerahmen hat. Da die meisten erfolgreichen Realityshows seriell produziert werden, lassen sich in der Analyse auch Veränderungen in der Genremischung herausarbeiten, wenn verschiedene Staffeln der Show miteinander verglichen werden. Im Folgenden wird zunächst die deutsche Ausgabe des Formats »Ich bin ein Star - Holt mich hier raus! «, die es bis zum Jahr 2022 auf fünfzehn Staffeln gebracht hat, in ihren wesentlichen Strukturen beschrieben. Die Show »Ich bin ein Star - Holt mich hier raus! «, die nach dem englischen Original »I’m a Celebrity … Get Me Out of Here! « im Jahr 2004 auf dem Sender RTL ausgestrahlt wurde, muss im Kontext der Entwicklung so genannter neuer Realityformate gesehen werden, die seit dem Beginn des Boom mit »Big Brother« (vgl. Mikos u. a. 2000) in immer neuen Varianten den Bildschirm bevölkern: Von Casting-Shows wie »Germany’s Next Topmodel«, »Deutschland sucht den Superstar« oder »The Voice of Germany« über Dating Games wie »Die Bachelorette« oder »Bauer sucht Frau« und Make-over bzw. Lifestyle Shows wie »Einsatz in vier Wänden« oder »Queer 4 You« bis hin zu Real Life Shows wie »Big Brother« oder »Frauentausch« und Verhaltensshows wie »Das perfekte Dinner«. Viele dieser Shows leben davon, dass »normale« Leute ganz <?page no="409"?> alltägliche Dinge in einer nicht ganz alltäglichen Umgebung oder nicht ganz alltägliche Dinge in einer alltäglichen Umgebung tun (vgl. Hilmes 2004). Daneben gelangen jedoch immer mehr Shows auf die Bildschirme, in denen Prominente auftreten. Eine Variante dieser Realityshows mit Prominenten ist »Ich bin ein Star - Holt mich hier raus! «, in der zehn bis zwölf mehr oder weniger prominente Kandidat: innen für 12 bis 15 Tage in einem Dschungel-Camp unter einfachen Bedingungen leben müssen und zudem täglich vorgegebene Aufgaben zu bewältigen haben (vgl. Mikos 2007). Dazu zählen Prüfungen, bei denen die Kandidat: innen ihren Ekel oder ihre Angst überwinden müssen, um zu bestehen. Während der ersten fünf Tage bestimmen die Zuschauer: innen per telefonischer Auswahl die Kandidaten für die Prüfungen, danach werden sie aus den eigenen Reihen in geheimer Abstimmung bestimmt. Die Zuschauer: innen wählen ab diesem Zeitpunkt, welche Kandidatin das Camp verlassen muss, bis am Ende der Dschungelkönig oder die Dschungelkönigin feststehen. Die Medienwissenschaftlerin Joan Kristin Bleicher (2014, S. 78) hat das Prinzip der Show folgendermaßen zusammengefasst: »Das Formatkonzept von »I’m A Celebrity … Get Me Out Of Here! « lässt Hybridisierungen von Elementen unterschiedlicher kultureller und medialer Angebotsformen erkennen: Das attraktive exotische Setting diverser Dschungel-, Indiana Jones- und Tarzanfilme bildet den Rahmen für Sozialexperimente mit Prominenten, das dem Dauerbeobachtungsprinzip der 2000 erstmals ausgestrahl‐ ten Realityshow »Big Brother« unterliegt. Es entsteht eine eigene Diegese, in der die Exotik des Handlungsortes den Rahmen für zwischenmenschliche Konflikte, durch Spielregeln vorgegebene körperliche und psychologische Herausforderun‐ gen und ironisch kritische Bewertungen bildet.« Das so genannte »Dschungelcamp« ist eine Show, innerhalb derer ein Spiel gespielt wird, und die mit Mitteln aus verschiedenen Genres inszeniert wird, wobei sich wirkliche Folgen für die Akteure ergeben können. In dem Format »Ich bin ein Star - Holt mich hier raus! « verbinden sich unterschiedliche Genreelemente, so dass es als Hybridgenre (vgl. Schweinitz 2002) bezeichnet werden kann. Das Showformat ist durchsetzt von Elementen aus Spiel, Reality Soaps, Boulevard und Comedy. Die entsprechenden Strukturen im Text schaffen unterschiedliche Bedeutungsangebote für das Publikum, das in der Rezeption abhängig vom situativen und sozio-kulturellen Kontext jeweils unterschiedliche Schwerpunkte setzen kann. 4 Hybridität in Fernsehformaten 409 <?page no="410"?> Die Show »Ich bin ein Star - Holt mich hier raus! « zeichnet sich einerseits durch die primäre Spielebene aus, auf der prominente Kandidat: innen für die Dauer von zwölf Tagen in einem Dschungelcamp untergebracht werden. In dem Camp müssen sie ohne spezielle Luxusartikel zusammenleben. An‐ dererseits wird dieser Rahmen durch tägliche in das Spiel integrierte Spiele, wie die Schatzsuche oder die Dschungelprüfung, erweitert. Insbesondere die Dschungelprüfung zeichnet sich dadurch aus, dass sich jeweils ein Mitglied der Gruppe in eine für westeuropäische Maßstäbe ungewöhnliche Situation begeben muss, in der es darum geht, persönliche Ekelempfindungen und Ängste zu überwinden, um infolgedessen das monotone Essen im Camp durch zusätzliche Essensrationen aufzustocken. Durch diese Spielregeln entstehen hauptsächlich zwei Spannungsbögen: Zum einen interessiert die Frage, wie sich prominente Personen unter diesen besonderen Umständen verhalten und die Neugier, wie »Der-Mensch-hinter-dem-Star« wirklich aussieht bzw. was ihre »echte«, menschliche Persönlichkeit ausmacht (vgl. Hallenberger/ Foltin 1990); zum anderen ist »der öffentliche Raum dadurch gekennzeichnet, dass man sich in ihm hoch kontrolliert verhält«, nicht aus der Rolle fällt und darauf bedacht ist eine »gute Figur« zu machen (vgl. Mikos/ Wulff 1990). Diese Kontrolle bezüglich der eigenen Verhaltensweisen ist in Anbetracht der Dschungelaufgaben, bei denen die Kandidat: innen sich ihren möglichen, zivilisationsbedingten Phobien stellen müssen, nicht unbedingt gewährleistet und erzeugt Spannung, ob oder wie die Aufgabe angegangen wird. Da die Sendung nicht nur als Spiel- oder Gameshow, sondern auch als verhaltensorientierte Realityshow zu verstehen ist, stellt sich die Frage, wie das »wirkliche« Leben der Kandidat: innen während ihres zwölftägigen Dschungelaufenthalts medial aufbereitet wurde. Die Zu‐ schauer: innen bekommen eine tägliche Zusammenfassung mit den Hö‐ hepunkten des Tages geliefert. Einige Elemente, wie die Dschungelprü‐ fung, beziehen sich auf den Vortag und sind somit weder »live« noch tagesaktuell. Daher ist davon auszugehen, dass dieses Material hinsicht‐ lich narrativer und spannungssteigernder Mittel in die Gesamterzählung des jeweils aktuellen Geschehens eingearbeitet wurde. In diesem Zu‐ sammenhang wird auch davon ausgegangen, dass den Kandidat: innen im Sinne des seriellen Charakters des Formats bestimmte narrative Funktionen zugeschrieben werden, um hierdurch den Fluss einer Er‐ zählung oder zumindest bestimmte temporäre thematische Narrationsblöcke entstehen zu lassen. Die Inszenierung kann bestimmte Aspekte der 410 4 Hybridität in Fernsehformaten <?page no="411"?