Grundwissen Medizin
für Nichtmediziner:innen in Studium und Praxis
0619
2023
978-3-8385-5985-8
978-3-8252-5985-3
UTB
Reinhard Strametz
10.36198/9783838559858
Reinhard Strametz stellt medizinisches Grundwissen fundiert und leicht verständlich vor: Er führt in die medizinische Fachsprache ein, erklärt den Behandlungsprozess von der Anamnese bis zur Therapie und geht zudem auf wichtige Methoden ein, z. B. die evidenzbasierte Medizin und die Prävention. Krankheitsbilder wie z. B. Diabetes mellitus, Schlaganfall sowie Krebs erklärt er prägnant. Auch Spannungsfelder lässt er nicht außer Acht, z. B. die Ökonomisierung und die Digitalisierung.
Neu in dieser Auflage sind die Reproduktionsmedizin sowie Gesundheit und Klimawandel (Planetary Health).
Ein unverzichtbarer Ratgeber für alle, die sich im Studium oder in der Praxis mit dem Gesundheitssystem und der Medizin beschäftigen.
utb+ das Lehrbuch mit dem digitalen Plus.
<?page no="0"?> Reinhard Strametz Grundwissen Medizin für Nichtmediziner: innen in Studium und Praxis 6. Auflage <?page no="1"?> utb 4669 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Brill | Schöningh - Fink · Paderborn Brill | Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen - Böhlau · Wien · Köln Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Narr Francke Attempto Verlag - expert verlag · Tübingen Psychiatrie Verlag · Köln Ernst Reinhardt Verlag · München transcript Verlag · Bielefeld Verlag Eugen Ulmer · Stuttgart UVK Verlag · München Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld Wochenschau Verlag · Frankfurt am Main <?page no="2"?> Dr. Reinhard Strametz ist Arzt und Ökonom. Er hat die Professur „Medizin für Ökonomen, insbesondere Patientensicherheit“ an der Hochschule RheinMain in Wiesbaden inne und leitet das Wiesbaden Institute for Healthcare Economics and Patient Safety (WiHelP). <?page no="3"?> Reinhard Strametz Grundwissen Medizin für Nichtmediziner: innen in Studium und Praxis mit einem Geleitwort von Dr. med. Günther Jonitz, ehemaliger Präsident der Ärztekammer Berlin und einem Gastbeitrag von Vince Ebert 6., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage 2023 UVK Verlag · München <?page no="4"?> 6., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage 2023 5., überarbeitete und erweiterte Auflage 2021 4., überarbeitete und erweiterte Auflage 2020 3., überarbeitete und erweiterte Auflage 2019 2., überarbeitete und erweiterte Auflage 2017 1. Auflage 2016 DOI: https: / / doi.org/ 10.36198/ 9783838559858 © UVK Verlag 2023 ‒ ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Überset‐ zungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de | eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: siegel konzeption | gestaltung CPI books GmbH, Leck utb-Nr. 4669 ISBN 978-3-8252-5985-3 (Print) ISBN 978-3-8385-5985-8 (ePDF) ISBN 978-3-8463-5985-3 (ePub) Einbandmotiv: © udra · iStock Autorenportrait: © Foto Studio Hoffmann, Frankfurt am Main Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Natio‐ nalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 9 11 12 13 1 19 1.1 19 1.1.1 19 1.1.2 20 1.2 22 1.2.1 23 1.2.2 24 1.2.3 27 1.2.4 28 1.3 29 1.3.1 30 1.3.2 31 1.3.3 34 1.3.4 36 1.3.5 37 1.4 39 1.4.1 39 1.4.2 41 1.4.3 45 1.4.4 48 1.5 53 Inhalt Der Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geleitwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hinweise zum Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung in die-Systematik-der-Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medizinische Grundprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primum nil nocere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Salus aegroti suprema lex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Meilensteine in der Geschichte-der-Medizin . . . . . . . . . . . . Hygienische Händedesinfektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Impfungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anästhesie und aseptisches Arbeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entdeckung des Penicillins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Ablauf des medizinischen Behandlungsprozesses . . . . Anamnese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medizinische Fachsprache/ Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . Terminologie vs. Nomenklatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammengesetzte Fachbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere Arten medizinischer Fachbegriffe . . . . . . . . . . . . . . Fallstricke bei medizinischen Fachbegriffen . . . . . . . . . . . . . Medizin als ärztliche Heilkunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 2 57 2.1 57 2.2 62 2.3 67 2.3.1 67 2.3.2 68 2.3.3 69 2.3.4 70 2.3.5 82 2.3.6 90 2.3.7 100 2.4 104 2.4.1 105 2.4.2 109 2.5 116 2.5.1 117 2.5.2 117 2.5.3 119 2.5.4 120 2.6 122 2.6.1 123 2.6.2 125 2.6.3 126 2.6.4 127 2.7 129 2.7.1 130 2.7.2 139 2.7.3 143 2.8 147 2.8.1 147 2.8.2 148 2.8.3 150 2.8.4 150 2.9 152 Methoden und Ansätze der Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arzneimitteltherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interventionell-operative Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Evidence-based Medicine (EbM) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entstehung und Begriffsdefinition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medizin zwischen Kunst und Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . Die 5 Schritte der EbM nach Sackett . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlagen medizinischer Studien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bewertung diagnostischer Studien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bewertung therapeutischer Studien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassende Arbeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prävention und Gesundheitsförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . Arten von Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesundheitsförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Disease-Management-Programme (DMP) . . . . . . . . . . . . . . Gründe für die Einführung von DMPs . . . . . . . . . . . . . . . . . Voraussetzungen zur Etablierung eines DMPs . . . . . . . . . . Bisher eingeführte DMPs in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . DMPs - ein Erfolgsmodell? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Palliativmedizin/ Palliative Care . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Geschichte der Palliativmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundannahmen der Palliative Care . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schmerztherapie als Säule der Palliativmedizin . . . . . . . . . . Palliativmedizin contra Sterbehilfe? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alternativmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) . . . . . . . . . . . . . . Homöopathie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Möglichkeiten und Grenzen der Alternativmedizin . . . . . . Individualisierte Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundkonzept der Individualisierten Medizin . . . . . . . . . . . Diagnostische/ Prognostische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapeutische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ethische Problemfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Planetary Health (Planetare Gesundheit) . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> 3 159 3.1 159 3.1.1 159 3.1.2 161 3.1.3 162 3.1.4 164 3.2 165 3.2.1 165 3.2.2 167 3.2.3 168 3.2.4 169 3.3 170 3.3.1 171 3.3.2 173 3.3.3 174 3.3.4 174 3.4 175 3.4.1 175 3.4.2 177 3.4.3 178 3.4.4 178 3.5 179 3.5.1 179 3.5.2 181 3.5.3 182 3.5.4 183 3.6 184 3.6.1 184 3.6.2 187 3.6.3 187 3.7 188 3.7.1 188 3.7.2 189 3.7.3 190 3.7.4 193 3.8 194 3.8.1 194 Ausgewählte Krankheitsbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Adipositas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontext der Erkrankung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapeutische Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primärpräventive Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diabetes mellitus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontext der Erkrankung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Insulinsubstitution/ Stufentherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prognose und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arterielle Hypertonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontext der Erkrankung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapeutische Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Akutes Koronarsyndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontext der Erkrankung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapeutische Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prognose und Präventive Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlaganfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontext der Erkrankung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapeutische Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prognose und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Krebserkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontext der Erkrankung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostische und therapeutische Ansätze . . . . . . . . . . . . . Prognose und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Asthma bronchiale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontext der Erkrankung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stufentherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychische Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontext der Erkrankung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 7 <?page no="8"?> 3.8.2 196 3.8.3 197 3.9 199 3.9.1 199 3.9.2 200 3.9.3 200 3.9.4 202 4 205 4.1 205 4.1.1 205 4.1.2 206 4.2 207 4.2.1 207 4.2.2 212 4.2.3 213 4.2.4 217 4.3 219 4.3.1 219 4.3.2 220 4.3.3 222 4.3.4 223 4.3.5 224 4.3.6 226 4.4 228 4.4.1 228 4.4.2 229 4.4.3 231 4.5 235 4.6 239 247 251 Therapeutische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prognose und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ungewollte Kinderlosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontext der Erkrankung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapeutische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prognose, Kontroversen und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . Ausgewählte Spannungsfelder in der Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . Lebensverlängerung vs. Lebensqualität . . . . . . . . . . . . . . . . Demographischer Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wohl des Patienten/ Medizinethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstbestimmung und Eigenverantwortung . . . . . . . . . . . . Der Wille des Patienten als oberstes Gesetz . . . . . . . . . . . . . Aspekte der Eigenverantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Voraussetzung für eigenverantwortliches Handeln . . . . . . Empowerment vs. Anreizprogramme . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ökonomisierung der Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ursachen zunehmender Ökonomisierung . . . . . . . . . . . . . . Gesundheitsökonomische Evaluation . . . . . . . . . . . . . . . . . . Optimierung des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Optimierung des Sterbens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) . . . . . . . . . . . . . Value(s)-based Healthcare - Neuorientierung an Werten statt Einzelleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Globalisierung in der Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chancen/ Risiken aus Patientensicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chancen/ Risiken aus Anbietersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Multiresistente Keime und Pandemien . . . . . . . . . . . . . . . . . Digitalisierung in der Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medizin als Hochrisikobereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt <?page no="9"?> Der Autor Dr. Reinhard Strametz ist Arzt und Ökonom. Nach seinem Medizinstu‐ dium in Frankfurt am Main war er acht Jahre ärztlich am dortigen Uni‐ versitätsklinikum tätig. Als Facharzt für Anästhesiologie übernahm er für vier Jahre die Ärztliche Leitung der Stabsstelle Qualitätsmanagement am Universitätsklinikum Frankfurt. Im Rahmen seiner ehrenamtlichen Tätigkeiten in Organisationen wie dem Aktionsbündnis Patientensicherheit e. V. und der Deutschen Le‐ bens-Rettungs-Gesellschaft e. V. sowie nationalen und internationalen Nor‐ mungsgremien im Bereich Qualität und Sicherheit in der Medizin, hat er an der Entwicklung zahlreicher Handlungsempfehlungen und Normen zur Verbesserung der Patientenversorgung mitgewirkt. Reinhard Strametz ist Leiter des Wiesbaden Institute for Healthcare Economics and Patient Safety (WiHelP) an der Hochschule RheinMain in Wiesbaden und beschäftigt sich im Rahmen seiner Forschungstätigkeiten insbesondere mit Aspekten der Patientensicherheit. Ob als Dozent, Autor oder Keynote-Speaker, die Verknüpfung einer humanen und wissenschafts‐ basierten, sicheren und patientenorientierten Medizin mit ökonomisch sinnvollen Lösungen aus Qualitäts- und Risikomanagement ist zentrales Anliegen seiner Tätigkeiten. <?page no="11"?> Geleitwort »A g’sunder Mensch hat viele Wünsch‘. A Kranker bloß oin.« schwäbisches Sprichwort Gesundheit geht uns alle an und ist längst nicht mehr eine geheime Wissen‐ schaft, die nur vom hoch angesehenen Stand der Ärzteschaft durchschaut und gestaltet wird. Wissen über Gesundheit und Medizin betrifft jeden, der mit kranken Menschen oder Krankheiten zu tun hat. Dieses Buch vom klinisch erfahrenen und theoretisch äußerst beschlagenen Professor Dr. med. Reinhard Strametz füllt eine wichtige Lücke. Grundwissen über Gesundheit und Krankheit, über die Medizin und ärztliche Versorgung wird in nahezu allen wesentlichen Aspekten in verständlicher Form dargestellt, Zusammenhänge erläutert und die Fähigkeit, Wichtiges von weniger Wich‐ tigem, Relevantes von Nichtrelevantem zu unterscheiden, gefördert. Gerade in einer Zeit, in der eine Vielzahl neuer Berufsgruppen Mitverantwortung in der Patientenversorgung übernimmt, ist ein gutes Verständnis dessen, was Medizin ist, wie sie funktioniert und wo ihre Möglichkeiten und Grenzen liegen, eine essentielle Voraussetzung für gute Zusammenarbeit zum Wohle des Patienten. Gerade in Zeiten gesundheitlicher Bedrohung ist solides Grundwissen wichtig. Angst, z. B. vor Krankheiten, macht unfrei und selbst anfällig, sauberes Wissen macht souverän und frei, auch im Umgang mit Gesundheit und Krankheit. Ich danke Reinhard Strametz für sein aufklärendes Engagement bei höchster Kompetenz und wünsche dem Buch eine große Verbreitung. Mit herzlichen Grüßen Ihr Günther Jonitz Berlin, im September 2022 ehemaliger Präsident der Ärztekammer Berlin <?page no="12"?> Hinweise zum Buch Zu diesem Buch gibt es einen ergänzenden eLearning-Kurs Mithilfe des Kurses können Sie online überprüfen, inwieweit Sie die Themen des Buches verinner‐ licht haben. Gleichzeitig festigt die Wiederholung in Quiz-Form den Lernstoff. Der eLearning-Kurs kann Ihnen dabei helfen, sich gezielt auf Prüfungs‐ situationen vorzubereiten. Der eLearning-Kurs ist eng mit vorliegendem Buch verknüpft. Sie fin‐ den im Folgenden zu den wichtigen Kapiteln QR-Codes, die Sie direkt zum dazu gehörigen Fragenkomplex bringen. Andersherum erhalten Sie innerhalb des eLearning-Kurses am Ende eines Fragendurchlaufs neben der Auswertung der Lernstandskontrolle auch konkrete Hin‐ weise, wo Sie das Thema bei Bedarf genauer nachlesen bzw. vertiefen können. Diese enge Verzahnung von Buch und eLearning-Kurs soll Ihnen dabei helfen, unkompliziert zwischen den Medien zu wechseln, und unterstützt so einen gezielten Lernfortschritt. <?page no="13"?> Vorwort Vorwort zur 6. Auflage Nach einem Jahr ohne Neuauflage erscheint nun im siebten Jahr des Bestehens die sechste erweiterte und aktualisierte Auflage dieses Buches. Die anhaltende Nachfrage freut mich sehr und ehrt mich zutiefst. Nachdem nun die Covid-19-Pandemie nicht mehr das medizinisch do‐ minierende Thema ist, bleibt zu hoffen, dass wir aus den aufgezeigten Schwächen unserer Gesundheitssysteme ebenso viel gelernt haben, wie wir in gleichem Maße stolz sein sollten, auf die gemeinsam gemeisterte unglaubliche Kraftanstrengung aller im Gesundheitswesen Beteiligten, um diese Situation zu überwinden. Nach wie vor gilt auch für dieses Buch - in den Worten des Heraklit von Ephesus ausgedrückt - dass nichts so beständig ist, wie die Veränderung: Die sechste Auflage integriert das für viele Menschen relevante Kapitel der Reproduktionsmedizin und erläutert sowohl biomedizinische als auch ethische Implikationen dieses Fachgebietes. Ebenso neu und aus Sicht vieler Menschen absolut überfällig ist das sogenannte Ehegattenvertretungsrecht, dass als Notvertretungsrecht medizinisch dringend gebotenen Entscheidungen einen angemessenen rechtlichen Handlungsspielraum entgegensetzt und so hoffentlich der Entscheidungsfindung im Sinne der Behandelten dienen kann. Als eigenes Kapitel wurde auch das Konzept Planetary Health in das Buch aufgenommen, dass sich aus medizinischer Sicht mit der Situation und den Folgen des Klimawandels sowie daraus abzuleitenden Strategien auseinander‐ setzt und uns aufzeigt, dass planetares Wohlergehen und eigene Gesundheit nicht (mehr) als voneinander trennbar anzusehen sind. Auch dieses Mal gilt mein ausdrücklicher Dank Allen, die durch Ihre Hinweise geholfen haben, dieses Buch zu aktualisieren und zu verbessern. Nach wie vor freue ich mich sehr über das mich erreichende Feedback, auch in der Hoffnung, dass dies nicht das letzte Vorwort dieses Buches gewesen sein wird. Frankfurt am Main, im April 2023 Reinhard Strametz <?page no="14"?> Vorwort zur 5. Auflage Mit der fünften Auflage in fünf Jahren zeigt sich die medizinische Entwick‐ lung auf vielfältige Weise. Innovativ und patientenorientiert am Beispiel der stärkeren Betonung patientenrelevanter Endpunkte und partizipativer Entscheidung in der Nationalen Versorgungsleitlinie Diabetes mellitus, kon‐ trovers im Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zur Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Regelung des assistierten Suizides und bedrückend in der Entwicklung der Todesfallzahlen nach Covid-19-Infektion mit 3,4 Millionen Corona-Toten weltweit bei Redaktionsschluss dieser Auflage gegenüber ca. 7.500 bei Erscheinen der letzten Auflage. Mein besonderer Dank in dieser Auflage gilt den Kollegen vom arznei-te‐ legramm® für die Abdruckgenehmigung der 10 Indizien für Quacksalberei sowie Martin Strickler und meiner Ehefrau Mirjana Matic-Strametz für die vielen wertvollen Hinweise. Frankfurt am Main, im August 2021 Reinhard Strametz Vorwort zur 4. Auflage Es freut mich sehr, innerhalb von 4 Jahren nun die Vorbereitungen der 4. Auflage nahezu abgeschlossen zu haben. Die Erstellung dieser Auflage geschieht unter dem Eindruck der Corona-Pandemie, die derzeit das gesell‐ schaftliche, medizinische und politische Leben dominiert und die Interven‐ tionsmöglichkeiten bei einer Pandemie jeden selbst erfahren lässt. Umso wichtiger zur Bewältigung einer solchen globalen Krise ist soli‐ des medizinisches Grundwissen, Fakten statt Fake News! Nachdem dieses Buch in jeder Auflage überarbeitet und erweitert wurde, finden sich die wesentlichen Änderungen dieser Auflage im vierten Kapitel dieses Buches: Selbstverständlich wurde die leider wahrgewordene Vorhersage kommen‐ der Pandemien ersetzt durch eine erweiterte Übersicht zu Merkmalen einer Pandemie, den allgemeinen Strategien zur Bekämpfung einer Pandemie und natürlich auch dem derzeitigen Wissensstand zum SARS-CoV-2-Virus. Es handelt sich jedoch dabei nur um eine Momentaufnahme, die in Teilen bei Erscheinen des Buches schon wieder überholt ist. Umso wichtiger an dieser Stelle der Appell, auch nach der hoffentlich baldigen Bewältigung der 14 Vorwort <?page no="15"?> Corona-Pandemie, medizinische Informationen stets kritisch zu überprüfen und nicht unreflektiert über soziale Medien zu teilen. Einige hilfreiche Hinweise und Illustrationen zur Einschätzung medizinischer Risiken sind im Kapitel Eigenverantwortung aufgenommen worden. Darüber hinaus erfährt das Thema Patientensicherheit, die inhaltliche Klammer dieses Buches, zusätzliche Bedeutung, indem der gerechte Umgang mit Behandlungsfehlern thematisiert wird. Ich danke erneut zahlreichen meiner Studierenden für wertvolle Korrek‐ turhinweise und Ergänzungen, ebenso wie Dr. Günther Jonitz für sein Geleitwort und Vince Ebert für seinen Fachbeitrag zur Frage, was ein Bier im Kühlschrank mit Wissenschaft zu tun hat. Anregungen und Feedback sind nach wie vor herzlich willkommen! Frankfurt am Main, im April 2020 Reinhard Strametz Vorwort zur 3. Auflage Nach nicht einmal anderthalb Jahren seit Veröffentlichung der ersten Auf‐ lage erscheint nun die dritte Auflage dieses Buches. Die Hoffnung, mit diesem Buch gleichsam einen relevanten Beitrag zum Verständnis der Medi‐ zin in unserem Gesundheitssystem zu leisten und eine bis dahin vorhandene Wissenslücke zu schließen, scheint sich somit bestätigt zu haben. Die in der ersten Auflage unterstellte Dynamik des deutschen Gesund‐ heitswesens hat sich auch in der kompletten Überarbeitung dieses Buches gezeigt. So sind in der 2. Auflage bereits die Kapitel „Medizin als ärztliche Heilkunst“ und „Medizin als Hochrisikobereich“ hinzugekommen. Die dritte Auflage wird durch die Bereiche „Value(s)-based Medicine“ und „Digitalisie‐ rung in der Medizin“ ergänzt. Gleichzeitig wurden viele Textpassagen an aktuelle politische, aber auch medizinische Entwicklungen angepasst. So wurde beispielsweise das Kapitel Asthma bronchiale nach Erscheinen der 3. Auflage der Nationalen Versorgungsleitlinie komplett überarbeitet. Besonders gefreut haben mich die zahlreichen positiven Rückmeldungen und konstruktiven Ergänzungsvorschläge vieler Studierender und Kollegen. Stellvertretend möchte ich mich insbesondere herzlich bei Dr. Günther Jonitz bedanken für dessen zahlreiche Hinweise und Tipps, von denen die Lesenden dieser Auflage profitieren werden, und für sein Geleitwort. Vorwort zur 3. Auflage 15 <?page no="16"?> Mein herzlicher Dank geht ebenfalls an Vince Ebert, den ich nach einem seiner Auftritte in Frankfurt am Main treffen durfte, und der mir nach unserem Gespräch quasi aus dem Stand den in dieser Auflage erstmals erscheinenden Gastbeitrag zur Verfügung gestellt hat. Er beantwortet die hoch relevante Frage, was ein Bier im Kühlschrank mit Wissenschaft zu tun hat (S.-75). Seien Sie gespannt! Ich hoffe, dass auch diese Auflage zu einem vertieften Verständnis medi‐ zinischer Inhalte führt und letztlich dadurch, an welcher Stelle auch immer es nötig erscheint, zu einer Verbesserung der Patientenversorgung beitragen kann. Weiterhin sind Anregungen und konstruktive Kritik ausdrücklich erwünscht, um in künftigen Auflagen berücksichtigt werden zu können. Frankfurt am Main, im März 2019 Reinhard Strametz Vorwort zur 2. Auflage Gesundheitssysteme der westlichen Welt zählen zu den umsatzstärksten, aber auch komplexesten Branchen der Welt. Die klassischen Berufsgruppen von Ärzteschaft und Pflege wurden um eine Vielzahl an Berufen unter‐ schiedlichster Art ergänzt, um die Komplexität dieses Gebietes beherrschbar und zukunftsfähig zu machen. Dies findet zum einen durch die zuneh‐ mende Differenzierung und Akademisierung der Gesundheitsfachberufe, zum anderen durch zunehmend spezialisierte Ausbildungen im adminis‐ trativ-theoretisch-technischen Bereich wie der Gesundheitsökonomie, der Medizinischen Informatik, der Epidemiologie oder der Medizintechnik statt. Um dieses Ziel zu erreichen, ist es jedoch unabdingbar, den Kern dieses Systems, die medizinische Versorgung - die nach Auffassung des Autors sowohl ärztliche als auch pflegerische Versorgung einschließt - zu kennen und zu verstehen. Dieses Lehrbuch soll - als meines Wissens nach erstes dieser Art - insbesondere Studierenden nicht-medizinischer Studiengänge zu Beginn ihres Studiums einen überschaubaren, aber auch fundierten Einblick in die Medizin ermöglichen und das notwendige Grundwissen vermitteln, um als Fachexperten auf ihrem jeweiligen Gebiet mit medizinischem Grundver‐ ständnis das Gesundheitssystem zum Wohle der Patientinnen und Patienten zu gestalten. 16 Vorwort <?page no="17"?> Ich danke allen, die mich bei der Realisierung dieses Buches unterstützt haben, insbesondere meiner Ehefrau für die wertvollen Kommentare aus der Sicht einer Nicht-Medizinerin. Dieses Buch ist eine Momentaufnahme eines dynamischen Gesundheits‐ systems und der von stetigem Wissenszuwachs geprägten Medizin. Anre‐ gungen und konstruktive Kritik sind daher ausdrücklich erwünscht und herzlich willkommen. Frankfurt am Main, im August 2017 Reinhard Strametz Vorwort zur 2. Auflage 17 <?page no="18"?> ➤ Hinweis-∣-Haftungsausschluss Die Medizin unterliegt einem ständigen Wandel, sodass einzelne Anga‐ ben in diesem Buch bereits nicht mehr dem aktuellen Stand des Wissens entsprechen können. Alle medizinischen Inhalte wurden sorgfältig re‐ cherchiert, stellen aber lediglich Informationen zur Orientierung in der Berufsausbildung dar. Dieses Buch ersetzt keinesfalls eine individuelle Beratung, Diagnostik oder gar Therapie durch fachkompetente Behan‐ delnde. Bei Anwendung eines der genannten Medikamente obliegt es jedem Benutzer, durch sorgfältige Prüfung der Packungsbeilage, Indi‐ kation, Dosierung und mögliche Kontraindikationen zu prüfen und im Zweifelsfall einen Spezialisten zu konsultieren. Autor und Verlag appel‐ lieren an die Leser, eventuell vorhandene Fehler dem Verlag mitzuteilen. Für Schäden, die aus der Anwendung der hier dargestellten Inhalte und aus dem Verzicht auf Inanspruchnahme kompetenter Behandelnder resultieren, wird somit keinerlei Haftung übernommen. Geschützte Wa‐ rennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt. Hinweis-∣-Digitales Zusatzmaterialien Im Buch wird stellenweise auf digitale Zusatzmaterialien verwiesen. Diese finden Sie unter: 🔗 https: / / files.narr.digital/ 9783825259853/ Zusatzmaterial.zip Links Im Buch finden sich Verweise auf Websites und Onlinematerialien. Diese Links waren am 20. September 2022 aktiv und abrufbar. 18 Vorwort <?page no="19"?> 1 Einführung in die-Systematik-der-Medizin Die Lernfragen zu diesem Kapitel finden Sie unter: 🔗 https: / / narr.kwaest.io/ s/ 1109 1.1 Medizinische Grundprinzipien Das Wissen über die Entstehung, Erkennung und Behandlung von Krank‐ heiten und Verletzungen ist integraler Bestandteil jeder menschlichen Kultur. Basis der Anwendung und Weiterentwicklung der Medizin in un‐ serem Kulturkreis ist dabei ein Selbstverständnis, das auf dem Corpus Hippocraticum beruht, einer Sammlung von 60 Schriftstücken der antiken griechischen Medizin aus dem 5. bis 2. vorchristlichen Jahrhundert. Hieraus wurden im Wesentlichen zwei Grundprinzipien abgeleitet. 1.1.1 Primum nil nocere ➤ Wissen Primum nil nocere, secundum cavere, tertium sanare (lat.): Zual‐ lererst nicht schaden, als Zweites vorsorgen, zum Dritten (erst) heilen. Das Prinzip Primum nil nocere wurde von Scribonius Largus, Hofarzt des römischen Kaisers Tiberius Claudius Caesar Augustus Germanicus, etwa 50 n. Chr. aufgestellt und mag auf den ersten Blick verwundern, da die Absicht medizinischen Handelns auf den Erhalt der Gesundheit oder die Verbesserung eines Krankheitszustandes abzielt und an sich keine schädlichen Absichten in sich trägt. Es ist jedoch bereits vor fast 2000 Jahren aus der Erkenntnis entstanden, dass medizinisches Handeln, trotz bester Absicht, dem Patienten mehr schaden als nutzen kann. So können zum einen durch Fehler im Behandlungsablauf, aber zum anderen auch durch Risiken, die jede medizinische Behandlung in gewissem Maße in sich trägt, Schäden bei Patienten hervorgerufen werden, ohne den gewünschten Effekt zu erzielen. So kann ein Patient nach einer Operation <?page no="20"?> beispielsweise durch eine Infektion im Operationsgebiet eine schwerwiegende Komplikation bis hin zur Sepsis (Blutvergiftung) oder gar dem Tod erleiden, obgleich dies natürlich nicht beabsichtigt war. Ebenso kann ein Patient durch eine seltene aber gravierende Nebenwirkung eines ordnungsgemäß verschriebenen Medikamentes in hohem Maße beeinträchtigt werden oder schlimmstenfalls an der Nebenwirkung sogar versterben. Ergänzend zu dieser primär ärztlichen Erkenntnis stellt Florence Nigh‐ tingale, die Begründerin der modernen westlichen Krankenpflege, in ihren Notes on Hospitals im Jahr 1859 gleichermaßen fest: ➤ Wissen „It may seem a strange principle to enunciate as the very first require‐ ment in a hospital that it should do the sick no harm.“ Es ist daher mit Fug und Recht bereits zu Beginn eines Medizinstudiums oder einer Ausbildung in einem Gesundheitsfachberuf an vielen Ausbildungsstät‐ ten gute Tradition, Studierende und Auszubildende auf diesen Umstand hinzuweisen, damit das Bewusstsein in ihnen reift, dass keine medizinische Maßnahme unabhängig von der Art oder der durchführenden Person frei von Risiken für den Patienten ist und dass daher jede Intervention vor Anwendung am Patienten im Einzelfall einer sorgfältigen Abwägung von erwartetem Nutzen und drohendem Schaden unterzogen wird. 1.1.2 Salus aegroti suprema lex ➤ Wissen Salus aegroti suprema lex (esto) (lat.): Das Wohl des Kranken (sei) höchstes Gesetz! Der oben erläuterte Grundsatz des Nicht-Schadens kann das heutige Selbst‐ verständnis medizinischer Behandlung nicht alleine beschreiben, da unter strenger Auslegung der Aufforderung, keinesfalls zu schaden, auch keine medizinische Intervention möglich wäre. Er wird daher ergänzt um eine ethische Grundhaltung, die aktueller denn je aufzeigt, was letztlich Trieb‐ kraft und Legitimation aller Akteure im Gesundheitswesen sein sollte, das 20 1 Einführung in die-Systematik-der-Medizin <?page no="21"?> Wohl des Patienten. Hierbei ist nicht gemeint, dass die Patientenversorgung an sich den alleinigen Grund des Handelns darstellt, dass jedoch, wenn Wohl des Patienten und andere Interessen einander gegenüberstehen, diese anderen Interessen das Wohl des Patienten nicht übersteigen dürfen. Dieser Grundsatz steht damit durchaus im Widerspruch zu ähnlich lautenden Grundsätzen wie dem von Cicero verfassten Grundsatz „Salus populi su‐ prema lex (esto)“, also das Wohl des Volkes sei höchstes Gesetz, oder der Abwandlung des oben genannten Grundsatzes in „Salus aegrotorum suprema lex (esto)“, das Wohl der Kranken (als Gemeinschaft) sei höchstes Gesetz. So tritt dem individuellen Wohl des Patienten im Zuge knapper Res‐ sourcen das Wohl der Gemeinschaft gegenüber. Die sich hieraus ergebenden Spannungsfelder werden im →-Kapitel 4.3 wieder aufgegriffen. Der oben genannte Grundsatz hat außerdem im Zuge des Wandels der Arzt-Patienten-Beziehung eine Ergänzung erfahren. Neben dem Wohl des Patienten, das lange Zeit alleine durch den Arzt definiert wurde, rückt die mündige Selbstbestimmung des Patienten immer stärker in den Mittelpunkt der Arzt-Patienten-Beziehung. Mit der Ergänzung Salus et voluntas aegroti suprema lex (esto) wurde dem gesetzlich verankerten und gesellschaftlich grundsätzlich akzeptierten Recht auf Selbstbestimmung Rechnung getragen. Da in einer Vielzahl von Fällen aber das objektive Wohl des Patienten und sein subjektiver Wille in Widerspruch stehen können, ergeben sich durch diese Erweiterung ethische und auch juristische Spannungsfelder in der Medizin, die im →-Kapitel 4.2 nochmals thematisiert werden. ➤ Lesetipps-∣-Literatur und Websites Brodersen, K. (2016): Scribonius Largus, Der gute Arzt/ Compositio‐ nes. Lateinisch und Deutsch. Wiesbaden. Krones, C.; Rosch, R.; Steinau; G., Schumpelick, V. (2007): Medizin zwi‐ schen Humanität und Wettbewerb - die Patientensicht. In: Volker Schumpelick/ Bernhard Vogel (Hrsg.). Medizin zwischen Humanität und Wettbewerb. Probleme, Trends und Perspektiven. Im Internet unter: 🔗 http: / / www.kas.de/ upload/ dokumente/ verlagspublikationen/ Medizin/ Medizin_krones.pdf Nightingale, F. (1863): Notes on Hospitals. London. Im Internet unter: 🔗 https: / / archive.org/ details/ notesonhospital01nighgoog 1.1 Medizinische Grundprinzipien 21 <?page no="22"?> 1.2 Meilensteine in der Geschichte-der-Medizin Erklärungsversuche zu Ursache-Wirkungs-Beziehungen von Krankhei‐ ten vergangener Jahrhunderte muten für heutige Verhältnisse sonderbar an, sind jedoch das Resultat kontinuierlicher Forschung und Entdeckungen auf dem Gebiet der Medizin. Während sich die Beschreibung zahlreicher Krankheitsbilder und Krankheitsverläufe schon in der antiken Medizin wiederfindet, liegen die meisten Erfolge der modernen Medizin, die heute als selbstverständlich hingenommen werden, teilweise weniger als ein Jahr‐ hundert zurück. Ebenso werden vermeintliche Innovationen in der Medizin in der gegenwärtigen Berichterstattung inflationär als Durchbrüche und Sensationen dargestellt, die wenigsten dieser Entdeckungen weisen jedoch tatsächlich das zugesprochene Potenzial auf. Wesentliche Basis des heutigen Krankheitskonzeptes der wissenschaft‐ lich begründeten Medizin sind die im 19. Jahrhundert von Rudolf Virchow entwickelte Zellularpathologie sowie die wesentlich von Robert Koch und Louis Pasteur geprägte Mikrobiologie. Ihre Entdeckungen bildeten die Grundlage für nahezu alle in diesem Buch beschriebenen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden. Ebenso undenkbar wäre die heutige Medizin ohne die Entdeckung der nach seinem Entdecker Wilhelm Conrad Röntgen benannten Röntgen-Strahlung. Einige medizinische Errungenschaften werden im Laufe dieses Buches wie selbstverständlich erscheinen, was ihre Bedeutung für die Medizin und damit die betroffenen Menschen nicht mindern soll. So werden Meilensteine in der Chirurgie, wie beispielsweise minimal-invasive oder sogar katheter‐ gestützte Operationsverfahren und Interventionen in → Kapitel 2.2. und → Kapitel 3.4.3. beschrieben. Auch die immensen Fortschritte im Bereich der Notfallmedizin, beispielsweise bei einem Herzinfarkt, vor 70 Jahren quasi noch ein sicheres Todesurteil, werden in diesem Buch an anderer Stelle in →-Kapitel 3.4. beschrieben. Die vier im Folgenden beschriebenen Meilensteine zählen neben den bereits genannten Entdeckungen zu den bedeutendsten Errungenschaften der Medizin und sind Garanten für die immer weiter zunehmende Lebens‐ erwartung und Lebensqualität der Bevölkerung. 22 1 Einführung in die-Systematik-der-Medizin <?page no="23"?> 1.2.1 Hygienische Händedesinfektion Die Übertragung von krankheitsauslösenden Keimen geschieht am ein‐ fachsten und häufigsten durch Hände. Sowohl im häuslichen Umfeld als auch in der medizinischen Versorgung ist dies somit der Hauptübertra‐ gungsweg von Krankheiten. Die hygienische Händedesinfektion bzw. das Händewaschen im häuslichen Umfeld ist somit eine der wirksamsten Methoden, der Verbreitung von Infektionen und den daraus erwachsenden Komplikationen vorzubeugen. Diese mittlerweile in der Medizin unbestrittene Erkenntnis geht auf die Überlegungen und Erkenntnisse von Ignaz Semmelweis (1818-1865) zurück, der als Assistenzarzt in der Geburtshilfe des Allgemeinen Kranken‐ hauses der Stadt Wien mit den hohen Sterblichkeitsraten auf der Wöchne‐ rinnenstation konfrontiert war. Zur damaligen Zeit betrug die Sterblichkeit auf Entbindungsstationen, in denen Ärzte und Medizinstudenten tätig waren, zwischen 5 % und 30 % und lag somit um ein Vielfaches höher als in den Entbindungskliniken, an denen nur Hebammen ausgebildet wurden. Durch eine kleine Verletzung seines befreundeten Kollegen Jakob Kol‐ letschka im Rahmen einer Leichensektion, die wenige Tage später zu des‐ sen qualvollem Tod führte, erkannte Semmelweis einen Zusammenhang zwischen dem in seiner Klinik weit verbreiteten Kindbettfieber und der Sektion von Leichen. Die Medizinstudierenden, die nachmittags Wöchne‐ rinnen untersuchten, sezierten zuvor am Vormittag zu Ausbildungszwecken Leichen. Semmelweis vermutete, dass ein „Leichengift“ für die Auslösung des Kindbettfiebers verantwortlich war und ordnete umgehend das Aufstellen von Waschtischen mit Chlorkalklösung an, an denen sich Studierende vor der Untersuchung der Patientinnen dieses Leichengift von den Händen abwaschen sollten. Seine Entdeckung führte dort, wo sie konsequent umgesetzt wurde, zu einer deutlichen Reduktion der Wöchnerinnen-Sterblichkeit. So konnte Semmelweis auf seiner eigenen Station die Sterblichkeitsrate von 12,3 % auf 1,3 % senken. Von vielen Kollegen seiner Zeit wurde seine Entdeckung jedoch als Zeitverschwendung und unvereinbar mit bisherigen Krankheits‐ theorien abgetan. Semmelweis, der in offenen Briefen seine Widersacher als „Apostel der Kadaversepsis“ bezeichnete, erlebte selbst den Siegeszug seiner Entdeckung nicht mehr und starb verbittert und unter mysteriösen Umständen im Jahre 1865 bei Wien. Erst in der folgenden Generation, in Kenntnis der Tatsache, dass Bakterien und nicht Leichengift als Krank‐ 1.2 Meilensteine in der Geschichte-der-Medizin 23 <?page no="24"?> heitserreger millionenfach auf Händen existieren und übertragen werden können, etablierte sich seine Methode. Dies wurde nicht zuletzt aufgrund der Arbeit des Chirurgen Joseph Lister möglich, der im Folgenden noch erwähnt werden wird. Während die Erkenntnisse der Notwendigkeit von Händehygiene heut‐ zutage weltweit unbestritten sind, zeigen die Infektionsstatistiken, dass der Umsetzungsgrad empfohlener Maßnahmen noch nicht ausreichend ist. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) rief im Jahr 2005 die Kampagne „Clean Care is Safer Care“ ins Leben, in der sich weltweit 162 Staaten verpflichtet haben, auf nationaler Ebene eine Kampagne zur Verbesserung der Compliance der Händedesinfektion durchzuführen. In Deutschland läuft diese Kampagne unter dem Titel Aktion Saubere Hände seit dem 1. Januar 2008. 1.2.2 Impfungen Infektionskrankheiten haben die Menschheit seit Beginn der Sesshaftigkeit immer wieder massiv beeinträchtigt. Eine Infektionskrankheit, seit dem Al‐ tertum bekannt und ab dem 15. Jahrhundert weltweit verbreitet, war jedoch besonders gefürchtet: die Pocken. In der damaligen Zeit wurden wie bei vielen Erkrankungen Verunreinigungen in der Luft, sogenannte Miasmen, für die Verbreitung der Krankheit verantwortlich gemacht. Heute wissen wir, dass die Erkrankung über Viren von Mensch zu Mensch durch Tröpf‐ cheninfektion, also Niesen oder Husten verbreitet wurde. Die Erkrankung endete in etwa 30 % aller Fälle tödlich und sorgte bei den Überlebenden durch entstellende Narben und weitere mögliche Komplikationen wie Erblindung, Hörverlust, Lähmungen und Hirnschäden zu massiven Beeinträchtigungen. Im 18. Jahrhundert starb etwa jedes zehnte Kind vor seinem zehnten Lebensjahr an Pocken, für etwa 400.000 Menschen endete die Erkrankung jedes Jahr tödlich. Zahlreiche Versuche wurden daher unternommen, um Menschen vor diesem Schicksal zu bewahren. So wurden in Indien, China und in der Türkei Gesunde im Rahmen der Variolation mit dem Eitersekret leicht erkrankter Menschen bewusst infiziert, um einer schweren Erkran‐ kung vorzubeugen. Diese Methode schütze allerdings nicht zuverlässig vor einer ernsthaften Erkrankung und hatte sogar das Potenzial, eine Epidemie auszulösen. Ab dem Jahr 1770 wurden Patienten mit Kuhpockensekret infiziert, im Glauben, damit einen schlimmeren Ausbruch der Pocken zu verhindern. Im Jahr 1796 unternahm der Landarzt Edward Jenner in 24 1 Einführung in die-Systematik-der-Medizin <?page no="25"?> seiner Praxis einen Versuch, der dem Kampf gegen die Erkrankung eine entscheidende Wendung geben sollte. Nachdem er der Landbevölkerung glaubte, die ihm versicherte, sie könne nach der Erkrankung an Kuhpocken, eine beim Melken der Kühe häufig übertragene Krankheit, nicht mehr an den echten Pocken erkranken, bestellte er die an Kuhpocken der Kuh Blossom erkrankte Melkerin Sarah Nelmes und den Sohn seines Gärtners James Phipps in seine Praxis ein. Er infizierte Phipps mit dem Sekret aus einer Kuhpockenpustel von Nelmes. Phipps zeigte kurze Zeit später milde Symptome der Erkrankung, die folgenlos ausheilten. Danach infizierte Jenner den Jungen mit dem Sekret eines todkranken an Pocken erkrankten Menschen. James Phipps erkrankte jedoch nicht, woraus Jenner schloss, dass die Immunisierung mit Kuhpocken einen wirksamen Schutz vor der Erkrankung bot. Jenner nannte die Methode aufgrund des aus der Kuh (lat. vacca) gewonnenen Impfstoffes Vaccination, ein Begriff, der sich im Englischen für alle Impfungen als Fachbegriff in der Medizin bis heute etabliert hat. Impfstoffe tragen daher auch die Bezeichnung Vakzine. Ähn‐ lich wie Semmelweis wurden Jenners Ergebnisse in der Fachwelt zunächst verleugnet, seine Methode setzte sich aber wesentlich schneller durch als die Händedesinfektion. Der ursprünglich aus Kuhpocken gewonnene Impfstoff wurde später aus abgeschwächten menschlichen Viren hergestellt, da dieser noch effektiver war. Einzelne Staaten führten sukzessive eine Impfpflicht gegen Pocken ein. Da die Erkrankung trotz Jenners Entdeckung im 20. Jahrhundert noch immer nicht ausgerottet war, startete die WHO die größte Kampagne gegen Infektionskrankheiten in ihrer Geschichte und konnte nach weltweit abgestimmten Impfaktionen und einigen Rückschlä‐ gen, zuletzt im ehemaligen Jugoslawien, am 8. Mai 1980 die Ausrottung der Erkrankung verkünden. 1.2 Meilensteine in der Geschichte-der-Medizin 25 <?page no="26"?> Erkrankung Erkrankungen pro Jahr vor Impfprogramm Erkrankungen 2006 Rückgang in % Diphterie 175.885 0 100 Masern 503.282 55 99,9 Mumps 152.209 - 95,7 Pertussis (Keuchhusten) 147.271 15.632 89,4 Polio (Kinderlähmung) 16.316 0 100 Röteln 47.745 11 99,9 Röteln‐ embryopathie 823 1 99,9 Tetanus 1.314 41 99,9 Haemophilus Influenza Typ B und unbekannte (*) ca. 20.000 208 99,9 insgesamt 1.064.854 22.532 97,9 Impfneben‐ wirkungen - 15.484 - Tabelle 1: Rückgang der Erkrankungszahlen nach Einführung von Impfprogrammen in den USA | Quelle: CDC, The Pink Book: Course Textbook - 13. Auflage (2015), Kapitel 3, Seite 47, (*)Zahlen für HIB vor Einführung der Impfprogramme geschätzt, da keine systematische Datenerhebung vor Einführung eines Impfprogrammes erfolgte Das auf Jenner zurückgehende Prinzip der Impfung wurde auch für andere Erkrankungen angewandt, gegen die es außer einer Impfung keine ursächliche Behandlungsmöglichkeit gibt. So konnten die Erkrankungszahlen, und damit verbunden auch die Sterblichkeit und Komplikationen, für zahlreiche Erkrankun‐ gen wie in→Tabelle 1 gezeigt, deutlich reduziert werden. Allerdings sind weitere Ziele der Weltgesundheitsorganisation wie die Ausrottung der Masern nicht zuletzt am Widerstand zahlreicher Impfgegner bislang gescheitert. Dies verwun‐ dert angesichts der Erkenntnis, dass im Jahr 2012 nach Angaben der WHO noch immer 122.000 Menschen an Masern starben. Die Zahl der Erkrankungen konnte durch konsequente Impfaktionen binnen 10 Jahren um 75 % gesenkt 26 1 Einführung in die-Systematik-der-Medizin <?page no="27"?> werden. Ohne Impfmöglichkeit müsste von ca. 13,8 Millionen Todesfällen pro Jahr ausgegangen werden. Dies kann mit dem Erfolg der Impfungen an sich erklärt werden. Durch das starke Zurückdrängen der Erkrankungen geht das Problembewusstsein in der Bevölkerung verloren, sodass die Notwendigkeit weiterer Impfungen in Frage gestellt wird, da diese Erkrankungen ohnehin nicht vorkämen. Dass dies vielfach nur aufgrund flächendeckender Impfungen erreicht werden kann, bleibt dabei außer Acht. Diese Problematik wird auch als Präventionsparadox bezeichnet. 1.2.3 Anästhesie und aseptisches Arbeiten Während bis vor wenigen Jahrhunderten die Medizin nahezu vollständig auf chirurgische Eingriffe verzichtete und der Hippokratische Eid sogar einen Verzicht auf die Durchführung bestimmter Operationen enthält, ist die moderne Medizin ohne operativ-chirurgische Interventionen überhaupt nicht denkbar. Nach Schätzungen der WHO werden jährlich ca. 250 Millio‐ nen Operationen durchgeführt, die im Wesentlichen zwei Entwicklungen zu verdanken sind, der Möglichkeit, Patienten in Anästhesie schmerzfrei operieren zu können, und dem Arbeiten unter sterilen Bedingungen zur Vermeidung von Wundinfektionen. Das Geburtsdatum der modernen Anästhesie ist der 16. Oktober 1846, der sogenannte Ether Day. Der Zahnarzt William Thomas Green Morton führte in einem Operationssaal in Boston, der heute Ether-Dome heißt, eine Äthernar‐ kose an einem Patienten durch, dessen Geschwulst am Hals vom Chirurgen John Collins Warren entfernt wurde. Basierend auf diesem Erfolg wurden weitere Innovationen und neue Narkosemittel entwickelt, das medizinische Fachgebiet der Anästhesie etablierte sich jedoch erst Mitte des 20.-Jahrhunderts. Viele, der auf diese Weise ermöglichten Operationen, endeten für Patienten jedoch kurze Zeit nach dem Eingriff tödlich. In Operationssälen drängten sich unter ungünstigen klimatischen Bedingungen viele Studierende, Operationsbest‐ ecke wurden teils ohne Säuberung mehrfach benutzt und die von Semmelweis propagierte Händedesinfektion fand zunächst keine Anwendung. Der britische Chirurg Joseph Lister experimentierte in Kenntnis der Schriften von Louis Pasteur über Bakterien als Ursache von Fäulnisprozessen mit der Substanz Phenol (damals Karbolsäure genannt). Zunächst tränkte er Verbände mit Phenol, um die auf Wunden befindlichen Bakterien zu eliminieren, später ließ er bei Operationen das Operationsgebiet mit einem Nebel aus Phenol einsprühen, um so aseptische Bedingungen herzustellen. Mit der Entwicklung von Gummi‐ 1.2 Meilensteine in der Geschichte-der-Medizin 27 <?page no="28"?> handschuhen für das OP-Personal und der systematischen Desinfektion von OP-Instrumenten in Verbindung mit der von Semmelweis entdeckten Bedeutung der Händehygiene sanken die Sterblichkeitsraten aufgrund der vermiedenen postoperativen Infektionen deutlich ab. 1.2.4 Entdeckung des Penicillins Die Vermeidung von Infektionskrankheiten durch Impfungen und postope‐ rativen Infektionen durch aseptisches Arbeiten rettete Millionen Menschen das Leben. Kam es jedoch zu einer Infektion, waren die Ärzte oft machtlos gegen die Bakterien. Zahlreiche Arzneien erwiesen sich als wenig effektiv oder hatten gravierende Nebenwirkungen. Die Entwicklung einer wirksa‐ men und weitgehend verträglichen Therapie gegen Bakterien verdankt die Menschheit einem glücklichen Zufall. Der schottische Bakteriologie Alexander Flemming experimentierte 1928 an einer Bakterienkultur, die er vor seinem Sommerurlaub angelegt hatte. Nach seiner Rückkehr am 28. September 1928 musste er feststellen, dass die Bakterienkultur von einem Schimmelpilz namens Penicillium notatum überwuchert worden war. An den Orten des Pilzwachstums wurde durch eine vom Schimmelpilz produzierte Substanz das Wachstum der Bakterien komplett unterbunden. Fleming nannte die Substanz Penicillin und publizierte seine Ergebnisse 1929. Aller‐ dings wurde Penicillin nach dieser Entdeckung noch nicht als Medikament eingesetzt. Im Jahr 1938 nahmen die Forscher Howard W. Florey, Ernst B. Chain und Norman Heatley die Arbeiten von Flemming auf und testeten die therapeutische Wirkung zunächst an Mäusen und dann am Menschen. Mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und dem immensen Bedarf an Penicillin für die alliierten Soldaten entwickelte sich die Produktion von Penicillin in den USA rasant. Penicillin als erster Vertreter der Arzneimittelgruppe der Antibiotika markierte in der Therapie bakterieller Wundinfektionen einen deutlichen Wendepunkt. Für die Entdeckung und Anwendung des Penicillins erhielten Sir Alexander Flemming, Howard W. Florey und Ernst B. Chain im Jahr 1945 den Nobelpreis für Medizin. Die Auswirkung dieser Entdeckung kann am besten anhand eines histo‐ rischen Vergleichs dargelegt werden. Im Rahmen der Pestepidemie in den Jahren 1347 bis 1353 starben in Europa etwa 25 Millionen Menschen, also ein Drittel der damals dort lebenden Bevölkerung an der Pest, die durch das Bakterium Yersinia Pestis ausgelöst wird. Die auch heute bei vereinzelt auf‐ tretenden Pesterkrankungen angewandte Standardbehandlung besteht in 28 1 Einführung in die-Systematik-der-Medizin <?page no="29"?> der Gabe der Antibiotika, die ausgehend von der Entdeckung des Penicillins entwickelt wurden. ➤ Lesetipps-∣-Literatur und Websites Aktion Saubere Hände. Im Internet unter: 🔗 http: / / www.aktion-sauberehaende.de/ ash/ ash/ Clean Care is Safer Care. Im Internet unter: 🔗 https: / / www.who.int/ campaigns/ world-hand-hygiene-day Semmelweis, I. (1861): Die Aetiologie, der Begriff und die Prophy‐ laxis des Kindbettfiebers, Pest. Wien und Leipzig. Im Internet unter: 🔗 http: / / www.deutschestextarchiv.de/ book/ show/ semmelweis_kindbettfi eber_1861 Centers for Disease Control and Prevention; Hamborsky, Jennifer, Kroger, Andrew, Wolfe, Charles (Skip) (2015): Epidemiology and Prevention of Vaccine-Preventable Diseases. Washington D.C. Im Internet unter: 🔗 http: / / www.cdc.gov/ vaccines/ pubs/ pinkbook/ index.html 1.3 Der Ablauf des medizinischen Behandlungsprozesses Die medizinische Behandlung lässt sich unabhängig von der Art der Erkran‐ kung allgemein in verschiedene in → Abbildung 1 dargestellte Phasen einteilen, die in den meisten Fällen zeitlich nacheinander ablaufen. Symptom(e) Anamnese Diagnostik Diagnose Therapie Prognose Abbildung 1: Die Komponenten des medizinischen Behandlungsprozesses 1.3 Der Ablauf des medizinischen Behandlungsprozesses 29 <?page no="30"?> 1.3.1 Anamnese Zu Beginn einer medizinischen Behandlung stellt sich ein Patient mit gewissen Beschwerden (Symptomen) den versorgenden Personen vor oder die Inan‐ spruchnahme erfolgt beim beschwerdefreien Patienten im Rahmen einer Vor‐ sorgemaßnahme bzw. aufgrund eines Beratungs- oder Behandlungswunsches. Im ersten Schritt erfolgt durch die Behandelnden eine Erhebung der bisherigen Krankheitsgeschichte, die abgeleitet vom griechischen Wort anamnesis (Erinnerung) als Anamnese bezeichnet wird. Ziel ist hierbei, durch strukturierte Befragung und Auswertung vorhandener Informationen einen Eindruck über den Patienten und seine mutmaßliche Erkrankung zu erhalten, um auf Basis dieser Informationen eine Verdachtsdiagnose zu stellen und das weitere Vorgehen festzulegen. Hierbei kann die Erhebung der Krankheitsgeschichte als Eigenanam‐ nese durch Befragung des Patienten oder auch je nach Alter und Gesund‐ heitszustand der Patienten als Fremdanamnese durch Befragung Dritter (Ehepartner, Eltern bei Kindern, gesetzliche Betreuer bei nicht kontaktfähi‐ gen Patienten, ärztliche Kollegen) geschehen. Da verschiedene Aspekte für das weitere Vorgehen wichtig sind, wird die Anamnese nochmals unterteilt in: • somatische Anamnese • psychische Anamnese • Sozialanamnese • Familienanamnese In der somatischen (körperlichen) Anamnese wird der aktuelle Zustand hinsichtlich körperlicher Beschwerden (z. B. Schmerzen, Bewegungsein‐ schränkungen) erfragt. Demgegenüber zielt die psychische Anamnese auf den seelischen Zustand des Patienten ab, der durch die körperlichen Beschwerden aber auch durch psychische Erkrankungen beeinträchtigt sein kann. Ebenso kann möglicherweise eine psychosomatische Erkrankung erkannt werden, also durch psychische Beeinträchtigung ausgelöste kör‐ perliche Beschwerden. Die Sozialanamnese erfragt das persönliche und berufliche Umfeld des Patienten, da bestimmte soziale Faktoren oder auch Berufe Hinweise auf mögliche Erkrankungen geben (z. B. die Farmerlunge bei Landwirten). Ebenso können Erkenntnisse über die sozialen Strukturen, in denen sich der Patient bewegt, Hinweise auf den mutmaßlichen Erfolg einer Erkrankung geben. Die Familienanamnese erfragt das familiäre 30 1 Einführung in die-Systematik-der-Medizin <?page no="31"?> Auftreten von Erkrankungen, die bei bestimmten Erkrankungen einen Hinweis auf eine genetische Veranlagung (Disposition) der Patienten geben können, selbst an dieser Krankheit zu leiden oder später daran zu erkranken. Neben den hier genannten Anamnesearten wird vereinzelt noch die Medikamentenanamnese als separater Bestandteil aufgeführt, also das Erfragen nach der Einnahme bestimmter Medikamente inkl. ihrer Art, Dosis, Verabreichungsform und Dauer der Einnahme. Anstelle der separaten Betrachtung dieser Anamneseform wird jedoch auch vielfach argumentiert, dass die Nachfrage nach eingenommenen Medikamenten sowohl Teil der somatischen als auch der psychischen Anamnese sein sollte. In jedem Fall ist das Erfragen der aktuellen und ggf. zurückliegenden Medikamentenein‐ nahme integraler Bestandteil der Anamnese. 1.3.2 Diagnostik Auf Basis der in der Anamnese gewonnenen Informationen stellen die Be‐ handelnden zunächst aufgrund eines Verdachts die sogenannte Verdachts‐ diagnose. Um diese zu bestätigen oder auszuschließen, werden nun im Rahmen der Diagnostik Untersuchungsverfahren angewandt. Je nach Ver‐ dachtsdiagnose kommen folgende Formen der Diagnostik zur Anwendung: • körperliche Untersuchung • bildgebende Verfahren • Messen elektrischer Felder des Körpers • Analyse von Zellen oder Gewebeteilen des Körpers • Analyse von Blut oder anderen Körperflüssigkeiten Wird für die Diagnostik oder die im Folgenden beschriebenen Behandlungs‐ schritte ein (fach-)ärztlicher Rat aus einer anderen Fachdisziplin eingeholt, so wird dies als Konsil (lat. consilium Ratschlag) bezeichnet. Der beratende Arzt wird als Konsiliararzt bezeichnet, die Empfehlung zu Diagnostik, Prognose oder Therapie als Konsiliarbericht bzw. ebenfalls als Konsil. - 1.3.2.1 Körperliche Untersuchung Die körperliche Untersuchung ist in den meisten Fällen die erste diagnostische Maßnahme im Anschluss an die Anamnese. Je nach Krankheitsbild werden verschiedene Prüfungen durchgeführt. Hierbeiist eine systematische Vorgehens‐ weise wie z.-B. das in →-Tabelle 2 dargestellte IPPAF-Schema weit verbreitet. 1.3 Der Ablauf des medizinischen Behandlungsprozesses 31 <?page no="32"?> Untersuchungs‐ technik Wort‐ bedeutung praktisches Vorgehen Inspektion inspicere (lat.) anschauen Betrachtung des Patienten inkl. sei‐ nes Geruchs (z. B. nach krankheitstypi‐ schen Haut- oder Staturveränderungen sowie krankheitstypischen Körperge‐ rüchen) Palpation palpare (lat.) tasten, fühlen Abtasten bestimmter Körperregionen zur Identifikation von Schwellungen oder Überwärmungen, z. B. als Zeichen von Entzündungsprozessen Perkussion percussio (lat.) Erschütterung Abklopfen bestimmter Körperregionen (z.-B. Brustkorb oder Wirbelsäule) zur Identifikation krankhafter Veränderun‐ gen Auskultation auscultare (lat.) abhorchen Abhören von Körperregionen (z.-B. Herz, Lunge, Bauchraum) i. d. R. mittels Stethoskops zur Identifikation krank‐ hafter Veränderungen Funktions‐ untersuchungen - Beurteilung von Organsystemen durch Überprüfung bestimmter Körperfunk‐ tionen, wie z.-B. Blutdruckmessung, Nervenreflexmessungen etc. Tabelle 2: Das IPPAF-Schema zur körperlichen Untersuchung - 1.3.2.2 Bildgebende Verfahren Durch Anwendung verschiedener Techniken können in bildgebenden Ver‐ fahren Teile des menschlichen Körpers oder der gesamte menschliche Kör‐ per dargestellt werden. Dies kann beispielsweise durch Ultraschallwellen im Rahmen der sogenannten Sonographie, durch radioaktive Strahlung in Form von Röntgenbildern, Computertomographien (CT) und Szintigraphien oder durch die Erzeugung starker Magnetfelder bei der Magnetresonanzto‐ mographie (MRT) erfolgen. Je nach verwendeter Untersuchungsmethode und klinischer Fragestellung aufgrund einer Verdachtsdiagnose können einzelne Strukturen wie Knochen, Weichteile, Hirnmasse, Herzkranzgefäße oder Muskelgewebe gezielt dargestellt werden. 32 1 Einführung in die-Systematik-der-Medizin <?page no="33"?> 1.3.2.3 Messen elektrischer Felder des Körpers Im menschlichen Körper werden zahlreiche Informationen über Nerven‐ bahnen mittels kleinster elektrischer Ströme weitergegeben. Die Messung dieser Ströme wiederum erlaubt Rückschlüsse auf die Funktionsfähigkeit der Informationsweiterleitung und möglicher krankhafter Veränderungen, sofern diese Weiterleitung gestört ist. Der wohl bekannteste Vertreter dieser Untersuchungstechnik ist das Elektrokardiogramm (EKG), in dem die Ströme der Reizweiterleitung am Herzen gemessen und beurteilt werden. Weitere auf diesem Prinzip beruhende gängige Untersuchungstechniken sind das Elektroencephalogramm (EEG) zur Beurteilung der Hirnstro‐ maktivitäten und das Elektromyogramm (EMG) zur Beurteilung der elektrischen Reizweiterleitung in den jeweils beobachteten Muskeln. - 1.3.2.4 Analyse von Zellen oder Gewebeteilen des-Körpers Die Analyse von Zellen oder Gewebeteilen ist bei zahlreichen Erkran‐ kungen, insbesondere bei Krebserkrankungen, das Mittel der Wahl zur Bestätigung einer Diagnose. Hierzu können Zellen auf unterschiedliche Weise gewonnen werden. Während ein Abstrich an Schleimhäuten einen relativ wenig invasiven Test darstellt, werden im Rahmen von sogenannten Biopsien Gewebeproben aus dem umliegenden Gewebe herausgeschnitten oder gestanzt. Je nach Krankheitsbild kann sogar eine Operation denkbar sein, die ausschließlich dazu dient, tief im Körperinneren liegendes Gewebe zu gewinnen, um dieses im Nachgang zu untersuchen. Zur Untersuchung müssen Gewebe und Zellen je nach Fragestellung häufig aufbereitet werden, z. B. durch eine bestimmte Färbung des Gewebes oder eine chemische Aufbereitung. Die eigentliche Diagnose kann durch Analyse per Mikroskop oder durch laborchemische Methoden bis hin zur Analyse des Erbgutes (DNA) erfolgen. Bei Gewebeproben im Rahmen einer Operation, in der ein Patient in Narkose versetzt wurde, und das weitere Vorgehen, also eine mögliche Ausweitung der Operation, die vom Ergebnis des mikro‐ skopischen Befundes einer Gewebeprobe abhängt, haben sich sogenannte Schnellschnitte bewährt. Hierbei stellt ein Pathologe unverzüglich nach Gewebeentnahme innerhalb von ca. 30 Minuten eine Diagnose, während der Patient diese Zeit narkotisiert im Operationssaal verbringt, um bei not‐ wendiger Erweiterung der Behandlung eine zusätzliche Operation und eine damit verbundene zusätzliche Narkose zu vermeiden. Andere diagnostische 1.3 Der Ablauf des medizinischen Behandlungsprozesses 33 <?page no="34"?> Gewebeuntersuchungen benötigen je nach Aufwand ggf. mehreren Wochen, bevor ein Untersuchungsergebnis vorliegt. - 1.3.2.5 Analyse von Blut oder anderen Körperflüssigkeiten Die Analyse von Körperflüssigkeiten, insbesondere von Blut, zählt zu den häufigsten Untersuchungsmethoden überhaupt. Während die Entnahme von Blut in der Regel aus größeren peripheren Venen oder kleinsten Blutgefäßen (Kapillaren), seltener aus Schlagadern (Arterien) erfolgt, kann auch die Untersuchung einer Vielzahl anderer Körperflüssigkeiten wie Urin, Hirnwasser (Liquor), Speichel, Auswurf (Sputum), Gallensekret, Schweiß, Sperma oder Fruchtwasser je nach Verdachtsdiagnose angebracht sein. Wie auch bei der Gewinnung von Gewebeproben kann die Gewinnung von Körperflüssigkeiten, wie beispielsweise Liquor, durchaus mit gravierenden Risiken verbunden sein. Sie bedarf daher einer sorgfältig gestellten Ver‐ dachtsdiagnose, die diesen Eingriff in den Körper des Patienten rechtfertigt. 1.3.3 Diagnose Das Wort Diagnose leitet sich aus dem griechischen Wort diagnosis ab und bedeutet Unterscheidung. Es bezeichnet die zusammenfassende Bewertung vorliegender Erkenntnisse aus der Anamnese unter Zuhilfenahme der Dia‐ gnostik zur Benennung der Erkrankung und damit verbundenen Festlegung der weiteren Behandlung. Hierbei stellen verschiedene Arten von Diagnosen feststehende Begriffe dar, die klinische Relevanz haben und unterschieden werden müssen: Neben der bereits erläuterten Verdachtsdiagnose ist der Begriff der Differentialdiagnose von Bedeutung. Hierunter sind alle nach derzeitigem Erkenntnisstand ebenfalls in Betracht zu ziehenden Diagnosen zu verstehen. So kann ein plötzlich eintretender Brustschmerz zwar einen akuten Herzin‐ farkt ankündigen, aber auch ein Bandscheibenvorfall oder eine Lungenem‐ bolie können solche Symptome verursachen. Differentialdiagnosen müssen also bis zu ihrem Ausschluss oder der Bestätigung der Verdachtsdiagnose im Bewusstsein der Behandelnden verbleiben. Führt eine Verdachtsdiagnose zu weiteren konkreten diagnostischen Maßnahmen, wird auch von einer Arbeitsdiagnose, analog dem Begriff der Arbeitshypothese, gesprochen. Es gibt Erkrankungen, die nicht direkt beweisbar sind, aber durch Ausschluss 34 1 Einführung in die-Systematik-der-Medizin <?page no="35"?> aller in Frage kommenden Differentialdiagnosen identifiziert werden kön‐ nen. In diesem Fall wird eine Ausschlussdiagnose gestellt. Demgegenüber gibt es eine Reihe von negativ behafteten Begriffen. Er‐ weist sich eine Diagnose im Nachhinein als falsch, wird von einer Fehldia‐ gnose gesprochen. Dies muss nicht zwingend zum Nachteil des Patienten sein, kann aber insbesondere bei zeitkritischen schweren Krankheitsbildern gravierende Folgen nach sich ziehen und Gegenstand juristischer Auseinan‐ dersetzungen werden, insbesondere, wenn bei Diagnosestellung mangelnde Erfahrung oder Sorgfalt eine Rolle gespielt haben. Zwar ist streng genom‐ men jede nicht bestätigte Verdachtsdiagnose eine Fehldiagnose, der Begriff wird aber meist nur in Verbindung mit den eben genannten Defiziten verwandt. Ebenfalls unschmeichelhaft, aber seltener mit Konsequenzen verbunden, ist die Verlegenheitsdiagnose. Sie wird gestellt, um der (mut‐ maßlichen) Erkrankung einen Namen zu geben, obgleich die Behandelnden nicht sicher sind, ob eine (und wenn ja, welche) Erkrankung vorliegt. Davon abzugrenzen ist die Gefälligkeitsdiagnose, die zwar auch eine Form der Fehldiagnose darstellt, aber bewusst fehlerhaft gestellt wird. So entsteht in mancher Situation der Eindruck, dass weniger eine eigentliche Erkrankung, sondern die Bitte um eine ungerechtfertigte Krankschreibung oder Bescheinigung der Prüfungsunfähigkeit Ursache des Arztbesuches war. Sofern dieser Bitte nachgegeben wird, handelt es sich um eine Gefälligkeits‐ diagnose. Im Laufe der Zeit finden sich immer wieder Häufungen bestimmter Dia‐ gnosen, die möglicherweise Ausdruck eines gewissen Trends in der Medizin sind, so wie in jeder Zeit bestimmte Kleidungsstile dominieren. Diagnosen dieser Art werden auch als Modediagnosen bezeichnet, wobei durch Nen‐ nung dieses Begriffes die Korrektheit der Diagnose immer auch in Zweifel gezogen wird. So gibt es derzeit eine Fachdiskussion, ob die Diagnose des Aufmerksamkeits-Defizits-Hyperaktivitäts-Syndroms (ADHS) nicht häufi‐ ger gestellt wird als sinnvoll. So nahm dem Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO) gemäß der Anteil der 3 bis 17-jährigen AOK-Versicherten mit ADHS-Diagnose von 2,5 % (2006) auf 4,6 % (2012) zu. Laut Barmer GEK Arztreport stellten jedoch in 85 % der Fälle Haus- und Kinderärzte die Diagnose ohne Einbezug eines von der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) gefor‐ derten Spezialisten. 