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Prähistorische Archäologie

Konzepte, Methoden, Theorien

0812
2024
978-3-8385-5986-5
978-3-8252-5986-0
UTB 
Manfred K. H. Eggert
10.36198/9783838559865

Dieser Band führt in systematischer Form in die grundlegenden Konzepte, Methoden und Theorien der Prähistorischen Archäologie ein. Unter Berücksichtigung forschungsgeschichtlicher Gesichtspunkte werden Struktur und erkenntnistheoretische Voraussetzungen eines Fachs entwickelt, dessen Quellen im Wesentlichen aus nichtschriftlichen Hinterlassenschaften bestehen. Die hier erstmals umfassend erörterten Konzepte, Methoden und Theorien sind jedoch nicht nur für die Ur- und Frühgeschichtswissenschaft, sondern für die Archäologie insgesamt von zentraler Bedeutung. Für diese fünfte Auflage wurde das bewährte Standardwerk einerseits gekürzt sowie zum anderen vollständig überarbeitet und erweitert. >>Welche andere Einführung verpflichtet zur kritischen Lektüre grundlegender Werke so sehr wie die >Prähistorik< Eggerts?<< Fundberichte aus Baden-Württemberg 26, 2002 (Dr. Michael Strobel)

<?page no="0"?> 5 2 3 4 1 6 10 9 A 8 7 B ISBN 978-3-8252-5986-0 Manfred K.H. Eggert Prähistorische Archäologie Konzepte - Methoden - Theorien 5. Auflage Dieser Band führt in systematischer Form in die grundlegenden Konzepte, Methoden und Theorien der Prähistorischen Archäologie ein. Unter Berücksichtigung forschungsgeschichtlicher Aspekte werden Struktur und erkenntnistheoretische Voraussetzungen eines Faches entwickelt, dessen Quellen im Wesentlichen aus nichtschriftlichen Hinterlassenschaften bestehen. Die hier erstmals umfassend erörterten Konzepte, Methoden und Theorien sind jedoch nicht nur für die Ur- und Frühgeschichtswissenschaft, sondern für die Archäologie insgesamt von zentraler Bedeutung. Für diese fünfte Auflage wurde das bewährte Standardwerk erheblich überarbeitet, aktualisiert und ergänzt. Geschichte | Archäologie Prähistorische Archäologie 5. A. Eggert Dies ist ein utb-Band aus dem Narr Francke Attempto Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehr- und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel 6 7 8 5 2 3 4 10 9 1 2024-07-16-5986-0_Eggert_M_2092_PRINT.indd Alle Seiten 2024-07-16-5986-0_Eggert_M_2092_PRINT.indd Alle Seiten 16.07.24 13: 57 16.07.24 13: 57 <?page no="1"?> utb 2092 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Brill | Schöningh - Fink · Paderborn Brill | Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen - Böhlau · Wien · Köln Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Narr Francke Attempto Verlag - expert verlag · Tübingen Psychiatrie Verlag · Köln Ernst Reinhardt Verlag · München transcript Verlag · Bielefeld Verlag Eugen Ulmer · Stuttgart UVK Verlag · München Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld Wochenschau Verlag · Frankfurt am Main <?page no="2"?> Manfred K. H. Eggert, geb. 1941, Studium der Ur- und Frühgeschichte, Ethnologie, Physische Anthropologie sowie der Deutschen Volks- und Altertumskunde in Hamburg und Mainz. Promotion 1973 in Mainz. 1973-75 Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes und der Deut‐ schen Forschungsgemeinschaft (DFG) an der Yale University in New Haven, Conn. 1976-78 Wiss. Mitarbeiter am Institut für Ethnologie und Afrika-Studien der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. 1978-88 Wiss. Assistent und Privatdozent für Ur- und Frühgeschichte an der Universität Hamburg. 1988-93 Professor für Ur- und Frühgeschichte an der Friedrich-Alexan‐ der-Universität Erlangen-Nürnberg. 1993-2006 o. Professor an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Seit 1977 archäologische Forschungen im zentralafrikanischen Regenwald (Za‐ ïre, Volksrepublik Kongo, Kamerun; DFG). Von 1994-2010 außerdem Ausgrabungsprojekte in Baden-Württemberg (u. a. Oppida Heidengraben und Tarodunum sowie Heuneburg-Außensied‐ lung; DFG). Forschungsschwerpunkte: Theorie und Methode der Archäolo‐ gie; Methodologie der historischen Kulturwissenschaften; Frühe Metallzei‐ ten Mitteleuropas; Frühe Eisenzeit Zentralafrikas. <?page no="3"?> Manfred K. H. Eggert Prähistorische Archäologie Konzepte - Methoden - Theorien 5., grundlegend überarbeitete, aktualisierte und erweiterte Auflage Narr Francke Attempto Verlag · Tübingen <?page no="4"?> 5., grundlegend überarbeitete, aktualisierte und erweiterte Auflage 2024 4., überarbeitete Auflage 2012 3., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage 2008 2., unveränderte Auflage 2005 1. Auflage 2021 DOI: https: / / doi.org/ 10.36198/ 9783838559865 © 2024 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikro‐ verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Heraus‐ geber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: siegel konzeption | gestaltung CPI books GmbH, Leck utb-Nr. 2092 ISBN 978-3-8252-5986-0 (Print) ISBN 978-3-8385-5986-5 (ePDF) ISBN 978-3-8463-5986-0 (ePub) Umschlagabbildung: Agentur Siegel nach Vorlagen des Autors (siehe S. 255 f. mit Abb. 36). Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbib‐ liografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 13 15 16 17 1 23 1.1 23 1.2 26 1.3 31 2 35 2.1 35 2.2 41 2.3 47 2.4 51 3 61 3.1 61 3.2 63 3.3 66 3.4 68 3.5 72 3.6 74 4 79 4.1 79 Inhalt Vorwort zur 5. Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorwort zur 4. Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorwort zur 3. Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorwort zur 1. Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung: Über dieses Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konzepte, Methoden, Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhaltliche und begriffliche Bestimmung . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prähistorische Archäologie: Zur Bestimmung einer Wissenschaft Charakter, Gegenstand, Zielsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kulturanthropologische Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ur- und Frühgeschichte als Universitätsfach . . . . . . . . . . . . Selbstverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stein - Bronze - Eisen: Das Dreiperiodensystem . . . . . . . . . . . . . Ungegliederte Vorzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. J. Thomsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . J. F. Danneil und F. Lisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Absicherung und Popularisierung des Dreiperiodensystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heutige Bedeutung des Dreiperiodensystems . . . . . . . . . . . Real-zeitliche und stadiale Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Funde und Befunde: Zur Systematik urgeschichtlicher Quellen . Definition und Systematik historischer Quellen . . . . . . . . . <?page no="6"?> 4.2 85 4.3 88 4.4 91 4.4.1 91 4.4.2 92 4.4.3 119 4.4.4 124 4.4.5 130 4.4.6 136 4.4.7 140 4.4.8 141 4.4.9 145 4.4.10 147 4.4.11 151 4.4.12 154 4.4.13 161 4.4.14 164 5 173 5.1 173 5.2 175 5.3 178 5.4 180 5.5 184 5.6 186 5.6.1 187 5.6.2 192 6 199 6.1 199 6.2 200 6.3 205 6.4 211 Definition und Systematik urgeschichtlicher Quellen . . . . Das Konzept des Geschlossenen Funds . . . . . . . . . . . . . . . . . Hauptkategorien urgeschichtlicher Quellen . . . . . . . . . . . . Einzelfunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gräber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Siedlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Horte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kultstätten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkplätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verkehrsmittel und Verkehrseinrichtungen . . . . . . . . . . . . . Felsbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Moorleichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Flussfunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Menhire . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlachtfelder und Orte gewaltsamer Auseinandersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Grabenanlage von Herxheim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klimawandel und Archäologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Hinterlassenschaften und ihr Aussagewert: Struktur und Kritik urgeschichtlicher Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aussagepotenzial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellenaufbereitung und Quellenkritik . . . . . . . . . . . . . . . . Äußere Quellenkritik (Kritik der Quellenüberlieferung) . . Innere Quellenkritik (Kritik des Quellenwerts) . . . . . . . . . . Innere Quellenkritik auf regionaler Grundlage . . . . . . . . . . H. J. Eggers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . W. Torbrügge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Über das Ordnen archäologischen Materials: Klassifikation zwischen Notwendigkeit und Selbstzweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Archäologie und Klassifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Analytische und synthetische Klassifikation . . . . . . . . . . . . ›Merkmal‹ als archäologisches Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . ›Typ‹ als archäologisches Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> 6.5 218 6.6 221 7 227 7.1 227 7.2 230 7.3 235 7.4 240 8 243 8.1 243 8.2 248 8.3 256 8.4 259 8.5 264 9 267 9.1 267 9.2 272 9.3 282 10 289 10.1 289 10.2 295 11 313 11.1 313 11.2 314 11.3 315 11.4 316 11.5 317 Typen von Typen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klassifikation, Heuristik und Realität . . . . . . . . . . . . . . . . . . Über Zeit und Altersbestimmung: Relative und absolute Chronologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Konzept der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Konzept der relativen Chronologie . . . . . . . . . . . . . . . Über Grenzen relativ-chronologischer Differenzierung . . . Das Konzept der absoluten Chronologie . . . . . . . . . . . . . . . Schichten und ihr Inhalt: Die Stratigraphische Methode . . . . . . . Über die Entwicklung der Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Stratigraphische Methode in der Archäologie . . . . . . . Geologisch-archäologische Gesetze der Stratigraphischen Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundbegriffe der Stratigraphischen Methode . . . . . . . . . . Die Bedeutung der Stratigraphischen Methode . . . . . . . . . . Materielle Variabilität und relative Chronologie: Die ›Typologische Methode‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Stufengliederung der Nordischen Bronzezeit . . . . . . . . Grundprinzipien der ›Typologischen Methode‹ . . . . . . . . . Typologie ohne Evolutionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zeit und das Prinzip der Assoziation: Kombinationsstatistik und andere Seriationsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Geschichte und Bedeutung archäologischer Seriation Voraussetzungen und Grundstruktur der Kombinationsstatistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zeit und Raum: Die ›Horizontalstratigraphische Methode‹ . . . . . Zur Entwicklung der Fundtopographie . . . . . . . . . . . . . . . . Oscar Montelius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Emil Vedel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christian Hostmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Otto Tischler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 7 <?page no="8"?> 11.6 319 11.7 319 11.8 320 11.9 328 11.10 330 11.11 333 12 343 12.1 343 12.2 345 12.3 347 12.4 361 12.5 366 13 375 13.1 375 13.2 379 13.3 392 13.3.1 392 13.3.2 402 14 407 14.1 407 14.2 410 14.3 413 14.4 417 14.5 419 14.6 426 Zur Bewertung der frühen horizontalstratigraphischen Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Blütezeit der Horizontalstratigraphie . . . . . . . . . . . . . . . Relative Chronologie und Gräberfeldchorologie am Beispiel Langenhagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Struktur und Aussagekraft der Gräberfeldchorologie . Zum Verhältnis von Zeit und Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stratigraphie und Siedlungschorologie am Beispiel Haithabu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kalendarische Zeit: Zum traditionellen Modus der absoluten Datierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Genauigkeit traditioneller absoluter Datierungen . . . . Grundaspekte der antiken Chronographie . . . . . . . . . . . . . . Die Archäologisch-Historische Methode . . . . . . . . . . . . . . . Neuere Arbeiten zu altweltlichen Kulturbeziehungen . . . . Naturwissenschaftliche kontra archäologisch-historische Zeitbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Raum und Zeit: Synchrone und diachrone Aspekte von Fund- und Befundbildern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur räumlichen Analyse archäologischer Quellen . . . . . . . Grundkonzepte der räumlichen Integration . . . . . . . . . . . . . Zur diachronen Dimension von Fund- und Befundbildern Kontinuität und Diskontinuität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontinuität und Diskontinuität bei Hermann Bausinger . . Archäologie und Kulturwissenschaften: Das Problem der Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachgut und Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum »Kulturbegriff der urgeschichtlichen Praxis« . . . . . . . Alternative Konzeptionen Archäologischer Kultur . . . . . . . Individual-homologischer versus universal-analogischer Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ethnographische Parallelen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anglophone Stellungnahmen zu Ethnographischen Parallelen nach dem Zweiten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt <?page no="9"?> 14.7 435 14.8 446 446 447 453 15 457 15.1 457 15.1.1 462 15.1.2 466 15.1.3 468 15.1.4 471 15.1.5 474 15.2 474 15.2.1 474 15.2.2 476 15.2.3 478 15.2.4 480 15.2.5 486 15.3 488 16 491 16.1 493 16.1.1 494 16.1.2 496 17 503 517 Kulturwissenschaftliche Analogien und historisches Erkennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Archäologie und kulturwissenschaftlich inspirierte Vergleiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwei Fallstudien: Großgrabhügel der Frühen Eisenzeit und ›Südgut‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fallstudie 1: Großgrabhügel und Sozialstruktur . . . . . . . . . . . . . . . Fallstudie 2: Exotische Güter und Fernhandel . . . . . . . . . . . . . . . . Ethnoarchäologie als heuristisches Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist Ethnoarchäologie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ethnoarchäologie im Baringo-Distrikt . . . . . . . . . . . . . . . . . Ethnoarchäologie in den Nuba-Bergen . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesamtbewertung von »Symbols in Action« . . . . . . . . . . . . Nicholas David oder Kann man Hodder mit Binford versöhnen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Analogisches Deuten und Ethnoarchäologie . . . . . . . . . . . . Keramik-Ethnoarchäologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Keramik in Sirak (Mandara-Berge, Nordwestkamerun) . . . Keramik in Dangwara (Zentralindien) . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Dialektik des Materiellen und Immateriellen . . . . . . . . Archäologische Keramik und ethnoarchäologische Töpfereistudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Archäologische und ethnographische Keramik im Inneren Kongobecken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Archäologie und Ethnoarchäologie: Ausblick . . . . . . . . . . . Theorien und Archäologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Meta- und Bindestrich-Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Über Gesetze und Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Soziologie über die Geschichtswissenschaft zur Archäologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Praxistheorien und Praxeologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 9 <?page no="10"?> 603 613 619 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Inhalt <?page no="11"?> Meinen Lehrern Rafael von Uslar (1908-2003) und Ernst W. Müller (1925-2013) zum Gedächtnis sowie dem Andenken von Hans Jürgen Eggers (1906-1975) <?page no="13"?> Vorwort zur 5. Auflage Die 5. Auflage dieses Lehrbuchs bedarf in mancherlei Hinsicht einer Erläu‐ terung. Zum einen sind die seit der 3. Auflage in dieses Buch integrierten Beiträge von Stefanie Samida (»Die B.A./ M.A.-Studiengänge«) und Nils Müller-Scheeßel (»Korrespondenzanalyse und verwandte Verfahren«) hier nicht mehr enthalten und somit auch nicht aktualisiert worden. Was den ers‐ ten Beitrag betrifft, verweise ich auf die soeben (2022) erschienene 3. Auflage unseres gemeinsamen Buchs »Ur- und Frühgeschichtliche Archäologie« (utb 3254). Der Beitrag von N. Müller-Scheeßel bleibt ja in der 4. Auflage des vorliegenden Buchs zugänglich. Dabei ist prinzipiell zu wünschen, dass sich endlich jemand finden möge, um nach dem Vorbild insbesondere englischsprachiger Lehrbücher über mathematisch-statistische Verfahren in der Archäologie ein entsprechendes Werk auf Deutsch zu verfassen. Somit hätte dieses Buch jetzt wieder jene grundsätzliche Position erreicht, die der 1. Auflage von 2001 zugrunde lag: Seinerzeit sollten im Wesentli‐ chen kulturwissenschaftliche Konzepte und Methoden der Prähistorischen Archäologie im Mittelpunkt der Betrachtung stehen. Für die 5. Auflage war nunmehr gegenüber den bisherigen vier Auflagen jedoch etwas Drittes angestrebt - zu Konzepten und Methoden sollten Theorien hinzutreten. Das Fach ›Prähistorische Archäologie‹ im erweiterten Verständnis einer ›Ur- und Frühgeschichtliche Archäologie‹ hat in den gut 20 Jahren seit dem Erscheinen der 1. Auflage dieses Lehrbuchs eine fundamentale Veränderung erfahren: Haben wir - nicht zuletzt in Tübingen - gegen Ende des 20. und zu Beginn des ersten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts vehement Klage über eine allenthalben greifbare ›Theoriefeindlichkeit‹ geführt, ist inzwischen ein grundlegender Wandel eingetreten. Das geht nicht zuletzt auf die Aktivitäten der AG TidA e. V., der Arbeitsgemeinschaft Theorien in der Archäologie e. V. und ihrer Vorgängerorganisation Theorie AG e. V. zurück. Unter diesen Voraussetzungen erschien es reizvoll, einige der gegen‐ wärtigen Bemühungen um Theorien vergleichend zu betrachten, gewisse Hauptlinien herauszuarbeiten und den Versuch einer kritischen Bewertung zu wagen. Dass dabei über die beiden oben angeführten Beiträge hinaus auch manch andere Aspekte nicht mehr behandelt werden konnten, folgte allein schon aus der Notwendigkeit, diesen Band nicht über Gebühr anschwellen zu lassen. So habe ich zum Beispiel das gesamte einstige Kapitel XV (»Ar‐ <?page no="14"?> chäologie, Universität und Öffentlichkeit: Zur gegenwärtigen Situation«) der 4. Auflage ersatzlos gestrichen. Aber auch an anderen Stellen wurden - wo immer ohne allzu großen Substanzverlust möglich - Streichungen vorgenommen. Selbstverständlich gibt es jedoch anderswo - so zum Beispiel bei den Hauptkategorien urgeschichtlicher Quellen (jetzige Kapitel 4.4.17 - 4.4.19) - einen beträchtlichen Teil neuer Informationen. Dies muss hier nicht im Einzelnen ausgeführt werden. Ein näherer Vergleich dieser vollständig überarbeiteten und erweiterten 5. mit der vorausgehenden 4. Auflage von 2012 macht die Veränderungen hinreichend deutlich. Bereits in den ersten vier Auflagen dieses Buchs ist gleichsam ›inkognito‹ immer wieder Theoretisches vermittelt worden, auch wenn dies im Titel nicht explizit aufschien. Denn wie will man Konzeptuelles und Methodi‐ sches behandeln, ohne dahinter liegende Theorieaspekte zu thematisieren? Daran hat sich auch jetzt nichts Wesentliches verändert; es sind der Theorie‐ thematik gegen Ende des Buchs lediglich noch zwei eigene Kapitel gewidmet worden, in dem einige spezielle - und aus meiner Sicht grundlegende - Gesichtspunkte behandelt werden. Als Autor ist man naturgemäß nicht in der Lage, am Ende zu entscheiden, ob das ins Auge gefasste Anliegen gelungen ist oder nicht. Darüber können und müssen allein jene urteilen, die dieses Lehrbuch benutzen. Abschließend möchte ich mich bei meinem Lektor Stefan Selbmann be‐ danken. Er hat diese Neuauflage angeregt und betreut. Zudem war er meinen Änderungswünschen gegenüber in allen Punkten stets aufgeschlossen; er hat den Fortschritt des Manuskripts mit Gelassenheit verfolgt. Tübingen, im Dezember 2023 M. K. H. E. 14 Vorwort zur 5. Auflage <?page no="15"?> Vorwort zur 4. Auflage Es ist gewiss ungewöhnlich, dass ein Lehrbuch in den Historischen Kultur‐ wissenschaften innerhalb von knapp elf Jahren vier Auflagen erlebt. Da die dritte, 2008 erschienene Auflage der Prähistorischen Archäologie bereits nach rund drei Jahren vergriffen war, ist nunmehr eine vierte notwendig geworden. Der ungebrochen starke Zuspruch bestätigt eine Einschätzung, die auf die Zeit um 1980 zurückgeht: Schon damals meinte ich, dass die deutschsprachige Ur- und Frühgeschichtliche Archäologie dringend einer systematischen Erörterung ihrer grundlegenden Konzepte und Methoden bedurfte. Die vorliegende Auflage wurde durchgesehen und dabei hoffentlich wei‐ testgehend von Druckfehlern befreit. Beim Nachtragen wichtiger Literatur galt die Aufmerksamkeit vor allem jener, die nach 2008 veröffentlicht wurde. Wo immer es notwendig erschien, ist der Text überarbeitet worden. Das trifft in besonderem Maße für den von Stefanie Samida verfassten Beitrag über die B.A.- und M. A.-Studiengänge zu. Auf diesem Feld hat sich seit 2008 sehr viel verändert. Daher bin ich für die Aktualisierung dieses Beitrages sehr dankbar. Es ist mir eine angenehme Pflicht, Dirk Seidensticker M. A. (Tübingen) zu danken, der mich bei der Literaturergänzung und redaktionellen Arbeiten unterstützt hat. Wie immer gilt mein besonderer Dank Susanne Fischer M. A., die ein wei‐ teres Mal die Zusammenarbeit mit dem A. Francke Verlag sehr angenehm gestaltete. Tübingen, 31. Dezember 2011 M. K. H. E. <?page no="16"?> Vorwort zur 3. Auflage In der Prähistorischen Archäologie und verwandten Fächern ist es unge‐ wöhnlich, dass ein Buch zur Methodologie innerhalb von sieben Jahren dreimal aufgelegt wird. Bereits vier Jahre nach der Erstveröffentlichung wurde im Jahre 2005 eine Neuauflage notwendig. Da das gesamte Buch schon 2004 von Brigitte Pflug M. A. (damals Tübingen) kritisch durch‐ gearbeitet und mit vielen Änderungsvorschlägen versehen worden war, hatte ich beabsichtigt, jene Neuauflage in überarbeiteter und ergänzter Form erscheinen zu lassen. Darauf musste ich jedoch wegen längerfristiger archäologischer Feldforschungen in Kamerun und anderer Verpflichtungen verzichten. B. Pflug möchte ich für ihre gründliche Durchsicht der ersten Auflage auch an dieser Stelle sehr danken. Von denen, die mich auf Fehler in der Originalausgabe aufmerksam machten und weiterführende Hinweise gaben, bin ich besonders Gero Schwerdtner M. A. (Herrenberg) und Andreas Wendowski-Schünemann M.-A. (Cuxhaven) zu Dank verpflichtet. Die jetzige Auflage ist grundlegend überarbeitet und aktualisiert worden. Für diesen Zweck hat Dr. Stefanie Samida (Tübingen) die Erstauflage noch einmal vollständig durchgesehen. Ihr verdanke ich nicht nur zahlreiche Verbesserungsvorschläge inhaltlicher und sprachlicher Art, sondern auch den überwiegenden Teil der hier berücksichtigten, seit der zweiten Hälfte des Jahres 2000 erschienenen Literatur. Zudem hat sie das Manuskript der Neuauflage redaktionell betreut und einige der Abbildungen überarbeitet bzw. neue Abbildungen entworfen. Vor allem aber profitiert diese Auflage von einem Beitrag über die derzeitige Studiensituation aus ihrer Feder; er beruht unter anderem auf einer eigens dafür durchgeführten Erhebung bei den Fachinstituten in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Mein Dank gilt ferner Dr. Nils Müller-Scheeßel (Frankfurt am Main) für seinen Beitrag über Korrespondenzanalyse und verwandte Verfahren, der ebenfalls speziell für diese Auflage geschrieben wurde. Melanie Augstein M. A. (Tübingen) danke ich für die sorgfältige Endkorrektur dieses Buches. Schließlich möchte ich mich sehr bei Susanne Fischer M. A., Lektorin beim A. Francke Verlag, bedanken, die dieses Mal die traditionell gute Zusammenarbeit mit dem Verlag gewährleistet hat. Tübingen, 24. Juni 2008 M. K. H. E. <?page no="17"?> Vorwort zur 1. Auflage Dieses Taschenbuch versteht sich als Einführung in Konzepte und Metho‐ den der Prähistorischen Archäologie. Sein Anliegen erscheint einfach und anspruchsvoll zugleich. Es sollte doch nicht allzu schwierig für einen Hochschullehrer sein, so könnte man meinen, Interessierte - seien es nun Studierende der Ur- und Frühgeschichtswissenschaft und verwandter Disziplinen oder Laien - in die theoretisch-methodischen Grundlagen eines Faches einzuführen, das er seit mehr als zwei Jahrzehnten an deutschen Universitäten lehrt. Hierbei ist allerdings zu bedenken, dass die bis heute einzige deutschsprachige Methodenlehre des Faches vor gut 70 Jahren erschienen ist. Neben den Grundfragen der Urgeschichtsforschung von Karl Hermann Jacob-Friesen (1928) sind in unserem Zusammenhang lediglich noch E. Sangmeisters vorzügliche, aber leider allzu knappe Abhandlung über »Methoden der Urgeschichtswissenschaft« (1967) sowie die in Fragen ar‐ chäologischer Quellenkritik bahnbrechende Einführung in die Vorgeschichte von Hans Jürgen Eggers (1959) zu nennen; letztere wurde 1986, vermehrt um ein Nachwort von Georg Kossack, im achtzehnten Tausend in unveränderter Fassung aufgelegt und ist seit einigen Jahren vergriffen. Die Einführung von Eggers hatte ein gänzlich anderes Ziel als die vorliegende Arbeit. Sie wollte in das Fach insgesamt und nicht etwa speziell in die Konzepte und Methoden einführen. Dies ist ihrem Verfasser hervor‐ ragend gelungen und auch genau 40 Jahre nach ihrem ersten Erscheinen kann sie nach wie vor als ein Meisterwerk gelten: brillant geschrieben, hervorragend illustriert und in den Darlegungen zur Quellenkritik bis heute unübertroffen. Man hat dieser Einführung bisweilen vorgeworfen, dass sie zu wenig systematisch, ja eklektisch sei. Dieser Vorwurf scheint mir lediglich in dem Augenblick berechtigt, in dem man von ihr - verleitet durch die Brillanz der Quellenanalyse - mehr verlangt als ihr Autor bieten wollte. Ich habe die ersten sechs Semester bei H. J. Eggers in Hamburg studiert und kann nach wie vor nur mit Bewunderung auf dieses Werk blicken, das den deutschen und darüber hinaus den deutschsprachigen Studenten der Ur- und Frühgeschichtlichen Archäologie seit rund vier Jahrzehnten ein unentbehrlicher Begleiter ist. Die vorliegende Einführung hat sich zum Ziel gesetzt, das zu bieten, was bei Eggers nur zu einem Teil, in allen anderen deutschsprachigen <?page no="18"?> Einführungen entweder gar nicht oder aber nicht hinreichend ausführlich behandelt wird. Das Fehlen einer systematischen Einführung in die Kon‐ zepte und Methoden des Faches habe ich bereits als Student, besonders aber seit dem Beginn meiner Hochschullehrertätigkeit als Desiderat ersten Ranges empfunden. Mit der Veröffentlichung dieser Arbeit weiß ich mich einem Grundanliegen meines Lehrers Rafael v. Uslar verpflichtet, der mich schon vor Jahren in meinem Vorhaben ermuntert hat. Wie insbesondere im vorletzten Kapitel der folgenden Ausführungen dargelegt wird, halte ich es für wichtig, dass die Erforschung der Ur- und Frühgeschichte mit einem kulturanthropologischen Archäologieverständ‐ nis betrieben wird. Diese Sicht geht auf zwei Erfahrungen zurück. Zum einen wurde ich in einer entscheidenden Phase meines Studiums an der Universität Mainz durch Ernst W. Müller mit einer holistischen kulturanth‐ ropologischen Wissenschaftsauffassung konfrontiert und dabei in einem reichen Maße angelsächsischem ethnologischen Schrifttum ausgesetzt. Zum andern aber hat ein sich unmittelbar an meine Promotion anschließender, gut zweijähriger Aufenthalt an der Yale University in New Haven, Connec‐ ticut, mein Denken und meine Ausrichtung in einem ganz entscheidenden Maße geprägt. Doch stehen nicht Fragen der kulturanthropologisch inspirierten archäo‐ logischen Interpretation und Theoriebildung im Mittelpunkt dieser im Laufe der Jahre aus Proseminaren und Vorlesungen entstandenen Einführung, sondern Konzepte und Methoden. Bei ihrer Erörterung war es mir ein zentrales Anliegen, die in amerikanischen und englischen Einführungen meist nicht hinreichend berücksichtigte kontinentaleuropäische Tradition der Prähistorischen Archäologie gebührend zu würdigen. Dass die kritische Betrachtung mancher bisher nicht hinreichend reflektierter Komponenten des scheinbar altbewährten Korpus an Konzepten und Methoden schließlich mehr oder weniger negativ ausfiel, sollte man als einen Akt der Befreiung von einem gewissen Wildwuchs an fragwürdigen bzw. nicht haltbaren methodischen Positionen betrachten. Schließlich erscheint es mir angebracht, darauf hinzuweisen, dass diese Einführung von einem Archäologen geschrieben worden ist, der sich so gut wie ausschließlich mit der Jüngeren Urgeschichte (im Tübinger Sinne: Neo‐ lithikum und frühe Metallzeiten) beschäftigt hat. Aus dieser Tatsache erklärt sich die im folgenden allenthalben spürbare Ausrichtung der Darlegungen. Es ist mir eine angenehme Pflicht, zwei Personen zu danken, die wesent‐ lich zur äußeren Gestaltung dieser Arbeit beigetragen haben. Hans Joachim 18 Vorwort zur 1. Auflage <?page no="19"?> Frey zeichnete die Abbildungsvorlagen um, und cand. phil. Heike König M. A. hat die elektronische Umsetzung und Bearbeitung der meisten dieser Vorlagen durchgeführt. Mein Dank gilt ferner Privatdozent Dr. Ulrich Veit, der einen beträchtlichen Teil dieser Einführung in einer früheren Version gelesen und mit zahlreichen weiterführenden Hinweisen versehen hat. Ganz besonders dankbar bin ich cand. phil. Almut Mehling M. A. Sie hat die Endredaktion des Manuskriptes besorgt und dabei unzählige Verbesserungs‐ vorschläge gemacht, die dem Text außerordentlich zugute gekommen sind. Ihr verdanke ich außerdem Entwurf und Ausführung zahlreicher Graphiken und Tabellen sowie die elektronische Endbearbeitung aller Abbildungen. In meinen Dank möchte ich auch Stefanie Samida M. A. einbeziehen, die gemeinsam mit ihr das Literaturverzeichnis vereinheitlicht hat. Schließlich ist es mir ein Bedürfnis, Horst Schmid, Herstellungsleiter des A. Francke Verlages, für sein großes Engagement zu danken, das er der Gestaltung des Buches hat angedeihen lassen. Tübingen, 30. August 2000 M. K. H. E. Vorwort zur 1. Auflage 19 <?page no="21"?> Voraussetzung für Wissenschaftlichkeit ist nicht Glaube, sondern Zweifel. K. H. Jacob-Friesen (1928, 1) <?page no="23"?> 1 Im Folgenden werde ich häufig nur die Bezeichnung ›Archäologie‹ und ihre entspre‐ chenden Ableitungen verwenden, wenn ich die Prähistorische bzw. Ur- und Früh‐ geschichtliche Archäologie meine. Die Bezeichnungen ›Prähistorische Archäologie‹ und ›Ur- und Frühgeschichtliche Archäologie‹ werden dabei zunächst gleichgesetzt; Näheres ergibt sich aus der Erörterung ihrer Unterschiede (siehe unten, Kap.-1.2). 1 Einleitung: Über dieses Buch 1.1 Konzepte, Methoden, Theorien Dieses Buch ist den Konzepten, Methoden und Theorien der Prähistori‐ schen Archäologie 1 gewidmet. Einleitend erscheint es mir sinnvoll, eine knappe Erläuterung dieser drei Bezeichnungen sowie ihrer inhaltlichen Bestimmung und ihres gegenseitigen Verhältnisses zu geben. Es sei vor‐ weggenommen, dass alle drei auf einer übergeordneten Ebene in einer recht engen inhaltlichen Beziehung stehen. Bei allem Zusammenhang sollen diese zentralen Begriffe und Gesichtspunkte hier jedoch nicht dogmatisch, sondern weitestgehend offen und unvoreingenommen erörtert werden. Beginnen wir mit einer möglichst umfassenden und damit auch hinrei‐ chend allgemeinen Bestimmung der Bezeichnung ›Konzepte‹. Sie meint in unserem Kontext all jene leitenden Kategorien, die im Vollzug der archäo‐ logischen Auseinandersetzung mit den materiellen Hinterlassenschaften der Vergangenheit wesentlich sind. Viele dieser Kategorien werden in diesem Band besprochen werden; hier seien willkürlich einige wenige herausgegriffen: ›Urgeschichtliche Quellen‹, ›Funde‹ und ›Befunde‹, ›Ge‐ schlossene Funde‹, ›Horte‹ und ›Depots‹, ›Äußere‹ und Innere Quellenkri‐ tik‹, ›archäologische Klassifikation‹, ›Merkmale‹ und ›Typen‹, ›Typen‹ und ›Typvertreter‹, ›Kultur‹ und ›archäologische Kultur‹ und dergleichen mehr. Was die Bezeichnung ›Methoden‹ angeht, besteht ebenfalls eine außer‐ ordentlich große Vielfalt im Hinblick auf die Prähistorische Archäologie. Beginnen wir mit einigen grundsätzlichen Bemerkungen. Wie in allen anderen Wissenschaften ist das Kennzeichen von Methoden - hier also das Kennzeichen von Methoden in der Archäologie - ein regelhaftes System zur Gewinnung von Erkenntnissen. In diesem speziellen Fall geht es um Erkenntnisse über die urgeschichtliche bzw. die ur- und frühgeschichtliche Vergangenheit. Dabei sind die ›genuinen‹ Methoden der Prähistorischen Archäologie historischer bzw. kulturwissenschaftlicher Art. Allerdings ist zu betonen, dass bereits während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, <?page no="24"?> 2 Müller 1997, 3 ff.; Klindt-Jensen 1975, 71 ff.; zusammenfassend Eggert 1988a/ 2023, 69-f. Zur generellen Problematik Samida/ Eggert 2013. also in der Frühphase der Herausbildung der Ur- und Frühgeschichtlichen Archäologie, verschiedene Naturwissenschaften dabei eine wichtige unter‐ stützende Rolle spielten. 2 Überhaupt werden wir im Zuge dieses Lehrbuchs feststellen, dass eine Reihe von grundlegenden Methoden aus den Naturwis‐ senschaften entlehnt sind. Das gilt etwa für die Stratigraphische Methode, aber auch für die hier nicht eingehend behandelten Methoden der Dendro‐ chronologie und der Radiokohlenstoffdatierung. Die gesamten Verfahren der archäologischen Quellenkritik hingegen sind ebenso wie die Methoden der räumlichen Analyse und Zusammenschau archäologischer Funde und Befunde wesentlich historisch-kulturwissenschaftlicher Herkunft. Bleiben ›Theorien‹ als letztes Stichwort, das hier knapp behandelt werden muss. Ich gehe davon aus, dass sich manche Leser und Leserinnen dieses Buchs, sofern sie sich nicht ganz am Anfang ihres Studiums befinden, über die Reihenfolge der an dieser Stelle noch einmal aufgenommenen drei Begriffe des Untertitels wundern. Müssten Theorien nicht als Erstes genannt und erörtert werden, allemal vor Konzepten und Methoden? Sind Theorien nicht in jedem Fall die übergeordnete Integrationsbasis, aus der sich Kon‐ zepte und Methoden speisen? In gewisser Hinsicht ist dies sicher richtig - schließlich sprechen wir zum Beispiel von ›theoriegeleiteten‹ Konzepten und Methoden, und inhaltliche Kategorien oder Begriffe sind ebenso wie methodische Verfahren ohne eine Einbettung in theoretische Annahmen nicht denkbar. Insofern könnte man tatsächlich dogmatisch vorgehen und darauf beharren, dass vor allem anderen zunächst einmal das weite Feld der Theorien abgeklärt werden sollte. Dieser Meinung bin ich jedoch nicht. Stattdessen finde ich wichtig, dass die Einsicht in den beschriebenen inneren Zusammenhang der drei hier zur Diskussion stehenden Begriffe nicht zugleich die Abfolge ihrer Erörterung bestimmen sollte. Es wird sich im Zuge der Darlegungen hoffentlich herausstellen, dass der im Folgenden eingeschlagene Weg über mancherlei Verknüpfungen zu einem hinreichend klaren und befriedigenden Gesamtergebnis führen wird. Im Übrigen wird in den anschließenden Ausführungen immer wieder deutlich werden, in welch starkem Maße bestimmte Erörterungen zu einzelnen Aspekten mit Annahmen und Überlegungen verknüpft sind, die in den Bereich der Theorie verweisen. All dies mag Grund genug sein, genügend flexibel zu bleiben und 24 1 Einleitung <?page no="25"?> 3 Eggert 1978a, 29 Anm. 51. 4 Wie hier werden bei der ersten Nennung verstorbener Personen im Text und im Personenregister sowie bisweilen auch in Fußnoten die Lebensdaten genannt. 5 Montelius 1899; ders. 1903. Siehe unten, Kap. 9, S.-267 ff. sich den Aufbau dieses Buchs nicht durch die explizite Integration von zwei neuen Theoriekapiteln diktieren zu lassen. In diesem Zusammenhang möchte ich noch kurz auf einige weitere Punkte eingehen. Wie schon in meiner Arbeit über die New Archaeology 3 verstehe ich auch hier unter ›Methode‹ ein mehr oder weniger komple‐ xes, regelhaftes Verfahren der Aufbereitung und Analyse archäologischer Quellen. Methoden können, müssen aber nicht mit erklärenden Prinzipien identisch sein. So lag dem klassischen typologischen Konzept von Oscar Montelius (1843-1921) 4 und damit auch seiner Typologie oder typologi‐ schen Methode die Annahme einer geradlinigen Entwicklung kultureller Phänomene zugrunde. 5 Die klassische Typologie war zwar einerseits nur eine Klassifikation archäologischen Materials. Andererseits aber unterstellte sie eben jene geradlinige Entwicklung kulturellen Materials. Methoden basieren häufig auf (bisweilen impliziten) erklärenden Prinzipien oder gar Theorien. Die Stratigraphische Methode und die Dendrochronologie wird man hingegen ohne Weiteres als empirisch-naturwissenschaftlich begründete Theorien bezeichnen dürfen. Mit diesem Verweis auf die em‐ pirische Basis von Theorien ist zugleich der Unterschied zwischen jenen angesprochen, die aus dem Bereich der Naturwissenschaften stammen und solchen, die den historisch-kulturwissenschaftlichen Fächern zuzurechnen sind. Im Allgemeinen gilt, dass Letztere im Vergleich zu Theorien, die aus den Naturwissenschaften entlehnt (und modifiziert) wurden, oft nicht so überzeugend und stringent sind. Um der Klarheit willen noch ein Wort zur Terminologie: Auch in diesem Buch bezieht sich das Adjektiv ›methodisch‹ auf ›Methode‹, ›methodolo‐ gisch‹ hingegen auf ›Methodologie‹, das heißt auf den Gesamtbereich des Erkennens eines Fachs. In diesem Verständnis schließt ›Methodologie‹ nicht nur die Reflexion und Anwendung von Methoden und Techniken ein. Bei Techniken handelt es sich häufig um mehr oder minder spezialisierte, in der Regel technisch-naturwissenschaftlichen Verfahrensweisen und Fertig‐ keiten. Zur Methodologie wird hier aber auch die Hypothesen- und Theo‐ riebildung sowie ihre Anwendung gerechnet. Die Adjektive ›methodisch‹ und ›methodologisch‹ werden sinngemäß gebraucht. 1.1 Konzepte, Methoden, Theorien 25 <?page no="26"?> 6 Siehe hierzu jetzt Eggert 2021. 7 Siehe die Zusammenstellung der Fachinstitute für Ur- und Frühgeschichtliche Archäo‐ logie (und Archäologie des Mittelalters) in Deutschland, Österreich und der Schweiz in Eggert/ Samida 2022, 335 f. 8 Siehe dazu auch Eggert 2006, 50 ff. In diesem allgemeinen Zusammenhang möchte ich schließlich noch auf das Verhältnis von Theorie und Praxis eingehen. 6 In der deutschsprachigen Ur- und Frühgeschichtlichen Archäologie bestand traditionsgemäß nur ein sehr geringes Interesse an Fragen der theoretischen Grundlagen, ihren allgemeinen und besonderen Voraussetzungen sowie ihren Auswirkungen auf das Studium und damit dann auch auf die Praxis des Fachs. Das hat sich - wie bereits im Vorwort zu dieser Auflage angesprochen - in den letzten knapp drei Jahrzehnten seit Erscheinen der Erstauflage (2001) wesentlich zum Besseren verändert. 1.2 Inhaltliche und begriffliche Bestimmung Als Universitätsfach wurde die Prähistorischen Archäologie im deutschen Sprachraum traditionell als ›Ur- und Frühgeschichte‹ bzw. ›Vor- und Frühgeschichte‹ bezeichnet; der Gegenstandsbereich der Prähistorischen Archäologie - die ›Vor-‹ oder besser ›Urgeschichte‹ - erfährt damit zugleich eine Ausweitung durch die ›Frühgeschichte‹. In den letzten Jahren sind die meisten einstigen ›Seminare‹ bzw. ›Institute für Urbzw. Vor- und Frühgeschichte‹ in ›Institute für Ur- oder Vor- und Frühgeschichtliche Archäologie‹ umbenannt worden. 7 Wie später noch zu erörtern sein wird, ist der Begriff ›Prähistorie‹ bzw. ›Vorgeschichte‹ oder ›Urgeschichte‹ insofern negativ definiert, als er jene Zeiten der menschlichen Vergangenheit betrifft, für deren Erforschung keine Schriftzeugnisse zur Verfügung stehen. Für die ›Frühgeschichte‹ hingegen gibt es bereits vereinzelte Schriftquellen, wenngleich die nichtschriftlichen Hinterlassenschaften bei weitem über‐ wiegen. 8 Das hier verfolgte Anliegen bezieht sich allerdings methodologisch gesehen allein auf die Urgeschichte, mithin auf die Erforschung von nicht schriftbesitzenden und auch nicht durch exogene Schriftquellen erhellte Kulturen. Es geht also darum, die Konzepte, Methoden und Theorien einer historischen Wissenschaft zu erörtern, die ausschließlich auf nicht schrifttragende materielle Hinterlassenschaften vergangener Kulturen an‐ gewiesen ist; dabei versteht es sich, dass die Erforschung der Frühgeschichte 26 1 Einleitung <?page no="27"?> 9 Zur Bestimmung und zum Verhältnis von Schrift und Dingen siehe Eggert 2014d. 10 Der vor vielen Jahrzehnten von Menghin (1931, 2 et pass.; ders. 1952, 235) als Synonym für ›Prähistorische Archäologie‹ vorgeschlagene, inhaltlich und sprachlich nicht über‐ zeugende Begriff ›Paläarchäologie‹ konnte sich nicht durchsetzen. 11 So etwa engl. Prehistoric Archaeology oder Prehistory; franz. Archéologiepréhistorique oder Préhistoire; ital. Archeologica Preistoria e Protostoria oder Preistoria e Protostoria. von einer qualitativ breiteren Quellenbasis ausgehen kann und sich damit gegenüber der Urgeschichtsforschung oder Prähistorischen Archäologie in einer günstigeren Position befindet. 9 Dies gilt ebenso für Fächer wie die Klassische Archäologie. Der Begriff ›Prähistorische Archäologie‹ bedarf einer Erläuterung. Ich begreife alle Phänomene, die man in Bezug auf den Menschen als ›Ge‐ schichte‹ bezeichnet ebenso wie jene, die man ›Kultur‹ nennt, als Wesens‐ merkmal des Menschen. Daher erscheint mir der Terminus ›Prähistorie‹ bzw. ›Vorgeschichte‹ im Gegensatz zu ›Urgeschichte‹ inhaltlich inadäquat. Die entsprechende Wissenschaft wäre angemessen als ›Paläohistorische‹ bzw. ›Urgeschichtliche Archäologie‹ zu bezeichnen. 10 Wenn hier dennoch von ›Prähistorischer Archäologie‹ die Rede ist, so deshalb, weil es sich dabei um einen internationalen Fachbegriff handelt, der sich in äquivalenter Form in zahlreichen Sprachen findet. 11 Die folgenden Ausführungen wenden sich in erster Linie an eine ›profes‐ sionelle‹ Leserschaft. Dabei bilden Studentinnen und Studenten archäologi‐ scher Fächer, vor allem natürlich der Ur- und Frühgeschichtswissenschaft, die wesentliche Zielgruppe. Ich habe mich daher bemüht, immer auch die Genese von Konzepten und Methoden, mithin die forschungsgeschichtliche Dimension des hier Behandelten, gebührend zu berücksichtigen. Was diese Einführung im Einzelnen bietet, muss nicht erörtert werden; davon vermit‐ telt bereits ein Blick in das Inhaltsverzeichnis eine gewisse Vorstellung, und alles Weitere wird sich sehr schnell bei der Lektüre herausstellen. Hingegen erscheint es angebracht, auf jene Bereiche der Theorie- und Methodenlehre einzugehen, die nicht systematisch behandelt werden. Diese Arbeit ist jenen Konzepten, Methoden und Theorien gewidmet, die in einem recht direkten Sinne der ›geisteswissenschaftlichen‹, also der historischen und, jedenfalls idealiter, der kulturanthropologischen Tradition der Ur- und Frühgeschichtswissenschaft verbunden sind. Das mag man als Vorteil sehen, aber darin liegt zweifellos auch eine Beschränkung. Ich habe sie jedoch aus pragmatischen Gründen bewusst in Kauf genommen. So sinnvoll es ist, sich im Rahmen eines Lehrbuchs der Archäologie bei‐ 1.2 Inhaltliche und begriffliche Bestimmung 27 <?page no="28"?> 12 Hier wie im gesamten Buch schließt die männliche auch andere Eigenzuordnungen ein. Gängige, aber sprachlich und optisch unschöne Kennzeichnungen wurden bewusst vermieden. 13 Siehe aber Eggert/ Samida 2022, 82 ff. 14 Zur Radiokarbondatierung z. B. Bronk Ramsey et al. 2006; Geyh 2005, 1 ff.; Kromer 2008; Manning/ Wacker/ Büntgen et al. 2020; Reimer/ W. E. N. Austin et al. 2020; Tay‐ lor/ Bar-Yosef 2014; Wagner 2007. Zur Dendrochronologie z. B. Baillie 1995; Billamboz 1990; Billamboz/ Schlichtherle 1985; Eckstein/ Wrobel 2008; Schweingruber 1983; ders. 1993. Zur Thermolumineszenz-Methode z. B. Aitken 1985; Geyh 2005, 111 ff.; Richter 2009; Wagner 2008, 171 ff. Zu naturwissenschaftlichen Datierungsmethoden insgesamt z. B. Aitken1990; Wagner 2002; ders. 2007, 171 ff. - Generell zu naturwissenschaftlichen Methoden in der Archäologie das Stichwort in RGA 2 20 (Naturwiss. Meth. 2002); ferner Alt 2003; Geyh 2005; Hauptmann/ Pingel 2008; Wagner 2008; Wahl 2007. 