> Kandidat: innen und bestimmte soziale Rollen hervorheben. Daher ist auch zu untersuchen, ob manche Kandidat: innen eher als Identifikationsfiguren aufgebaut werden bzw. ob Empathie oder Sympathie hergestellt wird. Ein wichtiges Element, das von dem Format aufgegriffen wird, ist die Boulevardberichterstattung. Die Bewohner: innen des Camps sind als Pro‐ minente typische Akteure von Boulevardmagazinen, in denen sie den Zuschauer: innen näher gebracht werden sollen. Eine bedeutsame Rolle spielen dabei emotionale und soziale Ausnahmesituationen, in denen in besonderem Maße die öffentliche Maske fällt. In »Ich bin ein Star - Holt mich hier raus! « wird eine solche Situation als Rahmen künstlich inszeniert und dadurch eine Blickweise auf die Prominenten als »wirkliche« Menschen ermöglicht. Auf allen Ebenen von »Ich bin ein Star - Holt mich hier raus! « spielt Comedy eine wichtige Rolle. In unterschiedlichem Maße werden die ver‐ schiedenen Kernelemente der Sendung komisch inszeniert. In einer sehr all‐ gemeinen Form lässt sich Film- und Fernsehkomik als die Inszenierung eines Spannungsverhältnisses von Kongruenz und Inkongruenz beschreiben (vgl. King 2002). Das bedeutet: Eine Darstellung bricht einerseits mit Normen, Erwartungen und Wissen der Zuschauer: innen, andererseits ist sie unter einem anderen Blickwinkel für die Zuschauer: innen kongruent. Ein grund‐ sätzlicher Mechanismus ist dabei die Distanzierung der Zuschauerin von dem dargestellten Gegenstand bzw. des repräsentierten Verhältnisses. Der Filmwissenschaftler Gerald Mast (1979, S. 15) beschreibt als ein wesentliches Merkmal von Comedy, dass die Zuschauer: innen nicht an die Wirklichkeit der Comedy glauben, da sie sich immer der Imitation als Imitation bewusst sind, ebenso wie sich Spielende beim Spiel immer bewusst sind, dass es sich um ein Spiel handelt. Dadurch entsteht eine »intellektuell-emotionale« Distanz von dem komischen Film oder der komischen Fernsehsendung. Jeder Inhalt kann in diesem Sinn in einem komischen Modus dargestellt werden (vgl. King 2002, S.-3). Zusammenfassend lassen sich in »Ich bin ein Star - Holt mich hier raus! « Elemente finden, die sich aus verschiedenen Genres speisen (vgl. Bleicher 2014, S. 78 f.): Groteske, Karneval, romantischer Liebesfilm, Gameshow, Daily Soap, Abenteuerfilm, Comedy und Boulevardmagazin. Aus all diesen Zutaten ist es den Produzent: innen gelungen, ganz im Sinne der integrierten Hybridität ein neues Format zu schaffen, das seinesgleichen sucht. In Kapitel II.2.2 wurde bereits die Komplexität von Fernsehserien des amerikanischen Quality-TV unter dem Aspekt der horizontalen und verti‐ 4 Hybridität in Fernsehformaten 411 <?page no="412"?> kalen Dramaturgie dargestellt. Allerdings ist Quality-TV nicht notwendiger Weise auch komplexes Fernsehen (vgl. Mittell 2015, S. 216). Wesentliche Merkmale des so genannten Quality-TV sind aber auch die Verwendung von verschiedenen Genreelementen, um etwas Neues zu schaffen sowie der Einsatz eines großen Ensembles von Figuren (vgl. Blanchet 2011; Thompson 1996, S. 14 f.). Ein weiteres Merkmal der Serien von HBO und Showtime, Premium-Kabelsendern in den USA, oder Amazon Prime Video und Netflix ist der explizite Einsatz von Gewalt, Nacktheit und Sex in den Serien (vgl. Edgerton/ Jones 2008, S. 325; Jahn-Sudmann/ Kelleter 2012, S. 209; Jahn-Sudmann/ Starre 2013, S. 104; Ritzer 2011, S. 26 ff.). Damit ist öffentliche Aufmerksamkeit garantiert, denn die expliziten Szenen werden durchaus kontrovers diskutiert. Im Folgenden geht es um die Serie »Game of Thrones« als hybrides Produkt des Quality-TV, in der die verschiedenen Genreelemente ver‐ mischt werden, um etwas Neues und Einzigartiges zu schaffen. Die Serie beruht auf der Fantasy-Buchreihe »Das Lied von Eis und Feuer« des amerikanischen Autors George R.R. Martin, die 1996 mit dem ersten Buch, »Game of Thrones« (dt. Übersetzung: »Die Herren von Winterfell«), begann. Die ersten beiden Staffeln der Fernsehserie sind eng an die ersten beiden Bücher angelehnt, die weiteren Staffeln entfernen sich von den Büchern und variieren die Handlung. Bis 2019 wurden acht Staffeln der Fernsehserie ausgestrahlt. Grundsätzlich operiert »Game of Thrones« in einem Fantasy-Rahmen. Ähnlich der »Herr der Ringe«-Trilogie findet die Handlung in einem Setting statt, dass an das Mittelalter erinnert. Ein bedeutsames Element des Fantasy-Genres ist die kartographische Ordnung des Raumes, in dem die Handlung spielt (vgl. Hassler-Forest 2014, S.-166). Karten sind für die Orientierung von großer Bedeutung. In »Game of Thrones« bietet bereits die Titelsequenz einen Überblick über die Handlungsorte, die mit der Kamera abgefahren werden. Die einzelnen Orte sind durch spezifische Merkmale bestimmt, die im Verlauf der Serie in so genannten Establishing-Shots (vgl. Kapitel II.4.1) wieder aufgegrif‐ fen werden. Zudem können sie die Zuschauer: innen auf der begleitenden Webseite zur Serie auf einer Karte einen Überblick verschaffen (vgl. Abb. 68). Darauf sind die wesentlichen Orte markiert, in denen die zahlreichen Figuren handeln. Diese geographische Gestaltung der fiktiven Welt soll den Zuschauer: innen eine gewisse Authentizität vermitteln. 412 4 Hybridität in Fernsehformaten <?page no="413"?> Abb. 68: »Game of Thrones« Abb. 69: »Game of Thrones« Die Geschichte von »Game of Thrones« ist angesiedelt auf den Kontinenten Weteros und Essos (vgl. Servos 2014). Sieben Königrei‐ che kämpfen mit zahlreichen Intri‐ gen und Schlachten um den eiser‐ nen Thron. Die Adelshäuser sowie einzelne Figuren sind realen histo‐ rischen Ereignissen nachempfun‐ den, von den Ptolomäern (Haus Targaryen) bis hin zuden Zeiten von Richard III., Heinrich VII. und Anne Boleyn sowie Ereignissen aus der mittelalterlichen Geschichte Schottlands (vgl. ebd., S. 65 ff.). Während die verschiedenen Häu‐ ser der Königreiche um den Thron kämpfen, formiert sich im Norden jenseits der Mauer aus Eis, die von der Nachtwache beschützt wird, eine gefährliche Macht aus Wildlingen und Weißen Wanderern. In Essos lebt die Königstocher Daenery Targaryen, deren Familie vor Jahren Westeros be‐ herrschte, und die nun zusammen mit ihren Drachen versucht, den Thron zurückzuerobern. Damit sind auch die drei wesentlichen Handlungsstränge benannt. Übernatürliche Mächte, wie die auf der anderen Seite der Eismauer und die Drachen von Daenery (vgl. Abb. 69) bilden einen unverzichtbaren Bestandteil des Fantasyanteils von »Game of Thrones«. Doch bildet das Fantasy-Genre lediglich den Rahmen für die Se‐ rie, ähnlich wie bei der »Herr der Ringe«-Trilogie (vgl. Mikos u. a. 2007, S. 89 ff. und Kapitel III.2). Daneben sind zahlreiche Elemente aus Historienfilmen und Historien‐ serien vertreten. Die Inszenierun‐ gen der einzelnen Häuser und der diplomatischen Begegnungen so‐ wie der Intrigen erinnern stark an Serien wie »Borgia« und »Die Tu‐ 4 Hybridität in Fernsehformaten 413 <?page no="414"?