1.3 Der Ablauf des medizinischen Behandlungsprozesses 35 <?page no="36"?> 1.3.4 Prognose Die gestellte Diagnose ist Ausgangspunkt für jede einzuleitende Behand‐ lung, die dem Grundsatz „primum nil nocere“ gemäß nur angewandt werden soll, wenn zu erwartender Nutzen und das damit einhergehende Risiko in einem akzeptablen Verhältnis zueinander stehen. Somit ist vor Beginn einer Therapie im Einzelfall unter Berücksichtigung aller relevanten Informatio‐ nen zu prüfen, ob die angedachte Therapie hinsichtlich des Therapieziels erfolgversprechend ist. Der Erfolg einer Therapie kann im Vorfeld nicht garantiert werden, jedoch kann anhand der Vorerfahrung der Behandelnden und/ oder erhobe‐ ner Statistiken vergangener vergleichbarer Behandlungen eine Prognose abgegeben werden. Das Wort Prognose leitet sich vom griechischen Be‐ griff prognosis ab und bedeutet Vorhersage und unterscheidet sich in der Bedeutung nicht von Prognosen in anderen Lebensbereichen. Eine Pro‐ gnose im Rahmen der Patientenbehandlung ist somit eine Einschätzung des Krankheitsverlaufs bezüglich der Heilungschancen, des Wiederauftretens der Erkrankung, was als Rezidiv bezeichnet wird, bzw. der künftig zu erwartenden Lebensqualität. Eine hohe Chance auf Heilung der Erkrankung oder eine geringfügige Beeinträchtigung der Lebensqualität des Patienten wird allgemein als gute Prognose, das Gegenteil dessen als schlechte Prognose bezeichnet. Ist die Prognose nach Ansicht der Ärzte so schlecht, dass das Überleben des Patienten unwahrscheinlich ist, sprechen die Behandelnden auch von einer infausten Prognose, abgeleitet vom lateinischen Wort infaustus (ungüns‐ tig). Die Abgabe von Prognosen ist aus zwei Gründen problematisch: Einer‐ seits liegen für viele Erkrankungen relative Häufigkeiten für Krankheits‐ verläufe oder Heilungsraten vor, ob der Patient als Individuum zu dem Anteil der heilbaren oder nicht heilbaren Patienten gehört, lässt sich aus einer Heilungsrate, die auf einer Statistik aus vielen Behandlungsverläu‐ fen resultiert, nicht vorhersagen. Andererseits können neben der Haupt‐ erkrankung viele Faktoren die Prognose einer Erkrankung positiv oder negativ beeinflussen. Hierzu zählen beispielsweise das Stadium, in dem die Erkrankung entdeckt wurde, das Alter oder Geschlecht der betroffenen Person, weitere vorhandene Begleiterkrankungen, das soziale Umfeld und die Kooperationsbereitschaft des Patienten zur Durchführung der Therapie, die auch mit den Begriffen Compliance bzw. Adherence bezeichnet wird. 36 1 Einführung in die-Systematik-der-Medizin <?page no="37"?> Die Prognose einer Erkrankung wird nicht nur nach Stellen der Diagnose zur Festlegung der angemessenen Therapie erhoben, sondern im Verlauf der Behandlung an die jeweilige Gesundheitssituation des Patienten angepasst. So kann sich bei unerwartet positivem Krankheitsverlauf die Prognose verbessern, bei negativem Krankheitsverlauf die Prognose aber auch ver‐ schlechtern, was wiederum im Einzelfall Konsequenzen für Art und Umfang der weiteren Behandlung haben kann. 1.3.5 Therapie Die Behandlung von Erkrankungen oder Verletzungen wird in der Medizin als Therapie bezeichnet, abgeleitet vom griechischen Wort therapeia, was mit dem Begriff Pflege der Kranken zu übersetzen ist. Ziele einer Therapie sind, je nach Krankheitsbild und Stadium der Erkrankung, die Ermöglichung oder Beschleunigung der Heilung, die Beseitigung oder Linderung von Symptomen der Erkrankung bzw. die Wiederherstellung körperlicher und/ oder psychischer Funktionen. Nach Stellen der Diagnose und Abschätzung der Prognose des Patienten wird die für den individuellen Fall passende, in der Fachsprache als indizierte (angezeigte) Therapie bezeichnet, ausgewählt und angewandt. Ist eine Therapie aufgrund fehlender Wirksamkeit oder eines ungünstigen Neben‐ wirkungsprofils nicht angemessen, wird sie als kontraindiziert bezeichnet. Ebenso gebräuchlich ist die Bezeichnung, bei einer angemessenen Hand‐ lungsoption die Indikation zu einer bestimmten Therapie zu stellen. Liegt jedoch ein Hindernis für eine Therapie vor, beispielsweise eine Schwan‐ gerschaft, die eine Verabreichung bestimmter Medikamente aufgrund der Nebenwirkungen auf den Embryo verbietet, stellt diese Situation, hier die Schwangerschaft, eine Kontraindikation (Gegenanzeige) dar. Obgleich der Begriff bei therapeutischen Interventionen, insbesondere bei Medika‐ mentengabe, gebräuchlich ist, können auch diagnostische Maßnahmen indiziert oder kontraindiziert sein. Hinsichtlich verschiedener Therapien werden häufig folgende Unter‐ scheidungen getroffen: Zielt eine Therapie auf die Krankheitsursache ab (z. B. die Gabe von Antibiotika zum Abtöten von Bakterien, die eine Infektion auslösen) wird von einer kausalen Therapie gesprochen. Werden hingegen nur Symptome bekämpft (z. B. Fiebersenkung und Schmerzlinderung als einzig verfügbare Option bei vielen Viruserkrankungen), wird die Therapie als symptomatisch bezeichnet. Therapien, die auf die Heilung des Patienten 1.3 Der Ablauf des medizinischen Behandlungsprozesses 37 <?page no="38"?> von der Erkrankung abzielen, werden als kurativ bezeichnet. Ist hingegen eine Heilung nicht möglich, kommen palliative Therapien zum Einsatz (siehe hierzu auch das →-Kapitel 2.6). Während es Interventionen gibt, die ohne Zeitverzug im Rahmen einer Notfallversorgung durchgeführt werden müssen, wie beispielsweise die Herz-Lungen-Wiederbelebung bei Herz-Kreislaufstillstand, werden Thera‐ pien außerdem in dringliche, also zeitkritische Therapien und elektive, also planbare, nicht dringliche Therapien unterschieden. Diese Einteilung spielt insbesondere bei der Zuteilung knapper Ressourcen wie z. B. Facharzt- oder Operationstermine eine wichtige Rolle. Wird das gewünschte Therapieziel erreicht, verläuft die Therapie erfolgreich, wird das gewünschte Ziel nicht erreicht, insbesondere das Leben des Patienten nicht gerettet, bezeichnen die Behandelnden die Therapie als frustran. Neben der Therapie der eigentlichen Erkrankung kommen je nach Krank‐ heitsbild unterstützende Maßnahmen, sogenannte supportive Therapien, zum Einsatz. So geht die bei Krebserkrankungen eingesetzte Chemotherapie häufig mit den Nebenwirkungen Übelkeit und Erbrechen einher. Die Gabe von Medikamenten zur Bekämpfung der Übelkeit hat dann zwar keinen Einfluss auf das Krebswachstum, ermöglicht aber indirekt erst den Einsatz wirksamer Chemotherapeutika. Obgleich eine gesicherte Diagnose vor Beginn der Therapie den Idealfall darstellt, erfolgt aus verschiedenen Gründen vor Sicherung der Diagnose bereits eine Intervention. Dies kann indiziert sein, wenn die Sicherung der Diagnose in keinem Verhältnis zum betriebenen Aufwand steht. So wird bei etlichen Erkrankungen aufgrund ihrer kurzen Krankheitsdauer oder des milden Verlaufs auf eine umfangreiche Diagnostik bewusst verzichtet, da mit hoher Wahrscheinlichkeit ein bekanntes Vorgehen erfolgversprechend ist. Ebenso gibt es Erkrankungen wie die Blutvergiftung (Sepsis), bei der ein diagnostisches Ergebnis nicht abgewartet werden kann, sondern auf Verdacht mit der Behandlung begonnen werden muss. In beiden Fällen, in denen sich die Therapie nicht auf eine gesicherte Diagnose stützt, wird von einer kalkulierten Therapie gesprochen. 38 1 Einführung in die-Systematik-der-Medizin <?page no="39"?> ➤ Lesetipps-∣-Literatur Grobe, T. G.; Bitzer, E. M.; Schwartz, F. W. (2013): Epidemiologie und Gesundheitssystemforschung. BARMER GEK Arztreport 2013. Schwerpunkt ADHS. Hannover. Im Internet unter: 🔗 https: / / www.barmer.de/ presse/ infothek/ studien-und-reporte/ arztrepor te/ arztreport-2013-1065534 ➤ Webtipp-∣-Untersuchungstechniken Darstellung verschiedener Untersuchungstechniken per Video finden Sie auf der Internetseite Doccheck Flexikon unter: 🔗 http: / / flexikon.doccheck.com/ de/ K%C3%B6rperliche_Untersuchung 1.4 Medizinische Fachsprache/ Terminologie Die Medizin hat wie jedes Fachgebiet eine eigene Fachsprache. Diese ist stark vom Einfluss der antiken Medizin geprägt. Neben dem sicher bekannten umfangreichen lateinischen Fachvokabular finden sich zahlreiche grie‐ chische Ausdrücke wieder, die in den vorangegangenen Kapiteln bereits beispielhaft erwähnt worden sind. In diesem Kapitel sollen die wichtigsten Grundzüge und Grundbegriffe der medizinischen Fachsprache erläutert werden. Ein Lehrbuch zur Einführung in die medizinische Fachsprache kann diese Darstellung jedoch nicht ersetzen. Da die Beherrschung der medizini‐ schen Fachsprache ein, wenn nicht das wesentliche Kriterium ist, an dem Angehörige der Heilberufe die fachliche Kompetenz von Nicht-Medizinern festmachen, ist eine sichere Beherrschung der Fachsprache im jeweiligen Tätigkeitsgebiet unabdingbar und sollte ab Beginn der Ausbildung eingeübt werden, so wie im Medizinstudium der Kurs Medizinische Terminologie zum absoluten Pflichtprogramm im ersten Semester des Studiums gehört. 1.4.1 Terminologie vs. Nomenklatur Die Lehre einer Fachsprache wird als Terminologie bezeichnet, gelegentlich wird die Fachsprache selbst mit diesem Begriff belegt. Diese Terminologie unterliegt einerseits bestimmten Regeln, die im Folgenden erläutert werden, 1.4 Medizinische Fachsprache/ Terminologie 39 <?page no="40"?> andererseits auch einem steten Wandel und regionalen Unterschieden. Ebenso fließen Eigennamen (Eponyme) in die Terminologie ein, mehrere Begriffe für einen Sachverhalt (Synonyme) sind ebenfalls möglich. Demgegenüber stellt eine Nomenklatur, wie die Nomina Anatomica zur Bezeichnung anatomischer Strukturen wie Knochen, Muskeln, Nerven, Blutgefäßen etc., ein international einheitliches, strengen Regeln unterwor‐ fenes Benennungs- und Ordnungssystem dar, frei von Eponymen und stets eindeutig in der Begriffswahl. kranial (kopfwärts) kaudal (steißwärts) sinister (links) dexter (rechts) proximal distal medial lateral (seitwärts) lateral (seitwärts) Sagittalebene Frontalebene Transversalebene dorsal (rückenwärts) ventral (bauchwärts) anterior (vorn) posterior (hinten) Abbildung 2: Vereinfachte Darstellung der wichtigsten anatomischen Richtungs- und Lagebeziehungen Anatomie, abgeleitet vom altgriechischen Wort „anatemnein“ (trennen, zerschneiden) bezeichnet hierbei die Lehre vom Aufbau des Körpers sowie der Kunst des Zergliederns. 40 1 Einführung in die-Systematik-der-Medizin <?page no="41"?> Ein Beispiel für anatomische Grundbegriffe sind die anatomischen Rich‐ tungs- und Lagebezeichnungen, die in Kombination mit anatomischen Strukturen verwendet werden können wie in →-Abbildung 2 dargestellt. 1.4.2 Zusammengesetzte Fachbegriffe Eine Vielzahl medizinischer Fachbegriffe wird aus bestimmten Wortbes‐ tandteilen (Morphemen) zusammengesetzt. Die Kenntnis der Regeln dieser Zusammensetzung und eine überschaubare Anzahl an Wortbestandteilen ermöglichen die Übersetzung eines Großteils medizinischer Fachtermini. Daher sollen die wichtigsten Regeln zur Zusammensetzung medizinischer Fachbegriffe im Folgenden dargestellt werden. - 1.4.2.1 Wortbestandteile zusammengesetzter Fachbegriffe Zusammengesetzte Fachbegriffe bestehen aus mindestens zwei der folgen‐ den Bestandteile: • Vorsilbe (Präfix) • Wortstamm, ggf. mit Bindevokal • Nachsilbe (Suffix) Der Wortstamm ist der Kern des Wortes und gibt die Hauptbedeutung des Wortes, z. B. die Zuordnung zu einem Organ- oder Organsystem, vor. Zur erleichterten Aussprache wird an den Wortstamm häufig ein Bindevokal angehängt, in der Regel ein „o“. Ein Wortstamm mit Bindevokal wird auch als Bindeform bezeichnet. ➤ Beispiele Wortstamm Bindevokal Bindeform Bedeutung Arthro Arthro- Gelenk Hepato Hepato- Leber Kardio Kardio- Herz Das Suffix wird ans Ende des Wortstammes bzw. der Bindeform angefügt. Es spezifiziert die Bedeutung des Wortes und legt die Wortart (z. B. Substan‐ tiv) fest. 1.4 Medizinische Fachsprache/ Terminologie 41 <?page no="42"?> ➤ Beispiele Suffix Bedeutung -al etwas betreffend -ie krankhafter Zustand -itis Entzündung von etwas -logie Lehre von etwas (und dessen Erkrankungen) Das Präfix wird vor dem Wortstamm platziert und schränkt die Bedeutung des Wortes ebenso ein wie das Suffix. Häufig finden sich im Präfix Angaben zu Lage, Richtung, Ort, Menge oder Zeit. ➤ Beispiele Präfix Bedeutung Polyviele Epioberhalb Tachy- (zu) schnell - 1.4.2.2 Beispiele für die Zusammensetzung der Wortbestandteile Eine sehr häufige Zusammensetzung medizinischer Fachbegriffe findet sich in der Kombination von einer Bindeform mit einem Suffix. ➤ Beispiele Bindeform - Suffix Bedeutung Hepat- - -itis Leberentzündung Kardio- - -logie Lehre des Herzens 42 1 Einführung in die-Systematik-der-Medizin <?page no="43"?> An diesen Beispielen wird eine grammatikalische Regel deutlich: Regel-│ Beginnt ein Suffix mit einem Vokal, entfällt der Bindevokal. Ebenso ist die Kombination mehrerer Wortstämme bzw. Bindeformen mit einem Suffix möglich. ➤ Beispiele Bindeform 1 Bindeform 2 Suffix Gastroenteritis Magen- Darm- Entzündung Regel │ Anders als bei einem Suffix wird zwischen zwei Bindefor‐ men nicht auf den Bindevokal verzichtet, selbst wenn der zweite Wortstamm mit einem Vokal beginnt. Die Anwendung eines Präfixes trifft in der Regel in Kombination mit einem Suffix und einem Wortstamm auf. ➤ Beispiele Präfix Bindeform Suffix Bedeutung Polyarthritis Entzündung vieler Gelenke Epikardial oberhalb des Herzens Tachykardie zu schneller Herzschlag Bei der Verbindung von Präfix und Wortstamm kann es zur Erleichterung der Aussprache noch zu folgenden Modifikationen kommen: zur Anglei‐ chung (Assimilation) des letzten Buchstabens des Präfixes mit dem ersten Buchstaben des Wortstammes, zur Streichung des letzten Buchstabens des Präfixes (Elision) oder zum Hinzufügen von Konsonanten, insbesondere, wenn sonst gleichlautende Vokale aufeinandertreffen würden. Wie am 1.4 Medizinische Fachsprache/ Terminologie 43 <?page no="44"?> Beispiel der Tachykard(i)ie gezeigt, kann eine Elision auch zwischen Wort‐ stamm und Suffix erfolgen. ➤ Beispiele - statt Syn-metrie Symmetrie Assimilation statt A-archie Anarchie Konsonanteneinfügung - 1.4.2.3 Strategie zum Erlernen zusammengesetzter Fachbegriffe Anstelle des Auswendiglernens tausender zusammengesetzter medizini‐ scher Fachbegriffe, kann in Kenntnis der Regeln zur Zusammensetzung sowie der Kenntnis einer überschaubaren Anzahl an Präfixen, Wortstämmen und Suffixen die Mehrheit medizinischer Fachbegriffe sinnhaft erfasst wer‐ den. Hierzu wird der unbekannte Fachbegriff sinnvollerweise zunächst in seine Wortfragmente unterteilt, diese werden übersetzt und die übersetzten Wortbestandteile in eine logische Abfolge gebracht. ➤ Beispiel-∣-zusammengesetzte Fachbegriffe verstehen Duodenopankreatektomie • Duodeno|pankreat|ektomie Duodeno- = Zwölffingerdarm pancreat(o)- = Bauchspeicheldrüse ektomie = operative Entfernung von etwas • operative Entfernung des Zwölffingerdarms und der Bauchspeichel‐ drüse Hinweis: Eine umfassende Liste relevanter Präfixe, Wortstämme und Suffixe findet sich beispielsweise im Lehrbuch „Fachsprache Medizin im Schnell‐ kurs“ von Axel Karenberg (siehe weiterführende Literatur am → Ende des Kapitels). 44 1 Einführung in die-Systematik-der-Medizin <?page no="45"?> 1.4.3 Weitere Arten medizinischer Fachbegriffe Neben zusammengesetzten Fachbegriffen griechischen und lateinischen Ur‐ sprungs finden sich weitere Arten von Fachausdrücken in der medizinischen Fachsprache. So können medizinische Fachausdrücke aus anderen Sprachen übernommen werden wie beispielsweise Bypass (engl.) oder Influenza (ital.). Ebenso finden sich folgende Kategorien von Fachbegriffen in der medizini‐ schen Terminologie wieder: • Eigennamen (Eponyme) • Kurzwörter (Akronyme) • Mehrfachbenennungen (Synonyme) • Gegensatzwörter (Antonyme) - 1.4.3.1 Eponyme Wie auch in anderen Branchen üblich, wurden und werden in der Medizin zahlreiche Fachbegriffe zu Ehren des Erstbeschreibenden bzw. Entdeckers oder anderer berühmter Persönlichkeiten mit einem Eigennamen versehen. So wurde die bereits beschriebene Technik des Chirurgen Joseph Lister zur Desinfektion des OP-Gebietes beispielsweise als listern bekannt. Theodor Escherich entdeckte das nach ihm benannte Bakterium Escherichia (E.) coli und die von Alois Alzheimer entdeckte Erkrankung (Morbus) des Gehirns trägt ebenfalls bis heute den Namen des Entdeckers. Das Ebolafieber erhielt seinen Namen nach dem Fluss im Kongo, an dem die Erkrankung im Jahr 1976 das erste Mal beobachtet wurde. Auf diese Art und Weise existieren mehr als 1.000 Eigennamen in der medizinischen Fachsprache. Problematisch wird dies insbesondere bei Eigennamen, die in verschiedenen Sprachräumen nicht einheitlich gebraucht werden. ➤ Beispiele - deutscher Sprachraum angloamerikanischer Sprachraum Basedow-Krankheit Grave’s disease Röntgenstrahlen X-rays 1.4 Medizinische Fachsprache/ Terminologie 45 <?page no="46"?> 1.4.3.2 Akronyme Zur Benennung komplexer Sachverhalte oder langer Namen mit Wortket‐ ten, die in ursprünglicher Form umständlich auszusprechen sind, wurden Kunstworte erschaffen, die meist aus den Anfangsbuchstaben der einzel‐ nen Worte gebildet werden. Statt bei einem Vortrag um den „Light Amplifi‐ cation by the Stimulated Emmision of Radiation“-Pointer zu bitten, möchten wir lieber den LASER-Pointer benutzen. Anders als bei im heutigen Sprach‐ gebrauch üblichen Hang zu buchstabierten Abkürzungen wie mfg, DSDS oder ABS werden Akronyme als neues Wort ausgesprochen. Hierbei finden sich unter den Akronymen bevorzugt angloamerikanische Begriffe und Institutionen wieder. Das wahrscheinlich bekannteste Akronym im Bereich der Medizin ist AIDS, das für Aquired Immune Deficiency Syndrome steht, was mit erworbenem Immunschwäche-Syndrom übersetzt werden kann. ➤ Beispiele Akronym Bedeutung DIMDI Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information IGeL Individuelle Gesundheitsleistungen IQWiG Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen KISS Krankenhaus-Infektions-Surveillance-System OSCE Objective Structured Clinical Examination QALY Quality Adjusted Life Year SARS Severe Acute Respiratory Syndrome STEMI ST-Elevation Myocardial Infarction Auch bei der Verwendung von Akronymen ist die uneinheitliche Verwen‐ dung unter Umständen problematisch. So ist das Akronym AIDS in Frank‐ reich beispielsweise weitgehend unbekannt, da die Übersetzung des oben genannten Begriffs im Französischen SIDA (Syndrome Immuno-Déficitaire Acquis) lautet. 46 1 Einführung in die-Systematik-der-Medizin <?page no="47"?> 1.4.3.3 Synonyme In der Entwicklung jeder Sprache gibt es zu einem Sachverhalt oft mehrere sinn- oder bedeutungsverwandte Begriffe. So existieren auch in der Medi‐ zin für die Beschreibung eines Sachverhaltes oft mehrere konkurrierende Bezeichnungen. ➤ Beispiele-∣-Synonyme regional bzw. umgangssprachlich Die durch das Varizella-Zoster-Virus ausgelöste Erkrankung wird je nach geographischer Region als Feuchtblattern, Schafblattern, Spitzpo‐ cken, Varizellen, Wasserpocken oder Windpocken bezeichnet. Nicht nur umgangssprachlich, sondern auch in der Fachsprache existieren derartige Synonyme, die eine Klassifikation medizinischer Erkrankungen durch eindeutige Nomenklaturen erschweren. ➤ Beispiele-∣-Synonyme in der Fachsprache • Mukoviszidose oder zystische Fibrose • Multiple Sklerose (MS) oder Encephalomyelitis disseminata (ED) • Lepra oder Morbus Hansen • Pfeiffer-Drüsenfieber oder Mononucleosis infectiosa oder Lympho‐ idzellangina (es gäbe noch fünf weitere Synonyme) - 1.4.3.4 Antonyme Als Antonyme werden Gegensatzwörter bezeichnet wie beispielsweise rechts und links. Sie haben im → Kapitel 1.3.5 bereits solche Gegensätze in den Wortpaaren kurativ und palliativ bzw. indiziert und kontraindiziert kennen gelernt. 1.4 Medizinische Fachsprache/ Terminologie 47 <?page no="48"?> ➤ Beispiele-∣-wichtige Antonyme kennen • akut vs. chronisch • Arterie (vom Herzen wegführendes Blutgefäß) vs. Vene (zum Herzen hinführendes Blutgefäß) • benigne (gutartig) vs. maligne (bösartig) • suffizient (ausreichend) vs. insuffizient (nicht ausreichend) • superior (oberhalb von etwas) vs. inferior (unterhalb von etwas) 1.4.4 Fallstricke bei medizinischen Fachbegriffen - 1.4.4.1 Verwendung umgangssprachlicher Begriffe mit-anderem-Kontext Die medizinische Fachsprache bedient sich einiger umgangssprachlicher Begriffe, die im medizinischen Kontext jedoch eine andere Bedeutung erhalten. So denken wir beim Wort Herd in der Umgangssprache zunächst an eine Kochstelle, der Mediziner benutzt diesen Ausdruck jedoch als Bezeichnung für die Quelle einer Infektion oder anderweitigen Störung. Das Substantiv Medium hat umgangssprachlich eine spirituelle Bedeutung, in der Medizin wird damit ein Nährboden zur Anzüchtung von Bakterienkul‐ turen bezeichnet. - 1.4.4.2 Verwendung von Abkürzungen Neben Akronymen kommen in unserer Sprache viele Abkürzungen zur Anwendung. Dies dient im Idealfall zur Verkürzung des Textes ohne gleich‐ zeitigen Informationsverlust. Da die Anzahl verfügbarer Abkürzungen bei Verwendung von drei bis vier Buchstaben begrenzt ist, kann es in der Medizin auch zu Verwechslungen aufgrund von Abkürzungen kommen. ➤ Beispiel-∣-Risiko Abkürzungen Ein prägnantes Beispiel ist die Abkürzung HWI, die • von Kardiologen als (Herz-)Hinterwandinfarkt, • von Urologen als Harnwegsinfektion, 48 1 Einführung in die-Systematik-der-Medizin <?page no="49"?> • von Orthopäden als Halswirbelimmobilisation oder sogar • von Venerologen (Fachärzten für Geschlechtskrankheiten) für häu‐ fig wechselnde Intimpartner verwendet wird Es liegt auf der Hand, dass den jeweiligen Erkrankungsbildern oder Maß‐ nahmen grundlegend unterschiedlich begegnet werden sollte und eine Verwechslung für den Patienten fatale Folgen haben kann. Der Begriff EBM kann zum einen für die in → Kapitel 2.3 dargestellte Evidence-based Medicine, zum anderen aber auch für den Einheitlichen Bewertungsmaßstab zur Abrechnung vertragsärztlicher Leistungen ste‐ hen. Beckers Lexikon für medizinische Abkürzungen listet unter AAP sogar insgesamt 26 verschiedene Begrifflichkeiten auf. Sogar Verwechslungen bei Antonymen sind denkbar: Während die Bezeichnung UL-Resektion im deutschsprachigen Raum die operative Entfernung des Unterlappens der Lunge beschreibt, steht der Begriff resection of UL im englischsprachigen Bereich für die Entfernung des upper lobe, also des Oberlappens! - 1.4.4.3 Aussprache medizinischer Fachbegriffe Die sichere Verwendung der medizinischen Fachsprache erstreckt sich nicht nur auf das geschriebene Wort in der Korrespondenz mit medizinischem Personal, sondern insbesondere auch auf das gesprochene Wort. So kann durch falsche Aussprache eines Wortes die eigene Kompetenz in Frage gestellt werden. ➤ Beispiel ∣-Fachbegriffe richtig aussprechen und verwenden Ein junger, dynamischer Unternehmensberater trat eines Tages vor eine Runde von Klinikdirektoren eines großen Krankenhauses und begann damit, den ärztlichen Kollegen zu berichten, dass er die Struktur der Kli‐ 1.4 Medizinische Fachsprache/ Terminologie 49 <?page no="50"?> niken binnen weniger Tage verstanden hätte und diese nun optimieren wollte. Ihm fiel jedoch auf, dass in der Patientendokumentation immer wieder ein Wort auftauche, nämlich cave. Er sprach das Wort mehrmals auf Englisch aus, da er es offenbar für den englischen Begriff für Höhle hielt, bis ihn einer der ärztlichen Kollegen, nicht ohne süffisanten Unterton, darauf hinwies, dass es sich hier nicht um eine Höhle, sondern um den lateinisch ausgesprochenen Begriff cave handelt, was so viel wie „Achtung/ Vorsicht“ heißt. Über die Kompetenz dieses Beraters fällten die ärztlichen Klinikdirektoren im Nachgang ein einstimmiges Urteil. Um sich derartige Peinlichkeiten zu ersparen, helfen zwei Grundregeln: 1. Gute Vorbereitung Klären Sie im Vorfeld eines Gesprächs oder Vortrages, in dem Sie bestimmte medizinische Fachbegriffe verwenden wollen, im Zweifel bei jedem Begriff die korrekte Aussprache. Neben medizinischem Fachper‐ sonal können auch Fernsehbeiträge oder Videoclips von medizinischen Experten im Internet eine wichtige Unterstützung bieten. 2. Unnötige Fehler vermeiden Es gibt medizinische Fachbegriffe, die eine falsche Aussprache durch ihre Länge oder Ähnlichkeit aufeinanderfolgender Silben nahezu pro‐ vozieren. So kann auf einer Präsentationsfolie zwar der Fachbegriff Epididymitis auftauchen, es spricht aber im wahrsten Sinne des Wortes nichts gegen die Verwendung des (etwas) leichter auszusprechenden Begriffs der Nebenhodenentzündung. - 1.4.4.4 Ärztelatein - (k)eine Geheimsprache Die Verwendung lateinischer Sprache war über viele Jahrhunderte nur gebildeten Personen vorbehalten, diente als Abgrenzung in Religion und Medizin und sicherte so den Verbleib des Herrschaftswissens in bestimm‐ ten Kreisen. Noch heute ist die Verwendung der medizinischen Fachsprache den meisten Patienten nicht geläufig und wird daher im Alltag der Mediziner mehr oder weniger subtil, teilweise mit guten Absichten, teilweise bösartig eingesetzt. 50 1 Einführung in die-Systematik-der-Medizin <?page no="51"?> Gründe für die Verwendung des sogenannten Ärztelateins können sein: 1. bei unklarer Diagnose, um den Patienten nicht zu beunruhigen 2. Austausch medizinischer Fachinformationen, die vor anwesenden Nicht-Medizinern im Raum verborgen bleiben sollen 3. Austausch nicht-dienstlicher Informationen, die von anwesenden Nicht-Medizinern nicht als solche erkannt werden sollen 4. Einschätzung der persönlichen Situation, Intelligenz oder Compliance des Patienten Neben überwiegend anerkennenswerten oder zumindest tolerablen Absich‐ ten bei Gebrauch des Ärztelateins gibt es aus dem Erfahrungsschatz des Autors aber auch einige weniger rühmliche Beispiele. ➤ Beispiele-∣-Ärztelatein verstehen zu [1]: Visite im Patientenzimmer „Die Neoplasie ist unklarer Dignität und wird diagnostisch abgeklärt, alles Weitere extra muros“ anstelle von „Bei der Wucherung (Neoplasie) des Patienten könnte es sich um Krebs handeln (unklare Dignität), das wissen wir noch nicht und machen deswegen die üblichen Tests, alles Weitere besprechen wir wohl besser vor der Tür (extra muros).“ zu [2]: Visite im Vierbettzimmer „Die C2-Symptomatik steht im Vordergrund“ anstelle von „Der über‐ mäßige Alkoholgenuss (C2 steht verkürzt für die chemische Formel C 2 H 5 OH für Ethanol) des Patienten ist sein eigentliches Problem.“ zu [3]: Auf dem Flur der Station vor wartenden Angehörigen: „Herr Kollege, das gastroenterologische Konsil wartet dringend auf Ihr Erscheinen! “ anstelle von „Komm mit, wir wollen uns unterhalten (Konsil) beim gemeinsamen Mittagessen (gastroenterologisches).“ zu [4]: • Häufige Diagnose am Neujahrstag in chirurgischen Ambulanzen: Zustand nach „PAM“ anstatt der ausgeschriebenen Version Zustand nach „paar aufs Maul“. • Die Angabe, der Patient leide an Morbus Bahlsen hat nicht etwa mit übermäßigem Konsum bestimmter Backwaren zu tun, sondern 1.4 Medizinische Fachsprache/ Terminologie 51 <?page no="52"?> heißt schlicht und ergreifend, dass der Patient abgrundtief dumm sei. • Das Kürzel c.p. im Bereich der Physiotherapie bedeutet caput piger (fauler Kopf) und kennzeichnet Patienten, die sich nicht ausreichend um Genesung bemühen, bei Zahnärzten wird gelegentlich das Kürzel OS (Oralsau) verwendet, dass mangelnde Zahnhygiene des Patienten ausdrücken soll. • Die Beschreibung eines „anspruchsvollen“ Patienten mit der Ne‐ bendiagnose „Flatus transversus“ hört sich für Außenstehende ver‐ meintlich unverdächtig an, die Übersetzung „quersitzender Furz“ dagegen beschreibt recht plastisch die möglicherweise strapazierte Arzt-Patienten-Beziehung. Während die Umschreibung einer klinischen Situation bis zur vollständigen Klärung möglicherweise im Interesse des Patienten sein kann - auch hierzu das → Kapitel 4.2 Eigenverantwortung und Selbstbestimmung - haben persönliche Urteile bis hin zu Beleidigungen sicherlich nichts in der auf absolutem Vertrauen basierenden Kommunikation der Behandelnden über den Patienten in Gegenwart Dritter oder gar in der Patientendokumentation zu suchen. Hinzu kommt, dass die Möglichkeiten der Dechiffrierung des Ärzte‐ lateins enorm zugenommen haben. So ist ein Großteil aller stationären Patienten binnen Minuten nach der Visite in der Lage, die verklausulierten Botschaften über Suchmaschinen zu entziffern. Ebenso gibt es Dienste, wie die von Medizinstudierenden getragene Initiative 🔗 www.washabich.de, die Patienten kostenlos eine Übersetzung medizinischer Befunde in leicht verständliche Sprache anbietet. Der als Argument angeführte Datenschutz bei Verwendung des Ärztelateins gemäß Punkt 2 der oben genannten Aufzählung ist somit nicht mehr sichergestellt. Da das Verständnis über die eigene Erkrankung, die durchgeführten Maßnahmen und die Prognose der Erkrankung die Mitarbeit (Compliance) des Patienten erheblich verbessern kann, und von Patienten berechtigterweise auch zunehmend eingefordert wird, sollte die Anwendung des Ärztelateins in Gegenwart von Patienten und Dritten auf das notwendige Mindestmaß beschränkt werden und grund‐ sätzlich stets wertschätzend erfolgen. 52 1 Einführung in die-Systematik-der-Medizin <?page no="53"?> ➤ Lese- und Webtipps-∣-Literatur und Websites Karenberg, A. (2021): Fachsprache Medizin im Schnellkurs. Für Studium und Berufspraxis. Stuttgart. Deschka, M. (2012): Lernkarten Grundwortschatz Medizin. 324 Karteikarten zum Einstieg in die medizinische Fachsprache. Melsungen. Beckers, H. (2015): Abkürzungslexikon medizinischer Begriffe. Einschl. Randgebiete. Köln. Internetpräsenz der „Was hab’ ich? “ gGmbH. Kostenlose Übersetzung medizinischer Befunde durch Medizinstudierende: 🔗 http: / / www.washabich.de 1.5 Medizin als ärztliche Heilkunst Obgleich als Basis der Medizin Naturwissenschaften wie Biologie, Bioche‐ mie oder der Physiologie angesehen werden, ergänzt von Psychologie und Sozialwissenschaften, ist Medizin aufgrund mangelnder Theoriebildung we‐ der Naturnoch Geisteswissenschaft im eigentlichen Sinn. Die angewandte Medizin wird als (ärztliche) Heilkunst betrachtet, eine ordnungsgemäße Behandlung somit als den Gesetzen der Heilkunst (lege artis) folgend an‐ gesehen. Dies kann dadurch begründet werden, dass neben biochemischen Prozessen im menschlichen Körper auch die behandelnden Personen einen wesentlichen Einfluss auf den Patienten haben und sich viele Prozeduren einer wissenschaftlich Überprüfung entzogen haben und sich teilweise aufgrund offensichtlicher Wirksamkeit einer systematischen Überprüfung entziehen. Ebenso war die Medizin bis vor wenigen Jahrzehnten auf vielen Fach‐ gebieten geprägt vom Mangel effektiver kausaler Therapien, wie beispiels‐ weise in → Kapitel 1.2.4. dargelegt. Umso wichtiger waren positive Effekte der sog. Sprechenden Medizin, die durch die zwischenmenschliche Inter‐ aktion zwischen Patient und Arzt erzeugt werden konnten. So können durch emotionale Zuwendung und Beistand Krankheitsverläufe teilweise positiv beeinflusst werden. 1.5 Medizin als ärztliche Heilkunst 53 <?page no="54"?> ➤ Beispiel-∣-den Schmerz wegpusten Ein vermeintlich harmloses aber sehr eingängiges Beispiel für die hier beschriebenen Effekte haben die meisten Leser (hoffentlich) in Ihrer Kindheit erfahren. Kindern, die stürzen und sich dabei wehgetan ha‐ ben, beispielsweise durch Zuziehen einer oberflächlichen Schürfwunde, werden am effektivsten durch emotionale Zuwendung getröstet. Häu‐ fig wird in diesem Zusammenhang durch eine ritualisierte Handlung geholfen, beispielsweise durch „Wegpusten“ des Schmerzes. Um hier in den Worten des Arztes Eckart von Hirschhausen zu sprechen, gibt es mutmaßlich keine biochemischen Reaktionen an der Wundflä‐ che, die eine sofortige „emotionale Genesung“ des Kindes erklären könnten, dem Kind das „Wegpusten“ des Schmerzes zu verweigern wäre aber trotzdem eine unterlassene Hilfeleistung. In diesem Zusammenhang haben ritualisierte Handlungen und Insignien nicht nur bei Naturvölkern oder in der kindlichen Entwicklung, sondern auch in der modernen Medizin einen festen Bestandteil und können gezielt zum Wohle des Patienten eingesetzt werden. Wichtige Insignien der modernen Medizin sind neben dem weißen Arzt‐ kittel auch ein am Körper getragenes Stethoskop und sicherlich auch ein Doktortitel, obgleich dieser nur etwas über die wissenschaftliche, nicht aber zwingend die ärztliche Kompetenz des Titelträgers aussagen sollte. Einer der prominentesten Fürsprecher der sprechenden Medizin, der ungarische Psychoanalytiker und Biochemiker Mihály Maurice Bergsmann, besser bekannt unter seinem späteren Namen Michael Balint, postulierte, dass das am allerhäufigsten verwendete Heilmittel der Arzt selbst sei. So kann für bestimmte Gesundheitsprobleme durch ein überzeugendes Auftreten des Arztes bei Gabe eines Scheinmedikamentes (placebo (lat.) = Ich werde gefallen) ein nicht durch pharmakologische Wirkung erzielter Effekt, der sog. Placebo-Effekt, beobachtet werden. Jedoch hat diese Interaktion ebenso wie jede andere Form der Therapie auch Risiken und Nebenwir‐ kungen. So kann als Gegensatz zum positiv wirkenden Placebo-Effekt eine unpassende Interaktion zwischen Patient und Arzt auch zu einem negativen Ergebnis führen, dem sog. Nocebo-Effekt (nocebo (lat.) = ich werde schaden). 54 1 Einführung in die-Systematik-der-Medizin <?page no="55"?> ➤ Beispiel-∣-Chefarztvisite Eine ritualisierte Handlung in der Medizin stellt beispielsweise eine Visite im Patientenzimmer dar. Ob dieses Ritual dem Patienten nützt, indem die Anwesenden auf den Patienten empathisch eingehen, vor‐ handene Fragen verständlich beantworten und den Gesundheitszustand durch Linderung der Ängste und Sorgen verbessern, hängt von Ihrer Heilkunst ab. Ebenso könnte eine Chefarztvisite als Massenandrang weiß bekittelter Personen stattfinden, die sich vor dem Patienten auf‐ bauen und sich über diesen statt mit ihm in bestem Ärztelatein kurz austauschen. Nach kurzer Zeit ohne wirkliche Interaktion mit dem Patienten zieht die Karawane dann weiter zum „nächsten Fall“ und lässt den Patienten unbeteiligt, uninformiert und verunsichert zurück. Während die wissenschaftsbasierte Medizin, wie in → Kapitel 2.3. dargestellt werden wird, enorme Fortschritte in der Behandlung von Patienten erzielt hat, trat die Sprechende Medizin als integraler Bestandteil der ärztlichen Heilkunst in den letzten Jahren zu Unrecht immer mehr in den Hintergrund, was in den →Kapiteln 4.5 und→4.6 nochmals aufgegriffen wird. So wird in der Ausbildung der Medizinstudierenden viel Wert auf naturwissenschaftliche Zusammenhänge und medizinische Fakten gelegt. Dagegen sind, die systematische Ausbildung zur Entwicklung bzw. Beibehaltung einer empathischen Grundhaltung und spe‐ zieller kommunikativer Fähigkeiten, beispielsweise zur Überbringung schlech‐ ter Nachrichten, nur an einzelnen medizinischen Hochschulen etabliert. Die Vermittlung von Humor in der Medizin ist trotz der sogar sprichwörtlichen Erkenntnis, dass Lachen gesund sei, ebenso an den meisten Ausbildungsstätten (noch) nicht etabliert. ➤ Lesetipps-∣-Literatur Balint, Michael (2010): Der Arzt, sein Patient und die Krankheit. Stuttgart. Berndt, Christina (2003): Medizin ist Show. Süddeutsche Zeitung vom 05.08.2003. Im Internet unter: 🔗 http: / / www.sueddeutsche.de/ wissen/ 2.220/ aerzte-heilmittel-und-ritual e-medizin-ist-show-1.912199 1.5 Medizin als ärztliche Heilkunst 55 <?page no="57"?> 2 Methoden und Ansätze der Medizin Die Lernfragen zu diesem Kapitel finden Sie unter: 🔗 https: / / narr.kwaest.io/ s/ 1110 2.1 Arzneimitteltherapie Die Behandlung von Patienten mit bestimmten Substanzen (Arzneien) bzw. Medikamenten (medicamentum (lat.) = Heilmittel) zur Behandlung von Beschwerden hat eine lange Tradition. So ist der Einsatz natürlich vorkom‐ mender aktiver Substanzen in Rezepturen bereits seit 3000 v. Chr. belegt. Neben den teilweise auch heute noch als sog. Phytotherapeutika (Arznei‐ mittel auf pflanzlicher Basis) gebräuchlichen Substanzen wurden zahlreiche chemisch synthetisierte Wirkstoffe erfunden und finden nach Testung unter Laborbedingungen am Menschen in nahezu allen medizinischen Fachge‐ bieten praktischen Einsatz. Neben den beschriebenen Bezeichnungen für Arzneimittel findet sich auch der aus dem Griechischen stammende Begriff des Pharmakons (pharmakon (griech.) = Gift, Droge, Arznei), der neben dem Hinweis auf potenziell gewünschte Effekte durch die Übersetzung auch auf potenzielle Risiken und Nebenwirkungen hindeutet. „Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift; allein die Dosis machts, daß ein Ding kein Gift sei.“ Paracelsus (Philippus Aureolus Theophrastus Bombastus von Hohenheim), Schweizer Arzt, Alchemist, Mystiker und Philosoph (1493-1541) Heute nehmen Arzneimittel neben den in Kapitel 2.2. beschriebenen opera‐ tiv-interventionellen Maßnahmen in der Therapie einen sehr bedeutenden Stellenwert ein. So lagen beispielsweise die Gesamtausgaben der GKV-Ver‐ sicherten für Arzneimittel laut Bundesvereinigung Deutscher Apotheker‐ verbände e. V. (ABDA) im Jahr 2021 bei 14,5% der Gesamtausgaben und damit bei ca. 41,2 Mrd. Euro. Das Wissen über die Wirkung eines Pharmakons ist für den Erfolg der me‐ dikamentösen Behandlung eines Patienten von entscheidender Bedeutung. <?page no="58"?> Diesem Wissen widmet sich die Lehre von der Wirkung der Arzneimittel, die Pharmakologie. Hierbei wird unterschieden zwischen den Teilgebieten der Pharmakodynamik und der Pharmakokinetik. Die Pharmakodynamik beschreibt die Wirkung eines Pharmakons auf den Organismus, während die Pharmakokinetik die Wirkung des Organismus auf das Pharmakon, also beispielsweise dessen Abbau innerhalb des Körpers sowie die Ausscheidung des Arzneimittels aus dem Körper beschreibt. Jeder pharmakologische Eingriff ist dabei stets einer sorgfältigen Indika‐ tionsstellung nach individueller Nutzen-Risiko-Abwägung zu unterziehen. Insbesondere im Rahmen der Zulassung neu entwickelter Wirkstoffe und Rezepturen ist aufgrund der bisherigen Erfahrungen eine umfangreiche und schrittweise Testung der Substanz auf potenzielle Schädigungen unerläss‐ lich. ➤ Beispiel-∣-Thalidomid - gut verträglich? Im Jahr 1957 kam ein Schlafmittel namens Contergan auf den Markt, das als „erstes bromfreies Schlaf- und Beruhigungsmedikament ohne größere Nebenwirkungen“ vermarktet wurde. Es stellte sich jedoch heraus, dass die Kinder von Schwangeren, die das Mittel während der Schwangerschaft einnahmen, mit erheblichen Missbildungen zu Welt kamen. Da dieser Zusammenhang erst 1961 zur Rücknahme des Präparates vom Markt führte, wird die Zahl betroffener Kinder weltweit auf ca. 10.000 geschätzt, von denen ein Großteil aufgrund der überwiegenden Vermarktung in der Bundesrepublik Deutschland geboren wurden. Heute leben noch etwa 2.800 Menschen mit diesen schweren Missbildungen in Deutschland. Aufgrund dieses Contergan-Skandals und anderer gravierender Ereig‐ nisse wurden die Arzneimittelzulassung international strengen Regularien unterworfen und wird in den USA von der Food and Drug Administration (FDA) und in Europa von der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) streng überwacht. Im Rahmen der Klinischen Prüfung durchläuft ein Arz‐ neimittel nach biochemischer Grundlagenforschung und Tierversuchen die in →-Tabelle 3 dargestellten Stadien der Arzneimittelprüfung. 58 2 Methoden und Ansätze der Medizin <?page no="59"?> Phase Fragestellungen Probanden Stichprobe (~) Studienform I „first in human“ Toxizität? Phar‐ makokinetik? Höhe der akzepta‐ blen Einzeldosen? in der Regel freiwillige Gesunde klein (10-15) Interventionsstudie ohne Kontrolle II Dosis-Effekt-Be‐ ziehung? proof of concept (IIa) dose finding study (IIb) ausgewählte erkrankte Patienten mittel (50-100) Interventionsstudie ohne Kontrolle III signifikanter Wir‐ knachweis (pivo‐ tal study)? vor Marktzulas‐ sung (IIIa) bzw. nach Marktzulas‐ sung (IIIb) Patienten mit definier‐ ten Ein- und Aus‐ schluss-kri‐ terien groß (200-10.000) Interventionsstudie randomisierte kon‐ trollierte Studie IV Wirksam‐ keit/ Nutzen unter Routinebedingun‐ gen? seltene Nebenwir‐ kungen? repräsenta‐ tives Patien‐ tenkollektiv sehr groß (bis 10 6 ) Kohortenstudie Be‐ obachtung im Sinne der Versorgungsfor‐ schung Tabelle 3: Phasen der klinischen Prüfung eines Arzneimittels Arzneimittel sind im deutschsprachigen Raum bis auf wenige Ausnahmen apothekenpflichtig, können also nur von approbierten Apothekern im Rah‐ men eines Beratungsgespräches verkauft werden (Selbstbedienungsverbot). Je nach Indikation und Nebenwirkungsprofil wird zwischen rezeptfreien, also frei verkäuflichen Medikamenten und verschreibungspflichtigen (re‐ zeptpflichtigen) Arzneimitteln unterschieden, die aufgrund der Nebenwir‐ kungen bzw. Risiken nur auf Rezept eines Arztes, Zahnarztes oder Veterinär‐ mediziners ausgegeben werden dürfen. Eine Sonderform der Rezeptpflicht stellt die Verschreibung von Präparaten dar, die zur Minimierung möglichen Missbrauchs als sogenannte Betäubungsmittel (BTM) unter die Betäu‐ bungsmittelverschreibungsverordnung (BTMVV) fallen. Neben den von pharmazeutischen Unternehmen entwickelten zugelassenen Originalmedikamenten werden nach Auslaufen der sogenannten Patentzeit auch 2.1 Arzneimitteltherapie 59 <?page no="60"?> wirkstoffgleiche Medikamente von anderen Herstellern, sogenannte Generika, produziert. Diese sind aufgrund deutlich geringerer Zulassungskosten in aller Regel deutlich preisgünstiger als das Originalpräparat. Neben der chemischen Struktur eines Pharmakons sind vor allem die Dar‐ reichungsform und Applikationsart entscheidend für pharmakodynamische Eigenschaften, wie beispielsweise die Zeit bis zum Wirkeintritt der Substanz. Gängige Darreichungsformen sind in →-Tabelle 4 aufgelistet. Darrei‐ chungsform fest halbfest flüssig sonstige Beispiele • Tablette • Dragee • Kapsel • Granulat • Puder • Suspension • Creme • Paste • Gel • Lösung (z.-B. Au‐ gentrop‐ fen) • Sirup • Injektions‐ lösung • Infusions‐ lösung • Pflaster • Dosieraerosol • Spray • … Tabelle 4: Darreichungsformen für Arzneimittel Die häufigsten Applikationsarten, die ihrerseits wiederum in enterale (über den Verdauungsweg aufgenommene) und parenterale (nicht über den Ver‐ dauungsweg aufgenommene) Gaben unterschieden werden, sind inkl. der hierfür gebräuchlichen Abkürzungen bei Verordnungen in → Tabelle 5 aufgeführt. 60 2 Methoden und Ansätze der Medizin <?page no="61"?> Bezeichnung Abkürzung Applikationsweg oral/ per os p.o. über den Mund intravenös i.v. über eine Vene subkutan/ subcutan s.c. über das Unterhautfettgewebe intramuskulär i.m. über die Muskulatur intraossär i.o. über das Knochenmark Intraarteriell i.a. über eine Arterie inhalativ/ per inhalationem p.i. über die Atemwege sublingual s.l. im Mundraum unterhalb der Zunge nasal - über die Nasenschleimhaut intraartikulär - über das Gelenk peridural - über den Periduralraum (rückenmarksnah) rektal - über den Enddarm transdermal - durch die Haut hindurch vaginal - über die Schleimhaut der Scheide Tabelle 5: Häufige Applikationsarten für Arzneimittel Aufgrund der Vielzahl verschiedener Wirkstoffe, Darreichungsformen, Bezeich‐ nungen unter denen Medikamente vermarktet werden und der Gefahr einer Verwechslung aufgrund ähnlichen Aussehens oder Namensähnlichkeit kurz als LASA (LookAlikeSoundAlike)-Problematik bekannt, kommt der korrekten Verschreibung aber auch der korrekten Verabreichung von Medikamenten eine besondere Bedeutung zu. Etabliert hat sich hier die sog. 5R-Regel: • Richtiger Patient • Richtiges Arzneimittel • Richtige Dosierung (oder Konzentration) • Richtige Applikation (auch Applikationsart) • Richtige Zeit (richtiger Zeitpunkt) 2.1 Arzneimitteltherapie 61 <?page no="62"?> ➤ Lesetipps-∣-Literatur und Websites Paracelsus (1538): Die dritte Defension wegen des Schreibens der neuen Rezepte. In: Septem Defensiones 1538. Im Internet unter: 🔗 http: / / www.zeno.org/ Philosophie/ M/ Paracelsus/ Septem+Defensiones/ Die +dritte+Defension+wegen+des+Schreibens+der+neuen+Rezepte ABDA (2022): Die Apotheke - Zahlen, Daten, Fakten 2022. Im Internet unter: 🔗 https: / / www.abda.de/ fileadmin/ user_upload/ assets/ ZDF/ ZDF22/ ABD A_ZDF_2022_Broschuere.pdf Bundesgesundheitsministerium (2015): Tipps für eine sichere Arz‐ neimitteltherapie. 2. Auflage. Im Internet unter: 🔗 https: / / www.bundesregierung.de/ Content/ Infomaterial/ BMG/ _2713.ht ml Aktionsbündnis Patientensicherheit (2016): 10 Tipps zum häuslichen Umgang mit Arzneimitteln. In Internet unter: 🔗 https: / / www.aps-ev.de/ wp-content/ uploads/ 2016/ 08/ APS_10_Tipps_Ar zneimittel_zuHause__2016_.pdf.pdf Aktionsbündnis Patientensicherheit (2022): Patienteninformation 5 Fragen wenn es um Ihre Medikamente geht. Im Internet unter: 🔗 https: / / www.aps-ev.de/ wp-content/ uploads/ 2022/ 08/ 2022_AMTS_5Fra gen_Medikamente.pdf 2.2 Interventionell-operative Medizin Neben pharmakologischen Therapiekonzepten prägen Operationen und andere interventionelle Verfahren die moderne Medizin. Eine Operation, abgekürzt auch OP genannt, ist ein durch OP-Instrumente unterstützter Eingriff im oder am Körper eines Menschen. Die Ausrichtung einer OP ist meist therapeutisch, im Rahmen einer Gewebeprobegewinnung (Biopsie) teilweise aber auch zu diagnostischen Zwecken indiziert. Die Personen, die eine OP durchführen, werden Chirurgen bzw. Operateure genannt. Während erste operative Eingriffe bereits in der Steinzeit durchgeführt und im Einzelfall überlebt wurden, sind erst durch die in →-Kapitel 1.2.1 und →-1.2.3 beschriebenen Errungenschaften 62 2 Methoden und Ansätze der Medizin <?page no="63"?> Operationen vergleichsweise risikoarm und erfolgreich durchführbar. Die WHO schätzt, dass im Jahr 2012 weltweit ca. 313 Millionen Operationen durchgeführt wurden, wobei der Großteil dieser Interventionen in Ländern mit hohem Wohl‐ stand durchgeführt wurde. Die meisten Operationen werden im Fachgebiet der Chirurgie (cheirurgía (altgriech.) = Handwerk) durchgeführt, die sich wiederum in Spezialgebiete wie beispielsweise die Allgemeinchirurgie, Herzchirurgie oder die Unfallchirurgie aufteilt. Jedoch gibt es zahlreiche Fachgebiete, die sowohl konservative als auch operativ-chirurgische Therapien durchführen, wie bei‐ spielsweise die Gynäkologie und Geburtshilfe. Für die meisten Operationen ist eine Anästhesie erforderlich, entweder in Form einer Allgemeinanästhesie (Narkose) oder eine Regionalanästhesie durch einen Anästhesisten (Narkosearzt) oder mittels örtlicher Betäubung der OP-Stelle (Lokalanästhesie) durch den Operateur. Operationen werden hinsichtlich ihrer medizinischen Dringlichkeit im Allgemeinen in drei Kategorien unterteilt. Während Notoperationen keinen Aufschub dulden, müssen dringliche OPs innerhalb von 24 Stunden erfol‐ gen. Besteht jedoch in gewissen Grenzen eine Wahlfreiheit bezüglich des OP-Termins, wird von sogenannten elektiven (electivus (lat.) = die Wahl lassend) Eingriffen gesprochen. Eine OP besteht klassischerweise aus drei Phasen: In der präoperativen Phase erfolgen die Indikationsstellung sowie die Auf‐ klärung des Patienten bezüglich des Ziels und Ablaufs der geplanten Operation sowie der möglichen Risiken und Nebenwirkungen. Der Aufklärung muss sich die Einwilligung des Patienten oder seines gesetzlichen Vertreters in die konkret durchzuführenden Maßnahmen anschließen. Neben der OP-Aufklärung hat für eine geplante Allgemein- oder Teilanästhesie ebenfalls eine Indikationsstellung, eine ärztliche Aufklärung und die Einwilligung des Patienten oder seines gesetz‐ lichen Vertreters zu erfolgen. Dieses Prozedere kann je nach Eingriffsart sehr ausführlich und langwierig sein, in Akutsituationen bei Not-OPs aber auch drastisch abgekürzt werden, so dass bei Gefahr im Verzug ggf. auch die mutmaß‐ liche Einwilligung des Patienten ohne Aufklärung und Einwilligung ausreichen kann. Die präoperative Phase endet mit der unmittelbaren Vorbereitung auf die Operation, in dessen Rahmen beispielsweise auch die Anästhesie eingeleitet wird. In der intraoperativen Phase findet die eigentliche operative Prozedur statt. Hierzu erfolgt nach Abschluss der Vorbereitungen (Anästhesie, Lage‐ rung des Patienten, Desinfektion) ein operativer Zugang zum gewünschten Operationsgebiet, auch Situs (situs (lat.) = Lage, Stellung) genannt. Dies kann beispielsweise durch vorhandene Körperöffnungen oder per Schnitt 2.2 Interventionell-operative Medizin 63 <?page no="64"?> durch die Haut und ggf. darunterliegende Strukturen, wie Muskulatur, geschehen. Diesem schließt sich die eigentliche Intervention an. Nach deren Abschluss wird der OP-Zugang beispielsweise durch Zusammennähen oder Klammern der durchtrennten Strukturen wieder verschlossen und ggf. durch Verbände zum Schutz vor Infektionen abgedeckt. Je nach Komplexität des Eingriffs können der Zugang zum OP-Gebiet und der Verschluss der dadurch entstandenen OP-Wunde teilweise sogar länger dauern als die eigentliche Intervention. Die postoperative Phase besteht aus der Ausleitung der Anästhesie, der Aufhebung einer OP-Lagerung, dem Umlagern in das Patientenbett und der je nach Eingriff unterschiedlich lange andauernden postoperativen Überwachung der Patienten. Für die gemeinsame Betrachtung aller drei genannten Phasen wird der Begriff perioperative Phase verwendet. Im Zuge der postoperativen Behandlung kann es nicht nur durch die Intervention im OP-Gebiet, sondern vor allem durch den Zugang dorthin zu Komplikationen und vor allem zu Schmerzen für den Patienten kommen. So ist die operative Entfernung der Gallenblase beim offen-chirurgischen Verfahren mutmaßlich weniger schmerzhaft als die Operationswunde, die dem Patienten dafür zugefügt werden muss. Aus diesem Grund konnten für zahlreiche OP-Indikationen sogenannte minimal-invasive Zugangsarten etabliert werden. Das bekannteste Verfahren hierfür ist die sogenannte Laparoskopie (Bauchspiegelung), bei der Eingriffe im Bauchraum mittels Instrumenten durchgeführt werden, die nach kleinen Hautschnitten durch die Zugänge offen haltende Instrumente (Trokare) in den Körper eingeführt werden und dort anstelle der Hände des Operateurs am Situs entsprechende Bewegungen ausführen. Dies geschieht unter Sicht, da durch einen Trokar eine Kamera eingeführt wird, durch die der Operateur die Bewegungen im OP-Gebiet unter Sicht durchführen kann. Hierzu wird der Bauchraum zuvor mit Kohlenstoffdioxid (CO 2 ) gefüllt, um eine entsprechende Über‐ sicht zu ermöglichen. Bei minimalinvasiven Operationen an Gelenken (Kniespiegelung) erfolgt dies in der Regel mittels steriler Kochsalzlösung. Dieses Verfahren hat aufgrund der in randomisierten kontrollierten Studien nachgewiesenen Überlegenheit im Hinblick auf postoperative Schmerzen oder Zeit bis zur vollständigen Genesung (Rekonvaleszenz) bisherige of‐ fen-chirurgische Verfahren als Standardverfahren abgelöst. Jedoch sind der Laparoskopie insbesondere bei intraoperativen Komplikationen durch ein‐ geschränkte Bewegungsmöglichkeiten Grenzen gesetzt, sodass die Beherr‐ schung der offenen-chirurgischen Verfahren weiterhin notwendig bleibt. 64 2 Methoden und Ansätze der Medizin <?page no="65"?> Abbildung 3: Minimalinvasive Operation am Beispiel der Laparoskopie | © Bilderzwerg - fotolia.com Nicht-operative Fachgebiete wie die Innere Medizin oder die Radiologie führen durch die Möglichkeit der interventionellen Verfahren mittels einer Gefäßpunk‐ tion und einem Zugang mittels Katheter beispielsweise zu Herzkranz- oder Hirngefäßen zunehmend ebenfalls invasive Prozeduren durch. Diese werden in Abgrenzung zu OPs aber als interventionelle Verfahren beschrieben, unterliegen aber auch den entsprechenden Aufklärungs- und Einwilligungspflichten und bestehen ebenfalls aus den Phasen der Vorbereitung, Durchführung und Nach‐ beobachtung des Patienten. Vorteil solcher interventioneller Verfahren kann die geringere Invasivität der Maßnahme sein. So kann es durch die Gefäßpunktion zwar auch zu relevanten Risiken kommen, eine kathetergestützte Wiedereröff‐ nung eines verschlossenen Blutgefäßes beispielsweise ist aber weniger invasiv als der hierfür notwendige offen-chirurgische Zugang. 2.2 Interventionell-operative Medizin 65 <?page no="66"?> Abbildung 4: Schematische Darstellung der kathetergestützten Wiedereröffnung eines verschlossenen Herzkranzgefäßes | © dissoid - fotolia.com Eine weitere potenzielle Innovation könnte die Einführung sogenannter roboterassistierter OP-Instrumente sein. Hierbei führt zwar der Operateur weiterhin die OP durch, wird aber in seinen Bewegungen von einem sogenannten OP-Roboter unterstützt. Aufgrund des damit verbundenen erhöhten Aufwandes muss im Einzelfall jedoch nach den in → Kapitel 2.3. beschriebenen Kriterien der Evidenzbasierten Medizin sorgfältig abge‐ wogen werden, ob diese Technik tatsächlich einen konkreten Zusatznutzen hinsichtlich patientenrelevanter Endpunkte erbringen kann oder nicht. 66 2 Methoden und Ansätze der Medizin <?page no="67"?> ➤ Lesetipps-∣-Literatur und Websites WHO. Themenseite Safe Surgery. Im Internet unter: 🔗 https: / / www.who.int/ teams/ integrated-health-services/ patient-safety/ research/ safe-surgery 2.3 Evidence-based Medicine (EbM) 2.3.1 Entstehung und Begriffsdefinition Der Begriff Evidence-based Medicine (EbM) wurde von der wissenschaftli‐ chen Arbeitsgruppe David Sacketts im Department of Clinical Epidemiology and Biostatistics an der McMasters Universität in Hamilton, Kanada Anfang der 1990er-Jahre geprägt. Die Evidence-based Medicine beschreibt einen formalen Ansatz, aber auch eine Haltung, medizinisches Handeln aus drei Komponenten zu betreiben, die David Sackett, der Mitbegründer dieser Methodik, im Jahr 2000 nochmals folgendermaßen zusammenfasste: ➤ Wissen Evidence-based Medicine verbindet die bestverfügbaren Forschungs‐ ergebnisse mit der eigenen klinischen Expertise und den Vorstellungen des Patienten. In den deutschsprachigen Raum hielt die Evidence-based Medicine erstmals 1995 Einzug, wobei die Übersetzung des Begriffs in Evidenzbasierte Medizin zu einer Umdeutung des Begriffes im deutschen Sprachgebrauch führte: Während der englische Begriff „evidence“ mit „Beleg/ Beweis“ übersetzt werden kann, steht der deutsche Begriff „Evidenz“ für „Offensichtlichkeit“, also etwas, dass überhaupt keines Beweises bedarf. Mittlerweile wird der Begriff Evidenz im medizinischen Kontext ungeachtet der Wortherkunft wie im Englischen angewandt. Der Ansatz, die bestverfügbaren Forschungsergebnisse mit dem eigenen klinischen Wissen zu verbinden und dabei die Vorstellungen des Patienten zu berücksichtigen, erscheint zunächst als etwas Selbstverständliches und 2.3 Evidence-based Medicine (EbM) 67 <?page no="68"?> daher wenig innovativ. Nach kritischem Hinterfragen der Behandlungsver‐ fahren zur Zeit der Implementierung der EbM, muss jedoch festgehalten werden, dass nur ein gewisser Anteil der praktizierten Verfahren jemals in einer systematischen, vergleichenden wissenschaftlichen Untersuchung auf seine Wirksamkeit hin überprüft wurde. 2.3.2 Medizin zwischen Kunst und Wissenschaft Die Gründe für das Fehlen zahlreicher Nutzennachweise in der Medizin liegen im Fach selbst und in seiner geschichtlichen Entwicklung begründet. Obgleich für jede medizinische Therapie auf den ersten Blick ein wissen‐ schaftlich fundierter Wirksamkeitsnachweis einzufordern ist, stößt diese Forderung schnell an zwei wesentliche Grenzen: Zum einen gibt es medizinische Verfahren, für deren offensichtliche Wirkung bislang keine theoriebasierte Erklärung vorliegt. ➤ Beispiel-∣-Wirkung ohne wissenschaftliche Erklärung Die genaue Wirkungsweise im menschlichen Körper von Paracetamol und Metamizol, zwei der am häufigsten eingesetzten Schmerzmittel, ist bis heute nicht vollständig geklärt. Seit vielen Jahrhunderten werden Muskelschmerzen durch Anwendung von Wärme kuriert. Eine genaue wissenschaftliche Erklärung, warum Wärme bei Muskelschmerzen hilft, existiert bis heute jedoch nicht. Zum anderen gibt es wirksame Behandlungen bei kritischen Erkrankungen, die einen kontrollierten Vergleich gegen ein mutmaßlich weniger effektives Verfahren oder gar das Unterlassen einer Therapie aus ethischen Gründen ausschließen. ➤ Beispiel-∣-Menschenverstand statt Kontrollgruppe So gab es beispielsweise niemals eine Studie, die den Nachweis erbrachte, dass Fallschirme bei Stürzen aus großer Höhe Menschen vor Schaden bewahren, indem eine Gruppe von Menschen mit und eine Gruppe von Menschen ohne Fallschirme aus einem Flugzeug sprangen und das Ergebnis wissenschaftlich evaluiert wurde. 68 2 Methoden und Ansätze der Medizin <?page no="69"?> Trotzdem würde jeder vernünftig denkende Mensch einen Fallschirm wäh‐ len, wenn ein Sprung aus einem Flugzeug aus großer Höhe notwendig wäre. 2.3.3 Die 5 Schritte der EbM nach Sackett Die EbM ist eine patientenorientierte, problembasierte Methodik und gliedert sich nach Sackett in fünf Schritte: 1. Stellen einer beantwortbaren Frage 2. Suche nach bestverfügbaren Forschungsergebnissen 3. Beurteilung der gefundenen Forschungsergebnisse 4. Anwendung am Patienten 5. Evaluation der eigenen Leistung Im ersten Schritt wird eine Frage formuliert, die zum einen auf wissenschaft‐ liche Art beantwortbar ist und ein konkretes Problem in der Patientenver‐ sorgung beschreibt, für das das eigene klinische Wissen des Behandelnden nicht ausreicht. Hierfür haben sich strukturierte Vorgehensweisen wie die Formulierung der in → Tabelle 6 dargestellten PICO-Frage für therapeu‐ tische Interventionen bewährt. Element Funktion Beispiel Patient beschreibt den Patien‐ ten bzw. das Gesund‐ heitsproblem Ist für einen 22-jährigen Studierenden, der auf seiner Abschlussfeier übermä‐ ßigen Alkoholkonsum plant, Intervention beschreibt die zu über‐ prüfende (neue) Be‐ handlungsmethode die Einnahme von Artischocken-Ex‐ trakt in Form von Kapseln Control beschreibt die Vorge‐ hensweise, gegen das die Intervention getes‐ tet werden soll im Vergleich zu keiner therapeutischen Intervention Outcome beschreibt das ge‐ wünschte Ergebnis, auf das hin untersucht werden soll geeignet, Symptome eines alkoholbe‐ dingten Katers am nächsten Morgen zu verhindern? Tabelle 6: Die PICO-Frage mit Praxisbeispiel 2.3 Evidence-based Medicine (EbM) 69 <?page no="70"?> Die auf diese Weise gestellte Frage ist gleichzeitig Ausgangspunkt für die Suche nach wissenschaftlicher Literatur zur Fragestellung, da gewisse Suchworte (Artischocken-Extrakt, alkoholbedingter Kater) daraus abgelei‐ tet werden können. So liefert die Suchoberfläche PubMed der National Library of Medicine der USA auf die übersetzten Suchbegriffe: „artichoke extract“ und „alcohol-induced hangover“ tatsächlich eine randomisiert, kontrollierte Studie, die sich dieser Fragestellung widmet (Pittler MH et al. CMAJ. 2003; 169: 1269-73). ➤ Webtipp-∣-medizinische Datenbanken Eine Liste medizinischer Datenbanken zur Suche nach medizini‐ schen Forschungsergebnissen finden Sie online unter Zusatzmaterial direkt beim Buch: 🔗 https: / / files.narr.digital/ 9783825259853/ Zusatzmaterial.zip 2.3.4 Grundlagen medizinischer Studien Die moderne Medizin basiert auf den Prinzipien der Wissenschaft. Ein grundlegendes Verständnis der Medizin setzt daher auch ein grundlegendes Verständnis wissenschaftlicher Prinzipien voraus. Diese Grundprinzipien kann meiner Meinung nach niemand besser beschreiben als Vince Ebert, dem ich für den folgenden Gastbeitrag herzlich danke und dem ich für die kommenden Seiten hiermit die Tastatur übergebe: ➤ Gastbeitrag ∣ Was ein Bier im Kühlschrank mit Wissenschaft zu tun hat Nicht wenige sind der Meinung, Naturwissenschaftler beschäftigten sich hauptsächlich mit komplizierten Formeln und Rechnungen. Im Kern jedoch bedeutet Naturwissenschaft eine bestimmte Art zu denken. Wissenschaft ist, banal gesagt, eine Methode zur Überprüfung von Vermutungen. Wenn ich vermute: „Im Kühlschrank könnte noch Bier sein …“ und ich schaue nach, dann betreibe ich im Grunde schon eine Vorform von Wissenschaft. Das ist im Übrigen der große Unterschied zur Theologie. In der Theologie werden Vermutungen in der Regel nicht überprüft. Wenn ich also nur behaupte „Im Kühlschrank ist Bier.“ bin 70 2 Methoden und Ansätze der Medizin <?page no="71"?