15 Hierzu jedoch knapp Eggert/ Samida 2022, 168 ff. spielsweise mit den wichtigsten naturwissenschaftlichen Methoden der absoluten Zeitbestimmung zu befassen - ich denke dabei in erster Linie an die Radiokarbonmethode und die Dendrochronologie -, so wenig ver‐ mag der Archäologe 12 in aller Regel zu diesem Thema beizutragen. Unter solchen Umständen auf eine entsprechende Erörterung zu verzichten, 13 bietet sich überdies auch deswegen an, weil es hierzu eine Reihe hervor‐ ragender Einführungen und Spezialwerke gibt. 14 Naturwissenschaftliche Untersuchungen bilden heute einen integralen Bestandteil der Archäologie. Es ist daher unnötig, hier die Bedeutung der Naturwissenschaften für die Ur- und Frühgeschichtswissenschaft im Einzelnen darzulegen. 15 Auf der anderen Seite aber wäre es durchaus empfehlenswert gewesen, das Problem des archäologischen Umgangs mit naturwissenschaftlich ge‐ wonnenen Erkenntnissen zu erörtern. Dies gilt nicht zuletzt für den Bereich der Datierung. Wenn ich dennoch davon abgesehen habe, liegt das vor allem an der Schwierigkeit, ein derartiges Thema zu behandeln, ohne zugleich die entsprechenden naturwissenschaftlichen Grundlagen zu diskutieren. Hier sei deswegen lediglich beispielhaft auf eine Arbeit verwiesen, die sich mit der generellen Problematik der Konfrontation kultur- und na‐ turwissenschaftlicher Datierungsmethoden auseinandergesetzt hat (Eggert 1988a/ 2023). Darin wurde auf der Basis einer forschungsgeschichtlichen Perspektive eine Geisteshaltung in der deutschen Archäologie analysiert, die zu einer sehr starren Opposition gegenüber der Radiokarbondatierung geführt hatte. Diese Haltung, die dem Fach seinerzeit erheblichen Schaden zufügte, lässt sich in Anlehnung an den Titel eines Aufsatzes zur kulturanth‐ ropologischen Grundlagenreflexion (Hinz 1971) recht treffend als ›fachlich halbierte Vernunft‹ umschreiben: Ein Großteil der Archäologen lehnte 28 1 Einleitung <?page no="29"?> 16 Eggert 1988a/ 2023, 79 ff. 17 Zur archäologischen Feldpraxis und Ausgrabungstechnik z. B.: Barker 1993; Biel/ Klonk 1994-ff.; Gersbach 1998; Joukowsky 1980; ferner Eggert 2002/ 2023. 18 Hierzu z. B. Cherry/ Shennan 1978; Liddle 1985; Mueller 1974; ders. 1975; Schiffer/ Sul‐ livan/ Klinger 1978; Ragir 1967. 19 Eine kritische Erörterung der Geschichte und methodischen Basis der in Deutschland vor und nach dem Zweiten Weltkrieg durchgeführten archäologischen Landesauf‐ nahme bietet Fehr 1972, 9 ff. 20 Hierzu Becker 1996; Bofinger 2007; Leckenbusch 2001; Neubauer 2001; Posselt/ Zick‐ graf/ Dobiat 2007; Prospektionsmethoden 2003; Zickgraf 1999. 21 Siehe dazu Naturwiss. Meth. 2002. die Radiokohlenstoffdatierung zwar aus klar artikulierten und zum Teil auch durchaus zutreffenden rationalen Gründen ab, unterließ es aber, die archäologisch-historische Alternative der gleichen rationalen Analyse zu unterwerfen. Hätte man das getan, wäre deutlich geworden, dass die wesent‐ lichen Argumente gegen die Radiokohlenstoffdatierung mutatis mutandis auch für die traditionelle, ›geisteswissenschaftliche‹ Datierung gelten. 16 Inzwischen ist eine solche negative Einstellung zu naturwissenschaftlichen Datierungsverfahren sehr selten geworden; der letzte mir bekannt gewor‐ dene Fall liegt mehr als 30 Jahre zurück (Kossack/ Küster 1991). Neben den Methoden der naturwissenschaftlichen absoluten Zeitbestim‐ mung werden auch andere Themen in dieser Einführung nicht erörtert. Das gilt etwa für die primäre Quellengewinnung, das heißt für Methoden und Techniken der archäologischen Feldforschung. Der Begriff ›archäologische Feldforschung‹ wird hier im umfassenden Sinne verstanden; er betrifft also nicht nur das Ausgrabungswesen, 17 sondern auch die verschiedenen Verfah‐ ren der archäologischen Feldbegehung 18 und Landesaufnahme, 19 der natur‐ wissenschaftlichen Prospektion 20 sowie der Archäobotanik und Archäozo‐ ologie. 21 Andere Bereiche wiederum sind in dieser Arbeit zwar umrissen, aber nicht erschöpfend behandelt worden. Die solide Mathematikkenntnisse voraussetzenden Seriationsmethoden werden von mir lediglich am Beispiel der sogenannten ›Kombinationsstatistik‹ in ihren Voraussetzungen und ihrer Grundstruktur erörtert. Eine ähnlich kursorische Behandlung hat die Quellensystematik erfahren. Wenngleich die entsprechenden Ausführungen aufgrund der Breite dieses Bereichs relativ umfangreich sind, besteht dennoch kein Zweifel, dass der Text durch die Besprechung konkreter Beispiele für die einzelnen Quellen‐ gattungen an Anschaulichkeit gewonnen hätte. Ich habe dennoch darauf 1.2 Inhaltliche und begriffliche Bestimmung 29 <?page no="30"?> 22 Hierzu Jankuhn 1977; Gramsch 1996. 23 Zum Vergleich dieser beiden Forschungsansätze siehe Pantzer 1995. 24 Hierzu z. B. Ashmore/ Knapp 1999; Bender 1993; 1998; Edmonds 1999; Fabech/ Ringtved 1999; Fisher/ Thurston 1999; Stoddart 2000; Thomas 2001; Tilley 1994; Ucko/ Layton 1999; Wagstaff 1987. 25 Siehe Darvill/ Gojda 2001; Lang 2003; Lüning 1997; Schade 2000; Steuer 2001a; Sympo‐ sium Landschaftsarchäologie 2003; Zimmermann et al. 2004. 26 Hierzu Bayard 1978; Eggert 1978a; ders. 1998a; ders. 2014; ders./ Veit 1998; siehe auch Frerichs 1981; Müller-Scheeßel 2014; Wolfram 1986. 27 Siehe z.-B. Bernbeck 1997 und Eggert/ Veit 1998. 28 Insofern haben Siegmund und Zimmermann (2000, 179 f.) mich missverstanden, wenn sie meinen, dass ich eine die »gegenwärtige Konfrontation zwischen ›prozessualen‹ und ›postprozessualen‹ Archäologen fortschreibende Position« verträte und dafür plädierte, »man müsse sich für eine Richtung entscheiden, um zu einem eigenen kohä‐ renten Denksystem zu finden.« Meine Auffassung zielt vielmehr auf eine Überwindung verzichtet, weil es mir wichtiger erschien, stattdessen einige grundlegende Aspekte der archäologischen Quellenkunde zu erörtern. Es wurde ebenfalls davon abgesehen, im Rahmen dieses Lehrbuchs auf übergreifende Forschungsansätze einzugehen, wie sie etwa die deutsche Siedlungsarchäologie, 22 die amerikanische Settlement Archaeology (Vogt/ Le‐ venthal 1983) 23 oder in den letzten Jahren die britische Landscape Archaeo‐ logy 24 und die insgesamt auf etwas recht anderes zielende deutsche Land‐ schaftsarchäologie 25 repräsentieren. Schließlich ist es meine Absicht, wie der Untertitel dieser 5. Auflage im Gegensatz zu den vorausgehenden Auflagen bereits andeutet und wie im Vorwort und in der Einleitung angesprochen, hier in einem gewissen Umfang auch die Rolle der Theorie in der Archäologie zu erörtern. Dabei werden ältere Theoriekonzepte wie die New oder Processual Archaeology 26 und die Post-Processual Archaeology 27 nicht noch einmal ausführlich erörtert. Anders hingegen steht es mit der Ethnoarchäologie, die nichts von ihrem kulturtheoretischen Potenzial eingebüßt hat. Angesichts der gegenwärtigen englisch- und inzwischen längst auch der deutschsprachigen Theoriediskussion in der Archäologie mag diese Einführung in manchen Teilen dennoch merkwürdig traditionell, ja anti‐ quiert wirken: Sucht sie doch auch wesentlich jene Basis zu vermitteln, die nach Meinung mancher ›postmoderner‹ Archäologen in dieser Form gar nicht existiert. In der damit angesprochenen empirisch-methodenkritischen Grundorientierung liegt wohl der wesentliche Unterschied nicht nur zur Position der Post-Prozessualen, sondern auch zu manchen Aspekten der Prozessualen Archäologie. 28 Bei aller Theorieabhängigkeit, so meine ich, 30 1 Einleitung <?page no="31"?> dieser jeweils extremen Grundprägungen. Ihr in die gleiche Richtung weisender Vor‐ schlag, der zudem anstrebt, den »Gegensatz zwischen ›Theoretikern‹ und ›Praktikern‹« aufzuheben, leidet meines Erachtens daran, dass er offenbar unterstellt, einander ent‐ gegenstehende theoretische Orientierungen ließen sich über ihr gemeinsames Interesse an bestimmten grundlegenden Untersuchungsbereichen in einer »integrativen Sicht« verbinden (ebd. 180). Hier kann es eben nicht um ›Integration‹, sondern nur um ›Überwindung‹ gehen, wenn denn nicht nur ähnlich gelagerte Forschungsthemen festgestellt, sondern analysiert und interpretiert werden sollen. - Zur Frage von Theorie und Praxis jetzt Eggert 2021. 29 N. Müller-Scheeßel (2014, 215) hat zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass man aufgrund der darin integrierten Theoriestränge auch den Begriff ›Post-Prozessuale Archäologie‹ besser im Plural gebrauchen sollte. gibt es einen ›empirie-nahen Kern‹, eben die materiellen Relikte der ur- und frühgeschichtlichen Vergangenheit. Ihr besonderer Charakter kann weder mit der seinerzeit von der Processual Archaeology geforderten analytisch gezügelten Ingeniosität noch mit den unterschiedlichen Traditionen ver‐ pflichteten ›postmodernen‹ Archäologien 29 übersprungen oder verändert werden. Auch andere inzwischen entwickelte Theorieansätze oder Theorien vermögen meines Erachtens nicht die dem ur- und frühgeschichtlichen Da‐ tenbestand inhärenten grundsätzlichen Beschränkungen aufzuheben. Die Untersuchung dieses empirie-nahen Datenkerns muss zunächst einmal in ein theoriegeleitetes konzeptuelles und methodisches Regelwerk eingebettet werden. Die Theorieaspekte dieses Regelwerks sollten dann zu Theorien ausformuliert werden. Damit wäre das Fundament für ein solides archäolo‐ gisches Erkennen gelegt. 1.3 Allgemeine Bemerkungen Abweichend von der in wissenschaftlichen Einführungen üblichen Praxis war ich bemüht, die eingehender behandelten Autoren und Autorinnen möglichst häufig selbst sprechen zu lassen, allerdings meist nur in knappen, in die eigenen Darlegungen integrierten Zitaten. Wenngleich sich dies vielleicht bisweilen störend auf den Lesefluss auswirkt, scheint mir dabei doch der Vorteil zu überwiegen: Die jeweils zitierten Begriffe und Passagen vermitteln nicht nur das originale Wort, sondern mit ihrer Übernahme wurde ich wurde als Verfasser dieses Lehrbuchs zugleich gezwungen, mich in einem weit stärkeren Maße als bei freier Paraphrasierung auf den ursprünglichen Kontext einzulassen. Das kommt sicherlich auch der Leserin und dem Leser zugute, die damit hinter dem Text dieser Einführung 1.3 Allgemeine Bemerkungen 31 <?page no="32"?> 30 In diesem Buch werden Adjektive und Substantive in Zitaten dem vorliegenden Kontext ohne Berücksichtigung abweichender Flexion im Original angepasst. Ich folge damit E. Standop, der diese Praxis in seinem Standardwerk Die Form der wissenschaftlichen Arbeit empfiehlt. Desgleichen habe ich die Groß- und Kleinschreibung von Adjektiven, Präpositionen und Partikeln abweichend vom Original nach dem Zusammenhang des Zitats in diesem Buch verändert (Standop 1990, 43 f.; siehe auch ders./ Meyer 2008, 61 ff.). Auch Rechtschreib- und Zeichenfehler wurden stillschweigend korrigiert. Hingegen blieb die Alte Rechtschreibung in Zitaten unverändert. - Bisweilen sind kurze Passagen oder einzelne Worte und Begriffe aus englischsprachigen Texten in Deutsch wiedergegeben; die Übersetzung stammt in solchen Fällen ausnahmslos von mir. immer wieder, wenngleich nur schlaglichtartig und in strenger Auswahl, die Diktion der jeweiligen Autoren aufscheinen sehen. Wann immer ich es für angebracht hielt, habe ich auch längere Passagen zitiert, sie dann jedoch, um den Text so flüssig wie möglich zu gestalten, in der Regel in die Anmerkungen verwiesen. 30 Soweit es im Rahmen des für ein Taschenbuch noch vertretbaren Umfangs möglich war, werden die notgedrungen oft recht abstrakten Ausführungen mit konkreten Beispielen verknüpft und auf diese Weise illustriert. Es steht allerdings zu befürchten, dass dies nicht in einem allseits befriedigenden Maße geschehen ist. Ich bin dieses Risiko aber bewusst eingegangen. Im Zweifelsfalle habe ich mich durchgehend für die grundsätzliche Argumen‐ tation und gegen die Illustration mit Hilfe spezifischer Funde und Befunde entschieden. In Anbetracht des hier interessierenden, im deutschen Sprach‐ raum immer noch weitestgehend vernachlässigten Felds erschien mir das nicht nur vertretbar, sondern sogar notwendig. Vielleicht ist es angebracht zu erwähnen, dass diese Einführung nicht der in diesem Genre gängigen Gepflogenheit folgt, einen möglichst glatten, alle Widersprüche und Probleme nivellierenden Text für Anfänger zu bieten. Mir geht es vielmehr darum, von vornherein und uneingeschränkt auch auf Schwierigkeiten, gegensätzliche Meinungen, meines Erachtens verfehlte Auffassungen, unauflösbare oder unauflösbar scheinende Widersprüche - kurz, auf die hinter den Phänomenen und Begriffen steckende tiefere, un‐ terschiedlich wahrgenommene Dimension hinzuweisen. Eine adäquate Ein‐ führung in eine Wissenschaft sollte konkurrierende Auffassungen nicht zu glätten oder zu verschweigen suchen, sondern sie so klar wie möglich darle‐ gen und auch bewerten. Das setzt allerdings eine hinreichend differenzierte Erörterung des behandelten Stoffs voraus. Es erschien daher angebracht, den Text mit einem diesem Anliegen entsprechenden Anmerkungsapparat zu versehen. Bedenken, dass dies in einer Einführung unüblich sei und zudem 32 1 Einleitung <?page no="33"?> 31 Reineckes (1902, 223 Anm. 1) Verdikt lautete: »Das kritiklose Weiterverwerthen ge‐ wisser kühn, aber ohne Beweise vorgetragener Behauptungen halte ich für einen Krebsschaden in der Prähistorie.« 32 In dieser Hinsicht sind die mir bekannt gewordenen Besprechungen der ersten Auflage aufschlussreich: Fischer 2002; Hänsel 2001; Hansen 2001b; Heinz 2002; Moltmann 2001; Müller 2001; Schulze-Thulin 2004; Strobel 2002. die Lesbarkeit beeinträchtige, wurden gegenüber dem daraus resultierenden Nutzen als nachrangig eingestuft. Als größten Feind von Wissenschaft sehe ich jene Autoritätsgläubigkeit an, der leider viel zu selten in Seminaren bzw. in der akademischen Lehre insgesamt entgegengewirkt wird. Autoritätsgläubigkeit und ihre Steigerung zur Autoritätshörigkeit führen zu dem, was Paul Reinecke (1872-1958) bereits vor über 120 Jahren als »Krebsschaden in der Prähistorie« gegeißelt hat. 31 Die Bereitschaft, Lehrmeinungen zu akzeptieren, statt zu reflektieren, ist der Ur- und Frühgeschichtswissenschaft auch heute durchaus nicht fremd. Man könnte vielmehr beinah geneigt sein, von einem Strukturmerk‐ mal zu sprechen. Anstelle der eigenen kritischen Reflexion und Überprüfung tradierter Konzepte, Techniken, Methoden und Theorien tritt das Prinzip der Nachahmung des scheinbar Bewährten, das durch die Autorität der Zeit und der großen Namen der Sphäre der Kritik entzogen scheint. Die folgenden Darlegungen werden reichlich Stoff bieten, die Angemessenheit dieses Urteils zu überprüfen. Die merkwürdige Zurückhaltung, ja eigentlich schon Abstinenz in allem, was mit fachimmanenter Grundlagenkritik zu tun hat, habe ich immer als außerordentlich befremdlich und schädlich empfunden. Insofern mag man diese Einführung als fortwährenden Versuch auffassen, eine kritische Diskussion der hier behandelten methodologischen Fragen in Gang zu halten. 32 1.3 Allgemeine Bemerkungen 33 <?page no="35"?> 2 Prähistorische Archäologie: Zur Bestimmung einer Wissenschaft 2.1 Charakter, Gegenstand, Zielsetzung Seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts ist die Prähistorische Archäo‐ logie zu einem in den meisten Ländern mit einem differenzierten Universi‐ tätssystem fest etablierten akademischen Fach geworden. Diese erfreuliche Entwicklung war keineswegs selbstverständlich, wenn man bedenkt, dass beispielsweise Rudolf Virchow (1821-1902), einer der bedeutendsten Ge‐ lehrten des ausgehenden 19. Jahrhunderts, der auch als Prähistoriker sehr einflussreich war, sich in dieser Hinsicht sich vor dem Ende des letzten Vierteljahrhunderts ausgesprochen skeptisch äußerte. Sein bekanntes Dik‐ tum von 1873, dass »die Prähistorie kein Fach ist und wahrscheinlich keines werden wird« (Virchow 1874, VII), war ja durchaus nicht nur auf das Deutsche Reich gemünzt. Natürlich begann man damals die wirkliche Tiefe der Zeit, in die die Entwicklung des Menschen als biotisches und kulturschaffendes Wesen zurückreichte, gerade erst zu erahnen. Heute hingegen wissen wir, dass mehr als 99,5% jener Geschichte, die von den Australopithecinen Afrikas bis zu uns führt, nur über die Archäologie er‐ schließbar sind. Nichts vermag diese an sich unfassbare zeitliche Dimension besser zu veranschaulichen als der von Karl J. Narr (1921-2009) entworfene perspektivische Serpentinenweg, auf dem man in die Zeit zurückschreitet und mit jedem der unzähligen Wendepunkte 20 000 Jahre hinter sich lässt. Sein Anfang verliert sich in der Tiefe des Raumes (Abb. 1). <?page no="36"?> Abb. 1: Ein Serpentinenweg in die Tiefe der Zeit. Jeder Zug verkörpert 20 000 Jahre. - Nach Narr 1978, 8 Abb. 1. Der Archäologie fehlt es also nicht an einer Aufgabe: Gäbe es diese Wissen‐ schaft nicht, so wüssten wir verschwindend wenig über die Kulturgeschichte des Menschen. Es kommt hinzu, dass in vielen Weltteilen eine frühe schrift‐ liche Überlieferung fehlt. Dort setzt unsere historische Kenntnis erst mit dem Entdeckungszeitalter und der damit verbundenen europäischen Expansion ein. Aber noch bis in das letzte Viertel des 19. und selbst noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es vereinzelt weiße Flecken auf der Landkarte unseres Wissens. Welches Fach, so könnte man fragen, sollte uns denn beispielsweise über die Besiedlungsgeschichte des äquatorialen Regenwalds Zentralafrikas unterrichten, wenn nicht die Archäologie? Hätte es im Inneren Kongobe‐ 36 2 Prähistorische Archäologie: Zur Bestimmung einer Wissenschaft <?page no="37"?> 1 Siehe z. B. Eggert 1983; ders. 1992; ders. 1993; ders. 2014 sowie die beiden monographi‐ schen Auswertungen der Forschungsreisen in Dissertationen durch Hans-Peter Wotzka (1995) und Dirk Seidensticker (2021); für eine ausführliche englische Zusammenfassung ders. 2024 cken nicht ein großangelegtes archäologisches Flussprospektionsprojekt 1 und einige wenige andere archäologische Untersuchungen gegeben, wüss‐ ten wir über die Geschichte der Menschen, die in diesem gewaltigen Naturraum seit über zweitausend Jahren siedeln, nur das, was im Gefolge der Durchquerung Zentralafrikas in den Jahren 1873-77 durch Henry Morton Stanley (1841-1904) von europäischen Offizieren, Missionaren, Verwaltungsbeamten etc. überliefert worden ist. Die früheste Schriftquelle für das Kongobecken stellt Stanleys Reisebeschreibung Through the Dark Continent von 1878 dar; über alles, was davor liegt, vermag - soweit es die Lebenswirklichkeit der äquatorialen Bevölkerungen betrifft - ausschließlich die Archäologie kompetent zu urteilen. Dieses Beispiel illustriert den letztlich universalen Charakter des archäo‐ logischen Unterfangens: Die Archäologie ist eine ›grenzenlose‹ Wissen‐ schaft. Sie ist grenzenlos in dem Sinne, dass sie für die gesamte, in ur- und frühgeschichtlicher Zeit vom Menschen bewohnte Erde zuständig ist. Diese Konzeption einer universalen, räumlich offenen Wissenschaft wird daher auch nicht durch einen bestimmten chronologisch und kulturell definierten Inhalt eingegrenzt. Es geht ihr nicht um bestimmte Kulturen und ihre Zeit in Europa oder im Mittelmeerraum, in Afrika oder in Australien, in der Neuen Welt oder sonst wo. All diese geographischen Räume und ihre Kulturen können nicht nur Gegenstand archäologischer Forschung sein, sondern sie werden tatsächlich archäologisch erforscht. So steht denen, die dieses Faches studieren - grundsätzlich betrachtet - die archäologische Welt offen; wie dies allerdings in der Realität aussieht, ist von sehr vielen Faktoren abhängig. Jedes wissenschaftliche Fach ist unlösbar mit der Frage nach seinem Ziel und dem Sinn seines Bemühens verbunden. Diese Frage ist damit ein Teil des Selbstverständnisses jener, die die entsprechende Wissenschaft zu ihrem Beruf gemacht haben. Bisweilen, insbesondere im deutschen Sprachraum, wird diese fachspezifische ›Sinnfrage‹ nicht nur als eine fachimmanente Positions- und Kursbestimmung begriffen, sondern mit einem angeblich der Menschennatur inhärenten Drang nach rückwärtsgewandter Selbstver‐ gewisserung verknüpft. In diesem Sinne verstand Hermann Müller-Karpe (1925-2013) seine Einführung in die Vorgeschichte (1975, 8) als einen Ver‐ 2.1 Charakter, Gegenstand, Zielsetzung 37 <?page no="38"?> 2 Hachmann 1957, 9. such, der »einem elementaren allgemeinmenschlichen Erkenntnisanliegen« dienen sollte. Rolf Hachmann (1917-2014) sprach im Vorwort seiner Habi‐ litationsschrift unter Berufung auf den Psychologen und Philosophen Karl Jaspers (1883-1969) die Frage einer Sinnbestimmung der Gegenwart an. Wenn denn die Menschheit einen einzigen Ursprung und ein Ziel habe, dann komme der Urgeschichte eine »besondere Bedeutung« zu; sie habe als ein Teil der allgemeinen Geschichte »ihren höheren Sinn«, denn in ihr lägen der Ursprung und die ersten Etappen des langen Weges der Menschheit: »An die Urgeschichtsforschung wendet sich daher zunächst die Frage: ›Woher kommt die Fahrt? ‹, wenn die andere Frage: ›Wohin geht die Reise? ‹ beantwortet werden soll.« 2 Derartige an die spezifisch menschliche ›Natur‹ appellierende und ins Ge‐ schichtsphilosophische gewendete Antworten auf die ›Sinnfrage‹ sind weit verbreitet. So richtig es ist, dass sich wohl alle menschlichen Gemeinschaften in dieser oder jener Form mit der Deutung ihres Daseins auseinandersetzen, so gilt doch auch, dass die Archäologie als spezifisches historisches Phäno‐ men damit nicht hinreichend bestimmt werden kann. Im Gegensatz zu Ur‐ sprungsmythen und anderen vorwissenschaftlichen Formen sinnstiftender, kollektiver Selbstvergewisserung ist sie ein Spross der zwar in der Antike wurzelnden, jedoch erst in der Neuzeit dominant werdenden säkularisierten, rationalen Weltsicht und Welterklärung. Die Archäologie ist eine Frucht am Baume der Wissenschaft und gehört damit in einen geistesgeschichtli‐ chen Zusammenhang, in dem historische Zeugnisse zunehmend als ein zu schützendes und zu erforschendes Gut begriffen wurden. Das galt und gilt auch für die Hinterlassenschaften längst vergangener Kulturen, und es ist heute im Prinzip weltweit anerkannt, dass ein öffentliches Interesse besteht, sie nicht achtlos zu zerstören, sondern zu erhalten. Wo immer das nicht möglich ist, sind sie als historische Quellen fachgerecht zu untersuchen und zu dokumentieren. Die Prähistorische Archäologie ist zwar im Verlaufe des 19. Jahrhunderts im Rahmen von nationalstaatlichen Vorstellungen und Bestrebungen in Mittel- und Nordeuropa entstanden, aber der heute gängige gesellschaftlich anerkannte und gesetzlich geregelte Schutz ur- und frühgeschichtlicher Quellen ist diesem ›vaterländischen‹ Kontext natürlich nicht mehr verpflichtet. Das bedeutet allerdings nicht, dass die ur- und frühgeschichtliche Vergangenheit nicht häufig für nationalistische Ziele politisch missbraucht wurde bzw. wird. Die auch heute durchaus nicht 38 2 Prähistorische Archäologie: Zur Bestimmung einer Wissenschaft <?page no="39"?> unbekannte politische Instrumentalisierung resultiert aus der Tatsache, dass gerade das nationale archäologische Kulturerbe für die Konstruktion einer fiktiven, mythisch überhöhten kollektiven Identität besonders geeignet erscheint. Dass sich dafür auch ur- und frühgeschichtliche Erscheinungen eignen, die in ihrer Verbreitung die Grenzen moderner Nationalstaaten überschreiten, ist im Zeichen der Europäischen Union allgegenwärtig. Sehen wir einmal von der Tatsache der von den Fachinstitutionen und ihren Re‐ präsentanten leider nur allzu oft unterstützten Nutzung der Vergangenheit für politische Zwecke ab, lässt sich feststellen, dass der Archäologie die Antwort auf die ›Sinnfrage‹ leichtfällt; es mangelte ihr durchaus nicht an Argumenten, wenn sie denn ihre Existenz rechtfertigen müsste. Mehr noch, sie hätte allen Grund, gelegentlich etwas offensiver aufzutreten. Die Archäologie ist, wie gesagt, eine ›grenzenlose‹ Wissenschaft in dem Sinne, dass sie sich der Erforschung vergangener Kulturen auf der Basis ihrer materiellen Hinterlassenschaften widmet, in welchem Erdteil auch immer diese Kulturen einstmals entstanden sind und existiert haben. Mit der prinzipiellen räumlichen Offenheit verbindet sich eine a priori ebenso offene zeitliche und kulturelle Dimension. Der Gegenstand der Archäologie reicht von den frühesten Hominiden Afrikas bis zu den Wikingern Nordeuropas und von den frühen arktischen Jägerkulturen Alaskas bis zu den Urein‐ wohnern Australiens. In ihren besonderen Ausprägungen als Colonial und Historical Archaeology, beispielsweise in Nordamerika, oder als Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit in Europa greift diese Wissenschaft sogar weit über ihren traditionellen Gegenstandsbereich hinaus. Kann die Ur- und Frühgeschichtliche Archäologie daher sowohl nach ihrem Gegenstand als auch nach ihrem zeitlichen und räumlichen Forschungsbereich als ungewöhnlich vielfältig gelten, gibt es doch andererseits Aspekte, die diesen Eindruck der ›Universalität‹ trüben könnten. So definiert sich das Fach nicht positiv über einen zentralen Aspekt seiner Zielsetzung, sondern letztlich negativ über ein Charakteristikum seiner Quellenbasis, nämlich über das vollständige bzw. weitgehende Fehlen von Schriftquellen. Dies scheint nicht recht zu einer so umfassend angelegten Wissenschaft zu passen. Sieht man jedoch näher hin, zeigt sich, dass die Natur der ur- und frühgeschichtlichen Quellen das Fach tatsächlich in einem fundamentalen Maße bestimmt. Das allgemeine Ziel der Archäologie besteht in einer möglichst umfas‐ senden Erforschung jener Zeiten, die nicht oder jedenfalls nicht ausreichend durch Schriftquellen erhellt sind. Wie bereits einleitend festgestellt, ist der Begriff ›Urgeschichte‹ gleichbedeutend mit ›schriftlose Zeit‹, während 2.1 Charakter, Gegenstand, Zielsetzung 39 <?page no="40"?> 3 Siehe hierzu Eggert 2003b; ders. 2014d. 4 Zur Ausbreitung des Alphabets Röllig 1998; zum gesamten Fragenkomplex Haarmann 1990; Kuckenburg 1996. ›Frühgeschichte‹ einen Zeitraum meint, für den zwar schon einige wenige Schriftquellen zur Verfügung stehen, dessen Erforschung aber in erster Linie auf der Basis nicht schriftlicher Zeugnisse erfolgen muss. Das Fehlen bzw. der Mangel an schriftlichen Dokumenten ist nicht durch irgendwelche sekundären Prozesse - etwa durch die mangelhafte Erhaltung von Schrift‐ trägern aus organischen Materialien - bedingt; Schriftquellen sind allein deswegen nicht vorhanden bzw. äußerst rar, weil sie im einstigen Kulturzu‐ sammenhang entweder gänzlich oder doch weitgehend unbekannt waren. Wird Schrift zum Kriterium einer Differenzierung der Quellen als auch der Wissenschaft gemacht, führt das automatisch zu weiteren Konsequenzen. 3 Die Erfindung von Schriftsystemen ist immer an einen bestimmten geogra‐ phischen Ort gebunden. Die Verbreitung der zugehörigen Fertigkeit des Schreibens und Lesens erfolgte im Allgemeinen nur sehr langsam. Das lässt sich recht gut für den vorderasiatisch-ostmediterranen Raum zeigen, in dem eine lange Phase der Entwicklung verschiedener Schriftsysteme schließlich um die Mitte des 2. Jahrtausends v. Chr. im Bereich der Levanteküste zur Schaffung einer Buchstabenschrift und ihrer schrittweisen Durchsetzung geführt hat. 4 Aus der Tatsache der allmählichen Ausbreitung des Lesens und Schreibens in der Alten Welt folgt, dass die so definierte Grenze zwischen ›Urgeschichte‹ und ›Frühgeschichte‹ sowohl räumlich als auch zeitlich fließend ist. Während beispielsweise in Ägypten die ›Urgeschichte‹ bereits um etwa 3000 v. Chr. endet und die ›Frühgeschichte‹ einsetzt, liegt der gleiche Übergang in Nordeuropa im 11. und 12.-Jahrhundert n. Chr. Die Archäologie hat es primär mit Erscheinungen zu tun, die ausschließ‐ lich durch materielle Hinterlassenschaften greifbar werden. Die Möglich‐ keit, die hinter den materiellen Relikten stehenden menschlichen Gemein‐ schaften wissenschaftlich erfahrbar zu machen, wird durch die besondere Natur der archäologischen Quellen bestimmt. Bei diesen Quellen handelt es sich in allererster Linie um Kleinfunde oder ›Kleinaltertümer‹, also um bewegliches Sachgut. Die Stärke, aber auch die Begrenztheit der Archäologie liegt daher auf dem Gebiet der sogenannten ›materiellen Kultur‹ und jener Lebensbereiche, die in irgendeiner Form materialisiert bzw. über diese materielle Kultur erfassbar sind. Schon bei der Erforschung konkreter, das heißt individueller, in Zeit und Raum klar fixierter archäologischer Erschei‐ 40 2 Prähistorische Archäologie: Zur Bestimmung einer Wissenschaft <?page no="41"?> 5 So z.-B. Veit 1990; ders. 1995; Eggert 1998b/ 2011. 6 Mühlmann/ Müller 1966b, 11. nungen erweist sich die Archäologie notgedrungen als ein den Einzelfund und Einzelbefund transzendierendes Fach. Erst der Bezug zu gleichen oder ähnlichen sowie zu andersartigen Erscheinungen ermöglicht es, ein bestimmtes Phänomen adäquat zu erkennen. Somit ist die Archäologie eine Wissenschaft, die zwar auf je konkreten Funden und Befunden beruht, zugleich aber für jedwede Erkenntnis von vornherein und grundsätzlich auf den Vergleich angewiesen ist. 2.2 Kulturanthropologische Dimension Obwohl die Notwendigkeit vergleichenden Arbeitens im umrissenen Sinne allgemein anerkannt ist, hat man die Ur- und Frühgeschichtswissenschaft in den europäischen, insbesondere den deutschsprachigen Ländern nur höchst selten mit einem darüberhinausgehenden komparativen Kontext in Verbindung gebracht. ›Kulturvergleich‹ meinte dabei lediglich den syn‐ chronen und diachronen Vergleich ›archäologischer Kulturen‹ untereinan‐ der. Erst in den 1990er Jahren wurden vermehrt Stimmen laut, die das Fach in einen explizit kulturvergleichenden Zusammenhang stellten. 5 Die Archäologie bedürfe, so die damalige These, aus methodologischen Gründen einer kulturanthropologischen Perspektive. Diese Perspektive müsse auf das komparative Studium der Kulturenvielfalt gegründet sein, die mit Wilhelm E. Mühlmann (1904-1988) und Ernst W. Müller (1925-2013) als ein Charakteristikum der Spezies Homo sapiens gelten kann. 6 Die beiden Ethnologen begriffen Kulturunterschiede und damit die Mannigfaltigkeit der Kulturen als »typische Chancen menschenmöglichen Verhaltens« und nutzten sie zugleich als Schlüssel zum »Wesen des Menschen«. Diese beiden Aspekte der anthropologischen Betrachtung - der empirische Befund 2.2 Kulturanthropologische Dimension 41 <?page no="42"?> 7 Wenn ich den Begriff ›kulturanthropologisch‹ im Zusammenhang mit der Archäologie verwende, dann bedeutet dies durchaus nicht, dass ich mich damit dem von Mühl‐ mann (1966) im Einzelnen entworfenen, jedoch nicht realisierten Programm einer ›Kulturanthropologie‹ in allen Punkten anschließe. Entscheidend für meine Begriffs‐ wahl ist vielmehr das vergleichende Studium kultureller Manifestationen aus einer anthropologischen Perspektive; diese Perspektive ist auf die Erkenntnis des Menschen als kulturfähiges und wesentlich kulturbestimmtes Wesen gerichteten. Beides wird durch den Terminus ›Kulturanthropologie‹ und seine Ableitungen hinreichend klar und überdies besser als durch jede andere Bezeichnung zum Ausdruck gebracht. - Zur Begriffsgeschichte konsultiere man auch Stagl 1981, 11 ff. 8 Diese Thematik wird unten wieder aufgenommen und in einen größeren methodolo‐ gischen Zusammenhang gestellt werden; siehe Kap. 14.4; 14.5; 14.6; 14.7; 14.8; 15.1; 15.2; 15.3 9 Hierzu im Einzelnen Eggert 1998b; ders. 1998c/ 2011; ders. 1999/ 2023; ders. 2003a/ 2023; Eggert/ Samida 2022, 52 ff. und die wissenschaftliche Fragestellung - begründeten für Mühlmann und Müller die Kulturanthropologie als eigenständiges Fach. 7 Um die Ur- und Frühgeschichtswissenschaft mit einer kulturanthropolo‐ gischen Betrachtungsweise zu verbinden, bedarf es näherer Ausführungen; hier müssen einige wenige grundsätzliche Bemerkungen genügen. 8 Die von mir vertretene Auffassung geht davon aus, dass die Archäologie in erkenntnistheoretischer Hinsicht nicht autark, sondern angesichts ihrer spezifischen Quellenlage grundsätzlich - und stärker als jede andere histo‐ rische Wissenschaft - auf das Prinzip des Analogieschlusses angewiesen ist. 9 Pragmatisch gesehen handelt es sich bei ihren Quellen um meist dingliche kulturelle Manifestationen des animal symbolicum (Mühlmann 1966, 16). Wirkt diese Tatsache einerseits einschränkend, so liegt darin andererseits ein enormes kulturanthropologisches Potential: Nur die Urgeschichtswis‐ senschaft vermag jene kulturellen Manifestationen des Menschen zu er‐ schließen, die sich jenseits jener Schwelle befinden, die die Erfindung der Schrift markiert. Gilt dies für die gesamte, ungeheure Tiefe der Zeit bis zu den Anfängen der Herausbildung des Menschen, so gilt es nicht minder in geographischem Sinne: Auch nach Erfindung der Schrift wird die Vergangenheit des in jenen Räumen siedelnden Menschen, die nicht durch Schriftzeugnisse erhellt werden, nur durch die Archäologie erschließbar. Dabei liegt die Schwelle zwischen Urgeschichte und Geschichte in manchen Weltgegenden - etwa, wie oben ausgeführt, in Zentralafrika - im 19. Jahr‐ hundert. Somit trifft zu, dass die Ur- und Frühgeschichtswissenschaft in pragma‐ tischer Hinsicht eine wichtige Komponente im Rahmen jener Fächer ist, 42 2 Prähistorische Archäologie: Zur Bestimmung einer Wissenschaft <?page no="43"?> 10 Dazu Eggert 2006, 37 ff. 11 Mit der »kognitiven Identität der Ur- und Frühgeschichtsforschung« hat Veit sich auch in einer weiteren grundlegenden Arbeit beschäftigt (Veit 2001). 12 Siehe zum Kulturbegriff jetzt auch Eggert 2013a; ders. 2014c/ 2023; Wotzka 2014. die sich aus einem historisch-vergleichenden Blickwinkel mit Kulturen und Kultur beschäftigen. In diesem Sinne lässt sie sich einerseits als ›Kulturwis‐ senschaft in historischer Absicht‹ und andererseits als ›Paläohistorie in kulturwissenschaftlicher Absicht‹ umschreiben. 10 Ein solches Archäologie‐ verständnis besitzt hierzulande jedoch keine Tradition. Ulrich Veit (1995, 139) hat zu Recht festgestellt, die deutsche Ur- und Frühgeschichtswissen‐ schaft - übrigens ganz im Geiste ihrer traditionellen Fachbezeichnung - verstehe sich in erster Linie als ein Teilbereich der Geschichtswissenschaf‐ ten. 11 Allerdings fügte er einschränkend hinzu, diese Zuordnung bleibe in der Praxis weitgehend unverbindlich. In der Tat gibt es von Seiten der deutschsprachigen Archäologie kaum eine grundsätzliche Erörterung der Voraussetzungen, Möglichkeiten und Grenzen, die aus dieser Zuordnung folgen oder folgen sollten. Die Reflexion geht, wie Veit zutreffend bemerkte, nur selten über ein pragmatisches Verständnis des Historischen hinaus: Bodenfunde seien materielle Zeugnisse der Vergangenheit und begründeten damit den historischen Charakter der Archäologie. Diese pragmatische Betrachtungsweise kennzeichnet auch das Verständnis vieler Grund- oder Leitkonzepte der Archäologie. Das lässt sich unter anderem am Kulturbegriff zeigen, der in der Ur- und Frühgeschichtswissenschaft gemeinhin auf das ausgrabbare Materielle und seine zeitliche und räumliche Ordnung reduziert wird (Eggert 1978b/ 2011). 12 Die von Veit (1995, 139) zurückgewiesene »allzu harmonische Eingemein‐ dung« der Archäologie in die Geschichtswissenschaft traditioneller Prägung stellt also kaum mehr als eine oberflächliche, die wirkliche Problematik bestenfalls streifende Zuschreibung dar. Diese Tatsache ist bereits von Narr (1990, 304) in seiner kritischen Bestandsaufnahme der westdeutschen Prähistorischen Archäologie nach 1945 betont worden. Er beklagte, dass man gerade für die älteren Zeiten des Öfteren betone, »Kulturgeschichte« schreiben zu wollen, wobei allerdings zumeist offenbleibe, was das wirklich heißen solle. Seiner Feststellung, dass es »zu einer fruchtbaren Auseinan‐ dersetzung im Spannungsfeld anthropologischer und historischer Aspekte« jedenfalls »lediglich marginal und in Ansätzen« gekommen sei, wird man nichts entgegensetzen können. Sein weiterer Hinweis, »die Erörterung 2.2 Kulturanthropologische Dimension 43 <?page no="44"?> 13 So richtig die Aussage ist, dass die von Narr genannten zentralen Aspekte des Faches nicht von den Interessen der Archäologischen Denkmalpflege dominiert sein sollten, so sehr bedarf doch deren anschließende Qualifizierung einer Korrektur. Es ist unbestrit‐ ten, dass die staatliche Bodendenkmalpflege in einer Reihe von Bundesländern - nicht zuletzt in Baden-Württemberg - außerordentlich fruchtbare, qualitativ herausragende Forschungsprojekte initiiert, durchgeführt und die entsprechenden Forschungsberei‐ che teilweise sogar institutionalisiert hat. Für Baden-Württemberg möge hier ein Verweis auf die ›Feuchtboden-Archäologie‹ mit der Arbeitsstelle der Archäologischen Denkmalpflege des Landesamtes für Denkmalpflege in Hemmenhofen genügen. 14 Zur Außensicht konsultiere man z.-B. Härke 1991. 15 Siehe U. Fischer 1987; zur gesamten Problematik neuerdings Eggert 2020. theoretischer Fragen« werde »durchweg gemieden oder als unnütz abge‐ lehnt«, trifft die Realität heutzutage jedoch bei weitem nicht mehr so wie noch 1990, als Narr seinen Beitrag veröffentlichte. Dennoch wird man ihm zustimmen, wenn er eine Kulturwissenschaft für revisionsbedürftig hält, deren Selbstverständnis so gering entwickelt ist, dass sie ihre Orien‐ tierungen und Ziele lediglich in floskelhaft vagen Worten zu umschreiben vermag. Die wesentliche Aufgabe der Ur- und Frühgeschichtswissenschaft besteht seines Erachtens darin, die nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzende »Dominanz ›antiquarischer‹ Forschung« (ebd. 294) zu überwinden. Es gelte, jene Ansätze der letzten Jahrzehnte, die über das Antiquarische hinauswie‐ sen, voranzutreiben und überdies »umfassenderen, vergleichenden und theoretischen Untersuchungen« einen Platz im allgemeinen »Verständnis von Forschung« und »Forschungsförderung« einzuräumen. Gerade die an den Universitäten betriebene Ur- und Frühgeschichtliche Archäologie müsse darauf achten, dass »Inhalt, Umfang und Ziel ihrer Wissenschaft nicht überwiegend von einer Bodendenkmalpflege bestimmt werden, die zum gesetzlich sanktionierten Selbstzweck« zu werden drohe. 13 Angesichts der von Narr kritisierten Ausrichtung ist es nicht erstaun‐ lich, dass die deutsche bzw. deutschsprachige Prähistorische Archäologie im Urteil des westlichen, insbesondere des englischsprachigen Auslandes als ausgesprochen traditionell galt. Mit dieser Einschätzung verband sich durchaus auch der Vorwurf eines recht ausgeprägten Provinzialismus. 14 Veits (1995, 139 f.) Appell zugunsten einer stärkeren Anbindung des Faches an die Ethnologie bzw. Kulturanthropologie eröffnet zum einen dem auch von Narr geforderten komparativen Forschungsansatz ein weites Betäti‐ gungsfeld. Zum anderen gehört die Archäologie zu jenen Wissenschaften, deren interdisziplinäre Verknüpfung als Notwendigkeit wie als Chance begriffen werden sollte. Die antiquarische Selbstgenügsamkeit, 15 wie sie in 44 2 Prähistorische Archäologie: Zur Bestimmung einer Wissenschaft <?page no="45"?> 16 Nipperdey 1973. 17 Vierhaus 1989, 135. 18 Hardtwig/ Wehler 1996. 19 Oexle 1996. 20 Nippel 1982; ders. 1988; ders. 1990 manchen Kreisen des Faches immer noch vertreten wird, reduziert das der Archäologie - und nur ihr - eigene spezifische historische Potential auf das Niveau einer pseudo-historischen Realienkunde. Betrachtet man diese Selbstbeschränkung aus einer fachübergreifenden Perspektive, dann ist klar, dass mit einer derartigen Ausrichtung kein nennenswerter Beitrag zum historischen und kulturanthropologischen Uni‐ versum zu leisten ist. Auf der anderen Seite sollte in diesem Zusammenhang auch nicht unerwähnt bleiben, dass die intensive ›postmoderne‹ archäolo‐ gische Theoriediskussion vor allem in Großbritannien zu mancherlei Aus‐ wüchsen führte, die die Archäologie als Wissenschaft in Frage stellen (hierzu Eggert/ Veit 1998). Sowohl die stark antiquarisch geprägte Archäologie des deutschen Sprachraums als auch die postmoderne angelsächsische Variante ließen sich bereits gegen Ende des 2. Jahrtausends als Extrempositionen begreifen, deren Grenzen offen zutage lagen. Wie im Theoriekapitel am Ende dieses Buchs zu zeigen sein wird, gibt es inzwischen nicht nur im englischsprachigen Raum, sondern auch hierzulande neuere Ansätze einer ausgeprägten ›praxistheoretischen‹ oder ›praxeologischen‹ Zielsetzung. Sie sind in starkem Maße von sozialphilosophischen Lehren geprägt. Vor dem Hintergrund des scheinbar Identität stiftenden, pauschalen Bekenntnisses der Archäologie zu den Geschichtswissenschaften mutet es wie Ironie an, dass von Historikern seit rund einem halben Jahrhundert - etwa Thomas Nipperdey (1927-1992) 16 -, besonders nachdrücklich aber in den späten 1980er und den 1990er Jahren, eine Neuorientierung im Sinne einer ›Anthropologisierung‹ gefordert wird. So hat Rudolf Vierhaus (1922- 2011) »eine historische Kulturwissenschaft sozial- und kulturanthropologi‐ scher Prägung« angemahnt 17 und Wolfgang Hardtwig und Hans-Ulrich Wehler (1931-2014) haben einen Sammelband herausgegeben, 18 in dem die Besinnung auf »ältere deutsche Traditionen einer Historischen Kultur‐ wissenschaft« mit dem Nachdenken über eine »neue Kulturgeschichte« einhergeht (dies. 1996a, 13). Otto Gerhard Oexle (1939-2016) legte in diesem Band den Entwurf einer »Geschichte als Historische Kulturwissenschaft« vor. 19 In explizit komparativer Absicht hat sich Wilfried Nippel in einer Reihe von Arbeiten 20 um die gegenseitige Erhellung von Alter Geschichte und - 2.2 Kulturanthropologische Dimension 45 <?page no="46"?> 21 Etwa Finley 1954; ders. 1975. 22 Siehe z.-B. Eggert 1999/ 2023. wie er formuliert - »Sozialanthropologie« bemüht. Es verwundert nicht, dass diese und ähnliche Untersuchungen und Appelle vor allem aus jenen Fächern kommen, die sich wie die Alte und Mittlere Geschichte mit dem vorneuzeitlichen Menschen befassen. Im englischsprachigen Bereich war ein entsprechendes Wissenschaftsverständnis bereits seit längerem in den Arbeiten von Althistorikern wie Moses I. Finley (1912-1986) 21 und Sarah C. (»Sally«) Humphreys (1983) präsent. Ein Blick auf die gegenwärtige Grundfragendiskussion in der deutschen Geschichtswissenschaft zeigt also, dass sich die Archäologie mit dem hier vertretenen Bemühen um eine kulturwissenschaftlich inspirierte Standort- und Zielbestimmung in guter Gesellschaft befindet. Die Durchsetzung eines kulturanthropologischen Archäologieverständnisses sieht sich aber mancherlei Widerständen gegenüber. 22 Dennoch ist offenkundig, in welche Richtung der Weg führt, der mit dem auch hierzulande immer stärker werdenden Interesse an Grundlagen und zentralen Zielen der Archäologie beschritten worden ist. Zum einen muss das Fach aus seiner selbstgewählten Isolierung heraus- und in einen theoriebezogenen Dialog mit anderen Ge‐ schichts- und Kulturwissenschaften eintreten. Zum anderen ist es genauso unerlässlich, der ständig steigenden Tendenz einer immer weitergehenden Fragmentierung der Erkenntnisse in zunehmend irrelevantes Einzelwissen entgegenzuwirken. Ein derartiges Einzelwissen ist nur noch für immer stärker spezialisierte Fachzirkel interessant und degeneriert schließlich zu einem zunehmend esoterisch werdenden Selbstzweck. Im Gegensatz dazu sollte es meines Erachtens das Ziel der Archäologie sein, sich auf ihre Rolle in den Kultur- und Geschichtswissenschaften zu besinnen und ihre Zielsetzung so auszurichten, dass ihre Erkenntnisse einen wesentlichen und nur durch sie zu leistenden Beitrag zum »Menschen im Zustand der Schriftlosigkeit« (Narr 1974, 125) darstellen. Ein solcher Beitrag muss in seinem Reflexions- und Abstraktionsniveau von vornherein auf eine Integration in den Kanon historisch-kulturanthropologischen Wissens abgestimmt werden. Es bedarf also grundsätzlich einer den eigenen Horizont transzendierenden Einbin‐ dung der Archäologie als Wissenschaft in den großen Bereich der kultur‐ wissenschaftlichen Fächer. Dass damit zugleich auch die Überwindung eines nur regionalen oder nationalen Blickwinkels verknüpft ist, liegt auf der Hand. Narr (1990, 305) hat in diesem Zusammenhang von einer Hinwendung 46 2 Prähistorische Archäologie: Zur Bestimmung einer Wissenschaft <?page no="47"?> 23 Gero Merhart von Bernegg wurde und wird in der Literatur meist nur als ›Gero von Merhart‹ oder ›Gero v. Merhart‹ bezeichnet. zu einer zu stark ins Hintertreffen geratenen »Universalität« gesprochen. Wie er bin ich der Meinung, dass diese Universalität sich am ehesten durch einen »anthropologischen Ansatz der Urgeschichtsforschung« (ebd.) erreichen lässt. 