> dors«, zumal einige der Handlungen an die Geschichte der realen Tudors angelehnt sind. Die Szenerie auf Essos, in der Daenery in der so genannten Sklavenbucht agiert, greift Elemente von Abenteuerfilmen und -serien auf. Innerhalb der verschiedenen Königshäuser spielen sich Familiendramen ab, wie sie aus Familienserien und Daily Soaps bekannt sind. Die Autoren selbst haben die Geschichte als »Die »Sopranos« treffen auf »Herr der Ringe« bezeichnet (vgl. Hassler-Forest 2014, S. 165; Servos 2014, S. 179). Der Filmwissenschaftler Dan Hassler-Forest (2014, S. 165) sieht in »Game of Thrones« eine Anpassung des Fantasy-Genres an die Strukturen des Quality-TV, das sich an ein erwachsenes Publikum richtet. Vor allem die Darstellung von brutaler Gewalt, Nacktheit und explizitem Sex diene dazu, das Fantasy-Genre für ein spezifisches Publikum attraktiv zu machen. Die Fernsehserie »Game of Thrones« enthält alle Merkmale des Qua‐ lity-TV. Neben der expliziten Darstellung von Gewalt, Nacktheit und Sex bedient sich die Serie bei verschiedenen Genres, um diese mit dem Fan‐ tasy-Rahmen zu vermischen. Auf diese Weise entsteht ein hybrides Produkt, das verschiedene Publika anspricht. Zitierte Literatur Blanchet, Robert (2011): Quality-TV. Eine kurze Einführung in die Geschichte und Ästhetik neuer amerikanischer Fernsehserien. In: Ders./ Köhler, Kristina/ Smid, Tereza/ Zutavern, Julia (Hrsg.): Serielle Formen. Von den frühen Film-Serials zu aktuellen Quality-TV- und Online-Serien. Marburg, S.-37-70 Bleicher, Joan Kristin (2014): »Ich bin ein Star - Holt mich hier raus! « als Me‐ dienwelttheater. In: Eichner, Susanne/ Prommer, Elizabeth (Hrsg.): Fernsehen: Europäische Perspektiven. Konstanz/ München, S.-73-89 Edgerton, Gary R./ Jones, Jeffrey P. (2008): HBO’s Ongoing Legacy. In: Dies. (Hrsg.): The Essential HBO Reader. Lexington, S.-315-330 Hallenberger, Gerd/ Foltin, Hans Friedrich (1990): Unterhaltung durch Spiel. Quiz‐ sendungen und Gameshows des deutschen Fernsehens. Berlin Hassler-Forest, Dan (2014): »Game of Thrones«: Quality Television and the Cultural Logic of Gentrification. In: TV/ Series #6, December 2014 (http: / / revuetvseries.wi x.com/ tvseries; Zugriff am 22.4.2015) Hilmes, Michelle (2004): Europe Attacks! The Twisted History of the Reality Show. Vortrag auf der Tagung Console-Ing Passions (30. Mai bis 2. Juni 2004) in New Orleans 414 4 Hybridität in Fernsehformaten <?page no="415"?> Jahn-Sudmann, Andreas/ Starre, Alexander (2013): Die Experimente des Quality TV - Innovationen und Metamedialität in neueren amerikanischen Serien. In: Eich‐ ner, Susanne/ Mikos, Lothar/ Winter, Rainer (Hrsg.): Transnationale Serienkultur. Theorie, Ästhetik, Narration und Rezeption neuer Fernsehserien. Wiesbaden, S.-103-119 Jahn-Sudmann, Andreas/ Kelleter, Frank (2012): Die Dynamik serieller Überbietung. Amerikanische Fernsehserien und das Konzept des Quality-TV. In: Kelleter, Frank (Hrsg.): Populäre Serialität: Narration - Evolution - Distinktion. Zum seriellen Erzählen seit dem 19.-Jahrhundert. Bielefeld, S.-205-224 Kilborn, Richard (2003): Staging the Real. Factual TV Programming in the Age of »Big Brother«. Manchester/ New York Kilborn, Richard (2006): »Mixing and Matching«: The Hybridising Impulse in Tod‐ ay’s Factual Television Programming. In: Dowd, Garin/ Stevenson, Lesley/ Strong, Jeremy (Hrsg.): Genre Matters. Essays in Theory and Criticism. Bristol/ Portland, OR, S.-109-121 King, Geoff (2002): Film Comedy. London Mast, Gerald (1979): The Comic Mind. Comedy and the Movies. 2. Auflage. Chicago (Erstausgabe 1973) Mikos, Lothar (2007): »Ich bin ein Star - Holt mich hier raus! « Eine Formatbe‐ schreibung und Bewertung. In: Döveling, Katrin/ Ders./ Nieland, Jörg-Uwe (Hrsg.): Im Namen des Fernsehvolkes. Neue Formate für Orientierung und Bewertung. Konstanz, S.-211-239 Mikos, Lothar/ Eichner, Susanne/ Prommer, Elizabeth/ Wedel, Michael (2007): Die »Herr der Ringe«-Trilogie. Attraktion und Faszination eines populärkulturellen Phänomens. Konstanz Mikos, Lothar/ Feise, Patricia/ Herzig, Katja/ Prommer, Elizabeth/ Veihl, Verena (2000): Im Auge der Kamera. Der Fernsehereignis Big Brother. Berlin Mikos, Lothar/ Wulff, Hans- Jürgen (1990): „Akademische“ und „familiale“ Rezep‐ tion. Zur Analyse von Unterhaltungsshows (II). In: Medien Praktisch 14, 1, S. 61-63 Mittell, Jason (2015): Complex TV. The Poetics of Contemporary Television Story‐ telling. New York/ London Ritzer, Ivo (2011): Fernsehen wider die Tabus. Sex, Gewalt, Zensur und die neuen US-Serien. Berlin Schweinitz, Jörg (2002): Von Filmgenres, Hybridformen und goldenen Nägeln. In: Jan Sellmer/ Hans J. Wulff (Hrsg.): Film und Psychologie - nach der kognitiven Phase? Marburg, S.-79-92 Servos, Stefan (2014): Gewalt, Götter und Intrigen. Die Welt von »Game of Thrones«. Ludwigsburg Zitierte Literatur 415 <?page no="416"?> Thompson, Robert J. (1996): Television’s Second Golden Age. From »Hill Street Blues« to »ER«. New York 416 4 Hybridität in Fernsehformaten <?page no="417"?> 5 Adaptionsstrategien in Showformaten: »Germany’s Next Topmodel« und »Wer wird Millionär? « Im Bereich der nonfiktionalen Showformate hat sich ein internationaler Programmmarkt entwickelt. Die Lizenzen für die Formate werden weltweit gehandelt, die Formate selbst werden dann in den jeweiligen Fernsehmärk‐ ten adaptiert (vgl. Kapitel II.5.5). Auf diesem Markt werden Milliarden Euro umgesetzt (vgl. FRAPA 2009, S. 21). Die Formate folgen in der Regel einem gemeinsamen Konzept und haben ein einheitliches Erscheinungsbild, ein gleiches oder ähnliches Logo, gleiche Musik und den gleichen Ablauf (vgl. Hallenberger 2009, S. 155 ff.). Sie werden als Marke global vermarktet (vgl. Gärisch 2018). Die lokalen Adaptionen sind den jeweiligen kulturellen Kontexten der Länder, in denen sie ausgestrahlt werden, angepasst. So gibt es nationale Kandidat: innen und Moderator: innen sowie nationale Werbung und nationales Sponsoring. Denn zu den Formaten gehört eine Markenarchitektur, in der die Einbindung des Formats in crossmediale Ausprägungen, die Verwertung von Kandidat: innen oder deren Produkte in anderen Medien, die möglichen Werbepartner: innen und Sponsor: innen, interaktive Anwendungen, begleitende Spiele sowie das Marketing festge‐ legt sind (vgl. Mikos 2013). Daher wird in der Regel mit der Lizenz auch das entsprechende Produktionswissen verkauft. Im Folgenden geht es um die Adaptionsstrategien von »Germany’s Next Topmodel« und »Wer wird Millionär? «, den deutschen Adaptionen von »America’s Next Top Model« und dem britischen Format »Who Wants to Be A Millionaire? «. Die Castingshow »America’s Next Top Model« startete in den USA mit der ersten Staffel im Mai 2003. Seitdem hat es 24 Staffeln gegeben. Moderiert wird die Sendung von dem amerikanischen Exmodel Tyra Banks. In der Show wird in neun bis dreizehn Folgen von einer Jury aus zehn bis fünfzehn Kandidat: innen das Topmodel gekürt (vgl. Stehling 2015, S. 179 ff.). Kosmetikfirmen wie Revlon und Sephora, eine Schuhladenkette und das Bekleidungsunternehmen Guess waren die Hauptsponsoren der Staffeln. Die Kandidat: innen müssen spezifische Aufgaben wie Fotoshootings, Mo‐ deschauen und Laufen auf dem Catwalk bewältigen, und sie müssen Jobs bei Kunden wie Mode- und Kosmetikfirmen oder in der Werbung ergattern. <?page no="418"?