> ich Theologe. Wenn ich nachsehe, bin ich Wissenschaftler. Wenn ich nachsehe, nichts finde, aber trotzdem behaupte: „Es ist Bier drin! “, dann bin ich Esoteriker. Was aber mache ich, wenn der Kühlschrank abgeschlossen ist? Dann muss ich versuchen, die Wahrheit anderweitig herauszufinden. Ich kann zum Beispiel daran rütteln, ich kann ihn wiegen oder mit Röntgenstrah‐ len durchleuchten. Ich kann das Ding sogar abfackeln und danach die Verbrennungsprodukte auf Bier untersuchen. Das alles ist natürlich extrem aufwändig und langwierig. Deswegen kann ein Esoteriker in fünf Minuten auch mehr Unsinn behaupten als ein Wissenschaftler in seinem ganzen Leben widerlegen kann. Aber selbst wenn ich alle möglichen Experimente durchgeführt habe, habe ich trotzdem nie die volle Gewissheit, ob sich in diesem blöden Kühlschrank tatsächlich Bier befindet. Ein Restzweifel bleibt immer. Weil ich mit jedem Experiment immer nur einen kleinen Teil der Wirklichkeit abbilden kann. Das ist der Grund, weshalb es in der Wissenschaft kein absolut gesichertes Wissen gibt. Ein Dilemma, das man auch aus dem täglichen Leben kennt. Der Bauer geht jeden Morgen zum Füttern in den Gänsestall und die Gänse denken sich: „Unser Bauer ist schon ein netter Kerl …“ Kurz vor Weihnachten jedoch wird den Gänsen schlagartig klar: „Irgendetwas an unserer Theorie ist faul …“ Im Fachjargon nennt man das Falsifizierbarkeit. Jede Theorie gilt nur so lange als richtig bis sie durch eine neue, eine bessere Theorie ersetzt wird. Und dadurch irren wir uns nach oben. Paradoxerweise hat die Menschheit sehr lange gebraucht, um die wis‐ senschaftliche Methodik zu entwickeln. Genauer gesagt, existiert sie erst seit wenigen hundert Jahren. Viele stutzen jetzt und verweisen auf Men‐ schen wie Aristoteles oder Archimedes. Aber die alten Griechen waren keine Wissenschaftler. Archimedes hat eine Entdeckung gemacht, aber er hat seine Idee, wie es zu dieser Entdeckung kam, nie überprüft. Auch Aristoteles war der Meinung, dass man die Geheimnisse der Natur durch reines Nachdenken erforschen konnte. In der griechischen Philosophie gab es keine Doppelblindstudien. Weder Demokrit noch Sokrates küm‐ merte sich um Evidenzen, Falsifizierbarkeiten und Placebo-Gruppen. So ist es zum Beispiel zu erklären, dass der große Aristoteles der festen 2.3 Evidence-based Medicine (EbM) 71 <?page no="72"?> Überzeugung war, dass Männer mehr Zähne im Mund haben als Frauen. Einfach nachzuschauen war ihm viel zu unphilosophisch. Erst im 17. Jahrhundert wurde das Experiment als evidenzbasierte Erkenntnismethode durch Gelehrte wie Francis Bacon, Johannes Kepp‐ ler, Galileo Galilei oder René Descartes eingeführt. Und das hat den Fortschritt enorm beschleunigt. Der Nobelpreisträger Richard Feynman sagte einmal: „Naturwissenschaft ist eine lange Geschichte, wie wir gelernt haben, uns nichts mehr vorzumachen.“ Noch vor 400 Jahren wurde jedes Unwetter und jede Krankheit, alles was irgendwie außer‐ halb der Normalität war, dem Hexenwerk zugeschrieben. Heute liefern Molekularbiologie und Meteorologie eine Erklärung für das, was noch vor wenigen Jahrhunderten ausgereicht hat, um Frauen zu verbrennen. Das größte Geschenk der Wissenschaft besteht darin, dass sie uns etwas über den Gebrauch von geistiger Freiheit lehrt.- Wenn Sie wissen wollen, wann die nächste Sonnenfinsternis ist, können Sie sich an einen Magier wenden, aber Sie fahren viel besser mit einem Astronomen. Bei Brustschmerzen können Sie die Ursachen gerne von einem Pendler bestimmen lassen oder Sie lassen ein EKG schreiben. Sie können zu einem Medizinmann gehen, damit er den Zauber aufhebt, der Ihre perniziöse Anämie verursacht, oder Vitamin B 12 nehmen.- Probieren Sie es mit der Wissenschaft. Nichts anderes reicht an ihre Genauigkeit heran. Ob es uns gefällt oder nicht, aber nur mit wissen‐ schaftlichem Denken haben wir die Freiheit, unser Weltbild zu überprü‐ fen und gegebenenfalls über den Haufen zu werfen. Wissenschaft ist sicherlich nicht perfekt. Aber sie ist das-Beste, was wir haben. ➤ Zum Autor-∣-Vince Ebert Vince Ebert, Jahrgang 1968, ist Diplom-Physiker, arbeitete als Unterneh‐ mensberater und startete 1998 seine Karriere als Kabarettist. Die ›FAZ‹ nennt ihn so »scharf wie hintersinnig«. Bekannt aus der ARD-Sen‐ dung ›Wissen vor acht - Werkstatt‹, begeistert er seit über 20 Jahren sein Publikum mit seinen wissenschaftlichen Bühnenprogrammen. Sein Motto: »Make Science Great Again«, das gilt in Zeiten wissenschaftlich begründeter Debatten mehr denn je. Ebert ist einer der gefragtesten 72 2 Methoden und Ansätze der Medizin <?page no="73"?> Vortragsredner des Landes. Seine Bücher sind allesamt ›SPIEGEL‹-Best‐ seller mit einer Gesamtauflage von über 1 Million. Das aktuelle Buch „Lichtblick statt Blackout - wie wir beim Weltverbessern neu denken müssen“ ist im Herbst 2022 bei dtv erschienen, seither non stop unter den Top 10 Bestsellern und wurde 100.000-mal verkauft. Ebert trifft provokant und unkonventionell, mit intelligentem und trockenen Witz, den Nerv der Zeit. „Denken Sie selbst, sonst tun es andere für Sie“ ist zu seinem Leitspruch geworden. Vince Ebert lebt in Wien. 🔗 https: / / www.vince-ebert.de/ - 2.3.4.1 Geschichtliche Entwicklung Die Heilkunst wurde bereits lange vor Etablierung der Natur- und Geistes‐ wissenschaften angewandt, nicht selten verknüpft mit spirituellen, kulti‐ schen oder religiösen Handlungen. So entzog sich das über Jahrhunderte tradierte Wissen zunächst einer naturwissenschaftlichen Überprüfung. Im Laufe der Geschichte wurden Entdeckungen auf der Basis systematischer Untersuchungen oder Vergleiche jedoch bereits lange vor der Einführung der EbM gemacht. Neben den bereits erwähnten Statistiken von Ignaz Semmelweis zur Sterblichkeit der Wöchnerinnen durch einen Vergleich der ärztlichen Entbindungsklinik mit dem Geburtshaus der Hebammen markiert in der Entwicklung der nachweisorientierten Medizin die erste kontrollierte Vergleichsstudie von James Lind im Jahr 1747 einen Wendepunkt. ➤ Wissen-∣-Prinzip der vergleichenden Untersuchung James Lind war als Schiffsarzt an Bord der HMS Salisbury stationiert, die im Ärmelkanal zum Schutz von Handelsschiffen patrouillierte. Seine Soldaten erkrankten regelmäßig an der Krankheit Skorbut, die sich durch allgemeine Schwäche, Anfälligkeit gegenüber Krankheiten, Zahnfleischbluten bis hin zu hohem Fieber äußert. Heute wissen wir, dass ein Mangel an Vitamin C ursächlich für diese Erkrankung ist. Zur Identifikation der bestmöglichen Behandlung teilte James Lind die 12 Patienten auf seiner Krankenstation in sechs Gruppen auf. Jeweils zwei Patienten bekamen so eine der sechs verfügbaren 2.3 Evidence-based Medicine (EbM) 73 <?page no="74"?> Therapien. In fünf Gruppen trat keine Besserung oder sogar eine Ver‐ schlechterung der Beschwerden ein. Die beiden Soldaten in der Gruppe, die Zitrusfrüchte erhielten, erholten sich rasch von der Erkrankung und gaben somit den Hinweis auf eine erfolgreiche Behandlung der Erkrankung, lange bevor Vitamin C als solches entdeckt wurde. Das hier zugrundliegende Prinzip der vergleichenden Untersuchung wird auch heute noch zur Beurteilung therapeutischer Verfahren angewandt, auch wenn die Methoden natürlich weiterentwickelt wurden. Zum weiteren Verständnis der systematischen Bewertung diagnostischer oder therapeutischer Interventionen ist an dieser Stelle ein kurzer Exkurs in die klinische Epidemiologie zur Beschreibung der wichtigsten Prinzipien wissenschaftlicher Evaluation medizinischer Interventionen notwendig. Dies geschieht am konkreten Beispiel, wird jedoch, sofern sinnvoll, um den jeweiligen epidemiologischen Fachbegriff in Klammern hinter dem jeweiligen Beispiel ergänzt. - 2.3.4.2 Hypothesenbildung und -überprüfung „Die Wissenschaft von heute ist der Irrtum von morgen." Jakob von Üexkull, deutsch-schwedischer Biologie, 1864-1944 Ein wesentliches Merkmal aller Wissenschaften ist es, Hypothesen aufzu‐ stellen und diese im Anschluss daran zu überprüfen. Anders als auf den ersten Blick vermutet, ist der grundsätzliche Ansatz nicht, eine Hypothese zu beweisen, sondern durch Falsifikation auszuschließen. Dies erlaubt durch Nachweis eines Gegenbeispiels den Umkehrschluss, während der Beweis der Hypothese ungleich schwerer ist. ➤ Beispiel-∣-schwarze Schwäne und Hypothesen Die Frage, ob alle auf der Welt lebenden Schwäne weiß sind, ist selbst bei Sichtung von 100.000 Schwänen nicht sicher beantwortbar. Erst wenn alle auf der Welt lebenden Schwäne untersucht worden sind (also eine Vollerhebung durchgeführt wurde), kann dies mit Sicherheit behauptet werden. Dies erscheint in der Praxis zum einen ineffizient, zum anderen 74 2 Methoden und Ansätze der Medizin <?page no="75"?> in vielen Fällen nicht möglich. Wird hingegen vermutet, dass nicht alle Schwäne weiß sind, und es findet sich nur ein einziger, nicht weißer Schwan, so kann die Frage eindeutig beantwortet werden. Somit werden gemäß der von Sir Karl R. Popper aufgestellten Wissenschafts‐ theorie des Kritischen Empirismus Hypothesen primär zur Falsifikation (Widerlegung) aufgestellt. Hierbei ist zur Falsifikation die Hypothese grund‐ sätzlich vor ihrer Überprüfung aufzustellen. Eine nachträgliche Änderung der Hypothese, z. B. weil die ursprüngliche Hypothese nicht falsifizierbar war, ist nicht zulässig. - 2.3.4.3 Zeitliche Betrachtung der Hypothesenerstellung Die Art und Weise, wie wissenschaftliche Untersuchungen durchgeführt werden, legt somit fest, ob eine Untersuchung in der Lage ist, eine Hypo‐ these zu widerlegen. Wird die Gewinnung der Untersuchungsdaten durch‐ geführt, nachdem eine klare Hypothese formuliert worden ist, so wird diese Untersuchung als prospektiv bezeichnet und ist grundsätzlich zur Hypo‐ thesenüberprüfung geeignet. Wird hingegen erst eine Datensammlung durchgeführt und im Nachgang eine Hypothese formuliert, wird von einer retrospektiven Untersuchung gesprochen. Retrospektive Untersuchungen sind zwar nicht in der Lage, Hypothesen zu falsifizieren, können aber neue Hypothesen generieren, die im Nachgang durch prospektive Untersuchun‐ gen falsifiziert werden können. Somit tragen sowohl retrospektive als auch prospektive Untersuchungen zum Erkenntnisgewinn bei, wenngleich auf verschiedenen Ebenen. - 2.3.4.4 Ansatzpunkte klinischer Studien Bei der Untersuchung medizinischer Sachverhalte bestehen grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Zum einen kann durch einen gezielten Eingriff in Versorgungsabläufe eine Intervention evaluiert werden, zum anderen kön‐ nen Erkenntnisse durch systematische Beobachtung ohne Eingriff in das eigentliche Geschehen gewonnen werden. Daher wird in der Epidemio‐ logie zwischen sogenannten Interventionsstudien und Beobachtungsstu‐ dien unterschieden. Ebenso wie prospektive und retrospektive Ansätze haben beide Studienformen in der Beurteilung medizinischer Interventionen 2.3 Evidence-based Medicine (EbM) 75 <?page no="76"?> ihre absolute Berechtigung. Während der direkte therapeutische Vergleich zweier medizinischer Interventionen nur durch eine Interventionsstudie erfolgen kann, kann beispielsweise der Erfolg einer Therapie unter Alltags‐ bedingungen nur durch Beobachtung evaluiert werden, nicht aber durch Intervention, da auf diese Weise Alltagsbedingungen verfälscht und somit die Aussagekraft der Alltagstauglichkeit gemindert werden würde. Beide Studientypenformen unterliegen strengen gesetzlichen Anforde‐ rungen, die jedoch bei Interventionsstudien nochmals deutlich höher sind als bei Studien, die unter der Therapiefreiheit der Behandelnden erfolgen. - 2.3.4.5 Studienarten Im Folgenden sollen fünf wesentliche Studienarten anhand einer kurzen einführenden Beschreibung dargestellt werden: • Fallbericht • Fallserie • Fall-Kontroll-Studie • Kohortenstudie • Randomisierte kontrollierte Studie Die dargestellten Studientypen haben unterschiedliche Aussagekraft auf‐ grund der jeweiligen Systematik und sind in aufsteigender Reihenfolge bei gleichbleibend sorgfältiger Planung und Durchführung immer robuster ge‐ gen zufällige oder systematische Verzerrungen, die auch als Bias bezeichnet werden. - Fallbericht Der Fallbericht stellt einen ausführlichen Bericht über Symptome, Ana‐ mnese, Diagnose, Therapie und ggf. Nachbeobachtung eines einzelnen Patienten dar. Häufig beschreibt ein Fallbericht eine seltene oder gar bisher unbekannte Krankheit, eine unerwartete Konstellation von Symptomen oder unerwartete Effekte (z. B. Nebenwirkungen) aufgrund einer Therapie. Es handelt sich somit um eine anekdotische Betrachtung ohne wissen‐ schaftliche Methodik der Studienplanung. Der wesentliche Vorteil eines Fallberichtes liegt in der Möglichkeit der schnellen Verbreitung wichtiger medizinischer Information ohne großen Aufwand, da außer der Einwilligung eines Patienten zur Darstellung seines 76 2 Methoden und Ansätze der Medizin <?page no="77"?> Falls keine umfangreiche Planung und Genehmigung einer Studie zu erfol‐ gen hat. Gleichzeitig ist eine solche Beschreibung eines einzelnen Falls nicht automatisch repräsentativ und unterliegt unter allen dargestellten Untersuchungsformen dem höchsten Risiko für einen Bias und einer daraus resultierenden Fehlinterpretation. - Fallserie Die Fallserie ist die Beschreibung einer Reihe von Behandlungsfällen von Patienten mit gleicher Erkrankung oder gleichen Risikofaktoren. Die Fallse‐ rie kann konsekutiv erfolgen, sodass alle über einen bestimmten Zeitraum behandelten Patienten mit bestimmten Kriterien in die Beschreibung aufge‐ nommen werden, oder sie kann als Auswahl bestimmter Behandlungsfälle, also nicht konsekutiv erfolgen. Vorteile der Fallserie sind ihre Durchführbar‐ keit auch bei sehr geringer Anzahl von Erkrankungen und damit niedriger Patientenzahl und die schnelle bzw. mit geringem Aufwand verbundene Durchführbarkeit. Im Gegensatz zum Fallbericht ist die Fallserie weniger anfällig gegenüber Fehlinterpretationen, da mit gleicher wiederholter Beob‐ achtung (Reproduzierbarkeit der Ergebnisse) die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass die Beobachtung auf einem Zufall beruht. Durch die meist geringe Fall‐ zahl und Beobachtungsdauer ist diese Studienform gegenüber den folgenden Untersuchungsformen trotzdem sehr anfällig für Fehlinterpretationen, ins‐ besondere bezüglich der Ursache-Wirkungs-Beziehungen. - Fall-Kontroll-Studie Eine Möglichkeit der Reduktion des Risikos für einige Bias-Formen ist die Fall-Kontroll-Studie. Hierbei wird zu einem Patienten aus der Fall-Gruppe, der ein bestimmtes positives oder negatives Behandlungsergebnis (Out‐ come) erreicht hat, ein anderer Patient in die Kontroll-Gruppe aufgenom‐ men, der dieses Ergebnis nicht erreicht hat. Beide Patienten werden nun hinsichtlich einer bestimmten Voraussetzung (Exposition), z. B. dem Vor‐ liegen eines Risikofaktors, untersucht. Im Anschluss daran wird untersucht, ob die Exposition in einem Zusammenhang mit dem in der Fallgruppe erreichten und der Kontrollgruppe nicht erreichten Ergebnis stehen kann. Die Planung der Studie und die Interpretation der Ergebnisse stellen jedoch sehr hohe Anforderungen an die Untersuchenden und sind ebenfalls mit zahlreichen Fallstricken versehen. Aufgrund verschiedener Konstellationen 2.3 Evidence-based Medicine (EbM) 77 <?page no="78"?> oder aus ethischen Gründen nicht anders durchführbarer Studien ist die Fall-Kontroll-Studie jedoch nicht verzichtbar. ➤ Beispiel-∣-vermeiden Helme Schädel-Hirn-Verletzungen? Um zu untersuchen, ob Fahrradhelme bei Unfällen vor schweren Schädel-Hirn-Verletzungen schützen, ist es nicht möglich, Radfahrern vorzuschreiben, ab sofort keinen Helm mehr zu tragen, obwohl sie dies bevorzugen. Ebenso ist es aus ethischen Gründen nicht möglich, Fahrradfahrer mit und ohne Helm gezielt Unfällen mit dem Risiko einer Schädel-Hirn-Verletzung auszusetzen. Es kann bei Fahrradfahrern, die einen Unfall erleiden, aber ermittelt werden, ob Sie eine schwere Schädel-Hirn-Verletzung erlitten haben, oder im Nachgang mutmaßlich ermittelt werden, ob sie zum Zeitpunkt des Unfalls einen Helm getra‐ gen haben. Wenn Fahrradfahrer, die einen Helm getragen haben, bei vergleichbar schweren Unfällen weniger Schädel-Hirn-Verletzungen erleiden, kann dies ein Hinweis auf die mögliche Schutzwirkung eines Fahrradhelms sein. Ob das Tragen des Helms die wahre Ursache für geringere Anzahl an Schädel-Hirn-Verletzungen ist, oder Fahrradfahrer, die einen Helm tragen, aufgrund eines höheren Sicherheitsbewusstseins weniger ris‐ kantes Verhalten im Straßenverkehr zeigen, ist jedoch insbesondere im Nachgang, wenn überhaupt, nur schwer zu ermitteln. - Kohortenstudie Der Begriff der Kohorte leitet sich aus dem römischen Militärwesen ab und bezeichnete zur Zeit des Römischen Reiches eine ca. 400 Personen umfassende Untereinheit einer Legion. Im heutigen Kontext bezeichnet eine Kohorte eine bestimmte Gruppe von Patienten (Merkmalsträgern). Diese Gruppe wird nun in zwei Gruppen unterteilt: eine Gruppe, die eine gewisse Voraussetzung erfüllt, z. B. das Vorhandensein eines Risikofaktors (Exposition), und eine Gruppe, die diese Voraussetzung nicht erfüllt. Im Rahmen der Studie wird nun beobachtet, ob ein bestimmtes Outcome erreicht wird oder nicht. Sofern in der Gruppe mit Exposition das Ergebnis häufiger oder seltener erreicht wird, kann ein je 78 2 Methoden und Ansätze der Medizin <?page no="79"?> nach untersuchtem Outcome schädigender oder schützender Einfluss des Faktors vorliegen. ➤ Beispiel-∣-Gruppen bilden und untersuchen Es wird eine Gruppe von Patienten untersucht, die das Risiko trägt, an der Krankheit X zu erkranken. Einige der Patienten tragen ein bestimm‐ tes Gen in ihrem Erbgut (Exposition), andere Patienten nicht. Werden die Patienten nun in zwei Gruppen eingeteilt - eine Gruppe mit und eine ohne das zu untersuchende Gen - und tritt die zu untersuchende Krankheit in beiden Gruppen unterschiedlich häufig auf, so kann ein schützender oder schädigender Einfluss dieses Gens auf die Erkrankung vermutet werden. Eine andere Form der Untersuchung am Menschen ist unethisch oder in Fällen wie diesem Beispiel unmöglich, da den Menschen bestimmte Risikofaktoren nicht zugewiesen werden können. Neben der Möglichkeit, im Rahmen einer Kohortenstudie gleichzeitig die Neuerkrankungsrate (Inzidenz) zu bestimmen, hat diese Studienform ein deutlich geringeres Bias-Risiko als die bisher beschriebenen Studienformen. Je nach Fragestellung kann die Zahl notwendigerweise zu untersuchender Patienten die Größe von 400 Patienten deutlich übersteigen, bis hin zu Kohortengrößen von mehreren hunderttausend Patienten, was ggf. einen enormen zeitlichen, personellen und finanziellen Aufwand bedeuten kann. Die Kohortenstudie ist ebenfalls die bestmögliche Studienform zur Über‐ prüfung der Genauigkeit diagnostischer Tests, die in → Kapitel 2.3.5 anhand einer Kohortenstudie dargestellt wird. - Randomisierte kontrollierte Studie Die randomisierte kontrollierte Studie beinhaltet zwei wesentliche Kriterien zur größtmöglichen Reduktion systematischer Fehler (Bias) oder unbekann‐ ter Störgrößen (Confounder). Eine vorab definierte Patientengruppe wird zur vergleichenden Untersuchung in mindestens zwei unterschiedliche Gruppen eingeteilt. Dies erfolgt nicht willkürlich durch die Behandelnden, sondern durch zufällige Zuteilung zu den Behandlungsgruppen (Rand‐ omisation), die idealerweise so abläuft, dass die Behandelnden nicht 2.3 Evidence-based Medicine (EbM) 79 <?page no="80"?> wissen, in welche Gruppe der nächste wann auch immer in die Studie einzuschließende Patient zugeteilt wird (Verdeckte Randomisation bzw. concealment of allocation). Die Zuteilung kann zusätzlich durch Eingabe bestimmter Parameter (z. B. Alter, Geschlecht, Begleiterkrankungen etc.) durch ein Computerprogramm bewusst auf Gleichverteilung in beiden Gruppen ausgerichtet werden (Stratifikation). Sofern die Zahl der in die Studie eingeschlossenen Patienten groß genug ist, sind die Patienten mit hoher Wahrscheinlichkeit hinsichtlich aller relevanten Faktoren, auch un‐ bekannter Störgrößen (Confounder), in beide Gruppen gleichverteilt. Somit haben beide Gruppen, obgleich sich jeweils Patienten unterschiedlichen Geschlechts, Alters oder Krankheitsstadiums darin befinden, durch diese Gleichverteilung gleiche Startbedingungen. Die Gruppen werden nach er‐ folgter Randomisation nun unterschiedlich behandelt. Erreicht eine Gruppe wesentlich häufiger das zu untersuchende Ergebnis, so ist dies mutmaßlich auf die unterschiedliche Behandlung zurückzuführen und nicht auf eine unterschiedliche Zusammensetzung der Behandlungsgruppen. Somit stellt die randomisierte kontrollierte Studie die beste Form der vergleichenden Untersuchung unterschiedlicher Behandlungsansätze dar und sollte, sofern aufgrund der Rahmenbedingungen anwendbar, zur Beurteilung der Wirk‐ samkeit von Behandlungen zur Anwendung kommen. Die Beurteilung der Aussagekraft therapeutischer Studien am Beispiel der randomisierten kontrollierten Studie wird in →-Kapitel 2.3.6 beschrieben. - 2.3.4.6 Validität medizinischer Studien Zusätzlich zu den bisher genannten Aspekten, die zur ordnungsgemäßen Durchführung einer aussagekräftigen Studie notwendig sind, müssen je nach Fragestellung und Studienart eine Vielzahl weiterer Parameter berück‐ sichtigt werden, damit die Validität, also die Gültigkeit bzw. Verlässlich‐ keit der Ergebnisse gewährleistet ist. So können technische Aspekte der Studienplanung das Risiko systematischer Fehler (Bias) oder den Einfluss unbekannter Störgrößen (Confounder) minimieren und so eine verlässliche Aussage im Rahmen der Studie ermöglichen. Dies wird auch als interne Va‐ lidität bezeichnet. Weiterhin soll die Studie dazu dienen, von Beobachtungen innerhalb der Studie auf allgemeingültige Zusammenhänge zu schließen. Hierzu muss eine Studie nicht nur technisch einwandfrei geplant sein, sondern auch unter realitätsnahen Rahmenbedingungen stattfinden, also beispielsweise mit repräsentativen Patientengruppen, im Alltag reprodu‐ 80 2 Methoden und Ansätze der Medizin <?page no="81"?> zierbaren Arbeitsabläufen und in der Praxis anwendbaren, also beispiels‐ weise nicht veralteten, Methoden. Wird dies erfüllt, so ist auch die externe Validität gewährleistet. Während die Überprüfung der internen Validität häufig eher einen formalen Akt darstellt, benötigt die Beurteilung der externen Validität detaillierte Fachkenntnisse der jeweiligen medizinischen Fachrichtung. Somit ist und bleibt die Beurteilung der Wirksamkeit einer medizinischen Intervention letztlich Sache der behandelnden Fachexperten. Statistisch bzw. epidemiologisch kompetentes nicht-medizinisches Personal kann den Bewertungsprozess an vielen Stellen unterstützen, aber niemals ohne medizinische Fachkompetenz komplett übernehmen. Bei der Darstellung der Bewertung diagnostischer und therapeutischer Studien in den → Kapiteln 2.3.5 und → 2.3.6 wird aus Gründen der Übersicht die Prüfung auf externe Validität im jeweiligen Unterkapitel Anwendbarkeit aufgeführt, obgleich einzelne Kriterien externer Validität simultan zur internen Validität geprüft werden können. ➤ Lesetipp-∣-Literatur und Website Buchberger, Barbara et al. (2014): Bewertung des Risikos für Bias in kontrollierten Studien. Bundesgesundheitsblatt 57: 1432-8. Im Internet unter: 🔗 https: / / link.springer.com/ content/ pdf/ 10.1007/ s00103-014-2065-6.pdf Evans, Imogen et al. (2013): Wo ist der Beweis? Plädoyer für eine Evidenzbasierte Medizin. Bern. Im Internet unter: 🔗 http: / / de.testingtreatments.org/ Hammer, Gaël et al. (2009): Vermeidung verzerrter Ergebnisse in Beobachtungsstudien. Deutsches Ärzteblatt 106(41): 664-8. Im Inter‐ net unter: 🔗 https: / / www.aerzteblatt.de/ pdf.asp? id=66222 Gigerenzer, Gerd (2009): Das Einmaleins der Skepsis: Über den richtigen Umgang mit Zahlen und Risiken. Berlin. 2.3 Evidence-based Medicine (EbM) 81 <?page no="82"?> 2.3.5 Bewertung diagnostischer Studien Die Bewertung diagnostischer Studien erfolgt grundsätzlich in drei Schritten: • Überprüfung der (internen) Validität der Studie • Überprüfung der Relevanz des Verfahrens • Überprüfung der Anwendbarkeit der Studienergebnisse (externe Validität) Zur Überprüfung medizinischer Studien wurden auf verschiedene Frage‐ stellungen ausgerichtete Bewertungsinstrumente entwickelt, die anhand konkreter Fragestellungen die Anwendung und Einhaltung wichtiger me‐ thodischer Grundsätze bei der Planung, Durchführung und Auswertung medizinischer Studien überprüfen. Für diagnostische Studien steht beispiels‐ weise die STARD-Checkliste oder eine Bewertungscheckliste des Centers of Evicence Based Medicine (CEBM) der Universität Oxford zur Verfügung. Elemente der CEBM-Checkliste sollen im Folgenden dargestellt werden. - 2.3.5.1 Interne Validität diagnostischer Studien Frage 1: Wurde das zu überprüfende Verfahren gegen den Goldstan‐ dard getestet? Um ein neues diagnostisches Testverfahren zu überprüfen, ist eine verlässliche Antwort darüber notwendig, ob das Testergebnis tatsächlich korrekt ist. Hierzu ist der Vergleich des neuen Testverfahrens mit dem derzeit bestverfügbaren Testverfahren (Goldstandard) notwendig. Sofern mehrere Testverfahren zur Identifikation einer Erkrankung existieren, sollte gegen das aussagekräftigste Verfahren getestet werden. Frage 2: Wurden alle Teilnehmenden mit beiden Verfahren getestet? Die Überprüfung des neuen Testverfahrens mittels Goldstandard muss unabhängig vom Ergebnis des neuen Testverfahrens durchgeführt werden. Würden beispielsweise Personen, deren Testergebnis im neuen Verfahren auf eine Krankheit hindeutet, gleichbehandelt und nicht mit dem Goldstan‐ dard untersucht, könnte nicht überprüft werden, ob die diagnostizierte Krankheit tatsächlich vorlag. Frage 3: War das Ergebnis des ersten Tests vor Durchführung des zweiten Tests bekannt? Die Interpretation von Testergebnissen ist häufig subjektiv. Während ein Laborgerät unabhängig von vorherigen Testergebnissen Messwerte ausgibt, 82 2 Methoden und Ansätze der Medizin <?page no="83"?> ist die Beurteilung eines Röntgenbildes oder eine klinische Untersuchung immer von der diagnostizierenden Person abhängig. Ist das Ergebnis des ersten durchgeführten Tests bekannt, so kann dies bewusst und/ oder un‐ bewusst Einfluss auf die Beurteilung des zweiten Tests nehmen. So wird die untersuchende Person bei einem negativen Testergebnis im ersten Test möglicherweise im zweiten Test weniger aufmerksam nach pathologischen Ergebnissen suchen, als wenn im ersten Testverfahren bereits ein eindeutig pathologischer Befund aufgetreten wäre. Frage 4: Haben sich die Tests wechselseitig beeinflusst? In einigen Fällen können sich die durchgeführten Testverfahren sogar gegenseitig beeinflussen. So gibt es zwei Testverfahren, die zur Beurteilung des Vorhandenseins von Prostatakrebs eingesetzt werden. Die Bestimmung eines Laborwertes im Blut, das sogenannte Prostata Spezifische Antigen (PSA) und die Abtastung der Prostata mittels eines Fingers (digitus (lat.) = Finger) durch den Enddarm (Rektum). Diese sogenannte digitale rektale Untersuchung führt aber durch Massage der Prostata dazu, dass PSA in hoher Konzentration ins Blut ausgeschieden wird und verfälscht daher für einige Tage den aus dem Blut bestimmbaren PSA-Wert. Daher ist die Reihenfolge bei der Diagnostik entscheidend: Erst muss die Blutabnahme zur Bestimmung des PSA-Wert erfolgen, dann die digitale rektale Unter‐ suchung. Ob eine solche wechselseitige Beeinflussung vorliegt, ist durch Fachexperten zu beurteilen. - 2.3.5.2 Relevanz diagnostischer Studien Die Relevanz diagnostischer Studien sollte nur überprüft werden, wenn die oben genannten Kriterien zur Validität in mindestens ausreichendem Maß erfüllt sind. Anders ausgedrückt bedeutet dies, dass die Ergebnisse einer methodisch mangelhaft geplanten Studie nicht vertrauenswürdig sind und daher auch nicht beachtet werden sollten. - Die diagnostische Vierfeldertafel Aus der Untersuchung der Patienten mit einem neuen, zu überprüfenden Testverfahren und dem Goldstandard sind vier mögliche Ergebniskonstella‐ tionen denkbar, die sich in der sogenannten Vierfeldertafel wie in →-Ta‐ 2.3 Evidence-based Medicine (EbM) 83 <?page no="84"?> belle 7 darstellen lassen. Die in → Tabelle 7 verwendeten Buchstaben A bis D werden für die Berechnung aller diagnostischen Maßzahlen verwendet. Im Zusammenhang mit diagnostischen Testverfahren bedeutet ein posi‐ tives Testergebnis, dass der Test den Patienten als krank in Bezug auf die zu untersuchende Krankheit definiert. Das Wort wird somit anders gebraucht als in der Umgangssprache, in der positive Ergebnisse allgemein mit etwas Gutem in Verbindung gebracht werden. Ein positiver HIV-Test hingegen ist beispielsweise genau das Gegenteil einer guten Nachricht. Die Art des Ergebnisses bestimmt sich aus der Frage, ob der Test richtig oder falsch liegt und dem Ergebnis des Tests. Ein Test, der falsch ist und ein positives Testergebnis ergibt, wird somit als falsch-positiv bezeichnet. Ein Patient würde somit unnötig beunruhigt oder sogar einer unnötigen bzw. falschen Therapie ausgesetzt. Ein falsch-negativer Befund hingegen würde unberechtigte Sicherheit vermitteln, der Patient würde im schlimms‐ ten Fall eine indizierte Therapie nicht erhalten. Die Konsequenzen falscher Testergebnisse sind jedoch immer von der Art und Schwere der Erkrankung abhängig. So ist ein falsch-negatives Testergebnis auf Fußpilz sicher anders zu werten als ein falsch-negatives Ergebnis bei Verdacht auf Herzinfarkt. B falsch-positiv A richtig-positiv D richtig-negativ C falsch-negativ an Zielkrankheit erkrankt („krank“) nicht an Zielkrankheit erkrankt („gesund“) positiv negativ neues Testverfahren Goldstandard Tabelle 7: Die diagnostische Vierfeldertafel Die erste wichtige Maßzahl, die sich aus den Messwerten bestimmen lässt, ist die sogenannte Vortestwahrscheinlichkeit, also die Wahrscheinlichkeit 84 2 Methoden und Ansätze der Medizin <?page no="85"?> erkrankt zu sein, bevor ein Testverfahren durchgeführt wird. Dieser Wert wird auch als Prävalenz der Erkrankung in der Studienpopulation bezeich‐ net. Er berechnet sich aus der Anzahl der Erkrankten mit der Formel: P rävalenz = alle an Zielkrankℎeit erkrankten Patienten- A + C alle Patienten- A + B + C + D Anhand der gewonnenen Messwerte lassen sich weiterhin die Testgütekri‐ terien Sensitivität und Spezifität messen. Die Sensitivität beschreibt den Anteil der an der Zielkrankheit erkrank‐ ten Menschen, die durch den Test auch tatsächlich als erkrankt erkannt werden, und lässt sich berechnen durch die Formel: Sensitivität = ricℎtig‐positiv getestete Personen- A alle an der Zielkrankℎeit Erkrankten- A + C Demgegenüber beschreibt die Spezifität den Anteil der bezogen auf die Zielkrankheit gesunden Patienten, die durch den Test auch tatsächlich als gesund erkannt werden, und wird mit der Formel ermittelt: Spezif ität = ricℎtig‐negativ getestete Personen- D alle bezogen auf die Zielkrankℎeit Gesunden- B + D Die Testgütekriterien beschreiben also das Maß, in dem erkrankte und nicht erkrankte Patienten erkannt werden, und sind zunächst unabhängig von der Prävalenz. - Prädiktive Werte Da bei Einführung des neuen Testverfahrens die Überprüfung mittels des zu Studienzwecken durchgeführten Goldstandard entfallen soll, helfen diese Messwerte nur bedingt weiter. Es sind daher weitere Parameter notwendig, die abhängig von dem ermittelten positiven oder negativen Testergebnis eine Vorhersage (Prädiktion) erlauben. Diese sogenannten prädiktiven Werte lassen sich ebenfalls mit Hilfe der Vierfeldertafel berechnen. 2.3 Evidence-based Medicine (EbM) 85 <?page no="86"?> Der positive prädiktive Wert (PPW) beschreibt, mit welcher Wahr‐ scheinlichkeit ein Patient bei positivem Testergebnis auch tatsächlich an der Zielkrankheit erkrankt ist. Er lässt sich wie folgt ermitteln: P P W = an Zielkrankℎeit erkrankte positiv getestete Patienten-(A) alle positiv gestesteten Patienten-(A + B) Ebenso kann im negativen prädiktiven Wert (NPW) die Wahrscheinlich‐ keit beschrieben werden, in der negativ getestete Patienten tatsächlich auch nicht an der Zielkrankheit erkrankt sind. Dies geschieht mit der Formel: N P W = an Zielkrankℎeit nicℎt erkrankte negativ getestete Patienten-(D) alle negativ getesteten Patienten-(C + D) Im Gegensatz zu Testgütekriterien werden die prädiktiven Werte von der Prävalenz in erheblichem Maße beeinflusst. Weitere allgemeine Rechenbeispiele, ein weiteres Fallbeispiel zur beson‐ deren Bedeutung der Prävalenz für die diagnostische Wertigkeit eines Testverfahrens und der Link zu einem Online-Rechner zur Ermittlung diagnostischer Messwerte anhand der Daten einer Vierfeldertafel finden sich als Zusatzmaterialien zum Buch unter 🔗 https: / / files.narr.digital/ 97838 25259853/ Zusatzmaterial.zip. 86 2 Methoden und Ansätze der Medizin <?page no="87"?> ➤ Beispiele-∣-Auf den Vorhersagewert kommt es an Die folgende → Abbildung 5 zeigt anhand eines Zahlenbeispiels, dass trotz vergleichsweise hoher Sensitivität und Spezifität ein positives Testergebnis nicht immer auch bedeutet, an der Zielkrankheit erkrankt zu sein. Im vorliegenden Beispiel haben nur 9 von 98 Patientinnen mit positivem Befund im Mammographie-Screening (Brustkrebsfrüher‐ kennung) tatsächlich auch Brustkrebs. Die Darstellung der natürlichen Häufigkeiten in den Kreisen hilft beim Verständnis der Gesundheitsin‐ formation wie in → Kapitel 4.2.3 genauer erläutert. 1000 10 990 9 1 89 901 in natürlichen Häufigkeiten Frauen mit Brustkrebs ohne Brustkrebs richtig positiv falsch negativ falsch positiv richtig negativ Referenzgruppe Erkrankung negativer Vorhersagewert: 901 (1+901) > 99 % positiver Vorhersagewert: 9 (9+89) = ca. 9 % Testergebnis Abbildung 5: Sensitivität versus positiver prädiktiver Wert am Beispiel der Brust‐ krebsfrüherkennung | Quelle: in Anlehnung an Schirren, C (2019) Deutsches Ärzte‐ blatt; 116(38): A-1642 / B-1355 / C-1330 2.3 Evidence-based Medicine (EbM) 87 <?page no="88"?> 2.3.5.3 Anwendbarkeit diagnostischer Testverfahren Frage 1: Wurde ein geeignetes Spektrum an Patienten in die Studie aufgenommen? Anhand der Beschreibung der Ein- und Ausschlusskriterien der Patienten und der in der Studie dargestellten Prävalenz kann auf die Übertragbarkeit der Studienergebnisse geschlossen werden. Wurde das Testverfahren an Patienten getestet, die nicht dem Patienten oder Patientenkollektiv entsprechen, für das die Frage beantwortet werden soll, sind die Ergebnisse nicht übertragbar. So kann beispielsweise bei einem Test, der ausschließlich an Erwachsenen mittleren und hohen Alters durchgeführt wurde, nicht automatisch darauf geschlossen werden, dass gleiche Testgütekriterien auch bei Säuglingen vorliegen. Frage 2: Ist die Prävalenz der Erkrankung in eigenem Kollektiv bekannt? Wie in den das Lehrbuch ergänzenden Beispielen gezeigt, ist die Aussagekraft eines diagnostischen Testverfahrens entscheidend von der Prävalenz abhängig. Je höher die Vortestwahrscheinlichkeit durch sorgfältige Auswahl der Patienten vor Durchführung eines Tests wird, desto aussagekräftiger ist das Testverfahren. Zur Einschätzung der Aussagekraft eines Tests im eigenen Umfeld ist es daher wichtig, die Prävalenz der Erkrankung im eigenen Patientenkollektiv wenigstens ungefähr abschätzen zu können. Frage 3: Ist der Test verfügbar/ bezahlbar und geeignet für die Bedürf‐ nisse? Die Anwendbarkeit eines Tests hängt in entscheidendem Maße von der Verfügbarkeit des diagnostischen Verfahrens ab. Dies bedeutet zum einen das Vorhandensein entsprechender Messgeräte (z.-B. eines Kernspintomographen), zum anderen aber auch das Vorhandensein entsprechender Expertise zur Beurteilung der Befunde (z.-B. nachts oder am Wochenende). Neben der reinen Verfügbarkeit spielen ökonomische Aspekte ebenfalls eine entscheidende Rolle, da in bestimmten Situationen die durch das Testverfahren entstehenden Kosten nicht bezahlt werden. Somit kann auch das zweit- oder drittbeste Verfahren zum Einsatz kommen, wenn die Verfügbarkeit eine Behandlung mit dem bestmöglichen Verfahren in der jeweiligen Situation nicht möglich ist. 88 2 Methoden und Ansätze der Medizin <?page no="89"?> Frage 4: Kann die Diagnose aufgrund des Ergebnisses gestellt oder ausgeschlossen werden? Diagnostische Testverfahren sollten durch hohe prädiktive Werte die Dia‐ gnose zuverlässig stellen oder ausschließen können. Hierbei können je nach Fragestellung (Bestätigung oder Ausschluss einer Diagnose) durchaus unter‐ schiedliche Testverfahren indiziert sein. Ebenfalls möglich ist die Situation, dass mehrere Tests im Zusammenspiel eine Diagnose ermöglichen, beispiels‐ weise bei Erkrankungen, die als Ausschlussdiagnose gestellt werden. Hat ein diagnostisches Verfahren jedoch keinerlei Konsequenz auf das Stellen oder den Ausschluss einer Diagnose, würde also unabhängig vom Testergebnis noch ein weiterer alleine entscheidender Test durchgeführt, dann wäre das erstgenannte diagnostische Verfahren nicht nur überflüssig, sondern dem Grundsatz „primum nil nocere“ folgend sogar kontraindiziert. Frage 5: Würde der Patient kooperieren? Da EbM die besten Forschungsergebnisse mit den eigenen Fertigkeiten und den Vorstellungen des Patienten integriert, ist die Kooperationsbereitschaft des Patienten ebenso von entscheidender Bedeutung. So wird eine Sicherheit von 95-% bezüglich des Testergebnisses nicht jeden Patienten zu gleichem Verhalten veranlassen. ➤ Beispiele-∣-Umgang mit Unsicherheit Ein Patient, der mit Brustschmerzen in eine Klinik eingewiesen wird, verlangt nach kurzer Zeit um Entlassung gegen ärztlichen Rat, obwohl die Wahrscheinlichkeit, dass tatsächlich kein Herzinfarkt vorliegt, noch unter 80-% liegt. Ein anderer Patient, der mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,89 % nicht an einer Zielkrankheit erkrankt ist, verweigert die stationäre Entlassung, „bis einhundertprozentig geklärt ist“, dass er nicht krank sei. 2.3 Evidence-based Medicine (EbM) 89 <?page no="90"?> ➤ Lesetipps-∣-Literatur und Websites Fallbeispiele und Link zum Online-Rechner für diagnostische Studien finden Sie online unter Zusatzmaterial direkt beim Buch: 🔗 https: / / files.narr.digital/ 9783825259853/ Zusatzmaterial.zip Kritische Bewertung diagnostischer Studien mittels Fragenkata‐ log des Center of Evidence Based Medicine (CEBM) der Universität Oxford. Im Internet unter: 🔗 http: / / www.cebm.net/ category/ ebm-resources/ STARD-Checkliste zur Bewertung diagnostischer Studien. Im Internet unter: 🔗 http: / / www.equator-network.org/ reporting-guidelines/ stard/ 2.3.6 Bewertung therapeutischer Studien Die Bewertung therapeutischer Studien erfolgt analog zum Vorgehen bei diagnostischen Studien in drei Schritten: • Überprüfung der (internen) Validität der Studie • Überprüfung der Relevanz des Verfahrens • Überprüfung der Anwendbarkeit der Studienergebnisse (externe Validi‐ tät) Ebenso wie für diagnostische Studien stehen für die Beurteilung therapeuti‐ scher Studien Bewertungsinstrumente zur Verfügung. Für randomisierte kontrollierte Studien wurde das CONSORT-Statement (Consolidated Standards of Reporting Trials) entwickelt, das Mindestanforderungen an die Berichterstattung randomisierter kontrollierter Studien definiert hat wie das in → Abbildung 6 dargestellte CONSORT-Flowchart zur anschaulichen und transparenten Angabe der Patientenzahlen während aller Phasen der Studie. 90 2 Methoden und Ansätze der Medizin <?page no="91"?> ausgeschlossen (n = ) Einschlussgründe nicht erfüllt (n = ) Teilnahme abgelehnt (n = ) andere Gründe (n = ) randomisiert (n = ) zur Behandlung zugeordnet (n = ) Beh. wie zugeordnet erhalten (n = ) Beh. nicht wie zugeordnet erhalten (Gründe: ) (n = ) Nachbeobachtung unvollständig (Gründe: ) (n = ) Behandlung abgebrochen (Gründe: ) (n = ) Daten analysiert (n = ) von Datenanalyse ausgeschlossen (Gründe: ) (n = ) Aufnahme Zuordnung Follow-up Datenanalyse zur Behandlung zugeordnet (n = ) Beh. wie zugeordnet erhalten (n = ) Beh. nicht wie zugeordnet erhalten (Gründe: ) (n = ) Nachbeobachtung unvollständig (Gründe: ) (n = ) Behandlung abgebrochen (Gründe: ) (n = ) Daten analysiert (n = ) von Datenanalyse ausgeschlossen (Gründe: ) (n = ) auf Studieneinschluss überprüfte Patienten (n = ) Abbildung 6: Das CONSORT-Flowchart Dieser Standard wiederum eignet sich auch als Grundlage für Prüfinstru‐ mente wie die Bewertungcheckliste des bereits oben erwähnten CEBM. - 2.3.6.1 Interne Validität therapeutischer Studien Frage 1: Erfolgte die Zuteilung der Patienten in einem angemessenen Randomisationsverfahren? Wie in → Kapitel 2.3.4.5 beschrieben, ist die Randomisation von Patienten das wirksamste Mittel zur Vermeidung des Einflusses von Confoundern. Voraussetzung ist jedoch, dass die Randomisation frei von Möglichkeiten der Einflussnahme geschieht. Daher sollte die Zuordnung künftiger Studienpa‐ tienten nicht bekannt sein, da sonst durch Nichtaufnahme von Patienten oder Verschiebung von Terminen zur Prüfung auf Eignung die Zuteilung in die Gruppen beeinflussbar wäre. Neben der Angabe, dass verdeckt randomi‐ siert wurde, sollten genauere Angaben zum Verfahren der Randomisation gemacht werden. 2.3 Evidence-based Medicine (EbM) 91 <?page no="92"?> Frage 2: Waren die Gruppen zu Behandlungsbeginn ähnlich genug hinsichtlich wichtiger Parameter? Sofern genügend Patienten in die Studie eingeschlossen werden konnten und die Randomisation funktioniert hat, sollten beide Behandlungsgruppen zu Beginn der Untersuchung hinsichtlich der als relevant bestimmten Merkmale miteinander vergleichbar sein. Dies sollte in der Studie durch Angabe der jeweiligen Gruppenzusammensetzung transparent dargestellt werden. Frage 3: Wurden die Gruppen, abgesehen von der zu prüfenden Intervention, jeweils gleich behandelt? Jede Behandlungsgruppe wird hinsichtlich der zu überprüfenden Inter‐ vention anders behandelt. Auch werden innerhalb einer Therapiegruppe nicht alle Patienten gleich behandelt. So erhalten einige der Patienten bei‐ spielsweise Medikamente zur Behandlung von Begleiterkrankungen. Wird einer gesamten Behandlungsgruppe, abgesehen von der zu untersuchenden Intervention, noch eine weitere Behandlung zuteil, dann kann bei einem Effektunterschied nicht unterschieden werden, ob eine Therapie wegen der zu untersuchenden Intervention, der Begleitintervention oder einer Kombination aus beidem dieses unterschiedliche Ergebnis erzielt hat. ➤ Beispiel-∣-Wirkung erkennbar, Ursache nicht Es werden zwei Kopfschmerztabletten miteinander verglichen. Die Patienten der Kontrollgruppe erhalten Medikament A, die Patienten der Gruppe mit dem zu überprüfenden neuen Verfahren erhalten Me‐ dikament B und hören zusätzlich entspannende Musik. Sofern nun B besser als A wirkt, kann es am Medikament B, an der Musik oder an der Kombination aus Medikament B und Musik liegen. Ein derartiger systematischer Fehler würde als Interventionsbias bezeichnet. Frage 4: Wurden die Patienten in den Gruppen ausgewertet, denen sie bei Randomisation zugeordnet waren? Die Patienten werden zu Beginn der Studie einer Behandlungsgruppe zugeteilt. Durch Fehler im Studienablauf oder durch eine notwendige Än‐ derung im Behandlungsablauf kann es vorkommen, dass Patienten eine andere als die geplante Therapie erhalten. Die Auswertung kann nun nach zwei Aspekten erfolgen. Bei der Per-Protocol-Analyse werden nur die 92 2 Methoden und Ansätze der Medizin <?page no="93"?> Patienten berücksichtigt, die auch die vorgesehene Therapie erhalten haben. Bei der Intention-To-Treat-Analyse hingegen werden alle Patienten, unabhängig davon, welche Therapie sie erhalten haben, in der Gruppe ausgewertet, in die sie randomisiert wurden. Dies ermöglicht zum einen die Aufrechterhaltung der Gruppenähnlichkeit nach Randomisation und gibt zum anderen ein realistisches Bild bei komplikationsbedingten Wechseln von Patienten in andere Behandlungsgruppen (Konversion). ➤ Beispiel-│-Umgang mit Komplikationen Ein neues minimalinvasives, roboterassistiertes Verfahren soll gegen die Standard-OP-Methode mit großen Schnitten verglichen werden. Bei einigen Patienten in der roboterassistierten Verfahrensgruppe kommt es zu Komplikationen, sodass während des Eingriffs auf die Standard-OP-Me‐ thode gewechselt werden muss. Werden diese Patienten nun ausgeschlossen oder gar der Standard-OP-Methode zugeteilt, wird das neue Verfahren verzerrt dargestellt, da die mutmaßlich gravierendsten Komplikationen bei der Per-Protocol-Analyse ausgeblendet werden. Frage 5: War die Quote der Studienabbrecher und Patienten mit un‐ vollständiger Nachbeobachtung akzeptabel und in beiden Gruppen ähnlich? Im Rahmen einer Studie gibt es immer wieder aus den verschiedensten Gründen Studienabbrecher oder Patienten, die nach einer Intervention entsprechende Nachbeobachtungstermine nicht mehr wahrnehmen. Dies ist grundsätzlich akzeptabel, da es hierfür insbesondere bei länger dauernden Studien oder Nachbeobachtungszeiten viele nachvollziehbare Gründe gibt. Die Aussagekraft einer Studie wird jedoch dann eingeschränkt, wenn relativ viele Patienten die Studie oder Nachbeobachtung abbrechen oder die Abbruchquote in einer Behandlungsgruppe deutlich höher ist als in der anderen. 2.3 Evidence-based Medicine (EbM) 93 <?page no="94"?> ➤ Beispiel-∣-Umgang mit Studienabbrechern Es werden die Medikamente C und D gegeneinander getestet. Nach Daten‐ analyse zeigen sich deutlich höherer Therapieerfolge nach Einnahme des Medikamentes C. In dieser Gruppe brachen allerdings 65 % aller Patienten aufgrund von massiven Nebenwirkungen die Studie ab, in Gruppe D hingegen nur 5 % aufgrund nicht behandlungsbedingter Ursachen. Somit kann keine Überlegenheit von Medikament C unterstellt werden. Frage 6: Waren die Teilnehmenden, Behandelnden und Auswerten‐ den sofern möglich verblindet? Ebenso wie bei der Zuteilung der Patienten zu einer Behandlungsgruppe können bewusste und unterbewusste Effekte bei der Behandlung von Pati‐ enten unter Studienbedingungen auftreten. Wird beispielsweise ein neues Medikament gegen ein Scheinmedikament (Placebo) getestet und ist dem Behandelnden bekannt, ob der Patient ein Scheinpräparat einnimmt, wird er den Patienten unbewusst anders behandeln als einen Patienten, der das neue Medikament erhält. Ebenso berichten Patienten trotz Einnahme eines Scheinmedikamentes in vielen Fällen von behandlungstypischen Wirkun‐ gen und/ oder Nebenwirkungen, was als Placebo-Effekt bezeichnet wird. Dieser Effekt wurde ebenfalls in anderen Behandlungssituationen wie der Schmerztherapie und sogar für chirurgische Eingriffe nachgewiesen. Daher ist es sinnvoll, sofern dies möglich ist, sowohl Patienten als auch Behandelnde als auch die Personen, die das Behandlungsergebnis auswer‐ ten, sofern möglich im Unklaren zu lassen, welcher Behandlungsgruppe der Patient angehört, um diesen Effekt nicht zu verfälschen. Dieses Vorgehen wird als Verblindung bezeichnet. ➤ Beispiele-∣-Verblindung und Placebo-Chirurgie Ein Patient wird zum Abschluss einer Studie hinsichtlich seiner Beweg‐ lichkeit in einem Gelenk untersucht. Zum Vergleich stehen eine Opera‐ tion und ein konservatives Therapieverfahren (Physiotherapie). Sieht der Untersuchende nun eine OP-Narbe, so beurteilt er die Beweglichkeit möglicherweise anders als bei einem Patienten ohne Narbe. Mögliche Lösung könnte ein großes Pflaster sein, das vor Beurteilung auf die Stelle der möglicherweise vorhandenen Operationsnarbe geklebt wird. 94 2 Methoden und Ansätze der Medizin <?page no="95"?> Bei Placebo-Chirurgie wurden Patienten in Narkose Hautschnitte gesetzt, so dass diese nach der Narkose nicht beurteilen konnten, ob sie wirklich operiert wurden oder nicht. Die Behandelnden sind in diesem Fall natürlich nicht zu verblinden, die Auswertenden hingegen schon, sofern sie keinen Einblick in die entsprechende Behandlungsdokumen‐ tation haben. Wird nur der Patient verblindet, handelt es sich um eine Einfachverblindung. Wissen Patient und Behandelnder nicht um die Zuteilung, wird von einer Doppelblindstudie gesprochen. Sind auch noch die Auswertenden der Studie verblindet, liegt eine dreifache Verblindung vor. Frage 7: Erfolgt die Auswertung der Studie anhand patientenrelevan‐ ter Endpunkte? Die Wirksamkeit eines therapeutischen Verfahrens kann anhand sehr ver‐ schiedener Messgrößen erfolgen. So kann der Effekt eines blutdrucksenk‐ enden Medikamentes anhand der erreichten Blutdrucksenkung ermittelt werden. Dieser Parameter sagt jedoch nichts über die daraus resultierenden Effekte aus, die tatsächlich relevant für den Patienten sind, nämlich Effekte auf Lebensqualität und Restlebenszeit. Solche Parameter werden auch als Surrogatparameter bezeichnet und sollten zur Beurteilung der Wirksam‐ keit eines Verfahrens durch patientenrelevante Endpunkte ersetzt werden. Frage 8: Liegen Informationen zur Finanzierung der Studie und zu möglichen Interessenkonflikten der Autoren vor und sind diese akzeptabel? Die Durchführung von Studien, insbesondere von randomisierten kon‐ trollierten Studien, ist mit hohem Aufwand verbunden und muss daher finanziert werden. Da der Nachweis der Wirksamkeit eines Verfahrens insbesondere im Bereich der Medikamentenzulassung aufgrund gesetzlicher Bestimmungen durch die Hersteller erforderlich ist, finden sich viele Stu‐ dien, die von den Produzenten des mutmaßlich wirksamen Medikamentes durchgeführt wurden. Dies ist nicht per se schlecht, jedoch liegt aufgrund der hohen finanziellen Auswirkungen bei Zulassung bzw. Nichtzulassung des Medikamentes ein Interessenkonflikt vor. Ebenso sind vermeintlich unabhängige Wissenschaftler nicht wirklich unabhängig, wenn sie direkt oder indirekt von der Firma finanziert werden, über deren Medikament eine Bewertung erstellt werden soll. Interessenkonflikte können auch ohne 2.3 Evidence-based Medicine (EbM) 95 <?page no="96"?> Einfluss der Produzenten durch Auftraggeber oder sogar unabhängig davon entstehen, z. B. da die Publikation „bahnbrechender“ bzw. positiver Studien‐ ergebnisse deutlich häufiger und prominenter erfolgt und damit die eigene wissenschaftliche Karriere begünstigt wird. Wichtig sind daher zunächst die transparente Offenlegung potenzieller Interessenskonflikte und geeignete Maßnahmen, um diese ggf. zu begrenzen. Hierzu zählen beispielsweise die Genehmigung des Studienprotokolls durch unabhängige Dritte und die öffentliche Registrierung der Studie vor Beginn, so dass Manipulationen z. B. an Endpunkten oder die Unterdrückung unliebsamer Studienergebnisse nicht mehr möglich sind. - 2.3.6.2 Relevanz therapeutischer Studien Bei einer vergleichenden Untersuchung zweier Therapieverfahren wird ein neues Verfahren (experimentelles Verfahren) mit einer etablierten The‐ rapie (Kontrollverfahren) verglichen. Die Behandlungsgruppe des neuen zu untersuchenden Verfahrens wird als Experimentalgruppe bezeichnet, die Behandlungsgruppe mit der etablierten Therapie als Kontrollgruppe. Durch direkten Vergleich der Misserfolgsraten beider Gruppen lässt sich nun das Ausmaß bestimmen, in dem sich durch Einführung der neuen Therapie das Risiko gegenüber der bisherigen Therapie verändert. Hierzu wird in der Kontrollgruppe die Rate der Patienten ermittelt, bei denen die durchgeführte Therapie nicht zum gewünschten Erfolg geführt hat bzw. der negativ formulierte Endpunkt erreicht wurde. Diese Patienten werden auch als Therapieversager bezeichnet. Die sogenannte Kontroll‐ ereignisrate (Control Event Rate = CER) berechnet sich wie folgt: CER = Anzaℎl Tℎerapieversager Kontrollgruppe Anzaℎl aller Patienten in der Kontrollgruppe In der Experimentalgruppe wird ebenfalls der Anteil der Patienten bestimmt, bei dem die Therapie nicht zum gewünschten Erfolg geführt hat, als Expe‐ rimentalereignisrate (Experimental Event Rate = EER) analog ermittelt mit der Formel: 96 2 Methoden und Ansätze der Medizin <?page no="97"?> 1 Gelegentlich wird diese Kennzahl auch als Number Needed to Treat to Benefit (NNTB) bezeichnet. EER = Anzaℎl Tℎerapieversager Experimentalgruppe Anzaℎl aller Patienten in der Experimentalgruppe Die Reduktion des Risikos für ein Therapieversagen durch Verwendung der neuen statt der alten Therapie kann durch Subtraktion der EER von der CER ermittelt werden und wird als absolute Risikoreduktion (Absolute Risk Reduction = ARR) bezeichnet: ARR = CER - EER Ist das Risiko des Therapieversagens in der Experimentalgruppe wider Erwarten größer als in der Kontrollgruppe, so wird die ermittelte Maßzahl nicht als absolute Risikoreduktion, sondern als absolute Risikoerhöhung (Absolute Risk Increase = ARI) bezeichnet. Das Ergebnis der absoluten Risikoreduktion bzw. Risikoerhöhung kann nochmals in Relation zum Ausgangsrisiko gesetzt werden, um beurteilen zu können, wie stark sich das Risiko relativ zur bisherigen Situation geändert hat. Dies wird als relative Risikoreduktion (Relative Risk Reduction = RRR) bzw. relative Risikoerhöhung (Relative Risk Increase = RRI) bezeichnet und folgendermaßen ermittelt: RRR = ARR CER Die Unterscheidung von ARR und RRR ist theoretisch vergleichsweise einfach möglich, praktisch jedoch mit Problemen behaftet. Ein Fallbeispiel zur Problematik der Verwendung von ARR und RRR findet sich online unter 🔗 https: / / files.narr.digital/ 9783825259853/ Zusatzmaterial.zip. Aus der ARR lässt sich eine Maßzahl berechnen, die vergleichsweise anschaulich darlegt, wie viele Patienten mit der neuen statt der alten Therapie behandelt werden müssen, um bei einem Patienten zusätzlich das Therapieversagen zu verhindern. Dies wird als sogenannte Number Needed to Treat (NNT) 1 bezeichnet und berechnet sich aus dem Kehrwert der ARR: NNT = 1/ ARR. Die auf diese Art und Weise gewonnene Zahl kann als Dezimalzahl mit Nachkommastellen dargestellt werden, praktisch bedeutet dies jedoch, dass die Zahl aufgerundet werden muss. 2.3 Evidence-based Medicine (EbM) 97 <?page no="98"?> 2 Gelegentlich wird diese Kennzahl auch als Number Needed to Treat to Harm (NNTH) bezeichnet. ➤ Beispiel-∣-NNT verstehen Ein neues Behandlungsverfahren hat gegenüber dem bisherigen Verfah‐ ren eine ARR von 8 % bezüglich des Endpunktes Tod. Daraus ergibt sich N N T = 1 0, 08 = 12, 5 Es müssten also 13 (nicht 12,5) Patienten mit dem neuen statt dem alten Verfahren behandelt werden, um einen Todesfall mehr zu verhindern. Im Fall einer absoluten Risikoerhöhung durch die neue Therapie (ARI) würde die so ermittelte Zahl als Number Needed to Harm (NNH) 2 bezeich‐ net. Allgemeine Rechenbeispiele finden sich als Zusatzmaterialien online unter 🔗 https: / / files.narr.digital/ 9783825259853/ Zusatzmaterial.zip. - 2.3.6.3 Anwendbarkeit therapeutischer Interventionen Frage 1: Wurde eine repräsentative Patientengruppe ausgewählt, sodass die Ergebnisse auf andere Patienten übertragbar sind? Anhand der Beschreibung der Ein- und Ausschlusskriterien der Pati‐ enten kann auf die Übertragbarkeit der Studienergebnisse geschlossen wer‐ den. Häufig werden randomisiert kontrollierte Studien an männlichen Pati‐ enten mittleren und hohen Alters ohne Begleiterkrankungen durchgeführt. Daher kann vielfach nicht auf die Wirksamkeit in anderen Patientengruppen geschlossen werden wie Kinder, Frauen (insbesondere Schwangere), ältere Menschen oder multimorbide Patienten, also Menschen mit vielen Begleit‐ erkrankungen. Frage 2: Erhielt die Kontrollgruppe die angemessene Vergleichsthe‐ rapie? Bei Bewertung der Wirksamkeit eines Therapieverfahrens durch verglei‐ chende Untersuchung kommen vier Möglichkeiten in Betracht: 1. Vergleich der Therapie mit der Unterlassensalternative 98 2 Methoden und Ansätze der Medizin <?page no="99"?> 2. Vergleich der Therapie mit Placebo (sofern möglich) 3. Vergleich der Therapie mit einer beliebigen Alternativtherapie 4. Vergleich der Therapie mit der derzeit bestverfügbaren Alternativthe‐ rapie Während bei einer Therapie ohne bisher bekannte Alternative Variante 1, bei medikamentöser Therapie i. d. R. Variante 2 zur Anwendung kommen sollte, so ist es ethisch nicht akzeptabel, Patienten in der Kontrollgruppe eine bekanntermaßen wirksame Therapie vorzuenthalten. Ebenso ist die Bewertung der Wirksamkeit der Studie nur dann sinnvoll möglich, wenn ein möglicher Zusatznutzen durch direkten Vergleich mit der bisher best‐ verfügbaren Therapie ermittelt werden kann. Frage 3: Ist das untersuchte Behandlungsziel relevant für den Pati‐ enten? Neben der Frage der in → Kapitel 2.3.6.1 besprochenen Surrogatpara‐ meter stellt sich zur Berücksichtigung der Vorstellungen des Patienten gemäß Grundkonzept der EbM die Frage, ob das Verfahren und seine mut‐ maßlichen Ziele auch den Wünschen des Patienten entsprechen. So kann eine effektivere, aber gleichzeitig aufwändigere oder belastende Therapie den Wünschen des Patienten entgegenstehen. Frage 4: Wiegt der Zusatznutzen mögliche Risiken auf? Sofern durch eine neue Therapie tatsächlich ein Zusatznutzen ermittelt wurde, muss diese natürlich nach den in den → Kapiteln 1.1 und → 1.3.4 dargelegten Grundsätzen kritisch einer Nutzen-Risiko-Bewertung unter‐ zogen werden. Dies ist insofern problematisch, da im Gegensatz zu langjäh‐ rigen etablierten Therapien innovative Verfahren häufig noch nicht lange oder intensiv genug untersucht werden konnten, um seltene Nebenwirkun‐ gen, Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten oder Langzeitfolgen abzuschätzen. Somit trägt jedes neue Therapieverfahren gewisse nicht vorhersehbare Risiken, die nur bei einem klaren Zusatznutzen in Kauf genommen werden sollten. ➤ Lesetipps-∣-Websites Fallbeispiele und Link zum Online-Rechner für therapeutische Studien finden Sie online unter Zusatzmaterial direkt beim Buch: 🔗 https: / / files.narr.digital/ 9783825259853/ Zusatzmaterial.zip 2.3 Evidence-based Medicine (EbM) 99 <?page no="100"?> Kritische Bewertung therapeutischer Studien mittels Fragenka‐ talog des Center of Evidence Based Medicine (CEBM) der Universität Oxford. Im Internet unter: 🔗 http: / / www.cebm.net/ category/ ebm-resources/ Website der CONSORT-Group mit Download-Möglichkeit des CON‐ SORT-Statements und der CONSORT-Checklist. Im Internet unter: 🔗 http: / / www.consort-statement.org/ Website des European Communication on Research Awareness Needs (ECRAN) Projektes mit deutschsprachigen Informationen und Zeichentrickfilm zu klinischen Studien. Im Internet unter: 🔗 http: / / www.ecranproject.eu/ de 2.3.7 Zusammenfassende Arbeiten - 2.3.7.1 Systematische Übersichtsarbeiten Neben der Darstellung wissenschaftlicher Ergebnisse in Einzelstudien ist für die praktische Arbeit eine zusammenfassende Darstellung der bisherigen Erkenntnisse von hoher Relevanz. So existiert zur gleichen Fragestellung möglicherweise eine Vielzahl von Studien, die gegebenenfalls zu unter‐ schiedlichen Ergebnissen kommen. Hierfür hat sich die Zusammenfassung der bisherigen Forschungsdaten mittels Systematischer Übersichtsarbei‐ ten etabliert. Systematische Übersichtsarbeiten basieren auf einer konkreten Fragestel‐ lung, die durch systematische Recherche der Weltliteratur anhand definier‐ ter Bewertungskriterien beantwortet werden soll. Sie verfolgen drei Ziele: • Zusammenfassung der gegenwärtig vorhandenen Publikationen zur Fragestellung • Analyse der Heterogenität von Studienergebnissen • Formulierung einer Handlungsempfehlung basierend auf den analysier‐ ten Daten Innerhalb einer Systematischen Übersichtsarbeit kann, sofern eine ausreichende Anzahl vergleichbarer Studien identifiziert und in die Analyse eingeschlossen 100 2 Methoden und Ansätze der Medizin <?page no="101"?> wurde, eine statistische Aufarbeitung der Ergebnisse zu einem Gesamtergebnis erfolgen. Dieses Vorgehen wird als Metaanalyse bezeichnet und fälschlicher‐ weise oft synonym zur Systematischen Übersichtsarbeit verwendet. Die Meta‐ analyse ist aber nur eine Teilmenge der Systematischen Übersichtsarbeit. So gibt es zahlreiche Systematische Übersichtsarbeiten ohne Metaanalyse aber keine Metaanalyse ohne Systematische Übersichtsarbeit. Die Durchführung einer Systematischen Übersichtsarbeit gliedert sich in die folgenden fünf Schritte: 1. Formulierung einer Forschungsfrage und Festlegung der Methodik der Systematischen Übersichtsarbeit 2. Suche nach relevanter Literatur und Einschluss von Studien gemäß festgelegter Methodik 3. Extraktion der Daten aller eingeschlossenen Studien 4. Beurteilung des Risikos für Bias aller eingeschlossenen Studien 5. Kombination, ggf. mittels statistischer Aufarbeitung und Interpretation, der eingeschlossenen Studien Sofern die Systematische Übersichtsarbeit sorgfältig geplant und durchge‐ führt wurde, stellt sie die zuverlässigste Quelle medizinischer Information dar. Durch unzureichende Planung oder systematische Fehler bei Einschluss der zu analysierenden Studien können jedoch ebenso falsche Schlüsse aus Systematischen Übersichtsarbeiten gezogen werden. Durch eine Inflation der Anzahl Systematischer Übersichtsarbeiten finden sich zudem mittler‐ weile viele Publikationen mit klinisch irrelevanten Fragestellungen und teilweise intransparenter Methodik. Die kritische Analyse einer Systema‐ tischen Übersichtsarbeit, z. B. mit dem Bewertungsinstrument PRISMA (Preferred Reporting Items for Systematic Reviews and Meta-Analyses), ist daher ebenso unverzichtbar wie bei Einzelstudien. Als ein Standard für Systematische Übersichtsarbeiten hat sich das Vorge‐ hen der Organisation Cochrane, früher bekannt als Cochrane Collaboration, etabliert. Cochrane ist ein unabhängiges, weltweit agierendes, gemeinnützig tätiges Netzwerk von über 31.000 Ärzten und Wissenschaftlern aus über 130 Ländern. Ziel von Cochrane ist die Erstellung, Verbreitung und Aktualisierung von Systematischen Übersichtsarbeiten, um diese als Entscheidungsbasis für Akteure im Gesundheitswesen nach dem Prinzip der EbM bereitzustellen. 2.3 Evidence-based Medicine (EbM) 101 <?page no="102"?> 2.3.7.2 Leitlinien Neben der Beantwortung einzelner medizinischer Fragestellungen haben sich Leitlinien in der Medizin etabliert. Die Erstellung medizinischer Leit‐ linien erfolgt vorwiegend durch medizinische Fachgesellschaften, die in Deutschland überwiegend in der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaft‐ lichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) organisiert sind. Die Definition der AWMF zu Leitlinien lautet wie folgt: „Die „Leitlinien“ der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften sind systematisch entwickelte Hilfen für Ärzte zur Entscheidungsfindung in spezifi‐ schen Situationen. Sie beruhen auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen und in der Praxis bewährten Verfahren und sorgen für mehr Sicherheit in der Medizin, sollen aber auch ökonomische Aspekte berücksichtigen. Die „Leitlinien“ sind für Ärzte rechtlich nicht bindend und haben daher weder haftungsbegründende noch haftungsbefreiende Wirkung.