2.3 Ur- und Frühgeschichte als Universitätsfach Die Prähistorische Archäologie widmet sich der Erforschung vergangener Kulturen auf der Grundlage materieller nicht-schriftlicher Zeugnisse. Um aus dem Sachgut und den Befunden verschiedenster Art historische Er‐ kenntnisse über die Menschen, die diese Quellen hinterlassen haben, zu ge‐ winnen, bedarf es der Hilfe jener Fächer, die den Menschen als Kulturwesen nicht nur indirekt, sondern direkt bzw. auf der Grundlage solcher Quellen erforschen, die sui generis Aussagen erlauben. Hier ist vor allem die sich zumeist mit außereuropäischen ›traditionellen‹ Gesellschaften befassende Ethnologie heranzuziehen; zu berücksichtigen sind aber auch die sich mit frühen mediterranen Kulturen befassende Alte Geschichte sowie generell alle historisch bzw. soziologisch ausgerichteten Kulturwissenschaften. Aus dieser Sicht ist es besonders schmerzlich, dass die deutsche Ur- und Früh‐ geschichtswissenschaft im Gegensatz vor allem zur amerikanischen Prähis‐ torischen Archäologie nicht in einer kulturanthropologischen, sondern in einer germanistisch-altertumskundlichen bzw. historischen Tradition steht. Das gilt jedenfalls für die Erforschung der Jüngeren Urgeschichte, also des Neolithikums und der Metallzeiten. Dessen ungeachtet sollte heute eine be‐ tonte Hinwendung des Fachs zu den vergleichenden Kulturwissenschaften angestrebt werden. Die Ur- und Frühgeschichtliche Archäologie ist an zahlreichen deutschen Universitäten als eigenständige Wissenschaft vertreten. Ihre endgültige akademische Etablierung erfolgte aber erst relativ spät: Im Jahre 1927 hat das Preußische Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung zur Feier des 400. Jahrestages der Gründung der Philipps-Universität Marburg in Deutschland das erste planmäßige selbständige Ordinariat für Vorge‐ schichte eingerichtet und 1928 mit Gero Merhart von Bernegg (1886-1959) besetzt. 23 Damit wurde das Vorgeschichtliche Seminar in Marburg - wie 2.3 Ur- und Frühgeschichte als Universitätsfach 47 <?page no="48"?> 24 Die Universitätsinstitute hießen bei uns traditionell meist Institute oder Seminarefür Ur- und Frühgeschichte (oder, in synonymer Verwendung, Vor- und Frühgeschichte). In den letzten Jahren vollzog sich in Bezug auf die Bezeichnung der Institute jedoch ein Wandel (siehe die Zusammenstellung der Fachinstitute in Deutschland, Österreich und der Schweiz in Eggert/ Samida 2022, 335 f.). Im Hinblick auf die Bezeichnung anderer archäologischer Fächer an deutschen Universitäten (Klassische Archäologie, Biblische Archäologie, Christliche Archäologie, Vorderasiatische Archäologie, Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit) und den internationalen Sprachgebrauch ziehe ich, wie in der Einleitung ausgeführt, die Bezeichnung Ur- und Frühgeschichtliche Archäologie vor. Zu den traditionellen Fachbezeichnungen siehe Jacob-Friesen 1951, zur neueren Diskussion Ament 1996; Urban 1996; Fetten 1998; Hoika 1998. 25 Hierzu Pape 2002, 168-170 mit Abb. 4 u. 7. es auch heute noch in einer Klammerbemerkung im Gegensatz zu den meisten anderen Fachinstituten heißt 24 - unter seinem ersten Direktor v. Merhart gleichsam die Keimzelle für die allgemeine Anerkennung der Ur- und Frühgeschichte als eigenständiges akademisches Lehrfach (Sangmeister 1977; Dehn 1977). Die späte Aufnahme der ›Ur- und Frühgeschichte‹ in den Kanon der durch ordentliche Professuren vertretenen Universitätsfächer besitzt jedoch auch einen Aspekt, den man nach 1945 zu vergessen suchte und den man erst seit kurzem systematisch zu erforschen beginnt. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahre 1933 wurden zahlrei‐ che neue Professuren für Urbzw. Vor- und Frühgeschichte geschaffen - zweifellos wesentlich motiviert durch die Tatsache, dass der ›germanischen Vorgeschichte‹ in der nunmehr herrschenden Weltauffassung eine ideolo‐ gische Funktion beigemessen wurde. 25 Obwohl ein beträchtlicher Teil der an deutschen Universitäten und ande‐ ren Fachinstitutionen tätigen Ur- und Frühgeschichtswissenschaftler nach 1945 durch ihr teils bedingungsloses Engagement für die Ziele der national‐ sozialistischen Ideologie kompromittiert war, hatte das nur in sehr wenigen Fällen zur endgültigen Entlassung aus dem Dienst geführt (Pape 2002, 192). In dem durch allgemeine Anpassung, Verdrängung und Stillschweigen geprägten Nachkriegsklima wuchs dem Marburger Ordinariat bzw. der in diesem Institut durch v. Merhart begründeten Schule eine ungewöhnliche Bedeutung zu. Merhart selbst hatte in kritischer Distanz zum Nationalso‐ zialismus gestanden. Eine im Jahre 1936 von Hans Reinerth (1900-1990), dem ›Führer‹ des Reichsbunds für Deutsche Vorgeschichte, angezettelte Verleumdungskampagne zermürbte ihn psychisch und physisch. Darüber hinaus war Reinerth auch insofern erfolgreich, als Merhart 1938 zunächst beurlaubt und schließlich 1941 vorzeitig pensioniert wurde (Schlegelmilch 48 2 Prähistorische Archäologie: Zur Bestimmung einer Wissenschaft <?page no="49"?> 26 Zur Rolle der Ur- und Frühgeschichte während des Nationalsozialismus siehe die grund‐ legenden Dissertationen der beiden Historiker Reinhard Bollmus (1970) und Michael H. Kater (1974). In den Jahren nach der Jahrtausendwende wurde allerdings deutlich, dass beide Autoren durch Interviews mit Zeitzeugen erheblich zur Stabilisierung der bald nach 1945 einsetzenden Mythenbildung über die Verstrickung bzw. Nichtverstrickung von führenden Ur- und Frühgeschichtlern in das NS-System beigetragen haben (siehe hierzu Pape 2002, 184 f.; Strobel 2011, 280 f.; Schlegelmilch 2012, 12, 18). An weiterer Literatur zur generellen Problematik ferner: Arnold 1990; dies. 1997/ 98; Arnold/ Hass‐ mann 1995; Halle 2002; Haßmann/ Jantzen 1994; Junker 1998; Keefer 1992; Kuhnen 2002; Leube 2002; Mahsarski 2011; McCann 1994; Müller-Wille 1994; Steuer 2001; 2004; Wiwjorra 1996. Zum grundsätzlichen zeithistorischen Zusammenhang Schöttler 1999. 27 Schlegelmilch 2012, 15; Kossack 1977; 1986a; Sangmeister 1977. 28 Ebert, der als Herausgeber des monumentalen, 14 Bände umfassenden Reallexikon der Vorgeschichte (1924-29; ein Registerband erschien 1932) eine internationale Reputation erlangt hatte, war 1927 als Nachfolger von Kossinna auf ein persönliches Ordinariat nach Berlin berufen worden (Gummel 1938, 384; 412). 2012, 14 f.). 26 Nach 1945 nahm er für einige wenige Semester seine Lehrtä‐ tigkeit wieder auf. 27 . Die meisten seiner ehemaligen Studenten, die den Krieg überlebt hatten, waren politisch weitgehend unbelastet. Dies und die Tatsa‐ che, dass sie Merhart-Schüler waren, kam ihrer beruflichen Karriere zugute. Viele andere Prähistoriker, darunter durchaus auch ›Belastete‹, wendeten sich zwischen 1945 und 1949 an ihn mit der mehr oder weniger direkten Bitte um ›Persilscheine‹. Wo immer es ihm persönlich noch vertretbar erschien, erfüllte er solche Bitten dann, wenn er die Reintegration der entsprechenden Personen für die Zukunft des Fachs als wesentlich erachtete (Schlegelmilch 2012). Verschiedene Faktoren führten zu einer Dominanz von ›alten‹ aber auch jüngeren ›Marburgern‹ an den Universitäten und in anderen Fachinstituti‐ onen in der Bundesrepublik Deutschland während der ersten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg. Durch die Tatsache, dass sie über die erste ordentliche Professur für Vorgeschichte bzw. Vor- und Frühgeschichte verfügte, hatte die Universität Marburg von Anfang an einen Vorsprung gegenüber jenen Hochschulen, an denen das Fach erst nach 1933 eingerich‐ tet wurde. Zum andern spielte eine Rolle, dass nach plötzlichem Tod von Max Ebert (1879-1929) einige seiner begabtesten Studenten von Berlin nach Marburg wechselten. 28 Außerdem ist zu berücksichtigen, dass v. Merhart offenbar ein hervorragender Lehrer war, dessen Stoffbeherrschung und ideologiefreie Perspektive nicht nur von seinen Studenten hochgeschätzt wurde. Und schließlich trug die Reputation, die mit dem Namen v. Merharts als Mensch und Hochschullehrer im privaten, wie im öffentlichen Wirken 2.3 Ur- und Frühgeschichte als Universitätsfach 49 <?page no="50"?> 29 Hierzu Kossack 1986a; Sangmeister 1977, 32 f. Anl. 1. 30 In der Deutschen Demokratischen Republik war - wenn ich richtig sehe - mit Werner Coblenz (1915-1995) als langjährigem Direktor des Landesmuseums für Vorgeschichte in Dresden (bis 1982) nur ein einziger Merhart-Schüler in führender Stellung tätig. Coblenz war kein Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) (Beh‐ rens 1984, 19). Die Ur- und Frühgeschichtswissenschaft in der DDR verdiente ebenfalls eine umfassende Untersuchung. Hierzu vorerst Behrens 1984; ders. 1990; ders. 1999 (mit Literaturliste); Coblenz 1998. 31 Siehe dazu die knappe Skizze bei Eggert 1994/ 2011, 234 ff. verbunden war, dazu bei, dass ihn unmittelbar nach dem Kriege eine neue Generation sehr qualifizierter Studenten als Lehrer wählte (Kossack 1986). Nimmt man das alles zusammen, ist es nicht mehr überraschend, dass die sogenannte ›Marburger Schule‹ um 1950 herum sowohl in quantitativer wie qualitativer Hinsicht eine führende Position innehatte. In den 25 Semes‐ tern, die v. Merhart insgesamt in Marburg gelehrt hat, sind von ihm 34 Studenten im Hauptfach Vor- und Frühgeschichte promoviert worden - eine für die damalige Zeit ungewöhnlich große Zahl. 29 Ein Drittel seiner Schüler ergriff die Hochschullehrerlaufbahn und ein beträchtlicher Teil der anderen bekleidete leitende Stellungen insbesondere in der Archäologischen Denkmalpflege und in Museen (Kossack 1977, 344). Der prägende Einfluss von Merhart-Schülern in der Bundesrepublik Deutschland währte bis in die zweite Hälfte der 1980er Jahre. Die systematische Untersuchung der realen und imaginären Rolle der ›Merhart-Schule‹ in der Archäologie Westdeutschlands ist sicherlich eine der dringlichsten Aufgaben gegenwär‐ tiger forschungsgeschichtlicher Reflexion. 30 Es ist zu vermuten, dass damit zugleich ein klärendes Licht auf die heutige Situation der deutschen Ur- und Frühgeschichtswissenschaft fiele. 31 Wendet man sich von diesen fachspezifischen, letztlich wissenschaftspo‐ litischen Prägungen der Nachkriegszeit der akademisch-organisatorischen Zuordnung der Ur- und Frühgeschichte an deutschen Universitäten zu, stellt man fest, dass das Fach mit wenigen Ausnahmen zu den Geisteswis‐ senschaften gerechnet wird. Vor der Umstrukturierung der Universitäten in den frühen 1970er Jahren gehörte es daher fast immer zur Philosophischen Fakultät. Nach der Zwischenphase als Ergebnis der Umstrukturierung traten Fachbereiche oder kleinere Fakultäten an die Stelle der alten gro‐ ßen Fakultäten; die Ur- und Frühgeschichte war dabei in aller Regel den Altertums-, Kultur- oder Geschichtswissenschaften zugeordnet. Auch als zu Beginn des 3. Jahrtausends wiederum große Fakultäten, aber mit Un‐ 50 2 Prähistorische Archäologie: Zur Bestimmung einer Wissenschaft <?page no="51"?> tergliederungen gebildet wurden, verblieb die Ur- und Frühgeschichtliche Archäologie meist in ähnlich benannten Untereinheiten; sie wurden jedoch zu Philosophischen Fakultäten zusammengeführt. Das Tübinger Institut für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters stellt insofern eine Ausnahme dar, als die Abteilung für Ältere Urgeschichte und Quartärökologie zur Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät, die Abteilung für Jün‐ gere Urgeschichte und Frühgeschichte sowie die Abteilung für Archäologie des Mittelalters hingegen zur Philosophischen Fakultät gehören. Hinzu kommt noch das Institut für Naturwissenschaftliche Archäologie, das ebenfalls der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät angegliedert ist. Natürlich ist die akademische Zuordnung einer Wissenschaft nur bedingt ein direktes Spiegelbild ihrer Tradition und ihres Selbstverständnisses. Dennoch kommt darin der Grundtenor der gängigen Auffassungen zum Ausdruck. Den Sonderfall ›Tübingen‹ vernachlässigend, könnte die Wissenschaft von der Ur- und Frühgeschichte insgesamt wohl - die akademisch-organisatorische Zuordnung generalisierend - als ›historische Kulturwissenschaft altertums‐ kundlicher Ausrichtung‹ angesprochen werden. Dabei ist deutlich, dass man mit dem heute etwas antiquiert anmutenden Begriff ›Altertumskunde‹ gemeinhin jene Fächer assoziiert, die ihre Erkenntnisse vornehmlich aus Sachgut, das heißt aus den materiellen Hinterlassenschaften vergangener Kulturen beziehen. 2.4 Selbstverständnis Wenn man in den deutschsprachigen Einführungen in die Ur- und Frühge‐ schichtswissenschaft und den gängigen Handbüchern und Nachschlagewer‐ ken etwas über das Selbstverständnis des Faches sucht, findet man, sofern dazu überhaupt Stellung genommen wird, die gerade geäußerte Einschät‐ zung im Wesentlichen bestätigt. Das oben angesprochene, in den 1920er Jahren von Max Ebert herausgegebene vierzehnbändige Reallexikon der Vorgeschichte zum Beispiel handelt zwar einerseits auf 16 Seiten den Eintrag »Vorgeschichte im öffentlichen Unterricht« ab. Andererseits fehlt aber ein Stichwort, das den Begriff ›Vorgeschichte‹ erläutert, seine wissenschaftliche Erforschung umreißt und klarmacht, warum das damit gewonnene Wissen selbst auf einer allgemeinen Ebene dem historischen Selbstverständnis dient. Auch das von Jan Filip (1900-1981) in den Jahren 1966 und 1969 edierte zweibändige Enzyklopädische Handbuch zur Ur- und Frühgeschichte 2.4 Selbstverständnis 51 <?page no="52"?> 32 In Narrs (1966, 7) Worten: »Unter ›Urgeschichte‹ (weniger glücklich ›Vorgeschichte‹ = ›Prähistorie‹) verstehen wir sowohl die Geschichte jener Zeiten und Räume, die uns nicht durch schriftliche Quellen erhellt werden, als auch die Wissenschaft, die sich mit diesem Teil der Geschichte beschäftigt. […] ›Archäologie‹ bedeutet wörtlich etwa ›Wissenschaft (oder Kunde) von den Anfängen (oder den alten Dingen)‹, wird in der Praxis jedoch eingeschränkt auf die Erforschung der Vergangenheit durch eine bestimmte Art der Quellen, eben die materiellen Relikte.« 33 Eggers 1959, 14. 34 Jacob-Friesen 1928, 85. 35 Siehe auch Eggert 2006, 30 f.; Hansen 2005a. Europas spezifiziert die Wissenschaft, um die es geht, nicht. Hermann Müller-Karpe (1966, VIII) sagt uns im ersten Band seines in den Jahren 1966-80 erschienenen vierbändigen Handbuchs der Vorgeschichte lediglich, dass er versuchen will, »die Vorgeschichte als ein zusammengehöriges Gesamtphänomen zu begreifen und darzustellen«. Anders hingegen Karl Josef Narr, der im ersten Band des von ihm herausgegebenen zweibändigen Handbuchs der Urgeschichte (1966) auf die Doppeldeutigkeit des Begriffs ›Urgeschichte‹ bzw. ›Vorgeschichte‹ hinweist: Er bezeichne sowohl den Forschungsgegenstand als auch die Wissenschaft, die sich damit beschäftige. Es handele sich dabei um ein archäologisches Fach, das die Vergangenheit auf der Basis ihrer materiellen Hinterlassenschaften erforsche. 32 Narr spricht auch ausdrücklich an, dass es die Urgeschichtswissenschaft mit den »vor‐ schriftlichen Epochen« zu tun habe und ihr »spezielles Quellenmaterial und Verfahren« deshalb als »prähistorische Archäologie« von anderen Archäolo‐ gien abgehoben sei. Hans Jürgen Eggers (1906-1975) leitet seine bekannte Einführung in die Vorgeschichte unter anderem mit der Frage »Was ist Vorgeschichte? « ein, um dann sogleich eine lapidare Antwort zu geben: »Vorgeschichte ist die ›Wis‐ senschaft des Spatens‹«. 33 Genauso hatte schon Karl Hermann Jacob-Friesen (1886-1960) in seinen Grundfragen der Urgeschichtsforschung das Fach um‐ schrieben. 34 Diese Umschreibung geht auf Heinrich Schliemann (1822-1890) zurück, der - vor allem in seinem Werk Ilios (1881) - immer wieder von seiner »geschichtlichen Forschung mit Spitzhacke und Spaten« sprach (so ebd. 747). 35 Auch wenn solche Bezeichnungen leichthin geäußert werden und damit letztendlich nicht als seriöse Charakterisierung verstanden sein wollen, sind sie wenig glücklich. Sie entsprechen allzu sehr jener weitver‐ breiteten populären Vorstellung, die den Archäologen auf den Ausgräber reduziert. Durch diese Einengung wird ein für die Quellenbeschaffung zwar außerordentlich wichtiger, in theoretisch-struktureller Hinsicht jedoch eher 52 2 Prähistorische Archäologie: Zur Bestimmung einer Wissenschaft <?page no="53"?> marginaler Aspekt der Archäologie zur Hauptsache gemacht. Allerdings weist Eggers (1959, 16 f.) zugleich unmissverständlich darauf hin, dass er die Ur- und Frühgeschichtswissenschaft als historische Wissenschaft versteht. Für ihn ist die Geschichte unteilbar; es gebe nur »eine Geschichte«. Die Geschichtswissenschaft im engeren Sinne unterscheide sich zwar durch ihre Quellen - Schriftquellen - von der auf Bodenfunden basierenden Archäologie, aber ihrem Ziel nach bildeten die beiden Wissenschaften eine Einheit. Man wird generell sagen dürfen, dass die Ur- und Frühgeschichtliche Archäologie im deutschen Sprachraum als eine historische Wissenschaft aufgefasst wird. Ähnlich wie Eggers äußerte sich auch der österreichische Prähistoriker Fritz Felgenhauer (1920-2009) über den historischen Grund‐ charakter des Fachs in seiner Einführung in die Urgeschichtsforschung (1973, 11). Die Urgeschichte sei »ein Teil der gesamten Menschheitsgeschichte«, die Urgeschichtsforschung damit »eine historische Disziplin, mit der Auf‐ gabe, die Geschichte der schriftlosen Kulturen der Vergangenheit zu erfor‐ schen«. Er fügte aber sogleich hinzu, es habe durchaus auch immer wieder Stimmen gegeben, die die »Geschichtlichkeit des urzeitlichen Menschen« angezweifelt hätten. Dabei wies er zu Recht darauf hin, dass jede Erörterung der systematischen Stellung der Wissenschaft von der Urgeschichte unlös‐ bar mit der Frage »Was ist Geschichte? « verknüpft sei - und diese Frage hänge wiederum unmittelbar von der jeweiligen Geschichtsauffassung ab. Für ihn definierte sich die Urgeschichtsforschung als eine Wissenschaft, deren Aufgabe es sei, »die Urzeit des Menschen zu erforschen und, wenn und wo möglich, historisch bedeutsames Geschehen in universalgeschichtlicher Schau zu erfassen« (ebd. 12). Felgenhauer räumt allerdings ein, dass der kulturgeschichtliche Aspekt aufgrund der besonderen Struktur archäologischer Quellen - es handele sich bei diesen Quellen ja beinah ausschließlich um Sachgut - im Vordergrund des Interesses stehe. Dabei weist er ausdrücklich auf die starke »Sachbezo‐ genheit«, das heißt die Materialorientiertheit der meisten Fachvertreter hin. Diese sehr betonte Ausrichtung auf die Realien resultiere zwar aus der Natur der archäologischen Quellen und sei auch forschungsgeschichtlich ver‐ ständlich, aber es sollten doch darüber »universalgeschichtliche Fragestel‐ lungen« und das »Bemühen um ereignisgeschichtliche Zusammenhänge« nicht vergessen werden (Felgenhauer 1973, 13). Natürlich wäre zu fragen, wie hier der Begriff ›Universalgeschichte‹ zu verstehen ist. Es bleibt unklar, ob man sich darunter lediglich eine universal ausgerichtete vergleichende 2.4 Selbstverständnis 53 <?page no="54"?> 36 Bisweilen herrscht in diesem Zusammenhang ein ausgesprochen pragmatisches Ver‐ ständnis vor. So bestimmte Sangmeister (1967, 200) es als Ziel der Urgeschichtswissen‐ schaft, die »Geschichte« der »schriftlosen Zeit zu erforschen und darzustellen, und zwar in universalgeschichtlichem Sinne«. Dieser »universalgeschichtliche Sinn« folgt für ihn aus der Tatsache, dass »keinem Teilgebiet menschlicher Lebensäußerungen der Vorzug gegeben wird.« 37 Zur generellen Problematik siehe Eggert 2013b sowie das gesamte Themenheft 63/ 1 (2013) der Zeitschrift Saeculum. Betrachtung unverbundener, aber gleichzeitiger urgeschichtlicher Kulturen vorstellen muss, oder ob Felgenhauer dabei tatsächlich an die Herausar‐ beitung potenzieller Kausalzusammenhänge zwischen urgeschichtlichen Erscheinungen in ›universalem‹ Rahmen dachte. Generell gewinnt man aus gelegentlichen Bemerkungen von Archäologen und Archäologinnen zu universalgeschichtlichen Fragen den Eindruck, dass ›Universalgeschichte‹ im Wesentlichen in einem additiven Sinne verstanden wird: Man ist bemüht, die Vielfalt der uns zugänglichen archäologischen Zeugnisse sowohl in synchroner als auch in diachroner Perspektive zu betrachten. 36 Da sich ein universaler Wirkungszusammenhang dem empirischen Nachweis weitge‐ hend entzieht, muss sich eine universalhistorische Konzeption - will sie anders als rein additiv sein - notgedrungen in Spekulation flüchten. 37 Felgenhauer (1973, 13) betont den heterogenen, das heißt den in geogra‐ phischer, zeitlicher und sachlicher Hinsicht ungleichmäßigen Charakter der archäologischen Hinterlassenschaften. Dies führe zu einer »prinzipiellen Sprödigkeit« dieser Quellen in Bezug auf historische Aussagen. Dieser Feststellung wird man zustimmen können. Tatsächlich wird wohl niemand behaupten wollen, dass die archäologischen Relikte mehr als ein blasses Abbild der einstigen Vielfalt des Materiellen darstellen. Und dieses Abbild präsentiert sich überdies keineswegs, wie Felgenhauer zu Recht betont, in einer Art homogener Bruchstückhaftigkeit, sondern wie ein sich immer wieder anders zusammensetzendes Vexierbild der drei zentralen Dimensio‐ nen Zeit, Raum und Inhalt (ebd. 12). Umso mehr muss es überraschen, dass er dennoch die Forderung nach einer universalgeschichtlichen Perspektive und ereignisgeschichtlichen Erkenntnissen erhebt. Verallgemeinernd darf man sicher sagen, dass solche Forderungen von den meisten Archäologen und Archäologinnen nicht geteilt werden - und zwar wohl nicht allein des‐ wegen, weil solche Ziele gänzlich jenseits ihres Horizontes oder Interesses lägen. Hier dürfte vielmehr auch eine Rolle spielen, dass das Potenzial der Quellen in dieser Hinsicht nicht sehr hoch angesetzt wird. 54 2 Prähistorische Archäologie: Zur Bestimmung einer Wissenschaft <?page no="55"?> 38 Hierzu auch Eggert 2006, 59 ff. 39 Diese »geistige Umbruchszeit«, die K. Jaspers in seinem Buch Vom Ursprung und Ziel der Geschichte 2 (1955) als »Achsenzeit« bezeichnet hat, illustriert Müller-Karpe (1975, 11) mit der folgenden Aufzählung von bedeutenden Individuen und Entwicklungen: »[…] im griechischen Bereich Homer und Hesiod (8. Jh. v. Chr.) sowie die jonischen Naturphilosophen (Thales, Anaximander, Pythagoras: 6. Jh. v. Chr.), das heißt der Beginn dessen, was als Antike oder klassisches Altertum bezeichnet wird, in Italien die großgriechischen Kolonien (8./ 7. Jh. v. Chr.) und schließlich in Rom der Beginn der Republik (um 500 v. Chr.), in Westasien die auf die Königszeit Israels folgende religiöse Bewegung der großen Propheten ( Jesaja, Jeremia usw.: 8./ 7. Jh. v. Chr.), in Persien diejenige Zoroasters (etwa 6. Jh. v. Chr.), in Indien diejenige Buddhas In diesem Zusammenhang muss allerdings eine von Müller-Karpe ent‐ wickelte Auffassung erörtert werden, die die von Felgenhauer nur mit wenigen Formulierungen angedeutete Zielsetzung sehr dezidiert vertritt. 38 Wie bereits oben erwähnt, spricht Müller-Karpe (1966, VIII) im ersten Band seines Handbuchs von der selbstgewählten Aufgabe, »die Vorgeschichte als ein zusammenhängendes Gesamtphänomen zu begreifen und darzustel‐ len«. Eine nähere Bestimmung dieser Aufgabe findet sich in seiner im Jahre 1975 erschienenen Einführung in die Vorgeschichte. Für ihn stellt sich Vorgeschichte als »vorderer Abschnitt der Geschichte« dar. Dabei könne sich der Begriff ›Vorgeschichte‹ zum einen auf ein einzelnes Geschehen oder eine spezifische Gemeinschaft bzw. eine spezifische Kultur (z. B. Vorgeschichte des Weltkrieges, Vorgeschichte der Griechen), zum andern aber auch auf »Vorgeschichte schlechthin, im Sinne von vorderem Abschnitt der universalen Menschheitsgeschichte« beziehen. Es sei jedoch keineswegs so, dass die universal verstandene Vorgeschichte aus einer Aneinanderrei‐ hung der jeweils spezifischen, »einzelnen Vorgeschichten« resultiere. Eine Einsicht in die universale Vorgeschichte, das heißt in Vorgeschichte als »übergreifendes Phänomen«, setze vielmehr einen »neuen denkerischen Ansatz« voraus, nämlich einen »universalhistorischen Blickwinkel« und eine »darauf ausgerichtete Grundeinstellung zu den Zeugnissen und ihrer geschichtswissenschaftlichen Beurteilung« (ders. 1975, 9). Das Konzept einer »universalen Vorgeschichte« bzw. einer »Vorge‐ schichte als universalhistorischer Abschnitt« folgt für Müller-Karpe (ebd. 14, 11) aus einer spezifischen Geschichtsauffassung, die ›Vorgeschichte‹ mit dem Postulat eines singulären, welthistorisch bedeutsamen Einschnitts ver‐ knüpft. Dieser Einschnitt wird für ihn durch die »kulturellen und geistigen Aufbrüche repräsentiert, die vom 8. bis zum 6. Jahrhundert v. Chr. in vielen altweltlichen Geschichtsräumen eine neue Epoche« heraufgeführt hätten. 39 2.4 Selbstverständnis 55 <?page no="56"?> (6. Jh. v. Chr.), in China die Wirksamkeit von Konfutse und Laotse (6. Jh. v. Chr.), insgesamt also jenes Zeitalter, das bei aller Eigengeartetheit der damals entstandenen regionalen Ausprägungen der Geschichtlichkeit doch insgesamt einen neuen Abschnitt der universalen Menschheitsgeschichte verkörpert.« 40 Legt man diese Sichtweise zugrunde, wird verständlich, dass Müller-Karpe (1974, VI f.) die Kupferzeit als »historische Epoche im altweltlichen Raum« wertet, deren »erkennbare kulturelle, wirtschaftliche und soziale Neuerungen […] merkliche Zäsuren in der allgemeinen Menschheitsgeschichte« darstellten. Damit ergibt sich für die Vorgeschichte zwangsläufig ein »einheitlicher Zeitraum«, und zwar »vom Beginn der Menschheit bis zur ersten Hälfte des letzten vorchristlichen Jahrtausends« (ebd. 12). Von zentraler Bedeu‐ tung erscheint in diesem Zusammenhang die Frage, »ob und inwieweit es berechtigt - bzw. erforderlich - ist, im Rahmen einer einheitlichen Vor‐ geschichtsforschung die Geschichtszeugnisse aller Erdgebiete aus diesem Zeitraum trotz ihrer z. T. beträchtlichen Unterschiedlichkeit zusammenzu‐ fassen«. Müller-Karpe (ebd. 14) ist offensichtlich davon überzeugt, dass »der vordere Abschnitt der Menschheitsgeschichte« trotz aller Lückenhaf‐ tigkeit der archäologischen Überlieferung »insgesamt als übergreifende, reich gegliederte Einheit« verstanden werden muss, es mithin eine »im Fak‐ tisch-geschichtlichen begründete Einheit der universalen Vorgeschichte« gebe. Eine nähere Betrachtung früherer Veröffentlichungen zeigt, dass diese in der Einführung entwickelten groben Umrisse einer spezifischen, neuartigen Konzeption von urgeschichtlicher Archäologie - wenngleich in weitgehend impliziter Form - bereits den ersten drei Bänden seines Handbuchs zugrunde liegt, die die Altsteinzeit (1966), die Jungsteinzeit (1968) und die Kupferzeit (1974) behandeln. So erläutert er im Vorwort zum Jungsteinzeit-Band die von ihm gewählte isochronologische Betrachtungsweise der urgeschichtlichen Quellen mit dem Hinweis, er gehe dabei »primär nicht von bestimmten Kul‐ turerscheinungen, sondern von bestimmten, fest begrenzten Zeitabschnit‐ ten« aus und versuche, »die aus ihnen stammenden Kulturäußerungen in ihrer regionalen Verschiedenheit als komplexe Verkörperung eines ge‐ schichtlich zusammengehörigen Zeitalters zu begreifen« (Müller-Karpe 1968, V). Dieses »isochronologische Betrachtungsprinzip« wird damit zur Basis einer »universalen Prähistoriographie«, deren Erkenntnisziel letztlich die »universal-menschliche Geschichtlichkeit« ist (ders. 1974, V, VI). 40 56 2 Prähistorische Archäologie: Zur Bestimmung einer Wissenschaft <?page no="57"?> 41 Der unmittelbare Anlass für diese Überlegungen war die Gründung der in Bonn beheimateten Kommission für Allgemeine und Vergleichende Archäologie (KAVA) - heute Kommission für Archäologie Außereuropäischer Kulturen (KAAK) - des Deutschen Archäologischen Instituts. In zwei späteren Beiträgen hat Müller-Karpe die so umrissene Konzeption einer »universalen Prähistoriographie« näher ausgeführt. 41 Dabei ging er von dem Grundsatz aus, Archäologie habe es »allemal mit konkreten Ein‐ zelbefunden« zu tun, deren chronologische und chorologische Ordnung und deren kulturgeschichtliche Interpretation notgedrungen zur Spezialisierung geführt habe und zu weiterer Spezialisierung führen müsse. Das habe ins‐ besondere in jenen »Geschichtsräumen und Kulturbereichen, die aufgrund literarischer Quellen und der darin bezeugten Sprachen als historische Einheiten in Erscheinung treten« jeweils spezifische Archäologien - z. B. die ägyptische, die mesopotamische, die griechisch-römische, die frühmit‐ telalterlich-germanische, die chinesische, die indische und die mexikanische Archäologie - zur Folge gehabt. Diese spezifischen Ausprägungen der Ur- und Frühgeschichtsforschung stellten somit »sprachraumspezifische Archäologien« (Müller-Karpe 1980a, 5) dar. Neben solchen »Regional-« oder »Einzelarchäologien« (ders. 1981, 281, 282) gebe es aber auch noch eine »Grundabsicht anderer Art«, nämlich einen Ansatz, der »primär die Gesamtmenschheit« im Auge habe und sie »in ihrer konkreten Geschicht‐ lichkeit anhand der archäologischen Zeugnisse« zu erfassen suche (ders. 1980a, 4 f.). Zur Realisierung dieser Grundabsicht bedürfe es einer Allgemeinen Ar‐ chäologie, die sich zwar durch die »subtilste Berücksichtigung regionaler und lokaler Eigenheiten« auszeichne, in ihrem prinzipiellen Erkenntnisan‐ liegen aber auf die »Gesamtheit einschlägiger Zeugnisse aller Erdgebiete« gerichtet sei (Müller-Karpe 1981, 282). Diese Allgemeine oder Fundamental‐ archäologie (ders. 1980a, 5) bilde ein »Korrelat zur Universalgeschichte« (ders. 1981, 282). Allerdings weist Müller-Karpe (1980a, 5 f.) dabei auch auf gewisse Beschränkungen hin. So seien die aufgrund archäologischer Quel‐ len herauszuarbeitenden »Aspekte konkreter Geschichtlichkeit« verglichen mit der durch Schriftquellen erschließbaren Geschichte der »Hochkulturen« insgesamt »weniger deutlich und umfassend«. Die archäologischen Zeug‐ nisse beträfen auch oft nur einen »ganz beiläufigen Ausschnitt« dieser Geschichtlichkeit. Überdies herrsche in den einzelnen Erdgebieten ein höchst uneinheitlicher und häufig sehr lückenhafter archäologischer For‐ 2.4 Selbstverständnis 57 <?page no="58"?> 42 Siehe auch Müller-Karpe 1981, 283 f. 43 Einige zentrale Punkte dieser Grundzüge sind in einer kleinen Sonderschrift vorgelegt worden: Müller-Karpe 1999. schungsstand. Dennoch sei unverkennbar, dass sich die derzeit verfügbaren archäologischen Quellen »insgesamt als Äußerung eines großen raumzeit‐ lichen Kontinuums« begreifen ließen, eines Kontinuums, das »Traditionen, Entwicklungen und interregionale Kontakte« widerspiegele und damit »die geschichtswissenschaftliche und empirische Seite« dessen darstelle, »was wir Universalgeschichte nennen können«. 42 Die Tatsache, dass diese umfassende Konzeption der Prähistorischen Archäologie im Rahmen des Fachs so gut wie nicht zur Kenntnis genommen, geschweige denn eingehend diskutiert wurde, zeigt, dass Müller-Karpes global intendierte Zielsetzung nicht auf tieferes Interesse gestoßen ist. Das mag zu einem gewissen Teil daran liegen, dass der außereuropäische Raum in der deutschen Ur- und Frühgeschichtswissenschaft traditionell - sieht man einmal von den Forschungen der Zweiganstalten des Deutschen Archäologischen Instituts ab - weitestgehend unberücksichtigt geblieben ist. Ein anderer Grund mag in der Tatsache zu suchen sein, dass der von Mül‐ ler-Karpe intendierte Brückenschlag zu den historischen Wissenschaften im engeren Sinne zu jenen ›theoretischen‹ Fragestellungen gehört, die im Fach seit jeher nur wenig Interesse gefunden haben. Das fehlende Echo auf seine Konzeption wäre dann ein Symptom für die Selbstgenügsamkeit der deutschen Ur- und Frühgeschichtlichen Archäologie. Wie immer man die ausgebliebene Reaktion auch beurteilen mag, Müller-Karpe hat sich dadurch nicht beirren lassen. Er nahm vielmehr ein voluminöses Werk mit dem Titel Grundzüge früher Menschheitsgeschichte in Angriff, das auf diese Konzeption gegründet ist und dessen erste fünf Bände, die die Zeit von den Anfängen bis zum 2. Jahrhundert v. Chr. umfassen, im Jahre 1998 erschienen. 43 Die im Jahre 1979 ins Leben gerufene Kommission für Allgemeine und Vergleichende Archäologie allerdings, der diese Konzeption zugrunde gelegt wurde, hat offenbar den damals gewählten Kurs nach der im Jahre 1986 erfolgten Pensionierung ihres ersten Ersten Direktors H. Müller-Karpe verlassen. Sie ist - wie bereits oben angemerkt - inzwischen in Kommission für Archäologie Außereuropäischer Kulturen (KAAK) umbenannt worden. Natürlich ist hier nicht der Ort, die längst überfällige Diskussion des Für und Wider dieser spezifischen Konzeption der Prähistorischen Archäologie 58 2 Prähistorische Archäologie: Zur Bestimmung einer Wissenschaft <?page no="59"?> 44 Hierzu Veit 2001, 79 ff. 45 v. Uslar 1955. 46 Anstelle eingehender Einzelbelege genüge hier ein Verweis auf Müller-Karpes (1999, 9) Bewertung der Herausbildung der altamerikanischen Kulturen: Die »theoretisch denkbare isolationistische Vorstellung«, dass die von den spanischen Eroberern in der Neuen Welt angetroffenen hochentwickelten Kulturen »ausschließlich autochthon aus paläolithischen Urkulturen Amerikas, ohne stimulierende Kontakte mit der Alten Welt« entstanden seien, erscheine »angesichts des über das Geflecht altweltlicher Regi‐ onaltraditionen und interregionaler Kontakte Bekannten« gegenwärtig »ganz und gar unglaubwürdig«. Wiewohl »derzeit nicht dezidiert aufgezeigt werden« könne, »wann und in welchen Formen nach der jungpaläolithischen Landnahme Amerikas transpa‐ zifische und transatlantische Verbindungen stattgefunden haben«, ist Müller-Karpe dennoch von deren Existenz überzeugt. Er denkt hier in erster Linie an »phönikische Atlantiküberquerungen« (ebd. 10). Vgl. hiermit die tendenziell gleiche, aber - bei 1999 unveränderter Quellenlage - zurückhaltendere Beurteilung dieser Frage rund 20 Jahre früher (ders. 1980b, 13). 47 Trotz ausdrücklicher Verwahrung Müller-Karpes (1981, 233) gegen ›geschichtsphiloso‐ phische‹ Positionen handelt es sich hier um nichts anderes. 48 Besonders bemerkenswert ist hier einerseits die immer wieder vertretene, nachdrück‐ liche Hervorhebung der Bedeutung des »authentischen, unverfälschten Charakters« der Quellen, ohne »deren zeitliche und räumliche Beziehung zu dem Erkenntnisgegen‐ stand« sie als »historische Quellen« nicht in Frage kommen könnten (z. B. Müller-Karpe 1968a, 22). Dies steht andererseits jedoch in ausgesprochenem Gegensatz zur ›univer‐ salhistorischen Gewissheit‹ (hierzu ders. 1980b, 6 ff.). Analogisches Deuten wird aus dieser Sicht als »bloße Theorie«, das heißt im Sinne der von Müller-Karpe vertretenen Auffassung als nicht-historisch abgetan (ders. 1999, 11) und - so muss man hinzufügen - durch geschichtsphilosophisch gewonnene Grundüberzeugungen ersetzt. zu führen. 44 Ich muss mich damit begnügen, auf die bereits oben beiläufig erwähnten Schwierigkeiten hinzuweisen, Kausalzusammenhänge der von Müller-Karpe vorausgesetzten Art anhand urgeschichtlicher Quellen zu erkennen. Das spekulative Moment, das - wie Rafael von Uslar (1908-2003) vor langer Zeit zu Recht herausgestellt hat -, auch in der Archäologie eine wichtige Rolle spielt, 45 scheint mir bei diesem Unterfangen eine allzu bedeutende Stellung einzunehmen. Das Spekulative ist hier nicht ein Aspekt unter vielen anderen nichtspekulativen Aspekten kulturwis‐ senschaftlich-historischen Arbeitens, sondern Grundvoraussetzung. 46 Oder, korrekter ausgedrückt, die aus der geschichtsphilosophischen Prämisse 47 abgeleitete ›Gewissheit‹, dass sich die derzeit global verfügbaren archäolo‐ gischen Zeugnisse insgesamt als »Äußerung eines großen raumzeitlichen Kontinuums« begreifen lassen, obsiegt letztlich über den immer wieder beschworenen Primat der »authentischen Zeugnisse konkreter Geschichts‐ fakten« (Müller-Karpe 1998, IX). 48 Ich jedenfalls sehe kein »strukturhistori‐ sches Kontinuum« der »universalen Menschheit«, und ich vermag auch 2.4 Selbstverständnis 59 <?page no="60"?> keine im »Faktisch-geschichtlichen begründete Einheit der universalen Vorgeschichte« zu erkennen. Natürlich gibt es in urgeschichtlicher Zeit vielfache, archäologisch nachweisbare, nach Zeit und Raum differenzierte Kulturbeziehungen, aber nur allzu häufig müssen wir nach Maßgabe der Quellenlage eben auch das Gegenteil konstatieren, nämlich die Existenz »einzelner Vorgeschichten«, das heißt offenbar von externen Einflüssen unabhängig entstandene Kulturen. Als heuristisches Mittel vermag die Spekulation außerordentlich fruchtbar zu sein, als in ›Gewissheit‹ mutiertes Fundament empirischer archäologischer Forschung hingegen wird sie zu einem diese Forschung unterminierenden Faktor. Wenn denn eine »univer‐ sale Prähistoriographie« eine dem Grundkanon historischen Forschens ver‐ pflichtete Daseinsberechtigung haben soll - und dafür gilt es nachdrücklich einzutreten -, dann nur unter strikter Wahrung des Primats des Faktischen. Das Gegenteil käme einer Umkehrung jenes Mottos von K. H. Jacob-Friesen gleich, dem diese Einführung verpflichtet ist. 60 2 Prähistorische Archäologie: Zur Bestimmung einer Wissenschaft <?page no="61"?> 1 Siehe Daniel 1950, 38; ders. 1975, 38; ders. 1976, 40; Daniel/ Renfrew 1988, 20 f. 3 Stein - Bronze - Eisen: Das Dreiperiodensystem 3.1 Ungegliederte Vorzeit »Die Einteilung des vorgeschichtlichen Zeitraums in eine Stein-, eine Bronze- und Eisenzeit ist für das archäologische Studium des Altertums grundlegend gewesen«, schrieb der große dänische Prähistoriker Sophus Müller (1846-1934) im Jahre 1897 im ersten Band seines Standardwerks Nordische Altertumskunde (1897, 217). Die Bedeutung dieser Dreiteilung werde erst richtig klar, wenn man sich vor Augen halte, was Professor Ras‐ mus Nyerup (1759-1829), der Begründer des Dänischen Nationalmuseums in Kopenhagen, im Jahre 1806 in seinem denkwürdigen Memorandum für die Errichtung dieses Museums über die »Vorzeit« niedergeschrieben habe. Gegenstände aus dieser Vorzeit, so wollte es Nyerup, sollten im ersten Saal des zu gründenden Museums ausgestellt werden - »Gegenstände«, so hatte er formuliert, »die zwar für den Altertumsforscher unermesslich wichtig sind, aber für eine zusammenhängende Geschichte keinen hinreichenden Stoff abgeben«. Und dann zitiert Müller jenen Satz, mit dem Nyerup diese Ansicht begründete - ein Satz, der in knappster Form das zentrale Dilemma charakterisierte, das zu jener Zeit ein Wesensmerkmal der meisten heimi‐ schen Bodenfunde war: »Denn alles«, so Nyerup, »was aus der ältesten, heidnischen Zeit stammt, schwebt für uns gleichsam in einem dichten Nebel, in einem unermesslichen Zeitraum. Wir wissen, dass es älter ist als das Christentum, doch ob es ein paar Jahre oder ein paar Jahrhunderte, ja vielleicht um mehr als ein Jahrtausend älter ist, darüber lässt sich mehr oder weniger nur raten« (ebd. 218). Seit Müller diesen Satz Nyerups ausgegraben hat, ist er immer wieder zi‐ tiert worden - so von Glyn Daniel (1914-1986) 1 und von Hans Jürgen Eggers, der ihn dem ersten Kapitel seiner Einführung (1959) voranstellte und sodann ausführlich kommentierte. Dieses so poetisch wie ausdrucksvoll formulierte Eingeständnis der völligen Unkenntnis den vorchristlichen Altertümern gegenüber zeigt die begrenzte Tiefe des historischen Bewusstseins der damaligen Zeitgenossen. Jedenfalls legt Nyerups Feststellung die Annahme nahe, dass noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts für den Gebildeten, ja selbst für den Historiker, alles, was jenseits jener Schwelle lag, die im <?page no="62"?> 2 In Daniels Sinne äußerten sich für Skandinavien bereits Hildebrand (1886, 361 ff.) und Müller (1897, 226 ff., 232 ff.). 3 Hierzu Stemmermann 1934. Die wesentlichen Auffassungen sind von Clarke (1968, 4 ff.) prägnant zusammengefasst worden. nördlichen Mitteleuropa durch die Einführung des Christentums markiert wird, in einem dichten Nebel schwebte - ein Grad der Unkenntnis, den wir uns heute nur noch sehr schwer vorstellen können. Auf der anderen Seite hat Daniel (1976) dargelegt, dass es bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Autoren gab, die die Kulturentwicklung im Sinne einer Dreistadienkonzeption interpretierten. Er führt in diesem Zusammenhang vor allem Franzosen und Engländer an, nennt aber auch Skandinavier, die insbesondere gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts derartige Vorstellungen vertraten. 2 Darüber hinaus ist festzustellen, dass eine kulturgeschichtlich-zeitliche Abfolge von Stein, Bronze und Eisen bereits seit der Renaissance immer wieder erwogen wurde. 3 Daniel (1976, 40) zufolge sah der größte Teil jener Gebildeten, die sich während des 18. Jahrhunderts und davor mit Altertümern beschäftigten, keine andere Möglichkeit, als die Vergangenheit durch das Medium der an‐ tiken Autoren wahrzunehmen. Insofern, so könnte man hinzufügen, waren ihnen auch antike Auffassungen über einen stadialen Ablauf der Geschichte (Hesiod, Lukrez) durchaus gegenwärtig. Als Folge der Entdeckungsreisen verbreitete sich seit dem 15. Jahrhundert zudem die Kunde von Bevölkerun‐ gen, die kein Metall kannten, sondern Steingeräte herstellten und benutzten. Ungeachtet dieser Tatsachen kam Daniel zu dem Ergebnis, dass die vor allem an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert vorgetragenen Gedanken einer allgemeinen, drei Stadien durchlaufenden Kulturentwicklung keineswegs allgemein verbreitet waren. In Anbetracht dieser recht komplexen Sachlage wird man Daniel sicher‐ lich zustimmen: im Einzelnen bleibt durchaus unklar, inwieweit die von Nyerup formulierte fundamentale Unkenntnis der vorchristlichen Vergan‐ genheit des Nordens für das allgemeine antiquarisch-historische Bewusst‐ sein während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts repräsentativ war. Aber es besteht kein Zweifel, dass dem Nyerup’schen »Nebel« bestenfalls spekulative Überlegungen gegenüberstanden, die zwar hier und da mit archäologischen Funden verknüpft wurden, aber in keiner Weise geeignet waren, den »unermesslichen Zeitraum« historisch zu untergliedern. 62 3 Stein - Bronze - Eisen: Das Dreiperiodensystem <?page no="63"?> 4 Zu Thomsen jetzt auch Hansen 2001a; Thrane 2005; Rowley-Conwy 2007. 5 Der erste Teil des Leitfadens, »Umfang und Wichtigkeit der altnordischen Literatur«, zählt lediglich 24 Seiten und ist »vom Registrator im Geheimen-Archive N. M. Petersen« verfasst worden; der zweite, vom »Canzleirathe C. Thomsen« (Thomsen 1837, III) 3.2 C. J. Thomsen Die Wende im allgemeinen Bewusstsein jener Zeit wurde von Christian Jürgensen Thomsen (1788-1865) herbeigeführt. 4 Thomsen übernahm im Jahre 1816 als Nachfolger von Nyerup die Leitung der in einer Dachkammer der Heiligen Dreifaltigkeitskirche in Kopenhagen untergebrachten Altertü‐ mersammlung, die zur Keimzelle des Königlichen Museums für Nordische Altertümer wurde. Er machte sich unverzüglich an eine systematische Ord‐ nung der Sammlung, die er offenbar zunächst nicht nach chronologischen, sondern ausschließlich nach funktionsbezogenen Kriterien gliederte. So fasste er zum Beispiel alle Keramikgefäße zusammen und setzte sie von Waffen und Schmuckgegenständen ab (Müller 1897, 220 f.). Zwischen 1821 und 1825 scheint er sein Gliederungsprinzip jedoch revidiert und bei der Aufstellung der Sammlung nunmehr auch chronologische Gesichtspunkte berücksichtigt zu haben. Die entsprechenden Anschauungen Thomsens in den frühen 1820er Jahren lassen sich zum einen indirekt aus zeitgenössi‐ schen Quellen erschließen, zum andern gibt es jedoch auch ein direktes Zeugnis: Thomsen war ein eifriger Briefschreiber, der zeit seines Lebens mit zahlreichen wichtigen, an Fragen des Altertums interessierten Gelehrten korrespondiert hat. So führte er in den Jahren 1823-25 auch einen Brief‐ wechsel mit Johann Gustav Gottlieb Büsching (1783-1829), dem Begründer der Breslauer Altertumssammlung. Die für die Aufstellung des Dreiperio‐ densystems wichtigen Passagen aus den zwölf erhaltenen Briefen Thomsens wurden erstmals mehr als 100 Jahre später von Hans Seger (1864-1943) veröffentlicht (Seger 1930). Thomsen selbst hat seine Vorstellungen über die »heidnische Zeit« und ihre Periodisierung erst 1836 in einem kleinen Führer dargelegt, der bereits im darauffolgenden Jahre in deutscher Übersetzung erschien. Darin behandelt er zunächst Geländedenkmäler, so vor allem Grabhügel und Steinsetzungen, um sich dann Kleinaltertümern, unter anderem Steinarte‐ fakten und Keramikgefäßen, zuzuwenden. Schließlich setzt er sich explizit mit der relativen Chronologie der sogenannten »heidnischen Altertümer« auseinander (Thomsen 1837, 57 ff.). 5 Er unterscheidet ein Stein-Zeitalter, ein Bronce-Zeitalter und ein Eisen-Zeitalter. Das Wesentliche an dieser 3.2 C. J. Thomsen 63 <?page no="64"?> geschriebene Teil, »Kurzgefaßte Übersicht über Denkmäler und Alterthümer aus der Vorzeit des Nordens« - so der erste Zwischentitel - ist umfangreicher (ebd. 25-93). 6 So heißt es beispielsweise über das »Bronce-Zeitalter«: »In dieses Zeitalter gehören die Steinkisten und die mit Steinhaufen bedeckten kleinen Grabbehälter; dieß war der eigentliche Verbrennungs-Zeitraum, und die großen Grabkammern waren nicht länger nöthig. Die verbrannten Gebeine wurden in Urnen aufbewahrt, oder in die Steinkisten gelegt. Oben in den Urnen dieser Zeit findet man sehr oft eine Nadel, eine Pincette und ein kleines Messer von Bronce, und in diese Zeit gehören gleichfalls die häufig vorkommenden sogenannten Celten und Paalstäbe von Bronce« (ebd. 60). Bei den Celten handelt es sich um Tüllenbeile, die nach Thomsen (ebd. 53) in England so benannt wurden, da man sie als von »celtischen Nationen« herrührend ansah; Paalstäbe hingegen sind Absatz- und Randleistenbeile, deren Benennung er von páll, Spaten, Hacke ableitete (ebd.). 