> Dazu werden sie an verschiedene Orte in der Welt geschickt, z. B. nach Barcelona, London, Mailand, Paris, S-o Paulo und Tokio. Ab der 20. Staffel nahmen auch Männer teil, und die 21. Staffel wurde dann auch von einem Mann gewonnen. Außerdem geht es in dem Format darum, wie sich die Kandidat: innen im Modelhaus verhalten, um Cliquenbildung und Konfron‐ tationen (vgl. Baltruschat 2008, S. 318). Das Format ist sehr erfolgreich und wird in der Originalversion in mehr als 100 Ländern ausgestrahlt (vgl. ebd.). Darüber hinaus gibt es 54 lokale Adaptionen, darunter multinationale wie »Africa’s Next Top Model«, »Asia’s Next Top Model«, »Caribbean’s Next Top Model« und das skandinavische »Top Model«. »Germany’s Next Topmodel«, die deutsche Adaption, wurde erstmals im Januar 2006 ausgestrahlt. Die siebzehnte Staffel endete im Mai 2022. In der vierten Staffel, 2009 gesendet, nahm auch die Gewinnerin der ersten Staffel von »Austria’s Next Topmodel«, der österreichischen Adaption, Larissa Marolt, an der Sendung teil, konnte aber nur das Finale der letzten acht Kandidatinnen erreichen. Während in der ersten Staffel in Deutschland noch zwölf Kandidatinnen darum kämpften, Topmodel zu werden, stieg die Zahl der Teilnehmer weiter bis auf 25 in der neunten Staffel und 31 in der siebzehnten Staffel. Moderiert wird die Sendung von dem deutschen Model Heidi Klum, das in den USA lebt (vgl. dazu auch Seifert 2010). In zunächst zehn, zuletzt siebzehn Folgen wird die Gewinnerin von einer Jury gekürt. Als Sponsor: innen treten Kosmetikfirmen wie Maybelline, die Rasiererfirma Gillette und die Autofirma Opel auf. Die Siegerin wird auf dem Cover des Modemagazins Cosmopolitan präsentiert. Wie im amerikanischen Original müssen die Kandidatinnen Aufgaben bewältigen, von Fotoshootings über Modeschauen bis hin zu Jobs bei Kunden aus der Mode- und Kosmetikbran‐ che sowie bei Werbespots oder Musikvideos. Die deutschen Kandidatinnen, die die Vorauswahl überstanden haben, leben anschließend in einer Villa in Los Angeles, von wo aus sie zu ihren Jobs, Fotoshootings und Modeschauen fliegen. Auch sie werden in alle Welt geschickt, wobei New York neben London, Paris und Mailand ein beliebtes Ziel ist. Die deutschen Kandidatin‐ nen sind auch in Berlin auf der Fashion Week unterwegs. Genau wie in der amerikanischen Version geht es auch um das Leben der Kandidatinnen in der Modelvilla in Los Angeles, mit Gruppenbildungen und Konfrontationen. Die amerikanische und die deutsche Version unterscheiden sich bereits in der Länge der einzelnen Episoden. Während in den USA eine Sendung eine Stunde inklusive Werbung dauert, ist sie in Deutschland zwei Stunden und 15 Minuten inklusive Werbung lang (vgl. Stehling 2015, S. 182). Sie 418 5 Adaptionsstrategien in Showformaten <?page no="419"?> entspricht damit hierzulande einem klassischen Abendshow-Format, das in der Regel nahezu die gesamte Primetime ausfüllt. Neben der deutschen Moderatorin und den deutschen Kandidatinnen sind deutsche Firmen als Werbepartner: innen und Sponsor: innen vertreten. Da die Show den An‐ spruch hat, das weltweite Model-Business zu repräsentieren, sind auch internationale Firmen beteiligt. Zwar haben wir es bei »Germany’s Next Topmodel« mit einer lokalen Adaption zu tun, doch gibt sie sich als solche international. Die beiden Versionen des Topmodel-Formats haben viele Gemeinsam‐ keiten, aber auch einige Unterschiede. Sie folgen dem Prinzip der interna‐ tionalen Vermarktung von Realityshows, die als globale Marken einen Markenkern besitzen - in diesem Fall die Suche nach Models mit vorwiegend weiblichen Kandidatinnen, die von einer Jury bewertet werden und spezifi‐ sche Aufgaben bewältigen müssen, dazu von einem Model moderiert -, aber in Bezug auf die auftretenden Hauptpersonen (Moderatorin, Kandidatinnen, Jury), die Werbepartner: innen und Sponsor: innen lokal angepasst worden sind. Als ein anderes Beispiel mag hier »Wer wird Millionär? « dienen, eines der weltweit erfolgreichsten Formate. Die deutsche Adaption basiert auf dem britischen Original »Who Wants to Be A Millionaire? «, das erstmals am 4. September 1998 ausgestrahlt wurde, etwa drei Jahre nachdem die erste Idee konzipiert worden war, die jedoch einige Transformationsprozesse durchlaufen musste (vgl. Armbruster/ Mikos 2009, S. 29; Keane u. a. 2007, S. 98 ff.; Taddicken 2003, S. 76 ff.). Der australische Fernsehforscher Albert Moran hat dazu festgestellt, dass die Geschichte von »Who Wants to Be A Millionaire? « zeigt, wie komplex und kompliziert der Prozess der Entwick‐ lung eines Formats ist, bis es dann endlich auf dem Bildschirm erscheint (vgl. Moran/ Malbon 2006, S. 55). Dennoch wurde es zu einem internationalen Erfolg. Nach Auffassung des Kommunikationswissenschaftlers Lee Artz (2015, S. 8) war es eine »Top Show von Lateinamerika bis Japan, von Europa bis Indien, weil die Moderator: innen, die Fragen und die Sprachen für die verschiedenen nationalen und kulturellen Publika umfunktioniert wurden.« Wie bei den anderen nonfiktionalen, globalen Formaten gibt es auch bei »Wer wird Millionär? « eine Formatbibel, die formal die wichtigsten Elemente der Show wie das Konzept, das Logo Musik und Ausstattung enthält (vgl. Baltruschat 2008, S. 303). Die lokalen Adaptionen benutzen in der Regel den gleichen Namen, nur eben in der lokalen Sprache. So heißt die Show z. B. in Angola, Brasilien und Portugal »Quem quer ser 5 Adaptionsstrategien in Showformaten 419 <?page no="420"?