“ Leitlinien bilden somit einen Handlungskorridor ab, der anders als bei Richtlinien durchaus verlassen werden kann. Die Abweichung von einer Leitlinie sollte jedoch sinnvoll begründbar sein. Leitlinien ersetzen keines‐ falls die individuelle Einschätzung der Situation des Patienten und entbinden ebenso wenig von individueller Beratung des Patienten und dessen Einwil‐ ligung. Somit unterstützen Leitlinien die medizinische Entscheidungsfin‐ dung, schränken aber weder die Therapiefreiheit der Behandelnden, noch die Wahlfreiheit der Patienten ein, sich beispielsweise den in → Kapitel 2.7 dargestellten alternativmedizinischen Behandlungsformen zuzuwenden, solange die Behandlung gemäß Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes „nicht gegen die guten Sitten verstößt“. Die Erstellung von Leitlinien kann über verschiedene methodische An‐ sätze erfolgen, ausgedrückt durch folgende Klassifikation der AWMF nach Entwicklungsstufen: • S1-Leitlinie: durch informellen Konsens erarbeitet • S2k-Leitlinie: durch formalen Konsens erarbeitet • S2e-Leitlinie: durch formale Recherche nach Kriterien der EbM erarbeitet • S3-Leitlinie: Leitlinie mit allen Elementen einer systematischen Ent‐ wicklung Eine Sonderform der S3-Leitlinien stellen die Nationalen Versorgungs‐ leitlinien dar. Diese sollen insbesondere die Vernetzung medizinischer 102 2 Methoden und Ansätze der Medizin <?page no="103"?> Leistungen in integrierten, verschiedene Bereiche übergreifenden Versor‐ gungsformen berücksichtigen und Lösungen für Nahtstellen zwischen ver‐ schiedenen Sektoren, aber auch zwischen den verschiedenen beteiligten Dis‐ ziplinen und Gesundheitsberufen anbieten. Nationale Versorgungsleitlinien existieren bereits für die in den → Kapiteln 3.2 und → 3.7 beschriebenen Erkrankungen. Durch Ihren Einfluss auf die medizinische Behandlung haben Leitlinien in den letzten Jahren einen enormen Stellenwert erfahren, sind damit aber auch potentiell anfällig für Interessenkonflikte. Vor Übernahme einer Leitlinie in die Versorgung sollten daher analog zu PRISMA für systematische Über‐ sichtsarbeiten eine inhaltliche und eine methodische Bewertung erfolgen. Als international anerkanntes Bewertungsinstrument für Leitlinien hat sich AGREE II (Appraisal of Guidelines Research & Evaluation) etabliert. Zur Stärkung der internationalen Vernetzung und des Wissenstransfers zur Erstellung von Leitlinien wurde im Jahr 2002 das Guidelines Inter‐ national Network (G-I-N) gegründet. Es bestand im Jahr 2022 neben Individualmitgliedern aus 111 Organisationen verteilt auf 61 Länder auf allen Kontinenten. - 2.3.7.3 Health Technology Assessment (HTA) Die umfassende und nachhaltige Berücksichtigung medizinischer For‐ schungsergebnisse kann nur im Kontext der Organisationsstrukturen erfol‐ gen, in denen das Gesundheitswesen agiert. Aus diesem Grund wurde das sogenannte Health Technology Assessment (HTA) eingeführt, ein struk‐ turiertes Verfahren zur systematischen Bewertung medizinischer Interven‐ tionen und Organisationsstrukturen, in denen medizinische Leistungen erbracht werden. Neben medizinischen Kriterien wie Wirksamkeit und Sicherheit werden auch die Kosten des Verfahrens, unter Berücksichtigung sozialer, rechtlicher und ethischer Aspekte berücksichtigt. Das Ergebnis eines solchen Assessments wird in der Regel als HTA-Bericht veröffentlicht und soll als Entscheidungshilfe bei gesundheitspolitischen Fragestellungen dienen. In Deutschland sind mit der Erstellung von HTA-Berichten primär das Deutsche Institut für Dokumentation und Information (DIMDI), speziell die Deutsche Agentur für Health Technology Assessment (DAHTA@DIMDI), und das Institut für Qualität und Wirtschaftlich‐ keit im Gesundheitswesen (IQWiG) beauftragt. Das IQWiG erstellt und 2.3 Evidence-based Medicine (EbM) 103 <?page no="104"?> veröffentlicht gem. § 35b SGB V im Auftrag des Gemeinsamen Bundes‐ ausschusses (G-BA) Berichte als Entscheidungsgrundlage bei Antrag auf Aufnahme innovativer Medikamente in den Leistungskatalog der Gesetzli‐ chen Krankenversicherung. ➤ Lesetipps-∣-Websites Informationen zu Cochrane. Im Internet unter: 🔗 http: / / www.cochrane.org/ de/ about-us Website der AWMF mit Open Access Zugang zur größten deutschspra‐ chigen Leitliniendatenbank. Im Internet unter: 🔗 http: / / www.awmf.org Website der Initiative Nationale Versorgungsleitlinien (NVL) des Ärztlichen Zentrums für Qualität in der Medizin (ÄZQ). Im Internet unter: 🔗 http: / / www.leitlinien.de/ nvl/ Unterseite HTA des DIMDI mit Zugang zu einem HTA-Glossar. Im Internet unter: 🔗 http: / / htaglossary.net/ Homepage-de Informationen zu AGREE II. Im Internet unter: 🔗 https: / / www.agreetrust.org/ agree-ii/ Informationen zum Guidelines International Network (G-I-N). Im Internet unter: 🔗 https: / / g-i-n.net/ 2.4 Prävention und Gesundheitsförderung Die bisher dargestellten Ansätze medizinischer Versorgung haben sich nur auf die Behandlung bereits symptomatischer Krankheiten fokussiert. Damit ist ein wesentlicher Teil der medizinischen Versorgung jedoch noch nicht berücksichtigt, Maßnahmen der Prävention und der Förderung und Stärkung von Gesundheit, die seit Mitte des 20. Jahrhunderts zunehmend an Bedeutung gewonnen haben. 104 2 Methoden und Ansätze der Medizin <?page no="105"?> 2.4.1 Arten von Prävention Der Begriff Prävention, abgeleitet vom lateinischen Verb prävenire (zuvor‐ kommen), wird umgangssprachlich mit dem Wort Vorbeugung übersetzt, was problematisch ist, da der Begriff in der Fachsprache nicht nur für die Vorbeugung also Verhinderung von Krankheiten gebräuchlich ist. Nach Gerald Caplan werden seit 1964 folgende Arten von Prävention hinsichtlich ihrer zeitlichen Abfolge wie folgt unterschieden: • Primärprävention • Sekundärprävention • Tertiärprävention • Quartärprävention (1986 durch Marc Jamoulle ergänzt) Diese können in den in → Kapitel 1.3 beschriebenen Behandlungsablauf wie in →-Abbildung 7 dargestellt integriert werden. Primärprävention Symptom(e) Anamnese Diagnostik Diagnose Therapie Prognose Sekundärprävention Quartärprävention Tertiärprävention Abbildung 7: Behandlungsablauf mit Präventionsarten nach Caplan/ Jamoulle Außerdem werden folgende Begriffe verwendet: • Primordialprävention • Verhaltensprävention • Verhältnisprävention 2.4 Prävention und Gesundheitsförderung 105 <?page no="106"?> 2.4.1.1 Primärprävention Der Begriff Primärprävention beschreibt Maßnahmen, die darauf abzielen, das Entstehen von Krankheiten zu verhindern. Er stellt damit die Maßnah‐ men dar, die umgangssprachlich mit dem Begriff Vorbeugung am ehesten in Verbindung gebracht werden. Klassische Beispiele für primärpräventive Maßnahmen sind die in den → Kapiteln 1.2.1 und → 1.2.2 beschriebenen Maßnahmen der Händedesinfektion und der Impfungen. Weitere promi‐ nente Beispiele sind die Einnahme von Folsäure in den ersten Schwanger‐ schaftswochen zur Verhinderung bestimmter Rückenmarksfehlbildungen und eine gesunde Ernährung zur Vermeidung fehlernährungsbedingter Erkrankungen. - 2.4.1.2 Sekundärprävention Maßnahmen der Sekundärprävention zielen darauf ab, die Folgen einer bereits bestehenden Erkrankung durch frühzeitiges Erkennen und daraus abgeleitet frühzeitige Behandlung positiv zu beeinflussen. Die am häufigs‐ ten angewendete Form der Sekundärprävention ist das Screening. Scree‐ ning bedeutet in diesem Kontext die Anwendung einer oder mehrerer Untersuchungsverfahren an Patienten, die hinsichtlich der zu untersuchen‐ den Krankheit keinerlei Beschwerden aufweisen, also asymptomatisch sind. So werden alle Neugeborenen am dritten Tag nach ihrer Geburt auf verschiedene Stoffwechselerkrankungen hin untersucht, da beispielsweise bei frühzeitiger Entdeckung und Therapie der Stoffwechselkrankheit Phe‐ nylketonurie (PKU) durch rechtzeitige Therapie in Form einer speziellen Diät ein normales Leben ermöglicht werden kann, während nicht rechtzei‐ tig behandelte Kinder schwerste körperliche und geistige Behinderungen entwickeln würden. Ebenso werden für zahlreiche Krebserkrankungen Screening-Programme angeboten, die jedoch teilweise durch den Begriff „Krebsvorsorge“ den Eindruck erwecken, es könnte einer Krebserkrankung durch Teilnahme an diesem Programm vorgebeugt werden. Richtigerweise sollten solche Untersuchungen aber als „Krebsfrüherkennung“ bezeich‐ net werden, da durch die Teilnahme lediglich die Chance besteht, eine bereits existierende Krebserkrankung zu erkennen, bevor diese die ersten Krankheitssymptome hervorruft. Wie in → Kapitel 3.6 ausführlich erläutert, kann die Prognose bei einzelnen Krebserkrankungen erheblich vom Stadium der Erkrankung abhängig sein, eine frühere Entdeckung beispielsweise die 106 2 Methoden und Ansätze der Medizin <?page no="107"?> Heilungschancen deutlich erhöhen. Allerdings ergab die wissenschaftliche Überprüfung der Wirksamkeit einiger Krebsfrüherkennungsprogramme durchaus ernüchternde Ergebnisse, sodass die Teilnahme an einem Krebs‐ früherkennungsprogramm nicht pauschal empfohlen werden kann, sondern ggf. von anderen Faktoren, beispielsweise einer bekannten genetischen Vorbelastung, abhängig gemacht werden sollte. Auch zur Überprüfung von Screening-Programmen existieren Bewertungsinstrumente, beispielsweise die Kriterien des National Screening Committees (NSC) des Britischen National Health Service (NHS). Neben Screening können auch andere Interventionen als sekundärprä‐ ventive Maßnahmen angesehen werden. Das rechtzeitige Erkennen eines Herzinfarktes (→ Kapitel 3.4) oder eines Schlaganfalls (→ Kapitel 3.5) kön‐ nen ebenfalls die Prognose des Patienten in erheblichem Maß beeinflussen. - 2.4.1.3 Tertiärprävention Die Tertiärprävention beschreibt Maßnahmen, die einen Krankheitsverlauf günstig beeinflussen sollen, in dem sie die Verschlimmerung oder das Wie‐ derauftreten einer Erkrankung verhindern sollen. Klassisches Instrument der Tertiärprävention sind Maßnahmen der Rehabilitation eines Patienten. Das Wort Rehabilitation, abgeleitet von dem lateinischen Begriff rehabi‐ litatio (Wiederherstellung), beschreibt den Versuch, aber auch den Erfolg, eine Person in eine ehemalige Situation zurückzuversetzen. Hierbei kann grundsätzlich unterschieden werden in: • medizinische Rehabilitation Wiedererlangung des Gesundheitszustandes vor der Erkrankung, z. B. durch Anschlussheilbehandlung, Krankengymnastik, Logopädie etc. • berufliche Rehabilitation Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit und Wiedereingliederung in das Berufsleben, z. B. durch Anpassung des Arbeitsplatzes oder Umschulung • soziale Rehabilitation Wiedererlangung des Ansehens der Person, z. B. durch juristischen Freispruch oder Aufhebung eines Urteils aus der Vergangenheit Regelungen zur medizinischen und beruflichen Rehabilitation finden sich im → 9. Sozialgesetzbuch (SGB IX). Nach dem Grundsatz „Reha vor Rente“ sollen Wiedereingliederungsversuche Vorrang vor reinen Unterhaltsleis‐ tungen haben. 2.4 Prävention und Gesundheitsförderung 107 <?page no="108"?> 2.4.1.4 Quartärprävention Der Begriff der Quartärprävention ist je nach Fachgebiet unterschiedlich besetzt. In der Suchtmedizin werden Maßnahmen zur Verhinderung eines Rückfalls als Quartärprävention bezeichnet. Im Bereich der somatischen Medizin bedeutet der Begriff die Unterlassung unnötiger medizinischer Interventionen zur Vermeidung einer Überversorgung, die dem in → Kapi‐ tel 1.1.1 beschriebenen Grundsatz des primum nil nocere entgegenliefe. In diesem Zusammenhang wurde vom American Board of Internal Medicine (ABIM) im Jahr 2011 die Initiative „Choosing Wisely“ ins Leben gerufen, die unter anderem mit TOP-5-Listen unnötiger medizinischer Maßnahmen je nach Fachgebiet auf das Problem der Überversorgung aufmerksam macht. Die Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) hat eine entspre‐ chende Initiative in Deutschland im Jahr 2015 begonnen. - 2.4.1.5 Primordialprävention Als Primordialprävention werden Maßnahmen beschrieben, die gesell‐ schaftliche Risikofaktoren positiv beeinflussen. So ist der individuelle Verzicht auf Rauchen einerseits ein Instrument der Primärprävention, ein generelles Rauchverbot in öffentlichen Gebäuden, das auch die durch Pas‐ sivrauchen entstehenden Krankheiten verhindern soll, aber eine Maßnahme der Primordialprävention. Unter die Primordialprävention fielen auch zahlreiche Maßnahmen im Zuge der COVID-19-Pandemie wie beispielsweise das auf Primärpräven‐ tion abzielende verpflichtende Tragen von Mund-Nase-Bedeckungen in bestimmten Einrichtungen oder die sekundärpräventiv ausgerichtete ver‐ pflichtende Testung bestimmter Personen beispielsweise vor Besuch einer Gesundheitseinrichtung. - 2.4.1.6 Verhaltensprävention Der Begriff Verhaltensprävention beschreibt Maßnahmen, die auf das kon‐ krete Verhalten einzelner Personen abzielen und vor allem im Kontext der Betrieblichen Gesundheitsförderung verwendet werden. Hierunter fal‐ len beispielsweise Sicherheitsunterweisungen von Mitarbeitenden in bestimmte Tätigkeiten oder Bereiche, Beratungsangebote wie Schulungen 108 2 Methoden und Ansätze der Medizin <?page no="109"?> zu rückengerechtem Arbeiten oder Angebote zu gesundheitsbewusstem Verhalten wie Rauchentwöhnungsprogramme. - 2.4.1.7 Verhältnisprävention Die Verhältnisprävention beschreibt im Gegensatz zur vorher genannten Verhaltensprävention Maßnahmen, die auf die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen abzielen. Im Kontext der Betrieb‐ lichen Gesundheitsförderung werden hier Maßnahmen der gesundheitsge‐ rechten Gestaltung von Arbeitsplätzen und Arbeitsabläufen zur Vermeidung oder Verminderung des Risikos von Fehlbelastungen verstanden. ➤ Lesetipps-∣-Websites Bewertungskriterien für Screening-Programme des NSC. Im Internet unter: 🔗 https: / / www.gov.uk/ government/ publications/ evidence-review-criteria -national-screening-programmes/ criteria-for-appraising-the-viability-eff ectiveness-and-appropriateness-of-a-screening-programme Website der Choosing Wisely Initiative des ABIM. Im Internet unter: 🔗 http: / / www.choosingwisely.org/ Vorstellung des Grundkonzepts Choosing Wisely anhand eines Videos von James McCormack (sehens- und hörenswert! ). Im Internet unter: 🔗 https: / / www.youtube.com/ watch? v=FqQ-JuRDkl8 Informationsseite Arbeitsschutz des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Im Internet: 🔗 https: / / www.bmas.de/ DE/ Arbeit/ Arbeitsschutz/ arbeitsschutz.html 2.4.2 Gesundheitsförderung Während sich Prävention mit der Verhinderung von Krankheiten oder deren Folgen befasst, richtet das Konzept der Gesundheitsförderung seinen Blick auf die Frage, durch welche Ressourcen und Potenziale Gesundheit erhalten werden kann. Dies soll zum einen durch Verhaltensänderungen von Individuen und auch Gruppen, zum anderen durch Beeinflussung so‐ 2.4 Prävention und Gesundheitsförderung 109 <?page no="110"?> zialer, ökonomischer und ökologischer Rahmenbedingungen bewerkstelligt werden. - 2.4.2.1 Die Ottawa-Charta Das Konzept der Gesundheitsförderung wurde 1986 von der WHO auf der ersten internationalen Konferenz zur Gesundheitsförderung in Ottawa in der sogenannten Ottawa-Charta zusammengefasst. Sie beschreibt sowohl die Handlungsstrategien als auch die Handlungsfelder der Gesundheitsför‐ derung. Die Handlungsstrategien der Ottawa-Charta lauten: • anwaltschaftliches Eintreten für Gesundheit (advocate) durch Beeinflus‐ sung politischer, ökonomischer, sozialer, kultureller, biologischer sowie Umwelt- und Verhaltensfaktoren • Befähigung/ Empowerment (enable) durch Kontrolle über eigene Ge‐ sundheitsbelange, Gesundheitsbildung (health care literacy) und Zugang zu Informationen • Vermittlung und Vernetzung (mediate) durch Kooperation der Akteure innerhalb (Krankenhäuser, Arztpraxen etc.) und außerhalb (z. B. Arbeit‐ geber, Vereine) des Gesundheitswesens Die fünf vorrangigen Handlungsfelder zur Umsetzung dieser Strategie sind: • die Entwicklung einer gesundheitsfördernden Gesamtpolitik • die Schaffung gesundheitsfördernder Lebenswelten • die Durchführung gesundheitsbezogener Gemeinschaftsaktionen • die Entwicklung persönlicher Kompetenzen • die Neuorientierung der Gesundheitsdienste - 2.4.2.2 Salutogenese vs. Pathogenese Das Konzept der Gesundheitsförderung war mit dem bislang verwendeten Konzept der Pathogenese nicht kompatibel. Als Gegenpol zum pathogene‐ tischen Ansatz, der auf die Verhinderung oder Behandlung von Krankheiten zur Wiederherstellung von Gesundheit abzielt, prägte der Medizinsoziologe Aaron Antonowsky den Begriff der Salutogenese. Auslöser seiner Über‐ legungen waren Untersuchungen an Patientinnen, die während der Zeit 110 2 Methoden und Ansätze der Medizin <?page no="111"?> des Nationalsozialismus in Konzentrationslagern inhaftiert waren, zu einem erheblichen Teil aber Jahre später als körperlich und psychisch gesund eingestuft werden konnten. Antonowsky unterstellte die Existenz von ge‐ neralisierten Widerstandsressourcen, die Individuen zur Bewältigung belastender Situationen befähigen. Sein Konzept der Salutogenese fragt nicht, welche Faktoren Krankheit verhindern, sondern zielt auf die Frage ab, welche Faktoren durch Stärkung dieser Widerstandsressourcen Gesundheit entstehen lassen. Zentrales Element der Antwort Antonowskys auf die Frage nach stärken‐ den Faktoren für die Widerstandsfähigkeit eines Menschen ist das soge‐ nannte Kohärenzgefühl, das aus der subjektiven Wahrnehmung folgender drei Aspekten entsteht: • die Fähigkeit, Zusammenhänge des Lebens zu verstehen (Verstehbar‐ keit) • die Überzeugung, das eigene Leben gestalten zu können (Handhabbar‐ keit) • der Glaube, dass das Leben einen Sinn hat (Sinnhaftigkeit) Dies lässt sich anhand seiner Flussmethapher beschreiben: ➤ Wissen-∣-Rettungsschwimmer oder Schwimmlehrer? Antonowsky beschreibt das Leben als einen Fluss, in dem die Menschen schwimmen. Dieser Fluss fließt an einigen Stellen ruhig, hat an anderen Stellen jedoch auch Stromschnellen, Untiefen und ist verschmutzt. Der pathogenetisch orientierte Arzt wäre nach Antonowsky ein Ret‐ tungsschwimmer, der den Patienten an einer gefährlichen Stelle des Flusses versucht aus dem Wasser zu ziehen, um ihn vor dem Ertrinken zu retten. Der salutogenetisch orientierte Arzt hingegen wäre ein Schwimmlehrer, der versucht, den im Fluss schwimmenden Menschen zu einem guten Schwimmer auszubilden, der die im Leben nun einmal auftretenden Risiken und Unwägbarkeiten besser meistern kann. Die Fähigkeit, in diesem Fluss überhaupt schwimmen zu können, ist das Kohärenzgefühl. 2.4 Prävention und Gesundheitsförderung 111 <?page no="112"?> Während die Prävention somit eindeutig dem pathogenetischen Ansatz zuzurechnen ist, ist die Gesundheitsförderung salutogenetisch orientiert. Verwandt zu dem Konzept der Salutogenese ist der von Jack Block 1950 eingeführte und von Emmy Werner und Ruth Smith durch empirische Unter‐ suchungen geprägte Begriff der Resilienz. Dieser in vielen Branchen höchst unterschiedlich verwendete Begriff bezeichnet im Bereich der Psychologie und Medizin einen Zustand besonderer Widerstandsfähigkeit bei bestimm‐ ten Menschen gegenüber physischen oder psychischen Belastungen, die bei anderen Individuen zu einer Erkrankung führen würden. - 2.4.2.3 Der Setting-Ansatz Basierend auf der Strategie der Ottawa-Charta, Personen zur Kontrolle über eigene Gesundheitsbelange zu befähigen, verbunden mit den Zielen der Schaffung gesundheitsfördernder Lebenswelten und der Durchführung gesundheitsbezogener Gemeinschaftsaktionen, wurde der sogenannte Set‐ ting-Ansatz (gelegentlich auch als Lebenswelten-Ansatz bezeichnet) als zentraler Ansatzpunkt zur Etablierung gesundheitsfördernder Maßnahmen definiert. Dies findet im abschließenden Aufruf der Ottawa-Charta folgen‐ den Ausdruck: ➤ Wissen-∣-sich um sich selbst und andere sorgen Gesundheit wird von Menschen in ihrer alltäglichen Umwelt geschaffen und gelebt: dort, wo sie spielen, lernen, arbeiten und lieben. Gesundheit entsteht dadurch, dass man sich um sich selbst und für andere sorgt, dass man in die Lage versetzt ist, selber Entscheidungen zu fällen und eine Kontrolle über die eigenen Lebensumstände auszuüben sowie dadurch, dass die Gesellschaft, in der man lebt, Bedingungen herstellt, die all ihren Bürgern Gesundheit ermöglichen. Ein Setting ist ein Ort oder ein soziales Gefüge, in dem Gesundheit geschaf‐ fen und gelebt wird. Dieser Ansatz trägt der Erkenntnis Rechnung, dass Gesundheitsverhalten das Ergebnis sozialer Interaktion in einem gewissen Setting ist und somit Veränderungen in der Lebenswelt einen bedeutenden Einfluss auf das Individuum haben können. Die WHO hat verschiedene Setting-Konzepte entwickelt, beispielsweise für Schulen, Krankenhäuser 112 2 Methoden und Ansätze der Medizin <?page no="113"?> oder Städte. Der Setting-Ansatz ist ebenfalls Grundlage der Betrieblichen Gesundheitsförderung, da die Arbeitsstätte ebenfalls als Setting betrachtet werden kann und einen Einfluss auf das Gesundheitsverhalten der Men‐ schen hat. Ein wesentliches aus der Ottawa-Charta abgeleitetes Element des Setting-Ansatzes ist die Befähigung der Handelnden. Dies wird durch eine Kombination von Verhaltensprävention (siehe → Kapitel 2.4.1.6) und Verhältnisprävention (siehe → Kapitel 2.4.1.7), das Angebot der Beteiligung am gesamten Prozess (Partizipation) und die Vernetzung der Akteure inkl. des Erfahrungsaustausches erreicht und durch Schaffung gesundheitsför‐ dernder Strukturen nachhaltig verankert. Wichtige Akteure in Deutschland sind staatliche Institutionen auf Bun‐ des-, Landes- oder Kommunalebene (z.-B. Gesundheitsämter), Krankenkas‐ sen, Einrichtungen der Kinderbetreuung, Schulen, Hochschulen, Firmen, Selbsthilfeorganisationen oder auch Vereine. - 2.4.2.4 Betriebliche Gesundheitsförderung (BGF) Im Rahmen des Settings Arbeitswelt existiert eine Vielzahl an gesetzlich vorgeschriebenen und freiwillig einführbaren Elementen zur Gestaltung des Arbeitsplatzes und der Arbeitsumgebung. Dies sind: • der Arbeits- und Gesundheitsschutz (Betrieblicher Gesundheitsschutz) • die Betriebliche Gesundheitsförderung (BGF) • die Personal- und Unternehmensentwicklung Der seit vielen Jahren gesetzlich eingeforderte und verbindlich geregelte Arbeits- und Gesundheitsschutz soll die arbeitsbedingten Gefahren von Mitarbeitenden, wie Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten, durch vorge‐ schriebene Instrumente reduzieren. Hierzu zählen insbesondere verhaltens- und verhältnispräventive Maßnahmen wie: • arbeitsmedizinische Pflicht- und Angebotsuntersuchungen durch den Betriebsmedizinischen Dienst des Arbeitgebers • Arbeitsplatzbegehungen durch den Betriebsmedizinischen Dienst und/ oder Fachkräfte für Arbeitssicherheit • Gefährdungsbeurteilungen für Arbeitsplätze und Tätigkeiten mit nach‐ folgend abgeleiteten Präventionsmaßnahmen Die Betriebliche Gesundheitsförderung (BGF) bezeichnet eine Hand‐ lungsstrategie, die darauf abzielt, Gesundheitsressourcen in einem Betrieb 2.4 Prävention und Gesundheitsförderung 113 <?page no="114"?> aufzubauen. Grundlage der BGF ist in der EU die „Luxemburger Deklaration zur betrieblichen Gesundheitsförderung in der Europäischen Union“ aus dem Jahr 1997. Sie definiert BGF wie folgt: ➤ Wissen-∣-Gesundheit und Wohlbefinden am Arbeitsplatz Betriebliche Gesundheitsförderung (BGF) umfasst alle gemeinsamen Maßnahmen von Arbeitgebern, Arbeitnehmern und Gesellschaft zur Verbesserung von Gesundheit und Wohlbefinden am Arbeitsplatz. Dies kann durch eine Verknüpfung folgender Ansätze erreicht werden: • Verbesserung der Arbeitsorganisation und der Arbeitsbedingungen • Förderung einer aktiven Mitarbeiterbeteiligung • Stärkung persönlicher Kompetenzen Beispiele für Maßnahmen der Betrieblichen Gesundheitsförderung können je nach Setting sein: • Verbesserung der Arbeitsorganisation, z. B. durch Flexibilisierung der Arbeitszeiten • Verbesserung der Arbeitsumgebung, z. B. durch Bereitstellung gesunder Kantinenkost • Motivation der Beschäftigten zur Teilnahme an gesundheitsfördernden Aktivitäten, z.-B. aktive Mittagspause mit Bewegungsangebot • Anregung persönlicher Entwicklung, z. B. durch Teilnahme an Rauch‐ entwöhnung oder Stressbewältigungsseminar Wie an den oben genannten Beispielen deutlich wird, besteht bei Maß‐ nahmen der Betrieblichen Gesundheitsförderung eine hohe Schnittmenge mit Maßnahmen der Personal- und Unternehmensentwicklung. Beide Handlungsfelder wiederum erfordern eine auf Vertrauen und Wertschät‐ zung basierende Unternehmenskultur, um Wirkung entfalten zu können. - 2.4.2.5 Betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) Betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) beschreibt den systemischen Managementansatz, alle Aktivitäten, die das Wohlbefinden der Mitarbei‐ tenden erhalten und fördern, in die Unternehmensstruktur zu integrieren 114 2 Methoden und Ansätze der Medizin <?page no="115"?> und Gesundheitsförderung zu einer Führungsaufgabe auszubauen. BGM beinhaltet somit Elemente des Arbeits- und Gesundheitsschutzes, der Be‐ trieblichen Gesundheitsförderung und der Arbeitsorganisation, aber auch Elemente der systematischen Überprüfung der Wirksamkeit und Wirt‐ schaftlichkeit, z. B. durch Integration des Fehlzeitenmanagements und des Betrieblichen Eingliederungsmanagements zum Wohl und zur Zufrieden‐ heit der Mitarbeiter und des Unternehmens. Die wesentlichen Gründe, ein BGM als strategische Führungsaufgabe in ein Unternehmen zu integrieren, liegen im Wesentlichen in folgenden Herausforderungen, die sich teilweise in den kommenden Jahren noch verschärfen: • Fachkräftemangel • demographischer Wandel • veränderte Arbeitsbedingungen durch Globalisierung und Digitalisie‐ rung • veränderte Anspruchshaltung von Arbeitnehmern Durch die derzeit in vielen Bereichen gute wirtschaftliche Situation herrscht in zahlreichen Berufen, nicht zuletzt im Gesundheitswesen, ein Fachkräf‐ temangel. BGM kann somit einen Beitrag zur Bindung vorhandenen Perso‐ nals leisten, da sowohl vorübergehende als auch dauerhafte Arbeitsausfälle den teilweise bestehenden Fachkräftemangel noch verschärfen. Durch den demographischen Wandel steigt in vielen Bereichen das durchschnittliche Alter der Erwerbstätigen an. Durch Einsatz eines BGM kann insbesondere bei den älteren Erwerbstätigen die Leistungsfähigkeit erhalten werden. Die Arbeitsbedingungen haben sich unter anderem durch Globalisie‐ rung und Digitalisierung in den letzten Jahren radikal verändert. Dies verlangt in immer komplexeren Arbeitsumgebungen zunehmend Flexibili‐ tät und kontinuierliche Lernbereitschaft von Arbeitnehmern. Diesen Ver‐ änderungen muss durch strukturierte Maßnahmen begegnet werden, um steigende Belastungen ausgleichen zu können. Gleichzeitig zu steigenden Anforderungen der Arbeitswelt an Arbeitneh‐ mer haben sich umgekehrt auch deren Ansprüche deutlich erhöht. Während die Loyalität zu Unternehmen im Vergleich zu früheren Generationen sinkt, bekommen Aspekte wie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die Work-Life-Balance und der Anspruch an ein positives Betriebsklima einen deutlich höheren Stellenwert eingeräumt. Ein BGM kann somit, insbeson‐ 2.4 Prävention und Gesundheitsförderung 115 <?page no="116"?> dere bei Fachkräftemangel, als Differenzierungsmerkmal im Wettbewerb um die besten Arbeitskräfte eingesetzt werden. ➤ Lesetipps-∣-Websites Autorisierte deutsche Übersetzung der Ottawa-Charta der WHO. Im Internet unter: 🔗 http: / / www.euro.who.int/ __data/ assets/ pdf_file/ 0006/ 129534/ Ottawa_ Charter_G.pdf ? ua=1 Luxemburger Deklaration zur betrieblichen Gesundheitsförde‐ rung in der Europäischen Union. Im Internet unter: 🔗 https: / / www.dnbgf.de/ materialien/ veroeffentlichung/ news/ luxemburg er-deklaration-zur-betrieblichen-gesundheitsfoerderung/ 2.5 Disease-Management-Programme (DMP) Disease-Management-Programme (DMP) haben ihren Ursprung in den USA und bezeichnen strukturierte Behandlungsprogramme für Patienten mit chronischen Erkrankungen nach den Grundsätzen der EbM. Nach Definition der Disease Management Association of America (DMAA) ist ein DMP „ein System koordinierter Gesundheitsversorgungsmaßnahmen und Informationen für Patientenpopulationen mit Krankheitsbildern, bei denen eine aktive Beteiligung der Patienten an der Behandlung zu substanziellen Effekten führen kann.“ Disease-Management-Programme sollen nach dieser Definition die Arzt-Patienten-Beziehung unterstützen und die Wichtigkeit der Verhinde‐ rung von Krankheitsverschlechterungen und Komplikationen betonen. Dies soll durch die Verwendung evidenzbasierter Behandlungsleitlinien und Strategien zum Empowerment der Patienten erfolgen. Im Rahmen der Durchführung von DMPs sollen die klinischen, humanitären und ökonomi‐ schen Behandlungsergebnisse mit dem Ziel der Gesamtverbesserung der Gesundheitslage fortlaufend überprüft werden. 116 2 Methoden und Ansätze der Medizin <?page no="117"?> 2.5.1 Gründe für die Einführung von DMPs Ein hoher Anteil der Patienten im deutschen Gesundheitssystem leidet an chronischen Erkrankungen. Da das Gesundheitssystem primär auf eine Akutversorgung ausgerichtet war und langzeitpräventive Maßnahmen sowie intersektorale Kooperation bei der Behandlung von Patienten keinen ausreichenden Stellenwert erhielten, kam es einerseits häufig zur deutlichen Verschlimmerung (Exazerbationen) chronischer Erkrankungen einherge‐ hend mit vermeidbaren medizinischen Komplikationen. Andererseits führ‐ ten diese Exazerbationen auch zu immensen Kostensteigerungen durch ineffiziente Nutzung vorhandener Ressourcen. Ziele der Einführung von DMPs in Deutschland waren somit eine optimierte Langzeitversorgung chronisch kranker Menschen bei gleichzeitiger Optimierung des Ressource‐ neinsatzes. Dies sollte im Wesentlichen gelingen durch: • spezielle Berücksichtigung langzeitpräventiver Effekte • Empowerment des Patienten durch umfassende Information über seine Erkrankung • gut abgestimmte Behandlung der verschiedenen Akteure (z. B. Hausarzt, Facharzt, Krankenhäuser, Reha-Einrichtungen) • explizite Berücksichtigung evidenzbasierter medizinischer Leitlinien Möglichkeiten der optimierten Behandlung chronisch kranker Menschen bestehen beispielsweise durch den Einsatz von: • Informationsbroschüren über die Erkrankung • telefonische Beratungsangebote der Krankenversicherungen • Erinnerungssysteme (Reminder) an notwendige Arztbesuche • Patientenschulungen zum besseren Umgang mit der eigenen Erkran‐ kung 2.5.2 Voraussetzungen zur Etablierung eines DMPs Die Einführung von DMP wurde im Jahr 2001 durch das Gesetz zur Reform des Risikostrukturausgleichs in der gesetzlichen Krankenversicherung ermöglicht. Somit konnten DMPs im Rahmen der Versorgung von Patienten der Gesetzlichen Krankenversicherung mittels des zwischen den Kranken‐ kassen stattfindenden Risikostrukturausgleichs (RSA) berücksichtigt werden. Neben diesen RSA-DMPs ist auch die Entwicklung freier DMPs, 2.5 Disease-Management-Programme (DMP) 117 <?page no="118"?> beispielsweise für privat versicherte Patienten, möglich, hat aber bislang im Gesundheitswesen keinen derartigen Stellenwert wie RSA-DMPs. Durch Kopplung der DMPs an den sogenannten Risikostrukturausgleich wurden Krankenkassen als Initiatoren von DMPs durch einen erheblichen finanzi‐ ellen Anreiz dazu motiviert, mit den zuständigen Kassenärztlichen Vereini‐ gungen unter Prüfung durch das hierfür erweiterte Bundesversicherungs‐ amt Verträge zu DMPs abzuschließen. Aufgrund der föderalen Struktur des Gesundheitssystems bedeutete dies allerdings für Krankenkassen, ggf. mit allen 17 Kassenärztlichen Vereinigungen separate Verträge abzuschlie‐ ßen. Nach Abschluss eines Vertrages zwischen einer Krankenkasse und der Kassenärztlichen Vereinigung im Geltungsbereich des niedergelassenen Arztes kann dieser Arzt Patienten in das genehmigte DMP aufnehmen. Da sowohl die Aufnahme durch den behandelnden Arzt als auch die Erklärung der Teilnahme auf freiwilliger Basis geschehen, wurde die DMP-Teilnahme für Behandelnde und Patienten ebenfalls finanziell bzw. durch Bonuspro‐ gramme mit den in →-Kapitel 2.5.1 genannten Möglichkeiten unterstützt. Um die in → Kapitel 2.5.1 genannten Ziele zu erreichen, bedurfte es hinsichtlich der Auswahl der geeigneten Erkrankungen und der adminis‐ trativen Rahmenbedingungen gewisser Voraussetzungen, die im Folgenden beschrieben werden. - 2.5.2.1 Administrative Voraussetzungen Die Anforderungen an DMPs beinhalten nach § 137f Abs. 2 SGB V folgende Aspekte: 1. Behandlung nach dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft unter Berücksichtigung von evidenzbasierten Leitlinien oder nach der jeweils besten, verfügbaren Evidenz sowie unter Berücksichtigung des jeweiligen Versorgungssektors, 2. durchzuführende Qualitätssicherungsmaßnahmen unter Berücksichti‐ gung der Ergebnisse nach § 137a Absatz 3 SGB V, 3. Voraussetzungen für die Einschreibung des Versicherten in ein Pro‐ gramm, 4. Schulungen der Leistungserbringer und der Versicherten, 5. Dokumentation einschließlich der für die Durchführung der Programme erforderlichen personenbezogenen Daten und deren Aufbewahrungsf‐ risten, 118 2 Methoden und Ansätze der Medizin <?page no="119"?> 6. Bewertung der Auswirkungen der Versorgung in den Programmen (Evaluation). Seit 1. Januar 2012 erlässt der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) die für jedes RSA-DMP der Gesetzlichen Krankenkassen erforderlichen Richtlinien. - 2.5.2.2 Medizinische Voraussetzungen Die medizinischen Voraussetzungen zur Auswahl einer Erkrankung für die Erstellung von DMP ist in § 137f Abs. 1 SGB V geregelt. Demnach sollen bei der Auswahl von Erkrankungen folgende Kriterien berücksichtigt werden: 1. Zahl der von der Krankheit betroffenen Versicherten, 2. Möglichkeiten zur Verbesserung der Qualität der Versorgung, 3. Verfügbarkeit von evidenzbasierten Leitlinien, 4. sektorenübergreifender Behandlungsbedarf, 5. Beeinflussbarkeit des Krankheitsverlaufs durch Eigeninitiative des Ver‐ sicherten und 6. hoher finanzieller Aufwand der Behandlung. Somit wurde bei der Auswahl geeigneter Erkrankungen auf chronische Erkrankungen mit hoher Prävalenz fokussiert, in denen zum einen ein hohes Optimierungspotenzial durch Empowerment vermutet wurde und zum anderen ein intersektoraler Behandlungsbedarf, der beispielsweise entsteht, wenn ein beim Hausarzt in Behandlung befindlicher Patient aufgrund einer Komplikation der Erkrankung sich in stationäre Behandlung begeben muss. DMPs sollen hier insbesondere den über die Krankenkassen organi‐ sierten Informationsaustausch unter den Beteiligten gewährleisten, da im üblichen Behandlungsablauf ein Hausarzt die stationäre Einweisung des Patienten nicht regelhaft, sondern allenfalls zufällig oder auf Initiative des Patienten erfährt. 2.5.3 Bisher eingeführte DMPs in Deutschland Aktuell gibt es für folgende Indikationen DMP: • Brustkrebs (seit Juli 2002) • Diabetes mellitus Typ 2 (seit Juli 2002) • Koronare Herzkrankheit (KHK) (seit Mai 2003) 2.5 Disease-Management-Programme (DMP) 119 <?page no="120"?> • Diabetes mellitus Typ 1 (seit März 2004) • Chronisch obstruktive Atemwegserkrankungen (COPD) (seit Januar 2005) • Asthma bronchiale (seit Januar 2005) Während nahezu alle DMPs die Behandlung chronisch kranker Erwachsener betreffen, gibt es für das DMP Asthma bronchiale auch eine Version zur Versorgung von Kindern, da Asthma bronchiale, wie in → Kapitel 3.7 beschrieben, die häufigste chronische Erkrankung im Kindesalter mit einer Prävalenz von ca. 10-% darstellt. Die Einführung weiterer DMPs zu folgenden Indikationen ist derzeit in Planung. Für folgende Erkrankungen sind inhaltliche Anforderungen und Dokumentationsvorgaben in der DMP-Anforderungen-Richtlinie geregelt worden: • Chronischer Rückenschmerz • Osteoporose • Chronische Herzinsuffizienz • Depressionen • Rheumatoide Arthritis 2.5.4 DMPs - ein Erfolgsmodell? Die Einführung der DMPs war sowohl mit hohen administrativen Anlauf‐ schwierigkeiten als auch mit methodischen Schwächen verbunden. So war der bürokratische Aufwand durch Zwischenschaltung des Bundesversiche‐ rungsamtes und eine papierbasierte Dokumentation, die erst 2005 durch eine teilweise elektronische Datenübermittlung abgelöst wurde, immens. Gleichzeitig wurde die Ausgangslage der Versorgung vor DMP-Einführung offenbar unzureichend evaluiert, was die Bewertung von DMPs erschwert bzw. die Aussagekraft der Evaluation stark einschränkt. Durch die föderalen Strukturen und Einzelprogramme der Krankenkassen kamen für eine Indi‐ kation unterschiedliche Verträge zustande, die von behandelnden Ärzten in Abhängigkeit der zugehörigen Krankenkasse des Patienten berücksich‐ tigt werden müssen. So gab es im Jahr 2011 nahezu 11.000 verschiedene DMP-Verträge, zum Jahresende 2017 waren 6,6 Millionen Patienten in einem oder mehreren DMPs, wie in →-Tabelle 8 angegeben, eingeschrieben. 120 2 Methoden und Ansätze der Medizin <?page no="121"?> Indikation Zulassungen* Teilnahme am DMP Versicherte, die ei‐ nem (oder mehre‐ ren) DMP einge‐ schrieben sind Asthma bronchiale 1.497 1.075.293 - Brustkrebs 1.441 172.319 - COPD 1.504 714.832 - Diabetes mellitus Typ 1 1.481 259.153 - Diabetes mellitus Typ 2 1.530 4.406.309 - KHK 1.491 1.880.478 - insgesamt 8.944 8.508.384 7.213.316 * Anzahl der teilnehmenden Krankenkassen x Anzahl der teilnehmenden Regio‐ nen (max. 17) Tabelle 8: Teilnehmende an DMPs, Stand: 31.12.2022 | Quelle: Bundessamt für Soziale Sicherung Positive Effekte nach Einführung eines DMP haben eine deutliche zeitliche Verzögerung, da zum einen bislang wenige systematische Untersuchungen vorliegen, zum anderen positive Effekte in der Langzeitversorgung erst nach einiger Zeit und nicht unmittelbar nach Einschreibung in das DMP vorliegen. Bezüglich der Indikation Diabetes mellitus Typ 2 liegen jedoch Untersuchungen wie die ELSID-Studie vor. Im Rahmen der dreijährigen Studie, die am 1. Januar 2006 startete, wurden 2.300 in ein DMP eingeschlos‐ sene Patienten mit 8.779 Patienten ohne DMP-Teilnahme beobachtet. Die Gesamtsterblichkeit in der DMP-Gruppe war mit 8,87 % deutlich geringer als in der Nicht-DMP-Gruppe mit 14,99 %. Da es sich um eine beobachtende Untersuchung ohne Zuteilung der Patienten in Behandlungsgruppen han‐ delt, kann ein kausaler Zusammenhang nicht sicher angenommen werden. Ein möglicher Confounder besteht in dem potenziell grundsätzlich unter‐ schiedlichen Gesundheitsverhalten, da allen Patienten die DMP-Teilnahme zum Zeitpunkt des Studienbeginns möglich gewesen wäre und Patienten‐ gruppen mit hoher Compliance und Gesundheitsbildung überproportional häufig an DMPs teilgenommen haben könnten. Dennoch sind die Zahlen im Sinn einer Hypothesenbildung für dieses Krankheitsbild ermutigend. Im Qualitätssicherungsbericht der KV Nordrhein wird für die Teilnehmer an 2.5 Disease-Management-Programme (DMP) 121 <?page no="122"?> DMPs in der gleichen Indikation im Zeitraum 2003-2013 ebenfalls ein deutli‐ cher Rückgang von Folgekomplikationen wie Amputationen, Erblindungen oder Nierenfunktionsausfall mit Notwendigkeit eines Nierenersatzverfah‐ rens (Dialyse) beschrieben. Evaluationen wie die ELSID-Studie und andere Untersuchungen zeigen zudem einen moderaten bis deutlichen Rückgang der Behandlungskosten, im Wesentlichen verursacht durch die Reduktion stationärer Aufnahmen, und eine höhere Rate leitlinienkonformer Be‐ handlungen. Bei aller Kritik an der Art der Einführung dieses Instrumentes, geben die bisherigen Evaluationsdaten somit einen verhaltenen aber positi‐ ven Ausblick. ➤ Lesetipps-∣-Websites Themenseite des Bundesamts für Soziale Sicherung zu DMPs. Im Internet unter: 🔗 https: / / www.bundesamtsozialesicherung.de/ de/ themen/ disease-mana gement-programme/ ueberblick/ Themenseite des Gemeinsamen Bundesausschusses zu seinen Auf‐ gaben im Rahmen der Erstellung neuer DMPs mit entsprechen‐ den Rechtsgrundlagen und Entscheidungen. Im Internet unter: 🔗 https: / / www.g-ba.de/ institution/ themenschwerpunkte/ dmp/ Abschlussbericht der ELSID-Studie der Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung des Universitätsklinikums Heidelberg. Im Internet unter: 🔗 http: / / www.aok-gesundheitspartner.de/ imperia/ md/ gpp/ bund/ dmp/ ev aluation/ elsid/ dmp_elsid_abschlussbericht_2012.pdf Qualitätssicherungsbericht 2013 der KV Nordrhein. Im Internet unter: 🔗 https: / / www.kvno.de/ downloads/ quali/ qualbe_dmp13.pdf 2.6 Palliativmedizin/ Palliative Care Der Begriff Palliativmedizin leitet sich vom lateinischen Wort pallium (Mantel) bzw. palliare (mit einem Mantel umhüllen) ab und bedeutet in der Medizin eine auf Linderung der Beschwerden ausgerichtete Behand‐ 122 2 Methoden und Ansätze der Medizin <?page no="123"?> lung lebensbedrohlich erkrankter Patienten. Sie geht dabei über eine reine medizinische Palliation (Linderung der Beschwerden) hinaus, fokussiert ganzheitlich auf die Lebensqualität des Patienten und ist so gemeinsam mit der Palliativpflege und der Hospizarbeit eine tragende Säule des Konzeptes der Palliative Care. Palliative Care nach Definition der WHO aus dem Jahr 1990 ist „die aktive, ganzheitliche Behandlung von Patienten mit einer progredienten (voranschreitenden), weit fortgeschrittenen Erkrankung und einer begrenz‐ ten Lebenserwartung zu der Zeit, in der die Erkrankung nicht mehr auf eine kurative Behandlung anspricht und die Beherrschung von Schmerzen, an‐ deren Krankheitsbeschwerden, psychologischen, sozialen und spirituellen Problemen höchste Priorität besitzt.“ Dies wurde im Jahr 2002 von der WHO wie folgt ergänzt: „Palliativmedizin ist auch ein Ansatz zur Verbesserung der Lebensqualität von Patienten und ihren Angehörigen, die mit Problemen konfrontiert sind, die mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung einherge‐ hen, und zwar durch Vorbeugen und Lindern von Leiden, durch frühzeitiges Erkennen, Einschätzung und Behandlung von Schmerzen sowie anderen belastenden Beschwerden körperlicher, psychosozialer und spiritueller Art.“ 2.6.1 Die Geschichte der Palliativmedizin - 2.6.1.1 Palliativmedizin in Antike und Mittelalter In der antiken Medizin war die Palliativmedizin nicht existent. Die ärztli‐ che Behandlung als unheilbar geltender Patienten wurde auch aufgrund damaliger Rechtsprechung abgelehnt. So legte beispielsweise der Codex Hammurapi drakonische Bestrafungen für Ärzte fest, wenn durch sie ein Patient zu Schaden kam. Im 16. Jahrhundert finden sich mit dem Konzept der Cura palliativa erste Vorläufer der heutigen Palliativmedizin. Aus dieser Zeit stammt die folgende französische Redewendung: ➤ Wissen guerir - quelquefois, soulager - souvent, consoler - toujours (frz.): heilen - manchmal, lindern - oft, trösten - immer. 2.6 Palliativmedizin/ Palliative Care 123 <?page no="124"?> 3 Textstellen des Brockhaus zitiert aus Klaus-Peter Drechsel: Beurteilt, Vermessen, Ermordet. Praxis der Euthanasie bis zum Ende des deutschen Faschismus. Dissertation, Duisburg 1993, ISBN 3-927388-37-8 2.6.1.2 Die Euthanasia medica Im 19. Jahrhundert entwickelte sich die Sterbebegleitung in Form der „Euthanasia medica“. Der Begriff der Euthanasie, abgeleitet aus den grie‐ chischen Worten eu (schön, gut) und thanatos (Tod), wurde im deutschen Sprachgebrauch gemäß Eintrag im Brockhaus von 1930 definiert als „Todes‐ behagen, das Gefühl des Wohlseins beim Sterbenden, das vom Arzt, wenn er den Tod als unvermeidlich erkannt hat, durch Schmerzbetäubung und Anwendung narkotischer Mittel gefördert werden darf. Eine absichtliche Tötung zur Erlösung eines Schwerkranken mit narkotischen Mitteln, auch bei unvermeidlichem Tode, wird bestraft.“ Durch Rassenhygiene und Eugenik zu Zeiten des Nationalsozialismus wurde diese, auch heute im englischen Sprachgebrauch noch übliche Bezeichnung radikal umgedeutet und pervertiert. So findet sich im Brockhaus aus dem Jahr 1934 unter dem Stichwort Euthanasie bereits folgende Definition: „Sterbehilfe, grch. Euthanasie, die Abkürzung lebensunwerten Lebens, entweder im Sinn der Abkürzung von Qualen bei einer unheilbaren lang‐ wierigen Krankheit, also zum Wohle des Kranken, oder im Sinn der Tötung z.-B. idiotischer Kinder, also zugunsten der Allgemeinheit.“ 3 Durch die Umdeutung zu Zeiten des Nationalsozialismus ist der Begriff der Euthanasie heute im deutschen Sprachraum nicht mehr präsent. Der in → Kapitel 2.6.4 weiter erläuterte Begriff der Sterbehilfe ist hierdurch ebenfalls historisch belastet. Das Konzept der Euthanasia medica geriet nicht nur durch ideologische Zweckentfremdung, sondern auch durch die Erfolge der kurativen Medizin (→-Kapitel 1.2) wieder in den Hintergrund der Bemühungen. - 2.6.1.3 Palliative Care nach Cicely Saunders Im Jahr 1967 schuf die britische Krankenschwester, Ärztin und Sozialarbeiterin Cicely Saunders mit dem St. Christopher’s Hospice in London die Keimzelle der heutigen Hospizbewegung. Inspiriert vom St. Christopher’s Hospice wurde in Deutschland im Jahr 1983 am Universitätsklinikum Köln die erste Palliativstation mit fünf Betten eröffnet. Weitere Meilensteine in der Entwicklung der Palliative 124 2 Methoden und Ansätze der Medizin <?page no="125"?> Care in Deutschland waren die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin im Jahr 1994, die Einrichtung des ersten Stiftungslehrstuhls für Palliativmedizin an der Universität Bonn im Jahr 1999 sowie die Einführung der ärztlichen Zusatzweiterbildung Palliativmedizin im Jahr 2003. Als spezielles, den Grundsätzen der Palliative Care folgendes Behandlungskonzept wurde im Jahr 2007 die Spezialisierte ambulante palliativmedizinische Versorgung (SAPV) nach § 37b SGB V Pflichtleistung im GKV-Leistungskatalog. Im Jahr 2010 wurde die Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland verabschiedet. Nach Angaben des Deutschen Hospiz- und Palliativverbandes e. V. hat sich die Zahl der Palliativstationen und Hospize in den letzten 10 Jahren mehr als verdreifacht: Existierten im Jahr 1996 nur 28 Palliativstati‐ onen/ -einheiten und 30 Hospize in Deutschland, liegt die Zahl im April 2021 bei 340 Palliativstationen/ -einheiten und 250 Hospizen (davon 18 für Kinder und Jugendliche). Laut Ärztestatistik der Bundesärztekammer hatten bis zum Jahr 2020 insgesamt 13.848 Personen eine abgeschlossene Zusatzbezeichnung Palliativmedizin. 2.6.2 Grundannahmen der Palliative Care Das heutige Konzept der Palliative Care wurde von Cicely Saunders im Jahr 1977 durch folgende 13 Grundsätze, sinngemäß übersetzt, beschrieben: 1. Die Behandlung des Patienten findet in unterschiedlicher Umgebung (z. B. stationär, zu Hause, im Hospiz oder Pflegeheim) statt. Es gilt der Grundsatz „high person, low technology“. Das Menschliche tritt in den Vordergrund, das technisch Machbare in den Hintergrund. Ziel der Therapie ist die Lebensqualität des Patienten. 2. Das Management erfolgt durch ein erfahrenes, professionelles, multi‐ disziplinäres Team. 3. Die Kontrolle allgemeiner Symptome, insbesondere der Schmerzen, erfolgt durch Spezialisten. 4. Die Pflege erfolgt durch kompetentes, erfahrenes Pflegepersonal. 5. Das Behandlungsteam wird von einem geeigneten Teammitglied geleitet. 6. Die Bedürfnisse des Patienten und seiner Familie vor, während und nach der Behandlung werden als Ganzes betrachtet. 7. Ehrenamtliche Mitarbeiter sind integraler Bestandteil des versorgenden Teams. 2.6 Palliativmedizin/ Palliative Care 125 <?page no="126"?> 8. Es erfolgt auf Wunsch des Patienten eine effektive Behandlung im häuslichen Umfeld des Patienten. 9. Ein zentraler administrativer Ansprechpartner ist ständig erreichbar. 10. Die Behandlung integriert, sofern notwendig, auch eine anschließende Trauerbegleitung. 11. Palliative Care beinhaltet Forschung, Dokumentation und Auswertung der Behandlungsergebnisse. 12. Palliative Care beinhaltet Lehre durch Unterricht und Ausbildung von Ärzten, Pflegekräften, Sozialarbeitern und Seelsorgern. 13. Palliative Care erfordert Engagement und Hingabe. Das Begleiten schmerzlicher Umstände erfordert eine gewisse Reife, Mitgefühl und Verständnis. 2.6.3 Schmerztherapie als Säule der Palliativmedizin Wie in den Grundsätzen von Cicely Saunders in → Kapitel 2.6.2 beschrieben, ist die Behandlung der Schmerzen durch Spezialisten integraler Bestandteil der Palliativmedizin. Dies geschieht nach der in → Abbildung 8 dargestell‐ ten 3-Stufen-Therapie der WHO, die ursprünglich zur Behandlung von Tumorschmerzen definiert wurde. Nicht-Opioidanalgetikum Begleitmedikation schwachwirksames Opioid Nicht-Opioidanalgetikum Begleitmedikation starkwirksames Opioid Nicht-Opioidanalgetikum Begleitmedikation bei bestehendem Schmerz bei bestehendem Schmerz bei bestehendem Schmerz* *bei bestehendem Schmerz in Stufe 3 ggf. interventionelles Verfahren 1 2 3 Abbildung 8: Das WHO-Konzept der 3-Stufen-Therapie zur Schmerzbekämpfung 126 2 Methoden und Ansätze der Medizin <?page no="127"?> Neben Medikamenten in Tablettenform kann ein schmerzlinderndes Medi‐ kament (Analgetikum) auch über die Vene verabreicht werden. Neben kurzwirksamen Medikamenten gibt es insbesondere für die Therapie chro‐ nischer Schmerzen Retardpräparate, die den schmerzlindernden Wirkstoff verzögert und kontinuierlich abgeben, sodass nicht permanente Schmerz‐ mittelgaben erfolgen müssen, beispielsweise über Schmerzpflaster. Die bei einigen Patienten vorhandenen Bedenken durch den Gebrauch von opium-ähnlichen Substanzen abhängig zu werden, ist bei gewissenhaftem Gebrauch der Medikamente nicht zu befürchten, da das Ziel der Medika‐ mente nicht das Erreichen eines Rauschzustandes, sondern das Erreichen der Schmerzfreiheit bzw. eines tolerablen Restschmerzes ist. Ebenso sind Be‐ denken, durch den Einsatz von stark wirksamen Schmerzmitteln das Leben der Patienten systematisch zu verkürzen, in aller Regel unbegründet. Durch die Anwendung starker Schmerzmittel zur Erreichung von Schmerzfreiheit wird im Gegenteil vielfach die Lebensqualität der Patienten gesteigert und durch den Erhalt des Lebenswillens und der Möglichkeit, ungehindert von Schmerzen zu atmen, das Leben sogar noch verlängert. Sofern die Schmerzmittel nach Stufe 3 der WHO-Stufentherapie nicht ausreichen, kann ein interventionelles Schmerzverfahren, wie beispielsweise ein auch in der Geburtshilfe eingesetzter Peridualkatheter, zur Anwendung kommen, um einzelne schmerzleitende Nerven zu betäuben. Der von vielen Menschen zum Ausdruck gebrachten Angst, am eigenen Lebensende unter stärksten Schmerzen leiden zu müssen, kann durch eine qualitativ hochwertige und in der Breite verfügbare Palliativmedizin wirksam begegnet werden. 2.6.4 Palliativmedizin contra Sterbehilfe? Wie in → Kapitel 2.6.1.3 beschrieben, lehnt das Konzept der Palliative Care als lebensbejahender, den Tod aber akzeptierender Ansatz, lebensver‐ kürzende Maßnahmen bewusst strikt ab. Im Zusammenhang mit dem Begriff Sterbehilfe existieren mehrere Begriffe, die gemäß einigen Umfragen vergangener Jahre auch von einem Teil der Ärzteschaft nicht eindeutig abgegrenzt werden konnten. Es ist zu unterscheiden zwischen: • Aktive Sterbehilfe • Indirekte Sterbehilfe • Passive Sterbehilfe • Assistierter Suizid 2.6 Palliativmedizin/ Palliative Care 127 <?page no="128"?> Die Aktive Sterbehilfe beschreibt die gezielte Herbeiführung des Todes durch Handeln aufgrund eines tatsächlichen oder mutmaßlichen Wunsches einer Person, also eine Tötung auf Verlangen. Dies ist in Deutschland gem. § 216 StGB verboten, in anderen europäischen Ländern wie Belgien oder den Niederlanden unter bestimmten Voraussetzungen jedoch erlaubt und straffrei. Im Gegensatz dazu ist die Indirekte Sterbehilfe eine in Kauf genom‐ mene Beschleunigung des Todeseintritts als Nebenwirkung einer Medi‐ kamentengabe (z. B. in Folge einer Unterdrückung der Atmung durch Schmerzmittelgabe am Lebensende). Da der Todeseintritt nicht das Ziel der Maßnahme ist, ist diese Form der Sterbehilfe im Rahmen palliativmedizini‐ scher Maßnahmen erlaubt. Als Passive Sterbehilfe wird das Unterlassen der Einleitung oder die Reduktion bestehender eventuell lebensverlängernder Behand‐ lungsmaßnahmen angesehen. Hierbei ist zum einen das Selbstbestimmungs‐ recht des Patienten zu berücksichtigen, zum anderen auch die medizinische Prognose. Auch eine von allen Experten im Konsens als medizinisch aus‐ weglos eingeschätzte Situation rechtfertigt eine entsprechende Therapie‐ begrenzung und ist grundsätzlich erlaubt. Therapieeingrenzungen dieser Art äußern sich beispielsweise in sogenannten DNR-Einträgen in Patien‐ tenkurven, wobei die Abkürzung DNR für die englischen Worte „Do Not Resucitate“ steht, die sinngemäß übersetzt die Anweisung geben, im Falle ei‐ nes Herzstillstandes bei dem Patienten keine Wiederbelebungsmaßnahmen mehr durchzuführen. Semantisch korrekt könnte der Begriff der passiven Sterbehilfe auch durch den Begriff des Sterbenlassens ersetzt werden. Der Assistierte Suizid, beispielsweise durch Überlassung eines tödlich wirkenden Medikamentes zur Einnahme durch den Patienten, war bis zum Jahr 2015 in Deutschland nicht eindeutig geregelt. So stellte der Assistierte Suizid durch Mediziner nach Ansicht vieler Juristen zwar keine Aktive Ster‐ behilfe, aber zumindest eine unterlassene Hilfeleistung und einen Verstoß gegen die ärztliche Berufsordnung dar. Der Bundestag beschloss nach langer, fraktionsübergreifender Diskussion im November 2015, den gewerbsmäßig organisierten Assistierten Suizid gemäß des neu geschaffenen § 217 StGB unter Strafe zu stellen. Hingegen blieben Angehörige oder andere dem Suizidwilligen nahestehende Personen, die nicht geschäftsmäßig handelten, straffrei. Diese in § 217 StGB gefasste Regelung erklärte das Bundesverfassungsge‐ richt im Jahr 2020 für nichtig und unterstrich das Recht auf selbstbestimmtes 128 2 Methoden und Ansätze der Medizin <?page no="129"?> Sterben. Derzeit wird eine neue gesetzliche Regelung im Bundestag erarbei‐ tet. Der 124. Deutsche Ärztetag beschloss im Mai 2021, das Verbot ärztlicher Suizidbeihilfe aus der Musterberufsordnung zu streichen. ➤ Lesetipps-∣-Literatur und Websites Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Men‐ schen in Deutschland. Im Internet unter: 🔗 http: / / www.charta-zur-betreuung-sterbender.de/ Patientenleitlinie Palliativmedizin im Leitlinienprogramm On‐ kologie der AWMF e. V., der Deutschen Krebsgesellschaft e. V. und der Stiftung Deutsche Krebshilfe. Im Internet unter: 🔗 https: / / www.leitlinienprogramm-onkologie.de/ patientenleitlinien/ pall iativmedizin/ Stolberg, M. (2013): Die Geschichte der Palliativmedizin. Medizini‐ sche Sterbebegleitung von 1500 bis heute. Frankfurt am Main. Deutscher Hospiz- und PalliativVerband e. V. (2021): Zahlen, Daten und Fakten zur Hospiz- und Palliativarbeit. Im Internet unter: 🔗 https: / / www.dhpv.de/ zahlen_daten_fakten.html Haserück, A./ Richter-Kuhlmann, E. (2021): Suizidbeihilfe: Neurege‐ lungen stehen an. Deutsches Ärzteblatt. 118(17): A-863 / B-719. Im Internet unter: 🔗 https: / / www.aerzteblatt.de/ archiv/ 218859 Haserück, A./ Richter-Kuhlmann, E. (2021): Ärztliche Suizidassistenz: Berufsrechtliches Verbot entfällt. Deutsches Ärzteblatt. 118 (19-20): A-969 / B-805. Im Internet unter: 🔗 https: / / www.aerzteblatt.de/ archiv/ 219138 2.7 Alternativmedizin Neben dem bisher beschriebenen Grundkonzept der aktuell mehrheitlich in der westlichen Welt praktizierten Medizin existieren weltweit verschiedene andere Theorien und Grundkonzepte medizinischer Versorgung, die als Al‐ ternativmedizin oder Komplementärmedizin bezeichnet werden. Aufgrund 2.7 Alternativmedizin 129 <?page no="130"?> des hohen Verbreitungsgrades sollen zum einen die sogenannte Traditio‐ nelle Chinesische Medizin (TCM) in → Kapitel 2.7.1 und der insbeson‐ dere in Deutschland populäre Ansatz der Homöopathie in → Kapitel 2.7.2 beschrieben und anschließend in → Kapitel 2.7.3 einer kritischen Reflexion unterzogen werden. Im Kontext der TCM wird die in Europa mehrheitlich praktizierte und bereits ausführlich beschriebene Medizin häufig als Westliche Medizin, im Vergleich mit der Homöopathie nach den Worten deren Begründers häufig als Schulmedizin bezeichnet. Beide Begriffe werden in den jeweiligen Kapiteln entsprechend zur Abgrenzung verwendet. 2.7.1 Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) Als Traditionelle Chinesische Medizin wird eine seit ca. 2000 Jahren prak‐ tizierte und weiterentwickelte Heilkunde aus China bezeichnet. Während der Begriff TCM im deutschen Sprachgebrauch etabliert ist, sprechen die Chinesen selbst von Chinesischer Medizin ohne den Zusatz „Traditionell“. - 2.7.1.1 Das Konzept des Qi Die ideelle Grundlage der Traditionellen Chinesischen Medizin ist das Qi, ein dem Daoismus entspringender Begriff, der vielfältig übersetzt und interpretiert werden kann: Während Qi einerseits oft mit Energie oder (Lebens-)Kraft übersetzt wird, kann es andererseits auch Atem, Luft, Gas, Dampf, Hauch, Äther, Temperament, Kraft oder Atmosphäre bedeuten. Im Kontext der TCM besteht der menschliche Körper aus einem komplexen System von Qi-Strukturen, die miteinander in Verbindung stehen und bei Gesundheit ein dynamisches Gleichgewicht bilden. Ist dieses Gleichgewicht gestört, resultiert daraus Krankheit. Die Rolle des Arztes besteht darin, das Qi wieder in ein Gleichgewicht zu überführen und eine Qi-Schwäche oder einen Qi-Stau zu beseitigen. Da die TCM einen Bezug zu bestimmten Organen des Körpers herstellt, kann beispielsweise auch vom Herz-Qi oder Leber-Qi die Rede sein. 130 2 Methoden und Ansätze der Medizin <?page no="131"?> Abbildung 9: Die Funktionskreise der TCM | © Johannes Sense Die Qi-Dynamik ist in den in → Abbildung 9 dargestellten Kreislauf eingebunden, der nach dem Muster von fünf Jahreszeiten verläuft. Jede Station dieses Kreislaufs, auch Funktionskreis genannt, geht aus einem vorherigen hervor und in den nächsten über. Der menschliche Organismus besteht aus fünf Funktionskreisen, die den „Organen“ Leber, Lunge, Herz, Milz und Nieren, den fünf Jahreszeiten und den fünf Elementen Holz, Feuer, Erde, Metall und Wasser zugeordnet sind. Der in der TCM verwendete Organbegriff ist nicht deckungsgleich mit dem Verständnis der benannten Organe in der westlichen Medizin. Das Qi fließt nach dem Konzept der TCM auf Leitbahnen, im deutschen Sprachgebrauch oft als Meridiane bezeichnet, permanent durch den mensch‐ lichen Körper. 2.7 Alternativmedizin 131 <?page no="132"?> 2.7.1.2 Anamnese und Diagnostik in der TCM Ebenso wie in der westlichen Medizin legt die TCM einen großen Wert auf eine ausführliche Befragung des Patienten und seiner Beschwerden, um auf Er‐ fahrungswissen aufbauend die Ursachen für die Beschwerden zu ergründen. Die Diagnostik der TCM fokussiert neben der Befragung, dem Geruch des Patienten und der akustischen Wahrnehmungen des Arztes im Wesentlichen auf zwei betrachtende Untersuchungen, die Pulsdiagnostik und die Zungendiagnostik: Die Pulsdiagnostik geschieht durch Ertasten des Pulses an verschiedenen Körperstellen, der nach dem Konzept der TCM insgesamt 28 Pulsformen, die je‐ weils charakteristisch für bestimmte Beschwerden sind. Die Zungendiagnostik geschieht anhand der Größe der Zunge, Farbe des Zungenkörpers, Belag der Zunge und sonstige Besonderheiten. Das Ertasten des Pulses (zur Bestimmung der Herzfrequenz) und die Untersu‐ chung der Zunge (gemeinsam mit der Inspektion des Rachenraumes) ist auch in der westlichen Medizin ein gängiges Untersuchungsverfahren. Die Betonung dieser beiden betrachtenden Untersuchungstechniken oder gar eine Zuordnung pathologischer Pulsformen oder Veränderungen der Zunge zu bestimmten Orga‐ nen oder Organsystemen scheint nach dem Verständnis der westlichen Medizin jedoch willkürlich. Bisher durchgeführte Studien zeigen keine Validität im Sinne der Evidenzbasierten Medizin für die beiden hier beschriebenen Verfahren. - 2.7.1.3 Die 5 Säulen der TCM Die Therapie im Rahmen der TCM besteht aus den in → Abbildung 10 dargestellten Säulen. Bewegungsübungen (Qi-Gong/ Taijiquan) Akupunktur/ Moxibustion Diätetik Massage (Tuina/ Shiatsu) Befragung Geruch Gehör Betrachtung (Puls und Zunge) Arzneimittel Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) Abbildung 10: Die 5 Säulen der Traditionellen Chinesischen Medizin 132 2 Methoden und Ansätze der Medizin <?page no="133"?> Die TCM kennt über 500 traditionelle Heilmittel, die überwiegend auf pflanzlicher Basis (Phytotherapeutika), zu einem gewissen Teil aber auch aus tierischen oder mineralischen Produkten bestehen. Die Arzneimittel der TCM werden nach den Eigenschaften Temperaturverhalten und Geschmack klassifiziert und auf Basis des hieraus gewonnenen Profils der Behandlung verschiedener Krankheitsbilder zugeordnet. Einige der eingesetzten Arznei‐ mittel enthalten hochpotente Substanzen, die, falsch eingenommen, auch nach Ansicht der westlichen Medizin, schwere Schäden verursachen kön‐ nen. Einige Substanzen stehen sogar im Verdacht, auch bei sachgerechter Anwendung Schäden zu verursachen, z. B. schädlich für die Leber zu sein. Ebenso können Verunreinigungen bei der Herstellung der Arzneimittel (z. B. durch Schimmelpilzbildung) unerwünschte Nebenwirkungen verursachen. Insofern sollten an die Therapie mit Arzneimitteln der TCM die gleiche Sorgfalt und die gleichen Qualitätsansprüche wie an die Behandlung mit Arzneimitteln der westlichen Medizin gestellt werden. Die Bewegungsübungen bestehen zum einen aus Qi-Gong, einer aus Kampfkünsten entwickelten chinesischen Bewegungsform zur Harmoni‐ sierung und Regulation des Qi-Flusses im Körper. Die Anwendung von Qi-Gong kann in Form von Atem-, Bewegungs-, Konzentrations- und Meditationsübungen erfolgen und wird neben der rein medizinischen An‐ wendung auch für religiöse Zwecke verwendet. Es existieren hunderte ver‐ schiedene Abläufe zur Anwendung des Qi-Gong. Ebenso kann Taijiquan, ursprünglich eine Form der inneren Kampfkunst, angewendet werden, die derzeit als Bewegungslehre in China als Volkssport praktiziert wird. Nach dem Konzept der TCM haben Lebensmittel ebenso wie Arzneimittel bestimmte Wirkprofile, die sie hinsichtlich ihres Temperaturverhaltens, ih‐ rer Geschmacksrichtung, ihrer energetischen Wirktendenz und ihres Bezugs zu Funktionskreisen bzw. Leitbahnen einteilen. Somit werden bestimmten Lebensmitteln je nach Gesundheitszustand unterstützende Wirkungen zu‐ geschrieben. Die chinesische Massageform Tuina, abgeleitet aus den chinesischen Worten „tui“ (schieben/ drücken) und „na“ (greifen/ ziehen) zielt darauf ab, Blockaden der Leitungsbahnen aufzulösen und den Energiefluss zu fördern, um eine Balance des Qi wiederherzustellen. Ebenso zur Anwendung kommt Shiatsu (übersetzt Fingerdruck), eine aus Tuina abgeleitete japanische Form der Massage, die im Wesentlichen mit dem Körpergewicht des Massierenden arbeitet, um eine „energetische Beziehung“ zum Patienten zu entwickeln. 