7 Ähnlich äußern sich Eggers (1959, 39) und insbesondere Gräslund (1981; ders. 1987, 20 ff.). Periodengliederung von 1836 sind die vielfältigen Einzelheiten, die Thom‐ sen zur Stützung seiner Argumentation anführt. Es geht ihm keineswegs nur um die kennzeichnenden Grundwerkstoffe der einzelnen Perioden, sondern er erörtert auch die ihm für jede Periode typisch erscheinenden Kleinfunde. Überdies wird die im Laufe der Zeit feststellbare Veränderung der jeweils charakteristischen Grabdenkmäler ebenso kommentiert wie die entsprechende Veränderung des Bestattungsritus. 6 Thomsen (1837, 92 f. et pass.) betont wiederholt, dass es wichtig sei, die »Verbindung« der Altertümer untereinander zu kennen. Schließlich sagt er sogar, dass man bei Ausgrabungen größte Behutsamkeit anwenden müsse, »um die gegenseitige Verbindung zwischen den niedergesetzten Sachen bemerken zu können, was oft wichtiger zu kennen ist, als diese selbst« (ebd. 90). Dies ist sicher eine nicht nur im Kontext jener Zeit revolutionäre Aus‐ sage; schließlich haben noch bis in das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts und sogar darüber hinaus allein die archäologischen Objekte im Mittelpunkt des altertumskundlichen Interesses gestanden. Mit dieser Aussage Thomsens deutet sich an, dass er bereits sehr klar die Bedeutung dessen erfasst hatte, was wir heute als Konzept des Geschlossenen Funds bezeichnen. 7 Gerade die Betonung des archäologischen Kontexts macht es sehr wahr‐ scheinlich, dass Thomsen nicht nur ein Museumsmann war, sondern auch eine recht eingehende Kenntnis jener konkreten Fundverhältnisse besaß, in denen ur- und frühgeschichtliche Objekte beim Ackern und bei Bau‐ maßnahmen zutage traten. Dies kommt in der forschungsgeschichtlichen Würdigung von Daniel (1976, 40 f.) nicht recht zum Ausdruck, da er die Rolle des Dreiperiodensystems in der Museumskonzeption von Thomsen 64 3 Stein - Bronze - Eisen: Das Dreiperiodensystem <?page no="65"?> 8 Die Einleitungssätze lauten: »Die Erfahrung hat gelehrt, daß viele Alterthümer durch die Unachtsamkeit und Unvorsichtigkeit der Finder zerstört sind. Wenn Aufgrabungen und andere Nachsuchungen nicht von der erforderlichen Sachkenntniß geleitet, und nach einem vernünftigen Plane ausgeführt sind, haben sie der Alterthumswissenschaft eher geschadet, als ihr zur Bereicherung gedient; man hat daher geglaubt, daß es von Nutzen seyn würde, hier einige Winke in dieser Hinsicht zu geben« (Thomsen 1837, 89). 9 Thomsen (1858, 14) erklärte wörtlich: »Die Sonderung nach den drei Hauptepochen geschieht nach der Form, Arbeitsart, den Zieraten, chemischen Bestandtheilen der Sachen, nach der verschiedenen Begrabungsweise, nach dem was zusammen gefunden und dem was nie zusammen gefunden wird, kurz nach vielen verschiedenen Merkmalen und keineswegs nach dem Stoffe allein.« etwas zu sehr in den Vordergrund gestellt hat. In diesem Zusammenhang hat man bisher die Tatsache übersehen, dass Thomsen seinem Leitfaden einen Anhang mit dem Titel »Allgemeine Bemerkungen über Fund und Aufbewahrung von Alterthümern« beigegeben hat. Bereits die ersten Sätze dieses Anhangs lassen keinen Zweifel daran, dass hier ein Mann spricht, der über eine zu seiner Zeit durchaus ungewöhnliche, offenbar aus der archäologischen Felderfahrung gespeiste Einsicht verfügt. 8 Der entscheidende Unterschied zwischen Thomsen und dem zeitgenös‐ sischen antiquarisch-historischen Denken lag vor allem in der unterschied‐ lichen Bewertung der archäologischen Quellen. Vor den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts mangelte es weitgehend an einer auf systematischer Beobachtung beruhenden Berücksichtigung bzw. Analyse der zur Verfügung stehenden archäologischen Funde und Befunde. Zusammenfassend kann man festhalten, dass Thomsen in seinem Leit‐ faden nicht irgendein antik vermitteltes oder aufgrund anderer Quellena priori gewonnenes Schema abstrakter Altersordnung vorstellt. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die oft gehörte Meinung, für Thomsens Periodenteilung und Datierung sei das Material der einzu‐ ordnenden archäologischen Objekte ausschlaggebend gewesen, nicht den Tatsachen entspricht. In einem »Sendschreiben an die erste Section der Versammlung deutscher Alterthums- und Geschichtsvereine« hat er sich im Jahre 1858 vielmehr mit Nachdruck gegen die Unterstellung verwahrt, er habe die Periodengliederung ausschließlich auf die Verschiedenheit des Werkstoffs der Objekte gegründet. Er verweist vielmehr darauf, neben dem Material der Gegenstände »viele verschiedene Merkmale« einschließlich des Fundkontexts berücksichtigt zu haben. 9 Heute ist man der Meinung, die von Thomsen in diesem Brief prägnant zum Ausdruck gebrachte empirische 3.2 C. J. Thomsen 65 <?page no="66"?> 10 Es ist allgemein bekannt, dass es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts keineswegs nur Zustimmung, sondern auch vehementen Widerstand gegen das Dreiperiodensys‐ tem gegeben hat. Einer der einflussreichsten Opponenten seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts war der Begründer des Römisch-Germanischen Zentralmuseums in Mainz, Ludwig Lindenschmit d. Ä. (1809-1893). Tanja Panke (1998) hat in einer eingehenden Analyse herausgearbeitet, warum es Lindenschmit nicht möglich war, die Existenz einer einheimischen »Bronce-Cultur« nördlich der Alpen und damit die Gültigkeit des Dreiperiodensystems zu akzeptieren. 11 In diesem Sinne Kossinna 1910 und Mötefindt 1910; hierzu Eggers 1959, 43 ff. Verfahrensweise habe seinem tatsächlichen Vorgehen bei der Aufstellung des Dreiperiodensystems entsprochen. Er ordnete die Altertümer nach einem chronologischen System, das er in seinen wesentlichen Zügen über den Kontext und das Quantitätskriterium methodologisch begründet und in seinen spezifischen Einzelheiten mit zahlreichen empirischen Beobach‐ tungen belegt hat. Diese Verbindung von methodologischem Prinzip und Empirie unterscheidet ihn von allen Vorläufern und Zeitgenossen, und daher mag man ihn mit Fug und Recht als den Begründer der Ur- und Frühgeschichtlichen Archäologie bezeichnen. 10 3.3 J. F. Danneil und F. Lisch In den letzten Jahrzehnten des 19. bis an den Beginn des 20. Jahrhunderts hat man in Deutschland, nicht zuletzt aus nationalistischen Gründen, sehr nachdrücklich die Ansicht vertreten, dass Thomsen wenn überhaupt, dann keineswegs allein die Ehre gebühre, das Dreiperiodensystem entwickelt zu haben. Vielmehr hätten Johann Friedrich Danneil (1783-1868) und Georg Christian Friedrich Lisch (1801-1883) ein mindestens ebenso großes Anrecht darauf. 11 Danneil war Gymnasialrektor in Salzwedel (Altmark) und widmete sich in seiner Freizeit »historisch-antiquarischen Forschungen«, nämlich der Ausgrabung »vaterländischer Altertümer«. Lisch wurde 1837 Direktor der Großherzoglichen Altertumssammlung in Schwerin bzw. in Ludwigslust (Mecklenburg). Er vollendete das von Hans Rudolf Schröter (1798-1842) begonnene Werk Friderico-Francisceum oder Grossherzogliche Alterthümersammlung aus der altgermanischen und slavischen Zeit Meklen‐ burgs zu Ludwigslust (Lisch 1837a). Beide Gelehrten, die in wissenschaftli‐ chem Kontakt standen, nahmen eine Klassifikation und relativ-zeitliche Bestimmung der ihnen bekannten ur- und frühgeschichtlichen Grabdenk‐ mäler und Kleinfunde vor. Danneil legte seine Auffassungen in einem »Ge‐ 66 3 Stein - Bronze - Eisen: Das Dreiperiodensystem <?page no="67"?> 12 Zu Lisch siehe auch Lehmann 2001. neral-Bericht über Aufgrabungen in der Umgegend von Salzwedel« (Danneil 1836) nieder, Lisch veröffentlichte seine Ansichten im Friderico-Francisceum bzw. in einem parallel erschienenen kleinen Textband mit dem Titel An‐ deutungen über die altgermanischen und slavischen Grabalterthümer Meklen‐ burgs und die norddeutschen Grabalterthümer aus der vorchristlichen Zeit überhaupt (Lisch 1837b). Ernst Meyer (1956/ 58, 2) kommt in einer knappen biographischen Skizze zu dem Ergebnis, dass Lisch seine Periodengliede‐ rung nicht aus einschlägigen Beobachtungen bei Ausgrabungen, sondern bei der Ordnung der großherzoglichen Sammlung in Ludwigslust gewonnen habe. 12 Betrachtet man die Untersuchungen von Danneil und Lisch aus einer wis‐ senschaftshistorischen und wissenschaftstheoretischen Perspektive, kommt der Veröffentlichung von Danneil mit ihrer eingehenden Berücksichtigung und Erörterung der konkreten Funde und Befunde zweifellos eine größere Bedeutung zu. In der wissenschaftlichen Welt jedoch blieb dieser Publikation jegliche Wirkung versagt. Nicht Danneil, sondern Lisch wurde einer der füh‐ renden Archäologen Deutschlands, und zwar nicht zuletzt auch durch seine organisatorisch-wissenschaftspolitischen Aktivitäten im Gesamtverein der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine, zu dessen Gründungsmitglie‐ dern er 1852 gehörte. Danneil hingegen blieb zeitlebens auf den lokalen bzw. regionalen Rahmen beschränkt, und sein »General-Bericht« erlangte somit keine darüber hinausgehende Resonanz und Nachwirkung. Danneils Abhandlung repräsentiert wohl die erste Publikation, in der allein auf der Basis langjähriger Ausgrabungspraxis eine formale und re‐ lativ-zeitliche Klassifikation von Grabdenkmälern und zugehörigen Klein‐ funden vorgenommen wurde. Sein System beruhte auf zwei Kriterien, nämlich zum einen auf der Form und Konstruktion der Gräber und zum andern auf der Art und dem Werkstoff der darin gefundenen Objekte. Beide Kriterien zusammengenommen entschieden über die jeweilige Posi‐ tion innerhalb dieses Systems. Trotz seiner ausgeprägt empirischen, auf den konkreten Fund und Befund gerichteten Grundhaltung war Danneil durchaus in der Lage, wiederkehrende Strukturen zu erkennen und zu ver‐ allgemeinern. Anders als Thomsen sprach er jedoch nicht explizit von einem »Stein-«, einem »Bronce-« und einem »Eisen-Zeitalter«. Er hat jedoch, wie schon Hans Hildebrand (1842-1913) in seinem Beitrag zur Geschichte des Dreiperiodensystems ausdrücklich feststellte, »offenbar gesehen, dass 3.3 J. F. Danneil und F. Lisch 67 <?page no="68"?> 13 Hildebrand 1886, 358. 14 Danneil (1836, 578 f.) schreibt: »Der Grundsatz: Je kolossaler und roher die zu den Bauten angewandten Materialien sind, je mühevoller dieselben zur Stelle haben ge‐ schafft werden müssen, je größer die rohe Kraft ist, die bei den Bauten in Anwendung gekommen; desto älter sind dieselben - ist wohl allgemein als richtig anerkannt.« Aus dieser Prämisse ergibt sich zwangsläufig alles Weitere: »Wenden wir dieß auf unsere Begräbnißplätze an, so werden wir die Werke der ersten […] Klasse [= Großsteingrä‐ ber] für die ältesten Ueberbleibsel einer vorgeschichtlichen Zeit in unserer Gegend anerkennen müssen.« es eine Zeit der Steingeräthe, eine andere der Bronzegeräthe und noch eine der Eisengeräthe gab«. 13 In der Tat lassen seine Ausführungen keinen Zweifel daran, dass er sein System nicht nur als eine zweckmäßige mor‐ phologisch-inhaltliche Einteilung von Grabdenkmälern, sondern zugleich als Ordnung im Sinne einer zeitlichen Abfolge verstand. Von besonderem Interesse ist dabei die explizite Begründung dieser zeitlichen Abfolge. Sie basiert auf einem kulturevolutionistischen Modell, das eine Entwicklung vom physisch und handwerklich Rohen zum weniger Rohen bzw. zur Verfeinerung unterstellt. 14 3.4 Absicherung und Popularisierung des Dreiperiodensystems Bei der im vorangegangenen Abschnitt entwickelten Einschätzung der archäologischen Aktivitäten und Erkenntnisse von Danneil stellt sich die Frage, warum die erste archäologische Begründung des Dreiperiodensys‐ tems beinah ausschließlich mit dem Namen Thomsens verknüpft ist. Man könnte geneigt sein, die Antwort allein im Inhalt der 1836 erschienenen Veröffentlichungen der beiden Männer zu suchen. Dabei würde sich in der Tat herausstellen, dass Thomsen auf das Problem der relativen Altersfolge der Altertümer entschieden direkter, prägnanter und auch ausführlicher als Danneil eingegangen ist. Es ist offenkundig, dass die entsprechenden Ausführungen Danneils im Vergleich zu denen von Thomsen gleichsam beiläufig geäußert wurden - sie treten gegenüber den ausführlichen Erör‐ terungen über Form und Konstruktion der Gräber usw. gänzlich in den Hintergrund. Thomsen hat also wohl schon allein aufgrund seiner gezielten, expliziten Behandlung der Altersabfolge unter seinen Zeitgenossen eine größere Resonanz erfahren. Außerdem versprach und lieferte er einen »Leitfaden zur Nordischen Alterthumskunde«, während Danneil in seinem 68 3 Stein - Bronze - Eisen: Das Dreiperiodensystem <?page no="69"?> 15 Worsaae 1844, IV. 16 Eine umfassende Würdigung der Bedeutung von Thomsen findet sich in Aarbøger 1988. »General-Bericht« lediglich ur- und frühgeschichtliche Grabanlagen eines geographisch-archäologischen Kleinraums behandelte. Die Wirksamkeit einer Veröffentlichung wird aber bekanntlich keines‐ wegs allein durch ihre Qualität oder die Weite ihrer räumlich-sachlichen Perspektive bestimmt. Sie resultiert vielmehr zu einem beträchtlichen Teil aus Faktoren, die primär gar nichts oder nur wenig mit ihrem Inhalt zu tun haben. So erschien Danneils Abhandlung als ein Beitrag unter vielen im zweiten Band einer Zeitschrift, die ganz allgemein dem »Gebiet historisch-antiquarischer Forschungen« gewidmet war. Die Auflage dieser Zeitschrift dürfte höchstens einige hundert Exemplare betragen haben. Danneil war zudem ein außerhalb seines engeren Wirkungskreises so gut wie unbekannter Gymnasialprofessor. Ganz anders Thomsen: Seine Darlegungen erschienen im Rahmen einer zwar schmalen, aber selbständi‐ gen Schrift. Sie repräsentierte nicht nur einen »Leitfaden zur Nordischen Alterthumskunde«, sondern zugleich auch einen »Leitfaden« für das König‐ liche Museum Nordischer Alterthümer in Kopenhagen. Jens Jacob Asmussen (»J. J. A.«) Worsaae (1821-1885) zählte dieses Museum sieben Jahre nach dem Erscheinen der Originalausgabe des Ledetraad zu den bedeutendsten Altertumssammlungen Europas. 15 Somit wird deutlich, welche Rolle seinem Direktor Thomsen in der europäischen Altertumskunde um die Mitte des 19. Jahrhunderts beizumessen ist; auch aus dieser Tatsache resultierte die mittel- und langfristige Wirkung des Leitfadens. Es kommt hinzu, dass die Originalausgabe des Ledetraad in der selbst für heutige Verhältnisse außergewöhnlich hohen Auflage von 5000 Exemplaren gedruckt wurde. Viele davon wurden kostenlos im Lande verteilt, so dass Kristian Kristiansen (1981, 24, 41 Anm. 8) in seiner Sozialgeschichte der dänischen Archäologie von einer »systematischen Publizitäts-Kampagne« sprach. In Anbetracht all dieser Faktoren erscheint es beinahe selbstver‐ ständlich, dass die archäologische Begründung des Dreiperiodensystems mit dem Namen von Thomsen und nicht mit dem Danneils verknüpft ist. 16 Der enorme publizistische Erfolg von ThomsensLeitfaden ist allerdings von der in diesem Zusammenhang wichtigen, 1843 im dänischen Original erschienenen Monographie Dänemarks Vorzeit durch Alterthümer und Grab‐ hügel beleuchtet von J. J. A. Worsaae (1844) übertroffen worden. Der damals erst zweiundzwanzigjährige Worsaae hat darin drei fundamentale metho‐ 3.4 Absicherung und Popularisierung des Dreiperiodensystems 69 <?page no="70"?> 17 Worsaae äußert sich hierzu bei der Erörterung bronzezeitlicher Grabhügel. So heißt es zum Beispiel: »Daß das Steinalter […] in der That am weitesten in die Zeit zurück geht, davon enthalten die Grabhügel vollgültige Beweise. Am Gipfel und an den Seiten eines Erdhügels finden sich sehr oft Thonkrüge mit verbrannten Gebeinen und daneben Bronzesachen, während man am Boden des Hügels die eigentliche alte Grabstätte, eine Jettenstube [Großsteingrab] mit unverbrannten Leichen und Steinsachen, antrifft« (Worsaae 1844, 74; entspr. 75). 18 In einem »Anhang über Ausgrabung der Hügel und Aufbewahrung der Alterthümer« stellt Worsaae (1844, 122) Folgendes fest: »Da es […] von Wichtigkeit ist zu wissen, welche die innere Beschaffenheit des Hügels ist, und welche Verbindung die Grabstät‐ ten und die niedergelegten Alterthümer unter sich haben, so muß das Graben selbst mit möglichster Behutsamkeit vorgenommen werden.« An anderer Stelle schreibt er: »Wir würden so im Vorhergehenden die Alterthümer kaum auf drei auf einander folgende Zeitalter haben beziehen können, wenn nicht die Erfahrung gelehrt hätte, daß Alterthümer, die verschiedenen Zeitaltern angehören, auch in der Regel für sich gefun‐ den werden.« Dass hier nicht sämtliche Fundgattungen gleichermaßen relevant sind, erläutert er dann am Beispiel der Torfmoore: »Eine große Menge von Alterthümern wird z. B. in Torfmooren aufgegraben, allein wer darf mit Sicherheit behaupten, jene Sachen hätten von der Zeit an, da sie gebraucht wurden, immer daselbst gelegen, und jedenfalls, wer kann entscheiden, ob sie nicht späterhin mit jüngern hineingeworfenen oder verlornen Sachen gemischt worden seien? « Davon setzt er Gräber ab: »[…] von den Gräbern wissen wir, daß sie in der Regel sowohl die Gebeine der Todten als auch außerdem viele von ihren Waffen, Geräthschaften und Geschmeiden bergen, die in der Vorzeit neben ihnen begraben wurden. Hier können wir also im Allgemeinen erwarten diejenigen Sachen beisammen zu finden, die ursprünglich zu einer Zeit gebraucht worden sind« (ebd. 61, ferner 101 ff., 124, 125). 19 Hierzu Worsaae (1844, 62): »Aus einem einzelnen alleinstehenden Grabhügel darf man indessen nicht zu viel schließen wollen, sondern dadurch, daß wir eine Menge von Beobachtungen aus allen Gegenden des Landes vergleichen, gelangen wir nach und nach zur Erkenntnis des Allgemeinen und Besonderen an den Gräbern, und wir lernen dadurch die verschiedenen Arten derselben auf bestimmte Classen und einigermaßen bestimmte Zeiten zurückführen.« Entsprechend heißt es auf der vorletzten Seite: »[…] historische Resultate gehen erst aus der Betrachtung vieler gleichartiger Exemplare hervor« (ebd. 126). dische Prinzipien formuliert und systematisch angewendet: Erstens das Prinzip der Stratifizierung, 17 zweitens das Prinzip der Fundvergesellschaf‐ tung 18 und drittens das Prinzip der großen Zahl. 19 Während die beiden letzten Prinzipien bereits bei Thomsen recht klar ausgeprägt sind, kommt Worsaae das Verdienst zu, nicht nur als erster das bei Grabhügeln häufig zu beobach‐ tende Phänomen der Mehrphasigkeit, sondern auch dessen methodische Bedeutung erkannt zu haben. Neben den beiden anderen Prinzipien nutzte er daher vor allem die Stratifizierung von bronzezeitlichen Grabhügeln, um die Richtigkeit des Dreiperiodensystems zu erweisen. Alle drei Prinzi‐ pien bilden bis heute die methodische Basis für die Erarbeitung relativer 70 3 Stein - Bronze - Eisen: Das Dreiperiodensystem <?page no="71"?> 20 Der amerikanische Peruanist J. H. Rowe (1962) konzentrierte sich in seiner Würdigung dieser Schrift auf das Prinzip der Fundvergesellschaftung, das heißt auf Worsaaes Formulierung des Konzepts des Geschlossenen Funds (Worsaae’s Law). Zu Worsaae siehe auch Klindt-Jensen 1975, 68 ff. und Thrane 2007. Chronologien. Worsaae hat mit seiner Schrift nicht nur einen Abriss der Ur- und Frühgeschichte Dänemarks, sondern zugleich einen wesentlichen Beitrag zur Begründung der wissenschaftlichen Archäologie vorgelegt. 20 Die Breitenwirkung dieser ersten größeren Veröffentlichung Worsaaes lässt sich bereits aus einer Bemerkung in seiner »Vorrede« erahnen. Darin erwähnt der Autor, dass der Band von der Gesellschaft für den rechten Gebrauch der Preßfreiheit herausgegeben und in »mehreren tausend Exemplaren an ihre Mitglieder und die zahlreichen Volksbibliotheken rings im Lande umher vertheilt« worden sei (Worsaae 1844, IV f.). Nach Kristiansen (1981, 24) sind von der Originalausgabe sofort nach ihrem Erscheinen 5200 Exemplare vertrieben worden; Ole Klindt-Jensen (1975, 70) spricht von einer Auflage von 7000 Exemplaren. Bereits ein Jahr danach erschien eine deutsche und wiederum fünf Jahre später eine englische Übersetzung. Daraus ergibt sich, dass diese Schrift um die Mitte des 19. Jahrhunderts in weiten Teilen Europas einen beträchtlichen Einfluss auf die zunehmend systematische Beschäfti‐ gung mit ur- und frühgeschichtlichen Hinterlassenschaften ausgeübt haben dürfte. Die Erörterung des Dreiperiodensystems hat gezeigt, dass sich im frü‐ hen 19. Jahrhundert erstmals eine neue Einstellung zu den sogenannten »vaterländischen Alterthümern« abzuzeichnen beginnt. Die ur- und früh‐ geschichtlichen Quellen wurden nicht mehr nur als eine willkommene, wenngleich weitgehend zufällige und damit notgedrungen partielle Illus‐ tration gewisser Ausführungen antiker Autoren gewertet. Im Ledetraad von Thomsen und in anderen zeitgenössischen Veröffentlichungen haben diese Quellen vielmehr eine neuartige, eigene Wertigkeit angenommen. Sie werden nunmehr als historische Quellensui generis begriffen - als Quellen, die durch ihre bloße Existenz geeignet sind, eine Zeit zu erhellen, die jenseits der Schwelle geschriebener Zeugnisse liegt. Aus dieser Auffassung resultiert auch das Bemühen, diese Quellen erstmals so zu ordnen, dass sich darin ihr relatives Alter widerspiegelt. Thomsen verfügte offenbar über eine eingehende Kenntnis archäologi‐ scher insitu-Verhältnisse. Es ist kaum vorstellbar, dass er sonst so revo‐ lutionäre Aussagen wie die über die »Verbindung« der Kleinaltertümer 3.4 Absicherung und Popularisierung des Dreiperiodensystems 71 <?page no="72"?> 21 Siehe unten, Kap. 7.3, S. 235 ff. untereinander hätte treffen können. Wir müssen uns bewusst sein, dass mit diesem Verständnis archäologischer Quellen eine differenzierte Einsicht in die Tiefe der urgeschichtlichen Vergangenheit einherging. Der »dichte Nebel«, in den für Nyerup alles eingehüllt war, was der Einführung des Christentums vorausging, begann sich mehr und mehr zu lichten. Die sukzessive Erschließung der immensen zeitlichen Tiefe der vorchristlichen menschlichen Vergangenheit führte zu einer immer feineren Perioden- und Stufenteilung der archäologischen Materialien. 3.5 Heutige Bedeutung des Dreiperiodensystems Bei einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Dreiperiodensystem spielt nicht nur seine historische, sondern auch seine heutige Bedeutung eine wichtige Rolle. Daher stellt sich die Frage, ob dieses System mehr als 185 Jahre nach seiner Formulierung überhaupt noch gültig ist. In Anbetracht eines Quellenstands, der sich infolge weltweit praktizierter archäologischer Untersuchungen sowohl qualitativ als auch quantitativ grundlegend ver‐ ändert hat und ständig weiter verändert wird, erscheint dies keineswegs sicher. Zudem wäre zu fragen, wie es denn heute mit der Brauchbarkeit dieses Systems als relativ-chronologisches Gliederungsprinzip ur- und früh‐ geschichtlicher Phänomene steht. Die Antwort auf die Frage nach der heutigen Brauchbarkeit des Dreipe‐ riodensystems als relatives Zeitgerüst ist eindeutig. Schon im Verlaufe des 19. Jahrhunderts erwies sich die Einteilung der ur- und frühgeschichtlichen Funde und Befunde in drei große Perioden als ungenügend für eine hinrei‐ chende zeitliche Differenzierung der Altertümer. Daher wurde nicht nur die Stein-, sondern auch die Bronzezeit bereits in den Jahren 1859-61 von Worsaae weiter untergliedert (Gräslund 1987, 34 ff.). Eine erste zeitliche Differenzierung der Eisenzeit erfolgte wenige Jahre später, und auch hierbei spielte Worsaae eine Rolle (ebd. 48 ff.). Damit war ein Trend eingeleitet, der die Ur- und Frühgeschichtliche Archäologie seitdem kennzeichnet. Auch heute ist das Bemühen um eine immer feinere relative Chronologie allgegenwärtig. Inwieweit dieses Anliegen berechtigt und realisierbar ist, wird später zu erörtern sein. 21 72 3 Stein - Bronze - Eisen: Das Dreiperiodensystem <?page no="73"?> 22 Ähnlich auch Hansen 2001a. - Roddens Begründung, die sie am Ende ihres Aufsatzes prägnant zusammenfasst (Rodden 1981, 64 f.), deckt sich allerdings nicht mit den von mir herausgestellten methodologischen Charakteristika des Dreiperiodensystems. Die Frage nach der Gültigkeit des Dreiperiodensystems stellt sich heute anders als zu Thomsens Zeiten. Inzwischen ist klar, dass die kulturge‐ schichtliche Abfolge Stein - Bronze - Eisen auf keiner Gesetzmäßigkeit beruht. Insofern überrascht es nicht, dass die weltweit betriebene archäo‐ logisch-ethnographische Forschung die während des 19. Jahrhunderts gän‐ gige Vorstellung von der Zwangsläufigkeit dieser Abfolge revidiert hat: Aus einer globalen Perspektive betrachtet, ist das Dreiperiodensystem nur eingeschränkt gültig. So gibt es auf dem afrikanischen Kontinent keine Bronzezeit, und in der Neuen Welt fehlte in voreuropäischer Zeit eine durch Eisen geprägte Epoche. Auf der anderen Seite kennt man aber auch kein Beispiel einer gänzlich oder teilweise umgekehrten Abfolge. Die gesamte Sequenz des Dreiperiodensystems ist jedoch nur im europäisch-asiatischen Raum zu finden. Heutzutage besitzt das Dreiperiodensystem so gut wie keine konkrete archäologische Bedeutung mehr. Es dient lediglich noch zu einer ersten gro‐ ben chronologischen Kennzeichnung von Arbeitsfeldern. Ungeachtet dieser bescheidenen Rolle, die dem System Thomsens verblieben ist, muss es den‐ noch als ein fundamentaler Teil der Geschichte des Fachs betrachtet werden. Mit seiner Formulierung und Durchsetzung erfolgte in doppelter Hinsicht eine wissenschaftliche Grundlegung der Beschäftigung mit der ›heidnischen Vorzeit‹: Auf der einen Seite wurde der »unermessliche Zeitraum« Nyerups in einer bisher nicht gekannten klaren und einleuchtenden Weise gegliedert, auf der anderen Seite stellten die von Thomsen formulierten, dem System zugrunde liegenden Prinzipien erstmals objektive archäologische Kriterien für die Untersuchung von Hinterlassenschaften aus ur- und frühgeschicht‐ licher Zeit bereit. Dies gilt nicht minder für Worsaaes stratigraphische Beobachtungen an Grabhügeln. Nimmt man das alles zusammen, so kann man das Dreiperiodensystem ohne Weiteres mit Judith Rodden (1981) als das »erste Paradigma der Archäologie« bezeichnen. 22 Die Bedeutung des Dreiperiodensystems liegt in seiner forschungsge‐ schichtlichen Rolle. Mit der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfolg‐ ten inneren Differenzierung der drei ›Perioden‹ diente es nicht mehr als ein relativ-chronologisches System zur Einordnung ur- und frühgeschichtlicher Bodenzeugnisse. Man begriff es stattdessen zunehmend als ein Dreistadien‐ 3.5 Heutige Bedeutung des Dreiperiodensystems 73 <?page no="74"?> 23 In einem am 19. Februar 1825 an Büsching in Breslau geschriebenen Brief hatte sich Thomsen ebenfalls sehr deutlich ausgedrückt: »Es scheint uns klar, daß in einer frühen Periode der ganze nördliche Teil von Europa […] von im Grunde unter sich sehr ähnlichen und sehr rohen Völkerstämmen bewohnt war. Daß diese mit den wilden Nordamerikanern in vielen Dingen übereinstimmten, ist gewiß. Sie waren kriegerisch, wohnten im Walde, kannten keine Metalle oder doch nur sparsam, teilten sich in Haufen und wurden teils aufgerieben, teils unterjocht, teils in äußere Enden und in entfernte Gegenden hingedrängt« (Seger 1930, 4). 24 Somit ist es kein Zufall, dass auch Danneil, wie oben ausgeführt (siehe Kap. 3.3 mit Anm. 94), sich zur Begründung seines relativ-chronologischen Systems auf eine kulturevolutionistische Hypothese berief. konzept der materiellen und ›sittlichen‹ Entfaltung der Kultur. Dabei sollte man allerdings nicht übersehen, dass dieses stadiale Denken bereits im frühen 19. Jahrhundert durchaus gängig war. Entsprechende Belege finden sich auch bei Thomsen (1837, 58). 23 Bei allem Wandel, den die Beurteilung der mit dem Entdeckungszeitalter in das Blickfeld der Europäer geratenen ›exotischen‹ Völker erfahren hat, war doch ein spekulativ-wertendes Mo‐ ment dabei immer sehr präsent. Schon deswegen wäre es unrealistisch, sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Entdeckung einer Steinzeit in der Urgeschichte Europas ohne entwicklungsgeschichtliche Spekulationen vorzustellen. 24 Der hier interessierende Unterschied zwischen dem frühen und dem späten 19. Jahrhundert liegt weniger im Prinzipiellen als vielmehr im Grad und in der Systematik kulturevolutionistischen Denkens. Es mutet anachronistisch an, dass die evolutionistische Komponente des Dreiperio‐ densystems in einer ausgesprochen kruden Form bis heute fortlebt und gerade im populären Kontext sehr gegenwärtig ist. Das gilt in einem beson‐ deren Maße für den Begriff ›Steinzeit‹, der nicht nur für Rückständigkeit steht, sondern geradezu das Gegenbild von ›Zivilisation‹ verkörpert. 3.6 Real-zeitliche und stadiale Konzepte Bereits bei der forschungsgeschichtlichen Betrachtung zeigt sich also eine gewisse Doppelgesichtigkeit des Dreiperiodensystems. Stellt man sich dann grundsätzlich die Frage, wie denn der Begriff ›Periode‹ in diesem Zusam‐ menhang inhaltlich zu bestimmen sei, wird deutlich, dass dabei die beiden bereits erwähnten Ebenen berücksichtigt werden müssen: einerseits die relative Zeitdifferenzierung und andererseits eine entwicklungsgeschicht‐ liche oder stadiale Kulturklassifikation. In diesem Sinne handelt es sich 74 3 Stein - Bronze - Eisen: Das Dreiperiodensystem <?page no="75"?> 25 Hierzu bes. Strahm 1981; ders. 1982a; ders. 1982b; ders. 1988; ders. 1991; ders. 2001; ders. 2005. Siehe in diesem Zusammenhang auch Strahms (1998) Konzeption der kulturellen Evolution des Menschen. 26 Zum gegenseitigen Verhältnis von Chronologie und ›Phaseologie‹ siehe Narr 1975, 8 f., 11 ff. beim archäologischen Konzept ›Periode‹ (und das gilt ebenso für ›Stufe‹, ›Phase‹ etc.) sowohl um ein Zeitals auch um ein evolutionistisches Kon‐ zept. Christian Strahm hat diese Doppelgesichtigkeit der archäologischen Periodisierung am Beispiel der Kupfersteinzeit (Chalkolithikum) und der Frühen Bronzezeit in einer Reihe von Arbeiten eingehend erörtert. 25 Dabei ging es ihm insbesondere um die kulturbzw. entwicklungsgeschichtliche Bedeutung der Erfindung der Kupfer- und Bronzeherstellung und ihrer Konsequenzen. Grundsätzlich ist klar, dass sich die relativ-chronologische und die kultur- oder entwicklungsgeschichtliche Ebene zwar analytisch, nicht aber inhaltlich trennen lassen. Wenn wir von entwicklungsbezogenen Kulturkonzepten reden, dann le‐ gen wir dabei eine generalisierende, universal- oder entwicklungsgeschicht‐ liche Perspektive zugrunde: Wir betrachten nicht mehr die Entfaltung bzw. den Ablauf einzelner Kulturen, sondern die Herausbildung und den Entwicklungsgang der Kultur als Ganzes. So gesehen sind die beiden Di‐ mensionen ›Zeit‹ und ›Kultur‹ insofern miteinander verwoben, als die kul‐ turklassifikatorische oder entwicklungsgeschichtliche Variante des Begriffs ›Periode‹ immer auch eine zeitliche Komponente enthält. In diesem Sinne gehen Kulturen mit aneignender Produktionsweise, also Jäger-/ Fischer- und Sammlerkulturen, solchen mit einer Nahrungsmittel produzierenden Wirtschaftsweise voraus. Archäologisch gewendet und auf die frühe Urge‐ schichte bezogen implizieren Jäger/ Fischer und Sammler immer zugleich auch die Zeitkonzepte ›Paläolithikum‹ und ›Mesolithikum‹, Feldbauern mit einer lithisch geprägten materiellen Kultur dagegen das Zeitkonzept ›Neolithikum‹. Periodisierung der Kultur heißt also immer auch Bestimmung einer rela‐ tiv-zeitlichen Position, aber nicht in einem absolut gesetzten, gewisserma‐ ßen real-zeitlichen Sinne, sondern in einer ›entwicklungsgeschichtlichen‹, ›kulturhistorischen‹, vielleicht gar ›universalhistorischen‹, ›strukturellen‹ oder ›phaseologischen‹ Sichtweise. 26 So repräsentieren heute lebende Jä‐ ger/ Fischer und Sammler nach ihrem Wirtschafts- und Kulturtyp ein frühes, eben ›paläolithisches‹ oder ›mesolithisches‹ Stadium, während sie tatsäch‐ lich (›real-zeitlich‹) in der Gegenwart, das heißt in der ›Eisenzeit‹, leben. 3.6 Real-zeitliche und stadiale Konzepte 75 <?page no="76"?> 27 Siehe unten, Kap. 14.5 (S. 419 ff.) sowie L. G. Freeman, Jr. und H. M. Wobst in Kap. 14.6 (S. 431 ff.). Es sei nicht verschwiegen, dass hier erhebliche Probleme liegen. Natürlich sind Jäger/ Fischer und Sammler keine ›statischen‹ Populationen, die auf einem bestimmten Entwicklungsniveau ›verharrten‹. Es handelt sich bei ihnen also nicht um ›ahistorische‹ Gruppen, die sich dem in der Welt der Kulturerscheinungen allgegenwärtigen Wandel entzogen haben. Sie sind diesem Wandel vielmehr genauso unterworfen wie alle anderen Be‐ völkerungen oder Kulturen. Somit dürfen zeitgenössische Jäger/ Fischer und Sammler weder mit Jägern des Paläolithikums noch mit solchen des Mesolithikums gleichgesetzt werden. Die Frage, ob - und wenn ja, inwieweit - zeitgenössische, phaseologisch frühe Kulturen als contemporary ancestors interpretiert werden können, hängt damit unmittelbar zusammen. Ihre Beantwortung ist von erheblicher Bedeutung für den Bereich der archäolo‐ gischen Interpretation. Darauf wird später im Kontext von Analogie und Ethnoarchäologie zurückzukommen sein. 27 Das Dreiperiodensystem lässt sich damit sowohl als zeitliches bzw. real-zeitliches als auch entwicklungsgeschichtliches bzw. phaseologisches Konzept verstehen. Als ein aus drei Perioden bestehendes Zeitkonzept ist es jedoch nur im europäisch-asiatischen Raum anwendbar, da - wie gesagt - nur dort die gesamte Sequenz vertreten bzw. durchlaufen worden ist. Dabei muss allerdings berücksichtigt werden, dass diese Abfolge auch für diesen Raum nicht als überregional gültiges absolutes Zeitkonzept verwendet werden kann - die einzelnen Perioden sind absolut-zeitlich gesehen nicht äquivalent. So beginnt die Bronzezeit in Vorderasien nach derzeitigem Forschungsstand bereits im frühen 3. Jahrtausend, während sie im mitteleuropäischen Raum erst gegen Ende des 3. Jahrtausends einsetzt. Aus dieser Ungleichzeitigkeit folgt, dass Europa und Asien für eine adäquate Anwendung des real-zeitlich interpretierten Dreiperiodensystems nach ein‐ zelnen Räumen zu differenzieren sind. Das ist jedoch rein hypothetisch, da die Kulturentwicklung, wie einleitend festgestellt, mit einem derart groben Raster schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr angemessen erfasst werden kann. Als Kultur- oder phaseologisches Konzept repräsentiert das Dreiperio‐ densystem eine kulturgeschichtliche Entwicklung, deren Sequenz prinzipi‐ ell der historischen Wirklichkeit entspricht. Eine bestimmte Forschungs‐ richtung in der Archäometallurgie hat die Abfolge Stein - Bronze - Eisen 76 3 Stein - Bronze - Eisen: Das Dreiperiodensystem <?page no="77"?> 28 Hierzu auch Wertime/ Muhly 1980b, XIII ff. (die Zitate auf S. XIV u. XV). im Sinne einer historischen Notwendigkeit interpretiert, indem sie ihr eine innere ›pyrotechnische‹ Zwangsläufigkeit zuordnet. Man unterstellt, dass der im ur- und frühgeschichtlichen Orient von der Keramikproduktion ausgehende, sich über viele Jahrhunderte erstreckende technische Umgang mit Feuer über das Ausschmelzen vor allem von Kupfererzen zur Eisenge‐ winnung führen musste. Eisen sei ein natürliches Nebenprodukt bei der Schmelze siliziumhaltiger Kupfer- und Bleierze, denen zum Beispiel Hämatit als Flussmittel beigegeben worden sei (Wertime 1980, 13 ff.). So verdanke Eisen seine Existenz zwar einerseits der »unbeabsichtigten Herstellung« bei der Kupfer- oder Bleischmelze, stelle aber andererseits zugleich das »unausweichliche Endprodukt der Bronzezeit« dar. Es liegt auf der Hand, dass diese Hypothese einer »entscheidenden technischen Unausweichlich‐ keit« des Fortschreitens von der Kupferzur Eisenmetallurgie eine starke deterministische Prägung aufweist. 28 Sie sucht damit einen spezifischen ent‐ wicklungsgeschichtlichen Befund, nämlich die im europäisch-asiatischen Raum zu beobachtende kulturgeschichtliche Abfolge Stein - Bronze - Eisen, als Ergebnis einer mutmaßlichen inneren ›Logik‹ zu deuten. 3.6 Real-zeitliche und stadiale Konzepte 77 <?page no="79"?> 1 Zu Kirns Definition auch Arnold 2007, 49-51. 4 Funde und Befunde: Zur Systematik urgeschichtlicher Quellen 4.1 Definition und Systematik historischer Quellen Paul Kirn (1890-1975) definiert in seiner kleinen, 1972 in 6. Auflage erschie‐ nenen Einführung in die Geschichtswissenschaft den Begriff ›Geschichts‐ quellen‹ folgendermaßen: »Quellen nennen wir alle Texte, Gegenstände oder Tatsachen, aus denen Kenntnis der Vergangenheit gewonnen werden kann« (Kirn/ Leuschner 1972, 29). Einen Archäologen spricht diese sehr allgemeine Definition historischer Quellen vor allem deswegen an, weil ein beträchtlicher Teil archäologischer Quellen - Güter der sogenannten ›materiellen Kultur‹ - darunter fällt. Kirn fügt sogar erklärend hinzu, man brauche bei »Gegenständen« nur an »Steinbeile und Fibeln« zu denken und schon wisse man, was gemeint sei. Als Beispiele für »Tatsachen« - seine dritte Gruppe -, aus der sich Kenntnisse über die Vergangenheit gewinnen ließen, nennt er die gegenwärtige Verbreitung der englischen Sprache und des niedersächsischen Bauernhauses. 1 Im Zusammenhang mit dem Erkenntniswert einer historischen Quelle führt Kirn die Begriffe Überrest und Tradition als Gegensatzpaar ein. »Tra‐ dition« ist für ihn alles, »was aus der Absicht entspringt, der Mit- oder Nachwelt Kunde von Geschehenem zu übermitteln«, während alle übrigen Quellen, und zwar »vom steinzeitlichen Tongefäß bis […] zu Goethes Faust«, unter den Begriff »Überreste« fielen. Er weist zudem ausdrücklich darauf hin, dass ein und dieselbe Quelle »gleichzeitig zur Tradition und zu den Überresten« gehören könne. So sei Goethes Bericht über seine Teilnahme am Feldzug von 1792 gegen das revolutionäre Frankreich als »Tradition« zu werten, solange es um die Kampagne selbst gehe. Die gleiche Quelle habe hingegen als »Überrest« zu gelten, wenn solche Aspekte zur Diskussion ständen, die Goethe nur beiläufig, gleichsam unbeabsichtigt überliefert hat, zum Beispiel seine Einstellung zum Krieg und zum Vaterland. Das von Kirn verwendete Gegensatzpaar ›Tradition‹ und ›Überreste‹ geht inhaltlich auf den berühmten Berliner Historiker Johann Gustav Droysen (1808-1884) zurück, der zwischen 1857 und 1882/ 83 an den Universitäten <?page no="80"?> 2 Droysen 1967; ders. 1977. 3 Siehe etwa v. Brandt 1998, 48 ff. 4 Siehe etwa Arnold 2007. 5 Bernheim (1908, 252) definierte wie folgt: »Quellen sind Resultate menschlicher Betäti‐ gungen, welche zur Erkenntnis und zum Nachweis geschichtlicher Tatsachen entweder ursprünglich bestimmt oder doch vermöge ihrer Existenz, Entstehung und sonstiger Verhältnisse vorzugsweise geeignet sind«. Diese »Quellen« unterteilte er sodann in zwei große Gruppen, die er als »Überreste« und »Tradition« bezeichnete: »Alles, was unmittelbar von den Begebenheiten übriggeblieben und vorhanden ist, nennen wir Überreste; alles, was mittelbar von den Begebenheiten überliefert ist, hindurchgegangen und wiedergegeben durch menschliche Auffassung, nennen wir Tradition« (ebd. 255 f.). Jena und Berlin insgesamt siebzehnmal unter verschiedenen Titeln eine Vorlesung über »Methodologie und Enzyklopädie der Geschichte« gehalten hat. 2 In dieser Vorlesung behandelte er auch ausführlich die historischen Quellen bzw. - wie er es formulierte - das »historische Material«. Wenn man heute eine moderne Einführung in die Geschichtswissenschaft zur Hand nimmt, um sich über den Inhalt des Begriffs ›Historische Quellen‹ zu informieren, wird man, bevor die verschiedenen Quellengruppen aufgezählt und erörtert werden, in der Regel zunächst einmal mit den Begriffen ›Überreste‹ und ›Tradition‹ konfrontiert. 3 Wenngleich erstmals Droysen die hinter diesen beiden Begriffen ste‐ hende inhaltliche Differenzierung historischer Quellen vorgenommen und in seinen Vorlesungen vermittelt hat, stammt doch lediglich der Termi‐ nus ›Überreste‹ von ihm selbst; der Begriff ›Tradition‹ hingegen ist von Ernst Bernheim (1850-1942) geprägt worden. In der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft bilden die quellenkundlichen Differenzierungen dieser beiden Historiker noch immer die Basis aller weiterführenden Über‐ legungen zur Systematik der Geschichtsquellen. 4 Von Bernheim wurde Droysens Konzeption in leicht modifizierter Form in ein erstmals im Jahre 1889 erschienenes Lehrbuch übernommen, das während vieler Jahrzehnte zu den Standardwerken der deutschen Geschichtswissenschaft gehörte. 5 Daher beruft man sich heute bei der Behandlung solcher Fragen meist auf Bernheim. Die Bernheim’sche Quellensystematik (Abb. 2) basiert auf der Unterschei‐ dung von Überresten und Tradition im oben erörterten Verständnis. Die »Überreste« unterteilt er in »Überreste im engeren Sinne« oder »Über‐ bleibsel« und in »Denkmäler«. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass diese Unterteilung inkonsequent ist: die von ihm geschaffene Gruppe der Denkmäler beeinträchtigt die Droysen’sche Differenzierung zwischen 80 4 Funde und Befunde: Zur Systematik urgeschichtlicher Quellen <?page no="81"?> 6 Die »Inschriften« der Gruppe der Denkmäler müssten bei dieser Modifikation nicht mehr gesondert unter der Kategorie der Schriftlichen Tradition aufgeführt werden, da dort von Bernheim ohnehin schon »Historische Inschriften« genannt sind. 7 Siehe unten, Kap. 5.2. (S. 175 ff.) - In Anbetracht des Übergewichts der nichtschriftlichen Überreste in der Prähistorischen Archäologie ist die Relation zur Nichtschriftlichen Tradition auf Abb. 4 gestrichelt dargestellt worden. 8 An dieser Stelle sei auf die wichtigen Überlegungen hingewiesen, die J. Reichstein (1991) den ur- und frühgeschichtlichen Quellen aus der Perspektive der Denkmalschutzge‐ setze und der Archäologie gewidmet hat. intentionellen und nicht-intentionellen Quellen. Sie sollte daher aus der Gruppe der Überreste entfernt und in die der Tradition gesetzt werden. Dabei würden »Inschriften«, »Urkunden« und »Monumente« mit Inschriften der Schriftlichen, »Monumente« ohne Inschriften hingegen der Bildlichen Tra‐ dition zugeschlagen werden (Abb. 3). 6 Nunmehr ist die klare Droysen’sche Trennung zwischen Überresten und Tradition wieder hergestellt. Beide Kategorien lassen sich aufgrund des Vorhandenseins oder Nichtvorhandens‐ eins von Schrift weiter unterteilen. Somit ergibt sich auf der zweiten Ebene eine Differenzierung in Schriftliche und Nichtschriftliche Überreste sowie in Schriftliche und Nichtschriftliche Tradition (Abb. 4). Durch diese Modifikation und Generalisierung der Bernheim’schen Quel‐ lensystematik wird die Gesamtheit des historischen Materials so systema‐ tisiert, dass damit die Position der archäologischen, oder präziser, der urgeschichtlichen (paläohistorischen) Quellen deutlich ist. Aus der graphi‐ schen Umsetzung dieser Differenzierung der historischen Quellen wird klar, dass der Quellenbereich der Ur- und Frühgeschichtlichen Archäologie gegenüber den traditionellen Geschichtswissenschaften in dem Augenblick stark eingeschränkt ist, in dem es um die Erforschung schriftloser Kulturen geht (Abb. 4). Die Archäologie verfügt dann nur über einen Teil des gesamten Spektrums der historischen Quellen, nämlich in erster Linie über nichtschriftliche Überreste. Dass es daneben auch Quellen gibt, die als ›Tra‐ dition‹ im Droysen-Bernheim’schen Verständnis zu gelten haben, sei hier lediglich erwähnt; darauf wird später zurückzukommen sein. 7 Aufgrund der Prägung der urgeschichtlichen Quellen durch nichtschriftliche Überreste ist jedenfalls anzunehmen, dass diese besondere Struktur der Quellenbasis einen erheblichen Einfluss auf den Aussagebereich und auf die Aussagekraft der Urgeschichtswissenschaft ausübt. 8 4.1 Definition und Systematik historischer Quellen 81 <?page no="82"?> Funde und Befunde: Zur Systematik urgeschichtlicher Quellen 2 Die »Inschriften« der Gruppe der Denkmäler müssten bei dieser Modifikation nicht mehr gesondert unter der Kategorie der Schriftlichen Tradition aufgeführt werden, da dort von Bernheim ohnehin schon »Historische Inschriften« genannt sind. ten der Schriftlichen, »Monumente« ohne Inschriften hingegen der Bildlichen Tradition zugeschlagen werden (Abb. 3). 2 Nunmehr ist die klare Droysensche Trennung zwischen Überresten und Tradition wiederhergestellt. Beide Kategorien lassen sich aufgrund des Vorhandenseins oder Nichtvorhandenseins von Schrift weiter unterteilen. Somit ergibt sich auf der zweiten Ebene eine Differenzierung in Schriftliche und Nichtschriftliche Überreste sowie in Schriftliche und Nichtschriftliche Tradition (Abb. 4). Durch diese Modifikation und Generalisierung der Bernheimschen Quellensystematik wird die Gesamtheit des historischen Materials so systematisiert, dass damit die Position der archäologischen, oder präziser, der urgeschichtli- Abb. 2 Systematik historischer Quellen nach E. Bernheim. Eggert_s001-470_4Aufl_End.indd 46 Eggert_s001-470_4Aufl_End.indd 46 31.01.2012 9: 57: 37 Uhr 31.01.2012 9: 57: 37 Uhr Abb. 2: Systematik historischer Quellen nach E. Bernheim. - Entwurf Verf. nach Bernheim 1908, 258 f. 82 4 Funde und Befunde: Zur Systematik urgeschichtlicher Quellen <?page no="83"?