> milionário? «, in Argentinien, Mexiko und Spanien »¿Quién quiere ser millonario? «, in Indien auf Hindi »Kaun Banega Crorepati«, in Norwegen »Vil du bli millionær? «, in Estland »Kes tahab saada miljonäriks? «, in Russland »Kto khochet stat‘ millionerom? «, in China »Bai Wan Zhi Duo Xing«. In Schweden gibt es zwei verschiedene Adaptionen, »Vem vill bli miljonär? «, das dann später als »Postkodmiljonären« neu aufgelegt wurde (vgl. zu den asiatischen Adaptionen und der Namensgebung Keane u. a. 2007, S. 103 f.; Keane/ Liu 2009, S. 243 ff.). In Ghana heißt die Sendung einfach »Who Wants to Be Rich? «. Das Logo ist in allen Ländern gleich, lediglich der Schriftzug verändert sich (vgl. Abb. 70-73). In den meisten Ländern wird die Show von einem Mann moderiert, in Indien z. B. von dem Filmstar Shahrukh Khan (vgl. Ganguly 2012, S. 338 f.). Aber es gibt auch Ausnahmen: In Chile, Ekuador, Georgien, Kanada, Norwegen, Portugal, Spanien und den USA wird die Show, zumindest in einigen Staffeln, von einer Frau moderiert. Neben den Moderator: innen gibt es in den jeweiligen Ländern nationale Kandidat: innen. Die Regeln sind gleich, es gibt 15 Gewinnstufen bis zum Millionengewinn, wobei es zwei Sicherheitsstufen gibt, in Deutschland bei 500 und 16 000 Euro. Die Kandidaten haben drei Joker zur Verfügung (einen Publikumsjoker, einen Telefonjoker und den 50: 50-Joker). In der deutschen Adaption gibt es seit 2007 eine Risikovariante, bei der es einen weiteren Joker gibt, die Kandidaten müssen dafür aber auf die Sicherheitsstufen ver‐ zichten-- bei einer falschen Antwort ist alles verloren. Die Fragen sind den kulturellen Kontexten angepasst. In den niedrigen Gewinnstufen werden Sprachspiele und Sprichwörter abgefragt, zudem spielt in den mittleren Gewinnstufen häufig die nationale Literatur, Musik, Kunst und Popkultur eine Rolle, bevor es dann in den höheren Gewinnrängen um allgemeines Wissen geht, das weitgehend global verfügbar ist (vgl. Taddicken 2003, S. 96 ff.). In China haben die Fragen oft pädagogischen oder staatlichen Charakter (vgl. Keane u. a. 2007, S. 106 f.). Die Art der Fragen und die Moderation verleihen den Shows einen lokal spezifischen Stil, der mal ernst wie in China die Pädagogik in den Mittelpunkt stellt, der aber auch spielerisch oder heiter bzw. lustig sein kann (vgl. auch Taddicken 2003, S. 146). In einigen Ländern gibt es Specials, in denen Prominente raten, in anderen Ländern gibt es Sendungen, in denen Paare als Kandidat: innen auftreten. Dennoch ist der Ablauf der Show immer gleich, auch wenn die Moderatoren einige Freiheiten haben. 420 5 Adaptionsstrategien in Showformaten <?page no="421"?> Abb. 70 bis 73 (v. l. n. r.): »Wer wird Millionär? « in Großbritannien, China, Schweden und Ghana Der internationale Erfolg des Formats »Wer wird Millionär? « beruht auf der Marke, dem global verfügbaren Formatrahmen aus Logo, Musik, Ausstat‐ tung und Konzept inklusive der Spielregeln, bei gleichzeitig größtmöglicher Variationsmöglichkeit, die sich nicht nur auf das Handeln von Moderator: in‐ nen und Kandidat: innen bezieht, sondern gerade in den Quizfragen den jeweiligen kulturellen Kontext zum Tragen bringen kann. In diesem Sinne sind die Formate Ausdruck der »Glokalisierung« (vgl. Robertson 2020 und 1998), sie sind global und lokal zugleich. Für das kommerzielle Fernsehen ist das ein großer Vorteil gegenüber fertig produzierten Programmen (vgl. Waisbord 2004, S. 368), denn in das Schema lassen sich sehr flexibel die lokalen Eigenheiten einpassen. Für die Fernsehanalyse ist bedeutsam, dass durch den Vergleich der verschiedenen lokalen Versionen eines Formats die narrativen und ästhetischen Besonderheiten besonders hervortreten. So lässt sich auch besonders gut das Lokale im Globalen erforschen, denn der globale Rahmen erlaubt die lokalen Variationen. Zitierte Literatur Armbruster, Stefanie/ Mikos, Lothar (2009): Innovation im Fernsehen am Beispiel von Quizshow-Formaten. Konstanz Artz, Lee (2015): Global Entertainment Media. A Critical Introduction. Malden/ Ox‐ ford Baltruschat, Doris (2008): Film and Television Formats: The Cross-Border Adaptati‐ ons of Interactive Media Productions. In: Wasko, Janet/ Erickson, Mary (Hrsg.): Cross-Border Cultural Production. Economic Runaway or Globalization? Am‐ herst, S. 299-332 FRAPA (Hrsg.) (2009): The FRAPA Report 2009. TV Formats to the World. Huerth Zitierte Literatur 421 <?page no="422"?> Gärisch, André (2018): Das TV-Format als Media Brand. Entwurf eines Modells zur Medienmarkenbildung in der Fernsehwirtschaft. Wiesbaden Ganguly, Lauhona (2012): Global Television Formats and the Political Economy of Cultural Adaptation: »Who Wants to Be a Millionaire? « in India. In: Oren, Tasha/ Shahaf, Sharon (Hrsg.): Global Television Formats. Understanding Television Across Borders. New York/ London, S.-323-345 Hallenberger, Gerd (2009): Fernsehformate und internationaler Formathandel. In: Hans-Bredow-Institut (Hrsg.): Internationales Handbuch Medien. Baden-Baden, S. 155-163 Keane, Michael/ Fung, Anthony Y.H./ Moran, Albert (2007): New Television, Globa‐ lisation, and the East Asian Cultural Imagination. Hong Kong Keane, Michael/ Liu, Bonnie (2009): Independent Television Production, TV Formats and Media Diversity in China. In: Moran, Albert (Hrsg.): TV Formats Worldwide. Localizing Global Programs. Bristol/ Chicago, S.-241-253 Mikos, Lothar (2013): Comparative Research on TV Formats Worldwide-- Adap‐ tation Strategies and Production Context. Vortrag auf dem Workshop »Audio‐ visuelle Formate in konvergierenden Medien produzieren und schützen« am Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft am 6. Dezember 2013 Moran, Albert/ Malbon, Justin (2006): Understanding the Global TV Format. Bris‐ tol/ Portland Robertson, Roland (1998): Glokalisierung: Homogenität und Heterogenität in Raum und Zeit. In: Beck, Ulrich (Hrsg.): Perspektiven der Weltgesellschaft. Frankfurt a.-M., S. 192-220 Robertson, Roland (2020): Globalization. Social Theory and Global Culture. London u,a. (2. Auflage; Erstausgabe 1992) Seifert, Alrun (2010): Dass Model(l) Heidi Klum. Celebrities als kulturelles Phäno‐ men. Konstanz Stehling, Miriam (2015): Die Aneignung von Fernsehformaten im transkulturellen Vergleich. Eine Studie am Beispiel des Topmodel-Formats. Wiesbaden Taddicken, Monika (2003): Fernsehformate im interkulturellen Vergleich. »Wer wird Millionär? « in Deutschland und »Who Wants To Be a Millionaire? « in England/ Irland. Berlin Waisbord, Silvio (2004): McTV: Understanding the Global Popularity of Television Formats. In: Television & New Media, 5, 4, S. 359-383 422 5 Adaptionsstrategien in Showformaten <?page no="423"?