2.7 Alternativmedizin 133 <?page no="134"?> Neben den genannten Säulen der TCM hat vor allem das Prinzip der Akupunktur in die westliche Medizin Einzug gehalten und ist für ausge‐ wählte Indikationen bereits Regelleistung für gesetzlich krankenversicherte Patienten. - 2.7.1.4 Akupunktur Das Wort Akupunktur leitet sich aus den lateinischen Wörtern acus (Nadel) und punctio (das Stechen) ab. Das Prinzip der Akupunktur basiert auf der Stimulation von Akupunkturpunkten, die auf den Leitbahnen des Qi liegen, wie in →-Abbildung 11 dargestellt. 134 2 Methoden und Ansätze der Medizin <?page no="135"?> Abbildung 11: Leitbahnen des menschlichen Körpers nach TCM | © Peter Hermes Furian - iStock 2.7 Alternativmedizin 135 <?page no="136"?> Es sind ca. 360 Akupunkturpunkte bekannt. Neben dem Einstechen von Akupunkturnadeln beinhaltet diese Säule der TCM auch die Erwärmung die‐ ser Punkte durch Verglimmen von Fasern des Beifußes, was als Moxibustion bezeichnet wird. Das Wort Moxibustion leitet sich aus dem japanischen Wort der getrockneten Fasern des Beifußes (mogusa) und dem lateinischen Wort für Verbrennung (combustio) ab. Durch die Erwärmung bestimmter Punkte auf den Leitbahnen soll das Qi ebenfalls aktiviert werden. Die Akupunktur nach dem Konzept der TCM wird nach Empfehlung der WHO unter anderem bei folgenden Indikationen eingesetzt: • Bluthochdruck • bei Chemo- oder Strahlentherapie zur Reduzierung der Nebenwirkun‐ gen wie Übelkeit und Erbrechen • Depressionen • rheumatoide Arthritis • Schmerzzustände wie Rücken- oder Knieschmerzen Die WHO unterscheidet bei ihren Empfehlungen zwischen Verfahren, die in einzelnen Studien positive Effekte erzielt haben und daher von ihr als wirksam empfohlen werden, und solchen Indikationen, bei denen eine Wirkung möglich, aber noch nicht ausreichend durch wissenschaftliche Überprüfung belegt worden ist. In der Darstellung zahlreicher Anbieter von Akupunkturleistungen erfolgt häufig jedoch eine undifferenzierte Darstel‐ lung aller in der Empfehlung der WHO genannten Indikationen. Wie jede medizinische Intervention hat die Akupunktur auch potenziell eintretende Nebenwirkungen und Kontraindikationen, obgleich die Me‐ thode unter dem Attribut der sanften Medizin vermarktet häufig als (nahezu) nebenwirkungsfrei beschrieben wird. Nebenwirkungen bei Akupunktur kommen im einstelligen Prozentbereich vor. Zu diesen Nebenwirkungen können zählen: • Blutergüsse an der Einstichstelle • Entzündungen • Schwindelgefühl bis hin zum kurzzeitigen Bewusstseinsverlust • Taubheitsgefühl • Granulome (Ablagerungen von Silikon bei Verwendung entsprechender Nadeln) In einigen Fällen wurde zudem das Kollabieren eines Lungenflügels (Pneu‐ mothorax) berichtet, das einer medizinischen Überwachung und ggf. Be‐ 136 2 Methoden und Ansätze der Medizin <?page no="137"?> handlung bedarf. Obgleich die Nebenwirkungen in ihrer Ausprägung meist wenig beeinträchtigend sind, ist eine sachgerechte Anwendung der Technik und die angemessene Vorbereitung und Reaktion auf möglicherweise auf‐ tretende Nebenwirkungen zur sicheren Therapie einzufordern. Durch die aktivierende Funktion, die der Akupunktur zugeschrieben wird, soll dieses Verfahren bei verschiedenen Krankheitsbildern nicht an‐ gewandt werden (Kontraindikation), um diese pathologischen Prozesse nicht zu verstärken. Hierzu zählen unter anderem: • die Einnahme blutgerinnungshemmender Medikamente • bestimmte Erkrankungen des Nervensystems und dadurch einge‐ schränkte Schmerzwahrnehmung • Epilepsie • schwere, ansteckende Krankheiten (z.-B. Tuberkulose) • bestimmte Krebserkrankungen • in Bereichen von Hauterkrankungen, Entzündungen, Knochenbrüchen, frischen Verletzungen Von der Akupunktur von Babys und Kleinkindern wird ebenfalls abgeraten, die Akupunktur von Menschen in reduziertem Allgemeinzustand sollte nur nach besonders sorgfältiger Nutzen-Risiko-Abwägung, evtl. unter erhöhten Überwachungsmaßnahmen, stattfinden. Zum Zeitpunkt der Aku‐ punktur sollten sich zudem keine Substanzen wie Cremes, Salben oder Make-up auf der Haut befinden, da diese durch die Nadeln unter die Haut transportiert werden und dort beispielsweise unerwünschte Reaktionen auslösen können. - 2.7.1.5 TCM unter Berücksichtigung der EbM Die Traditionelle Chinesische Medizin wurde in einigen Bereichen bereits intensiv nach den Prinzipien der EbM untersucht, in anderen Bereichen ist dies nicht erfolgt. Die bislang nach anerkannten Standards der westlichen Medizin durch‐ geführten Studien zur Überprüfung der Wirksamkeit von TCM finden sich im Bereich der Akupunktur. Exemplarisch seien hier die bislang größ‐ ten prospektiven randomisierten kontrollierten Studien (siehe → Kapitel 2.3.4) für Akupunktur, die German Acupuncture (GERAC) Trials, genannt. An über 3.500 Patienten wurden für verschiedene Indikationen Studien mit drei Behandlungsgruppen (Therapiearmen) durchgeführt. Die erste 2.7 Alternativmedizin 137 <?page no="138"?> Gruppe erhielt eine Akupunktur an Akupunkturpunkten nach TCM (Ver‐ umGruppe), die zweite Gruppe erhielt eine Akupunktur an Punkten, die nicht der Lehre der TCM entsprechen (Sham-Gruppe), die dritte Gruppe erhielt eine konventionelle Therapie ohne Akupunktur. Im Vergleich von Verum-Gruppe und konventioneller Therapie erzielte die Akupunktur bei arthrosebedingten Kniegelenksbeschwerden und chronischem Rücken‐ schmerzen im Lumbosakralbereich deutlich bessere Effektivität als die konventionelle Therapie, bei der Behandlung von Migräne ebenso gute Behandlungsergebnisse wie die medikamentöse Therapie. Die Rate und Intensität der beobachteten Nebenwirkungen in den Akupunkturgruppen war gering. Die Studien wiesen jedoch einige methodische Schwächen auf: So wurde das Studienprotokoll mit Beschreibung der verschiedenen Akupunkturverfahren bereits vor Abschluss der Studie veröffentlicht, was die Verblindung der Patienten zwischen Sham- und Verum-Gruppe in Frage stellt. Ebenso unterschieden sich die Anzahl der Interventionen zwischen Akupunkturgruppen und konventioneller Therapie sowie die Anzahl der Punktionen in beiden Akupunkturgruppen systematisch. Da‐ her wird die Aussagekraft der Studie von einigen Personen angezweifelt. Interessant ist außerdem, dass im direkten Vergleich zwischen Verum- und Sham-Akupunktur für kein Krankheitsbild signifikante Unterschiede festgestellt werden konnten. Die offenbar vorhandene, aber nicht an genaue Akupunkturpunkte gebundene Wirkung des Verfahrens wurde in Studien der Grundlagenforschung untersucht. Obgleich noch kein abschließendes umfassendes Erklärungsmodell vorliegt, kamen mehrere Studien zu der Überzeugung, dass durch Stimulation des Körpers mittels Akupunktur die Ausschüttung von Endorphinen, körpereigenen Opioidpeptiden, ge‐ fördert wird und sich diese Endorphine wiederum positiv auf bestimmte Körperfunktionen, wie beispielsweise das Schmerzempfinden, auswirken. Somit erscheint eine Akupunkturbehandlung nach dem rationalen Grund‐ verständnis der westlichen Medizin durchaus plausibel. Auf Basis der Daten der GERAC-Trials wurde die Akupunktur bei chronischem Kreuzschmerz und Kniegelenksschmerzen im Rahmen einer umfassenden Schmerzthera‐ pie nach Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses am 1. Januar 2007 zur Regelleistung für gesetzlich Krankenversicherte. Die Akupunk‐ turbehandlung bei Migräne wurde aufgrund fehlender Überlegenheit zur Standardtherapie nicht in den Regelleistungskatalog der Gesetzlichen Krankenkassen aufgenommen. 138 2 Methoden und Ansätze der Medizin <?page no="139"?> ➤ Lesetipps-∣-Literatur und Websites Ernst, E. (2005): Komplementärmedizinische Diagnoseverfahren. Deutsches Ärzteblatt 102(44): A-3034 / B-2560 / C-2410. Im Internet unter: 🔗 http: / / www.aerzteblatt.de/ archiv/ 48961 Kubny, M. (1995): Qi. Lebenskraftkonzepte in China. Definitionen, Theorien und Grundlagen. Heidelberg. WHO (2002): Acupuncture. review and analysis of reports on control‐ led clinical trials. Genf. Im Internet unter: 🔗 http: / / digicollection.org/ hss/ en/ d/ Js4926e/ Website des GERAC-Trials mit zusammenfassender Ergebnisdarstel‐ lung und Links zu den wissenschaftlichen Publikationen der Studie. Im Internet unter: 🔗 http: / / www.gerac.de/ Beschluss des G-BA zur Aufnahme der Akupunktur bei Knie- und Kreuzschmerz in den Regelleistungskatalog der GKV. Im Internet unter: 🔗 https: / / www.g-ba.de/ informationen/ beschluesse/ 295/ Deutsches Ärzteblatt (2022): Zusatzbezeichnung Homöopathie soll aus MWBO gestrichen werden. Im Internet unter: 🔗 https: / / www.aerzteblatt.de/ nachrichten/ 134597/ Zusatzbezeichnung-H omoeopathie-soll-aus-MWBO-gestrichen-werden 2.7.2 Homöopathie - 2.7.2.1 Grundprinzipien der Homöopathie Neben dem Konzept der TCM findet in Deutschland unter allen kom‐ plementärmedizinischen Maßnahmen vor allem die Homöopathie große Beachtung. Das Konzept der Homöopathie wurde 1796 von Samuel Hah‐ nemann erstmals beschrieben und beruht auf dem von ihm begründeten Simile-Prinzip: 2.7 Alternativmedizin 139 <?page no="140"?> ➤ Wissen Similia similibus curentur (lat.): Ähnliches möge mit Ähnlichem geheilt werden. Dieses Prinzip begründet auch die Namensgebung, die auf den griechischen Wor‐ ten homoios (gleich, ähnlich) und pathos (Leiden) beruht und somit „ähnliches Leiden“ bedeutet. Somit soll zur Behandlung einer Erkrankung ein homöopathi‐ sches Arzneimittel verwendet werden, dass in unverdünnter Form angewendet, bei einem gesunden Patienten die gleichen Symptome hervorrufen kann, die der Erkrankte hat. Zur Ermittlung des geeigneten Arzneimittels erfolgt eine umfangreiche Erhebung der bisherigen Symptome und eine Kategorisierung des Patienten nach bestimmten Charaktermerkmalen durch die behandelnde Person. Die Anwendung dieser teilweise gefährlichen Substanzen erfolgt jedoch nicht in Reinform, sondern nach einer auf bestimmte Art und Weise durchgeführten Verdünnung. Hierzu wird aus der Grundsubstanz eine Urlösung erstellt, die mehrfach im Verhältnis 1: 10 (D-Potenz) oder 1: 100 (C-Potenz) in einer Lösung aus Wasser oder Alkohol verdünnt wird. Dies diente zunächst der Vermeidung unerwünschter Wirkungen der Urlösung. Im Jahr 1798 führte Hahnemann die Vorschrift ein, dass die Vermischung so erfolgen soll, dass nach Einbringen der zu verdünnenden Substanz in die Lösung das Behältnis der Lösung mit mehreren Schlägen gegen einen federnden Widerstand verschüttelt werden soll. Durch diesen Vorgang, der Potenzierung genannt wird, soll laut Hahnemann nicht nur die unerwünschte Wirkung der Substanz minimiert werden. Nach Ansicht Hahnemanns ist das Medikament umso wirksamer, je höher die Verdün‐ nung der Urlösung in Form sogenannter Hochpotenzen ist. Die Wirkung der Hochpotenzen führt Hahnemann darauf zurück, dass durch das Verschütteln eine geistartige Information an das Wasser übertragen wird. Da sich in der 23. Verdünnungsstufe im Dezimalsystem (D23) nachweislich kein chemisches Molekül der Ursubstanz mehr befindet, wird diese Erklärung auch heute noch für die mutmaßliche Wirksamkeit homöopathischer Medikamente im Hochpotenz‐ bereich angeführt. Die auf die beschriebene Art verdünnte Lösung wird in der Regel auf kleine Milchzuckerkügelchen, sogenannte Globuli, gespritzt, die dann vom Patienten als homöopathisches Arzneimittel eingenommen werden. Zur Abgrenzung der Homöopathie bezeichnete Hahnemann die bisher praktizierte Medizin als Schulmedizin. 140 2 Methoden und Ansätze der Medizin <?page no="141"?> 2.7.2.2 Homöopathie aus Sicht der EbM Die Grundannahmen der Homöopathie sind mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und dem Konzept der Evidenzbasierten Medizin nicht ver‐ einbar. So finden sich weder Anhaltspunkte für das Simile-Prinzip noch Be‐ weise für die Steigerung der Wirkung eines homöopathischen Arzneimittels durch Potenzierung noch valide Anhaltspunkte dafür, dass die Anwendung von Homöopathika eine über den Placebo-Effekt hinausgehende Wirkung hat. Prof. Dr. em. Edzart Ernst, erster Lehrstuhlinhaber für Komplementäre Medizin an der Universität Exeter, bezeichnet die umfassende Anamnese zu Beginn der homöopathischen Behandlung als eine amateurhafte Psycho‐ therapie. Die Medizinische Fakultät der Universität Marburg bezeichnete Homöopathie in der „Marburger Erklärung zur Homöopathie“ im Jahr 1992 als Irrlehre. Es wurden zahlreiche Studien nach Kriterien der EbM zur Wirksamkeit von homöopathischen Arzneimitteln durchgeführt, die wiederum in syste‐ matischen Übersichtsarbeiten zusammengefasst wurden. Unter Beachtung des Effektes, dass bei steigender Anzahl an Studien die Wahrscheinlichkeit der Berücksichtigung zufällig statistisch signifikant positiver oder negativer Ergebnisse steigt, lässt sich durch Einsatz von Homöopathie, wie von Shang und Kollegen 2005 in der Zeitschrift The Lancet publiziert, keine über den Placebo-Effekt hinausgehende Wirkung feststellen. Die vermutete und behauptete Wirksamkeit von Homöopathie basiert nach Ansicht der Vertreter der Schulmedizin zum einen auf Placebo-Effekten, ausgelöst durch die vergleichsweise intensive Zuwendung des Behandelnden zum Patienten in Verbindung mit dessen Erwartungshaltung, zum anderen darauf, dass viele homöopathisch behandelte Erkrankungen auch ohne Einsatz von Globuli zum gleichen Zeitpunkt spontan ausgeheilt wären, frei nach der Erkenntnis: „Es ist die Aufgabe des Arztes, den Patienten so lange zu unterhalten, bis die Natur ihn geheilt hat.“ François-Marie Arouet (Voltaire), französischer Philosoph der Aufklärung, His‐ toriker und Geschichtsschriftsteller (1694-1778) Im Gegensatz zum fehlenden Wirksamkeitsnachweis sind durch den Ge‐ brauch von Homöopatika durchaus ernsthafte Nebenwirkungen beschrie‐ ben, insbesondere dann, wenn die Substanzen nicht ausreichend verdünnt worden sind. So kann die Einnahme niedriger Zehnerpotenzen von Arsen 2.7 Alternativmedizin 141 <?page no="142"?> (Arsenicum), Quecksilber (Mercurius) oder Tollkirsche (Belladonna) zu akuten Vergiftungen führen, die im Einzelfall tödlich verlaufen können. - 2.7.2.3 Verbreitung der Homöopathie in Deutschland Unabhängig vom fehlenden Wirksamkeitsnachweis und einem den natur‐ wissenschaftlichen Erkenntnissen widersprechenden Erklärungsansatz für die Wirkung von Homöopathie ist die Anwendung der Homöopathie in Deutschland weit verbreitet. Es existierte in der Weiterbildungsordnung für Ärzte eine Zusatzbezeichnung für Homöopathie, die laut Ärztestatistik 2017 der Bundesärztekammer 6.898 Ärztinnen und Ärzte absolviert haben. Der 126. Deutsche Ärztetag beschloss jedoch mit großer Mehrheit, die Bezeichnung aus der Musterweiterbildungsordnung zu streichen. Die letzt‐ endliche Entscheidung der Streichung aus den Weiterbildungsordnungen obliegt jedoch den jeweiligen Ärztekammern der Bundesländer. Im Jahr 2020 stricht die Ärztekammer Bremen als erste Kammer die Homöopathie aus ihrer Weiterbildungsordnung. Nach derzeitigem Stand wollen 13 von 17 Ärztekammern die Zusatzbezeichnung streichen oder haben dies bereits getan. Bereits erteilte Zusatzbezeichnungen bleiben hierbei gültig, jedoch werden keine Weiterbildungskurse durch die entsprechenden Ärztekam‐ mern angeboten und keine neuen Zusatzbezeichnungen mehr ausgestellt. Demgegenüber praktizierten nach Angaben des Bundesverbandes der Phar‐ mazeutischen Industrie (BPI) aus dem Jahr 2018 ca. 60.000 Ärztinnen und Ärzte Homöopathie. Homöopatika sind in Deutschland apothekenpflich‐ tig, jedoch überwiegend rezeptfrei erhältlich. Hinsichtlich der Produktion homöopathischer Medikamente bezeichnet der BPI Deutschland als europa‐ weiten Marktführer. Der Gesamtumsatz an Homöopathika in Apotheken und Versandhandel beziffert der Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller BAH e. V. für das Jahr 2017 mit 629 Millionen Euro Umsatz bei 52 Millionen abgesetzten Packungseinheiten. Sowohl Umsatz als auch Absatz an Homö‐ opathika sind in den letzten Jahren stark gestiegen. ➤ Lesetipps-∣-Websites Bundesverband der pharmazeutischen Industrie e. V. (2019): Pharma‐ daten 2019. Im Internet unter: 🔗 https: / / www.bpi.de/ service/ pharma-daten 142 2 Methoden und Ansätze der Medizin <?page no="143"?> Zahlenmaterial des Bundesverbandes der Arzneimittel-Herstel‐ ler BAH e.-V. Im Internet unter: 🔗 https: / / www.bah-bonn.de/ presse-und-publikationen/ zahlen-fakten/ 2.7.3 Möglichkeiten und Grenzen der Alternativmedizin Einige Elemente der TCM sind aufgrund ihrer erwiesenen oder vermuteten Nutzen-Risiko-Relation nicht nur in der westlichen Welt weit verbreitet, sondern auch in Teilen in der westlichen Welt anerkannt. Zentrale Ziele der fünf therapeutischen Säulen finden sich in salutogenetischen und primärpräventiven Ansätzen wieder. So ist auch in der westlichen Medizin der Konsum bestimmter Lebensmittel als vorbzw. nachteilhaft anerkannt. Ebenso sind regelmäßige körperliche Aktivität wie im Qi-Gong allgemeine Empfehlung zur Vermeidung zahlreicher Erkrankungen. Pflanzlich wirk‐ same Substanzen (Phytotherapeutika) finden auch im Rahmen der westli‐ chen Medizin Anwendung und die ganzheitliche Betrachtung des Menschen mit seinen körperlichen aber auch psychischen Bedürfnissen ist in der westlichen Medizin ebenfalls als Idealvorstellung verankert. Für viele Interventionen der TCM gibt es jedoch entweder keine wis‐ senschaftlich validen Überprüfungen oder Studien mit widersprüchlichen Ergebnissen. Ebenso mag das Erklärungsmodell für die Wirkung der TCM vielen Patienten mit den Erkenntnissen der westlichen Medizin, z. B. im Bereich der anatomischen Grundlagen, unvereinbar sein. Insbesondere aber hinsichtlich der Effektivität bei gravierenden Erkrankungen lassen sich keine Belege dafür finden, dass die TCM der westlichen Medizin vergleich‐ bare Heilungsraten erreicht. Daher wenden sich in China viele Menschen mittlerweile von der TCM ab und der westlichen Medizin zu. Dabei ist durchaus denkbar, dass Elemente der TCM, wie eine bewusste Ernährung oder eine gezielte Bewegungstherapie, in vielen Situationen in Kombination mit Elementen der westlichen Medizin eine sinnvolle Ergänzung bieten. Ebenso scheint es abseits der Lehre des Qi eine wissenschaftlich plausible Wirkung der Akupunktur für ausgewählte Krankheitsbilder zu geben, so‐ dass Akupunktur als unterstützende oder gar alleinige Behandlungsoption in bestimmten Situationen als sinnvoll angesehen werden kann. Homöopathie scheint nach derzeitigen Erkenntnissen keinen über den Placebo-Effekt hinaus nachweisbaren Effekt zu besitzen. Positiv hervor‐ 2.7 Alternativmedizin 143 <?page no="144"?> zuheben ist jedoch die intensive Beschäftigung mit dem Patienten, auf die sich die Schulmedizin an vielen Stellen zurückbesinnen sollte. Der Verdienst von Hahnemann war die Etablierung einer Therapie in einer Zeit, in der die Schulmedizin mangels Alternativen zahlreiche nebenwirkungsreiche, hochriskante oder sogar schädliche Therapieverfahren kannte. So wurde die durch bakterielle Infektion verursachte Erkrankung Cholera durch Aderlässe therapiert, was nach heutiger Erkenntnis die Patienten unnötig schwächte und so den Einsatz der Homöopathie als wirkungsvoll erscheinen ließ. Durch Einsatz der Homöopathie in entsprechenden Verdünnungen wurde sich dem Grundsatz des „primum nil nocere“ zumindest im Er‐ gebnis rückwirkend betrachtet angenähert. Auch heute ist aus ärztlicher Sicht der Einsatz von Globuli bei einem unkomplizierten virusbedingten Effekt der oberen Atemwege weniger schädlich als der Einsatz eines in diesem Fall wirkungslosen und schädlichen Antibiotikums. Die heutige Medizin bietet jedoch für viele Krankheiten wie Cholera hocheffektive Therapiemöglichkeiten. Somit bieten sowohl TCM als auch Homöopathie die Gefahr, dass durch alleiniges Vertrauen auf diese Behandlungsmethoden eine wirksame Therapie unterlassen wird und sich somit das Zeitfenster für eine mögliche Heilung schließt. Im Bereich der Krebstherapie beginnen zahl‐ reiche Patienten Therapien mit sogenannter „sanfter“ oder „ganzheitlicher“ Medizin, die vor Nebenwirkungen schulmedizinischer Behandlungen warnt und so Ängste schürt. Mit teils dubiosen bis kriminellen Methoden erleiden Patienten hohe finanzielle Einbußen und werden um die Möglichkeit einer wirksamen Therapie gebracht. Die Vereinigung „Homöopathen ohne Gren‐ zen“ beispielsweise beschreibt Projekte in Afrika, in denen Krankheiten wie HIV oder Malaria mit Homöopathie erfolgreich behandelt werden sollen. Ein Versuch, im Rahmen der Epidemie im Jahr 2014 auch Ebola mit Homöopathie zu behandeln, wurde von den dortigen Behörden unterbunden. ➤ Wissen-∣-Steve Jobs und die Alternativmedizin Der in letzter Zeit wohl prominenteste Mensch, der mutmaßlich in Folge einer verzögerten schulmedizinischen Behandlung gestorben ist, war der ehemalige Vorstandsvorsitzende der Firma Apple Steve Jobs. Anstatt eine im Jahr 2003 diagnostizierte Bauchspeicheldrüsenkreb‐ serkrankung schulmedizinisch behandeln zu lassen, vertraute Jobs zu‐ nächst auf alternativmedizinische Behandlungsmethoden und lehnte 144 2 Methoden und Ansätze der Medizin <?page no="145"?> eine Operation strikt ab. Erst Jahre später willigte Jobs in eine Opera‐ tion ein, als die Krebserkrankung bereits metastasiert war (Erklärung →-Kapitel 3.6). Selbst ein ausgesuchtes Team von Spezialisten, eine Lebertransplanta‐ tion unter ethisch fragwürdigen Bedingungen und die Entschlüsselung seines Erbgutes zur Anpassung der Medikamente auf seinen Tumor (→ Kapitel 2.8.3) konnten Jobs im Stadium seiner fortgeschrittenen Erkrankung nicht mehr retten. Nach Ansicht vieler Experten wäre diese Form von Bauchspeicheldrü‐ senkrebs in einem frühen Stadium nach Diagnosestellung durch eine rechtzeitige Operation heilbar gewesen. Um selbst eine Abschätzung treffen zu können, ob es sich um unseriöse An‐ gebote handelt, empfiehlt sich die bereits im Jahr 2003 im arznei telegramm publizierte Liste „Zehn Indizien für Quacksalberei“: ➤ Wissen-∣-Scharlatanerie und Quacksalberei Der Verdacht auf Scharlatanerie bzw. Quacksalberei* wird umso wahrscheinlicher, je mehr der folgenden Beschreibungen zutreffen. Die Methode bzw. ein Produkt • wird durch Hinweis auf exotische Herkunft (Regenwald, Himalaya u.-a.) interessant gemacht, • soll Heilung bringen, wenn Schulmedizin in auswegloser Situation versagt, • soll durch umfangreiche Erfahrungen „untermauert“ sein, ohne dass nachvollziehbare Daten aus kontrollierten klinischen Studien zugänglich gemacht werden, • soll gegen eine Vielzahl verschiedener Erkrankungen, die nichts miteinander zu tun haben, universell wirksam sein, • soll regelmäßig zum Erfolg führen, wobei Misserfolge der Schulme‐ dizin angelastet werden, • ist an einzelne Personen beziehungsweise Institutionen gebunden, die die Therapie entwickelt haben und daran verdienen (extrem hohe Preise), 2.7 Alternativmedizin 145 <?page no="146"?> • soll keine Nebenwirkungen haben oder die Nebenwirkung von Verfahren der Schulmedizin reduzieren oder aufheben, • ist kompliziert (strenge Diätvorschriften, komplizierte Anwen‐ dungsrichtlinien u. a.), sodass Misserfolge auf Anwendungsfehler zurückgeführt werden, • soll schon seit Jahren/ Jahrzehnten verwendet werden, ohne offiziell anerkannt zu sein, • ist den Behauptungen zufolge so gut, dass unverständlich bleibt, warum keine Zulassung als Arzneimittel existiert. * siehe auch im Internet unter Quack-wacht: 🔗 http: / / web.archive.org/ web/ 20020124192258/ neuropsychiater.org/ quac kw.htm Quelle: arznei-telegramm® (2003) ➤ Lesetipps-∣-Websites Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. Stellung‐ nahme zu außerhalb der wissenschaftlichen Medizin stehenden Metho‐ den der Arzneitherapie, Stand: 03.04.1998. Im Internet unter: 🔗 https: / / www.aerzteblatt.de/ archiv/ 48961 Shaw, D. M. (2013): Homeopaths Without Borders practice exploi‐ tation not humanitarianism. The BMJ. Im Internet unter: 🔗 http: / / www.bmj.com/ content/ 347/ bmj.f5448/ rr/ 666248 Böck, H.: AIDS heilen mit Homöopathie? Im Internet unter: 🔗 http: / / www.heise.de/ tp/ artikel/ 37/ 37942/ 1.html Lenzen-Schulte, M. (2013): Alternativheiler für die Krisengebiete? FAZ, 8.10.2013. Im Internet unter: 🔗 http: / / www.faz.net/ -gwz-7i8gj Hautkapp, D. (2011): Wie Steve Jobs mit allen Mitteln den Krebs besiegen wollte. NRZ, 21.10.2011. Im Internet unter: 🔗 https: / / www.nrz.de/ leben/ digital/ wie-steve-jobs-mit-allen-mitteln-den -krebs-besiegen-wollte-id5183238.html 146 2 Methoden und Ansätze der Medizin <?page no="147"?> 4 DNA: engl. DesoxyriboNucleic Acid (Desoxyribonukleinsäure) arznei-telegramm® (2003): Zehn Indizien für Quacksalberei. Im Internet unter: 🔗 https: / / www.arznei-telegramm.de/ html/ 2003_10/ 0310095_01.html 2.8 Individualisierte Medizin Der Begriff Individualisierte Medizin, häufig synonym mit der sogenannten Personalisierten Medizin gebraucht, verwirrt auf den ersten Blick, da er suggeriert, die bisher dargestellten Methoden und Ansätze wären weder individuell auf den Einzelfall noch persönlich auf den Patienten ausgerichtet. Tatsächlich handelt es sich bei den beiden genannten Begriffen um den An‐ satz, mit Hilfe molekulargenetischer Methoden Therapien, insbesondere im Bereich der Arzneimittelanwendung, unter Berücksichtigung genetischer Strukturen auf den Patienten abzustimmen. Es werden hierbei keinerlei Per‐ sönlichkeitsmerkmale erfasst, was den Begriff der Personalisierten Medizin in Frage stellt. Da die beiden genannten Begriffe inhaltlich verwirrend sind, verbreitet sich in der Literatur zunehmend der Begriff der stratifizierten Medizin, als Ausdruck des Konzeptes, bestimmte Behandlungen bestimm‐ ten Patientengruppen aufgrund ihrer genetischen Disposition anzubieten bzw. vorzuenthalten. Ebenso könnten hierfür aber auch die Begriffe bio‐ markerbasierte oder genombasierte Medizin verwendet werden, zumal auch schon vor Entdeckung des Genoms stratifizierte, d. h. auf bestimmte Risikokonstellationen ausgerichtete Therapien, durchgeführt wurden. Trotz der begrifflichen Unschärfe wird der Begriff der Individualisierten Medizin in dem oben beschriebenen Kontext in diesem Kapitel aus Gründen der Übersicht verwendet. 2.8.1 Grundkonzept der Individualisierten Medizin Die Erkenntnis, dass grundlegende Unterschiede in der Inzidenz und Pro‐ gnose verschiedener Erkrankungen bestehen, ist seit Langem in der Medizin bekannt. Durch die Entdeckung und Erstbeschreibung der zugrundeliegen‐ den molekularen Struktur der Erbinformation in Form der DNA 4 durch 2.8 Individualisierte Medizin 147 <?page no="148"?> James Watson und Francis Crick im Jahr 1953 wurde der Grundstein zur Entschlüsselung des menschlichen Erbgutes gelegt. Die Struktur der DNA besteht aus einer spiralförmig verlaufenden Struktur zweier parallel verlaufender Stränge (Doppelhelix) von aufeinander abgestimmten Basen (Basenpaare). Das komplette menschliche Erbgut (Genom) besteht aus 3,2 Milliarden Basenpaaren. Innerhalb der DNA wurden bestimmte Abschnitte entdeckt, sogenannte Gene, die wichtige Eigenschaften des menschlichen Körpers, aber auch mutmaßlich die Anfälligkeit bzw. Resistenz gegenüber bestimmten Erkrankungen, erklären. Mit der fortschreitenden Entdeckung des menschlichen Erbgutes wuchsen auch die Hoffnungen, Erkrankungen lange vor ihrem Entstehen identifizieren und durch gezielte Behandlung, möglicherweise durch direkten Eingriff in das Erbgut, zu verhindern. Nach‐ dem zunächst durch wissenschaftliche Forschung die Methoden zur schritt‐ weisen Identifikation des Erbgutes (Sequenzierung) entwickelt werden mussten, wurde im Jahr 1985 das Human Genome Project (HGP) gegründet mit dem Ziel, das komplette menschliche Erbgut bis zum Jahr 2010 zu entziffern. Hierzu wurden Teile des Erbgutes von vielen Menschen in einem multinationalen Projekt unter Beteiligung von über 1000 Wissen‐ schaftlern bis zum Jahr 2003 identifiziert. Das Nachfolgeprojekt Encode (Encyclopedia Of DNA Elements) des US-amerikanischen National Human Genome Research Institute (NHGRI) hat sich zum Ziel gesetzt, alle funktio‐ nalen Elemente des menschlichen Genoms zu identifizieren. Im Jahr 2007 gelang erstmals die Identifikation des kompletten Erbgutes eines einzelnen Menschen. Während die Identifikation des ersten menschlichen Genoms Jahre gedauert hat und damit für Zwecke der Behandlung unbrauchbar war, wurden im Zuge der wissenschaftlichen Forschung Sequenziergeräte entwickelt, die automatisiert menschliches Erbgut binnen weniger Tage komplett identifizieren können. Durch diese technische Errungenschaft rückten verschiedene Optionen der Nutzung molekulargenetischer Metho‐ den in den Fokus, die im Folgenden beschrieben werden sollen. 2.8.2 Diagnostische/ Prognostische Ansätze Durch die Entschlüsselung des individuellen menschlichen Erbgutes können Gene identifiziert werden, die im Verdacht stehen, bei Vorliegen entspre‐ chender Mutationen, Krankheiten zu verursachen. Durch statistische Ver‐ gleiche kann so mutmaßlich auf das potenzielle Risiko geschlossen werden, zu einem späteren Zeitpunkt eine entsprechende Erkrankung zu entwickeln. 148 2 Methoden und Ansätze der Medizin <?page no="149"?> Bei Patienten mit bestimmten Erkrankungen kann beispielsweise das fami‐ liäre Umfeld untersucht werden, ob weitere Verwandte dieses Merkmal tragen. So kann bei einzelnen Erkrankungen durch präventive Maßnahmen gehandelt werden. ➤ Beispiel-∣-Angelinas Jolies Umgang mit ihrem Krebsrisiko Der Hollywoodstar Angelina Jolie berichtete, dass sie nach dem Krebs‐ tod ihrer Mutter auf ein bestimmtes krebsauslösendes Gen hin unter‐ sucht wurde. Da sie ebenfalls Trägerin dieses brustkrebsauslösenden Gens ist, entschloss sie sich zu einer radikalen Entfernung beider Brüste, um das Risiko, an Brustkrebs zu erkranken, zu minimieren. Neben dem genannten, drastischen primärpräventiven Beispiel können bei anderen Erkrankungen auch sekundärpräventive Maßnahmen, z. B. durch Krebsfrüherkennungsuntersuchungen, getroffen werden. Die Idee der früh‐ zeitigen Identifikation genetischer Risiken wurde inzwischen kommerzia‐ lisiert, sodass es mittlerweile für jedermann möglich ist, sein Erbgut auf entsprechende Defekte hin zu untersuchen. Meist wird bei dieser Diagnostik nicht das gesamte Erbgut untersucht, sondern aus Kostengründen nur be‐ stimmte Abschnitte des Genoms. Hierzu ist lediglich eine Speichelprobe des Kunden notwendig, die per Paketdienst in das sequenzierende Labor, in aller Regel in die USA, transportiert wird. Die Präsentation der Ergebnisse erfolgt in aller Regel aber nicht durch ein ärztliches Aufklärungsgespräch oder eine Erläuterung der statistischen Aussagekraft dieser Werte, was als bedenklich angesehen werden muss. Ebenso wird vielfach auch auf Erkrankungen hin untersucht, die bislang nicht behandelbar oder nicht günstig beeinflussbar sind. Insbesondere in diesen Fällen ergeben sich ethische Probleme, die in →-Kapitel 2.8.4 thematisiert werden. Ein weiteres Anwendungsfeld prognostischer Individualisierter Medizin beschäftigt sich nicht mit dem menschlichen Genom an sich, sondern mit der genetischen Zusammensetzung von Tumoren. So kann je nach genetischer Beschaffenheit des Tumors möglicherweise auf dessen Aggres‐ sivität und damit auf die optimale Behandlung geschlossen werden. Ziel dieser Einschätzung ist eine Abstimmung der Tumortherapie hinsichtlich Intensität und Wahl des geeigneten Verfahrens (→ Kapitel 3.6) zur Behand‐ lung der Krebserkrankung, um unnötige Therapien bei wenig aggressiven 2.8 Individualisierte Medizin 149 <?page no="150"?> Tumoren ebenso zu vermeiden, wie eine zu schwach angesetzte Therapie, die den Patienten nicht heilen kann. Ob und für welche Erkrankungen dieses Verfahren mit welchen Analysen zuverlässig angewandt werden kann, ist derzeit Gegenstand vielfältiger medizinischer Studien. 2.8.3 Therapeutische Ansätze Neben der frühzeitigen Erkennung von Krankheiten und der Abschätzung des Therapieerfolges kommen durch den Begriff der Individualisierten Medizin ebenso Hoffnungen auf, dass Patienten aufgrund ihrer genetischen Ausstattung auf sie individuell maßgeschneiderte Medikamente erhalten werden, die ihnen die theoretisch bestmögliche Behandlung garantieren sollen. Von diesem Ansatz ist die Medizin derzeit jedoch weit entfernt. Bisherige Studien zur Individualisierung von Medikamenten befinden sich allenfalls im Stadium der Grundlagenforschung, aufgrund des mit einer solchen Entwicklung verbundenen zeitlichen Aufwands und der nicht abschätzbaren Kosten sind diese Therapieansätze, wenn überhaupt, jemals nur in sehr ferner Zukunft erreichbar. Das bedeutet jedoch nicht, dass unter der Marke „Personalisierte Medizin“ keine Medikamente im Hochkos‐ tenbereich unter Verweis auf besondere Eignung bei bestimmter genetischer Disposition vermarktet werden. Die Jahrestherapiekosten eines solchen Medikamentes übersteigen mitunter die während der gesamten Lebenszeit eingezahlten Krankenversicherungsbeiträge eines Patienten deutlich. Dabei sind diese Medikamente nach bisherigen Studien nicht in der Lage, Patienten mit Krebserkrankungen zu heilen, sondern können die Krankheit allenfalls einige Zeit, manchmal nur wenige Monate, verzögern. Aufgrund der Viel‐ zahl von Krebserkrankungen und der technischen Möglichkeiten stellt sich auch letztlich die Frage der Finanzierbarkeit dieser Medizin. 2.8.4 Ethische Problemfelder Die Individualisierte Medizin wirft hinsichtlich ihres Nutzens, ihrer Folgen für das Individuum, aber auch für die Gesellschaft zahlreiche Fragen auf, die der Deutsche Ethikrat im Jahr 2012 wie folgt formuliert hat: • „Werden Patienten auf dem Prunkwagen der personalisierten Medizin in das Paradies medizinischen Fortschritts gefahren oder werden sie vor den Karren der molekularbiologischen Forschung und der Pharmaindustrie gespannt? 150 2 Methoden und Ansätze der Medizin <?page no="151"?> • Werden einem Patienten durch innovative Arzneimittel nutzlose Therapien mit belastenden Nebenwirkungen - und der Solidargemeinschaft die Kosten dafür - erspart oder wird er möglicherweise aufgrund statistischer Analysen von einer Therapie ausgeschlossen, die mit nur sehr geringer Wahrschein‐ lichkeit für nützlich gehalten wird, die aber genau bei ihm persönlich zu vielleicht mehreren Jahren Lebensverlängerung führen könnte? • Was muss geschehen, damit der Patient tatsächlich Zugang zu einer inno‐ vativen Therapie und damit zunächst zu einer zuverlässigen Biomarkerdiag‐ nostik hat […]? Hier sind die bisher üblichen Verfahren und Regelungen zur Kostenübernahme noch unzureichend. • Wie wird sich die personalisierte Medizin auf die Gesundheitskompetenz und die Selbstbestimmung des Patienten auswirken: Wird der Patient […] von ei‐ nem Arzt mit entsprechender fachlicher und kommunikativer Kompetenz so geführt, dass er gut informiert und beraten seine Selbstbestimmung ausüben kann, oder wird er sich im Labyrinth komplizierter Krankheitsinformationen und komplexer Gesundheitsversorgung verirren? • Wird Medizin zukünftig überhaupt noch im Rahmen einer Arzt-Patien‐ ten-Beziehung stattfinden oder werden zunehmend Internetanbieter, denen man sein Genom in Form einer Speichelprobe zur Entzifferung und Deutung zuschickt, eine genombasierte medizinische Information übernehmen? • Werden die Patienten auf eine forschungsgestützte Versorgung vertrauen dürfen? In der Zeitschrift Nature wurde jüngst […] eine Studie an 100 Brust‐ krebstumoren publiziert, in denen die Forscher […] Mutationen in mindestens 40 Krebsgenen und 73 verschiedene Kombinationen mutierter Krebsgene fanden. Wie kommt man bei solchen Ausdifferenzierungen von Subgruppen zu statistisch validen Daten über einen Therapieerfolg? […] Und wie stellt man sicher, dass die Diagnostik an nur einer kleinen Tumorprobe nicht zu unvollständigen Befunden und damit einer falschen Therapieentscheidung führt? • Wird die Solidargemeinschaft für die personalisierte Behandlung des Pati‐ enten einstehen oder wird sie ihn unter Berufung auf zu hohe Kosten für vielleicht nur wenig nützliche Maßnahmen oder mit dem Hinweis, er hätte die Erkrankung durch einen vorbeugenden Lebensstil verhindern können, in die auch finanzielle Eigenverantwortung entlassen? • Wird der Patient […] besonders erfolgreich behandelt werden oder führt die personalisierte Medizin durch eine zunehmende Biologisierung des Krankheitsverständnisses schleichend zu einer vereinzelnden, entperso‐ 2.8 Individualisierte Medizin 151 <?page no="152"?> nalisierenden Ausblendung der eigentlich personalen Dimension von Krank‐ heit und Leiden? • Summarisch gefragt: Ist der Patient Nutznießer oder Opfer personalisierter Medizin? “ ➤ Lesetipps-∣-Literatur und Websites Website des Human Genome Projects (HGP). Im Internet unter: 🔗 http: / / web.ornl.gov/ sci/ techresources/ Human_Genome/ index.shtml Website des Encode Projects. Im Internet unter: 🔗 https: / / www.encodeproject.org/ Hüsing, B.; Hartig, J.; Bührlen, B.; Reiß, T.; Gaisser, S.: Individualisierte Medizin und Gesundheitssystem. Büro für Technikfolgen-Abschät‐ zung des Bundestages (TAB), Arbeitsbericht Nr.-126. Im Internet unter: 🔗 https: / / publikationen.bibliothek.kit.edu/ 1000131765/ 121948243 Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW), Potential und Grenzen von «Individualisierter Medizin» (perso‐ nalized medicine). Im Internet unter: 🔗 https: / / www.samw.ch/ dam/ jcr: 7b211388-6d72-4421-b799-2a50f60f19ea / positionspapier_samw_individualisierte_medizin.pdf Deutscher Ethikrat (2012): Personalisierte Medizin. Der Patient als Nutznießer oder Opfer? Tagungsdokumentation der Jahrestagung des Deutschen Ethikrates 2012. Im Internet unter: 🔗 https: / / www.ethikrat.org/ fileadmin/ Publikationen/ Dokumentationen/ tagungsdokumentation-personalisierte-medizin.pdf 2.9 Planetary Health (Planetare Gesundheit) Die globale Gesundheit der Menschen ist aktuell besser als je zuvor in der Geschichte. Während sich die globale Lebenserwartung seit Beginn der In‐ dustrialisierung verdoppelt hat, wuchs gleichzeitig die Menschheit von einer Milliarde auf 8 Milliarden Menschen. Trotz steigender Bevölkerungszahlen ging die Sterblichkeit von Kindern unter 5 Jahren dabei stark zurück und trotz eines Bevölkerungszuwachses von 2 Milliarden Menschen in Ländern 152 2 Methoden und Ansätze der Medizin <?page no="153"?> mit niedrigem Einkommen leben dort 700 Millionen Menschen weniger in Armut als noch vor 30 Jahren. Dieser enorme Zuwachs an Lebenszeit und Lebensqualität wurde durch Fortschritte in den Bereichen öffentliche Gesundheit, Gesundheitsversor‐ gung, Bildung, Menschenrechtsgesetzgebung und technologische Entwick‐ lung erzielt, auch wenn diese Errungenschaften ungleiche Vorteile gebracht haben. Ermöglicht wurde dieser Fortschritt durch die Nutzung globaler ökologi‐ scher Ressourcen in bislang ungekanntem Ausmaß, der sich in einem enor‐ men Anstieg des Energieverbrauchs, damit verbunden der CO 2 -Produktion, der Wassernutzung, der Abholzung von Regenwäldern sowie zunehmender Nutzung von Düngemitteln und Übersäuerung unserer Ozeane bemerkbar macht. Da die Erde als Ganzes in bislang unvergleichbarem Ausmaß durch menschliches Handeln verändert wird, sprechen Experten davon, dass nun ein neues geologisches Zeitalter, das sogenannte Anthropozän (von anthropos (griech.) = Mensch) angebrochen ist. Diese Entwicklung wird in den kommenden Jahren aller Voraussicht nach zunehmen und den Planeten Erde als solches einem enormen Druck aussetzen. Dieser wiederum führt wie in → Abbildung 12 dargestellt zu verschiede‐ nen negativen gesundheitlichen Folgen, die eindrücklich zeigen, dass die Gesundheit unseres Planeten und unsere eigene Gesundheit untrennbar miteinander verbunden sind. 2.9 Planetary Health (Planetare Gesundheit) 153 <?page no="154"?> Klimawandel Abbau der Ozonschicht in der Stratosphäre Waldrodung und Veränderung der Böden Bodenverschlechterung und Wüstenbildung Verlust und Beschädigung von Feuchtgebieten Verlust der Biodiversität Erschöpfung und Verschmutzung des Süßwassers Urbanisierung und ihre Auswirkungen Schädigungen der Riffe und Ökosysteme in Küstennähe Beispiele für gesundheitliche Auswirkungen direkte gesundheitliche Auswirkungen: Überschwemmungen, Hitzewellen, Wassermangel, Erdrutsche, Exposition gegenüber UV-Strahlung und Schadstoffen ökosystemvermittelte Gesundheitseffekte: verändertes Risiko für Infektionskrankheiten, geringere Nahrungsmittelerträge, Erschöpfung natürlicher Arzneimittel, psychische Gesundheit (persönlich, Gemeinschaft), Auswirkung ästhetischer oder kultureller Verarmung indirekte, verzögerte und verschobene gesundheitliche Auswirkungen: vielfältige gesundheitliche Folgen des Verlusts der Lebensgrundlage, der Vertreibung der Bevölkerung (einschließlich Slumbewohnern), von Konflikten, unangemessener Anpassung und Schadensbegrenzung Umweltveränderungen und Beeinträchtigung der Ökosysteme Eskalation des menschlichen Drucks auf die globale Umwelt Abbildung 12: Beispiele negativer gesundheitlicher Auswirkungen für Menschen durch die Beeinträchtigung der Planetaren Gesundheit | übersetzt aus Safeguarding human health in the Anthropocene epoch: report of The Rockefeller Foundation-Lancet Commission on planetary health. Lancet 386: 1973-2028, DOI: https: / / doi.org/ 10.1016/ S0140-6736(15)60901-1 154 2 Methoden und Ansätze der Medizin <?page no="155"?> Die Zunahme von Extremwetterereignissen und anderen negativen Ef‐ fekten nicht nachhaltiger Nutzung globaler Ressourcen führt zunehmend zur Einsicht der absehbaren Endlichkeit globaler Ressourcen. Dies führt global vermehrt zur Diskussion um Nachhaltige Entwicklungziele und zur? prägte 2014 den Begriff Planetary Health. „Planetary Health ist das Erreichen des höchsten erreichbaren Standards an Gesundheit, Wohlbefinden und Gerechtigkeit weltweit durch umsichtige Berück‐ sichtigung der menschlichen Systeme - Politik, Wirtschaft und Gesellschaft -, die die Zukunft der Menschheit gestalten, und der natürlichen Systeme der Erde, die die sicheren Umweltgrenzen festlegen, innerhalb derer die Menschheit gedeihen kann. Vereinfacht ausgedrückt, Planetary Health ist die Gesundheit der menschlichen Zivilisation und der Zustand der natürlichen Systeme, von denen sie abhängt.“ Dieser Zusammenhang wird an einigen gesundheitlichen Folgen klar, die durch die aktuelle Beanspruchung der Erde durch die Menschheit zu erwar‐ ten sind. So ist im Fall eines ungebremsten Klimawandels im Jahr 2050 mit zusätzlich 250.000 Toten in Folge der Effekte des Klimawandels so wie Hitze oder Extremwetterlagen zu rechnen. Der Verlust der Biodiversität durch Überfischung zusammen mit zunehmendem Säuregehalt der Ozeane und an‐ deren Umweltveränderungen bedrohen die Fischbestände als Komponente des ökologischen Gleichgewichts und als Nahrungsquelle. Durch die beiden genannten Effekte droht eine globale Nahrungsmittelknappheit mit Unterernährung für Millionen Menschen. Bis 2050 könnten zudem 40 % der Erdbevölkerung in Gebieten mit enormem Wassermangel leben, was wiederum globale Migrationsbewegungen von bislang unbekanntem Aus‐ maß und globale Wasserverteilungskämpfe provozieren kann. Und durch Schädigung der Böden aufgrund nicht-nachhaltiger Nutzung gehen jedes Jahr 1-2 Millionen Hektar Ackerland verloren. Alle genannten Effekte ha‐ ben zudem das Potenzial, sich wechselseitig noch zu verstärken und können ohne Gegenmaßnahmen letztlich dazu führen, dass in wenigen Jahrzehnten große bislang besiedelte Flächen der Erde unbewohnbar geworden sind. Als relevante umsetzbare und dringend umzusetzende Maßnahmen emp‐ fiehlt die Rockefeller Foundation in ihrem Gutachten „Safeguarding human health in the Anthropocene epoch“ die in → Abbildung 13 dargestellten acht Haupthandlungsfelder. 2.9 Planetary Health (Planetare Gesundheit) 155 <?page no="156"?> Zum Schutz der menschlichen Gesundheit müssen wir die Gesundheit des Planeten erhalten, von dem wir abhängig sind. 🌍🌍 Konzept der Planetaren Gesundheit kennen | Die planetarische Gesundheit ist der höchster Standard der Gesundheit, Wohlbefinden und Gerechtigkeit weltweit. Menschliche Systeme sind verantwortlich für die Gestaltung der Zukunft der menschlichen Zivilisation und der natürlichen Systeme. 🚯🚯 Essensverschwendung reduzieren | 30-50 % aller produzierten Lebensmittel werden nie konsumiert. Die Reduzierung der Lebensmittelverschwendung bedeutet, weniger Land wird für die Landwirtschaft benötigt; das spart Energie, Wasser, trägt zum Schutz der Artenvielfalt bei und verbessert die Ernährungssicherheit. 🍎🍎 Gesundes Essen mit geringer ökologischer Beeinträchtigung | Eine Ernährung mit wenig rotem Fleisch, viel Obst und Gemüse verringern das Risiko von Herzkrankheiten. Eine Ernährungsumstellung könnte die Treibhausgasemissionen und den Flächenbedarf um bis zu 50 % reduzieren. ✋ Besseres politisches Handeln | Koordinierte globale, nationale und lokale Richtlinien um Umweltschäden zu verringern, Umweltschäden zu reduzieren und die Gesundheit zu verbessern, müssen umgesetzt werden. 🌊🌊 Effizientere Wassernutzung | Tropf- oder Tröpfchenbewässerung sind teurer aber 33 % effizienter im Wasserverbrauch. 🌳🌳 Abholzung der Wälder beenden | Seit 2000 haben wir über 2,3 Millionen km² Primärwald abgeholzt. Der REDD+-Mechanismus zielt auf die Reduzierung von Treibhausgasemissionen ab und auf die Verbesserung lokaler Lebensgrundlagen. 👪👪 Familienplanung | Rund 225 Millionen Frauen, die eine Schwangerschaft vermeiden wollen, verwenden keine wirksamen Verhütungsmittel. Die Möglichkeit der Familienplanung könnte die Zahl der Todesfälle bei Müttern um fast 30 % senken und die Ernährungssicherheit verbessern. 🌇🌇 Städteplanung | Die Planung gesunder und nachhaltiger Städte kann die Widerstandsfähigkeit gegenüber Umweltveränderungen erhöhen, die Umweltauswirkungen Begrenzen und die die Gesundheit der Menschen erhöhen. Abbildung 13: Handlungsfelder der Planetaren Gesundheit | übersetzt aus Safeguarding human health in the Anthropocene epoch: report of The Rockefeller Foundation-Lancet Commission on planetary health. Lancet 386: 1973-2028, DOI: https: / / doi.org/ 10.1016/ S0 140-6736(15)60901-1 156 2 Methoden und Ansätze der Medizin <?page no="157"?> ➤ Lesetipps-∣-Literatur und Websites The Rockefeller Foundation - Lancet Commission on planetary health: Safeguarding human health in the Anthropocene epoch: report of The Rockefeller Foundation - Lancet Commission on planetary health. Lancet 386: 1973-2028, DOI: 🔗 https: / / doi.org/ 10.1016/ S0140-6736(15)60901-1 Fink, M. (2022): Planetare Gesundheit - Monitor Nachhaltigkeit 02/ 22. Konrad-Adenauer-Stiftung. Im Internet unter: 🔗 https: / / www.kas.de/ de/ monitor/ detail/ -/ content/ planetare-gesundheit-1 2.9 Planetary Health (Planetare Gesundheit) 157 <?page no="159"?> 3 Ausgewählte Krankheitsbilder Die Lernfragen zu diesem Kapitel finden Sie unter: 🔗 https: / / narr.kwaest.io/ s/ 1111 Die hier dargestellten Krankheitsbilder stellen eine repräsentative Auswahl wich‐ tiger, für das Gesundheitssystem und viele Patienten relevanter Erkrankungen dar. Gleichwohl kann im Rahmen dieses Buches nur ein Bruchteil aller Erkran‐ kungen und im Rahmen der Darstellung der Erkrankung nur eine verkürzte, gängige Differentialdiagnose und Therapien umfassende Darstellung erfolgen. Es obliegt den Behandelnden, ggf. weitere diagnostische oder therapeutische Maßnahmen nach individuellem Krankheitsbild, weiterer Begleitumstände und Präferenzen des Patienten im Sinne der EbM durchzuführen. Zunächst erfolgt die Darstellung des Kontextes der Erkrankung, der wichtigen Meilensteine in Diagnostik und Therapie, des medizinischen und ökonomischen Kontextes der Krankheit sowie deren Ursachen (Ätiologie), deren Entstehungsprozess (Pathogenese) und deren Symptome. 3.1 Adipositas 3.1.1 Kontext der Erkrankung Adipositas leitet sich vom lateinischen Wort adeps (Fett) ab und bedeutet Fettleibigkeit. Das Übergewicht von Menschen, in vielen Kulturen ein Zeichen von Wohlstand und Reichtum, hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einer sogenannten Volkskrankheit entwickelt. Definiert wird die Erkrankung durch die 1832 von Adolphe Quételet entwickelte Klassifikation, heute bekannt als Body-Mass-Index (BMI). Der BMI ist dabei folgendermaßen definiert: BMI = K örpergewicℎt -[kg] K örpergröße-[m] 2 Folgende in → Tabelle 9 dargestellten Werte definieren die Erkrankung Adipositas, den anzustrebenden Normalzustand sowie die Unterernährung. <?page no="160"?> Es ist anzumerken, dass im Gegensatz zur Adipositas keine einheitliche Definition für Übergewicht besteht. Adipositas beschreibt sowohl einen körperlichen Zustand als auch eine Erkrankung. BMI [kg/ m²] Zustand < 16,00 starkes Untergewicht 16,00-18,49 mäßiges/ leichtes Untergewicht 18,50-24,99 Normalgewicht 25,00-29,99 Übergewicht (Präadipositas) 30,00-34,99 Adipositas Grad I 35,00-39,99 Adipositas Grad II ≥ 40,00 Adipositas Grad III Tabelle 9: Klassifikation der Gewichtszustände nach BMI Die Erkrankung ist aus medizinischer Sicht bedeutend, da sie einen bedeutenden Risikofaktor für eine Vielzahl weiterer Erkrankungen dar‐ stellt. Beispielsweise treten Früh- und Spätkomplikationen in Form von Begleiterkrankungen des Bewegungsapparates, des Verdauungssystems, des Herz-Kreislauf-Systems, des Hormonhaushaltes, aber auch psychische Erkrankungen gehäuft bei adipösen Patienten auf, sodass die Adipositas sowohl eine erhöhte Sterblichkeitsrate als auch eine reduzierte Lebensqua‐ lität verursacht. Laut DEGS-Studie 2011 leiden mittlerweile rund 24 % aller erwachsenen Männer und Frauen in Deutschland an Adipositas Grad I-III, sodass diese Krankheit neben der hohen Krankheitslast auch gravierende ökonomische Folgen für das Gesundheitssystem hat. Ernährungsbedingte Erkrankungen sind einer der häufigsten Gründe für Arbeitsunfähigkeit und verursachen ca. 30 % der gesamten Gesundheitskosten. Außerdem stellen adipöse Patienten das System der Gesundheitsversorgung vor neue Herausforderungen, da die medizinische Infrastruktur (Patientenbetten, Un‐ tersuchungsgeräte und Transportmittel) in der Regel nicht auf ein zulässiges Gesamtgewicht über 180 Kilogramm oder einen bestimmten Körperumfang ausgelegt sind, sodass hochgradig adipöse Patienten medizinische Leistun‐ gen nur verzögert oder in ausgewählten Einrichtungen in Anspruch nehmen 160 3 Ausgewählte Krankheitsbilder <?page no="161"?> können. Ebenso bedeuten massiv adipöse Patienten einen deutlich erhöhten Personalaufwand, beispielsweise um den Patienten im Bett zu lagern. Die Ätiologie der Adipositas besteht in einem Missverhältnis von zu hoher angebotener Energiemenge und relativ gesehen zu wenig benötigter Energie. Der in früheren Zeiten wichtige Evolutionsvorteil, Nahrungsmitte‐ lengpässe durch Anlage von Energiereserven in Form von Fett zu überbrü‐ cken, ist in der heutigen Zeit nicht mehr notwendig. Gleichzeitig wächst das Risiko für Adipositas durch bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen. Ei‐ nerseits werden viele Lebensmittel mit hoher Energiedichte konsumiert, andererseits hat die körperliche Aktivität in den letzten Jahrzehnten zuguns‐ ten vieler sitzender Tätigkeiten im Dienstleistungsbereich abgenommen. Während laut Münsteraner Alltags Aktivitäts Studie aus dem Jahr 2009 die durchschnittliche Gehstrecke im Jahr 1900 bei etwa 20 Kilometern pro Tag lag, werden diese Werte nur noch von wenigen Berufstätigen (Postbote: 13,5 km/ d) erreicht, während andere Berufsgruppen pro Tag weniger als einen Kilometer zurücklegen. Die WHO empfiehlt eine tägliche Wegstrecke von 10.000 Schritten, also von ca. 7 Kilometern. Diese Entwicklung zeichnet sich bereits bei Kindern ab, da in der Altersgruppe der 3-17-Jährigen bereits 15 % übergewichtig und 6 % adipös sind. Bekannte Risikofaktoren sind neben einer genetischen Disposition insbesondere Schlafmangel und die Zugehö‐ rigkeit zu einer sogenannten bildungsfernen und einkommensschwachen Bevölkerungsschicht. 3.1.2 Diagnostik Zur Diagnostik der Adipositas wurden neben dem BMI, der die Erkran‐ kung definiert, zahlreiche Maßzahlen eingeführt, wie der Broca-Index, der Ponderal-Index, das Taille-Hüft-Verhältnis, der Bauchumfang, das Taille-zu-Größe-Verhältnis oder auf Hautwiderstandsmessung oder anderen Techniken beruhende Verfahren zur Bestimmungen des Körperfettanteils. Differentialdiagnostisch sind einige, teils gut behandelbare Erkrankun‐ gen auszuschließen, die mit Adipositas einhergehen. So können psychogene Essstörungen, hormonelle Erkrankungen wie eine Unterfunktion der Schild‐ drüse (Hypothyreose) oder Nebenwirkungen von Medikamenten ebenfalls eine Adipositas trotz ausgewogener Ernährung verursachen. In diesem Fall wäre nicht eine Ernährungsumstellung, sondern eine Therapie der Grunderkrankung indiziert. 3.1 Adipositas 161 <?page no="162"?> 5 Konsumierende Erkrankungen gehen mit Gewichtsverlust einher, daher sind weitere gewichtsreduzierende Maßnahmen kontraindiziert. Eine Indikation zur Therapie besteht ab Adipositas Grad I oder bei Präa‐ dipositas, sofern Gesundheitsstörungen vorliegen, die durch Übergewicht verursacht wurden oder durch Übergewicht verschlimmert werden. Ebenso kann ein hoher psychosozialer Leidensdruck eine Therapie indizieren. Kontraindikationen für eine gewichtsreduzierende Therapie wären eine konsumierende Erkrankung 5 oder eine Schwangerschaft. 3.1.3 Therapeutische Konzepte Die S3-Leitlinie der Deutschen Adipositas Gesellschaft zur Prävention und Therapie der Adipositas empfiehlt je nach Ausgangssituation folgende Behandlungsansätze: • Ernährungstherapie • Verhaltensmodifikation • Steigerung körperlicher Aktivität • Gewichtsreduktionsprogramme • gewichtssenkende Medikamente • bariatrische Chirurgie (Adipositaschirurgie) Die Ernährungstherapie besteht in einer individuellen Anpassung der ei‐ genen Ernährung. Zur Erreichung eines nachhaltigen Effektes sollte ein tägliches Kaloriendefizit von 500 Kilokalorien (kcal) über einen Zeitraum von 12 bis 24 Wochen angestrebt werden. Die in Boulevardzeitungen ange‐ priesenen Diäten, die binnen Tagen einen Gewichtsverlust versprechen, sind nach wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht nachhaltig („Jojo-Effekt“) und teilweise gesundheitsschädlich. In zahlreichen Metaanalysen konnte ein gewichtsreduzierender Effekt durch Ernährungstherapie von zwei bis sechs Kilogramm nachgewiesen werden. Obgleich die Zusammensetzung der Makronährstoffe (Proteine, Kohlehydrate, Fette) Bibliotheken von Ernäh‐ rungsratgebern füllt, zeigen bisherige Studien, dass die Gewichtsreduktion völlig unabhängig vom Anteil der jeweiligen Makronährstoffe ist. Da Ernährungsgewohnheiten häufig assoziiert sind mit bestimmten sub‐ optimalen Verhaltensweisen (Frustessen, Essen als Belohnung bei niedrigem Selbstwertgefühl etc.), können, je nach individueller Situation, verschiedene 162 3 Ausgewählte Krankheitsbilder <?page no="163"?> psychotherapeutische Elemente eine vor allem dauerhafte Gewichtsre‐ duktion unterstützen. Die Steigerung der körperlichen Aktivität kann die Gewichtsreduktion unterstützen und anderen aufgrund von Bewegungsmangel auftretenden Erkrankungen vorbeugen. Es werden körperliche Aktivitäten von mehr als 150 Minuten pro Woche bei einem Verbrauchsziel von 1.200 bis 1.800 kcal/ Woche empfohlen. Hierbei sollen bevorzugt große Muskelgruppen mittleren bis hohen, lange andauernden Belastungen ausgesetzt werden. Der Effekt der Steigerung körperlicher Aktivität wird im Gegensatz zum Effekt der Ernährungsumstellung jedoch überschätzt. Eine Cochrane-Übersichtsarbeit mit 3.476 Patienten in 43 randomisiert-kontrollierten Studien, die den Effekt eines einjährigen Ausdauertrainings auf das Körpergewicht untersucht haben, zeigte im Mittel einen Gewichtsverlust von „nur“ zwei Kilogramm, da durch die Steigerung körperlicher Aktivität auch Muskelaufbau betrieben wird, der wiederum eine Gewichtszunahme nach sich zieht. Gewichtsreduktionsprogramme stellen eine Kombination verschie‐ dener gewichtsreduzierender Maßnahmen dar. So werden in bestimmten Programmen beispielsweise Ernährungsumstellung und Gruppensitzungen als verhaltenstherapeutisches Element miteinander kombiniert. Die Studi‐ energebnisse zeigen in allen kommerziellen Programmen eine teilweise deutliche Gewichtsreduktion. Allerdings sind viele Ergebnisse selektiv dargestellt und beinhalten eine Abbruchquote zwischen 15 % und 50 % aller beginnenden Patienten, was den Grad der Empfehlung ebenfalls ein‐ schränkt. Gewichtsreduzierende Medikamente sollten nur in Kombination mit den bisher beschriebenen Basismaßnahmen erfolgen, sofern Risikofaktoren oder Begleiterkrankungen vorliegen oder die Basistherapie bislang frustran verlaufen ist. Bestimmte Arzneimittel wie Amphetamie, Diuretika, Testoste‐ ron, Thyroxin können wegen eines inakzeptablen Nutzen-Risiko-Verhält‐ nisses nicht empfohlen werden. Ebenso findet sich für kein vertriebenes Medizinprodukt und kein Nahrungsergänzungsmittel bislang ein Nachweis der Wirksamkeit, sodass gemäß der zitierten S3-Leitlinie auch diese Maß‐ nahmen nicht empfohlen werden können. Die bariatrische Chirurgie kann durch operative Verkleinerung des Magens oder ein um den Mageneingang gelegtes Band ebenfalls als ge‐ wichtsreduzierende Maßnahme eingesetzt werden. Die primäre Indikation zur Operation ist jedoch nur gegeben, sofern die konservative Therapie mit allen anderen beschriebenen Maßnahmen keine Aussicht auf Erfolg hat, ein 3.1 Adipositas 163 <?page no="164"?> BMI > 50 kg/ m² und schwierige psychosoziale Umstände (z. B. Immobilität, hoher Insulinbedarf) vorliegen oder Begleiterkrankungen keinen Aufschub der Gewichtsreduktion dulden. Darüber hinaus kann sekundär eine OP-In‐ dikation bei anderen Konstellationen gestellt werden. 3.1.4 Primärpräventive Maßnahmen Es wird derzeit kontrovers diskutiert, ob Präadipositas tatsächlich einen Krankheitswert besitzt und daher behandlungsbedürftig ist, da in bestimm‐ ten Situationen in Studien die Lebenserwartung sogar höher als bei Normalgewichtigen war. Eine Adipositas ist jedoch in jedem Fall eine behandlungsbedürftige chronische Erkrankung. Die wirksamste Maßnahme besteht in der Primärprävention der Adipositas durch Kost mit niedriger Energiedichte (hoher Wasser-und Ballaststoffgehalt, Vollkornprodukte und bestimmte Obst- und Gemüsesorten), ausreichende körperliche Aktivität und ausreichenden Schlaf. Die Behandlung von Adipositas wird jedoch auch aufgrund global steigender Prävalenz zunehmend eine gesamtgesell‐ schaftliche Aufgabe. So wird in einigen Regionen bereits eine Steuer auf hochkalorische Getränke erhoben (z. B. in Dänemark, Frankreich, Finnland, Mexiko und Ungarn) und umfangreiche Aufklärungskampagnen versuchen, vor den Gefahren der Adipositas zu warnen. ➤ Lesetipps-∣-Literatur und Websites S3-Leitlinie der Deutschen Adipositas Gesellschaft zur Präven‐ tion und Therapie der Adipositas. Stand: 2014, derzeit in Überarbei‐ tung. Im Internet unter: 🔗 https: / / www.awmf.org/ uploads/ tx_szleitlinien/ 050-001l_S3_Adiposita s_Pr%C3%A4vention_Therapie_2014-11-abgelaufen.pdf Kurth, B.-M. (2012): Erste Ergebnisse aus der „Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland“ (DEGS). Bundesgesundheitsblatt Ge‐ sundheitsforschung Gesundheitsschutz. 55. S.-980-90. World Health Organization (2000): Obesity - preventing and mana‐ ging the global epidemic. Report of a WHO Consultation on obesity. Technical Report Series 894. Genf. Im Internet unter: 🔗 https: / / apps.who.int/ iris/ handle/ 10665/ 42330 164 3 Ausgewählte Krankheitsbilder <?page no="165"?> 3.2 Diabetes mellitus 3.2.1 Kontext der Erkrankung Der Begriff Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit) umschreibt mehrere Erkrankungen, die mit einem erhöhten Blutzuckerspiegel einhergehen. Die Bezeichnung setzt sich aus den griechischen Worten dia (hindurch) und bainein (fließen) sowie dem lateinischen Wort mellitus (honigsüß) zusammen. Die somit entstehende Bezeichnung „honigsüßer Durchfluss“ wurde gewählt, da Patienten mit hohem Blutzuckerspiegel ab einem ge‐ wissen Blutzuckerwert überschüssige Glukose über den Urin ausscheiden, was einerseits zu gesteigerter Urinproduktion, andererseits zum süßlichen Geschmack des Urins führt, einem in der Antike gängigen diagnostischen Kriterium. Neben Diabetes mellitus existiert auch noch ein Diabetes insipi‐ dus (ohne Geschmack), der jedoch völlig anderen Ursprungs ist. Diabetes mellitus (DM) hat sowohl medizinisch als auch ökonomisch eine hohe Relevanz. Es handelt sich um eine chronische Erkrankung mit großem Potenzial für gravierende Langzeitschäden an vielen Organen und einem intersektoralen Behandlungsbedarf, da neben der ambulanten hausärztli‐ chen Therapie bei Entgleisungen des Blutzuckers stationäre Aufnahmen oder sogar notfallmedizinische Behandlungen erforderlich sein können. Aus den möglichen Langzeitkomplikationen (z. B. Erblindung, Amputationen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Nierenfunktionsausfall) ergeben sich eine erhöhte Sterblichkeit, eine deutliche Einschränkung der Lebensqualität und hohe Behandlungskosten für das Gesundheitssystem. Problematisch ist in diesem Zusammenhang, dass die Erkrankung lange Zeit ohne nennens‐ werte Beschwerden verläuft und damit keinen Handlungsdruck erzeugt, die Spätkomplikationen in aller Regel aber nicht mehr umkehrbar sind. Die Prävalenz der Erkrankung beträgt laut DEGS1-Studie in Deutschland 7,2-% und steigt in der Altersgruppe > 70 Jahre auf über 20 % an. Ebenso scheint die Prävalenz bei Patienten mit niedrigem Sozialstatus deutlich erhöht gegenüber Patienten mit hohem Sozialstatus (11,6 % vs. 3,0 %). Diabetes mellitus tritt häufig in Kombination mit Bluthochdruck und Fettstoffwech‐ selstörungen auf, was als Metabolisches Syndrom bezeichnet wird. Diabetes mellitus wird allgemein in zwei verschiedene in → Tabelle 10 dargestellte Typen unterschieden, die durch Sonderformen wie beispiels‐ weise Diabetes mellitus in der Schwangerschaft (Gestationsdiabetes) und 3.2 Diabetes mellitus 165 <?page no="166"?