> Definition und Systematik historischer Quellen 47 3 Siehe unten, S. 104 ff. - In Anbetracht des Übergewichtes der nichtschriftlichen Überreste in der Prähistorischen Archäologie ist die Relation zur Nichtschriftlichen Tradition auf Abb. 4 gestrichelt dargestellt worden. chen (paläohistorischen) Quellen deutlich ist. Aus der graphischen Umsetzung dieser Differenzierung der historischen Quellen wird klar, dass der Quellenbereich der Ur- und Frühgeschichtlichen Archäologie gegenüber den traditionellen Geschichtswissenschaften in dem Augenblick stark eingeschränkt ist, in dem es um die Erforschung schriftloser Kulturen geht (Abb. 4). Die Archäologie verfügt dann nur über einen Teil des gesamten Spektrums der historischen Quellen, nämlich in allererster Linie über nichtschriftliche Überreste. Dass es daneben auch Quellen gibt, die als ›Tradition‹ im Droysen-Bernheimschen Verständnis zu gelten haben, sei hier lediglich erwähnt; darauf wird später zurückzukommen sein. 3 Aufgrund der Prägung der urgeschichtlichen Quellen Abb. 3 Modifizierte Systematik historischer Quellen nach E. Bernheim. Eggert_s001-470_4Aufl_End.indd 47 Eggert_s001-470_4Aufl_End.indd 47 31.01.2012 9: 57: 37 Uhr 31.01.2012 9: 57: 37 Uhr Abb. 3: Modifizierte Systematik historischer Quellen nach E. Bernheim. - Entwurf Verf. 4.1 Definition und Systematik historischer Quellen 83 <?page no="84"?> 9 Siehe dazu im Einzelnen Eggert 2006. Abb. 4: Historische und paläohistorische Quellen. - Entwurf Verf. Es wird oft übersehen, dass sich hinter dem Begriff ›archäologische Quellen‹ eine außerordentlich umfassende und inhaltlich heterogene Kategorie ver‐ birgt. Mit dieser Bezeichnung wird ja die Gesamtheit der Zeugnisse der sehr verschiedenartigen archäologischen Einzel- und Teilfächer belegt. 9 Somit fallen nicht nur nichtschriftliche Hinterlassenschaften darunter, sondern auch solche Sachgüter, die - sei es in primärer, sei es in sekundärer Funktion - Schriftträger sind. Ein gutes Beispiel bilden die genuinen, das heißt die mittels Ausgrabungen gewonnenen Quellen der Archäologie des Mittelal‐ ters. Betrachten wir sie aus der Perspektive der Gegenüberstellung von Überresten und Tradition, so findet sich darin das gesamte Spektrum wieder, mithin schriftliche wie nichtschriftliche Zeugnisse beider Quellengruppen. Auf dieser Ebene unterscheiden sich die archäologischen Quellen der Mit‐ telalterarchäologie also nicht grundsätzlich von jenen, die die Mittlere Ge‐ schichte auswertet. Dennoch vorhandene Unterschiede der Quellen dieser beiden Fächer liegen unter anderem im Bereich der Quellengewinnung - die Quellen der Mittleren Geschichte werden in aller Regel nicht mit archäologi‐ schen Mitteln gewonnen - sowie in der Natur bestimmter Quellengruppen. So sind die Schriftquellen der Mittleren Geschichte im Gegensatz zu jenen der Mittelalterarchäologie vorwiegend organischen Ursprungs. Genauer gesagt: der jeweilige Schriftträger oder, wie Ahasver v. Brandt (1998, 66 ff.) formuliert, der »Beschreibstoff« der meisten nichtarchäologischen Schrift‐ 84 4 Funde und Befunde: Zur Systematik urgeschichtlicher Quellen <?page no="85"?> 10 Zur Frage der Quellen der Archäologie des Mittelalters und den daraus resultierenden Folgerungen siehe Scholkmann 1998; 2003; zum Selbstverständnis der Archäologie des Mittelalters generell dies. 1997/ 98. quellen ist organischer Natur, denn es handelt sich dabei um Pergament oder Papier. Zu solchen qualitativen Unterschieden gesellt sich ein quantitatives Moment: Der Anteil der einzelnen Quellengruppen verhält sich in den beiden Fächern umgekehrt proportional. Das gilt sowohl für die erste Ebene der Differenzierung in ›Überreste‹ und ›Tradition‹ als auch für die zweite Ebene der Differenzierung von schriftlichen und nichtschriftlichen Hinterlassenschaften. Anders ausgedrückt: Während der Mittelalterhistori‐ ker vorwiegend mit ›schriftlichen Überresten‹ und ›schriftlicher Tradition‹ im Sinne unserer Differenzierung arbeitet, verwendet die Mittelalterarchä‐ ologin in erster Linie ›nichtschriftliche Überreste‹. 10 Dieses Beispiel zeigt, dass die Kategorie ›archäologische Quellen‹ unter bestimmten Umständen und bei einem hohen Abstraktionsgrad mit der Kategorie ›historische Quellen‹ identisch sein kann. Will man daher die Gesamtheit der historischen Quellen im oben geforderten Sinne qualitativ differenzieren, ist der Begriff ›archäologische Quellen‹ wenig hilfreich. Man wird sich vielmehr am Kriterium der Schrift orientieren und zwischen schriftlosen bzw. nichtschriftlichen Quellen auf der einen und Schriftquellen auf der anderen Seite unterscheiden. Dem entspricht dann die Gegenüber‐ stellung von ›urgeschichtlichen‹ oder ›paläohistorischen Quellen‹ auf der einen und ›historischen Quellen im engeren Sinne‹ auf der anderen Seite. Damit bewegen wir uns auf der bereits erörterten Ebene der Unterscheidung zwischen der Urgeschichtswissenschaft und den traditionellen Geschichts‐ wissenschaften. 4.2 Definition und Systematik urgeschichtlicher Quellen Wenn wir das Ziel der historischen Wissenschaften mit Kirn als das Bemü‐ hen bestimmen, »Kenntnis der Vergangenheit« zu gewinnen, dann gilt das auch für die Archäologie. Ihr geht es dabei um die ur- und frühgeschichtliche Vergangenheit und damit fast ausschließlich um die Vergangenheit des schriftlosen Menschen. Bei der Bestimmung der Quellen der Archäologie steht daher weniger die Gesamtheit der ur- und frühgeschichtlichen Quellen 4.2 Definition und Systematik urgeschichtlicher Quellen 85 <?page no="86"?> 11 Siehe hierzu auch die explizite Gegenüberstellung von nichtschriftlichen archäologi‐ schen und schriftlichen historischen Zeugnissen in Eggert 2011/ 2023. 12 Zum Konzept der ›archäologischen Quelle‹ siehe auch Frerichs 1981, 96 ff. 13 Zur über die Ur- und Frühgeschichtliche Archäologie hinausgehende Bestimmung des Begriffs ›Artefakt‹ siehe Eggert 2014e. 14 Diese Auffassung der Kategorie ›Fund‹ deckt sich mit der von Felgenhauer (1973, 20). Er umschreibt sie so: »[…] vom urzeitlichen Menschen gefertigte bewegliche und unbewegliche Objekte organischer oder anorganischer Natur, also Artefakte im weitesten Sinne. Weiter auch alle Objekte und Erscheinungen der Natur, die zur Erschließung der Umwelt des urzeitlichen Menschen dienen, einschließlich aller von ihm an dieser bewußt oder unbewußt vorgenommenen Veränderungen und Eingriffe […] Schließlich auch die körperlichen Reste des urzeitlichen Menschen selbst.« im Mittelpunkt als vielmehr jener Teil, der nicht den Schriftzeugnissen angehört. Darin liegt, wie gezeigt, der wesentliche Unterschied zwischen den Quel‐ len der Geschichts- und der Ur- und Frühgeschichtswissenschaft. 11 Wenn ich trotz der obenstehenden Bemerkungen im Folgenden gelegentlich den Begriff ›archäologische Quellen‹ verwende, geschieht das in diesem einge‐ schränkten Sinne; es sind dann ›urgeschichtliche‹ oder ›paläohistorische Quellen‹, jedenfalls ›nichtschriftliche Quellen‹ gemeint. 12 Diese gänzlich pragmatisch scheinende Beschränkung auf nichtschriftliche Quellen enthält tatsächlich ein bedeutsames methodologisches Element, da sie auf einer wesentlichen, die Sonderstellung der Ur- und Frühgeschichtswissenschaft konstituierenden Eigenheit basiert. Aus der umfassenden Zielsetzung der Archäologie folgt, dass zu ihren Quellen nicht nur Artefakte als unmittelbare Hervorbringungen des ur- und frühgeschichtlichen Menschen gehören. 13 Hinzu treten vielmehr auch die physischen Überreste seiner selbst sowie all jene Relikte, die einst Teil seiner natürlichen organischen und anorganischen Umwelt waren. Artefakte im Sinne von materiellen Zeugnissen menschlichen Verhaltens wären somit nur ein Teil, wenngleich ein sehr wesentlicher Teil der Gesamtheit ur- und frühgeschichtlicher Quellen. Diese Quellen bestehen, allgemein ausge‐ drückt, aus Funden und Befunden. Dabei werden unter dem Begriff ›Fund‹ sowohl konkrete Objekte der materiellen Kultur - das sogenannte ›Sachgut‹ - als auch sonstige kulturelle und natürliche Materialien verstanden, aus denen Erkenntnisse über den ur- und frühgeschichtlichen Menschen und seine biophysische Umwelt gewonnen werden können. 14 Die Kategorie der Befunde wird meist sehr allgemein als ›Kontext‹ von Funden bestimmt und dann mit einer Aufzählung einschlägiger Beispiele erläutert. Am brauch‐ 86 4 Funde und Befunde: Zur Systematik urgeschichtlicher Quellen <?page no="87"?> 15 Felgenhauer (1973, 20) definiert ›Befund‹ folgendermaßen: »Feststellungen über die Beziehung der einzelnen Funde zueinander und ihre Lagerung im Boden, aber auch dokumentierte Belege ursprünglich körperhafter Gegenstände, die vergangen und nur mehr als Verfärbungen […], Abdrücke oder Hohlräume im umgebenden Erdboden zu erkennen sind, ebenso aber auch nur während der Ausgrabung sicht- und nicht erhaltbare oder nur zu rekonstruierende Bauten, Anlagen und dergleichen mehr.« 16 Zur Feldarchäologie siehe Eggert 2002/ 2023. barsten dürfte eine Definition von Felgenhauer (1973) sein. 15 Folgt man seinem Vorschlag, wäre ein Befund alles, was in einer archäologischen Fundsituation zu Erkenntnissen über die einstige Wirklichkeit führen kann. Daraus lässt sich folgende Definition ableiten: Ein Befund repräsentiert die Gesamtheit historisch aussagefähiger Beobachtun‐ gen in archäologischen Fundsituationen. Mit dieser Definition wird der Beobachtungsgabe und damit zugleich der Fähigkeit des Archäologen, einzelne Wahrnehmungen in einem Fundkon‐ text miteinander zu verknüpfen, eine entscheidende Rolle eingeräumt. In der Feldpraxis hängen das Erkennen und die Deutung eines Befunds tatsächlich von der geistigen Beweglichkeit des Archäologen bzw. der Archäologin ab. Beobachtungsgabe und Assoziationsfähigkeit allein sind jedoch noch kein Garant einer erfolgreichen Feldarchäologie. In aller Regel erkennt man nämlich nur das, was man bereits kennt. Hieraus folgt, dass die Güte archäologischer Befunde nicht allein durch die genannten intellektuellen Qualitäten der Ausgräberin und des Ausgräbers bestimmt wird. Auch die empirische Erfahrung und die allgemeine theoretisch-methodologische Kompetenz sind hierbei von Bedeutung. 16 An der vorstehenden Definition fällt auf, dass sie die in der archäologi‐ schen Quellenkunde zentrale Kategorie ›Befund‹ in einer Weise bestimmt, bei der die Summe archäologisch relevanter Beobachtungen am und im Fundkontext, nicht jedoch dieser Kontext selbst im Mittelpunkt steht. Diese recht abstrakte Definition trifft zwar den Kern dessen, was ein Befund auf einer allgemeinen, die Vielzahl und Verschiedenartigkeit konkreter archäo‐ logischer Manifestationen transzendierenden Ebene darstellt, aber sie deckt doch keineswegs den gängigen Sprachgebrauch ab. In der archäologischen Praxis bedeutet ›Befund‹, wie aus der zitierten Definition Felgenhauers klar hervorgeht, in erster Linie ein wie auch immer im Einzelnen beschaffenes, konkret wahrnehmbares Ensemble aus mehr oder weniger deutlich unter‐ scheidbaren Verfärbungen, aus organischen und anorganischen, kulturellen 4.2 Definition und Systematik urgeschichtlicher Quellen 87 <?page no="88"?> und nichtkulturellen Einschlüssen, aus Schichtbildung und Schichtstörung, aus Form, Textur und Konsistenz - kurz, etwas empirisch Gegebenes, etwas Abgrenz- und Beschreibbares, das von archäologischem Interesse ist. Dem Begriff ›Befund‹ kommt mithin eine doppelte Bedeutung zu. Auf der abstrakten Ebene ist die Gesamtheit archäologisch relevanter Beobachtungen in je spezifischen Fundsituationen gemeint, während auf der pragmatischen Ebene diese Fundsituationen selbst als ›Befund‹ bzw. ›Befunde‹ bezeichnet werden. Nachdem die beiden Grundkategorien urgeschichtlicher Quellen, Funde und Befunde, inhaltlich bestimmt sind, bietet sich folgende Gesamtdefinition an: Urgeschichtliche Quellen bestehen aus Funden und Befunden. Sie umfassen jene nichtschriftlichen Überreste und nichtschriftliche Tradition der Vergangenheit einschließlich ihres Kontexts, die aufgrund ihrer Beziehung zum einstigen Men‐ schen direkt oder indirekt historische Erkenntnis zu vermitteln vermögen. In dieser Definition schließt der Begriff ›nichtschriftliche Überreste‹ nicht nur kulturelle, sondern auch natürliche Überreste ein, und unter ›Kontext‹ wird im Sinne von ›Befund‹ die Gesamtheit der Beziehungen der Über‐ reste untereinander wie zu ihrem Umfeld verstanden. Die ›direkt oder indirekt‹ vermittelte historische Erkenntnis, von der hier die Rede ist, bezieht sich auf die relative Nähe oder Ferne der jeweiligen Überreste zum Menschen. In diesem Sinne vermitteln auf Kulturverhalten zurückgehende Überreste ›direkt‹ historische Erkenntnis; Rekonstruktionen von Klima und Landschaft tragen anhand entsprechender Überreste hingegen ›indirekt‹ zu historischem Erkennen bei. 4.3 Das Konzept des Geschlossenen Funds Bevor wir uns mit der Vielfalt und der besonderen Struktur urgeschichtli‐ cher Quellen beschäftigen, muss zunächst ein Konzept erläutert werden, das in der Archäologie unter der Bezeichnung Geschlossener Fund eine herausragende Rolle spielt. Bei einem solchen Fund handelt es sich um mindestens zwei Gegenstände, die gemeinsam vergraben oder sonst wie deponiert wurden, und die den Zeitraum bis zu ihrer Auffindung ohne gravierende Beeinträchtigung überdauert haben. Gräber, die neben der eigentlichen Bestattung noch eine mehr oder minder große Zahl von 88 4 Funde und Befunde: Zur Systematik urgeschichtlicher Quellen <?page no="89"?> 17 Siehe oben, Kap. 3.2 (S. 64). 18 Zum Konzept des Geschlossenen Funds bei Thomsen konsultiere man, wie bereits oben erwähnt, die Studien von Gräslund 1981; ders 1987, 20 ff. 19 Von Reinecke wurde zu jener Zeit bereits die Bezeichnung geschlossener Fund verwendet (z. B. Reinecke 1902, 228, 242, 260, 261, 268). Montelius’ (1903, 3) berühmte Formulierung lautet: »Ein ›sicherer Fund‹ […] kann als die Summe von denjenigen Gegenständen ›Beigaben‹ enthalten - also Güter, die man dem oder der Toten ins Grab gelegt hat, und deren Zusammensetzung danach nicht mehr verändert wurde -, stellen klassische Geschlossene Funde dar. Aus der Tatsache, dass die Gegenstände dieser Gräber im Augenblick der Bestattung gemeinsam deponiert wurden, folgt zwangsläufig, dass sie zu jenem Zeitpunkt in der bestattenden Gemeinschaft vorhanden waren. Dem Archäologen ist damit ein erster Hinweis auf eine wie im Einzelnen auch immer zu differenzierende Gleichzeitigkeit bestimmter Sachgüter - mithin ein wichtiges relativ-chro‐ nologisches Indiz - gegeben. Aus diesem Grunde spielen Geschlossene Funde eine entscheidende Rolle bei der Erarbeitung relativer Zeitfolgen, das heißt bei der Klärung der Frage, in welchem zeitlichen Verhältnis bestimmte Gegenstände bzw. Gruppen von Gegenständen zueinanderstehen. Thomsen maß dem gemeinsamen Auftreten von Objekten in Ausgra‐ bungsbefunden ein beträchtliches Gewicht bei. Eggers (1959, 39) schloss daraus, dass er, »vielleicht halb unbewußt noch«, die Bedeutung des Ge‐ schlossenen Funds erkannt habe. Eine Lektüre der einschlägigen, oben zitierten Passagen erweist, 17 dass Thomsen sich seiner Einsicht sehr wohl bewusst war. Wie sonst hätte er die nicht nur für seine Zeit revolutionäre Feststellung treffen können, dass es oft wichtiger sei, die »Verbindung zwi‐ schen den niedergesetzten Sachen« zu kennen als diese selbst? 18 Dennoch pflegt man das Konzept des Geschlossenen Funds heute in aller Regel mit Oscar Montelius zu verbinden. Er habe als erster, so heißt es, die chronologische Bedeutung jenes Phänomens erkannt und ausgewertet, das in der Archäologie als ›Vergesellschaftung‹ bezeichnet wird. Tatsächlich kommt Montelius insofern ein besonderes Verdienst zu, als er nicht nur die methodologische Bedeutung einer solchen gleichzeitig erfolgten Depo‐ nierung - das Prinzip des Geschlossenen Funds - klar herausgearbeitet, sondern es überdies prägnant formuliert hat. Seine bis heute unübertroffene Definition findet sich in einer Arbeit, die im Jahre 1903 in Stockholm erschienen ist. Entgegen der heutigen Praxis sprach er allerdings nicht von einem ›geschlossenen‹, sondern von einem »sicheren« Fund. 19 4.3 Das Konzept des Geschlossenen Funds 89 <?page no="90"?> bezeichnet werden, welche unter solchen Verhältnissen gefunden worden sind, dass sie als ganz gleichzeitig niedergelegt betrachtet werden müssen.« 20 Montelius (1903, 11) schrieb wörtlich: »Ein ›sicherer‹ Fund, sogar der für unsere Untersuchungen allerbeste, beweist indessen nur, dass sämmtliche Gegenstände auf einmal niedergelegt worden sind. Ein solcher Fund ist aber gar kein Beweis, dass sämmtliche Gegenstände zur selben Zeit verfertigt wurden. Ein Gegenstand kann sehr alt, ein anderer ganz neu gewesen sein, als sie in die Erde kamen.« Dass in Geschlossenen Funden immer wieder Altstücke, sogenannte Archaika, auftreten, ist eine bekannte Tatsache; hierzu exemplarisch Almut Mehling 1998. 21 »Der Grad der Wahrscheinlichkeit für die wirkliche Gleichzeitigkeit […] wächst indessen mit jedem neuen Fund, der […] [die gleichen Objekte] enthält; und dieser Grad wächst sehr schnell. Wenn ein Fund der hier in Frage stehenden Art uns eine ›Andeutung‹ gibt, so sind zwei Funde mit ›ziemlicher Wahrscheinlichkeit‹ gleichzei‐ tig, während drei Funde ›eine große Wahrscheinlichkeit‹ und vier eine ›sehr große Wahrscheinlichkeit‹ bieten. Für jeden weiteren Fund derselben Art wird die Wahr‐ scheinlichkeit immer größer, bis sie sich der ›vollen Gewißheit‹ so sehr nähert, wie dies in einer empirischen Wissenschaft überhaupt möglich ist« (Montelius 1896, 156; zit. nach Eggers 1955, 207; entspr. ders. 1959, 136 f.). Das Entscheidende an Montelius’ Definition ist, dass er nicht etwa behauptete, die unter den entsprechenden Fundverhältnissen angetroffenen Objekte seien in einem umfassenden Sinne gleichzeitig, also gleichzeitig hergestellt worden. Er wies vielmehr ausdrücklich darauf hin, dass sich ihre Gleichzeitigkeit nur auf den Zeitpunkt ihrer Niederlegung beziehe. 20 Selbstverständlich hat er sich dann auch die Frage gestellt, ob es irgendeine Möglichkeit gebe, den Unsicherheitsfaktor, der mit dem potenziell unter‐ schiedlichen Alter der Objekte eines Geschlossenen Funds verbunden ist, zu beseitigen oder wenigstens einzuschränken. Die von ihm vorgeschlagene Lösung hat bis heute nichts von ihrer Bedeutung eingebüßt: sie basiert auf dem Prinzip der großen Zahl. 21 Wie sich im Folgenden zeigen wird, ist das Konzept des Geschlossenen Funds auch bei der Systematik und der Bestimmung der Aussagekraft ur- und frühgeschichtlicher Quellen von Bedeutung. Bevor wir uns diesem Bereich zuwenden, sollen die wichtigsten Gattungen urgeschichtlicher Quellen knapp charakterisiert werden. Dabei ist angestrebt, sie so weit zu konkretisieren, dass ihre inhaltliche Vielfalt - und damit das Spektrum der hinter ihnen stehenden Kulturerscheinungen - deutlich wird. 90 4 Funde und Befunde: Zur Systematik urgeschichtlicher Quellen <?page no="91"?> 22 »Wenn es sich wirklich um einen Einzelfund und nicht etwa um einen nur schlecht beobachteten Teil eines geschlossenen Fundes handelt, so sind dies meistens Gegen‐ stände, die einst entweder auf der Jagd oder bei der Arbeit verloren gegangen sind und von ihrem Besitzer nicht wieder gefunden wurden oder solche Stücke, die man beiseite warf, weil sie unbrauchbar geworden waren. Ein großer Teil aller gewöhnlich als Einzelfunde bezeichneten Gegenstände stellt aber im Grunde genommen keine Einzelfunde dar, sondern stammt aus zerstörten oder ungenügend beobachteten Siedelungen und Gräbern« ( Jacob-Friesen 1928, 92; Hervorhebung von mir). 4.4 Hauptkategorien urgeschichtlicher Quellen In der deutschsprachigen Archäologie ist es seit langem üblich, die ur‐ geschichtlichen Quellen in drei Hauptklassen einzuteilen, nämlich in Grabfunde, Siedlungsfunde und Hortfunde (›Depotfunde‹, ›Verwahrfunde‹, ›Schatzfunde‹). Anstelle dieser alteingeführten Bezeichnungen sollte man sich bei der Benennung dieser Klassen auf den einstigen kulturellen Kontext der so zusammengefassten Phänomene besinnen und daher von Gräbern, Siedlungen und Horten bzw. Depots sprechen. Zu diesen funktional bestimm‐ ten Klassen pflegt man in aller Regel noch eine vierte, die Einzelfunde, hinzuzunehmen. Bei ihnen ist nicht der einstige Funktionszusammenhang, sondern die Art der Auffindung namengebend. 4.4.1 Einzelfunde Man ist sich schon immer darüber im Klaren gewesen, dass die Kategorie der Einzelfunde neben den Grab-, Hort- und Siedlungsfunden inhaltlich letztlich nicht bestehen kann. Das liegt zum einen an dem meist fehlenden bzw. nicht erkennbaren funktionalen Kontext der sogenannten Einzelfunde - ein Faktum, das besonders deutlich wird, wenn man den Wortteil -funde weglässt: Man kann zwar problemlos von ›Grabfunden‹ oder ›Gräbern‹, von ›Hortfunden‹ oder ›Horten‹ und von ›Siedlungsfunden‹ oder ›Siedlungen‹ sprechen, stößt jedoch auf unüberwindbare Schwierigkeiten, wenn man das Gleiche mit den Einzelfunden versucht. Zum ungeklärten Kontext kommt hinzu, dass viele der sogenannten ›Einzelfunde‹ ursprünglich gar keine Einzeldeponierungen gewesen sind. Auf dieses Problem hat schon K.H. Jacob-Friesen unmissverständlich aufmerksam gemacht. 22 Die hier zur Diskussion stehende spezifische Fundgruppe ist von Karl-Heinz Willroth (1986) umfassend bearbeitet worden. Wenngleich er keine grundsätzlich neuen Einsichten zu bieten vermag, macht er doch nachdrücklich darauf aufmerksam, dass es durchaus auch ur- und frühge‐ 4.4 Hauptkategorien urgeschichtlicher Quellen 91 <?page no="92"?> schichtliche Objekte gibt, die einst wirklich als Einzelstücke deponiert wur‐ den. Solche Objekte würden heute bisweilen als ›Einstückhorte‹ bezeichnet (ebd. 39). Wir werden auf diesen Begriff im Zusammenhang mit den Horten zurückkommen. Willroth (1986, 39 f.) weist zu Recht darauf hin, dass den Fundverhältnis‐ sen von Einzelfunden bei der inhaltlichen Bestimmung ihres Quellencharak‐ ters eine beträchtliche Bedeutung zukommt. So lehre die Erfahrung, dass die einzelnen Quellengruppen häufig periodenspezifische Deponierungsorte aufwiesen. Da zum Beispiel für bronzezeitliche Hortfunde eine Deponierung in einstmals feuchtem Milieu typisch gewesen sei, würde man für eine aus einem solchen Milieu stammende bronzezeitliche Nadel mit gutem Recht eine Deutung als Teil eines nicht erkannten Hortes oder gar als eine bewusste Einzeldeponierung erwägen. In diesem Zusammenhang sei auf die eingehende Untersuchung solcher regelhaften Beziehungen zwischen archäologischen Gegenständen und ihrem Deponierungsort hingewiesen, die Walter Torbrügge (1960; ders. 1970/ 71) in methodisch bestechender Weise für die Quellengruppe der Flussfunde durchgeführt hat. Grundsätzlich gesehen wird es wohl immer, insbesondere unter Altfun‐ den, eine relativ große Zahl solcher Einzelfunde geben, die weder mit hinreichender Sicherheit als intentionelle Deponierungen im Sinne von ›Einstückhorten‹ noch als einstige Bestandteile von Gräbern, (mehrteiligen) Horten oder Siedlungen identifiziert werden können. In diesen Fällen liegt, wie Willroth (1986, 39) treffend bemerkt, »die neutrale Ansprache als Einzelfund […] meist darin begründet, daß die Fundumstände nicht oder nur unzureichend dokumentiert sind.« 4.4.2 Gräber Grabfunde bilden vor allem für die nachneolithischen Kulturen die bei weitem wichtigste und häufigste Quellengruppe der Ur- und Frühgeschicht‐ lichen Archäologie. Im Gegensatz zu den Einzelfunden ist ihre quellen‐ systematisch-funktionale Bestimmung eindeutig: sie lassen sich auf die nur dem Menschen eigene Sorge für die Verstorbenen zurückführen. Da das entsprechende Verhalten kulturell geprägt und damit angesichts der außerordentlichen Vielfalt der Kulturen höchst variabel ist, schlägt sich das 92 4 Funde und Befunde: Zur Systematik urgeschichtlicher Quellen <?page no="93"?> 23 Über mannigfache Aspekte dieses Brauchtums im alteuropäischen Kontext unterrichtet Geißlinger 1998. 24 Die sogenannte ›Gräberarchäologie‹ wird in Anlehnung an die Geschichte des Todes von P. Ariès (1980) häufig auch mit dem Begriff ›Archäologie des Todes‹ belegt. K. P. Hofmann (2008) hat im Kontext der Bearbeitung von Brandbestattungen im Elbe-Weser-Dreieck dem »rituellen Umgang mit dem Tod« während der Bronze- und Frühen Eisenzeit nachgespürt. In einem langen Exkurs legte sie dabei auch die breitgefächerte Konzeption einer - wie sie formuliert - »Thanatoarchäologie« vor (ebd. 91 ff.). Mit dieser Konzeption hat die ›Archäologie des Todes‹ erstmals eine Systematisierung erfahren. Einen kulturanthropologisch bedeutsamen Aspekt der Thanatoarchäologie stellt der sogenannte ›Grabraub‹ - also Grabmanipulationen - in ur- und frühgeschichtlicher Zeit dar, mit dem sich C. Kümmel (2009) umfassend auseinandergesetzt hat. auch in dem mit dem Tod und mit Toten verbundenen Brauchtum nieder. 23 Dies gilt ebenso für jene Totenrituale, die im direkten oder indirekten Zusammenhang mit der Bestattung vollzogen werden. Dem Archäologen stehen für eine Rekonstruktion dieser Bestattungsbräuche lediglich die Gräber und der Grabinhalt zur Verfügung. 24 Auf der Basis von Grabform und Grabinhalt (und zwar sowohl der Toten selbst als auch ihrer Beigaben) lassen sich mancherlei Differenzierungen der großen Quellengattung ›Grabfunde‹ vornehmen. Wenn man sich mit möglichen Untergliederungen von Gräbern beschäf‐ tigt, muss man sich darüber im Klaren sein, dass es nicht gelingen wird, ein in jeder Hinsicht hieb- und stichfestes hierarchisches Klassifikationssystem zu entwickeln. Das ist auch gar nicht notwendig; es geht vielmehr darum, die wichtigsten mit dem Bestattungsbrauchtum verbundenen Phänomene so zu erfassen und zueinander in Beziehung zu setzen, dass der höchst komplexen Quellengruppe ›Gräber‹ eine gewisse Struktur gegeben wird. Für eine solche Strukturierung bieten sich eine Reihe von Kriterien an. Dabei empfiehlt sich zunächst einmal eine Unterscheidung zwischen Bestattungsritus und Bestattungsform. 4.4.2.1 Bestattungsritus Unter Bestattungsritus verstehe ich die Art und Weise, wie das verstorbene Individuum in die Erde gekommen ist. Dabei unterscheidet man zwischen einer Beisetzung des unverbrannten und einer Beisetzung des verbrannten Körpers. In diesem Sinne spricht man gemeinhin von Körperbestattungen und von Brandbestattungen. Bei der Brandbestattung wird der Leichnam 4.4 Hauptkategorien urgeschichtlicher Quellen 93 <?page no="94"?> 25 Zur Verbrennung auf dem Scheiterhaufen siehe Becker et al. 2005. 26 Siehe etwa Spindler 1976, 13; Oeftiger (1984, 68, 71 f.) verwendet stattdessen den Begriff ›bimodal‹, da er Körper- und Brandbestattungen unter dem Terminus ›Bestattungsmo‐ dus‹ subsumiert. zunächst verbrannt; 25 daraufhin setzt man die verbrannten Rückstände des Knochengerüsts, den Leichenbrand, entweder in seiner Gesamtheit oder in einer Auswahl bei. Die empirische archäologische Forschung hat gezeigt, dass bei beiden Bestattungsriten zahlreiche Möglichkeiten verwirklicht wurden, die ihrerseits zur Differenzierung des Kriteriums ›Bestattungsritus‹ herangezogen werden können. Bisweilen finden sich Gräber, bei denen sowohl Brandals auch Körperbestattung praktiziert worden ist. Solche Fälle bezeichnet man als ›birituelle Bestattungen‹ (Abb. 5). 26 Abb. 5: Hauptelemente des Bestattungsritus (die eckigen Klammern symbolisieren gän‐ gige Kombinationen). - Entwurf A. Mehling. Körperbestattungen werden unter anderem nach der Körperhaltung bzw. Lage des bestatteten Individuums in Hockerbestattungen (›Hocker‹) und gestreckteBestattungen (›Strecker‹) unterschieden, gewöhnlich unter Hin‐ zufügung weiterer Einzelheiten der Position, z. B. linksseitiger extremer Hocker. Ein weiteres Differenzierungskriterium bezieht sich auf die Art des Grabbehälters bzw. der Bettung des oder der Toten. Daher spricht man beispielsweise von einer Baumsargbestattung, einer Bestattung auf einer Totenlade oder einer Pithosbestattung, das heißt einer Bestattung in einem großen keramischen Vorratsgefäß (griech. píthos, Fass). Letztere ist 94 4 Funde und Befunde: Zur Systematik urgeschichtlicher Quellen <?page no="95"?> im mitteleuropäischen Raum, wenn sie denn vorkommt, Säuglingen und Kindern vorbehalten. Aus diesen Beispielen wird bereits klar, dass sich die Kriterien ›Haltung‹ bzw. ›Lage des Toten‹ und ›Grabbehälter‹ nicht immer frei kombinieren lassen. So setzt eine Baumsargbestattung - in aller Regel als Körperbestattung praktiziert - normalerweise eine gestreckte Position des Toten voraus und schließt damit eine Hockerbestattung aus. Bei Körperbestattungen hat man bisweilen nachgewiesen, dass nicht der gesamte Leichnam, sondern nur ein bestimmter Körperteil - beispielsweise der Schädel - bestattet worden ist (Abb. 6). Solche Befunde bezeichnet man als Teilbestattungen. Hauptkategorien urgeschichtlicher Quellen 57 rien ›Haltung‹ bzw. ›Lage des Toten‹ und ›Grabbehälter‹ nicht immer frei kombinieren lassen. So setzt eine Baumsargbestattung - in aller Regel als Körperbestattung praktiziert - normalerweise eine gestreckte Position des Toten voraus und schließt damit eine Hockerbestattung aus. Bei Körperbestattungen hat man bisweilen nachgewiesen, dass nicht der gesamte Leichnam, sondern nur ein bestimmter Körperteil - beispielsweise der Schädel - bestattet worden ist (Abb. 6). Abb. 5 Hauptelemente des Bestattungsritus (die eckigen Klammern symbolisieren gängige Kombinationen). Abb. 6 Endneolithische Schädelbestattung mit Riesenbecher von Metzendorf-Woxdorf, Kr. Harburg (Niedersachsen). Abb. 6: Endneolithische Schädelbestattung mit Riesenbecher von Metzendorf-Woxdorf, Kr. Harburg (Niedersachsen). - Nach Wegewitz 1960, 9 Abb. 2. 4.4 Hauptkategorien urgeschichtlicher Quellen 95 <?page no="96"?> 27 Kritisch zur gängigen, hier referierten Differenzierung von Brandbestattungen Becker et al. 2005, 68 ff. Auch die Brandbestattungen pflegt man in mehrere Untergruppen einzutei‐ len. 27 Auf der ersten Ebene unterscheidet man Gräber mit und ohne Urne. Die Gruppe der Urnengräber lässt sich auf der Basis der Grabkonstruktion weiter untergliedern. So differenziert man zum Bespiel zwischen Urnengrä‐ bern mit Steinschutz (Abb. 7C) und solchen ohne Steinschutz. Sonderfälle stellen das sogenannte Doliengrab und das Glockengrab (beide mit und ohne Steinschutz) dar. Abb. 7: A Latènezeitliches Brandschüttungsgrab von Wederath, Kr. Bernkastel-Wittlich (Rheinland-Pfalz); B Römerzeitliches Brandschüttungsgrab von Wederath, Kr. Bernkas‐ tel-Wittlich (Rheinland-Pfalz); C Urnengrab mit Steinschutz der Vorrömischen Eisenzeit von Soderstorf, Kr. Lüneburg (Niedersachsen). - Nach Haffner 1974 Taf. 144, Gr. 463 (A); ebd. Taf. 139, Gr. 445 (B); Ahrens 1975, 64 Abb. 14 (C). 96 4 Funde und Befunde: Zur Systematik urgeschichtlicher Quellen <?page no="97"?> 28 Der äußeren Form nach stellt auch die Schädelbestattung von Metzendorf-Woxdorf (Abb. 6) ein Glockengrab dar, wenngleich dieser Begriff hier für Brandbestattungen reserviert ist. Von einem Doliengrab spricht man, wenn die Urne in einem größeren Gefäß (lat. dolium, Fass) beigesetzt, von einem Glockengrab, wenn ein solches Gefäß glockenartig über die Urne gestülpt worden ist (Abb. 8). 28 Abb. 8: Bronzezeitliches Glockengrab von Callibury Down, Isle of Wight. - Nach Tomalin 1988, 211 Abb. 5. Ein weiterer Brandbestattungstyp wird als Brandschüttungsgrab bezeichnet (Kostrzewski 1925b). Man versteht darunter die Beisetzung einer mit einem Teil des Leichenbrands und der Scheiterhaufenreste gefüllten Urne in einer Grube (Abb. 7A u. B). Es handelt sich dabei also um eine Urnenbestattung, die sich von den üblichen Urnengräbern lediglich dadurch unterscheidet, dass man einen Teil des Leichenbrands und der Scheiterhaufenrückstände zusätzlich um die Urne herum in die Grube geschüttet hat. 4.4 Hauptkategorien urgeschichtlicher Quellen 97 <?page no="98"?> 29 Bei den ›Knochen‹ der hier als ›Knochenlager‹, ›Knochenhäufchen‹ oder ›Knochen‐ nester‹ bezeichneten Bestattungen handelt es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um primär deponierten Leichenbrand. Davon abzugrenzen ist die sekundäre Bestattung unverbrannter, durch Verwesung nicht mehr im natürlichen Verband befindlicher Knochen. Eine solche Deponierung bezeichnet man als ›Ossuar‹ oder ›Ossuarium‹ (Veit 1993a, 3 ff.). 30 Zu Brandschüttungs- und Brandgrubengräbern sowie zu den Knochenlagern siehe auch v. Uslar 1938, 159 ff. Bei als ›Brandgrubengrab‹ bezeichneten Bestattungen spricht der Befund dafür, dass Leichenbrand und Scheiterhaufenreste nicht in einem Behälter aus organischem, inzwischen vergangenem Material deponiert wurden. 31 Lat. bustum, die Leichenbrandstätte: »im engern Sinne, die Stätte, wo der Leichnam verbrannt worden ist, das Brandlager, […] im weitern Sinne der über der Leichenasche aufgeworfene Grabhügel, die Grabstätte, das Grabmal, das Grab« (K. E. Georges, Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch [1869 6 ] 650 f.). 32 Lat. ustrina, das Brennen, der Brand des Feuers; im übertragenen Sinne »die Brandstätte bes. für Leichen, die Leichenbrandstätte«. Ebd. 2108. Zur Gruppe der urnenlosen Gräber zählen Brandgrubengräber und die sogenannten Knochenlager (›Knochenhäufchen‹, ›Knochennester‹). 29 Unter der Bezeichnung ›Brandgrubengrab‹ (Abb. 9) versteht man die Beisetzung von Leichenbrand und Scheiterhaufenrückständen ohne Leichenbrandbe‐ hälter in einer Grube (Kostrzewski 1925a). Ein ›Knochenlager‹ hingegen impliziert, dass man lediglich den Leichenbrand bzw. einen Teil davon in einer Grube bestattet hat. Dabei liegt es in manchen Fällen nahe, einen einst vorhandenen, zum Zeitpunkt der Bergung aber längst vergangenen Behälter aus organischem Material anzunehmen. 30 Zu den urnenlosen Bestattungen ist auch die römische Sitte des Bustumgrabes zu rechnen. Dabei wird das verstorbene Individuum in bzw. über der für seine Bestattung ausgehobenen Grabgrube eingeäschert und somit am Orte seiner Verbrennung beigesetzt. 31 Gelegentlich lassen sich bei Brandgräberfeldern die einstigen Verbren‐ nungsplätze nachweisen. Ein derartiger Platz wird meist als Ustrine bezeich‐ net. 32 Schon Georg Wilke (1929) hat nachdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass allein die Feststellung von Brandstellen im Bereich einer Nekropole für eine solche Interpretation nicht ausreiche; vielmehr bedürfe es des eindeutigen Nachweises »menschlicher Knochenreste«. Erst durch Leichenbrand wird also eine stark holzkohlehaltige, hinreichend große flächige Verfärbung zu einer Ustrine. 98 4 Funde und Befunde: Zur Systematik urgeschichtlicher Quellen <?page no="99"?> Abb. 9: Steinpflaster über einem Brandgrubengrab mit Steinschutz der Vorrömischen Eisenzeit von Soderstorf, Kr. Lüneburg (Niedersachsen). - Nach Ahrens 1975, 64 Abb. 14. 4.4.2.2 Bestattungsform Das Kriterium Bestattungsform bezieht sich vor allem darauf, ob das ver‐ storbene Individuum allein oder gemeinsam mit einem bzw. mit mehreren anderen Individuen beigesetzt wurde (Abb. 10). So wird zwischen Einzel-, 4.4 Hauptkategorien urgeschichtlicher Quellen 99 <?page no="100"?> 33 Letztere werden in der Literatur meist als ›Mehrfachbestattungen‹ bezeichnet. So versteht Oeftiger (1984, 4 Anm. 1) unter ›Mehrfachbestattung‹ eine »gleichzeitig erfolgte Grablegung von mindestens zwei Personen«. Veit (1993a, 4) weist darauf hin, dass man diesen Terminus bisweilen auch für jenen Bestattungstyp verwendet, der hier als ›Kollektivbestattung‹ bezeichnet wird. Doppel- und Mehrpersonenbestattungen 33 unterschieden. Bei den beiden letzten Bestattungstypen geht es nur um solche Gräber, bei denen der Befund den Schluss zulässt, dass die im Grabe befindlichen Individuen zum gleichen Zeitpunkt beigesetzt wurden. Abb. 10: Hauptelemente der Bestattungsform. - Entwurf A. Mehling/ Verf. Allen drei Typen ist, wie Veit (1993a, 4) zu Recht betont, die Einmaligkeit des Bestattungsvorgangs gemeinsam. Ein recht ungewöhnliches Gräberensemble wurde 2005 beim Kiesabbau in Eulau, einem Ortsteil der Stadt Naumburg in Sachsen-Anhalt, entdeckt. Auf einer Fläche von knapp 20 auf 30 m fanden sich dort insgesamt 13 Personen in vier einfachen Erdgruben, und zwar zwei Männer, drei Frauen und acht Kinder. Drei dieser Gruben waren mit einem Kreisgraben versehen. Alle Toten wiesen eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Hockerlage auf. Die grob Nordost-Südwest ausgerichteten Gräber - sie waren ausnahmslos unversehrt - gehören der spätneolithischen Schnurkeramischen Kultur (etwa 2800-2050 v. Chr.) an. Die vier Befunde enthielten folgende Toten: Grab 90: eine etwa 25-35 Jahre alte Frau und ein 4-5 Jahre altes Mädchen; Grab 93: ein 25-40 Jahre alter Mann und zwei 4-5 bzw. 4,5- 5,5 Jahre alte 100 4 Funde und Befunde: Zur Systematik urgeschichtlicher Quellen <?page no="101"?> 34 Ich folge hier Haak et al. 2008 sowie sowie Meyer et al. 2009. 35 Zu diesen Methoden knapp Eggert/ Samida 2020, 170 ff., 224. 36 Der Paläogenetiker W. Haak interpretiert diesen Befund folgendermaßen: »In Eulau, we have established the presence of the classic nuclear family in a prehistoric context in Central Europe, to our knowledge the oldest authentic molecular genetic evidence so far.« (Haak et al. 2008, 18299 mit Fig. 2). Entsprechend ders. in Muhl/ Meller 2010, 39). Jungen; Grab 98: eine 30-38 Jahre alte Frau, ein Säugling, ein 4-5 Jahre altes Mädchen und ein 7-9 Jahre alter Junge; Grab 99: eine 35-50 Jahre alte Frau, zwei 4-5 bzw. 8-9 Jahre alte Jungen sowie ein 40-60 Jahre alter Mann. 34 Die junge Frau aus Grab 90 ist offenbar mit zwei Pfeilschüssen getötet worden: Im vierten Lendenwirbel steckte noch ein querschneidiges Pro‐ jektil, und im linken Brustbereich fand sich ebenfalls ein entsprechender Querschneider. Der rechte Unterarm und das Handgelenk des Mannes aus Grab 93 wiesen unverheilte Brüche auf. Die Frau aus Grab 98 ist durch zwei Schläge mit einem vermutlich breitschneidigen Steinbeil auf das Scheitelbein getötet worden. An beiden Händen des Mannes aus Grab 99 waren zum Zeitpunkt seines Todes Mittelhand- und Fingerknochen frisch gebrochen - diese Brüche gehen vermutlich auf eine Abwehrreaktion gegen schwere Hiebe zurück. Allerdings ließen sich am Skelett keine Verletzungen feststellen, die als Todesursache in Frage kommen könnten. Der Schädel des älteren Jungen aus diesem Grab wies ein Loch im hinteren Bereich auf, das wohl durch eine tödliche Hiebverletzung verursacht wurde. An den Skeletten der Frau und des zweiten Jungen fanden sich keine Spuren von Gewalteinwirkung. Die Überreste der Toten wurden sowohl traditionell anthropologisch als auch paläomolekulargenetisch und strontiumisotopisch untersucht. 35 Die genetischen Ergebnisse zeigten, dass einige der bestimmbaren Individuen biotisch verwandt waren. Das gilt für Grab 99, in dem die beiden Jungen als Kinder des Mannes und der Frau identifiziert wurden. 36 Andere Bestattete, bei denen man eine biotische Verwandtschaft angenommen hätte, erwiesen sich hingegen als nicht blutsverwandt. So war die Frau in Grab 98 nicht die leibliche Mutter des Mädchens und des Jungen (der Säugling konnte nicht DNA-bestimmt werden). Eine Strontiumanalyse der Zähne der in den Gräbern Bestatteten ergab für die Frauen aus den Gräbern 90, 98 und 99, dass sie nicht aus der Gegend stammten; hingegen sind der Mann und die Kinder des Grabes 93 offenbar in der Region um Eulau aufgewachsen. 4.4 Hauptkategorien urgeschichtlicher Quellen 101 <?page no="102"?> 37 Interessant ist in diesem Zusammenhang das für ein großes Publikum geschriebenes Buch von A. Muhl und H. Meller (2010): Die beiden Autoren haben sich darin bei der Befund- und Funddarstellung - zusätzlich erläutert durch Kurzinterviews mit zahlreichen Spezialisten - für eine in den Text eingewobene »Story« entschieden, das heißt für eine fiktive Erzählung des Tathergangs nicht nur aus Sicht der Täter, sondern auch der Opfer. Da diese »Story« jedoch weitestgehend allgemein bleibt, enthält sie entschieden weniger wissenschaftliche Klischeevorstellungen als der nicht-fiktive Text. Eine in den Grundzügen abweichende Interpretation der Befunde von Eulau liefern Haak et al. (2008, 18299) und - damit grundsätzlich übereinstimmend - Meyer et al. 2009, 421-f. 38 Zu den Kollektivgräbern siehe vor allem Veit 1993a. Die genannten naturwissenschaftlichen Untersuchungen haben uns also eine Reihe von wichtigen Einsichten beschert, die anderweitig nicht möglich gewesen wären. Damit ist die kulturhistorische Deutung dieser einen Doppel- und der drei Mehrpersonenbestattungen jedoch durchaus nicht ein‐ facher geworden. In einem gewissen Sinne könnte man sogar zum Gegenteil tendieren: Einerseits sind einige der paläogenetischen Ergebnisse zum Teil nur schwer zu interpretieren, und andererseits zeigen sie uns, dass wir mit Interpretationen aufgrund des sogenannten ›gesunden Menschenverstands‹ vorsichtig sein sollten. 37 Wie auch immer die Eulauer Befunde letztlich zu deuten sind, sicher ist, dass wir es bei den Toten offenbar mit Menschen zu tun haben, die bei einem Überfall auf ihren Weiler gewaltsam ums Leben kamen. Vermutlich wenig später wurden sie dann aber im großen Ganzen nach den Regeln ihrer Kultur bestattet. Das weist zusätzlich zur demographischen Struktur, die die 13 Toten repräsentieren, darauf hin, dass hier nur ein Teil einer Lokalgruppe ermordet worden ist. Es gibt jedoch nicht nur Gräber einzelner Toter und - wie an den Eulauer Befunden erörtert - die gleichzeitige Bestattung von zwei oder mehreren Personen. Befinden sich nämlich in einem Grabe mehrere Individuen, die offensichtlich nicht gleichzeitig, sondern nacheinander beigesetzt wurden, spricht man von einerKollektivbestattung. 38 Ein Kollektivgrab enthält also mindestens zwei mit deutlichem zeitlichen Abstand bestattete Tote (Abb. 11). 102 4 Funde und Befunde: Zur Systematik urgeschichtlicher Quellen <?page no="103"?> Abb. 11: Großsteingrab von Liepen, jetzt Thelkow-Liepen, Kr. Bad Doberan (Mecklen‐ burg-Vorpommern). - Nach Schuldt 1966, Abb. 14. Abb. 12: Schema der Bestattungsform von Einzel- und Kollektivgräbern und zu erwartende Kennzeichen des archäologischen Befunds. - Nach Veit 1993a, 5 Abb. 1. 4.4 Hauptkategorien urgeschichtlicher Quellen 103 <?page no="104"?> 39 Als Primärbestattung bezeichnet man hingegen ein Grab mit einer oder mehreren Personen, die bald nach Eintritt des Todes unverbrannt oder verbrannt bestattet wurden. Abweichend vom hier vorgeschlagenen Gebrauch des Begriffes ›Sekundärbe‐ stattung‹ werden darunter gelegentlich auch Nachbestattungen, und zwar Körperwie Brandgräber, verstanden. Zu Sekundärbestattungen im hier verwendeten Sinne Orschiedt 1997. Dies setzt voraus, dass die Grabanlage bzw. der eigentliche Grabraum prinzipiell zugänglich war. Zwischen den einzelnen Bestattungsereignissen wird man den Eingang wohl in aller Regel zugesetzt haben (Abb. 12). Eine besondere Form der Kollektivgräber sind die sogenannten ›Toten‐ hütten‹ der mittelneolithischen Bernburger Kultur (etwa 3100-2700 v.-Chr.) in Ostdeutschland. Zur Zeit sind rund 50 solcher aus Holz, Steinen und Erde errichteten Kammergräber dieser Kultur überliefert. Am besten dokumen‐ tiert ist die 2001/ 02 ausgegrabene und 2008 monographisch veröffentlichte Totenhütte von Benzingerode, Ldkr. Harz (Berthold et al. 2008). In der grob West-Ost ausgerichteten, in zwei Hälften geteilten und ursprünglich etwa 50 cm in den Boden eingetieften Grabkammer fanden sich mindestens 46 Individuen. Es handelt sich ausnahmslos um Körperbestattungen. Die Toten waren vor allem in der Westhälfte des Grabes in acht ›Quartieren‹ nieder‐ gelegt. Auch bei ihnen wurden nicht nur anthropologisch-morphologische, sondern auch molekulargenetische Analysen durchgeführt. Dabei konnten durch die Paläogenetik vier Verwandtschaftspaare herausgearbeitet werden; drei von ihnen waren in je einem Quartier bestattet. Bisweilen lässt sich nachweisen, dass sich der Körper oder einzelne Körperteile nicht in primärer Lagerung befinden, obwohl die Bestattung offenbar nicht ›gestört‹ worden ist. Ein derartiger Befund impliziert, dass der Leichnam zunächst einmal irgendwo provisorisch bestattet bzw. depo‐ niert wurde. Nachdem durch natürliche Prozesse eine mehr oder weniger vollständige Auflösung der Weichteile erfolgt war, hat man eine endgültige Bestattung des Skeletts bzw. ausgewählter Teile vorgenommen. Die Phase der Zwischenlagerung der Leichen muss allerdings nicht unbedingt bis zur weitgehenden oder völligen Verwesung angedauert haben. Das angestrebte Ergebnis ist auch durch eine Teilverwesung und eine sich daran anschlie‐ ßende gezielte Entfleischung (Exkarnation) erreichbar. In all diesen Fällen spricht man von einer Sekundärbestattung, 39 bisweilen auch von einer mehr‐ stufigen oder mehrphasigen Bestattung. Wenn die exkarnierten Knochen in mehr oder minder großer Vollzähligkeit nicht in ein Individualgrab, sondern in einen für diesen Zweck über einen längeren Zeitraum genutzten 104 4 Funde und Befunde: Zur Systematik urgeschichtlicher Quellen <?page no="105"?