> 6 Dichte Erzählung: Spannungsinszenierung in »24« Zu Beginn des 21. Jahrhunderts haben sich neue Erzählformen in Fern‐ sehserien etabliert, die eine neue Qualität hervorgebracht haben. Serien wie »Fringe«, »Heroes«, »House of Cards«, »Lost«, »True Detective«, »The Walking Dead« und »24« verändern auch die Sehgewohnheiten (vgl. Bock 2013; Chamberlain/ Ruston 2007; Mittell 2015 sowie die Beiträge in Jenner 2021 und McDonald/ Smith-Rowsey 2016). Sie sind bereits für die Vermarktung auf DVD und Blu-Ray oder Video-on-Demand-Plattformen produziert, da die Dichte der Erzählung einen Sog erzeugt, dem sich die Zuschauer: innen kaum entziehen können und der wiederholtes Ansehen erforderlich macht. Um der komplexen Struktur der Serien folgen zu kön‐ nen, ist ein tiefes Eintauchen in die Geschichten notwendig, das nicht auf eine wöchentliche »Häppchen«-Rezeption einzelner Episoden zielt, sondern auf eine durchgängige Rezeption von möglichst ganzen Staffeln, dem sogenannten Binge-Watching. Im Folgenden werden die Strukturen der Spannungsinszenierung in der Serie »24« untersucht. Analysiert wurden die 24 Folgen der ersten Staffel, die auf DVD zur Verfügung standen. Die amerikanische Fernsehserie »24«, deren erste Staffel im September 2003 auf RTL II lief und von der bis 2015 acht Staffeln zu sehen waren, wurde im Rahmen einer groß angelegten Werbeaktion als innovatives, formal und konzeptionell neue Maßstäbe setzendes Serienhighlight ange‐ kündigt. Dabei wurde vor allem der Echtzeitcharakter der Serie als neuartig herausgestellt: 24 Stunden im Leben des Protagonisten Jack Bauer entspre‐ chen genau 24 Stunden im Leben der Zuschauer: innen (vgl. Furby 2007; Peacock 2007). Erzählzeit und erzählte Zeit sind identisch (vgl. Morsch 2014, S. 107). Die Analyse zeigt jedoch, dass das Echtzeitprinzip eher unwesentlich für die Faszination und Attraktivität von »24« ist, da die »Echtzeit« für die Zuschauer: innen nicht wirklich erlebbar ist - einerseits wegen der Werbepausen, andererseits wegen der Programmierung, die nicht Jack Bauers Tagesverlauf entspricht. Der Echtzeiteffekt hat daher auch keinen maßgeblichen Einfluss auf Spannung und Dramatik. In der Presse wurde die Serie als »ungemein spannend« und »tempo‐ reich« beschrieben (New York Times). Die Inszenierung von Spannung in einer dichten Erzählung scheint das herausstechende Merkmal von »24« zu sein, dass die Serie für die Zuschauer: innen besonders attraktiv macht. <?page no="424"?> Der Fokus der Analyse liegt daher auf den dramaturgischen Mitteln, die zur Erzeugung von Spannung eingesetzt werden. Jede Folge von »24« beginnt mit den Worten: »I’m Federal Agent Jack Bauer and today is the longest day of my life.« Jack Bauer, Chef einer Spezialeinheit der CIA zur Bekämpfung von Terroristen, erlebt den längsten Tag seines Lebens - und die Zuschauer: innen mit ihm. Innerhalb von 24 Stunden muss Jack Bauer mit seinem Team ein geplantes Attentat auf den Präsidentschaftskandidaten David Palmer verhindern. Dieser Tag und seine 24 Stunden geben die formale Struktur der Serie vor. Die 24 Folgen der Serie entsprechen den 24 Stunden dieses einen Tages. Folglich erzählen sie keine in sich abgeschlossenen Geschichten, sondern eine übergeordnete zukunftsorientierte Geschichte, die auf den finalen Schlusspunkt, nämlich das Ende des Tages und damit entweder (hoffentlich nicht) das Attentat, das verübt werden soll, oder (hoffentlich) seine Vereitelung zustrebt - »und die Uhr tickt …« (RTL II, Presseheft zur Serie). Bereits über diese formale Countdown-Struktur wird Spannung aufgebaut, und zwar nach dem gängigen Muster »Schafft er’s oder schafft er’s nicht? «. Die formal-dramaturgische Struktur von »24« ist die einer Miniserie (vgl. Celko u. a. 2005, S. 75 ff.). Verschiedene Handlungsstränge werden miteinander verwoben und alternierend erzählt, wobei am Ende einer Folge jeweils ein Handlungsstrang seinen Höhepunkt erreicht. Über das klassische Serienmerkmal des Cliffhangers wird Spannung erzeugt und über die einzelne Folge hinaus verlängert. Im Haupthandlungsstrang von »24« wird die in sich abgeschlossene Geschichte der Vereitelung eines geplanten Attentats auf den amerikanischen Präsidentschaftskandidaten Palmer erzählt. Auch sämtliche Nebenhandlungen werden spätestens in der letzten Folge abgeschlossen. An den Anfang jeder neuen Folge wird - auch dies charakteristisch für einen Mehrteiler - eine Zusammenfassung der bisherigen Ereignisse gestellt, den Schluss jeder Folge bildet ein Ausblick auf die kommenden Ereignisse. Diese Mischung aus Serienmerkmalen wie dem Cliffhanger einerseits und der inhaltlichen Abgeschlossenheit nach einer bestimmten Anzahl von Folgen andererseits folgt der Verbindung von horizontaler und vertikaler Dramaturgie, wie sie für die neueren amerikanischen Fernsehserien typisch ist (vgl. Kapitel-II.2.2). Inhaltlich bietet die Serie dem Zuschauer eine Genremischung aus Agen‐ tenfilm, Actionfilm, Familiendrama, Melodrama und Thriller. Sie vereint dementsprechend sowohl formale als auch inhaltliche Merkmale unter‐ schiedlicher Gattungen und Genres und schafft so ein erhöhtes Attraktivi‐ 424 6 Dichte Erzählung: Spannungsinszenierung in »24« <?page no="425"?> Abb. 74: »24« tätspotenzial für die Zuschauer: innen (vgl. McCullough 2014, S. 15 ff.; Nelson 2007, S. 136 ff.; Peacock 2007). Die Erzählweise von »24« basiert zum großen Teil auf Stereotypen der Spannungserzeugung, die nicht originär und neu sind, sondern die die Zuschauer: innen bereits aus anderen Filmen bzw. Fernsehserien kennen. In dem Thriller »Gegen die Zeit« entspricht die Länge des Films, genau wie bei »24«, dem zeitlichen Ablauf der Handlung. Ein Versicherungsangestellter, gespielt von Johnny Depp, wird von Entführern gezwungen, ein Attentat zu verüben. Er hat 90 Minuten Zeit, um das Attentat auf eine Senatorin auszuführen; schafft er es nicht, wird seine Tochter umgebracht, schafft er es, wird er selbst getötet. Er muss also in den 90 Minuten eine Lösung finden, bei der weder seiner Tochter noch ihm oder der Senatorin Schaden zugefügt wird. Über diese Erzählkonvention wird auch in »24« Spannung aufgebaut. Die Zuschauer fiebern mit, ob Jack Bauer es schafft, in den 24 Stunden das Attentat auf Senator Palmer zu verhindern und seine Frau und Tochter aus der Gewalt der Entführer zu befreien. Die Zuschauer werden durch die Einblendung der Uhr (vgl. Abb. 74) immer wieder daran erinnert, dass die Zeit läuft und für Jack Bauer abläuft (vgl. McCullough 2014, S. 48). Neben diesem die Serie rahmenden zentralen Countdown gibt es eine Vielzahl kleinerer Spannungsmomente, die nach demselben Prinzip konstruiert sind. In Episode 7 beispielsweise soll Jack Bauer, der von Gaines über Kameras und ein Funkgerät im Ohr kontrolliert wird, eine Keycard vertauschen: »Jack, Sie haben drei Minuten Zeit, um das zu erledigen.« Schafft Jack es nicht, droht Gaines seine Tochter umzubringen. Der Wettlauf gegen die Zeit ist bei »24« ein zentrales und stereotypes Muster zur Erzeugung von Spannung. Dem Konflikt um die Entfüh‐ rung seiner Tochter Kim und später seiner Frau Teri liegt eine Thriller‐ struktur zugrunde, die hier näher betrachtet werden soll. Kim und Teri geraten völlig unerwartet in die Hände der Entführer. Dies ist ein klassisches Genremerkmal, mit dem viele Thriller arbeiten. Auf‐ grund der speziellen Konfliktkons‐ tellation sind die Zuschauer: innen durch empathische Prozesse emo‐ 6 Dichte Erzählung: Spannungsinszenierung in »24« 425 <?page no="426"?