> 6 IDDM: Insulin Dependant Diabetes Mellitus 7 NIDDM: Non-Insulin Dependant Diabetes Mellitus andere, meist vorübergehende Blutzuckerverwertungsstörungen ergänzt werden. Aus den in → Kapitel 2.5.2.2 genannten Kriterien wurden sowohl für DM Typ 1 als auch DM Typ 2 Disease-Management-Programme entwi‐ ckelt. Für die Prävention und Therapie des Diabetes mellitus Typ 2 existieren zudem Nationale Versorgungsleitlinien. Grundlage aller DM-Formen ist eine gestörte Aufnahme von Glukose in die Körperzellen, für die zum einen das in der Bauchspeicheldrüse produzierte Hormon Insulin, zum anderen die in den Körperzellen vorhandenen Insulinrezeptoren vorhanden sein müssen. Diabetes mellitus Typ 1 Typ 2 alternative Bezeichnungen Jugenddiabetes insulinpflichtiger Diabetes (IDDM 6 ) Altersdiabetes nicht insulinpflichtiger Diabetes (NIDDM 7 ) Ätiologie Infektionen, Autoimmun‐ reaktion bzw. ohne er‐ kennbare Ursache (ideopa‐ thisch) ausgelöst durch Ri‐ sikofaktoren Bluthoch‐ druck, Übergewicht, Rau‐ chen/ Alkoholkonsum, Schlaf- und Bewegungs‐ mangel, erhöhte Choleste‐ rinwerte und eine geneti‐ sche Veranlagung Pathogenese Zerstörung insulinprodu‐ zierender Langerhanszel‐ len der Bauchspeichel‐ drüse mit primärem Insulinmangel Abnahme der Insulin-sen‐ sibilität in Körperzellen bei gleichzeitig gesteiger‐ ter Insulinproduktion (In‐ sulinresistenz) Anteil an allen Diabe‐ teserkrankungen ca. 10 % Erstauftreten vorwiegend im Kindes- und Jugendal‐ ter ca. 90 % Erstauftreten mit zuneh‐ mendem Alter Primärprävention möglich bisher nicht für zahlreiche Risiko‐ faktoren gut möglich Therapiekonzept Insulinsubstitution Stufentherapie Tabelle 10: Unterscheidung von Diabetes mellitus Typ 1 und 2 166 3 Ausgewählte Krankheitsbilder <?page no="167"?> Die Klassifikation des Diabetes mellitus erfolgt anhand der in → Tabelle 11 dargestellten WHO-Kriterien. Hierzu wird neben einer Messung des venösen Blutzuckers in Nüchternheit auch eine Messung des Blutzuckers zwei Stunden nach oraler Einnahme einer definierten Menge an Glukose als Oraler Glukosetoleranztest (oGTT) durchgeführt, um die Kapazität des Körpers zur Verwertung aufgenommener Zuckermengen zu überprüfen. Einstufung Nüchternblutzucker venös/ plasmareferenziert Blutzucker im oGTT nach zwei Stunden venös normal < 110mg/ dl < 6,1mmol/ l < 140mg/ dl < 7,8mmol/ l abnorme Nüch‐ ternglukose (IFG) ≥ 110 - < 126mg/ dl ≥ 6,1 - < 7,0mmol/ l < 140mg/ dl < 7,8mmol/ l gestörte Glukoseto‐ leranz (IGT) < 126mg/ dl < 7,0mmol/ l ≥ 140 - < 200mg/ dl ≥ 7,8 - < 11,1mmol/ l Diabetes mellitus ≥ 126 mg/ dl ≥ 7,0 mmol/ l ≥ 200 mg/ dl ≥ 11,1mmol/ l Tabelle 11: WHO-Kriterien zur Definition des Diabetes mellitus 3.2.2 Diagnostik Neben der Erstdiagnostik eines Diabetes mellitus sind in regelmäßigen Abständen Folgeuntersuchungen zur Einschätzung der Wirksamkeit ein‐ geleiteter Maßnahmen, verbunden mit der Risikoabschätzung oder Entde‐ ckung von Folgeschäden, erforderlich. Hierzu sind bei DM Typ 2 folgende Maßnahmen durchzuführen: • Anamnese inkl. Familienanamnese inkl. aktueller Beschwerden • körperliche Untersuchung, auch auf typische Folgeerkrankungen • Bestimmung von Laborwerten, insbes. Blutzucker und HbA 1c • technische Untersuchungen, z.-B. EKG und Augenuntersuchung Der HbA 1c -Wert beschreibt den Anteil der roten Blutkörperchen (Erythro‐ zyten), deren roter Blutfarbstoff (Hämoglobin) an Glukose gebunden wurde (glykosiliertes Hämoglobin). Aufgrund der Lebenszeit der Erythrozyten von etwa acht Wochen ermöglicht der HbA 1c -Wert eine Aussage über den Verlauf der Blutzuckerwerte der letzten 4 bis 12 Wochen und wird daher auch als Langzeitblutzuckermessung oder Blutzuckergedächtnis bezeichnet. 3.2 Diabetes mellitus 167 <?page no="168"?> 3.2.3 Insulinsubstitution/ Stufentherapie Die Therapie des Diabetes mellitus Typ 1 erfolgt durch künstliche Zufuhr (Substitution) von Insulinen verschiedener Wirkdauer. Dabei kommen kurzwirksame Insuline unmittelbar vor Mahlzeiten und Insuline mit Lang‐ zeitwirkung zur kontinuierlichen Senkung des Blutzuckerspiegels zur An‐ wendung. Insulin kann nicht in Tablettenform aufgenommen werden, sondern muss ins Unterhautfettgewebe gespritzt werden. Die Therapie des Diabetes mellitus Typ 2 wiederum erfolgt in Form einer Stufentherapie, an deren Anfang individuelle Therapieziele zur Prävention von Folgekomplikationen mit dem Patienten vereinbart werden. Diese unterscheiden sich wie in → Tabelle 12 dargestellt in übergeordnete Lebensziele, funktionsbezogene Ziele und krankheitsbezogene Ziele. Zielkategorien beispielhaft ausgewählte Ziele mögliche ermuti‐ gende Fragen übergeordnete Lebensziele „fundamental goals“ • Erhalt und Wiederherstellung der Lebensqualität • Teilhabe am Leben erhalten • Unabhängigkeit erhalten • Verhinderung vorzeitiger Mortalität „Wenn Sie an Ihren Diabetes denken, was ist Ihnen dann für Ihr Leben besonders wich‐ tig? “ funktionsbezogene Ziele „functional goals“ • Sehkraft erhalten, Auto fahren • Tätigkeiten alleine verrichten kön‐ nen (Gehstrecke erhalten) • Arbeitsplatz erhalten • Minimierung der Belastung und der Nebenwirkungen durch die Therapie • Sexualität erhalten „Wenn Sie an mögli‐ che Einschränkungen durch Ihren Diabetes denken, was möchten Sie dann erreichen? “ „Welche Aktivitäten möchten Sie gern wei‐ termachen können? “ krankheitsbezogene Ziele „disease specific goals“ • Schmerzen lindern • besser schlafen • bessere Stoffwechsel-Kontrolle • kein schlechtes Gewissen beim Essen • Folgeschäden vermeiden (Nieren‐ funktion erhalten, Blasenfunktion er‐ halten, keine Vorlagen benötigen) „Wenn Sie an Ihren Diabetes denken: Wel‐ che Beschwerden oder Aspekte Ihrer Erkran‐ kung möchten Sie ver‐ ändern? “ * Die Tabelle erhebt keinen Anspruch darauf, alle potenziellen Krankheitsziele bei einer komplexen Erkrankung wie Diabetes abzubilden Tabelle 12: Ziel-Kategorien und Beispiele aus Sicht des Menschen mit Typ-2-Diabetes | Quelle: in Anlehnung an NVL Diabetes mellitus, 2. Auflage, März 2021 168 3 Ausgewählte Krankheitsbilder <?page no="169"?> Die Behandlung eines DM Typ 2 beginnt mit der sogenannten Basisthera‐ pie, bestehend aus Schulung des Patienten, Ernährungstherapie, Steigerung der körperlichen Aktivität, Raucher-Entwöhnung und ggf. weiteren Maß‐ nahmen je nach Begleiterkrankungen. Sofern der vereinbarte Zielwert des HbA 1c -Wertes erreicht wird, muss unter Beibehaltung der Basistherapie auf die jeweils nächsthöhere Therapiestufe eskaliert werden. Die zweite Stufe besteht nach Abschätzung des Risikos für diabetesassoziierte Erkrankungen entweder in der Gabe des blutzuckersendkenden Medikamentes Metformin in Tablettenform (orales Antidiabetikums) oder einer Kombination aus Metformin und SGLT2-Hemmer bzw. GLP-1-RA. Sollte das Therapieziel innerhalb von 3-6 Monaten nicht erreicht werden, soll eine Überprüfung der Therapiestrategie und des Therapieziels in partizipativer Entscheidungsfin‐ dung erfolgen. Es besteht dann auch die Möglichkeit, weitere Medikamente hinzuzufügen oder die Therapie zu intensivieren und falls nötig auch Insulin zu spritzen. 3.2.4 Prognose und Perspektiven Wie in → Kapitel 2.5.4 beschrieben, zeichnet sich durch Einführung von DMPs für Diabetes-mellitus-Patienten mit einer leitliniengestützten Thera‐ pie sowie Schulungsprogrammen zur Vermeidung von Langzeitschäden einerseits eine Verbesserung der Behandlung ab. Andererseits deuten epi‐ demiologische Untersuchungen auf eine deutliche Zunahme der Prävalenz hin. Dies kann zum einen durch den demographischen Wandel, zum anderen durch die Zunahme eines ungesunden Lebensstils begründet sein, sodass insbesondere der Stärkung primärpräventiver Maßnahmen eine erhöhte Bedeutung zukommen sollte. ➤ Lesetipps-∣-Literatur und Websites Faktenblatt der DEGS1-Studie zur Prävalenz von Diabetes mellitus. Im Internet unter: 🔗 https: / / www.rki.de/ DE/ Content/ Gesundheitsmonitoring/ Gesundheitsb erichterstattung/ GBEDownloadsF/ degs1/ Diabetes_mellitus.pdf Nationale Versorgungsleitlinien für Diabetes mellitus Typ 2. Im Internet unter: 🔗 http: / / www.leitlinien.de/ nvl/ diabetes 3.2 Diabetes mellitus 169 <?page no="170"?> World Health Organization (2006): Definition and Diagnosis of Dia‐ betes Mellitus and Internediate Hyperglycemia. Genf. Im Internet unter: 🔗 https: / / www.who.int/ publications/ i/ item/ definition-and-diagnosis-ofdiabetes-mellitus-and-intermediate-hyperglycaemia Deutsche Diabetes-Hilfe (2022): Deutscher Gesundheitsbericht Dia‐ betes 2022. Im Internet unter: 🔗 https: / / www.diabetesde.org/ system/ files/ documents/ gesundheitsberich t_2022.pdf 3.3 Arterielle Hypertonie ➤ Exkurs-∣-das Herz-Kreislauf-System verstehen Das Herz, ein etwa faustgroßes muskuläres Hohlorgan, pumpt über ein autonomes Reizleitungssystem gesteuert kontinuierlich Blut durch den menschlichen Körper, um so alle Zellen mit Sauerstoff und Nährstoffen zu versorgen. Dazu zieht ein Blutgefäßsystem durch den menschlichen Körper bestehend aus Arterien (Blutgefäße, die vom Herzen wegfüh‐ ren) und Venen (Blutgefäße, die zum Herzen führen). Der Blutkreislauf besteht aus zwei miteinander in Verbindung stehenden Systemen, dem Lungenkreislauf, der Herz und Lunge zwecks Anreicherung des Blutes mit Sauerstoff in der Lunge und Rücktransport zum Herzen verbindet, und dem Körperkreislauf, der sauerstoffreiches Blut in die Organe und Gewebe transportiert und schließlich wieder am Herzen endet. Durch den Herzschlag wird eine Druckwelle (Puls) erzeugt, die den Blutfluss im Körper auch gegen die Schwerkraft ermöglicht. Herzfrequenz und Blutdruck sind mit einfachen Mitteln messbar. Wäh‐ rend die Herzfrequenzbestimmung durch Pulsmessung beispielsweise am Handgelenk erfolgt, werden bei der Blutdruckmessung mittels einer Blutdruckmanschette zwei Werte, ein oberer Blutdruckwert (Systole) und ein unterer Blutdruckwert (Diastole), in der Einheit Millimeter Quecksilbersäule (mmHg) bestimmt. Herzfrequenz und Blutdruck sind von verschiedenen Einflussfaktoren abhängig, ermöglichen bei Anstieg 170 3 Ausgewählte Krankheitsbilder <?page no="171"?> eine höhere körperliche Leistungsfähigkeit, was in der Evolution bei Flucht oder in einer Kampfsituation einen Vorteil ergab. Jedoch müssen diese Funktionen innerhalb gewisser Ober- und Untergrenzen dauerhaft stabil bleiben, um die Funktionsfähigkeit des menschlichen Körpers und insbesondere die Sauerstoffversorgung des Gehirns zu gewährleisten. Abbildung 14: Schematische Darstellung des Herz-Kreislauf-Systems | Quelle: Al-Ab‐ tah, Jallal; Ammann, Angelika; Bensch, Sandra; et al. (2015): I care Pflege, Stuttgart | ©-Thieme, Stuttgart 3.3.1 Kontext der Erkrankung Als Hypertonus bezeichnet man abgeleitet von den lateinischen Begriffen hyper (über) und tonus (Druck) einen zu hohen Druck in einem System. Im medizinischen Kontext ist der Begriff vor allem für die Beschreibung 3.3 Arterielle Hypertonie 171 <?page no="172"?> eines Überdrucks im Blutkreislaufsystem gebräuchlich. Hierbei werden die arterielle Hypertonie als Blutdruckerhöhung im Körperkreislauf, die pulmonale Hypertonie im Lungenkreislauf, die portale Hypertonie im Pfortaderbereich sowie vorübergehende Hypertonien durch Erkrankungen, Medikamenteneinnahme oder als Komplikation in ca. 10 % aller Schwan‐ gerschaften unterschieden. Die mit Abstand häufigste Erkrankung, auf die im Folgenden fokussiert werden soll, ist die arterielle Hypertonie (aHT). Die aHT ist aufgrund ihrer hohen Prävalenz von 44 % in der Altersgruppe der über 35-Jährigen und ihrer enormen möglichen Folge‐ schäden (Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Schlaganfälle, Diabetes mellitus etc.) eine Volkskrankheit mit hohem medizinischen und ökonomischen Handlungsbedarf. So steigt bei Vorliegen einer unbehandelten Hypertonie das Risiko einer Erkrankung des Herz-Kreislauf-Systems von 1,4 % auf bis zu 40 % an, wobei diese kardiovaskulären Erkrankungen derzeit die häufigste Todesursache in Deutschland darstellen. Etwa 85 % aller aHTs werden als primär bzw. essentiell bezeichnet, was zum Ausdruck bringen soll, dass keine singuläre Ursache identifiziert und somit nicht kausal behandelt werden kann. In 15 % aller Fälle hingegen, den sekundären Hypertonien, ist eine einzelne Ursache erkennbar, die oft auch kausal behandelbar ist. Die WHO teilt die aHT in drei Grade ein: Grad 1 beschreibt eine aHT ohne Schäden an Endorganen, Grad 2 eine aHT mit Schäden an Endorganen und Grad 3 eine aHT mit kardiovaskulären Folgeerkrankungen. Kategorie systolisch (mmHg) diastolisch (mmHg) optimaler Blutdruck < 120 < 80 normaler Blutdruck 120-129 80-84 hoch-normaler Blutdruck 130-139 85-89 milde Hypertonie (Grad 1) 140-159 90-99 mittlere Hypertonie (Grad 2) 160-179 100-109 schwere Hypertonie (Grad 3) ≥ 180 ≥110 isolierte systolische Hypertonie ≥ 140 < 90 Tabelle 13: AWMF-Klassifikation der Hypertonie 172 3 Ausgewählte Krankheitsbilder <?page no="173"?> 8 Weißkitteleffekt: Eine durch Aufregung erzeugte, nicht-krankhafte Blutdruckerhö‐ hung, die durch die Untersuchung selbst entsteht. Die Klassifikation der Hypertonie erfolgt anhand des gemessenen Blut‐ drucks wie beispielsweise bei der AWMF-Klassifikation in → Tabelle 13. Als Risikofaktoren für die Entstehung einer aHT gelten: • eine genetische Disposition • Rauchen • Adipositas • Bewegungsmangel • Stress • hoher Kochsalzkonsum • hoher Alkoholkonsum Hieraus wird bereits das hohe primärpräventive Potenzial im Rahmen der persönlichen Lebensführung ersichtlich. Ähnlich wie der Diabetes mellitus Typ 2 im frühen Stadium ist sie allerdings kaum durch nennenswerte Symptome gekennzeichnet, weshalb die aHT auch als Silent Killer bezeichnet wird. Gelegentlich treten bei Bluthochdruck eher unspezifische Symptome wie Kopfschmerzen, Schwin‐ del, Abgeschlagenheit oder Nasenbluten auf. Bluthochdruckkrisen können sich durch Atembeschwerden, Engegefühl in der Brust (Angina pectoris), einem Klopfgefühl im Brustkorb (Palpitationen), Übelkeit, Sehstörungen, Nervosität oder erhöhtem Harndrang bemerkbar machen. 3.3.2 Diagnostik Im Rahmen der Hypertoniediagnostik kommen neben der Anamnese fol‐ gende Untersuchungsverfahren zum Einsatz: • Ruheblutdruckmessung (Cave: Weißkitteleffekt 8 ) • Auskultation (Herz, Halsschlagadern, Bauchraum) • Augenhintergrunduntersuchung (Ophthalmoskopie) • Bestimmung verschiedener Laborwerte • Untersuchung kardiovaskulärer Risikofaktoren (z. B. Cholesterin, Blut‐ zucker) • Elektrokardiogramm (EKG) • Herzultraschalluntersuchung (Echokardiografie) 3.3 Arterielle Hypertonie 173 <?page no="174"?> Differentialdiagnostisch sind Ursachen der sekundären Hypertonie wie Nierenerkrankungen, Störungen im Hormonhaushalt, Gefäßerkrankungen, Tumoren, psychiatrische Erkrankungen und schmerzbedingte Hypertonien zu unterscheiden. 3.3.3 Therapeutische Konzepte Während sekundäre Hypertonien in erster Linie kausal therapiert werden, sollte bei der primären/ essentiellen aHT in Abhängigkeit der Blutdruckhöhe sowie dem Vorhandensein von Risikofaktoren stratifiziert vorgegangen werden. So empfehlen die Leitlinien der European Society of Hypertension (ESH) und European Society of Cardiology (ESC) aus dem Jahr 2013 ab Hypertension Grad 1 oder hochnormalem Blutdruck und vorhandenen Risikofaktoren grundsätzlich je nach vorhandenem Lebensstil Anpassungen desselben. Hierzu zählen: • Reduktion der Kochsalzaufnahme (5-6 g/ d) • Reduktion des Alkoholkonsums (♂<-30g/ d; ♀<-20 g/ d) • Verzicht auf Nikotin • ausgewogene Ernährung mit Obst, Gemüse und fettarmen Lebensmitteln • Reduktion des Körpergewichts (BMI-25 kg/ m²) • Reduktion des Körperumfangs (♂<-102cm; ♀<-88-cm) • moderates körperliches Training (30-min. 5-7-d/ Woche) Sofern diese Änderungen nicht ausreichen, um einen normalen bzw. hoch-normalen Blutdruck zu erreichen, wird eine blutdrucksenkende (anti‐ hypertensive) Therapie begonnen. Hierbei kommen verschiedene Medika‐ mentengruppen zum Einsatz, die je nach Beschwerden in die Steuerung von Herzfrequenz oder Blutgefäßwiderstand oder die hormonelle Blutdruckre‐ gulation eingreifen. Ziel sollte in jedem Fall ein systolischer Blutdruckwert <-140 mmHg und ein diastolischer Wert <-90 mmHg sein. 3.3.4 Prognose Durch adäquate antihypertensive Therapie kann die Inzidenz hypertonieas‐ soziierter Folgeerkrankungen deutlich reduziert werden. So ergab eine Meta-Analyse von 123 randomisierten kontrollierten Studien durch Ettehad und Kollegen aus dem Jahr 2016 eine Senkung der Gesamtsterblichkeit durch 174 3 Ausgewählte Krankheitsbilder <?page no="175"?> antihypertensive Therapie um 13 %. Allerdings erreichen nicht alle Patienten unter leitliniengerechter Therapie normale Blutdruckwerte. ➤ Lesetipps-∣-Literatur und Websites ESC Pocket Leitlinien zur Therapie der arteriellen Hypertonie. Im Internet unter: 🔗 https: / / doi.org/ 10.1093/ eurheartj/ ehy339 Ettehad, D. et al. (2016): Blood pressure lowering for prevention of cardiovascular disease and death: a systematic review and meta-analysis. Lancet 2016; 387: 957-67 3.4 Akutes Koronarsyndrom 3.4.1 Kontext der Erkrankung Das Herz wird wie alle Muskeln im menschlichen Körper über den Blutkreis‐ lauf mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt. Hierzu entspringen aus der Hauptschlagader (Aorta) Blutgefäße, die sich wie ein Kranz um den Herz‐ muskel verteilen und daher auch als Herzkranzgefäße bezeichnet werden. Kommt es zu einer Verengung oder gar einem Verschluss eines dieser Gefäße (Infarkt), wird das dahinterliegende Muskelgewebe durch verminderten Blutfluss nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt, was als Ischämie bezeichnet wird. Da es sich bei dem unterversorgten Gewebe um Muskulatur handelt, ist neben dem Begriff Herzinfarkt auch die Bezeichnung Myokardinfarkt geläufig, abgeleitet von den lateinischen Wortbestandteilen myo (Muskel) und kardio (Herz). Hierdurch kann die betroffene Muskulatur sich nicht mehr im erforderlichen Umfang am Zu‐ sammenziehen des Herzmuskels (Herzkontraktion) beteiligen. Je größer das betroffene Gebiet ist, desto gravierender ist die Reduktion der Herzleistung. Im schlimmsten Fall kommt es zu einem Herz-Kreislaufstillstand, der zu einer Unterversorgung aller Körperzellen, insbesondere der Nervenzellen im Gehirn führt. Während die Ischämie-Toleranz des Herzmuskelgewebes ca. 15-30 Minuten beträgt, führt ein Herz-Kreislaufstillstand unbehandelt binnen weniger Minuten zur irreparablen Schädigung des Gehirns und schließlich zum Tod des Patienten. Der Herzinfarkt ist somit ein absoluter 3.4 Akutes Koronarsyndrom 175 <?page no="176"?> 9 IGES: Institut für Gesundheits- und Sozialforschung 10 ACS: engl. Acute Coronary Syndrom 11 STEMI: ST-Elevation Myocardial Infarction 12 NSTEMI: Non- ST-Elevation Myocardial Infarction medizinischer Notfall. Die Prävalenz der Erkrankung in Deutschland beträgt 300/ 100.000 Einwohnern/ Jahr, was einer jährlichen Zahl von etwa 280.000 Herzinfarkten entspricht. Die Sterblichkeitsrate bei Herzinfarkt beträgt ca. 20 %, wobei sie mit zunehmendem Alter des Infarktpatienten steigt. Zusammen mit der Koronaren Herzkrankheit (KHK) ist der Herzinfarkt die häufigste angegebene Todesursache in Deutschland. Die jährlichen The‐ rapiekosten belaufen sich laut Weißbuch Herz 2013 des IGES 9 im deutschen Gesundheitssystem auf ca. 1,84 Milliarden Euro und sind zwischen 2002 und 2008 überproportional zu Therapien anderer Erkrankungen um 74 % gestiegen. Die aktuelle Klassifikation des Herzinfarktes erfolgt in Abgrenzung zu vorübergehender Brustenge (Angina pectoris), die als pektorale Beschwer‐ den von weniger als 20 Minuten Dauer definiert sind. Beschwerden längerer Dauer gelten als Akutes Koronarsyndrom (ACS 10 ), das wiederum aufge‐ teilt wird je nach den in → Abbildung 15 dargestellten EKG-Befunden eingeteilt in: • Herzinfarkt mit ST-Streckenhebung (STEMI 11 ) • Instabile Angina pectoris • Herzinfarkt ohne ST-Streckenhebung (NSTEMI 12 ) P-Welle QRS-Komplex ST-Strecke P Q R S T T-Welle ST-Strecke P Q R S T Normalbefund ST-Streckenerhöhung Abbildung 15: EKG im Normalbefund und bei STEMI 176 3 Ausgewählte Krankheitsbilder <?page no="177"?> Die Risikofaktoren haben einen hohen Deckungsgrad zu den in den → Kapiteln 3.1, → 3.2 und → 3.3 genannten Ursachen. Hierunter fallen: Patientenalter, Rauchen, Hypertonie, Diabetes mellitus, Fettstoffwechselstö‐ rungen, Adipositas, Bewegungsmangel, Stress und genetische Veranlagung. Männer sind zudem häufiger vom ACS betroffen als Frauen. Durch die genannten Risikofaktoren kommt es im Bereich der Herzkranz‐ gefäße zu einer Verkalkung und damit einhergehenden Verengung der Gefäße. Löst sich ein Teil der Ablagerungen oder gelangt ein Blutgerinnsel (Thrombus) in die Herzkranzgefäße, kann es zum Infarkt kommen. Ebenso verschlimmert ein reflektorisches Zusammenziehen der Herzkranzgefäße (Koronarspasmus) bei Sauerstoffmangel das Geschehen. Symptome des ACS können sein: • plötzlich einsetzender Brustschmerz • Druckgefühl hinter dem Brustbein (retrosternal) • Schmerzausstrahlung in linken Arm, Kiefer oder Rücken möglich • Unruhe, Angst • Übelkeit Etwa 20 % aller Herzinfarkte verlaufen jedoch „stumm“, ohne charakteristi‐ sche Symptome. 3.4.2 Diagnostik Die Diagnostik des ACS besteht neben der Anamnese und körperlichen Untersuchung in der Anfertigung eines sogenannten 12-Kanal-EKGs in Ruhe mit ST-Streckenüberwachung - aufgrund moderner Medizintechnik in vielen Regionen bereits im Rettungswagen verfügbar - und der Analyse zahlreicher Laborparameter zur Sicherung bzw. dem Ausschluss einer Myokardischämie bzw. wichtiger Differentialdiagnosen. Aufgrund der räumlichen Beziehung des Herzens zu zahlreichen Organen sind vielfältige Differentialdiagnosen denkbar, die aus Beschwerden des Herzens, der Lunge, des Verdauungsweges, der Gefäße, des Bewegungsap‐ parates, des Gefäßsystems oder gar durch Blutarmut (Anämie) oder Infektio‐ nen ausgelöst werden können. Da jedoch nur wenige Differentialdiagnosen annähernd zeitkritisch wie ein ACS sind, werden pektorale Beschwerden bis zum Beweis des Gegenteils als ACS angesehen und dementsprechend überwacht. 3.4 Akutes Koronarsyndrom 177 <?page no="178"?> 13 PTCA: Percutaneous Transluminal Coronary Angioplasty 3.4.3 Therapeutische Konzepte Je nach Ausprägung des ACS kann neben der rettungsdienstlichen Alarmie‐ rung eine Herz-Lungen-Wiederbelebung durch Laien notwendig sein. Diese einfache aber lebensrettende Maßnahme sollte von jedem Erwachse‐ nen beherrscht werden, da ein entsprechender Notfall jederzeit im Familien- oder Freundeskreis sowie im beruflichen Umfeld auftreten kann. Auch wenn Patienten bei milderen Verläufen noch uneingeschränkt kontaktfähig sind, sollte eine notfallmedizinische Behandlung sofort eingeleitet werden. Die Therapie des ACS sollte bei Myokardinfarkt idealerweise innerhalb der ersten Stunde (golden hour) nach Beginn des Ereignisses beginnen, was wiederum hohe Anforderungen an die präklinische Infrastruktur sowie die Übergabeprozesse an die weiterversorgenden Einrichtungen stellt. Neben der Möglichkeit des Auflösens eines Blutgerinsels kommt insbesondere auf‐ grund der guten Verfügbarkeit interventioneller Versorgungseinrichtungen eine invasive Wiedereröffnung des Gefäßes mittels Dilatation (PTCA 13 ) über einen durch die Leistenschlagader eingeführten Katheter mit Ballon und ggf. einer einzusetzenden Gefäßprothese (Stent) vielfach als Mittel der Wahl in Betracht. Sollten diese Versuche fehlschlagen, ist eine Eröffnung des Brustkorbes mit einer chirurgischen Intervention durch Einfügen von Umgehungskreisläufen im Bereich der Herzkrankgefäße (Koronarbypas‐ schirurgie) indiziert. 3.4.4 Prognose und Präventive Maßnahmen Die Prognose eines Myokardinfarktes galt bis vor ca. 100 Jahren in nahezu al‐ len Fällen als infaust. Mit der Entwicklung blutgerinselauflösender (throm‐ bolytischer) Medikamente und der Ballondilatation, einer Optimierung des prä- und innerklinischen Managements zur Verkürzung der Ischämiezeit, konnte trotz steigender Inzidenz der Erkrankung die Sterblichkeitsrate im letzten Jahrzehnt um ein Drittel reduziert werden. Ein Schwerpunkt weiterer Verbesserungen muss sicher, wie bei Diabetes und Bluthochdruck, im Ausbau der Umsetzung primärpräventiver Maßnahmen liegen. 178 3 Ausgewählte Krankheitsbilder <?page no="179"?> 14 Dies entspricht hintereinander gereiht einer Länge von ca. 7.000 Kilometern bzw. der Distanz Berlin-Peking. ➤ Lesetipps-∣-Literatur und Website Lottmann, K.; Klein, S.; Bleß, H.-H. (2013): Weißbuch Herz. Versorgung des Akuten Koronarsyndroms in Deutschland. Stuttgart. ESC Pocket Leitlinien u. a. zur Therapie des Akuten Koronar‐ syndroms mit und ohne ST-Streckenhebung. Im Internet unter: 🔗 https: / / leitlinien.dgk.org/ pocketleitlinie/ 3.5 Schlaganfall 3.5.1 Kontext der Erkrankung Das Gehirn ist das Organ mit der höchsten Durchblutungsrate und dem höchsten Sauerstoff- und Energiebedarf im Verhältnis zur Organmasse. Es wird im Wesentlichen über die Halsschlagadern (Carotis-Arterien) mit Blut versorgt, die sich in ein komplexes System von Blutgefäßen verzweigen, um so die Nervenzellen im Gehirn mit Blut zu versorgen. Kommt es in Folge eines Gefäßverschlusses (thromboembolisches Ereignis) oder einer Blutung durch Gefäßverletzung (Hämorrhagie) in diesem System zu einer Minderdurchblutung (Ischämie) bestimmter Gehirnregionen, wird von einem Schlaganfall bzw. dem englischen Begriff Stroke gesprochen. Der Be‐ griff Schlaganfall leitet sich der von Hippocrates gewählten Bezeichnung Apoplexia ab, die dem griechischen Wort apoplessein (niederschlagen) entspringt. Der Umfang und die Art der Beeinträchtigung bei einem Schlaganfall hängen jeweils vom betroffenen Hirnareal ab. Da Nervenzellen bei Sauer‐ stoffmangel binnen Minuten absterben, kann es bei einem Schlaganfall zu einem massiven, irreparablen, ggf. sogar tödlich verlaufenden Ausfall wichtiger Hirnfunktionen kommen. Zwar verfügt das menschliche Gehirn über etwa 100 Milliarden Nervenzellen (Neuronen), die durch ca. 100 Billionen Verzweigungen (Synapsen) verbunden sind, aber während eines Schlaganfalls gehen pro Minute ca. 2 Millionen Nervenzellen zugrunde 14 , 3.5 Schlaganfall 179 <?page no="180"?> durchschnittlich pro Schlaganfall 1,2 Milliarden Neurone. Im Umfeld der unmittelbar betroffenen Neuronen, die in aller Regel nicht zu retten sind, be‐ findet sich minderdurchblutetes Gewebe, das als Penumbra (lat. Halbschat‐ ten) bezeichnet wird. Diese Zellen sind ebenfalls vom Absterben bedroht, können aber durch rechtzeitige Therapie gerettet werden. Problematisch ist, dass der betroffene Bereich des Gehirns bei Sauerstoffmangel reflek‐ torisch anschwillt, so umliegendes Gewebe ebenfalls in Mitleidenschaft zieht und ggf. eine hirndrucksenkende Therapie eingeleitet werden muss. Vom Schlaganfall abzugrenzen ist eine vorübergehende (transitorische) Minderdurchblutung, die als Transitorisch Ischämische Attacke (TIA) bezeichnet wird, deren Symptome sich aber innerhalb von 24 Stunden wieder vollständig zurückbilden. In Deutschland sind vom Ischämischen Schlaganfall ca. 180/ 100.000 Menschen jährlich betroffen, wobei ca. 80 % dieser Patienten älter als 60 Jahre sind, während die Inzidenz des hämorrha‐ gischen Schlaganfalls in Deutschland, anders als beispielsweise in Asien mit 20/ 100.000 Menschen jährlich, deutlich geringer als die des Ischämischen Schlaganfalls ist. Insgesamt werden somit ca. 300.000 Patienten mit Schlag‐ anfall und ca. 100.000 Patienten mit TIA behandelt. Da ein Drittel der überlebenden Patienten bleibende Gesundheitsschäden erleidet, zählt der Schlaganfall wie auch das Akute Koronarsyndrom daher zu den absoluten und zeitkritischen medizinischen Notfällen. Die ökonomischen Kosten des Schlaganfalls sind ebenfalls erheblich, da einerseits bei Schlaganfällen jun‐ ger Patienten lange Zeiten der Arbeitsunfähigkeit entstehen können und andererseits die Folgekosten durch Arbeitsunfähigkeit, medizinisch wie beruflicher Rehabilitation oder dauerhafte Pflegebedürftigkeit der Patienten immens sind. Die Risikofaktoren des Schlaganfalls beinhalten modifizier‐ bare und nicht modifizierbare Risikofaktoren, die einen hohen Deckungs‐ grad mit denen bereits vorgestellter Krankheitsbilder aufweisen: Zu den nicht modifizierbaren Faktoren zählen genetische Veranlagung, ethnische Zugehörigkeit, Geschlecht oder Alter. Die modifizierbaren Risikofaktoren sind Hypertonie, Nikotinkonsum, ein erhöhter Cholesterinspiegel im Blut, Diabetes mellitus, Adipositas und bestimmte Herzrhythmusstörungen. Typische in der Regel plötzlich auftretende Anzeichen eines Schlagan‐ falls können je nach betroffener Hirnregion sein: • einseitige Lähmung einer Körperseite, Gesichtshälfte (herabhängender Mundwinkel), eines Arms oder Beins • einseitiges Taubheitsgefühl in Arm, Bein oder Gesichtsbereich 180 3 Ausgewählte Krankheitsbilder <?page no="181"?> • Sehstörungen bis hin zur vorübergehenden Erblindung • Sprechstörungen bis hin zum Verlust des Sprachvermögens • verminderte Ausdrucksfähigkeit (z. B. sinnlose Äußerungen, Wortfin‐ dungsstörungen) • Störung des Sprachverständnisses (Anweisungen können nicht umge‐ setzt werden) • Gleichgewichtsstörungen • Schwindel • Bewusstlosigkeit • starke Kopfschmerzen (vor allem bei Hämorrhagischem Schlaganfall) 3.5.2 Diagnostik Die Diagnostik sollte unter dem Leitsatz „time is brain“ so zügig wie möglich erfolgen. Da die Therapie eines Ischämischen Schlaganfalls (Auflö‐ sen des Blutgerinsels, Hemmung der Blutgerinnung) grundsätzlich entge‐ gengesetzt verläuft als bei einem Hämorragischen Schlaganfall (Stoppen der Blutung), muss vor Einleitung der Therapie durch ein bildgebendes Verfahren die Ursache des Schlaganfalls festgestellt werden. Dies kann mittels einer sehr schnell durchzuführenden Computertomographie (CT) oder der noch aussagekräftigeren Magnetresonanztomographie erfolgen, die allerdings deutlich länger dauert als ein CT. Zur weiteren Diagnostik zählen je nach Schwere der Erkrankungen und Befund in der Bildgebung neben der Anamnese die klinische-neurologische Untersuchung, bestimmte Blutwerte, Doppler-/ Duplexsonographie, EKG, Echokardiographie, Lumbalpunktion, Angiographie und ggf. Elektroence‐ phalogramm (EEG). Mit Hilfe der Basisdiagnostik können neben der Unterscheidung eines ischämischen und eines hämorrhagischen Schlaganfalls folgende Diffe‐ rentialdiagnosen bestätigt bzw. ausgeschlossen werden: Sinus-/ Venen‐ thrombose, epileptischer Krampfanfall mit sogenannter TODD Parese, Un‐ terzuckerung (Hypoglykämie), hypertensive Krise, komplizierte Migräne, Meningitis/ Enzephalitis sowie psychische Störungen. Aufgrund der zeitkritischen Therapieindikation sollte jeder Verdacht eines Schlaganfalls so schnell wie möglich diagnostiziert und bei Vorliegen eines Schlaganfalls schnellstmöglich therapiert werden. Hierzu wurden in Deutschland besonders ausgestattete Stroke Units etabliert, in denen 3.5 Schlaganfall 181 <?page no="182"?> sowohl Diagnostik als auch Therapie rund um die Uhr, sowohl personell als auch strukturell zeitnah gewährleistet werden. 3.5.3 Therapeutische Konzepte Die Basistherapie des Schlaganfalls besteht in der kontinuierlichen und intensiven Überwachung der Körperfunktionen des Patienten mit dem Ziel, beispielsweise Körpertemperatur und Blutzuckerspiegel im Normbereich zu halten. Eine Vorbeugung vor Blutgerinseln (Thromboseprophylaxe) ist ebenfalls indiziert. Besteht bei einem ischämischen Schlaganfall die Möglichkeit, die Behandlung innerhalb von viereinhalb Stunden nach dem Ereignis (oder der letzten beobachteten normalen Situation) durchzuführen, kann eine blutgerinselauflösende Therapie (Lyse) versucht werden, um den verschlossenen Teil des Blutgefäßsystems wieder zu öffnen. Die mechani‐ sche Entfernung von Thromben durch das Gefäßsystem wie im Fall der in → Kapitel 3.4.3 beschriebenen PTCA ist mittlerweile bei einer Subpo‐ pulation der ischämischen Schlaganfälle ein etabliertes Verfahren, das in Kombination mit der intravenösen Lysetherapie in einem interventionellen neuroradiologischen Zentrum erfolgen sollte. Bei einem hämorrhagischen Schlaganfall hingegen wäre eine Lysethera‐ pie tödlich. Hier stehen neben der konservativen Therapie zur Senkung des Hirndrucks die operative Entlastung der Blutung und im Verlauf der Ver‐ schluss der Blutungsquelle im Vordergrund. Dieser kann bei einer häufig ur‐ sächlichen Gefäßaussackung (Aneurysma) je nach Lage und Größe durch Setzen eines vom Aussehen einer Wäscheklammer ähnelnden Verschlusses (Clipping) oder durch Füllung des Aneurysmas mittels Spiraldrähten aus Platin (Coiling) erfolgen. Die allgemeine anschließende Therapie besteht in der Vermeidung se‐ kundärer Komplikationen wie Schluckstörungen, Harnverhalt oder neue Thrombosen durch entsprechende Maßnahmen wie der Anlage einer Ma‐ gensonde, eines Blasendauerkatheters und der optimalen Einstellung des Blutgerinnungssystems. Ebenso sollte so früh wie möglich mit der medi‐ zinischen Rehabilitation des Patienten begonnen werden, um verlorenge‐ gangene Körperfunktionen und damit die weitgehende Selbständigkeit des Patienten wiederzuerlangen. 182 3 Ausgewählte Krankheitsbilder <?page no="183"?> 15 Zur Interpretation der Studienergebnisse siehe →-Kapitel 2.3.6.2 16 STEMO: Stroke Einsatz-Mobil 3.5.4 Prognose und Perspektiven Die Prognose eines Schlaganfalls ist stark von Art und Umfang der Min‐ derdurchblutung abhängig. Ausgedehnte Schlaganfälle, insbesondere große Blutungen, können unmittelbar zum Tod des Patienten oder dauerhaftem Koma führen. Die Sterblichkeit innerhalb des ersten Jahres nach Schlaganfall beträgt aufgrund von Folgekomplikationen ca. 20 % und stellt damit die dritthäufigste Todesursache dar. Das Risiko, innerhalb von fünf Jahren einen weiteren Schlaganfall zu erleiden, liegt bei ca. 14-18 %. Von den 80 % der überlebenden Patienten sind zwei Drittel im ersten Jahr auf fremde Hilfe angewiesen, 15-% müssen sogar in eine Pflegeeinrichtung. Die Einrichtung nach definiertem Mindeststandard ausgestatteter Stroke Units führte gemäß einer Systematischen Cochrane-Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2013 gegenüber der bisherigen Behandlung sowohl zu einer Senkung der Sterblichkeit (ARR 6 %, RRR 26 %, NNT 17) als auch zu einer Reduktion der Pflegebedürftigkeit (ARR 10-%, RRR 16-%, NNT 11) 15 . Aufgrund der in Europa hohen Prävalenz ischämischer Schlaganfälle wurde in Berlin das Modelprojekt STEMO 16 zur Verkürzung der Zeit bis zur Durchführung der Lysetherapie initiiert. Kern des Projektes ist ein Rettungswagen, der mit einem CT, Lysemedikamenten und entsprechend geschultem Personal ausgestattet ist, um die Therapie bereits präklinisch beginnen zu können und somit die Folgeschäden noch weiter zu reduzieren. Ob diese Art der Versorgung auch außerhalb eines Ballungsraums wie Berlin sinnvoll einsetzbar ist und die vergleichsweise hohen Ressourcen zum Unterhalt des STEMO rechtfertigt, bleibt jedoch abzuwarten. ➤ Lesetipps-∣-Literatur und Websites Leitlinien-Sammlung der Deutschen Schlaganfall Gesellschaft e.-V. Im Internet unter: 🔗 http: / / www.dsg-info.de/ leitlinien.html Bericht über den Einsatz des STEMO der Berliner Feuerwehr. Im Internet unter: 🔗 http: / / www.schlaganfallforschung.de 3.5 Schlaganfall 183 <?page no="184"?> Langhorne P., Ramachandra S. Organised inpatient (stroke unit) care for stroke: network meta-analysis. Cochrane Database of Systematic Reviews 2020, Issue 4. Art. No.: CD000197. DOI: 10.1002/ 14651858.CD000197.pub4. 3.6 Krebserkrankungen 3.6.1 Kontext der Erkrankung Eine Krebserkrankung wird in der Medizin definiert durch das Vorliegen einer Gewebeneubildung (Neoplasie), die gewisse Kriterien der Bösartig‐ keit (Malignität) erfüllt. Die hieraus entstehende Geschwulst wird mit dem lateinischen Begriff Tumor umschrieben. Der Begriff Krebs leitet sich aus dem griechischen Wort Karkinos (Krebs) ab, der bereits in der Antike für diesen Formenkreis der Erkrankungen verwendet wurde. Zu den ca. 100 verschiedenen Formen Krebsarten zählen: • Karzinome: Tumoren des Deck- und Drüsengewebes (Epithel), • Sarkome: Tumoren des Bindegewebes (Mesenchyms), • Blastome: Tumoren des embryonalen Gewebes • Hämoblastosen: maligne Erkrankungen des blutbildenden Systems (z.-B. Leukämien) Von malignen Neoplasien abzugrenzen und in der Fachwelt nicht als Krebs‐ erkrankung angesehen sind gutartige (benigne) Tumore, wie beispielsweise Lipome oder Muttermale. Einige der gutartigen Tumoren können jedoch im Lauf der Zeit zu malignen Neoplasien entarten, wie beispielsweise Adenome des Darms. Maligne Tumoren weisen im Gegensatz zu gutartigen Tumoren je nach Art und Stadium der Erkrankung gewisse Merkmale (Malignitätskrite‐ rien) auf. Hierzu zählen: • Einwachsen in anderes Gewebe über Gewebsgrenzen hinweg (infiltrie‐ rendes Wachstum) • Zerstörung des umliegenden Gewebes (Gewebsdestruktion) • Bildung von Tochtergeschwülsten (Metastasen) über den Blutweg (hä‐ matogen), die Lymphbahnen (lymphogen) oder Körperhöhen (kavitär) 184 3 Ausgewählte Krankheitsbilder <?page no="185"?> Primärtumor (T) T0 kein Anzeichen eines Primärtumors (z.-B. nach Chemotherapie) Tis Tumor ohne Infiltration der Basalmembran T1 größte Tumorausdehnung < 2-cm T2 größte Tumorausdehnung > 2-cm aber < 5-cm T3 größte Tumorausdehnung > 5-cm T4 jeder Tumor mit direkter Ausdehnung auf Brustwand oder Haut regionale Lymphknoten (N) N0 keine Anzeichen für Lymphknotenbefall N1 1-3 in der Achsel N2 4-9 in der Achsel N3 ≥ 10 in der Achsel/ claviculär Fernmetastasen (M) M0 keine Anzeichen für Fernmetastasen M1 Fernmetastasen vorhanden (meist Lunge, Leber, Knochen) Tabelle 14: TMN-Klassifikation am Beispiel Brustkrebs Die Beurteilung des Ausmaßes einer Krebserkrankung erfolgt nach der von Pierre Denoix Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelten TNM-Klassifi‐ kation, die für jede Krebsart spezifisch definiert ist und am Beispiel des Brustkrebses in → Tabelle 14 dargestellt wird. Ein Tumor der Brust mit einer größten Ausbreitung von drei Zentimetern, zwei befallenen Lymphknoten in der Achsel, aber ohne erkennbare Fernmetastasen würde als T2 N1 M0 klassifiziert. Krebserkrankungen sind die zweithäufigste Todesursache nach Herz-Kreislauf-Erkrankungen in Deutschland. Die Gesamtinzidenz für eine Krebserkrankung liegt pro Jahr für Frauen bei ca. 350/ 100.000, bei Männern bei ca. 450/ 100.000 und bei Kindern bei ca. 15/ 100.000. Jeder 3. Europäer erkrankt im Lauf seines Lebens mindestens einmal an Krebs. Da Krebserkrankungen mit steigendem Alter zunehmen und das mittlere Erkrankungsalter bei Frauen bei 68 und bei Männern bei 69 Jahren liegt, ist durch die steigende Lebenserwartung und den demographischen Wandel mit einer Zunahme der Erkrankungen zu 3.6 Krebserkrankungen 185 <?page no="186"?> rechnen. Die Erkrankung kann mit hohen Lebensqualitätseinbußen einhergehen (besonders im Kinderalter) und ist durch Frühkomplikationen im Rahmen der Behandlung (z.-B. Nebenwirkungen von Chemotherapien) und Spätkomplikati‐ onen z.-B. durch Rezidivierung der Erkrankung geprägt. Risikofaktoren für Krebserkrankungen können je nach Erkrankung folgende Faktoren sein: • genetische Vorbelastung • ungesunde Ernährung, Bewegungsmangel, Übergewicht • Nikotinkonsum • Alkoholkonsum • physikalische Schädigung (z.-B. Ionisierende Strahlung) • chemische Schadstoffe (z.-B. Benzol, Luftverschmutzung) • Infektionen (z.-B. Humanes Papillom Virus) Die WHO stellt in ihrem Faktenblatt Nr. 297 aus dem Jahr 2013 fest, dass 30 % aller Krebstode weltweit durch Beeinflussung der oben genannten Risikofaktoren vermeidbar wären. Der wichtigste vermeidbare Risikofaktor ist hierbei der Nikotinkonsum durch Tabakrauch, der für 22 % aller weltweiten Krebstode und 71 % aller Lungenkrebstodesfälle verantwortlich zu machen ist. Im Rahmen der in → Kapitel 2.8.3 skizzierten Ansätze stoßen Gesund‐ heitssysteme weltweit bei immensen Therapiekosten und teilweise margi‐ nalen Lebenszeitgewinnen an ihre finanziellen Grenzen. Tito Fojo und Christine Grady haben im Jahr 2009 in der Zeitschrift Journal of the National Cancer Institute hierzu Folgendes sinngemäß ins Deutsche übersetzt formuliert: ➤ Wissen-∣-die 440-Milliarden-Dollar-Frage „Wir müssen uns mit den steigenden Preisen der Krebstherapie aus‐ einandersetzen. Wenn eine Lebenszeitverlängerung von 1,2 Monaten 80.000 US-Dollar kosten darf und damit die Verlängerung eines Lebens‐ jahres den Einsatz von 800.000 USD rechtfertigen würde, dann bräuchte es 440 Milliarden USD, also das 100-fache des derzeitigen Budgets des National Cancer Institute, um das Leben jedes der 550.000 Amerikaner, die jährlich an Krebs sterben, um ein Jahr zu verlängern. Und keiner dieser Patienten würde dadurch geheilt.“ 186 3 Ausgewählte Krankheitsbilder <?page no="187"?> 3.6.2 Diagnostische und therapeutische Ansätze Je nach Krebsart kommen zu diagnostischen Zwecken Blutuntersuchungen, bildgebende Verfahren und Biopsien in Betracht. Die durch Biopsien gewon‐ nenen Gewebeproben können mikroskopisch, immunhistochemisch und wie in → Kapitel 2.8.2 beschrieben durch Gensequenzierung untersucht werden. Neben der Diagnosestellung ist vor allem die Feststellung des Krankheitsstadiums, das sogenannte Staging, im Sinne der TNM-Klassifi‐ kation entscheidend, da je nach Tumorumfang und Metastasierung unter‐ schiedliche Prognosen resultieren und unterschiedliche Therapieansätze. Dies kann mitunter auch darüber entscheiden, ob eine kurative Therapie noch indiziert ist oder eine Palliativtherapie eingeleitet werden sollte. Je nach diagnostischem Befund kommen eine oder mehrere der folgenden Therapieoptionen zur Anwendung: • operative Tumorentfernung (Resektion) • Strahlentherapie • Medikamenteneinsatz (Chemotherapie u.-a.) • abwartende Beobachtung („watchful waiting“) • palliative, symptomatische Therapie Die Festlegung der geeigneten Therapie auf Basis der vorliegenden Befunde erfordert häufig die Kompetenz mehrerer medizinischer Fachgebiete. Daher erfolgen Diagnosestellung und Festlegung der Therapieoptionen häufig in interdisziplinären Teams, die in organspezifischen Krebszentren organisiert, im Rahmen regelmäßiger Tumorkonferenzen gemeinsam alle Befunde eines Patienten analysieren und eine fachlich abgestimmte Therapieent‐ scheidung treffen. 3.6.3 Prognose und Perspektiven Die Heilungschancen einer Krebserkrankung sind abhängig von Erkran‐ kungsart, Entdeckungszeitpunkt, bisheriger Ausbreitung (Metastasierung, Lymphknotenbefall), Aggressivität des Tumors und Begleiterkrankungen. Aus diesem Grund wurden zahlreiche Screeningprogramme zur Krebs‐ früherkennung, beispielsweise bei Brust-, Darm- oder Prostatakrebs, initi‐ iert. Einige Krebsfrüherkennungsprogramme haben nach derzeitiger Studi‐ enlage jedoch keinen Vorteil hinsichtlich Überleben oder Lebensqualität erbracht. Als prognostische Maßzahl hat sich die sogenannte Fünf-Jah‐ 3.6 Krebserkrankungen 187 <?page no="188"?> res-Überlebensrate etabliert, die den Anteil der Patienten beschreibt, die fünf Jahre nach Erstdiagnose noch leben. Ungünstige prognostische Faktoren sind eine Metastasierung (90 % aller Todesfälle sind nicht durch den Primärtumor verursacht), die Fähigkeit des Tumors, eigene Blutgefäße zum besseren Wachstum bilden zu können (An‐ giogenese), die Unempfindlichkeit gegenüber Sauerstoffmangel (Hypoxie‐ toleranz) und die Fähigkeit, sich als körpereigenes Gewebe tarnen zu können (Immune Escape). Viele tödliche Verläufe kommen durch Folgeerscheinun‐ gen der Tumorerkrankung wie Gefäßverschlüsse (Thromboembolien), die starke Abmagerung (Kachexie) oder Infektionen mit Sepsis aufgrund des geschwächten Immunsystems zustande. ➤ Lesetipps-∣-Literatur und Websites Fojo, T.; Grady C. (2009): How much is life worth. Cetuximab, non-small cell lung cancer, and the $440 billion question. Im Internet unter: 🔗 http: / / www.ncbi.nlm.nih.gov/ pmc/ articles/ PMC2724853/ pdf/ djp177.pdf Website des Krebsinformationsdiensts des Deutschen Krebsfor‐ schungszetrums (dkfz). Im Internet unter: 🔗 https: / / www.krebsinformationsdienst.de/ Website der Gesellschaft der epidemiologischen Krebsregister in Deutschland (GEKID) e.-V. Im Internet unter: 🔗 http: / / www.gekid.de/ 3.7 Asthma bronchiale 3.7.1 Kontext der Erkrankung Asthma bronchiale ist eine chronisch entzündliche Erkrankung der Atem‐ wege eine Überempfindlichkeit (Hyperreagibilität) der Bronchien und ei‐ nes zeitweiligen Verschlusses (Obstruktion) der Atemwege. Der Name der Erkrankung leitet sich vom griechischen Wort Asthma (Atemnot) ab, das gleichzeitig die Hauptbeschwerde des Krankheitsbildes darstellt. In Deutschland leiden ca. 5 % aller Erwachsenen und 5 % aller Kinder unter 188 3 Ausgewählte Krankheitsbilder <?page no="189"?> Asthma bronchiale. Die Erkrankung stellt damit die häufigste chronische Er‐ krankung im Kinderalter dar. Neben der hohen Krankheitslast verursachen insbesondere Exazerbationen der Erkrankung durch notfallmedizinische Behandlung und stationäre Aufnahme hohe Kosten. Aus den genannten Gründen wurden sowohl für Erwachsene als auch in diesem Einzelfall für Kinder Disease-Management-Programme initiiert. Für die Behandlung von Asthma bei Erwachsenen und Kindern existiert außerdem jeweils eine Nationale Versorgungsleitlinie. Die Ursachen der Erkrankung können zum einen in einer allergischen Komponente, zum anderen in häufigen Infektio‐ nen der Atemwege (Intrinsisches Asthma) oder einer Mischform aus beiden Formen liegen. Durch die chronische Entzündung der Atemwege verengen sich die Bronchien. Dies geschieht durch Schwellung des Bronchialgewebes, vermehrte Bildung zähflüssigen Schleims und die Anspannung der nicht willkürlich beeinflussbaren glatten Muskulatur, die die Bronchien umgibt. Die Verengung der Bronchien kann zur totalen Obstruktion einzelner Lungenabschnitte führen. Gleichzeitig ist das Bronchialgewebe gegenüber Reizungen wesentlich empfindlicher und die Funktion der Flimmerhärchen in den Bronchien, die Fremdstoffe kopfwärts zur Entfernung aus der Lunge transportieren sollen, ist herabgesetzt oder aufgehoben. Das durch diese Mechanismen entstehende Asthma bronchiale äußert sich vor allem durch folgende Beschwerden (Leitsymptome): • wiederholtes Auftreten anfallsartiger, oftmals nächtlicher Atemnot (Dyspnoe) • Brustenge • Husten mit und ohne Auswurf • pfeifende Atemgeräusche („Giemen“), insbesondere beim Ausatmen (expiratorischer Stridor) 3.7.2 Diagnostik Die Diagnostik des Asthma bronchiale erfolgt mittels Anamnese der Sym‐ ptome, körperlicher Untersuchung, Lungenfunktionsdiagnostik und einer allergologischen Diagnostik. Bei der Lungenfunktionsdiagnostik wird identifiziert, ob es sich wie beim Asthma bronchiale um eine Verlegung der Atemwege (obstruktive Störung) oder um eine Verminderung des zur Verfügung stehenden Lungengewebes (restriktive Störung) handelt. 3.7 Asthma bronchiale 189 <?page no="190"?> 17 SABA: engl. short-acting beta-agonist Differentialdiagnostisch müssen zahlreiche Erkrankungen der Lunge, aber auch des Herzens und des Magens oder eine psychosomatische Erkran‐ kung in Betracht gezogen werden, die ähnliche Symptome hervorrufen können wie ein Asthma bronchiale. Die Diagnostik der Erkrankung im Kindesalter gestaltet sich durch die nicht mögliche oder eingeschränkte Mitarbeit bei der Lungenfunktionsprü‐ fung oft schwierig, was die schwankenden Angaben zur Prävalenz der Erkrankung erklärt. Gemäß Nationaler Versorgungsleitlinie Asthma bron‐ chiale sind jedoch im Kindesalter vorübergehende Atemwegsstörung kein Rechtfertigungsgrund für die Diagnose Asthma. 3.7.3 Stufentherapie Die Therapie dieser chronischen Erkrankung verläuft gemäß Nationaler Versorgungsleitlinie nach einem Stufenschema in Abhängigkeit der Be‐ schwerdeintensität wie in → Abbildung 16 am Beispiel des Therapiekonzep‐ tes für Erwachsene dargestellt. Basis jeder Therapiestufe sind die folgenden Elemente zur Beeinflussung von Risikofaktoren für eine Verschlechterung der Erkrankung: • Patientenschulung inkl. Selbsthilfetechniken bei Atemnot • Körperliches Training • Atemphysiotherapie • Tabakentwöhnung/ Ermöglichung einer rauchfreien Umgebung • Berücksichtigung psychosozialer Aspekte • Kontrolle des Körpergewichtes, Gewichtsreduktion bei Adipositas • Vermeidung allergieauslösender Substanzen (Allergenkarenz) • Regulierung des Innenraumklimas Auf dieser Basistherapie bauen zwei weitere therapeutische Ansätze auf, die je nach Beschwerdebild zum Einsatz kommen. Zum einen können bei akuter Atemwegsobstruktion kurzwirksame Beta2-Mimetika (SABA 17 ) durch Entspannung der glatten Muskulatur im Bereich der Bronchien die Atemwege binnen Sekunden erweitern. Zum anderen kann die Entzün‐ dungsreaktion durch Corticosteroide eingedämmt werden. Da Corticoste‐ riode ab einer gewissen Dosis im Körper gravierende Nebenwirkungen verursachen, wird, sofern möglich, statt der Einnahme von Tabletten die 190 3 Ausgewählte Krankheitsbilder <?page no="191"?> 18 LABA: engl. long-acting beta-agonist 19 LAMA: engl. long-acting muscarinic antagonist Verabreichung von Inhalativen Corticosteroiden (ICS) bevorzugt, da sie am Ort der Entzündung wirken und somit wesentlich niedrigere Do‐ sierungen notwendig sind, die weit unter der Schwelle liegen, bei denen gravierende systemische Nebenwirkungen auftreten. Zusätzlich kommen zur Intensivierung der Therapie langwirksame Beta2-Mimetika (LABA 18 ), langwirksame Anticholinergika (LAMA 19 ) und alternativ weitere entzün‐ dungshemmende Medikamente zum Einsatz. 3.7 Asthma bronchiale 191 <?page no="192"?> Medikamentöses Stufenschema │ Erwachsene Stufe 1 Stufe 2 Stufe 3 Stufe 4 Stufe 5 ▶ ICS niedrigdosiert ▶ ICS niedrigdosiert + LABA (bevorzugt) oder ▶ ICS mitteldosiert ▶ ICS mittelbis hochdosiert + LABA (bevorzugt) oder ▶ ICS mittelbis hochdosiert + LABA + LAMA ▶ Vorstellung bei einem in der Behandlung von schwerem Asthma erfahrenen Pneumologen und ▶ Anti-IgE- oder Anti- IL-5-(R)-Antikörper ▶ SABA ▶ SABA oder ▶ Fixkombination aus ICS und Formoterol, wenn diese auch die Langzeittherapie darstellt Asthmaschulung, Allergie-/ Umweltkontrolle, Beachtung von Komorbiditäten Bedarfstherapie Langzeittherapie ▶ ICS in Höchstdosis + LABA + LAMA Abbildung 16: Stufenschema der Asthmatherapie gem. NVL, 4. Auflage, Version 1, S.-35 (stark vereinfachte Darstellung ohne Sonderfälle, Off-Label-Use und Alternativen) © ÄZQ 192 3 Ausgewählte Krankheitsbilder <?page no="193"?> Die Entscheidung zur Intensivierung oder Reduzierung der Therapie kann anhand der Beurteilung der Stabilität der Erkrankung wie in →-Tabelle 15 dargestellt erfolgen. Grad der Asthmakontrolle (Erwachsene) gut kon‐ trolliert teilweise kontrol‐ liert un-kon‐ trolliert Symptom‐ kontrolle hatte der Patient in den letzten vier Wochen: • häufiger als zweimal in der Woche tagsüber Symptome • nächtliches Erwachen durch Asthma • Gebrauch von Bedarfs‐ medikation für Sym‐ ptome (außer vor sportliche Aktivität) häufiger als zweimal pro Woche • Aktivitätseinschrän‐ kung durch Asthma kein Kriterium erfüllt 1-2 Kriterien erfüllt 3-4 Kriterien erfüllt Beurteilung des Risikos für eine zukünftige Ver‐ schlechterung des Asthmas Erhebung von: • Lungenfunktion (Vorliegen einer Atemwegsobstruktion) • Anzahl stattgehabter Exazerbationen (keine/ 1x im Jahr / in der aktuellen Woche) Tabelle 15: Therapiekontrolle des Asthma bronchiale für Erwachsene gem. NVL Asthma, 3. Auflage, Version 1, S.-28 3.7.4 Prognose Nach verschiedenen Literaturangaben verschwinden ca. 30-50 % aller Fälle von kindlichem Asthma spontan bis ins Erwachsenenalter, wobei auch eine gewisse Anzahl vorübergehender Atemwegsstörungen zu vermuten ist, die von vornherein nicht als Asthma bronchiale zu bezeichnen waren. Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass weltweit ca. 292 Millionen Menschen an Asthma erkrankt sind. Statistiken der WHO gehen im Jahr 2019 von ca. 455.000 asthmabedingten Todesfällen aus, wobei die Mehrzahl dieser Todesfälle in Ländern mit unzureichender medizinischer Gesund‐ heitsversorgung vorkommt. Die Sterblichkeit in Deutschland wird mit 1-8 3.7 Asthma bronchiale 193 <?page no="194"?> 20 ICD-10: International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems der WHO, Version 10. Diese Klassifikation ist derzeit in Überarbeitung und wird als ICD-11 mutmaßlich am 01.01.2022 in Kraft gesetzt. Ein konkreter Termin für die Einführung in Deutschland existierte bei Drucklegung noch nicht. Personen pro 100.000 Einwohner angegeben, wobei Untersuchungen auf Industrienationen zeigen, dass trotz einem generellen Rückgang noch etwa die Hälfte dieser Todesfälle durch angemessene Versorgung und Schulung vermeidbar gewesen wäre. Bei frühzeitiger, angemessener Kontrolle der Erkrankung, sind jedoch sowohl die volle körperliche Leistungsfähigkeit, als auch eine normale Lebenserwartung gegeben. ➤ Lesetipps-∣-Literatur und Websites Nationale Versorgungsleitlinie Asthma. 4. Auflage. Version 1. Im Internet unter: 🔗 https: / / www.leitlinien.de/ themen/ asthma/ pdf/ asthma-4aufl-vers1-lan g.pdf Weltgesundheitsorganisation (2017): Asthma Fact Sheet. im Internet unter: 🔗 https: / / www.who.int/ en/ news-room/ fact-sheets/ detail/ asthma 3.8 Psychische Erkrankungen 3.8.1 Kontext der Erkrankung Psychische Erkrankungen sind krankhafte Veränderungen der Wahrneh‐ mung, des Denkens, des Fühlens, des Verhaltens, der Erlebnisverarbeitung oder der sozialen Beziehungen. Sie entziehen sich ganz oder teilweise der willentlichen Kontrolle des Patienten. Sowohl die Art als auch der Schwe‐ regrad einer psychischen Störung ist sehr unterschiedlich und unterliegt je nach Krankheitsbild mehr oder minder ausgeprägten Schwankungen. Nach ICD-10 20 -Klassifikation werden psychische Störungen in der Klasse F wie in →-Tabelle 16 dargestellt eingeteilt: 194 3 Ausgewählte Krankheitsbilder <?page no="195"?> ICD Krankheitsgruppe Beispielerkrankungen F0x organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen Morbus Alzheimer Demenz (F00.-*) psychische Störungen nach Schlaganfall, Blutungen, Tumoren etc. (F06.-*) F1x psychische und Verhaltens‐ störungen durch psychotrope Substanzen akute Alkoholintoxikation (F10.0) Entzugssyndrom durch Opioide: (F11.3) F2x Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen paranoide Schizophrenie (F20.0) wahnhafte Störung (F22.0) F3x affektive Störungen Manie ohne psychotische Sympt. (F30.1) mittelgradige depressive Episode (F32.1) F4x neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen spezifische (isolierte) Phobie (F40.2) Zwangshandlungen (F42.1) Posttraumatische Belastungsst. (F43.1) F5x Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren Anorexia nervosa (F50.0) Störung Schlaf-Wach-Rhythmus (F51.2) Gesteigertes sexuelles Verlangen (F52.7) F6x Persönlichkeits- und Verhal‐ tensstörungen paranoide Persönlichkeitsstörung (F60.0) pathologisches Spielen [F63.0] pathol. Stehlen [Kleptomanie] (F63.2) Pädophilie (F65.4) F7x Intelligenzstörung schwere Intelligenzminderung ohne relevante Verhaltensstörung (F72.0) F8x Entwicklungsstörungen Lese- und Rechtschreibstörung (F81.0) Asperger-Syndrom (F84.5) F9x Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeits‐ störung (u.-a. ADHS) (F90.0) Tourette-Syndrom (F95.2) Tabelle 16: ICD-10-Klassifikation psychischer Erkrankungen Psychische Störungen sind weit verbreitet. Die 12-Monats-Prävalenz beträgt laut DEGS-Studie ca. 33 %, die Lebenszeitprävalenz wurde von Jacobi 2004 mit 42,5 % angegeben. Während zahlreiche psychische Störungen vorüber‐ gehen, wird die Zahl behandlungsbedürftiger Patienten in Deutschland auf ca. 8 Millionen geschätzt. Der Anteil von psychischen Erkrankungen an Arbeitsunfähigkeitstagen hat sich in den letzten 10 Jahren verdop‐ pelt und ist gemäß DAK-Psychoreport 2015 der zweithäufigste Grund 3.8 Psychische Erkrankungen 195 <?page no="196"?> für Krankschreibung. Dabei ist zu beachten, dass psychische Erkrankun‐ gen einen deutlich längeren Arbeitsausfall verursachen (Ø 39,5 Tage) als somatische Erkrankungen (Ø 13,5 Tage). Der Anstieg von Arbeitsausfall‐ tagen ist jedoch nach Meinung von Experten nicht auf eine Zunahme psychischer Erkrankungen, sondern auf verbesserte Behandlungsangebote und eine zunehmende Enttabuisierung psychischer Erkrankungen und einer damit verbundenen Zunahme der Akzeptanz vorhandener Therapien zurückzuführen. Außerdem haben psychische Erkrankung hohe finanzielle Auswirkungen. Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin bezifferte 2011 die direkten jährlichen Krankheitskosten mit 16 Milliarden Euro, das Bundesministerium für Arbeit und Soziales gab die indirekten Krankheitskosten durch Produktionsausfall mit 6 Milliarden Euro pro Jahr an. Der Anteil an Frühverrentungen aufgrund psychischer Leiden stieg laut Deutscher Rentenversicherung im Jahr 2012 binnen 18 Jahren von 14,5 % auf 41,9-% an. Die Ursachen psychischer Erkrankungen sind in aller Regel multifaktori‐ ell. So können z. B. biologische Ursachen wie eine genetische Vorbelastung, psychische Ursachen wie traumatisierende Erlebnisse und soziale Ursachen wie Überforderung oder Mobbing am Arbeitsplatz auslösende Faktoren einer psychischen Erkrankung sein. Als Erklärungsmodelle werden u. a. das Diathese-Stress-Modell oder das Vulnerabilitäts-Stress-Bewältigungs‐ modell herangezogen. 3.8.2 Therapeutische Ansätze Als Therapieoptionen kommen allgemein in Betracht: • Psychotherapie • Soziotherapie • Pharmakotherapie Die Therapie kann hierbei in verschiedenen Settings erfolgen. Neben einer ambulanten Behandlung kann eine Therapie in Tageskliniken sinnvoll sein, z. B. um eine Strukturierung des Tagesablaufs zu gewährleisten. Stationäre Therapien können auf offenen oder geschlossenen Stationen erfolgen. Aufgrund akuter Eigen- oder Fremdgefährdung können Patienten auch gegen ihren Willen mit einem richterlichen Beschluss behandelt werden. Bei gesetzlich betreuten Patienten kann auch eine Unterbringung zur Heilbehandlung erfolgen, wenn dies dem Wohl des Betreuten erfolgt. 196 3 Ausgewählte Krankheitsbilder <?page no="197"?> Hiervon nochmals abzugrenzen ist die forensische Psychiatrie, in der verurteilte Straftäter behandelt werden, die aufgrund einer psychiatrischen Störung zum Tatzeitpunkt voll- oder vermindert schuldunfähig waren. Die Behandlung erfolgt in einem multiprofessionellen Team, das neben Ärzten, Psychologen und Pflegekräften auch aus Sozialarbeitern, Kunst- und Ergotherapeuten sowie weiteren Spezialtherapeuten (z. B. Musik, Tanz, Bewegung) besteht. 3.8.3 Prognose und Perspektiven Psychische Erkrankungen sind mit zahlreichen Vorurteilen belegt: So werden sie obgleich der oben angegebenen sehr hohen Lebenszeitprävalenz als selten angesehen. Ebenso denken viele, dass psychische Erkrankungen nicht behandelbar oder gar heilbar sind, was nach heutigem Stand für viele Patienten nicht zutrifft. Obgleich es Patienten gibt, die aufgrund einer psychischen Erkrankung eine Gefährdung darstellen, sind die meisten psy‐ chisch Erkrankten nicht für Dritte gefährlich. Ein weiteres Vorurteil besteht darin, dass psychische Erkrankungen ja gar keine richtigen Erkrankungen seien, sich die Patienten „mal zusammenreißen“ sollten. Dass psychische Erkrankungen keinesfalls ungefährlich sind, zeigt die Tatsache, dass in Deutschland 2020 insgesamt 59.613 Todesfälle aufgrund psychischer Erkrankungen verzeichnet wurden, darunter 9.206 Suizide. Dies sind beispielsweise deutlich mehr Todesopfer als durch Verkehrsunfälle (3.041). Im Jahr 2001 konstatierten Jacobi und Wittchen eine deutliche Unterver‐ sorgung psychisch Kranker: So erhielten nur 36,4 % der diagnostizierten Patienten mit Behandlungswunsch im Jahr 2000 überhaupt irgendeine Intervention, wobei ca. 10 % eine annähernd adäquate Therapie erhalten hätten. Von Eintritt der Diagnose bis zur Erstbehandlung seien im Mittel 7,4 Jahre vergangen. Problematisch ist in diesem Zusammenhang, dass es bei einer Unterversorgung psychischer Erkrankungen im ambulanten Bereich wie bei somatischen chronischen Erkrankungen zu einer Exazerbation der Erkrankung kommen kann und so die Anzahl stationärer Behandlungsfälle zwischen 2005 und 2013 um 37 % gestiegen ist. Gleichzeitig sollte durch Ein‐ führung des Fallpauschalensystems PEPP (Pauschaliertes Entgeltsystem in Psychiatrie und Psychotherapie) die Verweildauer stationär behandelter Patienten durch Vergütungsabschläge bei Überschreiten einer bestimmten Verweildauer reglementiert werden. Die eigentliche, bereits verbindlich 3.8 Psychische Erkrankungen 197 <?page no="198"?> geplante Einführung wurde zunächst auf das Jahr 2018 verschoben und bis Ende 2019 als budgetneutrale Umstellung gestaltet. Aufgrund massiver fach‐ licher Kritik erfolgte ab 2020 eine Vergütung weiterhin krankenhausindivi‐ duell auf Basis von Personalvorgaben des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) und nicht über Landesbasisentgelte. ➤ Lesetipps-∣-Literatur und Websites Jacherz, N. (2013): Psychische Erkrankungen. Hohes Aufkommen, niedrige Behandlungsrate. Deutsches Ärzteblatt. PP12. 02/ 2013. S. 61. Im Internet unter: 🔗 http: / / www.aerzteblatt.de/ pdf.asp? id=134430 Bundesministerium für Arbeit und Soziales und Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (2013): Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit. Unfallverhütungsbericht 2011. Berlin. Im Internet unter: 🔗 http: / / www.baua.de/ de/ Publikationen/ Fachbeitraege/ Suga-2011.html Deutsche Rentenversicherung Bund (2019): Rentenversicherung in Zeitreihen. Im Internet unter: 🔗 https: / / statistik-rente.de/ drv/ Bundesministerium für Bildung und Forschung (2011): Seele aus der Balance. Erforschung psychischer Störungen. Im Internet unter: 🔗 https: / / www.gesundheitsforschung-bmbf.de/ files/ BMBF_Seele_aus_de r_Balance_barrierefrei_17082010.pdf Statistisches Bundesamt: Todesursachen. Im Internet unter: 🔗 https: / / www.destatis.de/ DE/ Themen/ Gesellschaft-Umwelt/ Gesundheit / Todesursachen/ _inhalt.html Wittchen, H-U. und Jacobi, F. (2001): Die Versorgungssituation psychischer Störungen in Deutschland. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz. 44. S.-993-1000. 198 3 Ausgewählte Krankheitsbilder <?page no="199"?> 3.9 Ungewollte Kinderlosigkeit 3.9.1 Kontext der Erkrankung Der Wunsch der Fortpflanzung ist eines der größten menschlichen Grund‐ bedürfnisse. Während die Reproduktion auf natürlichem Wege bei den meisten Menschen glücklicherweise problemlos funktioniert, kommt es laut Bundesverband der Frauenärzte e. V. dennoch bei 15 % aller Paare nicht zur erwünschten Schwangerschaft und Geburt eines Kindes. Sofern sich bei einer heterosexuellen Beziehung mit regelmäßigem, ungeschütztem Geschlechtsverkehr von Personen in geschlechtsreifem Alter innerhalb von 24 Monaten keine Schwangerschaft einstellt, gilt dies nach Definition der Weltgesundheitsorganisation als Ungewollte Kinderlosigkeit bzw. als „ste‐ rile Partnerschaft“. Hierbei handelt es sich um eine primäre Sterilität bzw. Unfruchtbarkeit, wenn das Paar überhaupt nicht schwanger werden kann oder eine sekundäre Sterilität, wenn nach erfolgreicher Schwangerschaft und Geburt eines Kindes keine erneute Schwangerschaft möglich ist. Auch gibt es Paare, bei denen zwar zunächst eine Schwangerschaft ein‐ tritt, es aber zu einer oder sogar mehrerer Fehlgeburten in Folge kommt bzw. kein lebensfähiges Kind geboren werden kann. Dies wird als Infertilität bezeichnet. Diese Situationen sind oft mit einem sehr hohen Leidensdruck der Betroffenen verbunden, sodass sich seit der Entdeckung des menschlichen Chromosomensatzes im Jahr 1953 die Reproduktionsmedizin sowohl mit der Frage der vorgeburtlichen Diagnostik als auch der Unterstützung reproduk‐ tionsmedizinischer Vorgänge befasst. Hierbei wurden ab den 1970er-Jahren Verfahren zur Befruchtung von Eizellen außerhalb des Mutterleibes erwo‐ gen und getestet. Am 25. Juli 1978 kam mit Louise Brown der erste außerhalb des Mutter‐ leibes per In-vitro-Fertilisation (IVF) gezeugte Mensch zur Welt. Diese medizinische Sensation wurde gleichsam von einer intensiven ethischen Debatte begleitet, da dieser Vorgang von einigen als Segen, von anderen als Fluch und Eingriff in die Natur angesehen wurde. Auch wenn die dort ange‐ wandte Methodik der IVF mittlerweile ein medizinisches Standardverfahren ist und über 8 Millionen Menschen mit ihr weltweit geboren wurden, beglei‐ ten ethische Diskussionen die Reproduktionsmedizin, da mit zunehmenden medizinischen Möglichkeiten wie der genauen genetischen Untersuchung 3.9 Ungewollte Kinderlosigkeit 199 <?page no="200"?> befruchteter Eizellen, z. B. nach wiederholten Fehlgeburten zur Abschätzung der Überlebensfähigkeit eines Embryos, auch Möglichkeiten genetischer Selektion bestehen, die nach Ansicht vieler einer angemessenen Regulation bedürfen. Neben der technischen Komponente der Reproduktionsmedizin ist zudem auch die psychische und soziale Betreuung der betroffenen Paare von enormer Wichtigkeit. Da die Chancen einer erfolgreichen Schwangerschaft zwar erhöht, ein gesundes Kind aber nicht garantiert werden kann und die durch die Paare selbst zu tragenden Kosten, insbesondere bei wiederholten frustranen Versuchen, ganz erheblich sind, ist eine sorgfältige Beratung über die Chancen, Risiken und finanziellen Folgen der Betroffenen vor Beginn der Behandlung unerlässlich. 3.9.2 Diagnostik Der Erfolg reproduktionsmedizinischer Maßnahmen hängt wesentlich von der Fruchtbarkeit ab, die im Rahmen diagnostischer Verfahren abzuklä‐ ren ist. Neben der Anamnese des Menstruationszyklus kommen je nach vermuteter Ursache verschiedene Verfahren zum Einsatz. Während die Untersuchung des Ejakulates sowie der Geschlechtsorgane des Mannes (z. B. auf Vorliegen von Krampfadern in den Hoden) einen wenig invasi‐ ven Eingriff darstellt, kann die Diagnostik bei der Frau von Ultraschall und Blutuntersuchungen bis hin zu einer diagnostischen Laparoskopie (→ Kapitel 2.2) in Vollnarkose reichen. In Einzelfällen kommen spezielle Verfahren wie humangenetische Untersuchungen zur Anwendung. Aus den gewonnenen Befunden wiederum leiten sich je nach Befund gegebe‐ nenfalls Korrekturen des Hormonhaushaltes bis hin zu Operationen an Gebärmutter oder Eierstöcken ab. Dies kann unter Umständen ermöglichen, doch auf natürlichem Wege schwanger zu werden. Alternativ kommen verschiedene reproduktionsmedizinische Verfahren zum Einsatz, um eine Schwangerschaft künstlich zu erzeugen. 3.9.3 Therapeutische Ansätze Die wesentlichen Techniken der Reproduktionsmedizin sind je nach dia‐ gnostischem Befund: 200 3 Ausgewählte Krankheitsbilder <?page no="201"?> • Insemination • In Vitro Fertilisation (IVF) • Intracytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI) • Testikuläre Spermienextraktion (TESE) • Kryokonservierung Bei der Insemination (Samenübertragung) werden in Nährlösung aufbe‐ reitete Samenzellen mit einem dünnen Plastikschlauch in die Gebärmut‐ terhöhle eingebracht. Dies kann im natürlichen Zyklus oder zusammen mit einer Hormonbehandlung geschehen und kommt zur Anwendung bei Störungen im Bereich des Gebärmuttermunds oder einer leichten bis mittelgradig reduzierten Spermienbeweglichkeit. Bei der Samenspende wird grundsätzlich unterschieden zwischen homologer Samenspende, wenn die Samenspende vom Partner, und einer heterologen Samenspende, wenn die Samenspende von einem Dritten erfolgt. Das Verfahren der hetero‐ logen Samenspende kann auch bei lesbischen Paaren sowie alleinstehenden Frauen mit Kinderwusch zur Anwendung kommen. Die In-vitro-Fertilisation, abgekürzt IVF ist ein Verfahren, indem sowohl Eials auch Samenzellen gewonnen werden, damit die Befruchtung außerhalb des Körpers stattfinden kann. Während beim Mann die Samen‐ zellen per Ejakulat gewonnen werden, ist die Gewinnung der Eizellen invasiv. Hierzu erhält die Frau zunächst Hormone, um mehrere Follikel (Eibläschen) in den Eierstöcken zu produzieren, die dann mit einer Nadel abgesaugt (Follikelpunktion) werden. Dieses Verfahren erfolgt ggf. auch im Rahmen einer kurzen Narkose bzw. einer sogenannten Analgosedierung (Dämmerschlaf). Die gewonnenen Eizellen und Samenzellen werden dann vermischt und im Brutschrank gelagert. Unter dem Mikroskop kann danach beurteilt werden, ob eine Befruchtung der Eizellen stattgefunden hat. Gemäß Embryonenschutzgesetz dürfen dann 2-3 Tage nach Eizellgewinnung ma‐ ximal 3 Embryonen in die Gebärmutter eingesetzt werden, da zwar nicht alle Embryonen sich auch einnisten müssen, es aber gehäuft doch zu Mehr‐ lingsschwangerschaften kommen kann, was für die Frau ein medizinisches Risiko darstellt. Die IVF kommt beispielsweise bei verschlossenen Eileitern oder anderen Erkrankungen wie Endometriose zum Einsatz. Eine Sonderform der In-vitro-Fertilisation stellt die Intracytoplasmati‐ sche Spermieninjektion, kurz ICSI, dar. Hierbei erfolgt wie bei der IVF eine hormonelle Stimulation mit Eizellgewinnung bei der Frau und eine Samenspende, allerdings wird ein Spermium unter dem Mikroskop mit einer 3.9 Ungewollte Kinderlosigkeit 201 <?page no="202"?> Hohlnadel angesaugt und direkt ins Zellplasma der Eizelle eingebracht. Die ICSI findet beispielsweise Anwendung, falls eine IVF nicht erfolgreich war oder bei stark eingeschränkter Anzahl oder Beweglichkeit der Spermien nicht erfolgversprechend wäre. Sofern sich im männlichen Ejakulat keine Spermien befinden (Azoosper‐ mie) kann versucht werden, diese direkt aus dem Hodengewebe zu entneh‐ men. Hierzu wird im Rahmen der Testikulären Spermienextraktion, abgekürzt TESE, unter örtlicher Betäubung ein kleiner Teil des Hodenge‐ webes entfernt und unter dem Mikroskop untersucht und bei Vorhandensein im Rahmen einer ICSI verwendet. Neben der direkten Verwendung gewonnener Ei- und Samenzellen kön‐ nen diese auch für spätere Zwecke aufbewahrt werden. Dies kann beispiels‐ weise vor einer medizinischen Behandlung wie einer Chemotherapie oder einer Operation (Hodentumor, Eierstockentfernung) geschehen, um eine sogenannte Fertilitätsreserve zu erhalten, wobei neben Eizellen hier auch Eierstockgewebe konserviert werden kann. Ebenso ist die Gewinnung von Eizellen in jungen Jahren bei aufgeschobenem Kinderwunsch möglich, was vereinzelt auch als sogenanntes social freezing bezeichnet wird. Die Lagerung der Zellen bzw. des Gewebes erfolgt stark tiefgekühlt in flüssigem Stickstoff bei -196°C, was als sogenannte Kryokonservierung, abgeleitet vom griechischen Wort kryos (=Kälte), bezeichnet wird. Ebenso sind befruchtete Embryonen, die nicht im Rahmen der IVF bzw. der ICSI unmittelbar verwendet werden gemäß Embryonenschutzgesetz zu konser‐ vieren. Hierdurch können bei einmaliger hormonellen Stimulation und Follikelpunktion mehrere IVF- oder ICSI-Zyklen durchgeführt werden. 3.9.4 Prognose, Kontroversen und Perspektiven Durch den Einsatz reproduktionsmedizinischer Maßnahmen kommt es je nach Verfahren in ca. 45 % der Fälle pro Anwendungszyklus zu einer klinischen Schwangerschaft. Durch Wiederholung bestimmter Verfahren kann dies auf bis zu 90 % gesteigert werden, was allerdings auch bedeutet, dass ein Teil der Paare mit Kinderwunsch diesen nicht erfüllt bekommen kann. Auch bedeutet eine klinische Schwangerschaft wie bei der natürli‐ chen Befruchtung auch nicht zwangsweise, dass diese zur Geburt eines lebenden Kindes bzw. überlebenden Kindes führt. Somit stellt die reine Schwangerschaftsrate einen Surrogatparameter (→ Kapitel 2.3.6.1) dar. Der aus Sicht der Betroffenen relevante Endpunkt ist die sogenannte Baby 202 3 Ausgewählte Krankheitsbilder <?page no="203"?> Take Home Rate, also die Wahrscheinlichkeit, ein (gesundes) Kind durch das Verfahren zu erhalten. Die Erfolgsraten einer Schwangerschaft werden durch das biologische Alter der Eltern beeinflusst und nehmen ab dem vierten Lebensjahrzehnt rapide ab. Wie jede medizinische Behandlung sind auch die reproduktionsmedizini‐ schen Verfahren nicht frei von Risiken und möglichen Komplikationen. So kann es im Rahmen der hormonellen Stimulation zu IVF oder ICSI zur Ei‐ erstocküberreaktion kommen. Durch den Einsatz mehrerer Embryonen, die darauf abzielt die Chance für zumindest eine Einnistung eines Embryos zu gewährleisten ist das Risiko für Mehrlingsschwangerschaften deutlich erhöht. Auch können alle im Rahmen einer natürlichen Schwangerschaft auftretenden Komplikationen (z. B. Eileiterschwangerschaft oder Fehlge‐ burt) eintreten. Ob das Risiko für kindliche Fehlbildungen durch den Einsatz reproduktionsmedizinischer Verfahren erhöht ist, wird bis heute kontrovers diskutiert und ist nicht abschließend geklärt. Allerdings können Fehlbildun‐ gen im Erbgut natürlich die Ursache sein, warum auf natürlichem Weg keine Schwangerschaft zustande gekommen ist. Neben dem hohen psychischen Leidensdruck dieses oftmals gegenüber Freunden und Verwandten verschwiegenem medizinischen Problem, ist auch die Finanzierung reproduktionsmedizinischer Maßnahmen problema‐ tisch. Abweichend von der WHO wird die ungewollte Kinderlosigkeit im deutschen Gesundheitssystem nicht uneingeschränkt als behandlungs‐ bedürftige Erkrankung klassifiziert, was erhebliche Auswirkung auf die Finanzierung der Behandlung hat. Während bis zum Jahr 2003 Versicherte des Gesetzlichen Krankenversicherung bis zu 3 Behandlungszyklen einer IVF bzw. ICSI finanziert bekamen, werden die Kosten für bis zu 3 Behand‐ lungszyklen derzeit von den meisten Krankenkassen nur zu 50 % und nur bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen (z. B. nur für verheiratete Paare innerhalb bestimmter Altersgrenzen) erstattet. Somit kommen auch die Betroffenen Kosten pro Zyklus in Höhe von bis zu 5.000 Euro zu, was bei wiederholten Versuchen je nach sozialer Situation eine erhebliche finanzi‐ elle Belastung darstellt und sich Paare aufgrund ihres hohen Leidensdrucks und der damit verbundenen hohen Zahlungsbereitschaft mitunter hoch verschulden, um sich ihren Kinderwunsch zu erfüllen. Während die homologe und heterologe Samenspende mittlerweile hun‐ dertausendfach in Deutschland und millionenfach weltweit angewandt wurde, sind laut Embryonenschutzgesetz sowohl die Eizellspende als auch die Leihmutterschaft in Deutschland gesetzlich verboten. Da in anderen 3.9 Ungewollte Kinderlosigkeit 203 <?page no="204"?> europäischen Ländern wie Tschechien und Spanien Eizellspenden erlaubt sind, findet ein regelrechter Gesundheitstourismus deutscher Paare mit Kinderwunsch ohne eigene Eizellen statt. Dabei dürfen allerdings Reproduk‐ tionsmedizinerinnen und -mediziner in Deutschland für solche Verfahren nicht beratend zur Seite stehen, obgleich nach erfolgreicher Schwanger‐ schaft mit fremder Eizelle die Schwangere wieder den vollen Leistungsum‐ fang ihrer Krankenversicherung im Rahmen der Schwangerschaft genießt. Auch wird unter dem Aspekt der Gleichberechtigung von Mann und Frau der abweichende Umgang mit Ei- und Samenzellen kontrovers diskutiert. Im Bereich der Leihmutterschaft, die in einigen Ländern der Welt erlaubt bzw. geduldet wird, ergeben sich vor allem rechtliche Fragen der Elternschaft, insbesondere im Konfliktfall. Wie alle medizinischen Disziplinen kommen zunehmend weitere inno‐ vative Methoden zur Anwendung. So gibt es mittlerweile die Möglichkeit, bestimmte Defekte in weiblichen Eizellen durch Austausch der Mitochon‐ drien (Zellkraftwerke innerhalb menschlicher Zellen) zu beheben und sogar Schwangerschaften in einer transplantierten Gebärmuttern sind bereits beschrieben. Für enormes Aufsehen sorgte im Jahr 2018 die Ankündigung des chinesischen Forschers He, dass er ohne entsprechende Genehmigung die DNA von Embryonen mittels einer sogenannten Genschere (CRISPR/ Cas9-Verfahren) gentechnisch verändert und diese genetisch veränderten Embryonen mehreren Frauen erfolgreich implantiert hat. Unabhängig vom Ausgang dieses Experiments zeigt dieser Fall, dass alles technisch Mögliche früher oder später auch seine Anwendung finden wird und weitere Tech‐ niken und Anwendungsgebiete der Reproduktionsmedizin in Zukunft zu erwarten sind. ➤ Lesetipps-∣-Literatur und Websites Berufsverband der Frauenärzte e. V. (BVF): Frauenärzte im Netz: Un‐ gewollt kinderlos & Fruchtbarkeitsstörungen. Im Internet unter: 🔗 https: / / www.frauenaerzte-im-netz.de/ familienplanung-verhuetung/ u ngewollt-kinderlos-fruchtbarkeitsstoerungen/ Deutsches IVF-Register e. V. (DIR): Jahrbücher mit Statistiken zu reproduktionsmedizinschen Verfahren. In Internet unter: 🔗 https: / / www.deutsches-ivf-register.de/ jahrbuch.php 204 3 Ausgewählte Krankheitsbilder <?page no="205"?> 4 Ausgewählte Spannungsfelder in der Medizin Die Lernfragen zu diesem Kapitel finden Sie unter: 🔗 https: / / narr.kwaest.io/ s/ 1112 4.1 Lebensverlängerung vs. Lebensqualität Die Fortschritte der modernen Medizin ermöglichen vielen Patienten ein Leben bzw. Überleben in Situationen, deren Prognose früher als infaust zu betrachten war und auch heute noch in Gegenden eingeschränkter medizi‐ nischer Versorgung infaust ist. Gleichzeitig mit der Zunahme technischer, intensivmedizinischer Möglichkeiten stellen sich zunehmend ethische Fra‐ gen, die sich vor Erreichen des medizinischen Fortschritts aufgrund natür‐ licher Grenzen nicht gestellt haben. Ebenso haben große gesellschaftliche Entwicklungen wie der sogenannte demographische Wandel und die Globalisierung bedeutenden Einfluss auf die Medizin der heutigen Zeit und müssen daher berücksichtigt werden. 4.1.1 Demographischer Wandel Die Lebenserwartung eines erwachsenen Menschen betrug um das Jahr 1870 ca. 36 Jahre. Das bedeutet, dass genau die Hälfte der im Jahr 1870 in Deutschland geborenen Menschen 36 Jahre oder älter wurden, was vor allem durch die hohe Säuglingssterblichkeit der damaligen Zeit begründet war. Die Lebenserwartung stieg aufgrund der Einführung zahlreicher Innova‐ tionen wie der flächendeckende Zugang zu sauberem Trinkwasser, allge‐ meine hygienische Maßnahmen, politische Stabilität und damit verbundene persönliche Sicherheit, aber auch medizinische Errungenschaften in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich an und steigt derzeit ohne absehbares Ende weiter. Basierend auf den Sterbetafeln 2012/ 2014 gibt das Statistische Bundesamt für in Deutschland geborene Mädchen eine Lebenserwartung von 83 Jahren und einen Monat und für Jungen von 78 Jahren und zwei Monaten an. Gleichzeitig mit dem zunehmenden Alter der Menschen in <?page no="206"?> Deutschland steigt durch den Wandel der Arbeitswelt, familiärer Situatio‐ nen und anderer Faktoren das Durchschnittsalter der Gebärenden, während die absolute Zahl der Geburten bis 2015 kontinuierlich sank. Dies alles führt zu einer Verschiebung der Bevölkerungszusammensetzung hin zu einer sogenannten Überalterung der Gesellschaft. Da sich durch diese Entwicklung die Zahl der nicht mehr Erwerbstätigen im Verhältnis zu den erwerbstätigen Beitragszahlern der Sozialversicherungssysteme ver‐ schiebt, gleichzeitig aber auch die Inzidenz von Erkrankungen im Alter stark zunimmt, geraten Gesundheitssysteme, wie die Deutschlands oder beispielsweise Japans, durch den demographischen Wandel enorm unter Druck und werfen zunehmend Fragen der Verteilungsgerechtigkeit bis hin zu radikalen Forderungen der Leistungsbeschränkung ab bestimmten Altersstufen auf. Durch die Zunahme altersbedingter neurodegenerativer Erkrankungen wie Morbus Alzheimer stellt sich zudem die Frage der Lebensqualität im Altern in einer anderen Dimension. 4.1.2 Wohl des Patienten/ Medizinethik Das mutmaßliche Wohl des Patienten, ausgedrückt durch den verständigen Patienten selbst oder, wie in → Kapitel 4.2.1 beschrieben, definiert durch seine(n) Stellvertreter, wird im Rahmen des medizinischen Fortschritts zunehmend von seinen Wertvorstellungen, also seinen moralischen und ethischen Grundsätzen, bestimmt. Die Beschäftigung und Ermittlung des individuell aber auch gesellschaftlich moralisch und ethisch Gewollten bzw. Gesollten wiederum ist Gegenstand der Medizinethik. Dass die hierbei entstehenden Fragestellungen keinesfalls einfach und eindeutig zu lösen sind, verdeutlicht bereits das in →-Abbildung 17 dargestellte Vier-Prinzi‐ pien-Modell von Tom Lamar Beauchamp und James F. Childress. Die Prin‐ zipien, jedes für sich nachvollziehbar und wünschenswert, stehen teilweise untereinander in direktem Widerspruch und müssen für den konkreten Einzelfall gewichtet bzw. teilweise ignoriert werden. 206 4 Ausgewählte Spannungsfelder in der Medizin <?page no="207"?> medizinische Situation (Dilemma) Respekt vor Autonomie ► der Patient soll selbstbestimmt entscheiden Fürsorge ► aktives Handeln zum Wohl des Patienten Schadensvermeidung ► primum nil nocere Gleichheit/ Gerechtigkeit ► faire Verteilung von Gesundheitsleistungen Abbildung 17 Das Vier-Prinzipien-Modell von Beauchamp und Childress ➤ Lesetipps-∣-Literatur und Websites Website des Statistischen Bundesamts: Lebenserwartung in Deutsch‐ land. Im Internet unter: 🔗 https: / / www.destatis.de/ DE/ ZahlenFakten/ GesellschaftStaat/ Bevoelker ung/ Sterbefaelle/ Sterbefaelle.html Beauchamp, T. L.; Childress J. F. (1979): Principals of Biomedical Ethics. New York. 4.2 Selbstbestimmung und Eigenverantwortung 4.2.1 Der Wille des Patienten als oberstes Gesetz Wie in → Kapitel 1.1.2 bereits beschrieben, wurde das Prinzip des Patienten‐ wohles als oberstes Gesetz durch den Begriff des Patientenwillens ergänzt, was in bestimmten Situationen im Widerspruch zueinander steht. So hat der Patient nach juristischer Auffassung gesellschaftlich akzeptiert zwar das Recht auf Selbstbestimmung, im Fall einer akuten Eigen- oder Fremdge‐ fährdung oder im Rahmen eines nicht erfolgreichen Suizidversuches greifen 4.2 Selbstbestimmung und Eigenverantwortung 207 <?page no="208"?> jedoch nach dem in → Kapitel 4.1.2 beschriebenen Prinzip der Fürsorge jedoch auch Rechtsnormen, die eine Behandlung gegen den ausdrücklichen Willen des Patienten erlauben bzw. sogar einfordern. Problematische Situa‐ tionen ergeben sich außerdem insbesondere dann, wenn das Recht auf Autonomie noch nicht durch den Patienten selbst ausgeübt werden kann und die juristischen Stellvertreter des Patienten eine Entscheidung treffen, die nach medizinischen Gesichtspunkten gegen das Wohl des Patienten gerichtet ist. ➤ Beispiel-∣-Religion und Medizin Ein Kleinkind einer Familie, die der Religionsgemeinschaft der Zeu‐ gen Jehovas angehört, benötigt nach sorgfältiger Abwägung der Vor- und Nachteile aus medizinischer Sicht eine Bluttransfusion. Dies wird von der Familie aus religiösen Gründen abgelehnt, steht aber in of‐ fenkundigem Widerspruch zum physischen Wohl des Kindes, das bei Ausbleiben der Transfusion schwere körperliche Schäden erleiden oder sogar sterben kann. Während die Entscheidung eines geschäftsfähigen Erwachsenen zur Verweigerung einer Transfusion bei sich selbst zu akzeptieren ist, bleibt im oben genannten Fall anzuzweifeln, ob die Entscheidung auch dem Willen des Kleinkindes entsprechen würde. Doch selbst in weitaus weniger konfliktbehafteten Situationen ist die Ermittlung des Patientenwillens durchaus problematisch. So hat zwar grundsätzlich, bereits seit über 100 Jahren juristisch eingefordert, vor jeder medizinischen Intervention eine Aufklärung und Einwilligung zu erfolgen, jedoch sind zahlreiche Patienten vorübergehend oder dauerhaft nicht in der Lage, selbst in entsprechende Maßnahmen einzuwilligen. Während bei minderjährigen Kindern die Personensorgeberechtigten, in der Regel beide Eltern, entscheiden dürfen, sind bei erwachsenen Patienten nicht automatisch Kinder oder Elternteile entscheidungsberechtigt. Auch Ehepartner hatten bis zum 1. Januar 2023 kein automatisches Ver‐ tretungsrecht in Gesundheitsfragen. Dies wurde nun durch den Gesetzgeber im sogenannten Ehegattenvertretungsrecht geändert. Demnach haben Ehegatten im dafür neu geschaffenen § 1358 BGB nun für die Dauer von maximal sechs Monaten ein sogenanntes Notvertretungsrecht, um beispielsweise: 208 4 Ausgewählte Spannungsfelder in der Medizin <?page no="209"?> • in diagnostische oder therapeutische Maßnahmen bzw. ärztliche Ein‐ griffe stellvertretend einzuwilligen, sie zu untersagen sowie ärztliche Aufklärungen entgegenzunehmen, • Behandlungsverträge, Krankenhausverträge oder Verträge über eilige Maßnahmen der Rehabilitation und der Pflege abzuschließen und durchzusetzen, • über notwendige freiheitsentziehende Maßnahmen (geregelt in § 1831 Absatz 4 BGB) zu entscheiden, sofern die Dauer der Maßnahme im Einzelfall 6 Wochen nicht überschreitet, • Ansprüche, die dem vertretenen Ehegatten aus Anlass der Erkrankung gegenüber Dritten zustehen (z. B. Schadensersatz oder Schmerzensgeld), geltend zu machen. Um diese Aufgaben wahrnehmen zu können, sind die behandelnden Ärztin‐ nen und Ärzte gegenüber den vertretenden Ehegatten nun auch offiziell von der Schweigepflicht entbunden. Auch wenn insbesondere bei lebensbe‐ drohlichen Notfällen den Ehegatten in der Regel Auskunft über den Gesund‐ heitszustand ihres Ehepartners gegeben wurde, ist dies strenggenommen erst durch diese Änderung gesetzlich erlaubt. Die vertretenden Ehegatten dürfen nun auch in Krankenunterlagen Einsicht nehmen. Dieser Automatismus greift jedoch nicht wenn • die Ehegatten getrennt leben, • die Betreuung durch den zu betreuenden Ehegatten abgelehnt wird, • die als Betreuung vorgesehene Person selbst gesetzlich betreut wird, • eine andere Person als gesetzliche Betreuung bereits bestellt worden ist. Da dieses Gesetz nur für Notfälle vorgesehen ist, in denen keine Zeit mehr blieb, eine Vertretung ordnungsgemäß zu organisieren und die Vollmacht zeitlich begrenzt ist, empfiehlt sich in jedem Fall und auch für gesunde Menschen, über eines der im Folgenden beschriebenen Instrumente, die Vorsorgevollmacht, eine informierte Entscheidung zu treffen. Es gibt im Wesentlichen drei Instrumente, mit denen dem mutmaßli‐ chen Willen des Patienten Geltung verschafft werden soll: • die Vorsorgevollmacht • die Patientenverfügung • die gerichtliche Bestellung eines gesetzlichen Betreuers 4.2 Selbstbestimmung und Eigenverantwortung 209 <?page no="210"?> 4.2.1.1 Die Vorsorgevollmacht Für viele Lebensbereiche ist es möglich, anderen Personen eine Vollmacht zur Vornahme bestimmter Handlungen zu erteilen. So ist es auch möglich, dass ein Patient - noch im Vollbesitz seiner geistigen Fähigkeiten und im Zu‐ stand der Geschäftsfähigkeit - festlegt, welche Person für seine Gesund‐ heitsbelange entscheiden soll, falls er selbst vorübergehend oder dauerhaft nicht dazu in der Lage sein sollte. Bei der Wahl des Bevollmächtigten ist der Patient grundsätzlich autonom und beispielsweise nicht an Verwandt‐ schaftsbeziehungen gebunden. Der Bevollmächtigte muss die entsprechend erteilte Vollmacht selbstverständlich aber auch annehmen wollen. Neben der Entscheidungsbefugnis für medizinische Entscheidungen kann in einer Vorsorgevollmacht auch das Auskunfts- und Einsichtsrecht bezüg‐ lich der personenbezogenen Gesundheitsdaten wie der Krankenakte des Patienten geregelt werden. Die Erstellung einer Vorsorgevollmacht für Gesundheitsbelange kann beispielsweise auch anlassbezogen im Vorfeld einer umfangreichen oder risikobehafteten medizinischen Behandlung er‐ folgen, um notwendige therapeutische Schritte im Zuge der Behandlung durchführen zu können, die zu Beginn der Therapie noch nicht absehbar waren. Ein Beispiel hierfür ist die Frankfurter Gesundheitsvollmacht. - 4.2.1.2 Die Patientenverfügung Im Gegensatz zur Vorsorgevollmacht ermöglicht die Patientenverfügung dem Patienten, bereits im Vorfeld möglicherweise eintretender Krankheits‐ zustände eine Willenserklärung zum Vorgehen in dieser konkreten Situa‐ tion abzugeben und so seinen Willen zum Ausdruck zu bringen. Hierzu gibt es zahlreiche Vordrucke, die für bestimmte beispielhafte medizinische Situationen abfragen, wie der Patient im konkreten Fall entscheiden würde. Problematisch ist in diesem Zusammenhang jedoch, dass in vielen Fällen, insbesondere bei jungen bzw. weitgehend gesunden Patienten, die konkret eintretende Situation in der Zukunft nicht durch eine pauschal vorwegge‐ nommene Willenserklärung so abgebildet werden kann, sodass zweifelsfrei geklärt ist, wie zu verfahren ist. Auch sind pauschale Aussagen, wie „ich möchte nicht an Schläuchen hängen“ irreführend, da unklar ist, ob der Patient keine aus seiner Sicht unnötigen lebensverlängernden Maßnahmen möchte, oder ob er jedwede Form der Narkose auch für kurzzeitige Eingriffe bei hervorragender Prognose ablehnt, da eine Narkose ohne Beatmungs- 210 4 Ausgewählte Spannungsfelder in der Medizin <?page no="211"?> und Infusionsschläuche nicht sinnvoll durchführbar ist, auch wenn diese Schläuche ggf. nur kurz mit dem Patienten verbunden sind. Die Erstellung einer Patientenverfügung ist somit wesentlich komplexer als die Abfassung einer Vorsorgevollmacht und bekommt insbesondere bei chronisch bzw. ernsthaft erkrankten Patienten eine höhere Bedeutung, da beispielsweise bei absehbar begrenzter Lebenszeit konkrete Willenserklärungen abgegeben werden können. Eine Sonderform der Patientenverfügung, die auch für junge und gesunde Patienten angedacht werden sollte, ist der Organspen‐ deausweis, in dem, je nach persönlicher Präferenz, die Einwilligung oder die Verweigerung einer Organspende im Fall des irreversiblen Funktions‐ ausfalls des Gehirns (früher als Hirntod bezeichnet) festgehalten wird. - 4.2.1.3 Die gerichtliche Bestellung eines gesetzlichen Betreuers Da das Fehlen einer Vorsorgevollmacht oder Patientenverfügung bei medi‐ zinischen Interventionen trotzdem eine formale Ermittlung des mutmaßli‐ chen Willens des Patienten und die Einwilligung eines offiziellen Stellver‐ treters erfordert, sind im Bürgerlichen Gesetzbuch Regelungen getroffen (§§ 1896 ff.), um einen Betreuer gerichtlich zu bestellen, der den mutmaßli‐ chen Willen des Patienten offiziell vertreten soll. Dies kann zum einen eine dem Patienten nahestehende Person, beispielsweise der Ehegatte, ein Kind oder Elternteil, sein, aber auch eine dem Patienten fremde Person, die als Berufsbetreuer arbeitet und für ihre Tätigkeit eine pauschalierte Vergütung erhält. ➤ Lesetipps-∣-Literatur und Websites Frankfurter Gesundheitsvollmacht. Im Internet unter: 🔗 https: / / www.kgu.de/ fileadmin/ redakteure/ Klinikum/ Klinisches_Ethik -Komitee/ Vollmacht_-_final.pdf Informationsseite des Bundesjustizministeriums zu den Themen Vorsorge und Betreuungsrecht. Im Internet: 🔗 https: / / www.bmj.de/ DE/ Themen/ VorsorgeUndBetreuungsrecht/ Vorsor geUndBetreuungsrecht_node.html 4.2 Selbstbestimmung und Eigenverantwortung 211 <?page no="212"?> 4.2.2 Aspekte der Eigenverantwortung Aus der Selbstbestimmung, verankert in Artikel 2 des Grundgesetzes, er‐ wächst gleichzeitig die Eigenverantwortung, definiert als die Möglichkeit, Fähigkeit, Bereitschaft und Pflicht, für das eigene Handeln, Reden und Un‐ terlassen Verantwortung zu tragen. Wie aus der eben genannten Aufzählung hervorgeht, handelt es sich somit nicht nur um eine Verpflichtung, sondern auch um eine Kompetenz, die es, wie in → Kapitel 4.2.3 dargestellt, zunächst zu erlernen gilt. Dabei haben die im Rahmen der Eigenverantwortung durch‐ geführten oder unterlassenen Handlungen keineswegs nur Auswirkung auf die eigene Person. So werden drei Ebenen unterschieden, auf denen Eigenverantwortung wirkt: • die Mikroebene • die Mesoebene • die Makroebene Auf der Mikroebene ist jeder erwachsene, geschäftsfähige Mensch zu‐ nächst für seine Handlungen und die sich daraus ergebenden Konsequenzen, beispielsweise des daraus resultierenden Gesundheitszustands, verantwort‐ lich. Auf der Mesoebene trägt jeder Mensch jedoch auch Verantwortung durch sein Handeln für sein unmittelbares Umfeld. So schädigen in der gemeinsamen Wohnung rauchende Eltern nicht nur ihre eigene Gesundheit, sondern auch die ihrer passiv rauchenden Kinder. Ebenso wirkt sich das Gesundheitsverhalten einer stillenden Mutter auch auf das gestillte Kind aus. Auf der Makroebene wirkt sich gesundheitsbewusstes Verhalten ebenfalls aus. So verpflichtet beispielsweise § 1 des SGB V die Versicherten zu Folgendem: „[…] Die Versicherten sind für ihre Gesundheit mitverantwortlich; sie sollen durch eine gesundheitsbewusste Lebensführung, durch frühzeitige Beteiligung an gesundheitlichen Vorsorgemaßnahmen sowie durch aktive Mitwirkung an Krankenbehandlung und Rehabilitation dazu beitragen, den Eintritt von Krank‐ heit und Behinderung zu vermeiden oder ihre Folgen zu überwinden […]“ Durch die gewissenhafte Entnahme von Leistungen aus der Solidargemein‐ schaft durch eigenverantwortliches Handeln soll so die Gemeinschaft als Ganzes profitieren. 212 4 Ausgewählte Spannungsfelder in der Medizin <?page no="213"?> 4.2.3 Voraussetzung für eigenverantwortliches Handeln Eigenverantwortliches Handeln ist keinesfalls selbstverständlich, sondern bedarf mehrerer Grundvoraussetzungen auf individueller und gesellschaft‐ licher Ebene. Aufseiten der Patienten sind sowohl die Bereitschaft zur Übernahme von Eigenverantwortung als auch die Fähigkeit, angemessen informiert eigenverantwortlich Entscheidungen zu treffen, von zentraler Bedeutung. Aus gesellschaftlicher Sicht ist eine Akzeptanz dieses eigen‐ verantwortlichen Handelns mit den daraus erwachsenden Konsequenzen notwendig. Im Kontext der medizinischen Behandlung zeigen sich hinsichtlich der Bereitschaft zum eigenverantwortlichen Handeln durchaus Unterschiede, die am Beispiel der Einwilligung eines Patienten in eine Behandlungsmaß‐ nahme dargestellt werden können. Die in → Tabelle 17 dargestellten Mög‐ lichkeiten zur Entscheidungsfindung bezüglich eines medizinischen Vorgehens wurden von Cathy Charles und Kollegen im Jahr 1999 eingeführt. - - paternalisti‐ sches Modell partizipative Entscheidungs‐ findung Informations‐ modell Informationsaustausch Informations‐ fluss Arzt → Patient Arzt ↔ Patient Arzt → Patient Informations‐ art medizinisch medizinisch und persönlich medizinisch Ausmaß so viel wie gesetz‐ lich nötig alles entschei‐ dungsrelevante alles entschei‐ dungsrelevante - Abwägung Alternativen Arzt alleine Arzt + Patient Patient alleine - Treffen der Entscheidung Arzt alleine Arzt + Patient Patient alleine Tabelle 17: Entscheidungsfindungsmodelle nach Charles et al. Das in diesem Kontext als ideale Kombination aus Patientenautonomie, Fachexpertise und Vertrauensbeziehung angesehene Modell der Partizipati‐ ven Entscheidungsfindung entspricht in Befragungen jedoch nur teilweise dem präferierten Modell der Patienten. So zeigt sich in den von der 4.2 Selbstbestimmung und Eigenverantwortung 213 <?page no="214"?> 21 Kunstbegriff aus den Worten Produzent und Konsument Bertelsmann Stiftung durchgeführten Umfragen in den Jahren 2001-2012 einerseits, dass ca. 55 % der Befragten eine Entscheidung nach dem Modell der Partizipativen Entscheidungsfindung bevorzugen, während ca. 25 % eine Entscheidung nach dem Paternalistischen Modell und ca. 18 % der Befragten eine Entscheidung gemäß dem Informationsmodell bevorzugen, und andererseits, dass die Präferenz zur Partizipativen Entscheidungsfin‐ dung von Faktoren wie dem Alter und dem Schulbildungsgrad abhängt. So tendieren jüngere Menschen und Menschen mit Abitur im Vergleich zu älteren Menschen oder Personen mit Hauptschulabschluss häufiger zur Partizipativen Entscheidungsfindung. Eine weitere Voraussetzung und möglicherweise der Grund für den bisher verhaltenen Umgang mit dem Konzept der Partizipativen Entscheidungs‐ findung ist die Kompetenz, verlässliche Informationen zu recherchieren und hinsichtlich ihres Nutzens angemessen bewerten und anwenden zu können, was auch als critical health literacy bezeichnet wird. Der Patient tritt dann als Prosument 21 und wesentlich am Prozess aktiv Beteiligter auf. Um diese Position einnehmen zu können, ist es wichtig Gesundheitsin‐ formationen verständlich und ausgewogen aufzubereiten, damit informierte Entscheidungen getroffen werden können. Neben den in → Kapitel 2.3. genannten möglichen Fallstricken können beispielsweise bestimmte Maß‐ zahlen wie Überlebenszeiträume bei Screening-Programmen irreführend sein, wie folgendes Beispiel verdeutlicht: ➤ Beispiel-∣-länger Leben durch Screening? Zwei Patienten leiden an einer bestimmten Krebserkrankung. Patient A nimmt nicht am Krebsfrüherkennungsprogramm teil, die Krankheit zeigt Symptome im Alter von 67 Jahren und die Patient A verstirbt im Al‐ ter von 70 Jahren. Patient B nimmt am Krebsfrüherkennungsprogramm teil und die Krebserkrankung wird im Alter von 60 Jahren entdeckt. Patient B verstirbt allerdings auch mit 70 Jahren. Ab dem Zeitpunkt der Diagnose lebt A jedoch nur noch 3 Jahre und B noch 10 Jahre. B lebt allerdings absolut gesehen keinen Tag länger als A, er weiß nur länger von seiner Krebserkrankung, wie folgendes Bild veranschaulicht 214 4 Ausgewählte Spannungsfelder in der Medizin <?page no="215"?> 60 65 Tod mit 70 Alter 5-Jahres-Überlebensrate = 0 % Diagnose aufgrund von Symptomen im Alter von 67 Jahren ohne Früherkennung Krebs beginnt 60 65 Tod mit 70 Alter 5-Jahres-Überlebensrate = 100 % Diagnose durch Früherkennung im Alter von 60 Jahren mit Früherkennung Krebs beginnt Vorlaufzeit-Bias Abbildung 18: Vorlaufzeit-Bias | Quelle: in Anlehnung an Schirren, C (2019) Deutsches Ärzteblatt; 116(38): A-1642 / B-1355 / C-1330 Grundvoraussetzung hierfür sind nach Schäfer und Weißbach das Vorhan‐ densein sogenannten „sauberen“ Wissens, also vertrauenswürdige unver‐ fälschte Informationen, ein gesundheitspolitischer Rahmen, der garantiert, dass dieses Wissen auch ankommen kann, beispielsweise eine Publikations‐ pflicht für alle klinischen Studien unabhängig von ihrem für den Auftrag‐ geber günstigen oder ungünstigen Ergebnis, und die persönliche Disposition der Menschen. Ebenso fordern Schäfer und Weißbach aber auch die gesell‐ schaftliche Akzeptanz des eigenverantwortlichen Handelns, das in letzter Konsequenz bei nicht mehr als akzeptabel angesehener Lebensqualität auch den Suizid des Patienten in Kauf nehmen müsste. 4.2 Selbstbestimmung und Eigenverantwortung 215 <?page no="216"?> ➤ Lesetipps-∣-Literatur und Websites Charles, C.; Gafni, A.; Whelan, T. (1999): Decision-making in the physician-patient encounter. Revisiting the shared treatment deci‐ sion-making model. Social Science & Medicine. 49/ 1999. S.-651-661. Amhof, R.; Böcken, J.; Braun, S.; Schlette, S. (2015): Shared Decision Making. Beteiligung von Patienten an medizinischen Entscheidungen. Gesundheitsmonitor Newsletter. 03/ 2015. Im Internet unter: 🔗 http: / / gesundheitsmonitor.de/ uploads/ tx_itaoarticles/ 200503NL.pdf Braun, B.; Marstedt, G. (2014): Partizipative Entscheidungsfindung beim Arzt. Anspruch und Wirklichkeit. Im Internet unter: 🔗 https: / / www.bertelsmann-stiftung.de/ fileadmin/ files/ BSt/ Publikatione n/ GrauePublikationen/ VV-PmW-PEF.pdf Schaefer, C.; Weißbach, L. (2012): Das Gesundheitssystem braucht mehr Eigenverantwortung. Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen. 106(3). S.-199-204. Nutbeam, D. (2000): Health literacy as a public health goal. A chal‐ lenge for contemporary health education and communication strategies into the 21st century. Health Promotion International. 15(3). S. 259-67. Im Internet unter: 🔗 https: / / doi.org/ 10.1093/ heapro/ 15.3.259 Techniker Krankenkasse. Kompetent als Patient, Gut informiert entscheiden. Im Internet: 🔗 https: / / www.tk.de/ techniker/ gesundheit-und-medizin/ kompetent-alspatient-2025602 Schirren, C.; Lein, I.; Diel, F.; Jenny, M. (2019): Zahlen können Verwir‐ rung stiften. Deutsches Ärzteblatt; 116(38). Im Internet unter: - 🔗 https: / / www.aerzteblatt.de/ pdf.asp? id=209920 216 4 Ausgewählte Spannungsfelder in der Medizin <?page no="217"?> 4.2.4 Empowerment vs. Anreizprogramme Wie bereits in den → Kapiteln 2.4.2.1 und →-2.5.2.2 beschrieben, stellt die Befähigung von Menschen zu eigenverantwortlichem gesundheitsbewuss‐ tem Verhalten einen wesentlichen Erfolgsfaktor sowohl in der Primärprä‐ vention von Erkrankungen als auch in der Bewältigung von Erkrankungen dar. Da die Befähigung von Menschen neben einer Informationskomponente in aller Regel auch Aspekte der Motivation betrifft, stellt sich im Rahmen der Förderung gesundheitsbewussten Verhaltens die Frage nach dem Grad der Beeinflussung von Individuen und deren Umfeld. Hierzu hat das Nuf‐ field Council on Bioethics die in → Abbildung 19 dargestellte Interventi‐ onsleiter als Eskalationsmodell für den Eingriff in die Autonomie von Menschen zur Förderung gesundheitsbewussten Verhaltens vorgeschlagen. Grundsätzlich sollte eine Maßnahme auf einer höheren Stufe der Leiter erst dann ergriffen werden, wenn Maßnahmen auf niedrigeren Stufen keinen Erfolg zeigen bzw. versprechen. Im Zusammenhang mit der Belohnung (Inzentivierung) gesundheitsbe‐ wussten Verhaltens wurden Anreizprogramme in zahlreichen Studien wissenschaftlich untersucht. So stellten McIntyre und Kollegen in einer Übersichtsarbeit beispielsweise fest, dass die Impfungsraten bei finanziellem Anreiz, beispielsweise in Form der Teilnahme an einem Gewinnspiel für einen Einkaufsgutschein oder Lebensmittelgaben, in Entwicklungsländern im Durchschnitt um 17 % anstiegen. Seal und Kollegen konnten die Impf‐ raten von Obdachlosen gegen Hepatitis B durch Zahlung von monatlich 20 US-Dollar von 23 % auf 69 % verdreifachen. Grundsätzlich zeigt sich, dass finanzielle Anreizprogramme vor allem zur Stimulation einfachen Gesundheitsverhaltens und in Ländern bzw. Bevölkerungsschichten mit niedrigem Einkommen effektiv sind. 4.2 Selbstbestimmung und Eigenverantwortung 217 <?page no="218"?> nichts tun/ beobachten informieren gesunde Option ermöglichen gesunde Option zum Standard machen gesunde Optionen belohnen ungesunde Optionen sanktionieren Optionen einschränken Optionen eliminieren Beispiele ► Zwangsisolation hochinfektiöser Patienten ► Rauchverbot in öffentlichen Einrichtungen ► Tabaksteuer, Einschränkung von Autoparkplätzen ► steuerfreie Elektroautos Prämie bei Fahrradnutzung ► Reduktion des Salzgehaltes in Kantinenessen ► Rauchentwöhnungsprogramm anbieten, Fahrradwege bauen ► Informationskampagne zur gesunden Ernährung ► epidemiologische Überwachung von Erkrankungen Abbildung 19: Die Interventionsleiter des Nuffield Council on Bioethics ➤ Lesetipps-∣-Literatur und Websites Nuffield Council on Bioethics (2014): Public Health. Ethical Issues. Im Internet unter: 🔗 http: / / nuffieldbioethics.org/ wp-content/ uploads/ 2014/ 07/ Public-health -ethical-issues.pdf Spectra 96 (2013): Newsletter Gesundheitsförderung und Präven‐ tion. Schweizer Bundesamts für Gesundheit (BAG). 01/ 2013. Im Internet unter: 🔗 http: / / www.spectra-online.ch/ admin/ data/ files/ issue/ pdf/ 70/ spectra_9 6_jan_2013_de.pdf ? lm=1421406087 Achat, H.; McIntyre, P.; Burgess, M. (1999): Health care incentives in immunisation. Aust N Z J Public Health 06/ 1999. 23(3). S.-285-288. Seal, K.-H.; Kral, A.-H.; Lorvick J.; McNees, A.; Gee, L.; Edlin, B.-R. (2003): A randomized controlled trial of monetary incentives vs. outreach to enhance adherence to the hepatitis B vaccine series among injection drug users. Drug Alcohol Depend. 08/ 2003. 71(2). S.-127-131. 218 4 Ausgewählte Spannungsfelder in der Medizin <?page no="219"?> 22 DRG: Diagnosis Related Groups (Fallpauschalen bei stationärer Versorgung), EBM: Einheitlicher Bewertungsmaßstab (Entgeltsystem in der ambulanten Versorgung ge‐ setzlich Krankenversicherter), GOÄ: Gebührenordnung für Ärzte 4.3 Ökonomisierung der Medizin Der Begriff Ökonomisierung beschreibt die Verbreitung ökonomischer Prinzipien in Lebensbereiche, in denen rein ökonomische Überlegungen, beispielsweise aufgrund solidarischer Finanzierung, nicht die oberste Prio‐ rität erfahren haben. Im Kontext medizinischer Versorgung beschreibt dieser Begriff, gelegentlich auch als Kommerzialisierung der Medizin bezeichnet, den Trend, allein auf wirtschaftliche Interessen auch entgegen der Interes‐ sen und dem Wohl des Patienten oder der an der Patientenversorgung Beteiligten zu fokussieren. Anders als ein aus ethischer Sicht gebotener sorgsamer, also ökonomischer Umgang mit den vorhandenen Ressourcen, stellt die Ökonomisierung der Medizin die in → Kapitel 1.1 dargestellten Grundprinzipien in Frage. Im Folgenden sollen einige mutmaßliche Ursa‐ chen und Erscheinungsformen dieses Trends kurz skizziert werden, um einen ersten Eindruck in den derzeitigen Diskurs bezüglich der ökonomi‐ schen Aspekte medizinischer Leistungen zu geben. 4.3.1 Ursachen zunehmender Ökonomisierung Die Ursachen der zunehmenden Ökonomisierung werden je nach Inter‐ essenlage der Beteiligten unterschiedlich gesehen. Im Bereich politisch Verantwortlicher werden Entwicklungen wie der demographische Wandel und die Steigerung der Behandlungskosten durch Innovationen als Haupt‐ ursache für den zunehmenden Kostendruck angeführt. Ärzte hingegen kritisieren vor allem die mangelhafte Krankenhausplanung, fehlende Inves‐ titionsbereitschaft und das pauschalierte Entgeltsystem, dem nur durch immer höhere Fallzahlen und Leistungssteigerung begegnet werden kann, die fehlende Investitionen durch ein positives Geschäftsergebnis quersub‐ ventionieren sollen. Problematisch wird von Ökonomen wiederum die mangelhafte Auslastung einzelner Gesundheitseinrichtungen sowie der fehlende politische Wille zur Konzentrierung von Leistungen bei gleichzei‐ tiger Schließung einzelner Einrichtungen gesehen, durch die der ruinöse Preiskampf in einem an Festpreisen orientierten Gesundheitssystem (DRG, EBM, GOÄ 22 ) ersetzt werden soll. Typische Effekte dieses ökonomischen 4.3 Ökonomisierung der Medizin 219 <?page no="220"?> Spannungsfeldes sind neben Leistungsverdichtung vor allem die Fusio‐ nierung kleiner Krankenhäuser zu Verbünden, Outsourcing nicht-medi‐ zinischer Dienstleistungen, Konzentration auf besonders profitable Leis‐ tungsbereiche („cherry picking“) und die Privatisierung hochdefizitärer kommunaler Gesundheitsversorger. ➤ Lesetipps-∣-Literatur und Websites Sozialwissenschaftliches Institut der Evangelischen Kirche in Deutsch‐ land: Hintergrundinformation Ökonomisierung. Im Internet unter: 🔗 https: / / www.sozialethik-online.de/ download/ Oekonomisierung.pdf Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (2014): Medizin und Ökonomie - wie weiter? Positionspapier. Im Internet unter: 🔗 http: / / www.samw.ch/ de/ Publikationen/ Positionspapiere.html Jens Flintrop (2014): Krankenhäuser zwischen Medizin und Ökono‐ mie. Die Suche nach dem richtigen Maß. Deutsches Ärzteblatt. 111(45). Im Internet unter: 🔗 http: / / www.aerzteblatt.de/ pdf.asp? id=163452 Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina (2016): Zum Ver‐ hältnis von Medizin und Ökonomie im deutschen Gesundheits‐ system, 8 Thesen zur Weiterentwicklung zum Wohle der Patien‐ ten und der Gesellschaft. Im Internet unter: 🔗 https: / / www.leopoldina.org/ uploads/ tx_leopublication/ Leo_Diskussio n_Medizin_und_Oekonomie_2016.pdf 4.3.2 Gesundheitsökonomische Evaluation Die gesundheitsökonomische Evaluation beschreibt die Betrachtung der durch eine Gesundheitsdienstleistung entstandenen Kosten im Verhältnis zu der dadurch erzielten Wirkung. Dies kann im Rahmen der Kosten-Minimie‐ rungs-Analyse durch Betrachtung zweier als gleichwertig angesehener The‐ rapiealternativen geschehen oder im Rahmen der Kosten-Effektivitäts-Ana‐ lyse durch Vergleich medizinischer Effekte wie der Blutdrucksenkung in mm Hg (→ Kapitel 3.3) pro eingesetzter Geldeinheit. Während die Kosten-Nut‐ zen-Analyse auch das medizinische Ergebnis in monetären Einheiten be‐ 220 4 Ausgewählte Spannungsfelder in der Medizin <?page no="221"?> 23 QALY: engl. quality-adjusted life-year wertet, entstanden im Rahmen der Kosten-Nutzwert-Analyse Messgrößen wie die qualitätskorrigierten Lebensjahre (QALY 23 ), die im Folgenden kurz dargestellt werden sollen. QALYs versuchen, die Lebensqualität zu berücksichtigen, die dem Patien‐ ten im Rahmen seiner Restlebenszeit verbleibt, unter der Annahme, dass zwei Restlebensjahre bei vollkommener Lebensqualität (dies entspräche der dimensionslosen Zahl 1) einen höheren Wert haben, als die gleiche Restlebenszeit bei reduzierter Lebensqualität. Die geringste Lebensqualität in dem Konstrukt wäre mit dem Zahlenwert 0 der Tod, obgleich disku‐ tiert wird, ob es bestimmte Gesundheitszustände gibt, die von Patienten noch schlimmer als deren Tod angesehen werden. Die QALYs einer me‐ dizinischen Maßnahme errechnen sich aus dem Produkt der durch die Maßnahme zusätzlich gewonnenen Lebensqualität und/ oder Restlebenszeit im Vergleich zum Produkt bisheriger Lebensqualität und Restlebenszeit. Dies ermöglicht zwar rechnerisch den direkten Vergleich verschiedener Therapien, setzt aber zahlreiche Grundannahmen voraus, die Gegenstand deutlicher Kritik sind. So wird angenommen, dass bei rechnerisch identi‐ schen Nutzenwerten keine Präferenzen seitens des Patienten beispielsweise zwischen Lebensqualitätsverbesserung und Lebenszeitverlängerung herr‐ schen (mutual utility independance). Ebenso wird die Lebensqualität über den Zeitraum der Erkrankung als konstant angesehen (constant proportional time trade-off), was der medizinischen Erfahrung wider‐ spricht, dass Patienten auch mit schwerwiegenden Erkrankungen durch ein Arrangieren mit der Situation Lebensqualitätsgewinne erzielen. Ebenso setzen QALYs den objektiven Utilitarismus voraus, der online ( 🔗 https: / / files.narr.digital/ 9783825259853/ Zusatzmaterial.zip) anhand eines typischen Dilemmas aus der Entscheidungstheorie praktisch erklärt wird. Durch sys‐ tematische Benachteiligung von Patienten mit geringer Therapiefähigkeit, begrenzter Restlebenszeit und kurzen aber schweren Krankheitsverläufen werden durch QALYs insbesondere ältere Menschen und Menschen mit Behinderung diskriminiert. Während das Instrument der QALYs im bri‐ tischen Gesundheitssystem Anwendung findet, ist die Berücksichtigung dieses Instrumentes für Therapieentscheidungen in Deutschland seitens des IQWiG aus methodischen und ethischen Gründen abgelehnt worden, in den USA durch den als „Obamacare“ bekannten Patient Protection and Affordable Care Act sogar gesetzlich verboten worden. 4.3 Ökonomisierung der Medizin 221 <?page no="222"?> ➤ Lesetipp-∣-Literatur Koch, K.; Gerber, A. (2010): QALYs in der Kosten-Nutzen-Bewertung. Rechnen in drei Dimensionen. BARMER GEK Gesundheitswesen aktuell 2010. S.-32-48. Im Internet unter: 🔗 https: / / www.barmer.de/ presse/ infothek/ studien-und-reports/ gesundhe itswesen-aktuell/ gwa-2010-38808 4.3.3 Optimierung des Lebens Die Geburtshilfe gerät aufgrund sinkender Geburtenzahlen bei steigenden Erwartungen werdender Eltern und der deutlichen Verbesserung vorgeburt‐ licher Untersuchungen (Pränataldiagnostik) zunehmend in ein ethisches Spannungsfeld unter dem Aspekt der Nutzenmaximierung. Während bis vor einigen Jahren die Untersuchung auf genetische Defekte eingeschränkt möglich und mit Risiken einer Fehlgeburt eines gesunden Kindes behaftet war, ist heutzutage die komplikationslose Untersuchung der DNA des Kindes im mütterlichen Blut oder gar die genetische Untersu‐ chung künstlich befruchteter Eizellen vor Implantation in die Gebärmutter (Präimplantationsdiagnostik) möglich. Neben der juristisch akzeptierten Möglichkeit, bei Vorliegen eines genetischen Defektes einen Schwanger‐ schaftsabbruch vorzunehmen, sind so auch weitgehende Eingriffe in die Planung des Lebens, wie beispielsweise die bewusste Implantation einer Eizelle mit bestimmtem Geschlecht oder bestimmten genetischen Merk‐ malen, möglich. Zwar ist dies aufgrund gesetzlicher Regelungen bis auf wenige Ausnahmen schwerwiegende Erkrankungen betreffend gesetzlich untersagt, doch schafft aller Erfahrung nach eine bestehende Möglichkeit auch eine entsprechende Nachfrage und damit verbunden ein entsprechen‐ des Angebot, ggf. abseits gesetzlich geregelter Rahmenbedingungen. Somit ist durch die Verbesserung der Pränataldiagnostik nicht nur der Abbruch von Schwangerschaften mit infauster Prognose, sondern auch eine Selektion menschlichen Lebens möglich und im Fall bestimmter genetischer Erkran‐ kungen Realität. Neben der individuellen Entscheidung der werdenden Eltern für oder gegen die Fortsetzung einer Schwangerschaft wächst aber durch verbesserte Pränataldiagnostik gleichzeitig der Druck auf Schwangere, diese Möglich‐ keiten auch einzusetzen und die aus rein ökonomischer Sicht „einzig rich‐ 222 4 Ausgewählte Spannungsfelder in der Medizin <?page no="223"?> tige“ Entscheidung zu treffen, ein Kind mit mutmaßlicher Behinderung abzutreiben. Spätestens dieser Eingriff in die individuelle Selbstbestim‐ mung überschreitet jedoch das ethische Wertesystem vieler Menschen und bedarf einer intensiven gesellschaftlichen Auseinandersetzung über die Grenzen der Möglichkeiten der Optimierung menschlichen Lebens. ➤ Lesetipp-∣-Website Informationen des Deutschen Referenzzentrums für Ethik in den Bio‐ wissenschaften: Prädiktive genetische Testverfahren und Präim‐ plantationsdiagnostik. Im Internet unter: 🔗 http: / / www.drze.de/ im-blickpunkt 4.3.4 Optimierung des Sterbens Wie im-→-Kapitel 2.6.4 erläutert, findet derzeit ein intensiver Diskurs hin‐ sichtlich der Selbstbestimmung am Ende des Lebens, beispielsweise in Form der Sterbehilfe oder des assistierten Suizides, statt. Abseits gesetzlicher Regelungen tangieren die vorhandenen Möglichkeiten ebenso wie die Prä‐ nataldiagnostik ein ethisches Spannungsfeld. Während in Ländern, in denen die aktive Sterbehilfe für Erwachsene zugelassen ist, derzeit über die aktive Sterbehilfe für Kinder diskutiert wird, werfen Kritiker der Sterbehilfe den Befürwortern vor, dass ältere Menschen oder Menschen mit Behinderung, die gleich aus welchem Grund den Eindruck haben, ihren Nachkommen zur Last zu fallen, oder aus Angst vor Unterversorgung, drohender oder eingetretener Altersarmut, sich selbst dazu genötigt fühlen, ein Angebot der Aktiven Sterbehilfe oder des Assistierten Suizids in Anspruch zu nehmen. So ist aufgrund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Assistierten Suizid im Jahr 2020 die gesellschaftliche Diskussion zur Optimierung des Sterbens aus individueller aber auch gesellschaftlicher Sicht bei Weitem nicht beendet. ➤ Lesetipp-∣-Website Deutsches Referenzzentrums für Ethik in den Biowissenschaften: Zen‐ trale Diskussionsfelder der Sterbehilfe. Im Internet unter: 🔗 https: / / www.drze.de/ im-blickpunkt/ sterbehilfe/ zentrale-diskussionsfelder 4.3 Ökonomisierung der Medizin 223 <?page no="224"?> 4.3.5 Individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) Individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) bezeichnen Leistungen, die nicht der Leistungspflicht gesetzlicher Krankenkassen unterliegen und folglich vom Patienten direkt bezahlt werden müssen. Es werden folgende Leistun‐ gen unterschieden: • Leistungen, die qua gesetzlicher Forderung nicht „ausreichend, zweck‐ mäßig und wirtschaftlich sind und das Maß des Notwendigen […] überschreiten“ • Leistungen außerhalb des Versorgungsauftrages der Krankenkassen, beispielsweise Tauglichkeitsuntersuchungen für Sportarten oder Bera‐ tung und Impfungen vor Urlaubsreisen • von Patienten gewünschte Leistungen ohne medizinische Indikation, beispielsweise die Entfernung einer Tätowierung oder andere kosmeti‐ sche Operationen Während vom Patienten gewünschte Leistungen ohne medizinische Indikation zweifelsfrei nicht im Versorgungsauftrag der Krankenversicherungen liegen und aufgrund ihres fehlenden medizinischen Nutzens einer besonders sorg‐ fältigen Nutzen-Risiko-Abwägung zu unterziehen sind, haben Leistungen wie reisemedizinische Beratungen durchaus einen klar erkennbaren Nutzen. Hieraus kann sich jedoch kein Anspruch des Einzelnen auf Eintritt der So‐ lidargemeinschaft ableiten. Besonders kritisch hingegen sind Leistungen zu betrachten, für die bislang kein Nutzennachweis erbracht worden ist oder die nach bisheriger Studienlage keinen Nutzen gegenüber Maßnahmen aus dem Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenkassen oder gar der Unterlas‐ sensalternative haben. Zwar hat der Patient aus juristischer Sicht ein Recht dazu, auch Therapien ohne Nutzennachweis oder einer ungünstigen Nutzen-Ri‐ siko-Relation auszuwählen, solange dies nicht „gegen die guten Sitten verstößt“. Jedoch gibt es bereits zahlreiche Fälle, in denen Patienten bei solchen Therapien entweder eine nachgewiesene Wirksamkeit suggeriert wurde, oder in der Patienten mit infauster Prognose, die „sich an jeden Strohhalm klammern“, mit dubiosen Heilversprechen horrende Geldbeträge abverlangt wurden. Der 109. Deutsche Ärztetag hat im Jahr 2006 die in → Tabelle 18 aufgelisteten Gebote zum Umgang mit IGeL verabschiedet. 224 4 Ausgewählte Spannungsfelder in der Medizin <?page no="225"?> Gebote im Umgang mit Individuellen Gesundheitsleistungen 1. Sachliche Information - 2. Ausschließliches Angebot zulässiger Leistungen - 3. Korrekte und transparente Indikationsstellung - 4. Seriöse Beratung - 5. Ärztliche Aufklärung inkl. wirtschaftliche Konsequenzen - 6. Angemessene Informations- und Bedenkzeit - 7. Schriftlicher Behandlungsvertrag - 8. Koppelung mit sonstigen Behandlungen (GKV-Leistungen) vermeiden - 9. Einhaltung von Gebietsgrenzen und Qualität - 10. Liquidation anhand der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) - Tabelle 18: Die 10 Gebote im Umgang mit IGeL (Beschluss des 109. Deutschen Ärztetages) Trotz dieser bereits 2006 verabschiedeten Regelungen bleibt das Angebot von IGeL sehr kontrovers, da abweichend von den oben genannten Geboten, einige Angebote aggressiv beworben oder mit dem Anschein angeboten werden, dass diese Leistung erwiesenermaßen helfe, die jeweilige Kran‐ kenkasse aufgrund von Sparmaßnahmen die Kosten aber nicht erstatten würde. Ebenso werden Leistungen angeboten, die nach Prüfung des Nut‐ zen-Risiko-Verhältnisses eindeutig nicht empfehlenswert oder gar eindeutig schädlich sind. Obgleich die Initiative für IGeL eigentlich vom Patienten aus‐ gehen sollte, bieten zahlreiche Anbieter regelrechte Verkaufstrainings für Medizinische Fachangestellte an mit dem Ziel, den Praxisumsatz durch IGeL relevant zu erhöhen. Auf der Internetseite 🔗 www.igel-monitor.de listet der Medizinische Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e. V. für zahlreiche IGeL nach Prüfung der Nutzen-Risiko-Relation Empfehlungen 4.3 Ökonomisierung der Medizin 225 <?page no="226"?> auf. Die Seite 🔗 www.igel-aerger.de gibt Einblicke in Patientenbeschwerden bezüglich angebotener IGeL, beispielsweise von Patienten, die sich von ihrem behandelnden Arzt unter Druck gesetzt gefühlt haben, IGeL zu kaufen. ➤ Lesetipps-∣-Literatur und Websites Bundesärztekammer und Kassenärztliche Bundesvereinigung in Zu‐ sammenarbeit mit dem Deutschen Netzwerk Evidenzbasierte Medizin e. V. (2012): Selbst zahlen? - Ein Ratgeber zu Individuellen Gesund‐ heitsleistungen (IGeL) für Patientinnen und Patienten sowie Ärztinnen und Ärzte. Im Internet unter: 🔗 https: / / www.patienten-information.de/ checklisten/ igel-checkliste Beschluss des 109. Ärztetages: Zum Umgang mit individuellen Ge‐ sundheitsleistungen. Im Internet unter: 🔗 https: / / www.bundesaerztekammer.de/ fileadmin/ user_upload/ _old-file s/ downloads/ Beschluss109DAET.pdf IGeL-Monitor. Individuelle Gesundheitsleistungen auf dem Prüfstand, Datenbank zur Nutenbewertung von IGeL, finanziert durch den Medi‐ zinischen Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e. V. (MDS). Im Internet unter: 🔗 http: / / www.igel-monitor.de/ IGeL-Ärger. Ein Beschwerdeportal der Verbraucherzentralen für Pati‐ enten mit negativen Erfahrungen in Bezug auf IGeL. Im Internet unter: 🔗 http: / / www.igel-aerger.de 4.3.6 Value(s)-based Healthcare - Neuorientierung an Werten statt Einzelleistungen Die derzeitigen Gesundheitssysteme der westlichen Welt sind geprägt von einer inputorientierten Vergütung und den damit einhergehenden Fehlan‐ reizen zur mengenorientierten Leistungserbringung. Dies kann einerseits in bestimmten, besonders profitablen Leistungsbereichen zu einer Überver‐ sorgung und damit dem unnötigen Eingehen medizinischer Risiken für den Patienten, zum anderen in weniger bzw. unprofitablen Leistungsbereichen zu einer Unterversorgung der Patienten führen. Der US-amerikanische 226 4 Ausgewählte Spannungsfelder in der Medizin <?page no="227"?> Ökonom Michael E. Porter und der schottische Arzt Sir J. A. Muir Gray fordern in ihren Konzepten der sogenannten Value-based Healthcare eine Abkehr von dieser Denkweise hin zu einer werteorientierten Sichtweise. Während der Ökonom Porter den Wert lediglich als Verhältnis des Nutzens in Bezug zu monetären Ausgaben sieht, fordert Muir Gray das Prinzip der Triple Value Healthcare ein. Dieses soll zum Ersten, eine optimale Ver‐ teilung der Ressourcen auf Patienten bzw. Patientengruppen ermöglichen, zum Zweiten eine optimale Qualität und Sicherheit der angebotenen Leis‐ tungen ermöglichen und zum Dritten, die persönlichen Erwartungen des Patienten in Hinblick auf das Behandlungsergebnis berücksichtigen. Was auf den ersten Blick große Parallelen zu der von Sackett in → Kapitel 2.3. beschriebenen Evidenzbasierten Medizin aufweist, berücksichtigt jedoch in beiden Konzepten die realistischerweise vorhandene Endlichkeit, der zur Verfügung stehenden Ressourcen und die damit entstehenden Allokations‐ probleme, wie in → Kapitel 2.8.4. bereits angedeutet, die das Konzept der Evidenzbasierten Medizin konsequent ausblendet. Obgleich eine Abkehr von bisherigen Leistungssteuerungssystemen in dem von Selbstverwaltung und Besitzstandsdenken geprägten Gesundheitssystem als hochkomplex und langwierig angesehen werden muss, bietet sich hiermit die Chance, eine ausgewogene und faire Diskussion zwischen Aufwand und Nutzen medizinischer Interventionen zu führen und Fehlanreize der Über- oder Un‐ terversorgung zu eliminieren. Es bleibt somit letztlich nichts anderes übrig, als sich dem in → Kapitel 4.1. dargestellten Dilemma der Verteilungsgerech‐ tigkeit zwischen den Ansprüchen der finanzierenden Beitragszahlenden und der Leistung in Anspruch Nehmenden zu stellen, wobei insbesondere Leistungen für chronisch kranke Menschen und solchen mit seltenen aber kostenintensiven Erkrankungen nicht nur aus ökonomischer, sondern gleichsam auch aus ethischer Perspektive betrachtet werden müssen. Bliebe es bei einer rein ökonomischen Betrachtung, würde die Behandlung älte‐ rer und schwerkranker Menschen mit begrenzter Restlebenszeit schlicht aufgrund ihrer ökonomischen Ineffizienz abgelehnt werden, was gegen das elementare medizin-ethische Grundprinzip der Fürsorge verstößt. Es bleibt somit abzuwarten, bis zu welchem Grad sich utilitaristische Prinzipien, wie das in → Kapitel 4.3.2. dargestellte Konzept der QALYs, in dieser Diskussion durchsetzen, und welche moralischen Grundannahmen den Gesundheitssystemen in verschiedenen Ländern künftig zugrunde liegen werden. Eine grundsätzliche und konsequente Orientierung der Allokation medizinischer Ressourcen nach sorgfältig zu definierenden Nutzengesicht‐ 4.3 Ökonomisierung der Medizin 227 <?page no="228"?> spunkten, primär für Patienten und sekundär für das Gesundheitssystem als Ganzes, erscheint jedoch der einzig rationale Weg in dem in diesem Kapitel bislang beschriebenen Spannungsfeld. ➤ Lesetipps-∣-Literatur Jani A., Jungmann S., Gray M. (2018): Shifting to triple value health‐ care: Reflections from England. Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen. 130 S.-2-7. Im-Internet: - 🔗 https: / / www.sciencedirect.com/ journal/ zeitschrift-fur-evidenz-fortbild ung-und-qualitat-im-gesundheitswesen/ vol/ 130/ suppl/ C Raspe H. (2018): Value based health care (VbHC): woher und wohin? Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesund‐ heitswesen. 130 S.