> 40 Hierzu Veit 1993a, 3 ff. Der Terminus ›Ossuar‹ wird in älterer Literatur allerdings meist im Sinne von ›Urne‹ (›Leichenbrandbehälter‹) verwendet: z.-B. v. Uslar 1938, 160, 161. 41 Dennoch würde man selbst hier den Begriff ›Massengrab‹ wohl kaum verwenden, wenn in einem Grab weniger als etwa fünf Tote lägen. Grabraum eingebracht werden, fallen diese Beisetzungen unter die oben erläuterte Kategorie der Kollektivbestattungen. In diesem speziellen Zusam‐ menhang verwendet man dann allerdings meist den Begriff Ossuar oder Ossuarium (Abb. 12). 40 Eine weitere Bestattungsform repräsentiert das sogenannte Massengrab. Wie der Terminus bereits besagt, handelt es sich dabei um die Bestattung einer größeren Zahl von Menschen, ohne dass es dabei immer möglich wäre, eine verbindliche Mindestzahl von Bestatteten anzugeben. Als ein herausstechendes Charakteristikum von Massengräbern kann die geringe oder völlig mangelnde Sorgfalt gelten, mit der die Toten unter die Erde gebracht wurden. Damit verbunden ist ein entsprechend geringer Aufwand der Grabgestaltung. In extremen Fällen kann es sich sogar um völlig regellos gemeinsam in einer Grabgrube deponierte Individuen handeln. Solche Befunde lassen eher an ein Verscharren von Toten als an eine Bestattung denken. 41 Aus urgeschichtlicher Zeit sind nicht allzu viele Massengräber bekannt. Ein besonders gutes Beispiel bildet der 1983 und 1984 ausgegrabene band‐ keramische Befund von Talheim im Kreis Heilbronn (Wahl/ König 1987). In einer etwa 3 m langen, 1,5 m breiten und 1,5 m tiefen, einstmals am Rande einer bandkeramischen Siedlung gelegenen Grube fanden sich insgesamt mindestens 34 Individuen, und zwar 16 Jugendliche und 18 Erwachsene. Aus der Lage der Knochen folgt, dass die meisten Toten völlig regellos in die Grube eingebracht wurden; sie wiesen häufig unnatürlich abgewinkelte Extremitäten auf und lagen teils auf dem Bauch, teils kreuz und quer ineinander verschachtelt (Abb. 13). Mindestens 18 Individuen weisen unverheilte Verletzungen im Schädelbe‐ reich, und zwar vor allem am Hinterkopf auf. Dies und die charakteristischen Konturen dieser Schädelverletzungen sprechen dafür, dass diese Menschen von hinten mit knieholzgeschäfteten Flachhacken bzw. ›Schuhleistenkeilen‹ erschlagen wurden. Außerdem konnten drei ebenfalls von hinten erfolgte Pfeilschussverletzungen festgestellt werden. Eine anhand der Skelettreste erstellte Alters- und Geschlechtsdiagnose spricht dafür, dass es sich bei den Toten gleichsam »um eine regelrecht aus dem Leben gegriffene Popu‐ 4.4 Hauptkategorien urgeschichtlicher Quellen 105 <?page no="106"?> lation« gehandelt hat (Wahl/ König 1987, 182). Da Verbissspuren an den Knochen fehlen, ist davon auszugehen, dass die Erschlagenen bereits kurz nach ihrem Tode ›bestattet‹ worden sind. Abgesehen von einem kleinen, vielleicht von einer Perle stammenden Kalksteinfragment hat man in der Bestattungsgrube keinerlei Artefakte gefunden. Bei ihrer Anlage ist offenbar eine jüngerbandkeramische Siedlungsgrube ›gestört‹ worden. Dadurch sind nach dem Einbringen der Toten bandkeramische Scherben und Hüttenlehm in das Verfüllungsmaterial gelangt. Abb. 13: Massengrab der Linienbandkeramik von Talheim, Kr. Heilbronn (Baden-Württem‐ berg). A Befundplanum; B Rekonstruktion der Totenlage. - Nach Veit 1996, Taf. 21. 106 4 Funde und Befunde: Zur Systematik urgeschichtlicher Quellen <?page no="107"?> 42 Zurückhaltender in der Beurteilung dieses Befunds Narr 1993. Zu »Mord und Krieg« in der Bandkeramik Petrasch 1999; zum Umgang mit menschlichen Überresten im Neolithikum Balkowski et al. 2023; generell zu Gewalt und Krieg in ur- und frühge‐ schichtlicher Zeit Link/ Peter-Röcher 2014; Peter-Röcher 2007; Piek/ Terberger 2006. 43 In diesem Zusammenhang sprach G. Wilke (1926, 326) recht treffend von »Holzkohle und […] gebrannten Tierknochen, Gefäßscherben u. dergl.« Das Ereignis, das zum Talheimer Massengrab geführt hat, wird einleuchtend als Überfall auf einen bandkeramischen Weiler und Hinmetzeln aller seiner Bewohner gedeutet (Wahl/ König 1987, 184 f.). Allerdings gibt der allen band‐ keramischen Bestattungsgepflogenheiten widersprechende Grubenbefund erhebliche Rätsel hinsichtlich der Frage auf, wer die Erschlagenen in dieser Weise unter die Erde gebracht hat. 42 Als Sonderfall des Kriteriums ›Bestattungsform‹ haben sogenannte Scheinbzw. Leergräber oder Kenotaphe (von griech. kenós, leer, und táphos, Grab, bzw. kenotáphion, leeres Grab) zu gelten. Es handelt sich dabei um grabartige Befunde, die jedoch keine Gebeine, also weder Skelettreste noch Leichenbrand, enthalten. Sie wurden zum Gedenken an Personen errichtet, die beispielsweise in der Fremde verstorben sind und dort begraben wurden. Solche Denkmäler sind im Kontext der Ur- und Frühgeschichte nur sehr schwer zu identifizieren. Das gelingt nur in den wenigen Fällen, in denen trotz des nicht mit spezifischen äußeren Faktoren erklärbaren Fehlens physischer Reste von Toten klare archäologische Indizien eines Grabes vorhanden sind. Meist handelt es sich jedoch um wenig eindeutige Befunde, beispielsweise um künstlich aufgeschüttete oder aus Steinen errichtete Hü‐ gel, in denen jede direkte Spur eines oder mehrerer Toten fehlt. Selbst wenn Spuren von menschlichen Aktivitäten vorhanden sind, die üblicherweise im Zusammenhang mit dem Grabritus vorkommen, 43 muss die Deutung solcher Befunde als Kenotaph in aller Regel hypothetisch bleiben. Abschließend ist eine weitere Befundart zu erwähnen, die nicht nur eine gewisse strukturelle Ähnlichkeit mit Kenotaphen aufweist, sondern in konkreten Fällen vielleicht sogar in diese Kategorie gehört. Es handelt sich dabei um sogenannte Grabdeponate, ein Begriff, den Cornelia Schütz-Till‐ mann (1997) im Zusammenhang mit bestimmten urnenfelderzeitlichen Befunden in Münchsmünster und Zuchering bei Ingolstadt geprägt hat. Besonders interessant ist der Befund von Münchsmünster. Dort fand man in einer unregelmäßig runden Grube mit einem Durchmesser von etwa 35 cm und einer Tiefe von mindestens 45 cm zahlreiche, meist Brandspuren aufweisende Bronzen, und zwar vor allem Wagenbeschläge und Pferdege‐ 4.4 Hauptkategorien urgeschichtlicher Quellen 107 <?page no="108"?> 44 Dieser Befund konnte aufgrund sehr ungünstiger Fundumstände, die mit Einschrän‐ kung auch für die Bergung des »Grabdepots« gelten, nicht näher untersucht werden. Insgesamt muss darauf hingewiesen werden, dass die von Schütz-Tillmann gegen eine Interpretation des »Grabdepots« als Grab vorgebrachten Einwände auch für diesen Befund gelten. Insofern wird ihre Deutung des »Grabdepots« relativiert. 45 So schreibt Schütz-Tillmann (1997, 23) im Zusammenhang mit den beiden erwähnten Befunden von Zuchering: »Auch wenn die Zuordnung der ausgegliederten Bronze‐ deponate zu den Gräbern nicht mit letzter Sicherheit zu beweisen ist, so zeichnet sich dennoch eine Entwicklung ab, die von einer nahezu unsortierten Mitgabe von Bronzegegenständen über die Konzentration der ›besseren‹ oder ›wichtigeren‹ Teile in einer Grabgrubenecke bis zur Herausnahme der gut erhaltenen Waffen, Wagen- und Pferdegeschirrteile, das heißt der Rangabzeichen, reicht.« schirrteile. Hinzu kommen eine Lanzenspitze, eine sekundär verbrannte Keramikscherbe sowie einige Splitter Leichenbrand. Gegen die Deutung als Hort sprechen nach Auffassung von Schütz-Tillmann sowohl die verbrannte Scherbe als auch die Leichenbrandsplitter, die ihrerseits aber wiederum nicht genügten, um diesen Befund als Grab - selbst nicht als völlig zerstörtes - anzusprechen (ebd. 21). In letzterem Falle hätte man einerseits sowohl eine gewisse Menge Leichenbrands und Keramik als auch in Anbetracht der deponierten Objekte vor allem Trachtbestandteile sowie weitere Waffen und Gerät erwartet. Andererseits verweist der Zustand der Objekte auf Feuereinwirkung, und die Leichenbrandpartikel sprechen für ein Scheiter‐ haufenfeuer. In gut 50 m Entfernung konnten Scherben eines ebenfalls sekundär verbrannten Trichterhalsgefäßes sowie mehrere weitgehend bis zur Unkenntlichkeit verbrannte Bronzegegenstände geborgen werden, die an einer mit ortsfremden großen Kalksteinen durchsetzten Stelle knapp unter der Oberfläche in einer holzkohlehaltigen bis aschigen Verfärbung gefunden worden waren. Schütz-Tillmann deutet diesen Befund als die Reste eines zerstörten Brandgrabs, das möglicherweise die zum »Grabdepot« gehörende Bestattung gewesen sei (ebd. 25). 44 Die Interpretation des Deponats von Münchsmünster basiert auf drei ähnlichen »grubenartigen Befunden ohne Grabcharakter« im rund 18 km entfernt liegenden urnenfelderzeitlichen Gräberfeld von Zuchering. Für zwei dieser Befunde hält Schütz-Tillmann (1997, 22 f.) einen Zusammen‐ hang mit rund 30 m entfernt liegenden, aufwendigen Bestattungen für wahrscheinlich. Sie glaubt überdies, am Ort eine Entwicklung der Grabsitte feststellen zu können, die von einer zunehmenden Sonderung gewisser Bronzebeigaben im Grabraum zu ihrer Herauslösung aus dem Grabverband und separaten Deponierung geführt hat. 45 Somit würden derartige geson‐ 108 4 Funde und Befunde: Zur Systematik urgeschichtlicher Quellen <?page no="109"?> 46 In diesem Sinne Schütz-Tillmann (1997, 23): »Da mit der Bezeichnung Deponat per definitionem nur der abgeschlossene Vorgang der gemeinsamen Niederlegung von Gegenständen beschrieben ist, wird für die hier vorgestellte Befundart […] der Begriff Grabdepot benutzt. Er beinhaltet einerseits den Niederlegungscharakter, der ein Depot kennzeichnet, betont zugleich aber auch die Zugehörigkeit des jeweiligen Komplexes zu einem Grab.« derte Niederlegungen einen direkten inhaltlichen Zusammenhang mit ei‐ nem Grab voraussetzen. 46 Die Beispiele von Münchsmünster und Zuchering legen nahe, dass eine Deutung entsprechender Befunde als Grabdepot nur in Ausnahmefällen mehr als hypothetisch sein kann. Das wäre dann möglich, wenn sich in den beiden in Beziehung gesetzten Befunden Fragmente bzw. Teile ein und desselben Objektes, sei es Keramik oder ein Bronzegegenstand, fänden. Trotz des stark hypothetischen Charakters von Grabdepots im Sinne von Schütz-Tillmann sollte man eine solche Deutung nicht von vornherein als empirisch irrelevant verwerfen, sondern einschlägige Befunde in Zukunft auch unter diesem Blickwinkel prüfen. Darüber hinaus ist aber ebenfalls nicht von der Hand zu weisen, dass solche Deponate nicht notwendiger‐ weise eines zugehörigen Grabes bedürfen. Es wäre schließlich durchaus denkbar, dass es sich dabei um Kenotaphe handeln könnte. Damit hätten wir dann allerdings wieder mit jenen Deutungsschwierigkeiten zu kämpfen, die für diese besondere Quellengattung gilt. Zugleich verstärkt diese über die Interpretation von Schütz-Tillmann hinausgehende Möglichkeit aber auch das Problem, bestimmte Befunde als Grabdepots zu deuten. Die Frage von Grabdepots im hier behandelten Sinne ist inzwischen von Melanie Augstein und Hans-Jörg Karlsen am Beispiel von Deponierungen auf Urnengräberfeldern der jüngeren Vorrömischen Eisenzeit und älteren Römischen Kaiserzeit im Niederelbegebiet behandelt worden (Augstein et al. 2020). Dort konnte relativ häufig festgestellt werden, dass Waffen (etwa Schildbuckel, Schildfesseln, Lanzenspitzen, zusammengerollte Schwerter), Schmuck (Fibeln) und Gerät (beispielsweise intentionell deformiertes rö‐ misches Trinkzubehör aus Bronze, Endbeschläge- und Kettenteile von Trinkhörnern) außerhalb von Urnen deponiert waren, obgleich sie ohne Weiteres in den Leichenbrandbehälter hineingepasst hätten. Die genannten Objekte werden also üblicherweise als Beigaben interpretiert, ohne dass jedoch überzeugend dargelegt würde, warum sie sich dann nicht in der Urne finden. Fehlt bei entsprechenden Befunden hingegen ein keramischer Leichenbrandbehälter, unterstellt man in der Regel, dass er im Bereich des 4.4 Hauptkategorien urgeschichtlicher Quellen 109 <?page no="110"?> 47 Zu dieser Zusammenfassung Augstein et al. 2020, 51 ff. 48 Hierzu und zum Folgenden ebd. 54 ff. 49 Zum bisherigen Stand der Aufarbeitung des Gräberfeldes von Nienbüttel siehe die Monographie von Karlsen/ Augstein 2023. neuzeitlichen Pflughorizonts deponiert war und daher dem Ackerbau zum Opfer fiel. Die einst in seiner unmittelbaren Nähe, jedoch tiefer in die Erde eingebrachten Beigaben seien vom Pflug verschont geblieben und erschie‐ nen so als ›Waffenlager‹ und dergleichen. Bisweilen kommt es jedoch auch vor, dass Objekte, die man an sich als Beigaben interpretieren würde, ohne erkennbaren räumlich-funeralen Zusammenhang über ein Urnengräberfeld verteilt sind. Dies gilt etwa für das Gräberfeld von Hamburg-Marmsdorf. 47 Die Nekropole von Nienbüttel im Lkr. Uelzen (Niedersachsen) enthält besonders komplexe Befunde und Funde. In Kampagnen der Jahre von 1901 bis 1911 nach heutigen - teils aber auch damaligen - Maßstäben me‐ thodisch unzureichend ausschnittsweise untersucht, blieb dieses Gräberfeld bis in die jüngste Zeit unbearbeitet. Das lag vor allem an der Auflösung der Fundzusammenhänge sowie der verloren geglaubten Dokumentation von Gustav Schwantes (1881-1960) im damaligen Provinzialmuseum und heutigen Niedersächsischen Landesmuseum Hannover. 48 Schwantes hatte deswegen seine langgehegte Absicht, das Gräberfeld zu bearbeiten und vorzulegen, später aufgegeben. Bei einer kürzlich erfolgte Wiederaufnahme der Beschäftigung sowohl mit der frühen Grabungsdokumentation und den entsprechenden Funden als auch mit neuen Geländearbeiten auf dem Areal der Nekropole stellte sich heraus, dass Nienbüttel immer noch ein großes Potenzial bietet. 49 Mit heute mit oft gezielt deformierten und starkem Feuer ausgesetzten Teilen von rund 30 Einheiten römischer Gefäße weist Nienbüttel eine ungewöhnlich hohe Zahl solcher Objekte aus. Hinzu kommt eine beträcht‐ liche Menge an Waffen - darunter allein rund 150 eisernen Lanzenspit‐ zen - sowie zugehöriges Gerät. All dies zeigt ebenfalls zum Teil mehr oder minder starke Feuereinwirkung. Besonders interessant sind jedoch nicht - natürliche Steinkonzentrationen, die bereits bei den Grabungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Aufmerksamkeit von Schwantes er‐ regten. In ihnen fanden sich Objekte wie Schwerter, Schildbuckel oder Lanzenspitzen, die üblicherweise als Grabbeigaben begegnen. Hingegen ließ sich in diesem Kontext so gut wie kein Leichenbrand nachweisen. Für Schwantes handelte es sich bei diesen Befunden um Opfer für Krieger, 110 4 Funde und Befunde: Zur Systematik urgeschichtlicher Quellen <?page no="111"?> 50 Augstein et al. 2020, 61. die nicht nach Hause zurückgekehrt, sondern in der Fremde gestorben sind. Daher bezeichnete er diese anthropogen angeordneten Steinkonzentrationen und Niederlegungen als »Kenotaphe«. Neben solchen möglichen Kenotaphen und regulären Urnengräbern unterschied Schwantes aber auch »Depots«, die vor allem Waffenniederlegungen aufweisen, darunter nicht zuletzt auch Lanzenspitzen. Die jüngsten Geländearbeiten in Nienbüttel konnten hier ebenfalls erste Ergebnisse erbringen. Auch bei diesen Depots ließ und lässt sich kein Bestattungszusammenhang erweisen. Somit gibt es in Nienbüttel und anderen elbgermanischen Urnengräber‐ feldern Objekte und Objektgruppen, die so nah im Bereich von Urnen in die Erde eingebracht sind, dass man sie als Beigaben zu deuten geneigt ist. Andererseits scheinen diese ›Beigaben‹ aber keinen eindeutigen Zu‐ sammenhang mit Bestattungen aufzuweisen. Mithin ist zu fragen, ob sie dennoch als Grabbeigaben interpretiert werden sollten. Eine vergleichende Betrachtung der entsprechenden Objekte in zweifelsfreien Urnengräbern, ›Depots‹ und ›Kenotaphen‹ ergibt, dass man sie vor der Deponierung in weitgehend ähnlicher Weise behandelt hat: Sie weisen vor allem gezielte Deformationen und Fragmentierungen auf. Bei der nunmehr anlaufenden Gesamtbearbeitung der Nekropole von Nienbüttel wird es hinsichtlich der Deutung wohl im Wesentlichen darum gehen, wie die sogenannten ›Depots‹ und ›Kenotaphe‹ sensu Schwantes zu deuten sind. Handelt es sich bei ersteren um »Gräber mit externer Beigabenplatzierung«, bei denen Urnen und Leichenbrand dem Pflug zum Opfer fielen? Oder symbolisierten sie lediglich Bestattungen, waren also eine Art Stellvertreter? Und schließlich, erfüllten die Schwantes’schen ›Kenotaphe‹ eine ganz ähnliche Funktion? Oder ging es bei den Niederlegungspraktiken der nicht eindeutigen Bestat‐ tungen um etwas ganz anderes? Hatten sie möglicherweise eine »autonome Bedeutung« und folgten damit einer »eigenen ›Deponierungslogik‹, die nicht direkt auf konkrete Gräber oder Individuen« verwies? 50 4.4.2.3 Grabform Ein weiteres naheliegendes und seit dem Beginn der systematischen Ur- und Frühgeschichtsforschung übliches Kriterium für die Unterteilung von Grabfunden bildet die Grabform (Abb. 14). 4.4 Hauptkategorien urgeschichtlicher Quellen 111 <?page no="112"?> 51 Zur Differenzierung von ›Hügelgrab‹ und ›Grabhügel‹ siehe Wendowski-Schünemann 2006. 52 Zu eisenzeitlichen Grabstelen in Mitteleuropa siehe Kimmig 1987; die metallzeitlichen Grabstelen Süddeutschlands hat Raßhofer 1998 zusammenfassend bearbeitet. Abb. 14: Hauptelemente der Grabform. - Entwurf A. Mehling/ Verf. Hierfür bietet sich zunächst einmal die grundlegende Unterscheidung zwi‐ schen oberirdisch sichtbaren und oberirdisch nicht sichtbaren Gräbern an. Legt man diese Differenzierung zugrunde, kann man, vor allem für den mitteleuropäischen Raum, zwei Haupttypen unterscheiden, nämlich Flachgräber und Hügelgräber. Beide Grabtypen, die oberirdisch meist nicht erkennbaren Flachgräber und die oft beträchtliche Dimensionen aufweisen‐ den Hügelgräber, lassen sich auf der Basis ihrer Konstruktion, ihrer inneren Struktur und ihres Inhalts weiter unterteilen. 51 Bisweilen sind die Gruben von Flachgräbern nicht nur mit Steinen kammerartig ausgekleidet, sondern auch mit runden bzw. rechteckigen Steinpflastern abgedeckt worden. Solche Gräber fallen nach Abtragen des Humus sofort ins Auge (Abb. 9). Hügelgrä‐ ber wiederum sind einstmals bisweilen mit bearbeiteten oder unbearbeiteten Steinstelen bekrönt gewesen, wie das beispielsweise für die hallstattzeit‐ lichen Grabhügel von Hirschlanden, jetzt Ditzingen-Hirschlanden (Zürn 1970, 53 ff.), und Tübingen-Kilchberg (Beck 1974) nachgewiesen wurde (Abb. 15). 52 112 4 Funde und Befunde: Zur Systematik urgeschichtlicher Quellen <?page no="113"?> 53 Bosinski/ Herrmann 1998/ 99 54 Herrmann 1997, 476, 485. Abb. 15: Rekonstruierter hallstattzeitlicher Grabhügel mit Steinstele von Tübingen-Kilch‐ berg (Baden-Württemberg). - Nach Beck 1974, 281 Abb. 25. Inwieweit dies für die im unmittelbaren Umfeld der reich ausgestatteten frühlatènezeitlichen Grabhügel vom Glauberg im Wetteraukreis gefundene fast vollständig erhaltene Kriegerstatue aus örtlichem Sandstein und Frag‐ mente von drei weiteren derartigen Statuen gilt, 53 ist ungeklärt. Der Aus‐ gräber, Fritz-Rudolf Herrmann, 54 denkt offenbar eher an ihre Aufstellung in einem »heiligen Bezirk« in unmittelbarer Nähe der Gräber. Grundsätzlich wird man bei Grabhügeln auch mit der einstigen Errichtung hölzerner Zeichen zu rechnen haben; sie lassen sich jedoch nur dann nachweisen, wenn die Hügeloberfläche bei der Ausgrabung sorgfältig auf Pfostengruben untersucht wird. Im Übrigen sind Grabzeichen aus Stein oder Holz durch‐ aus nicht auf Hügelgräber beschränkt; sie konnten gelegentlich ebenso bei Flachgräbern nachgewiesen werden. Darüber hinaus sind die großen frühbronzezeitlichen Flachgrabnekropolen ebenso wenig wie die merowin‐ gerzeitlichen Reihengräberfelder ohne einstige oberirdische Kenntlichma‐ chung der Bestattungen denkbar. Als eine weitere im europäischen Raum geläufige, wahrhaft monumentale Grabform ist das Großsteingrab oder Megalithgrab (griech. mégas, groß, und líthos, Stein) zu nennen. Gerade an diesen Gräbern zeigt sich sehr gut 4.4 Hauptkategorien urgeschichtlicher Quellen 113 <?page no="114"?> die Schwierigkeit, eine eindeutige, der Vielfalt der Realität entsprechende Systematik zu entwickeln. Megalithgräber weisen nämlich des Öfteren Reste von Erdhügeln bzw. Erdanschüttungen auf. Sie dürften damit wohl meist mit Erde überwölbt bzw. mit entsprechenden Anschüttungen - bisweilen wohl unter Aussparung einer Zugangspassage - versehen gewesen sein (Abb. 16 u. 17). Daraus folgt, dass sich die Kategorien Hügelgrab und Megalithgrab keineswegs ausschließen, sondern sich vielmehr in einem solchen Maße überschneiden, dass das Megalithgrab als Sonderform des Hügelgrabs betrachtet werden kann. Abb. 16: Großsteingrab von Klein Görnow, Kr. Parchim (Mecklenburg-Vorpommern). - Nach Schuldt 1972, 183 Taf. 29a. Auch die Megalithgräber lassen sich aufgrund ihrer Form und Konstruktion weiter untergliedern. So bezeichnet man die hier abgebildeten Gräber von Liepen (Abb. 11) und Klein Görnow (Abb. 16) aufgrund ihres Zuganges als ›Ganggräber‹ und fügt zur näheren Charakterisierung bisweilen noch die Anzahl der Decksteine bzw. Joche hinzu. Das Großsteingrab von Soderstorf (Abb. 17) wird üblicherweise zu den ›Kammern mit vier Jochen‹ gezählt (Laux 1979). Kleine rechteckige oder polygonale Großsteingräber mit in der Regel einem oder zwei Decksteinen bezeichnet man als Dolmen (breton. taol, Tisch, und maen, Stein). Sie weisen gewöhnlich keinen oder aber nur einen sehr kurzen Zugang auf. 114 4 Funde und Befunde: Zur Systematik urgeschichtlicher Quellen <?page no="115"?> Abb. 17: Großsteingrab von Soderstorf, Kr. Lüneburg (Niedersachsen). - Nach Ahrens 1975, 57 Abb. 5; ebd. 58 Abb. 6. Hinter den meisten der angesprochenen Grabformen verbirgt sich eine recht große Vielfalt der äußeren und inneren Gestaltung sowie der Konstrukti‐ onsweise. So mögen sich unter Erdhügeln eben nicht nur megalithische Grabbauten, sondern auch Holzkammern, Boote oder Kuppelkonstruktio‐ nen, die in der Technik des falschen Gewölbes errichtet worden sind, finden. Die Grabanlage kann im Inneren ferner mannigfach gegliedert sein. So mag es in Stein oder Holz ausgeführte Zugänge geben, zu einer Hauptkammer können sich eine oder mehrere Nebenkammern gesellen, die wiederum untereinander durch Gänge verbunden sein mögen, und dergleichen mehr. Das gilt zum Beispiel für eine Reihe von Großsteingrä‐ bern sowie für zahlreiche nichtmegalithische Hügelgräber. Die in solche Hügel integrierten Zugänge bezeichnet man vor allem in der mediterranen 4.4 Hauptkategorien urgeschichtlicher Quellen 115 <?page no="116"?> Archäologie gern mit dem griechischen Terminus drómos (pl. drómoi, hier Zugangsweg), ebenso wie man dort Kuppelgräber als thóloi (sing. thólos, Rundbau) bezeichnet. In der Fachliteratur werden Gräber häufig auch nach spezifischen, in ihnen auftretenden Beigaben differenziert. So spricht man zum Beispiel von Wagengräbern, Kriegergräbern (besser ›Waffengräber‹) oder Schmiedegräbern. Diese Unterscheidungsebene ist jedoch den anderen (Bestattungsritus, Bestattungsform, Grabform) nachgeordnet. Mit den drei hier aufgeführten Grabformen - dem Flachgrab, dem Hügel‐ grab und dem Großsteingrab - sind bei weitem nicht alle Möglichkeiten der äußeren Gestaltung ur- und frühgeschichtlicher Gräber erschöpft. Hier sei lediglich noch die Gruppe der Felsgräber angeführt, bei denen die Toten in nischen-, schacht- oder kammerartigen Anlagen beigesetzt wurden; da sie aus dem Fels herausgehauen wurden, bezeichnet man sie meist als Felskammergräber. Eine Sondergruppe innerhalb der Felsgräber bilden Bestattungen in natürlichen und gar nicht oder nur unwesentlich durch den Menschen veränderten Höhlen, Halbhöhlen, Nischen und Schächten. Hierzu gehören insbesondere sogenannte Schachthöhlen, über die vor gut zwanzig Jahren intensiv diskutiert wurde. Die traditionelle Interpretation als einer Stätte ›grausamer Menschenopferungen‹ ist inzwischen wohl weitgehend der Deutung als regulärer Bestattungsplatz einer wie auch immer beschaf‐ fenen Siedelgemeinschaft gewichen. Dieser Deutungswandel lässt sich am besten am Beispiel der von Norbert Baum (1999) umfassend neubearbeiteten Dietersberghöhle bei Egloffstein in Mittelfranken nachvollziehen. Baum (1999, 88 ff.) konnte nachweisen, dass das heute vorliegende Kno‐ chenspektrum der mindestens 46 in der Höhle gefundenen menschlichen Individuen auf eine bewusste Auswahl durch den Ausgräber zurückgeht, so dass damit alle auf das Vorhandensein bzw. Fehlen bestimmter Knochen gegründeten Hypothesen hinfällig wurden. Man muss davon ausgehen, dass dieser Tatbestand auch für andere von dem gleichen Ausgräber unter‐ suchte Höhlen zutrifft. Für die von ihm kritisch analysierten menschlichen Knochen der Dietersberghöhle kommt Baum (ebd. 100) zu dem Ergebnis, dass es sich dabei aufgrund ihres Alters- und Geschlechtsverhältnisses - im Gegensatz zur tradierten Interpretation - um eine »vollständige Gräberfeldpopulation« handelt. Mit der akribischen Analyse der Dietersberghöhle ist natürlich zunächst nur ein individueller Befund kritisch bearbeitet und interpretiert worden. Zugleich wurde damit aber nachhaltig auf die Bedeutung der in solchen Fäl‐ len bisher meist nicht hinreichend berücksichtigten Grundregeln archäolo‐ 116 4 Funde und Befunde: Zur Systematik urgeschichtlicher Quellen <?page no="117"?> 55 Ich folge hier der von Baum (1999, 106 f.) vorgeschlagenen begrifflichen Differenzie‐ rung. 56 Gegen die voreilige Deutung menschlicher Skelettreste in Höhlen auch Peter-Röcher 1997. - Für die Schachthöhlen der Fränkischen Alb siehe jetzt Seregély et al. 2015. Darin wird die Deutung von Baum, dass es sich bei den menschlichen Knochen in der Dietersberghöhle um eine vollständige Gräberfeldpopulation handele, aufgrund der angenommenen Belegungsdauer und der Individuenzahl bezweifelt. Vermutlich seien immer nur wenige Personen über eine recht lange Dauer in den Schacht gelangt (ebd. 215 f.). 57 Einige wesentliche Ausprägungen ur- und frühgeschichtlicher Grabformen und Bestat‐ tungsarten sind in folgenden Arbeiten erläutert und/ oder in schematisierten Befund‐ zeichnungen dargestellt: Jażdżewski 1965; Lampe 1980. 58 Veit (1996, 176 ff.; ders. 1997, 303 f.) verwendet in diesem Zusammenhang den Terminus »Bestattungsort«. gischer Quellenkritik hingewiesen. Man kann daher wohl davon ausgehen, dass die Interpretation einschlägiger Schachthöhlen, Schachtspalten und Höhlenschächte 55 in Zukunft nicht mehr ohne eine sehr sorgfältige Abwä‐ gung der jeweils vorliegenden Fund- und Befundsituation vorgenommen wird. 56 Die drei hier für eine Differenzierung der Grabfunde unterschiedenen Hauptkriterien Bestattungsritus, Bestattungsform und Grabform 57 können beliebig zueinander in Beziehung gesetzt werden. Besonders sinnvoll dürfte es dabei sein, eine erste Differenzierung auf der Ebene des äußeren Habitus von Gräbern, also nach der Grabform vorzunehmen. Als zweite Ebene bietet sich dann der Bestattungsritus an. Das Kriterium der Bestattungsform schließlich könnte entweder parallel dazu oder aber als dritte Differenzie‐ rungsebene angewendet werden. Es sei jedoch noch einmal betont, dass sich weder für diese noch für eine andere Abfolge irgendwelche zwingenden, dem Gegenstand inhärenten Gründe anführen lassen. 4.4.2.4 Grabort Ein weiteres wichtiges Kriterium zur Kategorisierung von Bestattungen ist der Ort des Grabes. 58 Dabei geht es nicht allein um seine räumliche Position innerhalb einer Nekropole, sondern auch um seinen weiteren Kontext. Man mag hier zwischen einem im weitesten Sinne ›sozialen‹ und einem ›naturräumlichen‹ Kontext unterscheiden. Bei der Frage des sozialen Kontextes handelt es sich zum Beispiel darum, ob sich eine Bestattung in einen größeren Gräberverband einfügt oder sich vielleicht hinsichtlich Lage oder Gestaltung deutlich von den anderen Grä‐ 4.4 Hauptkategorien urgeschichtlicher Quellen 117 <?page no="118"?> 59 Siehe z.-B. Sangmeister 1999; Stapel 1999, 203 ff.; Veit 1992; ders. 1996. bern abhebt. Zum sozialen Aspekt eines gegebenen Grabes gehört auch seine mögliche Positionierung - eventuell wiederum gemeinsam mit anderen - inmitten einer Siedlung oder in unmittelbarem Fundzusammenhang mit Wohn- oder Nutzbauten (zu denken wäre etwa an Bestattungen in oder neben Wohnhäusern oder Speichern). Solchen Siedlungsbestattungen wur‐ den seit den 1990er Jahren eine Reihe von systematischen Untersuchungen gewidmet. 59 Der naturräumliche Kontext eines Grabes oder einer Gräbergruppe be‐ zieht sich auf die jeweilige Lage im Hinblick auf die natürlichen örtlichen Gegebenheiten. Dabei sind vor allem besondere Ausprägungen der Topo‐ graphie wie etwa Felsdächer und Höhlen, Plateaus und Taleinschnitte oder Inseln in Seen und Flüssen von Interesse, die als Bestattungsplatz genutzt worden sind. Bei all diesen vielfältigen Möglichkeiten ist immer zu prüfen, inwieweit die heutigen Verhältnisse denen entsprechen, die während der Anlage des Grabes oder der Nekropole geherrscht haben. 4.4.2.5 Sonderbestattungen Wie aussichtslos jeder Versuch ist, eine allen Bedürfnissen gerecht werdende Kategorienbzw. Kriterienbildung einschließlich einer Hierarchisierung zu schaffen, verdeutlicht unter anderem die Gruppe der sogenannten Sonder‐ bestattungen. Renate Meyer-Orlac (1997, 1) hat zu Recht darauf hingewiesen, dass dieser Begriff »vom Wortinhalt her primär statistisch« sei, da damit von der »Norm der jeweiligen archäologischen Kultur« abweichende Grabbe‐ funde bezeichnet würden. Insofern setzt das Konzept der Sonderbestattung tatsächlich jenes der ›Normbestattung‹ voraus, und es ist damit von vorn‐ herein klar, dass die Definition der Bestattungsnorm in konkreten Fällen häufig mit Schwierigkeiten behaftet sein wird. Meyer-Orlac (ebd.) nennt sechs Kriterien, die gemeinhin - sei es einzeln oder teilweise kombiniert - zur Bestimmung von Sonderbestattungen her‐ angezogen werden, und zwar erstens die topographische Lage, zweitens der Grabbau, drittens die Totenbehandlung, viertens die Totenlage, fünftens die anatomisch korrekte Anordnung bzw. Vollständigkeit des Skeletts und sechstens die Grabausstattung. Daraus wird deutlich, dass prinzipiell jedes dieser Kriterien zur inhaltlichen Bestimmung der Kategorie ›Sonderbestat‐ 118 4 Funde und Befunde: Zur Systematik urgeschichtlicher Quellen <?page no="119"?> 60 Zu Sonderbestattungen aus physisch-anthropologischer Sicht Wahl 1994. 61 Entsprechend unterscheidet Müller-Karpe (1975, 42 ff.) »topographische«, »typologi‐ sche« und »bautechnische« Gesichtspunkte. tung‹ beizutragen vermag, ohne dass dabei eine Hierarchisierung möglich wäre. 60 4.4.3 Siedlungen Die materiellen Überreste der Siedlungstätigkeit des ur- und frühgeschicht‐ lichen Menschen stellen eine sehr wichtige Quellengruppe der Archäolo‐ gie dar. Ihr Aussagebereich umfasst zum einen die Ansiedlungen selbst, also Gehöfte, Weiler, Dörfer und Städte. Zum anderen geht es um die Beziehungen der Ansiedlungen zu ihrem natürlichen und sozialen Umfeld. Gerade hier erschließen sich der Archäologie vielfältige Einsichten in Fragen des Wirtschaftens, des Sozialgefüges, der kulturellen und sozialen Organi‐ sation sowie der klein- und großräumigen Besiedlungsstruktur. Herbert Jankuhn (1905-1990) hat die Bedeutung dieser Quellengruppe in seiner Einführung in die Siedlungsarchäologie (1977) nachdrücklich hervorgehoben. Seine Feststellung, der Stand der Erforschung von Gräbern des ur- und frühgeschichtlichen Menschen sei weit besser als jener von Siedlungen, gilt heute nach einer Reihe von ausgedehnten Siedlungsgrabungen gewiss nicht mehr in gleichem Maße wie zum Zeitpunkt des Erscheinens seines Buches. Das von ihm konstatierte Missverhältnis beruhte nicht zuletzt, wie er seinerzeit zu Recht urteilte, auf den hohen Kosten, die die bei Siedlungen meist notwendigen großflächigen Ausgrabungen verursachen (ebd. 13). Es ist klar, dass eine systematische archäologische Forschung gezwungen ist, in die Vielfalt menschlichen Wohnens und Siedelns eine gewisse Ord‐ nung zu bringen. Die gängige Klassifikation von Siedlungen orientiert sich vor allem an vier Gesichtspunkten, und zwar erstens an ihrer topographi‐ schen Situation, zweitens an ihrer Form, drittens an ihrer Funktion sowie viertens an ihrer Bauweise (Abb. 18). 61 4.4 Hauptkategorien urgeschichtlicher Quellen 119 <?page no="120"?> Abb. 18: Kriterien und Untersuchungsbereiche der Siedlungsanalyse. - Entwurf A. Mehling/ Verf. Das Kriterium Topographie differenziert etwa zwischen Siedlungen im Flachland bzw. in der Ebene und solchen im Hügelland. Letztere wiederum lassen sich in Talsiedlungen und Höhensiedlungen gliedern. Auf der Basis der topographischen Situation mag man ferner am Wasser (Fluss, See, Meer) gelegene Siedlungen von solchen im Hinterland (offenes Land, Wald) unterscheiden. Anhand der Kriterien Form und Funktion werden dann beispielsweise der ›Bauplan‹ von Siedlungen und ihre intendierte Nutzung unterschieden. Dabei geht es auch um die Frage, ob es sich um temporäre oder permanente 120 4 Funde und Befunde: Zur Systematik urgeschichtlicher Quellen <?page no="121"?> 62 Hierzu etwa Kaufmann 1990; Petrasch 1990; Trnka 1991; zeitlich und räumlich zusam‐ menfassend Steuer 1989. 63 Grundlegend hierzu Uerkvitz 1997; Strahl 2007. 64 Hier sei beispielhaft auf die grundlegenden, siedlungsübergreifenden Studien von Zimmermann (1998) zu Innovation und Beharrung im Hausbau verwiesen. Zur Analyse Ansiedlungen handelt (etwa Lager- und Rastplätze am einen, Einzelgehöfte, Weiler, Dörfer, Städte am anderen Ende des Spektrums). Desgleichen diffe‐ renziert man zwischen befestigten und unbefestigten Siedlungen. Befesti‐ gungsanlagen als solche bilden seit Beginn der systematischen archäologi‐ schen Geländeforschung eine stark beachtete Quellengattung. Insbesondere Ringwälle und Abschnittsbefestigungen in Spornlagen spielten schon früh eine herausragende Rolle. Heute gilt dies unter anderem für jene häufig komplexen ›Erdwerke‹, die meist nur noch in Form von Grabensystemen erhalten sind. 62 Ihre Entdeckung und Erforschung ist teils eine Folge der Entwicklung der Luftbildarchäologie und geophysikalischer Prospektions‐ methoden, zum andern aber ein Ergebnis ausgedehnter Flächengrabungen, die vor allem im Zuge von Großbaumaßnahmen notwendig werden. Mit den drei Kriterien ›Topographie‹, ›Form‹ und ›Funktion‹ lassen sich auch jene Bodendenkmäler erfassen, die als meist flache Geländeerhebun‐ gen in hochwassergefährdeten Bereichen von Flüssen, Binnenseen und Meeresküsten auftreten. Sie werden im Nordseeküstenraum, wo sie erstmals um die Mitte des 1. Jahrtausends v. Chr. im Bereich der niederländischen und ab Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. auch an der deutschen Küste nachweisbar sind (Behre 1987, 25), als ›Wurten‹, ›Warften‹ oder ›Terpen‹ bezeichnet. Es handelt sich dabei um künstlich angelegte Wohnhügel, die im Laufe der Zeit durch Abbruchs- und Planierungsarbeiten sowie durch das wiederholte Aufbringen von weiterem Material erhöht wurden und damit ihren Bewohnern einen mehr oder weniger effektiven Schutz vor den Unbilden der Natur boten. 63 In den gleichen Zusammenhang gehören gegen Hochwasser errichtete Deiche, die im Bereich der Küsten und großen Flüsse Mitteleuropas seit dem Mittelalter angelegt werden. Das Kriterium Bauweise schließlich ermöglicht eine Gliederung der in Siedlungen auftretenden Wohn- und sonstigen Nutzbauten. Man unter‐ scheidet die einzelnen Baustrukturen unter anderem nach ihrer Form und Konstruktion sowie ihrer Anordnung und Binnengliederung. Als ein weite‐ rer wichtiger Aspekt tritt die Untersuchung der verwendeten Materialien einschließlich ihrer Gewinnung, Aufbereitung und Verarbeitung hinzu. 64 4.4 Hauptkategorien urgeschichtlicher Quellen 121 <?page no="122"?> der Bauten in Siedlungen eines bestimmten Zeitabschnittes innerhalb einer einzigen Siedlungskammer siehe ders. 1992 (hierzu auch die folgende Anm.). Es wäre wenig sinnvoll, wollte man versuchen, auf der Basis dieser Kriterien einen in sich schlüssigen, umfassenden, hierarchisch gegliederten Katalog aller Formen ur- und frühgeschichtlicher Ansiedlungen zu erstellen. Auch hier gilt, was schon im Zusammenhang mit der Klassifikation von Gräbern festgestellt worden ist: Die Realität lässt sich nur sehr bedingt durch ein streng hierarchisch aufgebautes System mit exklusiv definierten Klassen gliedern. Der Vielfalt des Wohnens und Siedelns wird man am ehesten durch die Untersuchung einiger zentraler Bereiche gerecht, die teils von kulturellen, teils aber auch von natürlichen Faktoren bestimmt sind. Diese Untersuchungseinheiten können dann im konkreten Falle durch beliebig kombinierbare formbezogene, funktionale und strukturelle Kriterien weiter erschlossen werden. Hierbei wird man auf die gerade erläuterten Kriterien der Topographie, der Form, der Funktion und der Bauweise zurückgreifen (Abb. 18). Für die Erfassung und Analyse des Siedlungswesens bieten sich vor allem drei Bereiche an, und zwar erstens der naturräumliche Kontext von Siedlungen, zweitens ihre innere und drittens ihre äußere Struktur. Der na‐ turräumliche Kontext oder die »Lagebezogenheit«, wie Jankuhn (1977, 104) sagt, betrifft das gesamte Beziehungsgefüge, das zwischen einer Siedlung und ihrem biophysischen Umfeld besteht. Hierzu gehören sämtliche für das Siedeln einer Bevölkerung real bzw. potenziell wichtigen natürlichen Gegebenheiten wie Oberflächenform, Wasserhaushalt und Wasserführung, Bodenart und Bodengüte, Makro- und Mikroklima, Vegetation und Fauna. Untersuchungen des naturräumlichen Kontextes dienen dem Ziel, die na‐ türliche Umwelt, in der die betreffende Siedlung angelegt wurde und in der sie für eine mehr oder weniger lange Zeit bestand, möglichst umfassend zu rekonstruieren. Da zwischen Siedlungen bzw. deren Bewohnern und ihrem natürlichen Umfeld eine dynamische Beziehung besteht, sind für solche Untersuchungen auch etwaige durch das Siedeln hervorgerufene Veränderungen der Umwelt von Interesse. Die innere Struktur einer Siedlung betrifft die räumliche Anlage und innere Organisation der einzelnen Siedlungselemente ebenso wie die Anord‐ nung und innere Differenzierung der gesamten Siedlungseinheit. Hier geht es sowohl um die einzelne Baustruktur - sei es beispielsweise ein Wohnhaus, ein Speicher, ein Stall oder ein Brunnen - als auch um die räumliche und 122 4 Funde und Befunde: Zur Systematik urgeschichtlicher Quellen <?page no="123"?> 65 Eine exemplarische Untersuchung der inneren Struktur von Siedlungen im hier verstan‐ denen Sinne bietet Zimmermann (1992) mit seiner Monographie über die Siedlungen des 1. bis 6. Jahrhunderts n. Chr. in der Siedlungskammer von Flögeln, einer Geestinsel im nördlichen Elbe-Weser-Dreieck. funktionale Integration dieser einzelnen Elemente in das übergreifende Ganze der Siedlung. In diesem Zusammenhang sind auch die Beziehungen zwischen diesen Elementen der inneren Struktur und den naturräumlichen Gegebenheiten im unmittelbaren Siedlungsbereich zu berücksichtigen. 65 Die äußere Struktur einer Siedlung schließlich bezieht sich in Anbetracht des bereits erörterten naturräumlichen Kontexts von Siedlungen nicht auf ihr natürliches, sondern auf ihr soziales Umfeld. Hier interessieren in erster Linie Interdependenzen zwischen der Siedlung und ihrer Außenwelt. Dazu zählt zum einen die Einbettung der jeweiligen Siedlung in ein regionales und überregionales Besiedlungsnetz. Solche Besiedlungsnetze lassen sich beispielsweise anhand von weiteren, zeitgleichen Ansiedlungen und ihrer Verbindung durch natürliche oder künstliche Verkehrswege erschließen. Auf der Ebene der regionalen und überregionalen Besiedlungsstrukturen spielt dann die Analyse von Siedlungsmustern und Siedlungshierarchien eine beträchtliche Rolle. Der Begriff Außenwelt wird hier aber zugleich in einem weniger umfassenden Sinne verstanden. Er schließt auch solche Bereiche ein, die so unmittelbar in die Realität einer Siedlung integriert sind, dass sie davon zwar räumlich, nicht jedoch inhaltlich getrennt sind. Das gilt zum Beispiel für außerhalb der Ansiedlung liegende Bestattungsplätze, für Felder und für andere Einrichtungen - etwa Tonentnahmegruben oder Schürfgruben zur Erzgewinnung -, die für das Wirtschaften und Funktio‐ nieren des Gemeinwesens wichtig sind. Anhand der genannten drei zentralen Untersuchungsfelder zum Problem Siedlungen wird klar, dass dieser Quellengruppe für die Rekonstruktion der ur- und frühgeschichtlichen Lebensverhältnisse eine sehr große Bedeu‐ tung zukommt. Zugleich dürfte aber deutlich sein, dass die mannigfachen 4.4 Hauptkategorien urgeschichtlicher Quellen 123 <?page no="124"?> 66 Als grundlegende Literatur zum Problemkreis ›Siedlungen‹ empfiehlt sich zum einen die bereits genannte Einführung in die Siedlungsarchäologie von Jankuhn (1977). Sie bietet auch in quellensystematischer Hinsicht eine Fülle von Material. Zum anderen sei auf drei Sammelwerke verwiesen, die zwar im Wesentlichen spezifische Siedlungs‐ phänomene in Nord- und Mitteleuropa behandeln, zugleich aber auch einige Beiträge systematischer - wenngleich nicht unbedingt im strengen Sinne quellensystematischer - Natur enthalten: Jankuhn/ Schützeichel/ Schwind 1977; Jankuhn/ Schietzel/ Reichstein 1984; Kossack/ Behre/ Schmid 1984. - Für die Frage der von Caesar bezeugten spätkel‐ tischen Städte bzw. stadtartigen Anlagen, den oppida, konsultiere man unter anderem Fichtl 2005; Collis 1984; Boos 1989; Dehn 1951. Die Stadt im Altertum erörtert umfassend Kolb 1984; für die Anwendung der von Kolb herausgearbeiteten Kriterien auf das Oppidum Manching siehe Maier 1992; zu keltischen Oppida am Beispiel Manchings ferner Schreiber 2008. Generell zum Stadtkonzept das Stichwort ›Stadt‹ im RGA 2 (Steuer 2005). 67 Der Begriff ›Depotfund‹ ist von Müller (1897, 423 f.) in die archäologische Terminologie eingeführt worden. Anders als heute gebrauchte er ihn allerdings in eingeschränktem Sinne: »Was in der Absicht, es unter anderen Verhältnissen wieder an sich zu nehmen, aufbewahrt oder verborgen worden ist, nennt man Depotfund, da Erde oder Wasser die Objekte nur als ein Depositum empfangen haben. Was dagegen so hingelegt worden ist, dass man für immer darauf verzichtete, als ein Opfer für die Götter oder die Verstorbenen, bezeichnet man als Opfer- oder Votivfund.« Unser heutiges Verständnis von ›Depot‹ bzw. ›Depotfund‹ schließt die Müller’schen Opfer- oder Votivfunde mit ein. Der synonym verwendete Begriff ›Hort‹ bzw. ›Hortfund‹ wurde von Seger (1935/ 36, 86) unter Rückgriff auf Grimm definiert und fortan in der deutschen Ur- und Frühgeschichtswissenschaft am häufigsten verwendet: »Nach Grimm (Deutsches Wörterbuch) liegt darin [im Wort ›Hort‹] der Begriff des Bewachens und Hütens. Es bezeichnet erstens angehäufte Kostbarkeiten, einen gesammelten Schatz, dann auch das, wessen man sich tröstet, worauf man sich verläßt, besonders in religiöser Hinsicht. Das sind gerade die beiden Bedeutungen, die bei unserer Fundgattung in Frage kommen. Denn stets handelt es sich dabei um Kostbarkeiten, die ihr einstiger Besitzer dem Erdboden anvertraute, entweder um sie vor fremdem Zugriff zu schützen oder sich durch ihre Opferung der göttlichen Gunst zu versichern. Beide Male war sie ihm ein Hort im wahren Sinne des Wortes.« inhaltlichen Voraussetzungen einer umfassenden Quellenerschließung und Auswertung nur sehr selten in befriedigender Weise erfüllt sind. 66 4.4.4 Horte Traditionell versteht man unter einem Hort oder Depot mehrere, in un‐ mittelbarem räumlichen Zusammenhang aufgefundene Kleinaltertümer, insbesondere Waffen, Geräte und Schmuck, aber auch Halbfertigwaren und Rohmaterial. 67 Bereits in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts beschäftigten sich Altertumsforscher in Dänemark intensiv mit Hortfunden, und zwar zunächst Worsaae in den 1860er Jahren, und im Anschluss daran 124 4 Funde und Befunde: Zur Systematik urgeschichtlicher Quellen <?page no="125"?> 68 Für eine knappe Übersicht über die Geschichte der Hortfundforschung und die ver‐ schiedenen Deutungsversuche siehe v. Brunn 1968, 230 ff.; ders. 1980, 92 ff.; Stein 1976, 9 ff. 69 So stellt Stjernquist (1962/ 63, 19) fest: »Die Bezeichnung Depotfund (Hortfund) ist im Prinzip ein Sammelbegriff für alle die Fundtypen, die aus irgendeinem Anlass absichtlich in der Erde, in Mooren oder Gewässern niedergelegt wurden und nichts mit Bestattungen zu tun haben.