> tional besonders stark am Schicksal der Figuren beteiligt, und das Span‐ nungserleben wird durch diese emotionale Beteiligung intensiviert. Die Ge‐ fahr in Thrillern baut sich immer mehrfach, sich steigernd, auf. Nach dem für Thriller typischen Muster des »untoten Toten« geraten auch Kim und Teri nach der vermeintlichen Rettung in Episode 3, die mit einer Entspannung für die Zuschauer: innen einhergeht, immer wieder aufs Neue in die Hände der Entführer und damit in große Gefahr. Dieses Einbrechen der Gefahr in vermeintlich sichere Refugien der Protagonist: innen (z. B. das »Schutzhaus« oder die CTU, die Zentrale der Antiterror-Einheit von Jack Bauer) nimmt sowohl den Figuren als auch den Zuschauer: innen das Vertrauen in ihre Umwelt. Nachdem Teri mehrere Stunden mit dem vermeintlichen Vater von Janet York verbracht und sogar ein Vertrauensverhältnis zu ihm aufgebaut hat, muss sie feststellen, dass dieser sie in Wirklichkeit entführen will. Sie schafft es, ihrem Entführer zu entkommen, und bittet über Handy eine Arbeitskollegin ihres Mannes, sie abholen zu lassen. Doch in dem Wagen, der kurz darauf zur vermeintlichen Rettung erscheint, sitzen Drazens Männer, die sie schließlich in das Versteck bringen, in dem sie die nächsten Stunden gefangen gehalten wird. Im Laufe der Serie lernen die Zuschauer: innen diese Konvention, nämlich, dass die Figur selbst dort, wo es sicher erscheint, nicht sicher ist. Das Gefühl der Sicherheit und das Vertrauen, die im Alltag von Figuren und Zuschauer: innen besonders wichtig sind, gehen verloren. Es ist keine ontologische Sicherheit mehr vorhanden (vgl. dazu Giddens 2018, S. 117f.; Silverstone 1994, S. 5ff. sowie Kapitel II.2.). Misstrauen wird zu einer festen Größe für die Figuren (vgl. Calef 2008). Die Unsicherheit erzeugt eine permanente Bedrohung und damit Spannung. In Episode 16 wird durch Teris vorübergehende Amnesie das verlorene Vertrauen in die alltägliche Wirklichkeit noch weiter potenziert zu einem quasi totalen Kontrollverlust, da Teri nun nicht einmal mehr weiß, wer sie ist, wovor sie eigentlich Angst hat und wem sie trauen kann. Dieser ständige Wechsel von Gefahrensituation und (vermeintlicher) Sicherheit und Rettung verlängert nicht nur den Konflikt und die Spannung der Entführungsgeschichte um Kim und Teri über die gesamte Staffel, sondern bringt die Zuschauer: innen wie die Figur Teri zudem an den Rand des Kontrollverlusts. »24« verdichtet hier konventionelle Muster zur Erzeugung von Unsicherheit und Bedrohung (vgl. Kapitel II.2.5), wie sie im Thriller und im Horrorfilm (vgl. Grixti 1989, S. 147 ff.) eingesetzt werden. Dieses Spiel um Vertrauen und Misstrauen ist ein ganz zentrales Element der Spannungserzeugung bei »24«. In der ersten Folge wird Jack Bauer 426 6 Dichte Erzählung: Spannungsinszenierung in »24« <?page no="427"?> von Walsh gebrieft, dass möglicherweise ein Mitarbeiter seines Teams in den geplanten Anschlag verwickelt ist: »Don’t trust anybody, not even your own people.« Die Spannung wird so noch weiter erhöht, denn der Verdächtige kommt nicht von außen, sondern aus dem unmittelbaren (wie sich später herausstellt, intimen) Umfeld des Protagonisten. Jack Bauer kann niemandem trauen - und die Zuschauerin ebenso wenig (vgl. Calef 2008). Sie kann nur versuchen, die Informationen, die ihr der Fernsehtext bietet, seien es Blicke zwischen Toni und Nina oder Nina und Jamey, zu deuten und dementsprechende Vermutungen darüber anzustellen. Wirklich wissen wird sie es erst in der letzten Folge. Die bereits erwähnten subtilen Hinweise wie Blicke und Beobachtungen der Figuren untereinander erzeugen ein latentes Misstrauen unter den CTU-Mitarbeitern und ein eher unbestimmtes Spannungsgefühl bei den Zuschauer: innen. Daneben werden gezielt Informationen gegeben, die fast immer auf die falsche Fährte führen. Bevor Walsh erschossen wird, schafft er es noch, Jack eine Chipkarte mit wichtigen Informationen zu geben. Jack solle sie Jamey zum Entschlüsseln geben, ihr könne man vertrauen. Aus dem Mund von Walsh, der Jack zuvor einschärfte, niemandem in der CTU zu trauen, klingt dies wenig vertrauenerweckend. Tatsächlich stellt sich später heraus, dass Jamey der Maulwurf in der CTU ist. Oder aber die Fährte war richtig, wird aber im Laufe der Serie immer wieder umgeleitet: Nach Auswertung besagter Chipkarte stellt sich heraus, dass sie an Ninas Computer erstellt wurde. Nina kann jedoch glaubhaft belegen, dass sie in der fraglichen Zeit nicht an ihrem Computer gearbeitet hat: Hier gibt es dann eine Andeutung, dass sie mit Jack ein Liebeswo‐ chenende verbracht hat. Zwei Dinge sind an dieser Szene dramaturgisch bemerkenswert: Die enge (intime) Beziehung, die Jack und Nina verband, wird deutlich, und das Vertrauen in Nina wird wieder hergestellt. Jack dagegen steht plötzlich in schlechtem Licht da, weil er Nina eine Tätigkeit als Maulwurf nicht nur zugetraut, sondern auch vor anderen unterstellt hat. Diese Szene bereitet dramaturgisch die Erschießungsszene Ninas vor, die durch das wiederhergestellte Vertrauen in Nina auf die Zuschauer: innen emotional viel stärker wirken kann. Auch zu dem falschen Alan York wird über mehrere Folgen ein Vertrau‐ ensverhältnis aufgebaut. Teri hat bereits vier Stunden mit ihm verbracht, sie haben gemeinsam ihre beiden Töchter gesucht, sich über die Probleme mit den Teenagern ausgetauscht, und Jack hat sogar mit Alan York telefoniert und ihm für seine Hilfsbereitschaft gedankt. Der falsche Alan York nimmt 6 Dichte Erzählung: Spannungsinszenierung in »24« 427 <?page no="428"?> damit fast eine Stellvertreterrolle von Jack ein. Nach einer solchen Vorbe‐ reitung ist die Tatsache, dass der Mann, den Teri und die Zuschauer: innen die ganze Zeit für den Vater von Janet York gehalten haben, Janet schließlich nach all dem, was sie in den letzten vier Stunden durchgemacht hat, im Krankenhaus, dem vermeintlichen Ort der Rettung, kaltblütig umbringt - ein Schock für die Zuschauer: innen. Solche Schockmomente, werden durch die Dramaturgie der Serie evoziert, indem die Zielsituation emotional aufgeladen wird und durch einen Vertrauensbruch eine plötzliche Wendung entsteht. Die Serie schafft es auf bemerkenswerte Weise, die Zuschauer: innen emotional am Schicksal der Figuren teilhaben zu lassen und dadurch das Spannungserleben zu intensivieren. Je sympathischer und verletzlicher eine Figur auf die Zuschauer: innen wirkt, desto eher versetzen sie sich in ihre (bedrohliche und gefährliche) Lage und desto stärker nehmen sie Anteil an ihrem Schicksal. In dem oben gezeigten Beispiel wird Nina den Zuschauer: innen durch das Unrecht, das ihr von einem ihr nahestehenden Menschen zugefügt wurde, sympathisch. Teri, Kim und auch ihre Freundin Janet sind dagegen die klassischen Opfer: unschuldige, wehrlose Frauen, die in die Hände von Entführern geraten. Besonders erleichtert wird der Zugang zu den Figuren durch ihre per‐ sönlichen, meist familiären Probleme. Die