-8-12. Im Internet: 🔗 https: / / www.sciencedirect.com/ journal/ zeitschrift-fur-evidenz-fortbild ung-und-qualitat-im-gesundheitswesen/ vol/ 130/ suppl/ C 4.4 Globalisierung in der Medizin Neben dem demographischen Wandel beeinflusst die Globalisierung nahezu alle Lebensbereiche in besonderem Maße. So ergeben sich durch die Globa‐ lisierung einerseits Chancen für Patienten und Anbieter von Gesundheits‐ leistungen, andererseits gehen damit auch Risiken einher. 4.4.1 Chancen/ Risiken aus Patientensicht Die wesentlichen Vorteile der Globalisierung aus Sicht der Patienten beste‐ hen zum einen in einem höheren Grad der Interaktionsmöglichkeiten der Anbieter von Gesundheitsleistungen, zum anderen aber auch in der Erwei‐ terung bisheriger Möglichkeiten und der Nutzung von Preisdifferenzen bei Gesundheitsdienstleistungen. Durch eine zunehmende Vernetzung von Gesundheitsanbietern weltweit ergeben sich Möglichkeiten für Patienten, beispielsweise durch Nutzung von Untersuchungsmethoden wie der Gensequenzierung eines Tumors in einem US-amerikanischen Labor wie in → Kapitel 2.8.2 beschrieben oder der Konsultation eines Spezialisten in einem beliebigen Land der Erde bei 228 4 Ausgewählte Spannungsfelder in der Medizin <?page no="229"?> Auftreten einer hierzulande unbekannten Erkrankung. Ebenso sind bereits durch die erhöhte Vernetzung, beispielsweise in Form von Telemedizin, Ver‐ besserungen in der Patientenbehandlung, beispielsweise in der Diagnostik und Therapie eines Schlaganfalls, möglich. Durch den Zugang in andere Gesundheitssysteme eröffnen sich für Patienten ebenfalls neue Behandlungsmöglichkeiten: So kann der Patient entweder einen Innovationsvorsprung, beispielsweise bei einer neuarti‐ gen Methode, die nur an einem Zentrum außerhalb seines Landes angeboten wird, in Anspruch nehmen oder aber abweichende gesetzliche Regelungen in Anspruch nehmen. Während Paaren mit Kinderwunsch beispielsweise in Deutschland nach derzeitiger Rechtslage eine Eizellspende verwehrt werden muss, ist dieses Verfahren in anderen europäischen Ländern wie Spanien oder Tschechien rechtlich möglich. Ein weiterer Effekt, der mit dem Begriff Medizintourismus bezeichnet wird, ist die Möglichkeit, Gesundheitsleistungen im Ausland zu deutlich günstigeren Konditionen zu erwerben. So haben sich im Bereich des Zahn‐ ersatzes oder der Fehlsichtigkeitskorrektur mittels Laser (Augenlasern) zahlreiche Angebote im Ausland etabliert, die neben der medizinischen Leistung auch die notwendigen Rahmenbedingungen wie Flug und Hotel‐ unterbringungen realisieren und dennoch aufgrund niedrigerer Lohnkosten und anderer Einspareffekte Leistungen deutlich günstiger anbieten als im hiesigen Gesundheitssystem. Mit dem Bezug von Leistungen im Ausland sind jedoch auch Risiken verbunden. So unterliegen die Gesundheitsanbieter im Ausland anderen gesetzlich-behördlichen Auflagen, die teilweise erheblich vom hiesigen Standard abweichen können. Im Fall einer Komplikation, beispielsweise bei Zahnersatz, wird eine erneute mit Kosten verbundene Behandlung im Ausland erforderlich, und aufgrund von Sprachbarrieren kann es zu folgenschweren Missverständnissen zwischen dem Behandelnden und dem Patienten kommen. Im Fall einer Rechtsstreitigkeit sind zudem die Gerichte im Land des Behandelnden zuständig, was in vielen Fällen die Geltendma‐ chung von Ansprüchen wie Schadenersatz erschwert oder nahezu unmög‐ lich macht. 4.4.2 Chancen/ Risiken aus Anbietersicht Nicht nur für Patienten, sondern auch für Anbieter von Gesundheitsleistun‐ gen im hiesigen System bieten sich Chancen und Risiken. 4.4 Globalisierung in der Medizin 229 <?page no="230"?> Wesentliche Chancen liegen zum einen in der Möglichkeit der Rekru‐ tierung weiterer Patienten aus dem Ausland, zum anderen auch in der Kooperation mit ausländischen Partnern, beispielsweise zum günstigeren Bezug von Sachleistungen. Bei der Behandlung ausländischer Patienten haben sich zahlreiche Ge‐ sundheitseinrichtungen auf die Versorgung zahlungskräftiger Patien‐ tengruppen aus dem außereuropäischen Ausland spezialisiert. Neben der medizinischen Leistung offerieren diese Anbieter auch umfangreiche Serviceleistungen, beispielsweise bei der Organisation von Visa, Flughafen‐ transfer oder Hotelleistungen für begleitende Familienangehörige. Bei der Rekrutierung ausländischer Patienten treten jedoch oft auch sogenannte Patientenvermittler auf, die Patienten mit teilweise unrealistischen Ver‐ sprechungen unter Einbehalt teilweise immenser Provisionen an Gesund‐ heitseinrichtungen vermitteln. Der Bezug von Sachleistungen lohnt sich für inländische Anbieter vor allem insofern, wenn aufgrund von Mengeneffekten oder hohen Produk‐ tionskosten im Inland deutliche Preisunterschiede zu realisieren sind. Bei‐ spielsweise können Zahntechniker nach digitaler Übermittlung von Daten oder Versand eines Zahnabdruckes per Logistikdienstleister in Fernost Zahnimplantate bei deutlich niedrigeren Lohnkosten herstellen. Durch die zunehmende Globalisierung der Arbeitswelt ist es zudem möglich, Personaldefizite im Gesundheitswesen durch Rekrutierung auslän‐ discher Fachkräfte zu decken, ein Vorgehen, das bereits seit Jahrzehnten beispielsweise im Pflegebereich praktiziert wird. Wesentliche Risiken der oben genannten Optionen bestehen im potenzi‐ ellen Zahlungsausfall des selbstzahlenden Patienten bei unvorhersehbaren Komplikationen oder gar frustranem Verlauf, ohne dass eine Behandlung abgebrochen werden kann. Ebenso können bei Bezug von Sachleistungen aus dem Ausland Qualitätsmängel auftreten. Insbesondere bei hohen Ge‐ winnmargen, wie beim Bezug hochpreisiger Medikamente aus dem Ausland, steigt zudem das Risiko für Produktfälschungen. Aus der Tatsache der gestiegenen Mobilität von Arbeitnehmern erwächst zudem das Risiko, dass qualifiziertes Fachpersonal durch höhere Löhne und/ oder bessere Arbeitsbedingungen in andere Länder auswandert bzw. abgeworben wird. Somit verstärkt die Globalisierung auch bestehende Personaldefizite, die aufgrund des demographischen Wandels und des damit einhergehenden erhöhten Bedarfs noch wachsen werden. Zwar kann ein Teil dieses Defizits durch Rekrutierung ausländischen Personals kompensiert werden, jedoch 230 4 Ausgewählte Spannungsfelder in der Medizin <?page no="231"?> ist die Rekrutierung ausländischen Personals einerseits mit hohen Kosten verbunden und stellt andererseits aufgrund von Sprachbarrieren aber auch aufgrund von einem anderen kulturellen Verständnis von Krankheit und Gesundheit eine enorme Herausforderung mit einhergehenden Risiken für die Patientenversorgung dar. ➤ Lesetipps-∣-Literatur und Websites Frädrich, A. (2013): Medizintourismus. Patienten weltweit „auf Achse“. Deutsches Ärzteblatt. 2013/ 110. S.-35-36. Im Internet unter: 🔗 http: / / www.aerzteblatt.de/ pdf.asp? id=145389 Nagel, L.-M., Neller; M. (2013): Medizintourismus. Das Geschäft der dubiosen Patientenvermittler. Die Welt. 15.12.2013. Im Internet unter: 🔗 http: / / www.welt.de/ 122934103 4.4.3 Multiresistente Keime und Pandemien Der zunehmende weltweite Personenverkehr stellt die Gesundheitsversor‐ gung vor deutliche Herausforderungen. So können dank intensiven Flug‐ verkehrs Patienten mit hochansteckenden Krankheiten Krankheitserreger binnen weniger Tage weltweit verbreiten. Gleichzeitig entstehen durch die Evolution von Bakterien, aber auch unterstützt durch den immensen Einsatz von Antibiotika in der Tiermast und dem unsachgemäßen Gebrauch von Antibiotika beispielsweise bei viralen Infektionskrankheiten, zunehmend Bakterien, die gegen bisher entwickelte Antibiotika weitgehend oder gar vollkommen resistent sind. Auch diese Erreger, die teilweise gehäuft in bestimmten Regionen der Welt vorkommen, können durch Reisebewegun‐ gen das hiesige Gesundheitssystem und damit die hiesigen Patienten be‐ treffen. Die Bekämpfung multiresistenter Keime und die Vermeidung von Pandemien ist somit nicht mehr nationale Aufgabe, sondern eine vielmehr internationale oder gar globale Herausforderung, was am Beispiel der in Hongkong ausgebrochenen Atemwegserkrankung SARS, der in Westafrika entstandenen Ebola-Epidemie oder der Bekämpfung des Zika-Virus in Südamerika deutlich wird. Die Schutzmaßnahmen bei Infektionskrankheiten sind je nach Erreger individuell zu treffen und je nach Entwicklung einer Epidemie oder Pan‐ 4.4 Globalisierung in der Medizin 231 <?page no="232"?> demie kurzfristig zu ändern. Sie bestehen aber im Wesentlichen aus drei Komponenten, die je nach Lage fließend ineinander übergehen können: - Eindämmungsstrategie (containment) Solange die Anzahl der Erkrankten gering genug ist und die Infektionswege nachvollziehbar sind, wird versucht durch Quarantäne-Maßnahmen bei Erkrankten und deren Kontaktpersonen die Verbreitung der Erkrankung einzudämmen, verbunden mit dem Ziel, dass nach überstandener Krankheit aller in Quarantäne Befindlichen die Übertragung des Virus aufhört, die Infektionskette somit unterbrochen und das Virus dadurch eliminiert wird. Ziel dieser Strategie bei schon hohen Krankheitszahlen kann auch sein, Zeit zu gewinnen für die Vorbereitung von Gesundheitseinrichtungen und die Entwicklung neuer Medikamente oder Impfstoffe. - Schutzstrategie (protection) Sollte es zunehmend zu nicht mehr nachvollziehbaren Infektionsketten kommen und die Eindämmungsstrategie damit wirkungslos werden, steht nun der Schutz besonders gefährdeter (vulnerabler) Patientengruppen im Vordergrund, zum Beispiel durch sogenannte Schutzisolation dieser Perso‐ nen vor möglicherweise infizierten Menschen. - Folgenminderungsstrategie (mitigation) Wenn der individuelle Schutz besonders gefährdeter Patientengruppen aufgrund der hohen Ausbreitungsgeschwindigkeit und der hohen Anzahl Infizierter nicht mehr möglich ist, verschiebt sich die Priorität der Infek‐ tionsschutzmaßnahmen auf die Minderung der negativen Auswirkungen auf die Gesellschaft und das soziale Leben, zum Beispiel durch Verlang‐ samung der Infektionsraten, um das Gesundheitssystem leistungsfähig zu erhalten wie in → Abbildung 20 am Beispiel der Corona-Pandemie dargestellt. 232 4 Ausgewählte Spannungsfelder in der Medizin <?page no="233"?> ➤ Wissen-∣-Das SARS-CoV-2-Virus Am 31. Dezember 2019 wurde nach anfänglich unterdrückter Berichter‐ stattung bekannt, dass in Wuhan/ China ein Virus zu schweren Lungen‐ erkrankungen bei Menschen geführt hat und vermutlich von Mensch zu Mensch übertragbar ist, was sich am 20. Januar 2020 bestätigte. Die Symptome der Erkrankung erinnern an das SARS-Virus aus dem Jahr 2003, weswegen das am 7. Januar 2020 identifizierte Corona-Virus später den Namen SARS-CoV-2 erhielt. Die verursachte Erkrankung erhielt von der Weltgesundheitsorganisa‐ tion WHO den Namen „Corona virus disease 2019“, kurz Covid-19. Bin‐ nen weniger Wochen breitete sich das Virus global aus. Am 31. Januar 2020 rief die WHO deswegen den Internationalen Gesundheitsnotstand, am 11. März 2020 stufte die WHO die Erkrankung als Pandemie ein. Während für jüngere Menschen ohne Begleiterkrankungen meist eher milde oder sogar symptomlose Krankheitsverläufe beschrieben wurden, ereigneten sich insbesondere bei älteren und vorerkrankten Patienten schwere Krankheitsverläufe mit einer vergleichsweisen hohen Sterb‐ lichkeitsrate. Stand: 24.05.2021, 17: 52 Uhr führte das Virus bereits zur Infektion von über 162 Millionen Menschen bei hoher Dunkelziffer aufgrund vieler milder oder symptomloser Verläufe und zu über 3,4 Millionen Covid-19 bedingten Todesfällen. Nach einer anfänglichen Containment-Strategie der Isolierung von Infizierten und Kontaktpersonen wurden mit nur einigen Tagen Unter‐ schied in ganz Europa Krisenpläne zur Folgenminderung (mitigation) umgesetzt: Universitäten, Schulen, Kinderbetreuungseinrichtungen, Restaurants, Sport- und Kulturstätten wurden geschlossen, Reisewar‐ nungen bis hin zu Ein- und Ausreiseverboten und sogar nächtliche Ausgangssperren ausgesprochen, Krankenhausbetten für erwartete Co‐ vid-19-Patienten gesperrt und Versammlungsverbote erlassen. Ziel die‐ ser Maßnahmen war nicht mehr, das Virus zu eliminieren, sondern durch eine verlangsamte Ausbreitung des Virus die Zahl der Neuer‐ krankungen pro Tag zur reduzieren, um so das Gesundheitssystem nicht zu überlasten, wie → Abbildung 20 verdeutlicht. Fehlende medi‐ zinische Betreuungskapazitäten inkl. fehlender intensivmedizinischer Krankenhausbetten waren in verschiedenen Regionen der Welt nach 4.4 Globalisierung in der Medizin 233 <?page no="234"?> Aussage von Fachexperten der Grund für eine überdurchschnittlich hohe Sterblichkeit der Erkrankung. Nach erfolgreicher Bewältigung der vergleichsweise kurzen 1. Infekti‐ onswelle in Deutschland wurden Vorbereitungen auf die 2. Infektions‐ welle im Winter 2020/ 21 an vielen Stellen leider vernachlässigt, obgleich historische Daten der Grippepandemie aus den Jahren 1916/ 18 diese Entwicklung nahelegten. Nach Entwicklung verschiedener wirksamer Impfstoffe in Rekordzeit im Zusammenspiel mit hohen Durchseuchungsraten auch unter geimpften Personen ist das Virus endemisch geworden. Eine Herdenimmunität wurde analog zum Grippevirus nicht erreicht. Allerdings sind nun die Auswirkungen des SARS-CoV-2-Virus mit denen des Grippevirus ver‐ gleichbar, sodass die getroffenen Schutzmaßnahmen zur Eindämmung der Effekte der Covid-19-Pandemie zum aktuellen Stand im April 2023 vollständig auslaufen. Anzahl der aktiv Erkrankten Kapazität des Gesundheitssystems Verlauf ohne Schutzmaßnahmen Verlauf mit Schutzmaßnahmen zeitlicher Verlauf seit Beginn der Pandemie Abbildung 20: Folgenminderungsstrategie zur Entlastung des Gesundheitssystems (flatten the curve) 234 4 Ausgewählte Spannungsfelder in der Medizin <?page no="235"?> ➤ Lesetipps-∣-Literatur und Websites Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA): Informati‐ onsprotal Infektionsschutz.de. Im Internet unter: 🔗 http: / / www.infektionsschutz.de/ Honigsbaum, M.: How Pandemics spread. TED Ed Lesson. Im Internet unter: 🔗 http: / / ed.ted.com/ lessons/ how-pandemics-spread Robert Koch-Institut (RKI): Nationaler Pandemieplan. Im Internet unter: 🔗 https: / / www.rki.de/ DE/ Content/ InfAZ/ I/ Influenza/ Pandemieplanung/ Pandemieplanung.html 4.5 Digitalisierung in der Medizin Die Digitale Transformation, in der Umgangssprache als Digitalisierung bezeichnet, verändert derzeit alle Lebensbereiche gravierend und wird hin‐ sichtlich der erwarteten gesellschaftlichen und beruflichen Umwälzungen mit der Industriellen Revolution Mitte des 18. Jahrhunderts verglichen. Die medizinische Versorgung erlebt Digitalisierung derzeit auf vielfältige Weise. So werden Krankenakten zunehmend digital statt papierbasiert geführt, analoge Röntgenbilder weichen digital verfügbaren Bildern, Ge‐ sundheits-Apps wollen Patienten informieren oder ihre Diagnostik bzw. Behandlung unterstützen. Der Einsatz künstlicher Intelligenz für die Diagnosefindung, die Auswertung von Big Data zur Erkennung neuer The‐ rapieansätze oder die weltweite Vernetzung medizinischer Akteure bis hin zur Fernbehandlung von Patienten, sind nur einige Aspekte dieses globalen Megatrends. Zwar lassen sich alle Folgen der Digitalen Transformation - ebenso wenig wie vor der Industriellen Revolution - mit Sicherheit voraus‐ sagen, die Prognosen Einzelner gehen jedoch bis hin zur Prophezeiung des Austauschs aller medizinischen Fachberufe durch Roboter und Künstliche Intelligenz. 4.5 Digitalisierung in der Medizin 235 <?page no="236"?> Vorteile eines Menschen 👁👁👁👁 hohe Intelligenz im Vergleich zu IT-Anwendungen (selbst verglichen mit künstlicher Intelligenz) sehr gute Fähigkeit, aus vielen Informationen, die wirklich relevanten herauszufiltern hohe Flexibilität, dynamische Entscheidungen zu treffen Vorteile eines Computers 👁👁 sehr hohes Informationsverarbeitungspotenzial sehr hohe Arbeitsgeschwindigkeit sehr hohe Belastbarkeit (keine Übermüdung/ Konzentrationsfehler) sehr gute Merkfähigkeit Drei-Augen-Prinzip basierend auf World Health Orgainsation (WHO 2012): Patient Safety. Why applying human factors is important for patient safety. Course Handout Abbildung 21: Das Drei-Augen-Prinzip | Quelle: Strametz, R. (2018): Patientensicherheit 4.0. Heilberufe/ Das Pflegemagazin 70(12): 24-26 Beim Vergleich menschlicher Leistungen mit den Vorteilen eines IT-Systems wird jedoch, wie in → Abbildung 21 dargestellt, schnell deutlich, dass sowohl Mensch als auch Maschine Vorteile für die Medizin bieten und eine sinnvolle Kombination der Vorteile beider Seiten im Sinn des sogenannten Drei-Augen-Prinzips den mutmaßlich größten Nutzen bieten würden. Wie bei allen gravierenden Umbrüchen erwachsen aus der Digitalisierung enorme Chancen für die Verbesserung der Patientenversorgung, anderer‐ seits sind diese Innovationen auch immer mit neuen, ggf. teilweise unbe‐ kannten Risiken verbunden. Wie bei allen gravierenden Umbrüchen erwachsen aus der Digitalisierung enorme Chancen für die Verbesserung der Patientenversorgung, anderer‐ seits sind diese Innovationen auch immer mit neuen, ggf. teilweise unbe‐ kannten Risiken verbunden. ➤ Beispiel-∣-Chancen und Risiken digitaler Röntgenbilder Durch die Digitalisierung von Röntgenbildern konnte in der Vergan‐ genheit das Risiko eines verloren gegangenen Originalbildes eliminiert 236 4 Ausgewählte Spannungsfelder in der Medizin <?page no="237"?> werden, da das digitale Bild sogar gleichzeitig an nahezu beliebig vielen Stellen ohne Transportverzögerung vorhanden ist. Die Befundung des Bildes durch einen Radiologen im Bereitschaftsdienst am heimischen Computer ist beispielsweise längst Realität. Die Zeit bis zur Stellung einer fachärztlichen Diagnose kann so deutlich verkürzt werden und ermöglicht auch jederzeit eine schnelle Befundung in Gesundheitsein‐ richtungen, in denen kein Radiologe anwesend ist. Sollte jedoch durch einen Hackerangriff oder einen simplen Stromaus‐ fall das IT-System der Gesundheitseinrichtung ausfallen, so sind davon nicht nur der aktuell zu untersuchende Patient und sein Röntgenbild, sondern alle Röntgenbilder der Abteilung betroffen. Ebenso wäre es technisch viel einfacher, große Mengen vorhandener Daten unbefugt zu entwenden, da in einer analogen Welt wohl kaum unbemerkt und mit vertretbaren Kosten das gesamte Bildarchiv hätte kopiert werden können. Zu den durch Innovation entstandenen Chancen kommen somit auch immer neue Risiken hinzu: Die auf diese Weise erbeuteten Daten könnten, insbe‐ sondere bei sensiblen Informationen wie psychischen Erkrankungen, einer HIV-Infektion oder genetischer Defekte, für Erpressungszwecke genutzt werden. Aufgrund der hohen Sensibilität der Daten, dem damit verbundenen Leidensdruck aller Beteiligten und der im Vergleich zu anderen Branchen gering ausgeprägten Infrastruktur zum Schutz dieser Daten, sind Gesund‐ heitseinrichtungen weltweit in den Fokus von Cyberkriminellen geraten. Neben Hacker-Angriffen sind aber auch rein technisch bedingte Ausfälle oder Fehlprogrammierungen mit enormen Risiken für die Patientensicher‐ heit verbunden. ➤ Beispiel-∣-Fehlerhafte Gesundheits-Apps In den App-Stores aller wesentlichen Plattformen für Smartphones finden sich unzählige Gesundheits-Apps, angefangen von Terminerin‐ nerungen für Arztbesuche, Leitlinien-Datenbanken bis hin zu Diagnose Apps zur Erkennung von Hautkrebs (Maligne Melanome) oder Rechen‐ programmen für die Dosierung von Insulin für Diabetiker. Studien von Hautärzten und Diabetologen haben jedoch gezeigt, dass diese Apps 4.5 Digitalisierung in der Medizin 237 <?page no="238"?> teilweise nicht zuverlässig funktionieren und grob falsche Diagnosen oder Therapievorschläge liefern. So könnte ein Patient mit unerkanntem Hautkrebs durch den Gebrauch einer App und einen falsch-negativen Befund (→ Kapitel 2.3.5.2.), in falscher Sicherheit gewogen, einen Hautarztbesuch zur Früherkennung unterlassen oder ein Diabetiker sich eine viel zu hohe Menge Insulin verabreichen. Beides kann im schlimmsten Fall tödlich enden. Wie die vorliegenden Beispiele zeigen, kann nur der gewissenhafte Umgang mit digitalen Angeboten in der Medizin eine Anwendung mit akzeptablem Sicherheitsniveau zum Wohl der Patienten und zur Verbesserung ihrer Behandlung ermöglichen. Es war und ist aufgrund der möglichen Auswir‐ kungen daher Aufgabe aller im medizinischen Bereich Handelnden, die Chancen der Medizin (auch der ihrer Innovationen) immer in einem ausge‐ wogenen Verhältnis zu den damit einhergehenden Risiken zu betrachten. Ein verantwortungsbewusster, proaktiver und kompetenter Umgang mit digitalen Innovationen im Gesundheitswesen setzt somit einerseits eine di‐ gitale Gesundheitskompetenz (digital health literacy) von Patienten und Behandelnden, andererseits eine sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwägung und entsprechende Schutzmaßnahmen im Vorfeld voraus. Auch wenn die Medizin in der Vergangenheit viele Gesundheitsrisiken für die Menschheit eliminiert oder zumindest reduziert hat und künftig höchst wahrscheinlich weiter reduzieren wird, so ist und bleibt die Medizin definitiv ein Hochrisikobereich. Dieser Problematik widmet sich nun das letzte Kapitel dieses Buches. ➤ Lesetipps-∣-Literatur und Websites Aktionsbündnis Patientensicherheit e. V. (2018): Digitalisierung und Patientensicherheit - Handlungsempfehlung für das Risikoma‐ nagement in der Patientenversorgung. Berlin. Im Internet unter: 🔗 https: / / www.aps-ev.de/ wp-content/ uploads/ 2018/ 05/ 2018_APS-HE_Di git_RM.pdf Aktionsbündnis Patientensicherheit e. V. (2018): Digitalisierung und Patientensicherheit - Checkliste für die Nutzung von Gesund‐ heits-Apps. Berlin. Im Internet unter: 238 4 Ausgewählte Spannungsfelder in der Medizin <?page no="239"?> 🔗 https: / / www.aps-ev.de/ app-checkliste/ Experteninterviews der Bertelsmann-Stiftung zur Frage, wie die Digitalisierung unser Gesundheitssystem verändert. Im Internet: 🔗 https: / / www.bertelsmann-stiftung.de/ de/ unsere-projekte/ weisse-liste/ p rojektthemen/ digitalisierung/ 4.6 Medizin als Hochrisikobereich Dieses Buch begann und schließt mit dem medizinischen Grundprinzip „pri‐ mum nil nocere“. Durch die in diesem Buch dargelegten Errungenschaften und weitere Rahmenbedingungen ist die moderne Medizin einerseits in den meisten Fällen sehr segensreich, sieht sich aber insgesamt zunehmend in einem Spannungsfeld von vier teilweise bereits andiskutierten, zunehmend kritischen Einflüssen wie in →-Abbildung-22 dargestellt. Gesundheitseinrichtung zunehmende Komplexität gestiegene Erwartungen technischer Fortschritt intensiver Wettbewerb Abbildung 22: Patientensicherheit im Spannungsfeld moderner Medizin Durch zunehmendes Wissen, Differenzierung, Spezialisierung und Akade‐ misierung der Gesundheitsfachberufe ist an die Stelle des omnikompetenten 4.6 Medizin als Hochrisikobereich 239 <?page no="240"?> Allroundmediziners eine große Gruppe verschiedener Akteure in der Be‐ handlung des Patienten getreten. Gleichzeitig verkürzt sich die Halbwerts‐ zeit medizinischen Wissens zunehmend. All dies führt zwangsläufig zu einer Zunahme der Komplexität in der Medizin. Durch spektakuläre Erfolge der Medizin und die teils selektive und subjektive mediale Berichterstattung sind die Erwartungen von Patienten und Angehörigen zudem in enormem Maß gestiegen. Wie in anderen Lebensbereichen ist auch hier zu beobachten, dass unerwünschte Ergebnisse immer seltener als schicksalhaft akzeptiert werden und insbesondere aufgrund der medialen Skandalisierung von Feh‐ lern in der Patientenversorgung viel häufiger ein Versagen der Handelnden als eine naturgemäß auch potenziell ungünstig verlaufende Erkrankung angenommen wird. Der technische Fortschritt erhöht zum einen die Kom‐ plexität, sorgt aber auch dafür, dass immer größere Risiken eingegangen werden können für Patienten, deren Prognose noch vor einiger Zeit schlicht als infaust galt. Dies alles geschieht derzeit unter den Rahmenbedingun‐ gen zunehmenden Wettbewerbsdrucks, der wiederum seinerseits durch Leistungsverdichtung und Sparzwänge Risiken in der Patientenversorgung verstärken kann. Dass das Gesundheitswesen als eines der komplexesten Systeme in einer Gesellschaft auch eine relevante Anzahl von Patienten unbeabsichtigt schädigt, stellte im Jahr 1999 die Publikation „To err is human“ des Institute of Medicine (IOM) in den USA unter Beweis. So schätzte das IOM basierend auf Untersuchungen alleine die Zahl der Patienten, die jährlich durch vermeidbare Fehler in der stationären Versorgung ums Leben kamen, auf 44.000-98.000. Ver‐ meidbare medizinische Fehler wurden somit als die achthäufigste Todesursache in den USA im Jahr 1999 geführt. Dass diese Zahl vielleicht sogar viel zu niedrig angesetzt wurde, da mutmaßlich eine hohe Dunkelziffer solcher Fälle existiert, unterstellten die Autoren um Martin Makary im Jahr 2016 im British Medical Journal, da sie basierend auf neueren Untersuchungen davon ausgehen, dass jedes Jahr sogar ca. 251.000 US-Amerikaner an Folgen vermeidbarerer Fehler versterben und medizinische Fehler somit die dritthäufigste Todesursache in den USA wären. Neben den fatalen medizinischen Folgen schätzt die OECD in der 2017 veröffentlichten Publikation „The Economics of Patient Safety“, dass ca. 15 % der Gesamtausgaben im stationären Bereich ausschließlich der Kompensation medizinischer Fehler dienen und eine Vermeidung dieser Fehler somit nicht nur Patienten schützen, sondern auch das Gesundheitssystem massiv entlasten kann. Zahlreiche Untersuchungen von Schadensfällen in der Medizin und in anderen Branchen wie der Luftfahrt zeigen, dass zwar bei den meisten 240 4 Ausgewählte Spannungsfelder in der Medizin <?page no="241"?> Ereignissen menschliche Fehler eine Rolle gespielt haben, dass es sich aber mitnichten um rein „menschliches Versagen“ handelt, sondern menschliche Fehler durch systemische Komponenten, beispielsweise durch eine subopti‐ male Gestaltung der Arbeitsumgebung oder eine mangelhafte Kommunika‐ tion in Behandlungsteams, gefördert bzw. provoziert werden. James Reason, einer der bekanntesten Arbeitspsychologen auf diesem Gebiet, bemerkte hier trefflich: „We cannot change the human condition, but we can change the conditions under which humans work.“ James Reason BMJ 2000; 320: 768-70 Dementsprechend ist eine individuelle Bestrafung des mutmaßlichen „Ver‐ ursachers“ in der Regel nicht zielführend, sondern kann weiteren Schaden anrichten: Nicht nur Patienten und deren Angehörige, sondern auch Behan‐ delnde selbst können durch vermeidbare Patientenschäden traumatisiert werden. Der amerikanische Arzt Albert Wu prägte im Jahr 2000 dafür den Begriff des second victim, also des zweiten Opfers. Studien aus den USA und eigene Forschungsergebnisse belegen, dass ein Großteil der Ärztinnen und Ärzte bereits während ihrer Facharztweiterbildung mindestens ein Mal selbst zweites Opfer ist. Dies kann zu Schuldgefühlen aber auch einer gesteigerten Angst vor erneuten Fehlern führen, und so auch künftige Patienten schädigen. Aber in bis zu 2/ 3 aller Fälle führen diese Trauma‐ tisierungen zu pathologischen Verarbeitungsmechanismen, wie Alkohol- oder Medikamentenmissbrauch, Depressionen/ Burnout bis hin zur Berufs‐ aufgabe oder gar Suizid. Helfen können vor allem kollegiale Unterstützung und die systematische Aufarbeitung des Falles. So kann das Erlebte verar‐ beitet werden und die second victims können, besonders sensibilisiert für Patientensicherheit, auch künftig in der Gesundheitsversorgung tätig sein. Ein gerechter Umgang mit Fehlern ist somit unerlässlich: Fahrlässigkeit oder bewusst geplante Patientenschädigungen dürfen keinesfalls toleriert werden und bedürfen mitunter sogar der Strafverfolgung. Second victims aber, die unbeabsichtigt einen vermeidbaren Schaden erzeugt haben, benö‐ tigen statt Bestrafung selbst Hilfe. Aus den Erkenntnissen der Patientensicherheitsforschung hat die Agency for Healthcare Research and Quality (AHRQ) in den USA insgesamt fünf Eigenschaften formuliert, die besondere sichere Gesundheitseinrichtungen, sogenannte High-Reliability Organizations (HROs) kennzeichnen: 4.6 Medizin als Hochrisikobereich 241 <?page no="242"?> 1. Sensibilität für die Betriebstätigkeit (also das Bewusstsein, in einem Hochrisikobereich zu arbeiten) 2. Abneigung gegenüber Vereinfachung (also die Vermeidung zu einfacher Erklärungen für komplexe Probleme) 3. Auseinandersetzung mit Fehlern (also die systematischen Aufarbeitung von Ereignissen zur Verbesserung des Systems) 4. Respekt vor Fachwissen (also die Berücksichtigung von Expertise der tatsächlich in der Versorgung Beteiligten) 5. Widerstandsfähigkeit (also die systematische Vorbereitung, um auf Fehler angemessen zu reagieren) Im Jahr 2021 wurden insgesamt 54 Lernziele im Zusammenhang mit syste‐ matischer Ausbildung in Patientensicherheit in den Nationalen Kompetenz‐ basierten Lernzielkatalog (NKLM) aufgenommen, sodass künftig Studie‐ rende der Humanmedizin verbindlich systematisch in Patientensicherheit ausgebildet werden müssen. Da diese Konzepte bislang nicht Standard der medizinischen Ausbildung waren, müssen bestehende Strukturen der Gesundheitsversorgung derzeit an diese Erkenntnisse angepasst und Personal der Gesundheitsversorgung intensiver als bislang geschehen für diese Thematik sensibilisiert werden. Neben einer Reihe gesetzlicher Regelungen, die in allen Gesundheitssyste‐ men der Welt derzeit Einzug halten oder bereits implementiert sind, gibt es insbesondere Experten-Empfehlungen, welche Gesundheitseinrichtungen befähigen sollen, mit dieser Thematik angemessen umzugehen. Mittels eines strukturierten klinischen Risikomanagements können so auf dem Fundament einer wachsenden Sicherheitskultur die wesentlichen Risiken für die Patientensicherheit identifiziert, deren Ursachen analysiert, diese hinsichtlich ihrer Relevanz bewertet und durch angemessene Präventions‐ maßnahmen bewältigt werden. Das in Deutschland im Bereich Patientensicherheit maßgebliche Akti‐ onsbündnis Patientensicherheit (APS) definiert die Begriffe Klinisches Risikomanagement und Sicherheitskultur für den stationären Versor‐ gungsbereich in diesem Zusammenhang wie folgt: 242 4 Ausgewählte Spannungsfelder in der Medizin <?page no="243"?> ➤ Definition ∣ Klinisches Risikomanagement und Sicherheits‐ kultur Klinisches Risikomanagement in Krankenhäusern und Rehabili‐ tationskliniken umfasst die Gesamtheit der Strategien, Strukturen, Prozesse, Methoden, Instrumente und Aktivitäten in Prävention, Dia‐ gnostik, Therapie und Pflege, die die Mitarbeitenden aller Ebenen, Funktionen und Berufsgruppen unterstützen, Risiken bei der Patienten‐ versorgung zu erkennen, zu analysieren, zu beurteilen und zu bewälti‐ gen, um damit die Sicherheit der Patienten, der an deren Versorgung Beteiligten und der Organisation zu erhöhen. Sicherheitskultur im Kontext des Klinischen Risikomanagements von Krankenhäusern und Rehabilitationskliniken beschreibt die Art und Weise, wie Sicherheit im Rahmen der Patientenversorgung organisiert wird, und spiegelt damit die Einstellungen, Überzeugungen, Wahrneh‐ mungen, Werte und Verhaltensweisen der Führungskräfte und Mitar‐ beitenden in Bezug auf die Sicherheit von Patienten, Mitarbeitenden und der Organisation wider. Sicherheitskultur ist entwickelbar und unterliegt einem ständigen Lernprozess. Die zur Umsetzung notwendigen Anforderungen lassen sich grafisch im APS-Modell des Klinischen Risikomanagements in → Abbildung 23 veran‐ schaulichen: 4.6 Medizin als Hochrisikobereich 243 <?page no="244"?> Reporting Kontinuie rliche Verantwortlichkeit Re ssourcen Kompetenz/ Q ualitäts- und Risikomanagem ent- R isikopolitik Strategie Entwick lungExpertise Risiko- Management- Grundsätze Identifikation Analyse Evaluation Bewältigung Bewertung Evaluation Bewertung Sicherheitskultur Komm unikation Beteiligung Pla nung Abbildung 23: Das APS-Modell des Klinischen Risikomanagements | Quelle: Aktionsbünd‐ nis Patientensicherheit e.-V. Im Jahr 2021 veröffentlichte die Weltgesundheitsorganisation den Globalen Aktionsplan für Patientensicherheit 2021-2030, der auf Basis der weltweit gewonnenen Erkenntnisse auf globaler Ebene deutliche Verbesserungen der Patientensicherheit bewirken soll. Ziel dieses Plans ist „die größtmögli‐ che Verringerung vermeidbarer Schäden durch unsichere Gesundheitsver‐ sorgung weltweit“. Der Aktionsplan setzt sich den in → Abbildung 24 dargestellten Aktionsrahmen mit sieben strategischen Zielen, die wiederum jeweils mit fünf spezifischen Strategien hinterlegt sind, die sich sowohl an nationale Regierungen und Behörden, Akteure der Gesundheitsversor‐ gungen, relevante Stakeholder im Gesundheitswesen und die WHO selbst richten. 244 4 Ausgewählte Spannungsfelder in der Medizin <?page no="245"?> Der Rahmen umfasst sieben strategische Ziele, die durch 35 spezifische Strategien erreicht werden können: Die Eliminierung aller vermeidbaren Patientenschäden muss überall zu einer Geisteshaltung und zu einem Grundsatz für die Planung und Durchführung der Gesundheitsversorgung werden Der Aufbau hochzuverlässiger Gesundheitssysteme und -organisationen, die Patientinnen und Patienten täglich vor Schaden bewahren Einbindung und Befähigung von Patientinnen und Patienten und Familien, um den Weg hin zu sicherer Gesundheitsversorgung zu unterstützen Einen ständigen Informations- und Wissensfluss gewährleisten, um die Risikominderung, die Verringerung des Ausmaßes vermeidbarer Schäden und die Verbesserung der Sicherheit der Versorgung voranzutreiben Die Gewährleistung der Sicherheit aller klinischen Prozesse Gesundheitspersonal inspirieren, ausbilden, qualifizieren und schützen, damit es zur Gestaltung und Umsetzung sicherer Versorgungssysteme beitragen kann Entwicklung und Aufrechterhaltung sektorübergreifender und multinationaler Synergien, Partnerschaften und Solidarität zur Verbesserung der Patientensicherheit und der Qualität der Versorgung 1 2 4 6 3 5 7 Abbildung 24: Aktionsrahmen des Globalen Aktionsplans für Patientensicherheit 2021- 2030 der Weltgesundheitsorganisation (CC BY-NC-SA 3.0 IGO) Der Globale Aktionsplan für Patientensicherheit 2021-2030 ist mit Umset‐ zungsindikatoren belegt, die von den Mitgliedsstaaten der WHO in jähr‐ lichen Abständen an die Weltgesundheitsorganisation berichtet werden sollen. Der Schutz der Patientinnen und Patienten vor vermeidbaren Schäden durch ihre Behandlung bleibt somit auch 2.000 Jahre nach der Formulierung der Erkenntnis „primum nil nocere“ eine der zentralen Aufgaben der Medizin. 4.6 Medizin als Hochrisikobereich 245 <?page no="246"?> ➤ Lesetipps-∣-Literatur und Websites Institute of Medicine (US) Committee on Quality of Health Care in America (1999): To Err is Human. Building a Safer Health System. Washington (DC): National Academies Press (US), Im Internet unter: 🔗 https: / / www.ncbi.nlm.nih.gov/ books/ NBK225182/ Makary, Martin A et al. (2016): Medical error—the third leading cause of death in the US. BMJ 2016; 353: i2139 Slawomirski, Luke et al./ OECD (2017): The Economics of Patient Safety. Strengthening a value-based approach to reducing patient harm at national level. Im Internet unter: 🔗 https: / / www.bundesgesundheitsministerium.de/ fileadmin/ Dateien/ 3_ Downloads/ P/ Patientensicherheit/ The_Economics_of_patient_safety_Web .pdf Reason, James (2000). Human error: models and management. BMJ 2000; 320: 768-70, Im Internet unter: 🔗 https: / / www.ncbi.nlm.nih.gov/ pmc/ articles/ PMC1117770/ pdf/ 768.pdf Agency for Healthcare Research and Quality AHRQ (2008): Becoming a High Reliability Organization: Operational Advice for Hospital Leaders, AHRQ Publication No. 08-0022. Rockville, MD, Im Internet unter: 🔗 https: / / archive.ahrq.gov/ professionals/ quality-patient-safety/ qualityresources/ tools/ hroadvice/ hroadvice.pdf Aktionsbündnis Patientensicherheit e. V. (2016): Handlungsempfeh‐ lung Anforderungen an klinische Risikomanagementsysteme im Krankenhaus, Im Internet unter: 🔗 www.aps-ev.de/ wp-content/ uploads/ 2016/ 08/ HE_Risikomanagement-1. pdf Weltgesundheitsorganisation WHO (2021): Globaler Aktionsplan für Patientensicherheit 2021-2030 - Auf dem Weg zur Beseitigung vermeidbarer Schäden in der Gesundheitsversorgung, Im Internet unter: 🔗 https: / / apps.who.int/ iris/ bitstream/ handle/ 10665/ 343477/ 97892400327 05-ger.pdf 246 4 Ausgewählte Spannungsfelder in der Medizin <?page no="247"?> Glossar Akupunktur ∣ Verfahren der Traditionellen Chinesischen Medizin, bei dem durch Einbringen von Nadeln an bestimmten Stellen des Körpers (Akupunkturpunkte) positive Wirkungen erzielt werden sollen Anamnese ∣ Erhebung der Krankheitsgeschichte eines Patienten zur For‐ mulierung einer Verdachtsdiagnose und Planung des weiteren Vorgehens Ätiologie-∣-Lehre der Ursache von Krankheiten Compliance ∣ Bereitschaft des Patienten zur Mitwirkung im Rahmen der Behandlung, gelegentlich auch unter Verwendung des Begriffs Adherence Confounder ∣ Unbekannte Störgröße, die eine fehlerhafte Schlussfolgerung hinsichtlich einer Ursache-Wirkungs-Beziehung verursachen kann Diagnose ∣ Erkenntnis aufgrund einer oder mehrerer Untersuchungsver‐ fahren (→-Diagnostik), welche Erkrankung/ Verletzung vorliegt Diagnostik ∣ Maßnahmen, die während oder nach Anamnese durchgeführt werden, um aus den möglichen → Differentialdiagnosen die → Diagnose stellen zu können Differentialdiagnose ∣ Aufgrund der → Symptome mögliche → Diagnose, die im Lauf der Diagnostik bis zu ihrem Ausschluss mitberücksichtigt werden muss Epidemie-∣-Stark gehäuftes, aber örtlich und zeitlich begrenztes Auftreten einer Erkrankung, insbesondere bei Infektionskrankheiten zu beobachten Evidenzbasierte Medizin ∣ Individualmedizinisches Konzept, dass die best‐ verfügbaren Forschungsergebnisse mit dem eigenen klinischen Wissen und den Wünschen des Patienten zu einer abgestimmte optimalen Behandlung integriert Exazerbation ∣ Unkontrollierter Ausbruch bzw. Verschlimmerung einer Erkrankung <?page no="248"?> Homöopathie-∣-Kontrovers diskutierte, vor allem in Deutschland verbrei‐ tete Lehre, nach der, basierend auf dem Simile-Prinzip, hochverdünnte Wirkstoffe, die unverdünnt ähnliche Krankheitssymptome zur Behandlung von Beschwerden enthalten, eingesetzt werden. Ein Nutzennachweis nach den Prinzipien der Evidenzbasierten Medizin existiert hierbei nicht, sodass Kritiker keine über den Placebo-Effekt hinausgehende Wirkung unterstellen Impfung-∣-Verfahren der → Prävention, bei dem das Immunsystem durch abgeschwächte Krankheitserreger zur Bildung eigener Antikörper stimu‐ liert wird (aktive Impfung) oder Antikörper zugeführt werden (passive Impfung) und so eine Immunität gegen eine Erkrankung erzeugt wird, sodass sich Infektionskrankheiten nicht mehr ausbreiten können und so auch (noch) nicht impfbare Personen geschützt sind Indikation-∣-Legitimation einer → Therapie durch individuelle Abwägung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses einer diagnostischen oder therapeutischen Maßnahme Inzidenz ∣ Rate der Neuerkrankungen an einer bestimmten Krankheit in einer bestimmten Bevölkerungsgruppe in einem bestimmten Zeitraum Kontraindikation-∣-Vorhandensein einer Situation, die die Durchführung einer diagnostischen oder therapeutischen Maßnahme aufgrund eines un‐ günstigen Nutzen-Risiko-Verhältnisses ausschließt Meta-Analyse ∣ Epidemiologisches Verfahren, bei dem im Rahmen einer Systematischen Übersichtsarbeit Studienergebnisse verschiedener Einzel‐ studien mathematisch zu einem Gesamtergebnis zusammengefasst werden Palliativmedizin ∣ Aktive, ganzheitliche Behandlung von Patienten mit einer progredienten, weit fortgeschrittenen Erkrankung und einer begrenz‐ ten Lebenserwartung, bei der die Beherrschung von Schmerzen, ande‐ rer Krankheitsbeschwerden, psychologischer, sozialer und spiritueller Pro‐ bleme höchste Priorität besitzt 248 Glossar <?page no="249"?> Pandemie ∣ Im Gegensatz zur → Epidemie ein nicht örtlich begrenztes weltweites Auftreten einer Erkrankung, insbesondere bei Infektionskrank‐ heiten wie Influenza, HIV oder Tuberkulose verwendet Pathogenese ∣ Beschreibung der Entstehung bzw. Entwicklung einer Krankheit Placeboeffekt ∣ Positiver Effekt, bei dem nicht ein biochemisch aktiver Wirkstoff, sondern die Handlung an sich (beispielsweise durch Einnahme einer wirkstofflosen Tablette) eine Besserung von → Symptomen hervor‐ ruft Prävalenz ∣ Rate an einer bestimmten Erkrankung in einer bestimmten Population zu einem bestimmten Stichtag bzw. innerhalb eines bestimmten Zeitraums erkrankter Personen Prävention ∣ Maßnahmen der Vorbeugung (primär), Früherkennung (se‐ kundär) oder Nachbehandlung (tertiär) von Krankheiten bzw. die Verhinde‐ rung unnötiger →-Diagnostik/ Therapie (quartär) Prognose ∣ Individuelle Abschätzung des weiteren Krankheitsverlaufes bzw. der Heilungschancen aufgrund eigener Erfahrung und/ oder externer Vergleichsdaten Rehabilitation ∣ Maßnahmen zur bzw. Zustand der Wiederherstellung einer bestimmten Situation, im Kontext medizinischer Versorgung der Wie‐ dererlangung eines Gesundheitszustandes (medizinische Rehabilitation) oder der Wiedereingliederung in die Arbeitswelt (berufliche Rehabilitation) Rezidiv ∣ Wiederauftreten („Rückfall“) einer Erkrankung oder deren →-Symptomen nach deren mutmaßlichem Abklingen Symptom ∣ Zeichen, dass auf das Vorliegen einer bestimmten Krankheit hinweist Therapie ∣ Maßnahmen zur Behandlung von Krankheiten und Verletzungen auf der Basis einer gestellten →-Diagnose Glossar 249 <?page no="251"?> Register 5R-Regel-61 ABDA-57 Abkürzungen-48 Absolute Risk Increase (ARI)-97 Absolute Risk Reduction (ARR)-97 Abstrich-33 Aderlass-144 Adherence-36 Adipositas-159, 173 Body Mass Index (BMI)-159 Diagnostik-161 Primärprävention-164 Therapeutische Konzepte-162 Adipositaschirurgie-162 Agency for Healthcare Research and Quality (AHRQ)-241 AGREE II-103 AIDS-46 Akronym-45f. Aktion Saubere Hände-24 Aktionsbündnis Patientensicherheit (APS)-242 Aktive Sterbehilfe-128 Akupunktur-134 GERAC-Trial-137 Indikationen-136 Kontraindikation-137 Nebenwirkungen-136 Akutes Koronarsyndrom-175f. Diagnostik-177 NSTEMI-176 Prognose-178 PTCA-178 Risikofaktoren-177 STEMI-176 Symptome-177 Therapie-178 Akutversorgung-117 Alkoholkonsum-173, 186 Alternativmedizin-129 Grenzen-143 Altersarmut-223 Alzheimer, Alois-45 American Board of Internal Medicine (ABIM)-108 Amputationen-165 Analgetikum-127 Anämie-177 Anamnese-30, 167 Eigenanamnese-30 Familienanamnese-30, 167 Fremdanamnese-30 Medikamentenanamnese-31 psychische-30 somatische-30 Sozialanamnese-30 Anästhesie-27, 63 Anatomie-40 Aneurysma-182 Angina pectoris-173, 176 Angiogenese-188 Angiographie-181 Anreizprogramme-217 Anthropozän-153 Antibiotika-28, 231 Antonowsky, Aaron-110 Antonym-45, 47 <?page no="252"?> Aorta-175 APS-242 Arbeitsplatzbegehung-113 Arbeits- und Gesundheitsschutz-113 Arbeitsunfähigkeitstage-195 Arbeitsunfälle-113 Arterie-34, 48, 170 Arterielle Hypertonie-170, 172 Ärztelatein-50 Beispiele-51 Dechiffrierung-52 Arzt-Patienten-Beziehung-21, 52 aseptische Bedingungen-27 Asthma bronchiale-120, 188 Diagnostik-189 ICS-191 RABA-190 Stufentherapie-190 Ätiologie-159 Aufmerksamkeits-Defizits-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS)-35 Auskultation-173 Autonomie-208, 217 AWMF-102 Baby Take Home Rate-203 Bandscheibenvorfall-34 bariatrische Chirurgie-162f. Beauchamp, Tom Lamar-206 Begleiterkrankungen-36 Begleitintervention-92 benigne-48 Bertelsmann Stiftung-214 Berufskrankheiten-113 Betäubungsmittel-59 Betriebliche Gesundheitsförderung-108f., 113f. Luxemburger Erklärung-114 Betrieblichen Eingliederungsmanagements-115 Betrieblicher Gesundheitsschutz-113 Betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM)-114 Betriebsmedizinischer Dienst-113 Bewegungsmangel-173 Bias-76, 79f., 101 Big Data-235 Bindeform-41 Biodiversität-155 biomarkerbasierte Medizin-147 Biopsie-33, 187 Blastom-184 Block, Jack-112 Blutdruck- Diastole-170 Systole-170 Bluthochdruck-136 Blutkreislauf-170 Blutzucker-173 Body Mass Index (BMI)-161 Brustkrebs-119 Brustkrebsfrüherkennung-87 Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände e.-V. (ABDA)-57 Bundesversicherungsamt-118 C2-51 Caplan, Gerald-105 caput piger-52 cave-50 Chain, Ernst B.-28 Chefarztvisite-55 Chemotherapie-38, 136, 186f. Childress, James F.-206 Chirurgen-62 Chirurgie-63 252 Register <?page no="253"?> Chlorkalklösung-23 Cholera-144 Cholesterin-173 Choosing Wisely-108 Chronische Herzinsuffizienz-120 Cicero-21 Clipping-182 Cochrane-101 Codex Hammurapi-123 Coiling-182 Compliance-36, 52, 121 Computertomographie (CT)-32, 181 concealment of allocation-80 Confounder-79f., 91, 121 CONSORT-Statement-90 containment-232 Contergan-Skandal-58 Control Event Rate (CER)-96 COPD-120 Corona-Pandemie-232 Corpus Hippocraticum-19 Crick, Francis-148 CRISPR/ Cas9-Verfahren-204 critical health literacy-214 Cura palliativa-123 DEGS1 Studie-165 DEGS Studie-160, 195 Demographischer Wandel 115, 185, 205 Denoix, Pierre-185 Depressionen-136 Desinfektion-28 Deutsche Adipositas Gesellschaft-162 Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM)-108 Deutsche Rentenversicherung-196 Deutscher Ethikrat-150 Diabetes insipidus-165 Diabetes Mellitus-165, 172 Basistherapie-169 Diagnostik-167 Langzeitschäden-165 Therapie-168 Diabetes Mellitus Typ 1-120 Diabetes Mellitus Typ 2-119, 173 Diagnose-34 Arbeitsdiagnose-34 Ausschlussdiagnose-35 Differentialdiagnose-34 Fehldiagnose-35 Gefälligkeitsdiagnose-35 Modediagnose-35 Verdachtsdiagnose-31, 34 Verlegenheitsdiagnose-35 Diagnostik-31 Bildgebende Verfahren-32 Blut/ Körperflüssigkeiten-34 Elektrische Felder des Körpers-33 IPPAF-Schema-31 Körperliche Untersuchung-31 Zellen/ Gewebeteilen-33 Diathese-Stress-Modell-196 Differentialdiagnose-177 digitale Gesundheitskompetenz-238 Digitale Transformation-235 digital health literacy-238 Digitalisierung-115 Dignität-51 DIMDI-46, 103 Disease Management Programm (DMP)-116, 166 Asthma-189 Voraussetzungen-117 Disposition-31 DNA-33, 147, 222 Doppelhelix-148 Register 253 <?page no="254"?> Drei-Augen-Prinzip-236 Durchbrüche-22 Dyspnoe-189 Ebert, Vince-70, 72 Ebola-144 Ebolafieber-45 Echokardiografie-173 Effektunterschied-92 Ehegattenvertretungsrecht-208 Eigenverantwortung-207, 212 Makroebene-212 Mesoebene-212 Mikroebene-212 Eindämmungsstrategie (containment)-232 Einheitlicher Bewertungsmaßstab-49 Ein- und Ausschlusskriterien-88, 98 Elektroencephalogramm (EEG)-33, 181 Elektrokardiogramm (EKG)-33, 167, 173, 181 12-Kanal-EKG-177 STEMI-176 ELSID-Studie-121f. EMA-58 Empowerment-110, 116f., 119, 217 Encode-148 Endpunkt-96 Epididymitis-50 Epilepsie-137 Eponym-40, 45 Erblindung-165 Ernst, Edzart-141 Ether Day-27 Eugenik-124 European Society of Cardiology (ESC)-174 European Society of Hypertension (ESH)-174 Euthanasia medica-124 Euthanasie-124 Evidence-based Medicine-49, 67, 137 5 Schritte nach Sackett-69 PICO-Frage-69 evidenzbasierte Medizin-66 Exazerbation-117, 189, 197 Experimental Event Rate (EER)-96 Experimentalgruppe-96 expiratorischer Stridor-189 Exposition-77ff. extra muros-51 Extremwetterereignisse-155 Fachkräftemangel-115 Fachkraft für Arbeitssicherheit-113 Fallbericht-76 Fall-Kontroll-Studie-77 Fallserie-77 Falsifikation-74f. Farmerlunge-30 FDA-58 Fehlbelastung-109 Fehlzeitenmanagements-115 Fernbehandlung-235 Flatus transversus-52 Flemming, Alexander-28 Florey, Howard W.-28 Flussmethapher-111 Fojo, Tito-186 Folgenminderungsstrategie (mitigation)-232 Folsäure-106 forensische Psychiatrie-197 Fruchtbarkeit-200 Fünf-Jahres-Überlebensrate-188 Fusionierung-220 254 Register <?page no="255"?> Fußpilz-84 Gallenblase-64 Gefährdungsbeurteilung-113 Gefäßerkrankungen-174 Gemeinsamer Bundesausschuss (G-BA)-104, 119 Generika-60 genetische Disposition-173 Genom-148f. genombasierte Medizin-147 Genschere-204 GERAC-Trial-138 Geschäftsfähigkeit-210 Gesetzliche Krankenkassen-138, 224 Gesetzliche Krankenversicherung-104, 117 gesetzlicher Betreuer-211 Gestationsdiabetes-165 Gesundheitsämter-113 gesundheitsfördernde Strukturen-113 Gesundheitsförderung-104, 109 Gewichtsreduktionsprogramme-163 Gewichtsreduzierende Medikamente-163 Giemen-189 globale Ressourcen-155 Globalisierung-115, 205, 228 Glukose-166 golden hour-178 Goldstandard-82f., 85 Grady, Christine-186 Granulome-136 Guidelines International Network (G-I-N)-103 Hacker-Angriffe-237 Hahnemann, Samuel-139 Halswirbelimmobilisation-49 Hämoblastose-184 Hämoglobin-167 Händedesinfektion-106 Harnwegsinfektion-48 Hauterkrankungen-137 HbA1c-167, 169 Health Technology Assessment (HTA)-103 Heatley, Norman-28 Heilkunst-53 Herd-48 Herdenimmunität-234 Herrschaftswissen-50 Herzinfarkt-34, 84 Herz-Kreislauf-Erkrankungen-165, 172 Herz-Kreislaufstillstand-175 Herz-Kreislaufsystem-170 Herz-Lungen-Wiederbelebung-38, 178 High-Reliability Organizations (HROs)-241 Hinterwandinfarkt-48 Hippokratischer Eid-27 Hirntod-211 HIV-144 HIV-Test-84 Homöopathie-130, 139 Globuli-140 Simile-Prinzip-139 Urlösung-140 Verschütteln-140 Homöopatika-142 Hormonhaushaltstörung-174 Humanes Papillom Virus-186 Human Genome Project (HGP)-148 Hyperreagibilität-188 Hypertonie- Diagnostik-173 Register 255 <?page no="256"?> Risikofaktoren-173 Therapie-174 Hypoglykämie-181 Hypothesen-74 Hypothesenbildung-74 Hypothyreose-161 Hypoxietoleranz-188 ICD-10-194 IGeL-46 IGES-176 Immune Escape-188 Impfungen-26, 28, 106 Indikationen-136 Individualisierte Medizin-147, 150 Ethische Problemfelder-150 Individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL)-224 10 Gebote-225 Infarkt-175 infaust-178 Infektionskrankheiten-28 Infektionsschutzmaßnahmen-232 Infektionswellen-234 inferior-48 Infertilität-199 Informationsmodell-214 Insemination-201 Institute of Medicine (IOM)-240 insuffizient-48 Insulin-166, 168 Intention-To-Treat-93 Interessenkonflikt-95 Interessenkonflikte-95 Interventionsbias-92 Interventionsleiter-217 intracytoplasmatische Spermieninjektion-201 intraoperative Phase-63 Intrinsisches Asthma-189 In-vitro-Fertilisation-199, 201 Inzentivierung-217 Inzidenz-79 IQWiG-46, 103, 221 Ischämie-175, 179 Ischämiezeit-178 Jenner, Edward-24ff. Jobs, Steve-144f. Jojo-Effekt-162 Jolie, Angelina-149 Kachexie-188 Kapillaren-34 Karbolsäure-27 Karzinom-184 Kassenärztliche Vereinigungen-118 Kinderlosigkeit-199 KISS-46 Klimawandel-155 klinische Epidemiologie-74 klinisches Risikomanagement-242 Knieschmerzen-136 Knochenbrüche-137 Kochsalzkonsum-173 Kohärenzgefühl-111 Kohortenstudie-78 Kommerzialisierung-219 Konsil-31 gastroenterologisches-51 Kontrollgruppe-96 Konversion-93 Koronarbypasschirurgie-178 Koronare Herzkrankheit (KHK)-119, 176 Koronarspasmus-177 256 Register <?page no="257"?> Körperkreislauf-170 Krebserkrankungen-33, 38, 137, 184 Diagnostik/ Therapie-187 Prognose-187 Risikofaktoren-186 Krebsfrüherkennung-106, 187 Krebsfrüherkennungsprogramm-214 Krebsfrüherkennungsuntersuchungen 149 Krebsvorsorge-106 Krisenpläne-233 Kritischer Empirismus-75 Kuhpocken-25 künstliche Intelligenz-235 Langzeitversorgung-117 Laparoskopie-64 LASA-61 LASER-46 Lebenserwartung-205 Lebensqualität-205 Lebensverlängerung-205 Lebenswelten-Ansatz-112 lege artis-53 Leistungskatalog-104, 125, 224 Leistungsverdichtung-220 Leitlinien-102 Definition-102 Nationale Versorgungsleitlinien-102 Stufen-102 Lepra-47 Leukämie-184 Lind, James-73 Liquor-34 Lister, Joseph-27, 45 Lumbalpunktion-181 Lungenembolie-34 Lungenfunktionsdiagnostik-189 Lungenkreislauf-170 Lyse-182 Magnetresonanztomographie (MRT)-32, 181 Makary, Martin-240 Malaria-144 maligne-48 Malignität-184 Malignitätskriterien-184 Mammographie-Screening-87 Masern-26 Medikamentenzulassung-95 Medium-48 Medizinethik-206 Vier-Prinzipien-Modell-206 Medizinische Fachsprache- Aussprache-49 Fallstricke-48 Medizinische Fachsprache/ Terminologie-39 Medizinische Grundprinzipien- Primum nil nocere-19 Salus aegroti suprima lex-20 Medizinischer Behandlunsgablauf- Grafische Übersicht-29 Medizinischer Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen-225 Medizintourismus-229 Meilensteine der Medizin-22 Anästhesie-27 Aseptisches Arbeiten-27 Händedesinfektion-23 Impfungen-24 Penicillin-28 Merkmalsträgern-78 Meta-Analyse-101 Metabolisches Syndrom-165 Register 257 <?page no="258"?> Metamizol-68 Metastasen-184 Metastasierung-187f. mitigation-232 Morbus-45 Morbus Alzheimer-206 Morbus Bahlsen-51 Morton, William-27 Muir Gray, J.-A.-227 Mukoviszidose-47 Multiple Sklerose (MS)-47 Multiresistente Keime-231 Mutationen-148 Myokardinfarkt-175 Nachbeobachtung-93 nachhaltige Entwicklungziele-155 Nahrungsmittelknappheit-155 Narkose-33 National Cancer Institute-186 National Health Service (NHS)-107 National Screening Committees (NSC)-107 Negativer prädiktiver Wert (NPW)-86 Neoplasie-51, 184 Nierenerkrankungen-174 Nierenfunktionsausfall-165 Nightingale, Florence-20 Nikotinkonsum-186 Nobelpreis Medizin-28 Nocebo-Effekt-54 Nomenklatur-39 Nomina Anatomica-40 Nuffield Council on Bioethics-217 Number Needed to Harm (NNH)-98 Number Needed to Treat (NNT)-97 Nutzen-/ Risikoabwägung-137 Nutzen-/ Risiko-Bewertung-99 Obamacare-221 Obstruktion-188 OECD-240 Ökonomisierung-219 cherry picking-220 QALY-221 Ursachen-219 Operation-62 Ophthalmoskopie-173 Opioidpeptide-138 OP-Roboter-66 Oraler Glukosetoleranztest (oGTT)-167 Organspendeausweis-211 OSCE-46 Osteoporose-120 Ottawa-Charta-110, 112 Handlungsfelder-110 Handlungsstrategien-110 Outcome-77f. Out-Sourcing-220 Palliation-123 Palliative Care-122f. Grundsätze-125 Palliativmedizin-122, 127 Palpitationen-173 Pandemien-231 Paracetamol-68 Partizipative Entscheidungsfindung-213f. Passivrauchen-108 Pasteur, Loius-27 Paternalistisches Modell-214 Pathogenese-110, 159 Pathologe-33 Patientenautonomie-213 patientenrelevanter Endpunkt-95 Patientensicherheit-242 258 Register <?page no="259"?> Patientenverfügung-210 Penicillin-28 Penicillium notatum-28 Penumbra-180 Peridualkatheter-127 Per-Protocol-Analyse-92 Personalisierte Medizin-147, 150 Personal- und Unternehmensentwicklung-113f. Personensorgeberechtigte-208 Pest-28 Pfeiffer-Drüsenfieber-47 Pharmakodanamik-58 Pharmakodynamik-58 Pharmakokinetik-58 Pharmakologie-58 Pharmakons-57 Pharmakotherapie-196 Phenylketonurie (PKU)-106 Phytotherapeutika-57, 143 Placebo-94, 99 Placebo-Chirurgie-95 Placebo-Effekt-54, 94, 141, 143 Planetary Health-155 Pneumothorax-136 Pocken-24 Impfpflicht-25 Popper, Karl R.-75 portale Hypertonie-172 Porter, Michael E.-227 Positiver prädiktiver Wert (PPW)-86 postoperative Phase-64 Prädiktive Werte-85 Präfix-41ff. Assimilation-43 Elision-43 Präimplantationsdiagnostik-222 Pränataldiagnostik-222f. präoperative Phase-63 Prävalenz-85f., 88 Prävention-104 Arten-105 Präventionsparadox-27 Primärprävention-105f. Primordialprävention-105, 108 primum nil nocere-36, 89, 108, 144, 239 PRISMA-101 Privatisierung-220 Prognose-36 infauste-36 Prostata Spezifisches Antigen (PSA)-83 Prosument-214 protection-232 Psychische Erkrankungen-194 ICD-10-195 Lebenszeitprävalenz-195 PEPP-197 Therapie-196 psychogene Essstörung-161 psychosomatische Erkrankung-30 psychosozialer Leidensdruck-162 Psychotherapie-196 PTCA-182 PubMed-70 Puls-170 QALY-46 Constant Proportional Time Trade-Off-221 Mutual Utility Independance-221 QALYs-227 Quarantäne-232 Quartärprävention-105, 108 Quételet, Adolphe-159 Randomisation-79, 91ff. Register 259 <?page no="260"?> Randomisierte kontrollierte Studie-79, 98, 137 Rassenhygiene-124 Rauchen-173 Rauchentwöhnungsprogramme-109 Rauchverbot-108 Reason, James-241 Regelleistungskatalog-138 Rehabilitation-107 berufliche-107 medizinische-107 soziale-107 Rekonvaleszenz-64 Relative Risk Reduction (RRR)-97 Reminder-117 Reproduktionsmedizin-199 Resektion-187 Resilienz-112 Retardpräparate-127 Rezidiv-36 Rheumatoide Arthritis-120, 136 Risikomanagement-242 Risikostrukturausgleich (RSA)-117 Roboter-235 Röntgen-Strahlung-22 Rückenschmerz-120 Rückenschmerzen-136 SABA-190 Sackett, David-67 Salutogenese-110 Samenspende-201 Sarkom-184 SARS-46, 231 SARS-CoV2-Virus-233 Sauerstoff-170 Saunders, Cicely-124ff. Schlaganfall-172, 179 Diagnostik-181 Differentialdiagnosen-181 hämorrhagischer-179 ischämischer-179 Prognose-183 Risikofaktoren-180 Symptome-180 Therapie-182 TIA-180 Schleimhaut-33 Schmerzpflaster-127 Schmerztherapie-126 3-Stufen-Therapie-126 Schnellschnitt-33 Schutzstrategie (protection)-232 Schwangerschaft-37 Screening-106, 214 Screeningprogramme-187 Scribonius Largus-19 second victim-241 Sekundärprävention-105f. Selbstbestimmung-21, 207 Selbstbestimmungsrecht-128 Selbsthilfeorganisationen-113 Semmelweis, Ignaz-23, 73 Sensitivität-85 Sepsis-20, 38 Sequenzierung-148 Setting-Ansatz-112f. Setting-Konzepte-112 Sicherheitskultur-242 Sicherheitsunterweisungen-108 silent killer-173 Situs-63 Skorbut-73 Smith, Ruth-112 social freezing-202 260 Register <?page no="261"?> Sonographie-32 Soziotherapie-196 Spezialisierte ambulante palliativmedizinische Versorgung (SAPV)-125 Spezifität-85 Sprechende Medizin-53 Sputum-34 St. Christopherʼs Hospice-124 Staging-187 STARD-Checkliste-82 STEMI-46 STEMO-183 Stent-178 Sterbehilfe-124, 127, 223 aktive-223 Aktive-128 Assistierter Suizid-128, 223 DNR-128 Indirekte-128 Passive-128 sterile Partnerschaft-199 Sterilität-199 Strahlentherapie-136, 187 Stratifikation-80 Stratifizierte Medizin-147 Stress-173 Stroke-179 Stroke Unit-181 Studienabbrecher-93 Studienarten-76 Studiendesign- Beobachtungsstudie-75 Interventionsstudie-76 prospektiv-75 retrospektiv-75 Stufentherapie-168 Suffix-41, 43 suffizient-48 Suizid-197 superior-48 Surrogatparameter-95, 99 Symptome-30 Synonym-40, 45, 47 Systematische Übersichtsarbeit-100 Durchführung-101 Tagesklinik-196 Terminologie-39 Tertiärprävention-105, 107 Testergebnis- falsch-negativ-84 falsch-positiv-84 Thalidomid-58 Theodor Escherich-45 Therapie-37 dringliche-38 elektive-38 frustrane-38 Indikation-37 kalkulierte-38 kausale-37 Kontraindikation-37 kurative-38 palliative-38, 187 supportive-38 symptomatische-37 Thromboembolie-188 thromboembolisches Ereignis-179 Thromboseprophylaxe-182 Thrombus-177 TNM-Klassifikation-185, 187 Traditionelle Chinesische Medizin (TCM)-130, 137 5 Säulen der TCM-132 Akupunktur-134 Register 261 <?page no="262"?> Funktionskreise-131 Leitbahnen-131, 135 Moxibustion-136 Phytotherapeutika-133 Pulsdiagnostik-132 Qi-130 Qi-Gong-133 Shiatsu-133 Taijiquan-133 Tuina-133 Zungendiagnostik-132 Triple Value Healthcare-227 Trokar-64 Tuberkulose-137 Tumor-149, 174, 184 benigne-184 Tumorkonferenz-187 Tumorschmerzen-126 Überalterung-206 Unfruchtbarkeit-199 ungewollte Kinderlosigkeit-199 unterlassene Hilfeleistung-128 Unterlassensalternative-98, 224 Unterversorgung-197 Ursache-Wirkungs-Beziehungen-22 Vaccination-25 Validität-80 externe-81f. interne-81f. Value-based Healthcare-227 Varizella-Zoster-Virus-47 Vene-48, 170 Verblindung-94, 138 Doppelblindstudie-95 dreifache-95 einfache-95 Verhaltensprävention-105, 108, 113 Verhältnisprävention-105, 109, 113 Verteilungsgerechtigkeit-206 Verursacher-241 Vierfeldertafel-83, 85f. von Üexkull, Jakob-74 Vorsorgevollmacht-209f. Vortestwahrscheinlichkeit-84 Vulnerabilitäts-Stress-Bewältigungsmodell-196 Wassermangel-155 watchful waiting-187 Watson, James-148 Weißkitteleffekt-173 Werner, Emmy-112 WHO-24-27, 63, 110, 112, 123, 126, 136, 167, 186 Widerstandsressourcen-111 Willenserklärung-210 Wöchnerinnen-Sterblichkeit-23 Work-Life-Balance-115 Wortstamm-41, 43 XE "Kolletschka, Jakob-23 Yersinia Pestis-28 Zeugen Jehovas-208 Zuckerkrankheit-165 Zusatznutzen-99 zystische Fibrose-47 262 Register <?page no="263"?> BUCHTIPP Thomas Stockhausen Medizin und Gemeinwohl Medizinwissen für Gesundheitsökonomie und -wissenschaft 1. Auflage 2022, 232 Seiten €[D] 24,90 ISBN 978-3-8252-5811-5 eISBN 978-3-8385-5811-0 Die Medizin in all ihren Facetten verstehen! Ohne Gesundheit ist alles nichts. Menschen können medizinisch, wirtschaftlich, sozial oder gesellschaftlich auf das Thema blicken. Daraus ergibt sich ein Spannungsfeld zwischen Ökonomie und Ethik. Thomas Stockhausen stellt anhand ausgewählter Themen der Medizin die unterschiedlichen Aspekte der Patient: innenversorgung dar und diskutiert sie mithilfe lebensnaher Beispiele - aus gesundheitlicher, unternehmerischer, organisatorischer und schließlich ethischer Sicht. Auch auf die Coronapandemie geht er ein. Das Buch richtet sich an Studierende der Gesundheitsökonomie und Gesundheitswissenschaften. Ihnen vermittelt es das notwendige medizinische Grundlagenwissen. UVK Verlag - Ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ Fax +49 (0)7071 97 97 11 \ info@narr.de \ www.narr.de <?page no="264"?> BUCHTIPP Die Gesundheit der Bevölkerung im Fokus Public Health ist spannend, denn sie nimmt die Gesundheit der Bevölkerung genau unter die Lupe. Sie ist von zahlreichen Faktoren abhängig - einerseits von gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen und anderseits von Strukturen und Prozessen, die die Politik schafft. Das Buch gibt einen Überblick über die wichtigsten Ansätze, Theorien und Strukturen. Es bietet so einen kompakten und zugleich fundierten Einstieg in das Thema. Das Buch richtet sich an Studierende und Studieninteressierte der Gesundheits- und Pflegewissenschaften sowie angrenzender Studiengänge. Frauke Koppelin Public Health Ansätze, Theorien und Strukturen 1. Auflage 2022, 183 Seiten €[D] 19,90 ISBN 978-3-8252-5119-2 eISBN 978-3-8385-5119-7 UVK Verlag - Ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ Fax +49 (0)7071 97 97 11 \ info@narr.de \ www.narr.de <?page no="265"?> ISBN 978-3-8252-5985-3 Reinhard Strametz stellt medizinisches Grundwissen fundiert und leicht verständlich vor: Er führt in die medizinische Fachsprache ein, erklärt den Behandlungsprozess von der Anamnese bis zur Therapie und geht zudem auf wichtige Methoden ein, z.B. die evidenzbasierte Medizin und die Prävention. Krankheitsbilder wie z.B. Diabetes mellitus, Schlaganfall sowie Krebs erklärt er prägnant. Auch Spannungsfelder lässt er nicht außer Acht, z.B. die Ökonomisierung und die Digitalisierung. Neu in dieser Auflage sind die Reproduktionsmedizin sowie Gesundheit und Klimawandel (Planetary Health). Ein unverzichtbarer Ratgeber für alle, die sich im Studium oder in der Praxis mit dem Gesundheitssystem und der Medizin beschäftigen. utb+ Das Lehrwerk mit dem digitalen Plus Gesundheits-, Pflege-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften | Medizin Dies ist ein utb-Band aus dem UVK Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehr- und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel für Studium und Praxis