« Ähnlich die Definition Geißlingers (1983, 320): »Depot- (oder Hort-) und Einzelfunde sind […] wiederentdeckte mobile Altertümer, […] die - nach dem Gesamteindruck des vorliegenden Befundes - in alter Zeit zwar a) durch menschliches Tun an ihren Ort gelangt sein müssen, die jedoch b) weder zur unmittelbaren Ausstattung eines Grabes gehört haben können, noch zum regulären Überrest einer Siedlung«. Müller in den Jahren 1886 und 1897. Seit dieser Zeit sind Hortfunde - vor allem jene der Bronze- und Urnenfelderzeit - immer wieder Gegenstand eingehender Erörterung. Dabei stehen Arbeiten, die sich in erster Linie mit dem Hortinhalt (also mit den darin auftretenden Objektgruppen) be‐ schäftigen neben solchen, die sich stärker der grundsätzlichen Natur dieser Quellengruppe und ihrer Deutung widmen. 68 Ein Blick in die umfangreiche einschlägige Literatur zeigt, dass diese Quellengattung meist negativ definiert wird: Sie lässt sich weder den Grabnoch den Siedlungsfunden zuweisen. 69 Helmut Geißlinger (1983, 320) cha‐ rakterisiert Horte daher als »gesonderte Niederlegungen eigener Art«. Die Schwierigkeit einer positiven Bestimmung des Begriffs ›Hort‹ bzw. ›Depot‹ resultiert aus der Unmöglichkeit, diese Quellengattung mit einer einzigen Niederlegungsabsicht zu verbinden. In diesem Punkte besteht ein offenkun‐ diger Gegensatz zu Gräbern und Siedlungen, deren Hinterlassenschaften auf ein spezifisches, funktional benennbares Kulturverhalten zurückgehen. Dieses Verhalten lässt sich recht anschaulich mit den Begriffspaaren ster‐ ben/ bestatten und siedeln/ bauen umschreiben, während sich entsprechend eindeutige Verben für die hier zur Diskussion stehenden Deponierungen nicht benennen lassen. Inzwischen ist allgemein akzeptiert, dass einst auch einzelne Gegenstände absichtlich dem Güterkreislauf entzogen und an bestimmten Orten depo‐ niert wurden. Damit stellt sich die Frage, ob wir solche Objekte, die uns als Einzelfunde entgegentreten, der Quellengattung ›Hort‹ zuweisen sollten oder nicht. Im Sinne von Geißlingers Bestimmung der Horte als Deponie‐ rungen eigener Art müssten absichtlich niedergelegte einzelne Gegenstände sicherlich dieser Quellengattung zugerechnet werden. Damit ließe sich dann die in der Praxis übliche - wenngleich nicht in jedem Falle korrekte - 4.4 Hauptkategorien urgeschichtlicher Quellen 125 <?page no="126"?> 70 Horst 1977, 168. - Claus Handrick (†), einer der Seniorstudenten in meiner Erlanger Zeit, prägte in diesem Zusammenhang die recht treffende Bezeichnung ›hortoider Einzelfund‹. 71 Bergmann 1970, 13. 72 Stjernquist 1962/ 63, 20; siehe auch Anm. 176. 73 Zum hier vertretenen Konzept von ›Hort‹ bzw. ›Depot‹ siehe Hansen 2001b, 605 sowie Görmer 2002; dazu wiederum Hansen 2002 und die Erwiderung von Görmer 2003. Gleichsetzung von Horten mit Geschlossenen Funden nicht länger aufrecht‐ erhalten. Bisweilen versucht man, einer eindeutigen gruppenspezifischen Zuweisung solcher ›Einzeldeponate‹ durch gewisse sprachliche Kompro‐ misse aus dem Wege zu gehen. So unterschied Fritz Horst (1936-1990) zwischen »›klassischen‹ Einzelfunden« im Sinne verlorengegangener Ge‐ genstände und »bewußt niedergelegten Funden«, die er als »Einzelfunde von Hortcharakter« bezeichnete. 70 Joseph Bergmann (1911-1996) 71 hat in diesem Zusammenhang von »einer Art Einstückhorte« gesprochen. Grundsätzlich muss betont werden, dass ›klassische‹, das heißt aus mindestens zwei Gegenständen bestehende Horte nicht notwendigerweise auch Geschlossene Funde sind. Hierauf hat Berta Stjernquist (1918-2010) bereits vor Jahren aufmerksam gemacht. Man müsse bisweilen, so meinte sie, mit »wiederholten Niederlegungen« an ein und demselben Ort rechnen. Anstelle des von ihr gewählten Terminus »gehäufte Depotfunde« sollte man solche Fundgruppen meines Erachtens unmissverständlich als Nicht‐ geschlossene Horte bezeichnen. 72 Innerhalb der Quellengattung der Horte lassen sich also drei Gruppen unterscheiden, und zwar Geschlossene Horte (Horte im strengen Sinne), NichtgeschlosseneHorte und Einzelfunde mit Hortcharakter (Einzeldeponate, ›Einstückhorte). 73 In der archäologischen Realität ist die erste Gruppe am häufigsten vertreten. Sie lässt sich unter Rückgriff auf Montelius’ Konzept des ›sicheren‹ Fundes folgendermaßen definieren: Unter einem Geschlossenen Hort verstehen wir mindestens zwei Gegenstände, die unter solchen Verhältnissen gefunden worden sind, dass sie als ganz gleichzeitig niedergelegt betrachtet werden müssen. Diese Definition ist insofern nur formaler Natur, als Geschlossene Horte da‐ mit inhaltlich unbestimmt bleiben. Auf der anderen Seite stellt sie die beson‐ dere Qualität dieser Hortgruppe als Geschlossene Funde heraus. Damit wird ihr eine wichtige Rolle im Rahmen des archäologischen Grundbemühens, das einschlägige Sachgut zeitlich zu ordnen, zugesprochen. Geschlossene 126 4 Funde und Befunde: Zur Systematik urgeschichtlicher Quellen <?page no="127"?> 74 Siehe z.-B. Hansen, 1991, 164, 194, 195; ders. 1994, 369 f. et pass. Funde - und damit also auch Geschlossene Horte - unterrichten in erster Linie darüber, welche Gegenstände in einer Kultur zu einem bestimmten Zeitpunkt verfügbar waren. Inwieweit diese gleichzeitige ›Verfügbarkeit‹ tatsächlich eine weitgehende ›Gleichaltrigkeit‹ oder nur ein durch Zufällig‐ keiten oder andere Faktoren bedingtes Niederlegen an sich ungleichzeitiger Objekte beinhaltet, lässt sich bei Geschlossenen Horten ebenso wie bei Geschlossenen Grabinventaren allein mit Hilfe des Prinzips der großen Zahl ermitteln. Mit dem Problem der funktionalen Deutung von Horten beschäftigt sich die Forschung seit beinahe 150 Jahren auf der Basis ziemlich unterschied‐ licher Ansätze und mit entsprechend divergierenden Ergebnissen. Dabei wurden die Hortfunde nicht nur als Schatzdeponierungen und als Händler- oder Bronzegießerdepots, sondern auch als Selbstausstattungen für das Jenseits und als Opferbzw. Weihegaben (Votivgaben) interpretiert. Eine Betrachtung der Forschungsgeschichte zeigt, dass die jeweiligen Interpre‐ tationen immer durch spezifische Prämissen bestimmt sind. So tendiert ein Bearbeiter mit ausgeprägtem religionsgeschichtlichem Interesse gemeinhin zu einer Betonung des kultischen Aspekts von Deponierungen, also zu einer Deutung als Opfer- oder Votivgaben. Entsprechend führt eine Vorliebe für ›Handel und Wandel‹, kurz für Wirtschaftsgeschichte, zu einer Hervorhe‐ bung solcher Horte, die sich als Händler- oder Gießerdepots interpretieren lassen. Und schließlich gibt es genügend Horte, die sich - sofern ein Interesse an bevölkerungsgeschichtlichen Fragen vorhanden ist - ohne Schwierig‐ keiten als Schatzdeponierungen bzw. Schatzverstecke deuten lassen. Diese Interpretation unterstellt, dass die jeweils zur Diskussion stehenden Horte in ›Unruhezeiten‹ vergraben wurden und aufgrund ungünstiger äußerer Umstände nicht mehr gehoben werden konnten. In den letzten drei Jahrzehnten machte sich vor allem in der deutschen Forschung eine starke Tendenz bemerkbar, Horte der Bronzezeit vorwie‐ gend als Opferbzw. Weihegaben zu deuten. 74 Dieser Deutungsmodus kommt in exemplarischer Klarheit im Titel einer Hortfunden gewidmeten, von Alix und Bernhard Hänsel (1997) konzipierten Ausstellung im Berliner Museum für Vor- und Frühgeschichte zum Ausdruck: Gaben an die Götter - Schätze der Bronzezeit Europas. In seinem einführenden Beitrag vertritt B. Hänsel (1997, 13) die These, die weitaus größte Zahl der bronzezeitlichen Horte stelle das Ergebnis einer »überall in der Bronzezeitwelt Europas« 4.4 Hauptkategorien urgeschichtlicher Quellen 127 <?page no="128"?> 75 Nachdem Hänsel (1997, 12 ff.) eine Reihe von Argumenten für, teilweise aber auch gegen die »Opferhypothese« zusammengestellt hat, erklärt er diese Deutung zum Normalfall (ebd. 15). In einem erstaunlichen Umkehrschluss fordert er sodann »die Beweisführungspflicht für jede andere als die sakrale Interpretation«. Nicht minder erstaunlich ist die von ihm anhand der Zusammensetzung bronzezeitlicher Horte ansatzweise vorgenommene Rekonstruktion des bronzezeitlichen Pantheons (ebd. 19 ff.). Die zentrale Zielsetzung der Ausstellung und der Beiträge des zugehörigen Katalogbandes charakterisiert er so: »Es ist das Ziel, die bronzezeitlichen Hortfunde als ein europäisches, zeitspezifisches Phänomen darzustellen und als Quelle zur Erkenntnis über die Glaubenswelt, die Riten und die Religiosität der bronzezeitlichen Bewohner Europas zu begreifen« (ebd. 21). Man erinnert sich bei diesen Darlegungen an die sarkastische Kritik entsprechender »Einheitsdeutungen« durch W. Torbrügge (1985, 17), der in ähnlichem Zusammenhang unter anderem von »dogmatischen Ansätzen«, »Lehrmeinungen« und »Glaubensartikeln« sprach. - Kritik an meiner Einschätzung seiner Auffassung übte Hänsel (2001, 254) in seiner Rezension der ersten Auflage dieses Buchs; zu seiner »Opferhypothese« ausführlich Eggert 2003b/ 2011, 187 ff. 76 Im Zusammenhang mit der Auffassung Hänsels konsultiere man auch die verschiede‐ nen Beiträge in dem von ihm und A. Hänsel (1997) herausgegebenen Ausstellungskata‐ log sowie insbesondere Hansen (1991; ders. 1994) und Soroceanu (1995). In der Deutung weniger einseitig und in der Quellenkritik vorbildlich ist die Dissertation von C. Huth (1997) über spätbronzezeitliche Hortfunde Westeuropas; siehe auch ders. 1996. 77 Kritisch zu dieser Arbeit vor allem Torbrügge 1985. 78 Dies entspricht den Vorschlägen von Geißlinger (1983, 321), der die weniger eindeutigen Begriffe »Fundumstände« und »Fundverhältnisse« verwendet. nachweisbaren »Opferpraxis« und damit »eine heute noch sichtbare Form der Kommunikation mit den Göttern« dar. 75 Eine ähnlich einseitig religions‐ geschichtliche Interpretation 76 ist vor einigen Jahren für die frühbronzezeit‐ lichen Horte Bayerns vorgetragen worden (Menke 1978/ 79). 77 Für die Beantwortung der schwierigen Frage nach der funktionalen Deutung von Horten bieten sich zwei Wege an, die beide beschritten werden müssen, wenn die Untersuchung zu einem positiven Ergebnis führen soll. Zum einen ist es unumgänglich, die Fundsituation so eingehend wie möglich zu analysieren, zum anderen muss die Zusammensetzung der Horte genau‐ estens studiert werden. Im Zusammenhang mit der Fundsituation sollte man zwischen Niederlegungs- oder Deponierungsverhältnissen einerseits und Auffindungsverhältnissen andererseits unterscheiden. 78 Somit wäre also ein Hort, der während der Bronzezeit in einem Tümpel versenkt und heute beim Bepflanzen des inzwischen verlandeten Areals aufgefunden wurde, nach seinen Auffindungsverhältnissen ein Bodenfund, nach den Niederlegungs‐ verhältnissen hingegen ein Gewässerfund. Im Sinne dieser Differenzierung kommt es also für die Frage der funktionalen Deutung dieses Hortes nicht auf die Auffindungs-, sondern auf die Niederlegungsverhältnisse an. 128 4 Funde und Befunde: Zur Systematik urgeschichtlicher Quellen <?page no="129"?> 79 Geißlinger (1983, 322) spricht hier von der vordergründigen »Absicht der Niederle‐ gung« und dem dahinterstehenden »Motiv«. 80 Siehe hierzu sowie zu einer exemplarischen Erörterung der gesamten Hortproblematik Geißlinger 2002, bes. 132 ff. 81 Siehe in diesem Zusammenhang z. B. die Überlegungen von Cosack (2006) zur Deutung von Metallobjekten, die im Zuge eines systematischen Prospektionsvorhabens mit Metalldetektoren im Hildesheimer Wald, Lkr. Hildesheim (Niedersachsen), zutage kamen. Bei der Analyse von Horten empfiehlt es sich außerdem, zwischen Niederlegungsart und Niederlegungsabsicht zu differenzieren. 79 Dabei erge‐ ben sich jeweils zwei prinzipielle Möglichkeiten. Bei der Niederlegungsart eines Hortes lassen sich eine reversible, das heißt vorübergehende bzw. rückgängig zu machende, und eine irreversible, also immerwährende bzw. nicht rückgängig zu machende Niederlegung unterscheiden. Als Niederle‐ gungsabsicht hingegen käme eine profane und eine sakrale Motivation in Frage. In der Praxis ergibt sich die Art der Niederlegung in der Regel aus den Deponierungsverhältnissen. Daraus muss dann wiederum auf das Motiv oder die Absicht der Deponierung geschlossen werden. Geißlinger (1983, 322) weist zu Recht darauf hin, dass eine ausgeprägte Tendenz bestehe, reversible Niederlegungen für profan, irreversible hinge‐ gen für sakral zu halten, wobei Letzteres besonders für Moorfunde gelte. Er mahnt jedoch zur Vorsicht, sämtliche Deponierungen in feuchtem Milieu allzu schnell mit Kultverhalten in Verbindung zu bringen. Aus historischer Zeit sei eine Reihe schriftlich bezeugter Deponierungen in Gewässern und Mooren bekannt, bei denen man durchaus die Absicht hatte, die deponierten Objekte nach überstandener Plünderungsgefahr wieder zu heben. Wenn man entsprechenden Fehlinterpretationen entgehen wolle, müsse man die mutmaßlichen Deponierungsverhältnisse so genau wie möglich analysieren (ebd. 323). 80 Eine der beiden grundsätzlichen Möglichkeiten einer funktionalen In‐ terpretation von Hortfunden - die Analyse der Auffindungsbzw. der Deponierungsverhältnisse - ist kurz charakterisiert worden. Die zweite Möglichkeit bedient sich der Analyse der Hortzusammensetzung. So kann ein typischer, aus zerbrochenen Bronzegegenständen, Bronzebarren und Bronzegusskuchen bestehender Rohmaterialbzw. Brucherzhort für den Altmaterialvorrat eines Bronzegießers sprechen. Ein Depot von neuwerti‐ gen Bronzegegenständen hingegen wird man eher mit einem Händler in Verbindung bringen. 81 In diesem Zusammenhang ist jedoch nicht nur die 4.4 Hauptkategorien urgeschichtlicher Quellen 129 <?page no="130"?> 82 Dieser Aspekt der »Fundbehandlung« wurde nachdrücklich von Müller-Wille (1989, 7, 14) betont. In diesem Sinne schreibt er über entsprechende Spuren an den Waffen der großen, als Waffenopfer gedeuteten Moorfunde Skandinaviens: »Offensichtlich sind […] die Gegenstände am Ort der Opferhandlungen zerschlagen, zerbogen, zerrissen, verbrannt worden […] - eine Orgie der Gewalt, wie man es nicht anders bezeichnen kann« (ebd. 40). Siehe in diesem Zusammenhang Nebelsick (1997) zu bronzezeitlichen Horten. 83 Von der umfangreichen älteren Literatur zur Hortfunddeutung seien hier lediglich die kritischen Aufsätze von Torbrügge (1985) und Pauli (1985) genannt. 84 Siehe hierzu auch Ballmer 2010b. typenmäßige Zusammensetzung des Fundensembles und die Vollständigkeit bzw. der fragmentarische Charakter der zugehörigen Objekte wichtig. Auch die aus dem jeweiligen Zustand der deponierten Gegenstände ablesbaren mannigfachen Manipulationen, denen sie ausgesetzt gewesen waren, spie‐ len dabei eine wesentliche Rolle. 82 Grundsätzlich gilt, dass die beiden hier unterschiedenen Analyseansätze - Deponierungsverhältnisse und Hortzu‐ sammensetzung - bei jeder funktionalen Interpretation in Kombination anzuwenden sind. 83 Ariane Ballmer (2010a) hat vor eineinhalb Jahrzehnten versucht, das Phä‐ nomen der bronzezeitlichen Metalldeponierungen durch die Verknüpfung von Deponierungshandlung und Deponierungsumfeld (›Landschaft‹) neu zu beleuchten. Sie schließt damit einerseits an David Fontijns (2002) Untersu‐ chung zur bronzezeitlichen Deponierungslandschaft in den südlichen Nie‐ derlanden an und legt ihrer Konzeption andererseits die ›Theorie der Praxis‹ des französischen Soziologen und Sozialphilosophen Pierre Bourdieu (1930- 2002) zugrunde. Durch die Berücksichtigung von Deponierungspraxis und ›Sakrallandschaft‹ möchte Ballmer die oben charakterisierten funktionalen Deutungen überwinden. Sie illustriert ihre programmatischen Darlegungen mit einem ethnographischen Beispiel, das einer Monographie über eine halbnomadische indigene Bevölkerungsgruppe Westsibiriens entnommen ist. Dieser neue Deutungsansatz ist dem derzeitigen interpretatorischen Trend zu ›Raumkonzeptualisierungen‹ verpflichtet; inwieweit er sich in der archäologischen Praxis bewähren wird, bleibt abzuwarten. 84 4.4.5 Kultstätten Unter dem Terminus Kultstätten lassen sich alle archäologischen Fundplätze subsumieren, die einstmals eine Rolle im religiös-kultischen Bereich gespielt 130 4 Funde und Befunde: Zur Systematik urgeschichtlicher Quellen <?page no="131"?> 85 Die folgenden teils systematischen, teils aber in erster Linie auf spezifische Fundgrup‐ pen zielenden Arbeiten und Sammelwerke können für den Problemkreis ›Kultstätten‹ als grundlegend gelten: Jankuhn 1970; Müller-Wille 1989; Schlette/ Kaufmann 1989; Torbrügge 1970/ 71. Zwei für eine größere Leserschaft geschriebene Veröffentlichun‐ gen bieten einen soliden Überblick (einschließlich der einschlägigen Literatur) über entsprechende Befunde und Funde der Latènezeit (Haffner 1995) sowie der Zeit vom Frühneolithikum bis in das ausgehende 12. Jahrhundert n. Chr. im nördlichen Mitteleuropa und in Südskandinavien (Müller-Wille 1999). Für die Sichtweise der englischsprachigen Prozessualen Archäologie konsultiere man z. B. Renfrew 1985, für die (vor allem) Post-Prozessuale Archäologie etwa Garwood et al. 1991a. 86 Hierzu einige Literaturhinweise: Höhen, Pässe: Wyss 1996; Felstürme, Felsspalten: Maier 1984; Schauer 1981; Höhlen: Baum 1999; Behm-Blancke 1989; Bockisch-Bräuer/ Zeitler 1996; Flindt 1996; Flindt/ Leiber 1998; Geschwinde 1988; Gleirscher et al. 1997; Maier 1984; Parzinger/ Nekvasil/ Barth 1995; Schauer 1981; Moore, Seen, Flüsse: Behm-Blancke 1989; Dämmer 1986; Torbrügge 1970/ 71; Wegner 1976; ders. 1995; Zimmermann 1970; Quellen: Stjernquist 1970; Teegen 1999, bes. 241 ff.; ders. 2003; Wyss 1996; Zimmermann 1970. Für eine Zusammenstellung norddeutscher ›Opferplätze‹ und ›Heiligtümer‹ siehe Busch/ Capelle/ Laux 2000. Kritisch zur gängigen Deutung von Skelettfunden in Höhlen: Peter-Röcher 1997. - Christine Bockisch-Bräuer (Fürth) danke ich für anregende Ausführungen und einschlägige Hinweise zur Höhlenproblematik. 87 Elsas 1998 bietet vor allem auf der Grundlage der alteuropäischen und altorientalischen Überlieferung eine prägnante Erörterung der allgemeinen Aspekte von »Kultorten« und ihrer konstitutiven Merkmale. Einschlägige systematische Überlegungen ferner bei Stjernquist 1962/ 63; Kirchner 1968; Colpe 1970 (siehe unten). haben. 85 Es ist eine empirische Tatsache, dass das Kultverhalten des Men‐ schen eine immense Spannweite aufweist. Dabei geht es hier weniger um die diesem Verhalten zugrunde liegenden Prinzipien als vielmehr um die Formen und den Kontext seiner Realisierung. Das betrifft nicht nur den im weitesten Sinne sozialen Habitus, das heißt den konkreten Handlungs‐ zusammenhang samt seiner Einbettung in das jeweilige gruppenspezifische materielle Umfeld und die Nutzung dieses Umfelds im Vollzug der kultischen Handlung. Die Realisierung betrifft darüber hinaus den Ort, an dem die Handlung vollzogen wird; auch hier belegt der weltweit vorhandene empi‐ rische Befund ein außerordentliches Spektrum ›heiliger‹ Orte. Dies muss man ebenso für die ur- und frühgeschichtliche Zeit voraussetzen. Somit ist diese Quellengruppe in ihren konkreten Ausformungen überaus vielfältig. Das Spannweite dessen, was wir hier ›Kultstätten‹ nennen, reicht von einschlägigen, anthropogen nicht oder kaum veränderten Aktivitätszonen im Bereich von Höhen, Pässen, Felstürmen, Felsspalten, Höhlen, Mooren, Seen, Flüssen und Quellen 86 bis zu monumentalen, nach einem vorgege‐ benen Bauplan aus Stein errichteten und vielfach in sich gegliederten Tempelanlagen. 87 4.4 Hauptkategorien urgeschichtlicher Quellen 131 <?page no="132"?> 88 Mit der Widerspiegelung von »religiösem Denken« in spätbronze- und früheisenzeit‐ lichem Sach- und Bildgut Alteuropas hat sich Kossack 1999a umfassend auseinander‐ gesetzt. Siehe hierzu auch Schauer 1996. 89 Siehe Krämer 1966; Maier 1973. Zu Brandopferplätzen in den Alpen siehe Gleirscher 1996; ders./ Nothdurfter/ Schubert 2002; v. Uslar 1991, 79 f.; Zemmer-Plank 2002; zu den bayerischen Befunden Weiss 1997. Zusammenfassend ferner Parzinger 1995, 204 ff. 90 Hierzu unter anderen Klein 1996; Krause/ Wieland 1993; Wieland 1999 (mit zahlreichen Kurzberichten über neue Ausgrabungen im Katalogteil); siehe aber Reichenberger 1988; ders. 1993. Zusammenfassend auch Wieland 2006. 91 Im Laufe des Studiums wird man meist recht früh in informellem Kontext mit einer ironisch gemeinten ›Allerweltsdeutung‹ vertraut gemacht: »Und was man nicht erklä‐ ren kann, das sieht man dann als kultisch an! « Aus der häufig unspezifischen Ausprägung von Kultstätten folgt, dass die entsprechende Deutung eines bestimmten Fundplatzes oft schwierig ist. Wenn beispielsweise eine bestimmte Örtlichkeit aufgrund der dort ge‐ borgenen archäologischen Hinterlassenschaften ›kultverdächtig‹, der Platz jedoch durch menschliche Einwirkung gar nicht oder kaum verändert ist, kann nur eine Analyse der Funde und ihrer Auffindungsverhältnisse weiterführen. Es bedarf keiner besonderen Betonung, dass es bei der inhalt‐ lichen Interpretation der Fundstelle nicht um die Auffindungsverhältnisse an sich, sondern um die über sie erschlossenen Deponierungsverhältnisse geht. Die Zusammensetzung und die Beschaffenheit des archäologischen Fundguts sowie ihr Kontext spielen nicht nur bei kultverdächtigen, mehr oder weniger natürlich belassenen Deponierungsstellen, sondern auch bei entsprechenden baulichen Strukturen eine wesentliche Rolle. 88 Das gilt für die sogenannten ›Brandopferplätze‹ 89 ebenso wie für die spätkeltischen Viereckschanzen. Gerade die Viereckschanzen mit ihrer rund einhundert‐ jährigen Geschichte höchst wechselhafter Interpretationen sind ein sehr gutes Beispiel für die Schwierigkeiten, die mit einer eindeutigen Funktions‐ zuweisung archäologischer Baustrukturen verbunden sein können. Die seit den 1960er Jahren allgemein akzeptierte These des kultischen Charakters dieser Anlagen (Schwarz 1975) ist inzwischen durch neue Ausgrabungen und die damit verbundene Veränderung des bisherigen Bildes von Fundgut und Kontext sowie der baulichen Befunde beträchtlich ins Wanken gera‐ ten. 90 Generell sagt man der Ur- und Frühgeschichtswissenschaft nach, dass sie alles, was sich nicht ohne Weiteres erklären ließe, ›kultisch‹ deute. 91 Diese Einschätzung ist natürlich übertrieben, aber es besteht doch eine gewisse Interpretationstendenz, die in diese Richtung geht. So kommt es 132 4 Funde und Befunde: Zur Systematik urgeschichtlicher Quellen <?page no="133"?> 92 Nach Colpe (1970, 32) lässt sich »bis zu einem gewissen Grade aus allem, was sich in einer aus Alltagsumständen nicht mehr erklärbaren Weise über Zeiten hin wiederholt, recht häufig vor, dass der Fundniederschlag einer aus topographischen oder anderen Gründen ungewöhnlichen Fundstelle als ›Opfergabe‹ gedeutet und der so erfolgte scheinbare Nachweis von Opferhandlungen dann wiederum als Beweis für die Deutung der Fundstelle als Heiligtum in Anspruch genommen wird. Dem Religionswissenschaftler Carsten Colpe (1929-2009), der sich mit der Frage befasst hat, ob und inwieweit sich ›Heiligtümer‹ und ›Opfer‹ in ur- und frühgeschichtlicher Zeit identifizieren lassen, ist daher nachdrücklich zuzustimmen, wenn er fordert, dass »die Qualifikationen, welche einen Ort zum Heiligtum und eine Darbringung zum Opfer machen, ganz unabhängig voneinander« entwickelt werden müssten (Colpe 1970, 19). Das Kernproblem der Identifizierung von ›Kultstätten‹ oder ›Heilig‐ tümern‹ - ich verwende diese beiden Begriffe angesichts der in dieser Hinsicht meist recht diffusen archäologischen Quellenlage synonym - liegt in dem, was Colpe (ebd. 29) unter Berufung auf Mircea Eliade (1907-1986) die »Dialektik des Heiligen« genannt hat: »Jede Erscheinungsform der natürlichen Welt« könne »Chiffre des Heiligen« sein. Und dennoch bleibe ein solcher heiliger ›Platz‹ - ein Fels, ein Berg, ein See, ein Fluss, ein Baum, ein Wald - das, was er eben von Natur aus repräsentiere bzw. was durch natürliche und durch den Menschen verursachte Veränderungen im Laufe der Zeit daraus geworden sei. Es ist offenkundig, dass es angesichts dieser Sachlage häufig überaus schwierig bzw. unmöglich sein wird, einen bestimmten Platz, ein Areal, einen See und dergleichen als ›heilig‹ zu identifizieren. Sofern Kultstätten in ur- und frühgeschichtlicher Zeit nicht nach einem erschließbaren Kanon gebaut oder ausgewählt worden sind, führt die von Colpe (1970, 29 f.) knapp umrissene »Phänomenologie des sakralen Raumes« sicherlich nicht weiter. Etwas besser sieht es hingegen mit der Anwendung jener Indizien aus, die er als »rituelles Urgerüst« aus Mythen isoliert hat, die mit heiligen Stätten verknüpft sind (ebd. 31 ff.). Dabei handelt es sich erstens um die Kategorie der Wiederholung, zweitens um die Kategorie der Entdeckung und drittens um die Kategorie der Außergewöhnlichkeit. Die erste Kategorie geht von der »phänomenalen Kontinuität heiliger Stätten überall in der Welt« aus, die sich archäologisch in der »Anhäufung von Niederlegungen spezifischer Art« und in der »Beibehaltung auffälliger Grundrisse oder Lagen« niederschlagen kann. 92 Das bedeutet allerdings 4.4 Hauptkategorien urgeschichtlicher Quellen 133 <?page no="134"?> in denen es in anderer Hinsicht Kontinuitätsbrüche gegeben hat, schließen, daß ein Heiligtum vorliegt.« 93 In den Worten von Colpe (ebd. 33): »Während also die Kategorie der Wiederholung einige Gründe bereithält, die zur Identifizierung eines Heiligtums führen können, beseitigt die Kategorie der Entdeckung alle Gründe, welche die Identifikation eines Heiligtums ausschließen könnten.« 94 Colpe (ebd. 34) schreibt: »Im Prinzip aber muß es genügen, daß die Außergewöhnlich‐ keit allein spricht, auch wenn dort nur ein Einzelfund vorliegt oder ein Ort bei aller Außergewöhnlichkeit der Lage nicht das Außergewöhnliche eines Geschehens, nämlich eine Entdeckung, fordert.« Leider nennt er keine Kriterien, mit deren Hilfe dieses Postulat empirisch umgesetzt werden könnte. 95 Zur Konzeption des Opfers und seines archäologischen Nachweises siehe Gladigow 1984. 96 Zum Problem des Menschenopfers siehe trotz des reißerischen Titels und oberflächli‐ cher Behandlung ethnographischer und historischer Quellen Rind 1996; ferner Hultgård 2001. - Zu »Bauopfern, kultischen Niederlegungen und Bestattungen« in norddeut‐ schen und dänischen Siedlungen Beilke-Voigt 2007. nicht, dass eine heilige Stätte nur dort vorhanden gewesen sein kann, wo sich eine Kultkontinuität nachweisen lässt. Die Kategorie der Entdeckung geht von der in vielen Mythen berichteten ›Findung‹ der Stätte aus, an der sich das Numinose offenbart, und die fortan der Wiederholung der ursprünglichen Offenbarung, der Hierophanie dient. Diese Findung entzieht sich natürlich dem archäologischen Nachweis. Mithin bleibt die archäologi‐ sche Nutzanwendung dieser Kategorie auf die Einsicht beschränkt, dass es keine Gründe gibt, für einen bestimmten Ort ein Heiligtum auszuschließen. 93 Die Kategorie der Außergewöhnlichkeit schließlich setzt ein vom Üblichen abweichendes »empirisch-geographisch Gegebenes« und damit etwas von der Natur Geschaffenes im Sinne einer auffallenden Felsformation oder der‐ gleichen voraus. Es fällt allerdings schwer, hieraus ein Kriterium abzuleiten, das geeignet wäre, einen bestimmten Ort als ›heilig‹ oder ›nicht heilig‹ zu deklarieren. 94 Zur Entscheidung der Frage, ob an einem bestimmten Ort ein Heiligtum vorliegt, führt Colpe (1970, 35) schließlich die Kategorie des Opfers als ein weiteres Kriterium an. 95 Wenngleich die Interpretation eines spezifischen Fundniederschlags als Ergebnis einer Opferhandlung aufgrund der Gefahr zirkulärer Argumentation von ihm als Ausgangskriterium abgelehnt wurde, meint er diesen Sachverhalt nunmehr berücksichtigen zu dürfen. Gegen‐ stand einer Opferung seien im Wesentlichen bewegliche Dinge und Tiere sowie - entschieden seltener - Menschen. 96 Auch bei der Identifizierung von Opfern spielten die Kriterien der Wiederholung und der Außergewöhnlich‐ 134 4 Funde und Befunde: Zur Systematik urgeschichtlicher Quellen <?page no="135"?> 97 Die Wiederholung und die Außergewöhnlichkeit einer Niederlegung fasst Colpe (1970, 36) unter dem Begriff der Ritualisierung zusammen (hierzu auch ebd. 31). 98 In diesem Sinne hat Torbrügge (1970/ 71, 64 f.) im Zusammenhang mit Fluss- und Quellfunden von der »Merkwürdigkeit des Platzes«, die durch die »Merkwürdigkeit der Fundobjekte« unterstrichen werde, gesprochen. 99 Müller-Wille 1989. Dieser Aspekt ist bereits oben im Zusammenhang von Horten angesprochen worden (siehe Kap. 4.4.4 (S. 130, Anm. 82). - Zu Opfer und Opferfunden auch Capelle 2003. 100 Siehe hierzu die Überlegungen, die Geißlinger (2002, 221 ff.) der Deponierung des großen Gastgeschenkes der Phäakenfürsten und ihres Königs Alkinoos in der Höhle der Najaden widmet. keit eine zentrale Rolle. 97 Die Außergewöhnlichkeit zeige sich an der Art und Seltenheit der deponierten Gegenstände und Tiere sowie bei Letzteren auch an der Bevorzugung einer bestimmten Altersstufe bzw. eines bestimmten Geschlechts. Hinzu komme Ort und Art der Niederlegung, beispielsweise eine ungewöhnliche, intentionelle Anordnung der deponierten Objekte oder, bei Tieren, eine spezifische Tötungsart und eine auffällige Gruppierung der Knochen (ebd. 36). 98 Diese Kriterien wären um den von Michael Mül‐ ler-Wille (1938-2019) in die Opferplatz-Diskussion eingeführten Aspekt der intentionellen, im Kontext der Niederlegung durch Verbiegen, Zerbrechen und dergleichen beigeführten Veränderung der deponierten Gegenstände zu ergänzen. 99 Zieht man das Fazit aus den Überlegungen Colpes, bleibt ein etwas zwiespältiges Gefühl. Auf der einen Seite ist man erleichtert, dass die vorgeschlagenen Kriterien nicht jene Tendenz verstärken, die letztlich in Richtung eines »Pansakralismus bei Fund- und Ortsbestimmungen« (ders. 1970, 35) führen würde. Andererseits wird es aber anhand der verfügbaren Kriterien allzu oft nicht zweifelsfrei möglich sein, einen kultverdächtigen Platz als Kultstätte zu identifizieren. Die Erörterung der Kategorie des Opfers hat implizit den Bogen von den Kultstätten zu den Horten geschlagen; in gleicher Weise verbindet die oben angesprochene Opferthese die Horte mit den Kultstätten. In gewissen Fällen überschneiden sich diese beiden Kategorien also, nämlich dann, wenn der Hortungsort mit einer Kultstätte gleichgesetzt werden muss. 100 Die Ausführungen Colpes zeigen, wie schwierig es ist, die Kategorie der Kultstätten und das damit verbundene Verhalten auf der Basis archäo‐ logischer Hinterlassenschaften zu bestimmen und zu untersuchen. Die einschlägige archäologische Diskussion wird, wie Paul Garwoodet al. zu Recht festgestellt haben, in einem hohen Maße durch das Gegensatzpaar 4.4 Hauptkategorien urgeschichtlicher Quellen 135 <?page no="136"?> 101 Garwood et al. 1991b, Vf., VIII. 102 Hierzu etwa Eggert 2015; ferner ders. 2003c; Zipf 2003. 103 Garwoodet al. (1991b, VII) schreiben: »The material identification, for archaeological purposes, is really a methodological problem predicated upon the particular concepti‐ ons of ritual and the particular theoretical understanding of material culture that are adopted. Though material matters must dominate archaeological thinking, the starting point for such thinking clearly lies beyond the immediate material domain.« Es liegt wohl auf der Hand, dass sich der Archäologe für eine angemessene, auch für ihn maßgebende Definition an die Ethnologie (bzw. an die amerikanische Kultur- und die britische Sozialanthropologie) und an die Religionswissenschaft halten sollte. 104 Das Fazit lautet: »These issues [e.g., »serious misconceptions about the nature of ritual and the relationship between religious belief and social action« on the part of some archaeologists] raise again the problem of symbolic meaning and the materialist understanding of ritual in archaeology. […] it does seem that the hope of identifying single unconditional ›meaning‹ in material symbolism in prehistoric contexts must at best be doubtful. Far more important, perhaps, is the need to understand the structure and referents of ritual symbolism in particular cultural contexts that may, indeed, point to the expectations, the value systems, and the world view that gave meaning to individual action and to social life« (ebd. IX). rituell/ säkular bzw. heilig/ profan beherrscht 101 - zwei Konzepte, die nur allzu oft nicht als analytische Instrumente, sondern als reale, im einstigen kulturellen Kontext sauber zu trennende Phänomene begriffen werden. Ohne hier auch nur ansatzweise auf die ethnologisch-religionswissenschaft‐ liche Fachdebatte eingehen zu können, sei festgestellt, dass das ›Heilige‹ und das ›Profane‹ in der gelebten Wirklichkeit eben sehr häufig nicht auseinandergehalten werden können. 102 Anders als der Ethnologe muss der Archäologe, wie Garwoodet al. (1991b, VII f.) betonen, rituelles oder Kult‐ verhalten anhand materieller Hinterlassenschaften identifizieren und seinen Untersuchungen damit eine - wie sie sich etwas missverständlich ausdrü‐ cken - »materialistische Definition« von Ritual oder Kult zugrunde legen. 103 Die vier Autoren kommen in ihrem Vorwort zu dem Sammelband Sacred and Profane zu einer bedingt optimistischen Einschätzung des Potenzials »eines materialistischen Verständnisses« von Kult in der Prähistorischen Archäologie (ebd. IX). 104 4.4.6 Werkplätze Die Quellenkategorie Werkplatz ist in der Fachliteratur nicht geläufig. Ihr entsprechen zum Teil jene Quellen, die von Jankuhn (1977, 16 ff.) unter den Überschriften »Spuren landwirtschaftlicher Produktion« und »Hinterlassenschaften der Rohstoffgewinnung und -verarbeitung« abge‐ 136 4 Funde und Befunde: Zur Systematik urgeschichtlicher Quellen <?page no="137"?> 105 Eine sehr gute Einführung in diesen Themenkreis bietet ein auf Deutschland bezogenes, von Steuer und Zimmermann (1993) herausgegebenes Sonderheft von Archäologie in Deutschland. Wenngleich für ein größeres Publikum geschrieben, findet sich darin auch eine Auswahl einschlägiger Spezialliteratur. Darüber hinaus seien genannt: Gottschalk 1999 (Bergbau und Erzverhüttung im Südschwarzwald); Reiff/ Böhm 1995 (Lagerstätten und Gewinnung von Eisenerz auf der Schwäbischen Alb); Stöllner 1999a (Salzbergbau am Dürrnberg bei Hallein); Weisgerber 1999 (Feuersteinbergbau in Europa). Zum Bergbau generell Stöllner et al. 2003. handelt werden. Allgemeiner ausgedrückt fallen unter diese Kategorie jene Fundplätze, die in einem direkten oder indirekten Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Produktion einer Bevölkerung stehen. Es versteht sich, dass manche von ihnen bisweilen auch in Siedlungen auftreten - man braucht hier nur an Schmieden oder Bronzegießereien zu denken. Für eine Untergliederung der Werkplätze bieten sich zwei Kriterien an, und zwar einerseits die Rolle, die diese Plätze im Produktionsprozess spielten, und andererseits die Produkte, die dort gewonnen, hergestellt oder verarbeitet worden sind. Auf dieser Grundlage lässt sich das gesamte Spek‐ trum dieser Quellengruppe in vier große Untergruppen zusammenfassen. 4.4.6.1 Rohmaterialgewinnung Hierzu werden alle Fundplätze gezählt, die der Beschaffung von anorgani‐ schen Rohstoffen dienten. Dabei geht es in erster Linie um Stätten der Stein-, Obsidian-, Ton-, Salz- und Erzgewinnung. Darunter fallen auch jene Plätze, an denen natürlich (gediegen) auftretendes Metall ausgebeutet wird. Für die allgemeine Benennung ist es irrelevant, in welcher Weise die Gewinnung bzw. der Abbau der Rohstoffe erfolgte. Somit werden identifizierbare Plätze rein oberflächlichen Absammelns von Rohmaterialien ebenso berücksich‐ tigt wie ein technisch mehr oder weniger elaborierter Abbau über oder unter Tage. 105 4.4.6.2 Rohmaterialverarbeitung In dieser Gruppe sind all jene Stätten zusammengefasst, an denen bestimmte Grundstoffe oder Ausgangsmaterialien weiterverarbeitet wurden. Diese Stoffe oder Materialien müssen nicht notwendigerweise anorganischer Natur sein; auch die Verarbeitung tierischer Produkte wie beispielsweise Horn oder Fell wäre hier einzureihen. In diese Kategorie fallen Gerbergruben 4.4 Hauptkategorien urgeschichtlicher Quellen 137 <?page no="138"?> 106 Aufgrund der Breite der Thematik und der großen Zahl einschlägiger Veröffentlichun‐ gen beschränke ich mich auf die Nennung einiger weniger Arbeiten zur Kupfer-, Bronze- und Eisenmetallurgie: Strahm 1994 (frühe Kupfermetallurgie in Mitteleuropa); Krause 2003 (frühe Kupfer- und Bronzemetallurgie in Mitteleuropa); Brumlich 2018 (Eisenerzverhüttung in der Jüngeren Vorrömischen Eisen- und Älteren Römischen Kaiserzeit in Brandenburg); Brumlich/ Leonhardt/ Meyer 2020 (Beginn Eisenerzverhüt‐ tung Mitteleuropa); Gassmann et al. 2005; ders./ Rösch/ Wieland 2006 (vorchristliche Eisenerzverhüttung in Baden-Württemberg); Jöns 1997 (Eisenerzverhüttung in Schles‐ wig-Holstein); Kempa 1995a; ders. 1995b (Eisenerzverhüttung auf der Schwäbischen Alb). Allgemein zu Verhüttung und Metalltechnik Hauptmann/ Weisgerber 2006. 107 Unter einem ›Pflug‹ versteht man ein Gerät, das zwei Kraftquellen voraussetzt. Die eine wirkt über den ›Pflugbaum‹ oder die ›Grindel‹ als parallel zum Boden gerichteter Zug und die andere über den Führungsgriff oder ›Sterz‹ als senkrecht zum Boden gerichteter Druck (Hirschberg/ Janata 1980, 256 ff.). genauso wie Installationen zur Verarbeitung von Rohstoffen, etwa Eisenerz‐ verhüttungs- und Schmiedeplätze. Auch wenn solche Verarbeitungsstätten in Siedlungen liegen, sollte man sie funktional und begrifflich vom Siedeln und Wohnen abgrenzen. 106 4.4.6.3 Gewinnung und Aufbereitung pflanzlicher Nahrung Zu dieser Gruppe zählen alle Plätze, die zur Gewinnung und Aufbereitung vegetabilischer Nahrung genutzt wurden. Hierbei kommen vor allem Felder und Äcker, aber auch Installationen wie Getreidedarren und Wässerungs‐ gruben in Betracht. Zu den Begriffen ›Feld‹ und ›Acker‹ ist anzumerken, dass sie häufig synonym gebraucht werden. Es empfiehlt sich jedoch, sie begrifflich zu trennen. Man sollte in der Archäologie dem Sprachgebrauch der Ethnologie folgen und den Terminus ›Acker‹ mit Pflugbau verknüp‐ fen. 107 ›Feld‹ und ›Feldbau‹ würde sich dann im Gegensatz zu ›Acker‹ und ›Ackerbau‹ auf jene Wirtschaftsflächen und Anbautechniken beziehen, die ohne Einsatz des Pflugs auskommen. Man wird der Feststellung von Karl-Ernst Behre (2000, 135) nur zu‐ stimmen können, dass nichts »in prähistorischer Zeit die Landschaft so nachhaltig und oft irreversibel« verändert habe wie der Ackerbau. Im Rahmen der archäologischen Erforschung des Wirtschaftsverhaltens des ur- und frühgeschichtlichen Menschen nimmt die Untersuchung der Ent‐ wicklung des Pflugs und des Ackerbaus daher einen wichtigen Platz ein. Im europäischen Bereich sind wir darüber relativ gut unterrichtet. Auf den Handhaken des Neolithikums, mit dem der Erdboden lediglich leicht aufgerissen wurde, folgte möglicherweise noch in einer späten Phase des 138 4 Funde und Befunde: Zur Systematik urgeschichtlicher Quellen <?page no="139"?> 108 Seit Glob (1951) unterscheidet man bei urgeschichtlichen Pflügen Ard und Pflug. Während der Pflug eine asymmetrische Schar und eine Vorrichtung zum Wenden der losgelösten Erdscholle besitzt, weist der Ard (von dän. ard) eine symmetrische Schar und keine Wendevorrichtung auf. Er ritzt den Boden lediglich mehr oder weniger tief auf (Tegtmeier 1993, 2 f.). Hierzu ferner Fries-Knoblach 2005; Winiger 1999. 109 Weitere Literatur bei Behre 2000. 110 Dieser wenig glückliche, inzwischen aber fest in der Forschung etablierte Begriff ist nach Behre (2000, 135) 1924 von O. G. S. Crawford geprägt worden. - Außer den bereits genannten Titeln sei auf folgende Spezialarbeiten zur Quellengruppe der Felder und Äcker sowie zu entsprechenden Landbaugeräten und zur Landwirtschaft verwie‐ sen: Beck/ Denecke/ Jankuhn 1979: dies. 1985; Benecke/ Gringmuth-Dallmer/ Willerding 2003; Fries 1995; Fries-Knoblach 1999; Glob 1951; Jankuhn 1956/ 57; Lüning 1997; ders. et al. 2000; Müller-Wille 1965; ders. 1973a; ders. 1973b. 111 Aufgrund der seit mehr als einem halben Jahrhundert durchgeführten intensiven Tä‐ tigkeit des Niedersächsischen Instituts für historische Küstenforschung (Behre/ Schmid 1998) ist der Elbe-Weser-Raum in Bezug auf frühe ländliche Siedlungen sowie bronze- und eisenzeitliches Wirtschaften besonders gut erforscht (siehe z. B. Behre 1985; ders. 1987; ders. 1988a; ders. 1988b; ders. 1994; ders. 1998; ders. et al. 1993). Neolithikums der Ard. 108 Mit Hilfe der durch vorgespannte Rinder erhöhten Zugkraft und des konzentrierten Einwirkens des Menschen, konnte eine größere Eindringtiefe in den Boden als beim Handhaken erzielt werden (Schultz-Klinken 1977). Spuren frühen Pflugbaus lassen sich immer wieder unter bronzezeitlichen Grabhügeln nachweisen. Sie sind insbesondere für Dänemark, Nordwestdeutschland und die Niederlande recht gut dokumen‐ tiert (Tegtmeier 1993). 109 Von besonderer Bedeutung für den frühen Ackerbau sind die sogenannten Celtic fields, die entgegen ihrer Bezeichnung keineswegs mit den Kelten zu verknüpfen sind. 110 Erste Ackerfluren dieser Art, die als Kammer- und als langgezogene Terrassenfluren auftreten, sind bereits für die Späte Bron‐ zezeit belegt. Sie enden auf den Britischen Inseln und im festländischen nördlichen Mitteleuropa in der Älteren Römischen Kaiserzeit, ohne dass wir über die nachfolgend praktizierte Bodenbautechnik unterrichtet wären (Behre 2000, 135 f.). Erst mit der seit dem 8. Jahrhundert n. Chr. nachweisba‐ ren Dreifelder- und der seit etwa 1000 n. Chr. einsetzenden mittelalterlichen Plaggenwirtschaft (ebd. 143 ff.) besitzen wir wieder eine recht detaillierte Kenntnis der wesentlichen Bodenbautechniken. 111 4.4.6.4 Gewinnung und Aufbereitung tierischer Nahrung Zu dieser Gruppe zählen alle archäologisch fassbaren räumlichen Konzen‐ trationen, an denen direkt oder indirekt tierische Nahrung produziert wurde. 4.4 Hauptkategorien urgeschichtlicher Quellen 139 <?page no="140"?> 112 Siehe Jacob-Friesen 1956; Thieme/ Veil 1985. 113 Hierzu Noll 2002. Hierzu gehören Pferche und Schlachtplätze von Haustieren ebenso wie jene Fundstellen, die als Zeugnisse jagdlicher Aktivitäten des ur- und frühgeschichtlichen Menschen interpretiert werden können. Sie werden in der englischsprachigen Literatur als killing sites und butchery sites be‐ zeichnet; im Deutschen bietet sich dafür der etwas unspezifische Terminus ›Jagdplatz‹ oder der präzisere Begriff ›Zerlegungs-‹ bzw. ›Schlachtplatz‹ an. Ein allerdings nicht gerade gut dokumentiertes Beispiel für einen solchen Platz bildet die bekannte mittelpaläolithische Fundstelle von Lehringen, Ldkr. Verden (Niedersachsen); dort wurde während der letzten Warmzeit (Eem) ein Waldelefant erlegt. 112 Unter weit besseren Umständen konnten der etwa zeitgleiche Schlachtplatz eines Waldelefanten in Neumark-Gröbern (Mania et al. 1990) sowie andere mittelpaläolithische Zerlegungsplätze von Neumark (Mania 1990) ausgegraben werden. Aber auch dingliche Hinterlassenschaften des Fischfangs und des Molluskensammelns und Mol‐ luskenverwertens lassen sich dieser Gruppe von Werkplätzen zuordnen. Es sei in diesem Zusammenhang nur an die weltweit an Küsten auftretenden Muschelhaufen erinnert. 113 4.4.7 Verkehrsmittel und Verkehrseinrichtungen Unter der Kategorie Verkehrsmittel und Verkehrseinrichtungen werden all jene materiellen Hinterlassenschaften zusammengefasst, die in dieser oder jener Form eine direkte Kommunikation und einen Güteraustausch zwi‐ schen räumlich getrennten Individuen und Bevölkerungen ermöglichen. Somit sind hier zwei wesentliche Aspekte zu berücksichtigen, und zwar zum einen Beförderungs- und Transportmittel, zum anderen aber jene Einrichtungen, die die Nutzung solcher Verkehrsmittel erst ermöglichen. Als Transport- und Beförderungsmittel kommen vor allem Wagen und Boote bzw. Schiffe in Frage. Zu den Verkehrseinrichtungen zählen künstlich oder durch ständige Nutzung geschaffene Wege sowie mehr oder weniger elaboriert gebaute Straßen. Hinzu kommen Dämme, Brücken sowie Wegebzw. Straßenstationen. Aber auch Schiffsländen, deren konstruktives und funktionales Spektrum von einfachsten Anlegestegen bis zu aufwendig 140 4 Funde und Befunde: Zur Systematik urgeschichtlicher Quellen <?page no="141"?> 114 Hierzu grundlegend Jankuhn/ Kimmig/ Ebel 1989; speziell zu Wegen und Wegenetzen: Denecke 2007; zu Schiffsländen etc.: Ellmers 1983; ders. 1983/ 84. 115 Breunig (1991, 115) stellt zu Recht fest, dass zu den Felsmalereien auch bestimmte Klein‐ kunstwerke (art mobilier), nämlich bemalte oder gravierte Gerölle und dergleichen, zu rechnen sind. 116 Hier sei beispielhaft auf eine eingehende Erörterung des Bildinhaltes und der Technik afrikanischer Felsbilder verwiesen, die Breunig (1991) im Zusammenhang mit der Datierung dieser Quellengruppe vorgelegt hat. gebauten Hafenanlagen mitsamt der für einen institutionalisierten Schiffs‐ verkehr notwendigen Infrastruktur reicht, gehören in diese Kategorie. 