Charaktere wirken dadurch glaubhafter, und Glaubhaftigkeit ist für das Spannungserleben eine wichtige Voraussetzung. Die Gesichter der Figuren werden in »24« außerdem häufig in Nahaufnahmen gezeigt, was die Emotionen für die Zuschauer: innen erlebbar macht. Verbunden mit der Unvorhersehbarkeit des Handlungs‐ ausgangs erzeugen die Konflikte der Figuren bei den Zuschauer: innen Spannung. Alle Protagonisten der Serie haben ein Problem, einen Konflikt, den sie lösen müssen, und auf ihrem Weg dorthin tauchen ungeahnte Hindernisse auf. Der Ausgang bzw. jedwede Lösung des Konflikts stellt für die Zuschauer: innen das Moment dar, das die Spannung auslöst. Die Serie weist ein hohes Maß an Konflikthaftigkeit auf, was charakteristisch für Spannungsfilme und -serien ist. Interessant ist dabei die Vielfalt der Konflikte, die sich im Laufe der Serie entwickeln und die sowohl latente als auch zielgerichtete, fokussierte und normierte, also an Erzählkonventionen gebundene Spannung erzeugen (vgl. Wuss 2020, S. 276ff.). Die Zuschauer: innen bauen auf der Grundlage von Informationen, die sie dem Fernsehtext entnehmen, ständig Hypothesen und Erwartungshal‐ tungen in Bezug auf den weiteren Verlauf der Handlung auf. »Spannung 428 6 Dichte Erzählung: Spannungsinszenierung in »24« <?page no="429"?> im weitesten Sinne entsteht generell im Umgang mit Unbestimmtheit, als Folge filmischer Problemsituationen« (Wuss 1999, S. 115). Im Haupt‐ handlungsstrang steht der eindeutigen, für die Zuschauer: innen schnell und einfach nachzuvollziehenden Problemsituation neben der allgemeinen Unsicherheit über den Fortgang der Handlung zusätzlich die Unsicherheit über die Identität der Attentäter gegenüber. Die Spannung wird hier über ein klassisches Rätselschema erzeugt: Wer steckt hinter dem geplanten Anschlag und warum, wann, wie und wo wird der Anschlag stattfinden? Naturgemäß stellen sich Jack Bauer und den anderen Protagonist: innen bei der Bewältigung ihrer Aufgaben und Probleme Hindernisse in den Weg. Sonst würde die Spannung weder über zwei, geschweige denn über 24 Stunden aufrechterhalten werden können. Die Handlung nimmt im Verlauf der 24 Stunden immer wieder für die Zuschauer: innen unerwartete Wendungen. Diese Plotpoints oder Wendepunkte führen durch erneute Verunsicherung bei den Zuschauer: innen zu einer Spannungssteigerung. Anstelle der erwarteten Zielsituation eines Handlungsabschnitts tritt etwas gänzlich Unerwartetes ein. Die Zuschauer: innen müssen sich ganz plötzlich umorientieren. Charakteristisch für »24« ist die Vielzahl der in relativ kurzen Abständen folgenden Wendepunkte. Dies ergibt sich zum einen aus der Vielzahl der Handlungsstränge und zum anderen aus der sehr kleinteiligen, dichten und vor allem sehr temporeichen Erzählweise. Keine Szene dauert länger als drei Minuten, die durchschnittliche Szene zwei Minuten, kurze Szenen häufig nur ein bis anderthalb Minuten. Die Spannungshöhepunkte der einzelnen Handlungsstränge sind häufig gegeneinander versetzt, in einigen Fällen treten sie aber zur Potenzierung der Spannung auch gleichzeitig auf. Die Zuschauer: innen kommen so kaum zum Luftholen und werden förmlich an den Bildschirm gefesselt. Auch innere Konflikte erzeugen Spannung, wenn auch auf anderer Ebene als die äußeren Konflikte um die Entführung und das Attentat. Senator Palmer erhält beispielsweise in der ersten Folge einen Anruf von einer Journalistin. Er wirkt danach bedrückt und ernst, rückt aber auf Nachfragen seiner Frau nicht mit der Sprache heraus. Später erfahren die Zuschauer: innen, dass ihm in dem Telefonat mitgeteilt wurde, dass sein Sohn Keith möglicherweise in den Tod des Vergewaltigers seiner Schwester verwickelt ist und die Journalistin diese Geschichte an die Öffentlichkeit bringen will. Damit wird um Senator Palmer ein innerer Konflikt etabliert: Einerseits möchte Palmer seinem Sohn und seiner Tochter eine Aussage 6 Dichte Erzählung: Spannungsinszenierung in »24« 429 <?page no="430"?> in der Öffentlichkeit ersparen, andererseits kann er es sich als Präsident‐ schaftskandidat am Tag vor den Vorwahlen nicht leisten, einen solchen Vorfall zu verschweigen oder gar abzustreiten. Dieser innere Konflikt wird wiederum externalisiert in der Beziehung zu seiner Frau, die ihn drängt, den Vorfall zu verschweigen. Wie also wird sich Senator Palmer verhalten? Wie kommt er aus dieser Situation heraus? Und wie wird die Öffentlichkeit darauf reagieren? Die Spannung ergibt sich für die Zuschauer: innen aus der Reaktion und den weiteren Handlungsschritten Palmers zur Lösung seines Problems. Zugleich kann dieser Anruf, dessen Inhalt den Zuschauer: innen zunächst verborgen bleibt, als »kataphorisches Textelement« (Wulff 1996, S. 2) begriffen werden. Darunter werden Textstrukturen verstanden, die dazu dienen, künftige Ereignisse, Entwicklungen und Konflikte anzuzeigen bzw. heraufzubeschwören. Kataphorische Textelemente gelten als ein we‐ sentliches Mittel, um Erwartungen der Zuschauer: innen auf den Fortgang der Handlung zu wecken (vgl. ebd.). Sie bauen Spannung auf - und jede Episode von »24« ist voll davon. Auch Jack Bauer hat einen für die Geschichte zentralen inneren Konflikt. Er steht durch die Ereignisse zwischen seinem Beruf und seiner Familie und möchte doch beides: im Beruf sein Bestes geben, für seine Familie da sein und sie beschützen. Letztlich scheitert er, seine Frau Teri und das ungeborene Kind sterben. Verbunden mit Teris Tod und den damit einher‐ gehenden Schuldgefühlen bildet dieser Konflikt eine wichtige Backstory für die folgenden Staffeln. Für alle Beteiligten der Geschichte steht im Falle eines Scheiterns viel auf dem Spiel. Schafft es Jack Bauer nicht, den Anschlag zu verhindern, prognostiziert Walsh in der ersten Folge: »It will tear this country apart.« Außerdem steht Jacks Familie auf dem Spiel. Für Palmer steht sein Leben und seine Kandidatur auf dem Spiel, für Teri und Kim ebenfalls nicht weniger als ihr Leben, für Nina ihre Freiheit usw. Dadurch wird das Spannungserleben der Zuschauer: innen intensiviert. Diese Mischung aus inneren und familiären Konflikten der Figuren und genrekonventionellen äußeren Konflikten und damit einhergehend eine Mischung unterschiedlicher Spannungseffekte bieten den Zuschauer: innen ganz verschiedene Spannungserlebnisse, von latenter Angespanntheit über diffuse Erwartungen bis hin zu zielgerichteten Formulierungen von Hy‐ pothesen. Die Zuschauer: innen versuchen demnach gegenüber dem Hand‐ lungsverlauf der Geschichte eine passive Kontrollkompetenz zu erlangen. Um diese Kontrollkompetenz aufbauen zu können, benötigen sie Informa‐ tionen. Eine Strategie von »24« zur Erzeugung von Spannung besteht im 430 6 Dichte Erzählung: Spannungsinszenierung in »24« <?page no="431"?> dramatur