114 4.4.8 Felsbilder Eine weitere große Quellengattung stellen die weltweit verbreiteten Felsbil‐ der dar. In der deutschsprachigen Archäologie wird innerhalb dieser Gattung zwischen Felsmalereien und Felsgravierungen unterschieden. Während man Malereien in der Regel direkt auf den Fels aufgebracht hat, 115 spricht man von Gravierungen, wenn die betreffenden Darstellungen in die Felsoberfläche eingearbeitet wurden. Diese Einarbeitungen sind in sehr unterschiedlichen Techniken ausgeführt worden (etwa durch Ritzen, Schaben, Schleifen, Picken oder Hacken). Natürlich gibt es auch mancherlei ›Übergänge‹ zwischen den üblicherweise unterschiedenen Klassen von Malereien und Gravierungen. So sind bisweilen gravierte Linien oder Punkte mit Farbe ausgelegt worden, und es kommt auch vor, dass zwischen gravierten Linien liegende Flächen bemalt worden sind. Grundsätzlich ist festzustellen, dass sich Gravierungen sehr häufig an offen zutage liegenden Felswänden und Felsblöcken finden. Malereien treten dagegen eher in Höhlen und unter Felsdächern auf - dabei muss man allerdings bedenken, dass Felsmalereien, die Wind und Wetter ausgesetzt waren, nicht lange zu überdauern vermoch‐ ten. Insofern ist die heutige Verbreitung von Felsbildern an einer bestimmten Lokalität und in einer bestimmten Region immer auch unter dem Aspekt der Erhaltungsbedingungen zu bewerten. Die große thematische Breite der Felsbilddarstellungen und die Mannig‐ faltigkeit der dabei verwendeten Techniken ist in unzähligen regionalen Untersuchungen eingehend dokumentiert worden. 116 Dem direkten Zugang setzt diese Quellengattung zahlreiche Schwierigkeiten entgegen. Dazu ge‐ hört zunächst einmal die von Peter Breunig (1991) exemplarisch für Afrika 4.4 Hauptkategorien urgeschichtlicher Quellen 141 <?page no="142"?> 117 Rosenfeld und Smith (1997, 409) haben zu Recht auf die kritische Rolle hingewiesen, die der Datierung für den Quellenwert von Felsbildern zukommt: »More than anything else, the problem of securely dating rock-art has been a major impediment to its acceptance as useful archaeological data.« 118 Zur direkten Datierung von Felsbildern ausführlich Bednarik 1996. 119 Hierzu u. a. Bednarik 1995; Zilh-o 1995; Züchner 1995a; ders. 1995b; ders. 2000; zusammenfassend Rosenfeld/ Smith 1997. 120 Zusammenfassend Züchner 2001; ferner z.-B. ders. 2006. 121 Hierzu zusammenfassend Rosenfeld/ Smith 1997, 405 ff. behandelte relative und absolute Datierung. 117 Ein weiteres, zum Teil mit der relativen Datierung zusammenhängendes Problem liegt in der inhaltlichen und damit auch zeitlichen Geschlossenheit von Einzelelementen in mehr oder weniger komplexen, häufig ›szenisch‹ wirkenden Darstellungen. In den letzten Jahren ist die Datierungsproblematik sehr intensiv und kontrovers erörtert worden. Dabei stehen sich zwei Verfahren gegenüber, die meist als ›direkte‹ und ›indirekte‹ Datierung bezeichnet werden (Lorblan‐ chet 1997, 267 ff.). Die direkte Datierung spielt ausschließlich bei solchen Felsbildern eine Rolle, bei denen ein Farbauftrag erfolgt ist. Die ›Farbe‹, also das verwendete Pigment (vorzugsweise Holz- oder Knochenkohle), mit dem gemalt worden ist, wird mit Hilfe der Radiokohlenstoffmethode (Teilchenbe‐ schleuniger-Verfahren) datiert. 118 Die indirekte Datierung hingegen basiert vor allem auf stilistischen Vergleichen. Zu der erwähnten kontroversen Debatte zwischen Vertretern der beiden Methoden kam es, als die auf dem Wege der direkten Datierung erzielten Daten von Malereien in den seinerzeit neuentdeckten Bilderhöhlen Grotte Chauvet im Tal der Ardèche und Grotte Cosquer an der Küste bei Marseille sowie der Freilandstation Foz Côa in Portugal erheblich von der stilistischen Datierung der Bilder abwichen. 119 Besonders Christian Züchner hat in einer Reihe von Arbeiten die große Bedeutung der stilistischen Analyse und Datierung von Felsbildern hervor‐ gehoben. 120 Die Widersprüche, die sich beim Vergleich mit den Radiokoh‐ lenstoffdaten ergeben, resultieren seines Erachtens aus der Verwendung alter Holzkohle bei der Herstellung des Pigments, mit dem die Bilder gemalt worden sind (Züchner 1995b, 226). Es gibt in der Tat zahlreiche Möglich‐ keiten entsprechender Fehldatierungen, sei es durch den von Züchner erwogenen Fall oder durch Verunreinigungen der verschiedensten Art. 121 Auf der anderen Seite ist allerdings auch zu berücksichtigen, dass Stilanal‐ ysen in aller Regel auf der Prämisse beruhen, ›Stil‹ sei eine homogene, an einen bestimmten Raum und eine bestimmte Zeit gebundene Erscheinung 142 4 Funde und Befunde: Zur Systematik urgeschichtlicher Quellen <?page no="143"?> 122 Ebd. 407 ff. 123 Renate Heckendorf (Hamburg und Rabat) danke ich nicht nur für eine Kritik meiner Formulierung in der 1. Auflage (Brief vom 9.04.2001), sondern auch für einen förder‐ lichen Meinungsaustausch bei der Vorbereitung der 3. Auflage; er wirkt bis in die vorliegende Auflage fort. 124 Panofsky 1980, 41 (»vorikonographische Beschreibung«); zum System Panofskys siehe Eggert 2006, 120 mit Abb. 7.2. 125 Siehe hierzu am Beispiel marokkanischer Felsbilder Heckendorf 2008. Zu den angespro‐ chenen methodologischen Fragen ebd. 80 ff., 270 f. - eine Annahme, die in jüngerer Zeit zunehmend in Frage gestellt wird. 122 Trotz mancher im Einzelnen berechtigten Kritik am Stilkonzept wird man die rhetorische Frage »Muß die Kunstgeschichte wirklich neu geschrieben werden? «, die Züchner (1995b) im Zusammenhang mit der Grotte Chauvet gestellt hat, getrost verneinen können. Die Forderung, dass zuerst die Frage der relativ-zeitlichen Ordnung von Feldbildern oder Felsbildkomplexen geklärt und ihr zeitliches Verhältnis zu den archäologischen Kulturen der Region bestimmt sein sollte, bevor die inhaltliche Analyse und Deutung des Dargestellten angegangen werden kann, ist in der Praxis nur selten zu erfüllen. 123 Bereits die Analyse der relativen Abfolge der Felsbilder an einer Fundstelle sieht sich nur allzu oft erheblichen Hindernissen gegenüber. Das trifft in wohl noch stärkerem Maße auf die Klärung ihres zeitlichen Verhältnisses zu sonstigen Funden und Befunden zu - sie lassen sich erfahrungsgemäß häufig überhaupt nicht zueinander in Beziehung setzen. Diese Feststellung gilt insbesondere für Felsbildfundorte unter freiem Himmel in Regionen, die über lange Zeit von Menschen besiedelt bzw. begangen wurden. Ungeachtet dieser Schwierig‐ keiten lässt sich das Dargestellte auf der Ebene der »vorikonographischen Beschreibung« im Sinne des von dem deutsch-amerikanischen Kunsthisto‐ riker Erwin Panofsky (1892-1968) entwickelten Interpretationssystems 124 empirisch erfassen sowie lokal, regional und überregional vergleichen. Im Übrigen ist zu beachten, dass das grundsätzliche Problem der inhaltlichen Erfassung und Interpretation der Darstellungen - also die »ikonographische Analyse« und »ikonologische Interpretation« nach Panofsky - auch dann bestehen bleibt, wenn die zeitlichen Verhältnisse klar sind. Zur inhaltlichen Deutung der Felsbilder gibt es eine umfangreiche Lite‐ ratur. 125 Vor allem die Interpretation der Höhlenkunst des europäischen Paläolithikums ist sehr eingehend diskutiert worden. Über die verschie‐ denen Deutungsversuche bis Mitte der sechziger Jahre unterrichtet eine 4.4 Hauptkategorien urgeschichtlicher Quellen 143 <?page no="144"?> 126 Ucko/ Rosenfeld 1967. 127 Clottes/ Lewis-Williams 1997; Lewis-Williams 2007. - Für die Frage der Deutung von Felsbildern müssen wenige Hinweise genügen. Über die angesprochene Debatte zur Interpretation der süd- und südwestafrikanischen Felsbilder unterrichtet ein von Dow‐ son/ Lewis-Williams 1994 herausgegebener Sammelband. Die Felsbilder im Bereich der europäischen Atlantikküste werden von Bradley (1997) im Kontext ihres natürlichen und kulturellen Umfeldes analysiert und gedeutet. In diesem Zusammenhang sei ferner auf Helskogs (1999) Versuch hingewiesen, die Felsbilder im äußersten Norden Europas im Sinne einer »kognitiven« oder »kosmischen Landschaft« zu deuten. Hierzu ferner: Bertilsson 1986; Finnestad 1986; Hultkrantz 1986; Mikkelsen 1986; Nordbladh 1986; Schjødt 1986. Grundsätzlich: Goldhahn 1999; Lenssen-Erz 2006. 128 Zu den skandinavischen Felsbildern zusammenfassend Almgren 1994; zu Darstellungen des Landbaus bes. Glob 1951. 129 Zu den Felsbildern des Alpenraumes zusammenfassend Pauli 1994. ausgezeichnete Arbeit von Peter J. Ucko (1938-2007) und Andrée Rosenfeld (1934-2008). 126 In den letzten zwei Jahrzehnten fand die intensive Diskussion um die Deutung der Felsbilder des südlichen Afrikas große internationale Beachtung. Als sehr einflussreich erwies sich dabei die Auffassung von David Lewis-Williams, der die Felsbilder als Ausdruck schamanistischer Praktiken der Buschleute begreift (ders./ Dowson 1994). Inzwischen sucht man auch die europäische Höhlenkunst in diesem Sinne zu deuten. 127 Obwohl Felsbilder zu Recht als eine sehr schwierige archäologische Quel‐ lengattung gelten, kommt ihnen ein hoher Aussagewert zu. Das ist jedoch keine einhellig vertretene Auffassung. Züchner (2006) spricht treffend von einer »verkannten Quellengattung«. Er hat eine Reihe von Argumenten mit dem Ziel zusammengestellt, die tatsächliche Bedeutung des häufig unterschätzten Aussagepotentials von Felsbildern aufzuzeigen. Man wird ihm durchaus zustimmen können: Wenn ihre Datierung und ihr kultureller Kontext geklärt sind, lassen sich aus ihnen Erkenntnisse gewinnen, die die aus anderen Quellengattungen stammenden Einsichten häufig wesentlich ergänzen und bisweilen sogar grundlegend erweitern. So finden sich auf südskandinavischen Felsbildern Darstellungen von Schiffen, vom Landbau sowie gelegentlich auch von Wagen mit vorgespannten Tieren. 128 Unter den Felsbildern des Alpenraums treten neben vielen anderen Motiven ebenfalls Wagen und Szenen des Landbaus, aber auch solche der Jagd sowie Waffendarstellungen auf. 129 Alles in allem ist nachdrücklich zu begrüßen, dass sich die Fachdiskussion der letzten Jahre auch verstärkt mit Felsbildern auseinandersetzt. 144 4 Funde und Befunde: Zur Systematik urgeschichtlicher Quellen <?page no="145"?> 130 In Abgrenzung zu tierischen Kadavern in Mooren spricht Dieck (1965, 9) in diesem Zusammenhang von »Hominidenmoorfunden«. 131 Eine eingehendere Betrachtung dieser Quellengattung wird allerdings versuchen, in jedem konkreten Fall den Zustand des heutigen Moores (zu Mooren Bittmann 2002) zur Zeit der Deponierung der entsprechenden Sachgüter und sonstigen Objekte herauszuarbeiten. Bei der sich daraus ergebenden genaueren Kategorisierung würde sich als Deponierungsort dann vielleicht nicht mehr ein Moor, sondern ein später verlandeter Teich oder Tümpel, ein Totarm eines Flusses, ein Sumpf oder ähnliches ergeben. 132 Hierzu z. B. Pieper 2002; Turner/ Scaife 1995; über Europa und Moorleichen im engeren Sinne hinausgehend: Brothwell 1986; ferner Glob 1966. Moorleichen wurden insbeson‐ dere von Dieck in zahlreichen Veröffentlichungen behandelt (zusammenfassend ders. 1965). An der Quellenbasis seiner Arbeiten ist in den letzten Jahren allerdings massiv Kritik geübt worden (van der Sanden 1993; Eisenbeiß 1994). Über die Ergebnisse von Radiokarbondatierungen von Moorleichen aus Niedersachsen und Schleswig-Holstein sowie aus den Niederlanden unterrichtet van der Sanden 1995a; dort auch Nachweise neuerer Fundzusammenstellungen aus Irland, Großbritannien, den Niederlanden und Schleswig-Holstein; ferner ders. 1995b. 133 Hierzu van der Sanden 1995a, 148 f. mit Abb. 5 u. 6. 4.4.9 Moorleichen Nunmehr möchte ich eine weitere ur- und frühgeschichtliche Quellen‐ gruppe ansprechen, die sich einer einheitlichen, gruppenspezifischen funk‐ tionalen Deutung entzieht. Unter dem Begriff Moorleichen verstehen wir gemeinhin Körper oder Körperteile von Menschen, die man im Moor oder anmoorigem Gelände gefunden hat. 130 Damit gehören sie zu der großen Quellengattung der Moorfunde, zu der gemeinhin alles zählt, was an ur- und frühgeschichtlichen Hinterlassenschaften in Mooren zutage gekommen ist. 131 Die uns als ›Moorleichen‹ geläufigen Menschen sind einstmals entwe‐ der im Moor deponiert worden oder aber ohne direkte Einwirkung Dritter aus unbekannten Gründen in das Moor geraten und darin umgekommen. 132 Derartige Funde sind vor allem aus dem nördlichen Mittel- und dem südlichen Nordeuropa sowie aus dem nordwesteuropäischen Raum bekannt geworden. Was ihre Zeitstellung anbetrifft, zeichnet sich seit langem ein Schwerpunkt in den Jahrhunderten kurz vor und nach der Zeitenwende ab. Dies wird auch durch 16 Radiokarbondatierungen von Moorleichen aus Niedersachsen und Schleswig-Holstein sowie 11 Datierungen aus den Niederlanden bestätigt. 133 Des Öfteren wurde bei Moorleichen ein gewaltsamer Tod durch Er‐ hängen, Erdrosseln, Durchschneiden der Kehle, Erstechen, Köpfen und Erschlagen ebenso wie Verstümmelungen verschiedenster Art festgestellt 4.4 Hauptkategorien urgeschichtlicher Quellen 145 <?page no="146"?> 134 In Kap. 12 der Germania heißt es in der Übersetzung von Fehrle (1935, 17): »In der Volksversammlung darf man auch Klagen vorbringen und ein peinliches Gerichtsver‐ fahren anstrengen. Die Strafen werden unterschieden nach der Art des Vergehens: Verräter und Überläufer hängen sie an Bäumen auf, Feige, Kriegsscheue und Unzüchtige versenkt man in Kot und Sumpf, wobei noch Flechtwerk über sie gelegt wird.« Siehe hierzu Kehne 2001. 135 Hierzu auch Jankuhn in Much 1967, 214 ff.; Ström 1986. Kritisch zu den gängigen Deutungen: Briggs 1995. 136 Burmeister 2007. 137 So auch I. Beilke-Voigt 2005, 333 ff., bes. 342. ( Jankuhn 1984, 658 f.). Auch ist über der Leiche häufig Strauchwerk gefun‐ den worden, das bisweilen durch schräg eingerammte Pfähle in seiner Position fixiert war. Dennoch lassen sich die Moorleichen heute nicht mehr wie in der Frühzeit ihrer Erforschung gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts einheitlich als Zeugen eines von Tacitus im 12. Kapitel seiner Germania überlieferten Rechtsbrauchs deuten. 134 Hier wird man vielmehr mit Jankuhn (ebd. 661 f.) differenzieren müssen. Er kam in einer zusammenfassenden Erörterung zu dem Ergebnis, dass sich hinter dem Gesamtphänomen der Moorleichen »Zeugen für Rechtsakte, einfache Menschenopfer, Verunglückte und Opfer von Mordanschlägen« verbergen. 135 Dagegen wurde von Stefan Burmeister knapp fünfundzwanzig Jahre später die meines Erachtens recht pauschale These vertreten, bei den Moorleichen handele es sich um »Sakralopfer«. 136 Grundsätzlich gilt, dass das Spektrum möglicher Deutungen für jeden Einzelfall sorgfältig zu erwägen ist. 137 Der vorstehende Text über Moorleichen stellt eine weitgehende Fort‐ schreibung der in der 3. und 4. Auflage nur leicht aktualisierten Ausführun‐ gen der 1. Auflage dar. Soeben wurde jedoch eine umfassende Übersicht über gut datierte menschliche Überreste aus Mooren des Baltikums, Polens, Deutschlands, der Niederlande, Dänemarks, Finnlands, Schwedens, Norwe‐ gens, des Vereinigten Königreichs und Irlands von Roy Van Beeket al. (2022) vorgelegt. Darin konnten 266 Fundplätze und mehr als 1000 Individuen berücksichtigt werden. Darüber hinaus bietet diese Veröffentlichung eine ausgezeichnete Zusammenstellung der umfangreichen englischsprachigen Literatur zu diesem Phänomen. 146 4 Funde und Befunde: Zur Systematik urgeschichtlicher Quellen <?page no="147"?> 138 Der Terminus ›Versenkungsfunde‹ erscheint hier nicht angebracht, da ›Versenkung‹ von vornherein etwas Aktives, also ein absichtliches Einbringen in das feuchte Element, unterstellt. Anders allerdings Torbrügge (1970/ 71, 6), der von »absichtlichen« und »unabsichtlichen« Versenkungen spricht. Sowohl für ›Versenkungs-‹ als auch für ›Moor-‹ und ›Flussfunde‹ gilt im Übrigen eine treffende Bemerkung Kossinnas aus dem Jahre 1922. In einem ungedruckt gebliebenen Vortrag über Fachausdrücke in der Ur- und Frühgeschichtsforschung stellte er zum Begriff ›Verwahrfund‹ (damals anstelle von ›Depotfund‹ vorgeschlagen) fest, der erste Bestandteil des Wortes, der die Begriffsbestimmung enthalte, lasse sich im gewünschten Zusammenhang nicht selbständig, losgelöst vom zweiten gebrauchen; überdies sei der Begriff in Verbindung mit ›Fund‹ nur vom Standpunkt der Gegenwart anwendbar, denn ein in der Bronzezeit vergrabener ›Verwahrfund‹ sei zu jener Zeit eben kein ›Fund‹ gewesen (Seger 1935/ 36, 85 f.). 139 Für eine regionale Gesamtanalyse siehe die für die systematische Erforschung von ›Feuchtmilieufunden‹ wichtige Arbeit von Zimmermann 1970. 140 Quellen mag man hier mit Torbrügge (1970/ 71, 3) als »Ursprung der Flüsse« begreifen und in diesem Sinne den ›Fließgewässern‹ zuschlagen. 4.4.10 Flussfunde Auch die große Gruppe Flussfunde gehört zu jenen Quellen, die sich - wie gesagt - einer eindeutigen Ansprache und damit einer einheitlichen, klaren Interpretation verschließt. In der deutschen Archäologie geht ihre systematische Untersuchung auf Walter Torbrügge (1923-1994) zurück, der sich mit dieser spezifischen Quellengruppe erstmals am Beispiel des Inns beschäftigte (Torbrügge 1960). Eine gut zehn Jahre später veröffentlichte, auf seiner Münchner Habilitationsschrift von 1966 beruhende Abhandlung (ders. 1970/ 71) kann auch heute noch als eine in methodischer Hinsicht unübertroffene Analyse von Flussfunden gelten. Gegenstände aus Flüssen stellen eine bestimmte, wenngleich in den Metallzeiten quantitativ beson‐ ders ausgeprägte Gruppe von ›Funden aus feuchtem Milieu‹ dar. 138 Zum Gesamtphänomen zählen auch jene Objekte, die aus Quellen, Seen, heute in der Regel vermoorten Teichen und Tümpeln sowie aus Mooren stammen, die bereits in alter Zeit Moore gewesen sind. 139 Flussfunde stammen per definitionem aus Fließgewässern. 140 Damit lassen sie sich von den anderen Funden aus feuchtem Milieu absetzen. Dies gilt auch dann, wenn der einstige Flussabschnitt, aus dem bestimmte Gegenstände stammen, heute verlandet ist. Dass die Grenze zwischen fließenden und stehenden Gewässern ein‐ schließlich der Moore im Einzelfall verschwimmen kann, wird an Funden aus abgeschnittenen Flussschlingen oder Totarmen in dem Augenblick deutlich, in dem nachgewiesen werden kann, dass sie bereits zum Zeitpunkt, 4.4 Hauptkategorien urgeschichtlicher Quellen 147 <?page no="148"?> 141 Zu Deponierungen in Mooren und sonstigen »Feuchtgebieten« siehe Kubach 1978/ 79. Er spricht in diesem Zusammenhang von »Moor-« und »Feuchtbodenfunden« (ebd. 190 et pass.). 142 Wegner 1976. 143 Torbrügge (1960, 30; ders. 1970/ 71, 32) bezeichnet dies als »Materialfilter«. als die Objekte in sie hineingelangten, keine Fließgewässer mehr waren. 141 In einer zusammenfassenden Darstellung aus dem Jahr 1995 von Günter Wegner (1937-2016) wird dieser Aspekt deswegen betont, weil bei Sachgü‐ tern aus fließenden Gewässern grundsätzlich mit mehr oder weniger großen Umlagerungen gerechnet werden muss, so dass der Ort ihrer Auffindung nur selten mit dem Ort ihrer Deponierung oder ihres Verlustes identisch ist. Außerdem sei es bei Objekten aus Fließgewässern außerordentlich schwierig, Aufschluss über ihre Versenkungsweise zu gewinnen, da man nicht von vornherein von einer Deponierung im Sinne einer absichtlichen Versenkung ausgehen dürfe (Wegner 1995, 264). Es gibt in der Tat viele Möglichkeiten, wie Sachgut in ein Fließgewässer geraten kann: Dabei mag es sich um einen zufälligen Verlust beim Übersetzen, beim Überschreiten von Brücken und Stegen oder beim Durchwaten niedriggefallener Flüsse oder Bäche handeln, Boote mögen gekentert, in Ufernähe liegende Siedlungen, Gräber und Horte bei Hochwasser weggerissen, an Ufern und Furten verlorengegangene Gegenstände später in den Fluss gespült worden sein und so fort. Wie Torbrügge und nach ihm andere, insbesondere Wegner, 142 gezeigt haben, unterliegen Gegenstände, die in einen Fluss geraten sind, bis zum Augenblick ihrer Auffindung einer Reihe von Auslesemechanismen, die meist mit dem von Hans Jürgen Eggers (1939, 3 ff.) geprägten Begriff ›Filter‹ bezeichnet werden. Sie determinieren nicht nur Quantität und Qualität der geborgenen Flussfunde, sondern auch den Auffindungsort und verhindern damit, das geborgene Gut als im Wesentlichen adäquates Spiegelbild des versenkten oder verlorenen Guts aufzufassen. An erster Stelle ist hier die materielle Beschaffenheit der Objekte selbst zu nennen, und zwar nicht nur ihr Material, sondern besonders ihre Größe. 143 Sodann spielen die einstige Fließgeschwindigkeit und Flussaktivität (Mäandrieren) - die gemeinsam mit der Beschaffenheit der Flussgüter ihre Beweglichkeit im Flussbett bestimmen - eine beträchtliche Rolle. Schließlich sind vor allem neuzeitliche technische Eingriffe in den Flusslauf (insbesondere Ausbaggern und Kraftwerkbau) und die damit verbundenen Sammleraktivitäten von erheblicher Bedeutung für die Möglichkeit, Güter aus Flüssen zu bergen. 148 4 Funde und Befunde: Zur Systematik urgeschichtlicher Quellen <?page no="149"?> 144 Siehe hierzu die zusammenfassende Charakterisierung von Wegner 1995, bes. 267 ff. 145 Über die rein archäologischen Erkenntnismöglichkeiten schreibt Torbrügge (1970/ 71, 4) nüchtern: »Die prähistorische Archäologie muß von ihren dinglichen Mitteln her urteilen. Sie kann demnach bestenfalls entscheiden, ob eine Versenkungsabsicht bei gewissen Fundgruppen wahrscheinlich ist. Das Motiv bleibt ihr verborgen.« 146 Wegner (1995, 272) spricht davon, dass »Objekte im Rahmen von magischen oder relig. Riten oder Praktiken im Fluß versenkt wurden.« Torbrügge (1970/ 71, 116) betont, dass nur dort, »wo die absichtlich versenkten Dinge in fester und regelhafter Beziehung zum Versenkungsort« ständen, auf ihre »sakrale Funktion« geschlossen werden dürfe. - Lässt sich für bestimmte Flusslokalitäten eine mehr oder weniger lange Kontinuität eines entsprechenden Verhaltens erweisen, würden wir derartige Fundstellen im Sinne der oben vorgenommenen Erörterung als ›Kultstätte‹ bezeichnen. Wenngleich es keinen »bequemen Hauptschlüssel zum Problem der Flußfunde« gibt, wie Torbrügge (1970/ 71, 9) treffend festgestellt hat, und somit die Frage unbeabsichtigten Verlusts oder gezielter Versenkung in zahlreichen Einzelfällen ungeklärt bleiben muss, bedeutet dies nicht, dass der Versuch einer funktionalen Deutung von Flussfunden grundsätzlich oder zumindest in den meisten Fällen zum Scheitern verurteilt wäre. Insbesondere Torbrügge selbst, aber auch andere haben vielmehr durch systematische Quellenkritik und eingehende chronologische und gattungs‐ spezifische Analysen des Fundmaterials gezeigt, dass sich unter günstigen Bedingungen in regionaler und überregionaler Betrachtung durchaus eine »Regelbeziehung zwischen Fundgattung und Fundort« (ders. 1960, 37) herausarbeiten lässt. Das gilt ebenso für die vergleichende Betrachtung von Fundarten, und zwar sowohl in Bezug auf eine einzige als auch auf mehrere Objektgruppen; hier gelingt es häufig, zahlenmäßig abgesicherte vorherrschende Korrelationen im Sinne einer »regelhaften Fundartverbin‐ dung« (ders. 1970/ 71, 32) festzustellen. 144 Derartige Regelbeziehungen lassen sich nur erklären, wenn man in den ihnen zugrunde liegenden Fällen von einer gezielten Versenkung des entsprechenden Sachguts ausgeht. 145 Damit fasst man offenbar ein spezifisches, für bestimmte Zeitabschnitte und Regionen kennzeichnendes Verhalten, das gemeinhin mit dem Bereich des Kultisch-Religiösen verbunden wird (ders. 1996). 146 In einer »kulturhistorischen Ergänzung« seiner archäologischen Analyse des Sachguts aus Flüssen suchte Torbrügge (1970/ 1971, 94) auf der Basis his‐ torischer und mythologischer Quellen Deutungsmodelle für die Flussfunde herauszuarbeiten. Dieser Versuch bestärkte zwar die bereits über die rein archäologische Analyse erzielte Einsicht, dass ein beträchtlicher Teil der Flussfunde intentionell ins Wasser verbracht worden sein muss. Allerdings 4.4 Hauptkategorien urgeschichtlicher Quellen 149 <?page no="150"?> 147 Hierzu z. B. Rowlands 1980; Bradley 1982; ders. 1984, 96 ff. Für eine knappe Skizzierung des theoretischen Hintergrundes und seine Rezeption in der Archäologie siehe Row‐ lands 1994. 148 Insbesondere bei Bradley (1990, 138) wird diese gezielte Verschwendung von Gütern zugleich als Gabe an die übernatürlichen Mächte gesehen und damit der kultisch-reli‐ giöse Aspekt mit dem der Steigerung des persönlichen Prestiges verknüpft. Im Übrigen trifft die Feststellung von Huth (1997, 190), dass es sich bei solchen in einem hohen Maße ethnologisch inspirierten Deutungsversuchen um eine »Melange aus World System Theory, Prestigegüterwirtschaft und Potlatch der Kwakiutl-Indianer« handele, auf Bradley in besonderem Maße zu. 149 Siehe hierzu den forschungsgeschichtlichen und methodologischen Vorspann bei Taylor 1993, 3-ff; ferner Brun 1988, 604 ff.; Roymans 1991, bes. 26 ff. 150 Zum »Anekdotenwert« siehe Torbrügge 1970/ 71, 6 mit Anm. 15. gelang es nicht, aus den berücksichtigten schriftlichen Zeugnissen Grund‐ muster von Ursachen und Motiven abzuleiten und auf die Urgeschichte zu übertragen (ebd. 132). Neben der primär kultisch-religiösen Interpretation von Flussfunden lässt sich seit etwa viereinhalb Jahrzehnten ein anderes Deutungsmuster feststel‐ len, das erstmals in den frühen 1980er Jahren in der englischsprachigen Archäologie für bronzezeitliche Horte und Flussfunde formuliert wurde. Seine Verfechter unterstellen, dass die bronze- und urnenfelderzeitliche Gesellschaft auf einer Prestigegüterwirtschaft basiert habe, in der politisch führende Individuen ihre Herrschaft mit Hilfe der Verteilung und Vernich‐ tung exotischer Güter behaupteten und festigten. 147 Sie hätten diese Güter - im konkreten Fall Metall sowie Waffen und Geräte aus Bronze -, denen in der Gesellschaft ein hoher symbolischer Wert beigemessen worden sei, über Fernhandelsbeziehungen und sonstige Mechanismen externer Kontakte erworben. Sie seien sodann - so die These (etwa Bradley 1990, 137 f.) - im Rahmen großer Feste agonalen Charakters mutwillig zerstört und dadurch sowie durch Versenkung in Flüssen und Mooren unwiderruflich aus dem Güterkreislauf entfernt worden. Durch diese Güterverschwendung habe derjenige, der das Fest ausgerichtet habe, sein Prestige und damit seinen sozialen Status erhöht. 148 Zieht man die Summe aus den bisher vorliegenden Deutungsversuchen dieser Art, 149 bleibt als Gesamteindruck, dass die Verknüpfung von dispara‐ ten kulturanthropologischen Modellen mit der Objektgruppe ›Flussfunde‹ nicht zu überzeugen vermag. Angesichts ihrer insbesondere von Torbrügge in exemplarischer Klarheit und Stringenz durchgeführten archäologischen Analyse besitzen diese Deutungen bestenfalls »Anekdotenwert«. 150 In Para‐ 150 4 Funde und Befunde: Zur Systematik urgeschichtlicher Quellen <?page no="151"?> 151 Torbrügge (1960, 44) schrieb: »Im Endeffekt hängt bei dieser Religionsgeschichte nach Hausmacherart doch bloß alles mit jedem zusammen und die Archäologie ist so klug als wie zuvor.« 152 Die einschlägige Forschung bis in die frühen 1950er Jahre wurde von Kirchner (1955) in seiner Studie über die Menhire in Mitteleuropa kritisch referiert. Zum Thema ferner: Arnal 1976; Beier 1991. 153 Reim 1985; ders. 1993. phrasierung einer Feststellung von ihm über die allenthalben präsenten, allzu geradlinig konstruierten kultisch-religiösen Deutungen urgeschichtli‐ cher Phänomene könnte man bei diesen nicht minder geradlinig vorgenom‐ menen sozialethnologischen Interpretationen von einer »Sozialgeschichte nach Hausmacherart« reden. 151 4.4.11 Menhire Wir kennen aus urgeschichtlicher Zeit neben insgesamt singulären Zeugnis‐ sen - wie etwa das unten erörterte Fundensemble des Toten vom Tisenjoch - auch solche, die zwar weit verbreitet und relativ häufig sind, sich in funk‐ tionaler Hinsicht dennoch nur sehr schwer deuten lassen. Hierzu gehören die sogenannten Menhire (breton. maen, Stein; hir, lang), bis zu mehr als 5 m hohe, längliche, bisweilen plattenförmige, in der Regel nicht oder nur leicht bearbeitete Steine, die vor allem aus dem westeuropäischen Raum bekannt sind. Sie finden sich in weit geringerer Zahl und mit gewissen regionalen Schwerpunktbildungen auch in Mitteleuropa. In Westeuropa, insbesondere in der Bretagne, treten sie meist in Form von langen Steinalleen (franz. alignements) sowie von Steinkreisen (kelt. cromlech) bzw. halbkreisförmigen Strukturen auf. Neben den gänzlich oder weitgehend unbearbeiteten Mono‐ lithen gibt es auch Menhire, die aufgrund mehr oder weniger stilisierter, teils plastisch herausgearbeiteter, teils eingeritzer Einzelheiten als menschenge‐ staltig anzusprechen sind (›Statuenmenhire‹). Darüber hinaus kennt man ›lange Steine‹, die zwar keine menschlichen Züge aufweisen, wohl aber mit ornamentalen Motiven und mit Darstellungen von Gerätschaften wie z. B. Dolchen versehen sind. Soweit datierbar, lassen sich die Menhire vorwiegend dem späten Neolithikum und der Frühbronzezeit zuweisen. 152 Ein besonders interessanter Menhir wurde 1985 in Tübingen-Weilheim im Übergangsbereich zwischen Talaue und Niederterrasse des Neckars entdeckt. 153 Es handelt sich um einen verzierten, ursprünglich etwa 4,5 m hohen Pfeiler aus Stubensandstein (Abb. 19). Er weist auf der einen Seite fünf 4.4 Hauptkategorien urgeschichtlicher Quellen 151 <?page no="152"?> 154 In diesem Zusammenhang ist zu fragen, ob nicht die beiden anthropomorphen Sand‐ steinstelen, die in sekundärer Verwendung als Deckplatten für Gräber der Stufe Ha C im Gräberfeld von Rottenburg (Reim 1987; ders. 1988, 28 ff. mit Abb. 24) sowie ähnliche Stelen aus dem südwestdeutschen Raum (ebd.) in den kulturellen Zusammenhang der Statuenmenhire gehören (so schon Beier 1991, 207 f.; hierzu jetzt auch Reim 2006, 453 ff.). Kimmig (1987, 267 f. mit Anm. 28) hat hinsichtlich der übereinandergelegten Unterarme der Stele von Rai-Breitenbach im Odenwaldkreis beiläufig darauf aufmerk‐ sam gemacht, dass dieser Gestus nicht nur auf der Kriegerstele von Hirschlanden, sondern »in seiner einfachen Darstellungsweise schon in der Kupferzeit« auftauche und sich bis ins frühe Mittelalter gehalten habe. Bei den kupferzeitlichen Parallelen verwies er auch auf die südfranzösischen Statuenmenhire. Reim (1987, 71 f.; ders. 1988, 30 f.) erwog für das in den Steinkreis eines Ha C-zeitlichen Brandgrabes eingebaute Fragment einer anderen verzierten Sandsteinstele ein frühbronzezeitliches Alter. in flachem Relief herausgearbeitete Stabdolche mit einer Länge zwischen 30 und 43 cm sowie ein ovales, nicht geschlossenes, scheibenartiges Gebilde auf, dessen größter Durchmesser gut 40 cm beträgt. Auf der anderen Seite finden sich offenbar regellos angeordnete eingemeißelte Rillen mit einer Länge bis zu gut 30 cm sowie näpfchen- und schälchenförmige Vertiefungen. Aufgrund der Stabdolche ist dieser Menhir in die Frühe Bronzezeit, also in das frühe 2. Jahrtausend v. Chr. zu datieren. Er ist vor einer Reihe von Jahren von Hartmann Reim (2006) umfassend erörtert und in einen südbzw. südmitteleuropäischen Kontext gestellt worden. Ähnlich verzierte, allerdings kleinere Menhire sind aus dem Etschtal in Südtirol bekannt. Sie weisen wiederum Übereinstimmungen mit Felsbildern auf, die sich etwa in der oberitalienischen Val Camonica und am Mont Bégo in den französischen Seealpen nahe der italienischen Grenze finden. Im Raum nördlich der Alpen ist der Weilheimer Menhir bisher ohne Parallele. 154 152 4 Funde und Befunde: Zur Systematik urgeschichtlicher Quellen <?page no="153"?> 155 Siehe zusammenfassend Egg in Egg/ Spindler 2009, 169 f. mit Abb. 99 (im Text auf S. 171 irrtümlich als Abb. 100 bezeichnet). Im Zusammenhang mit dem Tod des Manns vom Tisenjoch sei auch die von Egg (ebd. 200 mit Abb. 117) als Beispiel angeführte Stele von Latsch im Vinschgau erwähnt. 156 Kirchner 1955, 74 ff. Abb. 19: Menhir von Tübingen-Weilheim (Baden-Württemberg). - Nach Reim 1993, Abb. 1. Die kupferzeitlichen verzierten sogenannten ›Figuralmenhire‹ aus Südtirol und dem Trentino lassen sich ihrer Form nach nur selten als augenfällig menschlich gedachte Stelen auffassen. Wenn Hals-, Kopf- oder Ohrschmuck wiedergegeben sowie Brüste angedeutet sind, interpretiert man sie als Frauen. Als Männer hingegen werden jene Menhire abgesprochen, die Darstellungen von Dolchen, Stabdolchen, Beilen und Gürteln aufweisen. 155 Bereits Horst Kirchner (1913-1990) hat darauf hingewiesen, dass sich ein direkter, eindeutiger Zusammenhang zwischen Menhiren und Gräbern nur relativ selten nachweisen lässt. 156 Er geht von einem der gesamten Erscheinung zugrunde liegenden »Menhirgedanken« aus, der in seiner »ursprünglichen« Form durch eine Grabsitte realisiert wurde, bei der ein Monolith als »›unsichtbarer‹ Grabstein« meist in, seltener neben einer 4.4 Hauptkategorien urgeschichtlicher Quellen 153 <?page no="154"?> 157 Hierzu Kirchner (1955, 103): »Wer, wie es so oft geschieht, das eine mit dem anderen gleichsetzt, hat sich damit von vornherein den Weg zu einem tieferen Eindringen in die geistige Welt des Menhirgedankens verbaut«; der »wirkliche Menhir« wurzele »nach Gestalt und Gehalt im mediterran-atlantischen Megalithikum« (ebd. 102) und sei »aufs innigste mit der eigentümlichen Geisteshaltung dieser Megalithkultur verbunden, welche im Stein das Sinnbild ewiger Dauer sieht« (ebd. 104). Grabkammer aufgestellt wurde. Diese Steinstele habe - so Kirchner (1955, 94) - als »Ersatzleib« im Sinne eines »steinernen Ersatzkörpers« für die Totenseele nach dem Zerfall des Leichnams gedient. Zwar räumt er ein, dass sich die beispielsweise auf Grabhügeln der Vorrömischen Eisenzeit geläufigen Steinstelen im Einzelfalle meist nicht von »Grabmenhiren« unterscheiden ließen, die aus den »besonderen Bedingungen primitiven Seelenglaubens« zu verstehen seien. Sie müssten aber aufgrund ihrer an‐ deren Entstehungsgeschichte dennoch auseinandergehalten werden (ebd. 102 f.). 157 Kirchners sehr spekulative Deutung der Menhire, die sich jeglicher empirischen Nachprüfbarkeit entzieht, kennzeichnet die Schwierigkeiten, die mit einer Funktionsbestimmung dieser Quellengattung verbunden sind. In dieser Hinsicht ist die Forschung bis heute kaum weitergekommen. 4.4.12 Schlachtfelder und Orte gewaltsamer Auseinandersetzungen In der vorstehenden Übersicht über Hauptkategorien urgeschichtlicher Quellen wurde bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass es wenig sinn‐ voll ist, eine in jeder Beziehung hieb- und stichfeste Quellensystematik anzustreben, die für jedes archäologische Phänomen eine passende ›Schub‐ lade‹ bereithält. Die hier präsentierte Systematik deckt daher zwar den wesentlichen Bereich der gängigen urgeschichtlichen Quellen ab, aber sie ist zweifellos nicht erschöpfend. Die Unterscheidung weiterer Kategorien wäre nicht nur möglich, sondern durchaus auch sinnvoll und in manchen Fällen sogar notwendig. Man braucht hier nur an Schlachtfelder oder Orte gewaltsamer Auseinandersetzungen zu denken, die, wenngleich rar, dennoch vorhanden sind. Einige solcher Plätze sollen im Folgenden knapp erörtert werden. 154 4 Funde und Befunde: Zur Systematik urgeschichtlicher Quellen <?page no="155"?> 158 Hierzu Schlüter 1992; ders. 1993; ders. 1999; ders./ Wiegels 2000; Wilbers-Rost 1999. 159 Publius Cornelius Tacitus, * um 58, † um 120; römischer Politiker und Senator. 160 Wolters 2000a, 50 ff.; ders. 2000b; ders. 2003; ders. 2006. 161 Zum derzeitigen Stand der Diskussion siehe Wolters 2018; ders. 2017, 211 ff.; ferner Eggert/ Samida 2022, 277-f. (Literatur). 162 Begriff nach Geschwinde/ Lönne/ Meyer 2018, 283. Zur topographischen Situation im Einzelnen Geschwinde/ Lönne 2013. 163 Geschwinde/ Lönne/ Meyer 2018, 287, 292. 4.4.12.1 Die Varusschlacht Kalkriese im Osnabrücker Land beispielsweise ist ein besonders spektaku‐ lärer Fall. Nach mehr als 100 Jahren intensiver Forschung und ungezählten Hypothesen zur Varusschlacht des Jahres 9 n. Chr. und ihrer Lokalisierung deutet nunmehr Einiges darauf hin, dass sie bei Kalkriese stattgefunden hat. 158 Die Angaben des Tacitus 159 über diese für die Römer so folgenreiche Schlacht scheinen durch ein großangelegtes Grabungsprojekt in einer Reihe von Punkten bestätigt. Damit tendieren die meisten Althistoriker und Ar‐ chäologen derzeit zu der Meinung, dass hier eine sehr seltene Verknüpfung von archäologischer und antiker Überlieferung geglückt ist. Allerdings gibt es auch Gegenstimmen. So wendet sich etwa der Althis‐ toriker und Numismatiker Reinhard Wolters aufgrund topographischer, numismatischer sowie grundsätzlicher althistorisch-quellenkritischer Über‐ legungen gegen die Gleichsetzung von Kalkriese mit dem Ort der Varus‐ schlacht. 160 Aus archäologischer Sicht hat sich kürzlich Nils Müller-Scheeßel (2011) skeptisch geäußert. 161 4.4.12.2 Die Schlacht am Harzhorn R. Wolters (2017, 213) hat es zu Recht »zu den historischen Zufällen« gezählt, dass 2008, »mitten im Jahr der intensiven Jubiläumsvorbereitungen« zur zweitausendjährigen Wiederkehr der Varusschlacht, der archäologische Niederschlag von weiteren aufsehenerregenden militärischen Auseinander‐ setzungen zwischen Römern und Germanen entdeckt wurde. Dabei handelt es um das sogenannte »Harzhorn-Ereignis«, 162 das große Mengen an rö‐ mischem Kriegsgerät, aber auch römische Ausrüstungsteile geliefert hat. Dahinter verbergen sich zwei Fundstellen am Westrand des Harzes, zum einen das sogenannte ›Harzhorn‹ und andererseits der Kahlberg (beide im Ldkr. Northeim, Niedersachsen). 163 Die beiden Fundstellen liegen tief im Inneren der Germania Magna und damit weit östlich der römischen 4.4 Hauptkategorien urgeschichtlicher Quellen 155 <?page no="156"?> 164 Geschwinde/ Lönne 2013, 62. 165 Wolters (2013, 123) datiert den Germanien-Feldzug des Maximinus Thrax aufgrund der während seiner Herrschaft geprägten Münzen und Medaillons auf das Jahr 236 n. Chr. 166 Zu Severus Alexander siehe Deppmeyer 2013a. 167 Maximinus Thrax (Gaius Iulius Verus Maximinus oder Maximinus I., * 172 oder 173 bzw. bis zu zehn Jahre später, † April 238, war römischer Kaiser von 235 bis 238.) 168 Vollständiger Name Marcus Opellius Macrinus (* 164, † 218), der 217 einen erfolgreichen Mordkomplott gegen Kaiser Caracalla (geboren am * 4. April 188 als Lucius Septimius Bassianus, ermordet am 8. April217, Kaiser von 211 bis 217) anstiftete. 169 Caracalla, geboren als Lucius Septimius Bassianus am * 4. April 188, ermordet 8. April-217; war Kaiser von 211 bis 217. 170 Zu Maximinus Thrax Deppmeyer 2013b. Grenze des Obergermanisch-Rätischen Limes, der von Rheinbrohl am Rhein südwestlich von Remagen bis nach Eining an der Donau südwestlich von Regensburg verlief. Es besteht kein Zweifel mehr daran, dass am Harzhorn massive Gefechte zwischen Römern und Germanen stattgefunden haben. Im Vergleich mit dem Harzhorn ist das archäologische Fundspektrum etwa eineinhalb Kilometer südlich am Kahlberg bei allen Übereinstimmungen in quantitativer und qualitativer Hinsicht teils durchaus andersartig. 164 Aufgrund von Münzfunden datiert man die Auseinandersetzungen am Harzhorn und Kahlberg inzwischen in das Jahr 235/ 236 n. Chr. und verbindet sie mit dem römischen Kaiser Maximinus Thrax. 165 Meuternde Truppenteile hatten kurz zuvor - im Jahre 235, vermutlich in der Umgebung von Mainz 166 - den schwächlichen Kaiser Severus Alexander ermordet (* 1.-Oktober 208, Kaiser vom 13. März 222 bis zu seiner Ermordung) und den bewährten Offizier Maximinus Thrax zum Kaiser ausgerufen. 167 Nachdem Macrinus 168 als Prätorianerpräfekt 217 einen erfolgreichen Mordkomplott gegen Cara‐ calla 169 angestiftet hatte, aber selbst nur gut ein Jahr als Kaiser regierte, kam mit Maximinus Thrax ein erster ›echter‹ Soldatenkaiser an die Spitze des Römischen Reichs. Mit ihm - ›dem Thraker‹, er soll in Thrakien geboren worden sein - begann zugleich die höchst spannungsgeladene innenpolitische Situation während des 3.-Jahrhunderts mit steten Kämpfen um die Vorherrschaft in Rom und damit im Reich. 170 Jedenfalls spricht im Augenblick alles dafür, dass sich Maximinus mit einem sehr großen Heer aus mehreren tausend Legionären und Hilfstruppen auf dem Rückmarsch von einem Feldzug ins Innere Germaniens befand. Von Norden am Westrand des Harzes angekommen, versuchte er vermutlich in zwei Marschsäulen den 156 4 Funde und Befunde: Zur Systematik urgeschichtlicher Quellen <?page no="157"?> 171 Berger et al. 2010, bes. 376 ff. (M. Geschwinde/ P. Lönne). 172 Publius Quinctilius Varus, * 47/ 46 v. Chr., † 9 n. Chr. durch Suizid auf dem Schlachtfeld; römischer Senator und Feldherr. 173 Zum Verhältnis von Rom und den Germanen in nachaugusteischer Zeit zusammenfas‐ send Meyer/ Moosbauer 2013. 174 Tiberius Iulius Caesar Augustus; er hieß vor seiner Adoption durch AugustusTiberius Claudius Nero, * 16. November42 v. Chr., † 16. März37 n. Chr.; er war von 14 bis 37 n. Chr. römischer Kaiser. Nach seinem Stiefvater Augustus war Tiberius der zweite Kaiser des Römischen Reichs und gehörte wie dieser der julisch-claudischen Dynastie an. 175 Domitian, * 24. Oktober 51, † 18. September 96; sein vollständiger Geburtsname lautete Titus Flavius Domitianus; er war Kaiser von 81 bis 96 und nannte sich da Imperator Caesar Domitianus Augustus. 176 Wolters 2017, 213-f.; Moosbauer 2018, 39 ff. von Germanen blockierten Pass unterhalb des Harzhorns zu umgehen und geriet dabei in schwere Gefechte mit den Gegnern. 171 Die vernichtende Niederlage des Varus im Jahre 9 n. Chr. hatte zum Untergang von drei Legionen geführt. 172 Die moderne Forschungsmeinung unterstellte daher, dass damit die römische Germanienpolitik grundsätzlich verändert worden sei. 173 Zwar hätte Rom fortan zunächst noch unter Germa‐ nicus (* 24. Mai 15 v. Chr., † 10. Oktober19) recht weit im Vorfeld des Rheins operiert, aber nach seiner Abberufung durch seinen Stiefbruder Tiberius 174 seien größere römische Verbände nicht mehr tief in die Germania Magna eingedrungen. Dies habe insbesondere für die Zeit nach Errichtung der beiden römischen Provinzen Nieder- und Obergermanien (Germania Inferior und Germania Superior) im Jahre 85/ 86 n. Chr. durch Domitian 175 gegolten. Es liegt auf Hand, dass hier die Bedeutung der archäologischen Funde am Harzhorn zu suchen ist: Unter den geschilderten Annahmen erschien es einfach unvorstellbar, dass bedeutende römische Militäroperationen noch so spät und so tief in Germanien durchgeführt worden sein könnten. 176 Am Harzhorn haben zunächst illegal agierende Sondengänger erste Funde der offiziellen Bodendenkmalspflege zur Kenntnis gebracht und damit wesentlich dazu beigetragen, dass großangelegte Ausgrabungen mit außerordentlich wichtigen Ergebnissen durchgeführt werden konnten. Aber die Funde und Befunde vom Harzhorn sind auch methodisch lehrreich. Wolters (2017, 219) hat darauf aufmerksam gemacht, dass durch die archäo‐ logischen Hinterlassenschaften im Bereich des Harzhorns ein massiver Vorstoß in Richtung Norddeutschlands durch Maximinus Thrax durchaus wahrscheinlich geworden ist. Allerdings - so betont er - sei »auch in diesem Fall der Zusammenhang zwischen textlicher und archäologischer Überlie‐ 4.4 Hauptkategorien urgeschichtlicher Quellen 157 <?page no="158"?> 177 Jantzen/ Lidke 2022; Jantzen/ Terberger 2018, 271 (Stand 2016). ferung erst noch zu erweisen«. Diese Bemerkung verdient nachdrückliche Betonung. Er bezieht sich hier indirekt auf eine Reihe zeitgenössischer Interpretationen von Kalkriese. Darin werden die archäologischen Funde und Befunde einerseits und die textliche Überlieferung andererseits im ersten Schritt nicht hinreichend voneinander getrennt erörtert, sondern die literarische Überlieferung wird mehr oder weniger beliebig der archäo‐ logische Quellenlage untergeordnet. Wolters (ebd. 166) stellt zu Recht fest, dass eine dermaßen freie »Uminterpretation und Verwerfung der antiken Quellen« Altphilologen und Althistorikern »weit über den Spezialfall der ›Varuskatastrophe‹ hinaus« die Basis ihrer Tätigkeit entziehe. 4.4.12.3 Die Auseinandersetzungen im Tollensetal Im Zusammenhang mit archäologischen Hinterlassenschaften von Schlacht‐ feldern bzw. Konflikten feindlicher Gruppen dürfen die Mitte der 1990er Jahre im Tollensetal bei Altentreptow, Ldkr. Mecklenburgische Seenplatte (Mecklenburg-Vorpommern), entdeckten und seit 2007 systematisch aus‐ gegrabenen Funde und Befunde nicht unberücksichtigt bleiben. Sie sind allerdings erheblich älter als jene vom Harzhorn und vom mutmaßlichen Ort der Varusschlacht in Kalkriese. Es handelt sich hierbei vor allem um Skelettteile von mehr als 140 überwiegend jungen Männern aus der Bron‐ zezeit. Knochen von 111 Individuen wurden unter einer rund 1 m mächtigem Torfschicht ausgegraben und 22 direkt im Bachbett der Tollense. 177 Die Fundstellen ließen sich im Rahmen der Grabungen über einen 2,5 km langen Flussabschnitt der mäandrierenden, auch seinerzeit wohl flachen Tollense nachweisen. Nach dem anthropologischen Befund befanden sich keine Frauen unter den Getöteten. Nur in sehr wenigen Fällen gelang es, aus der weitgehend ungeordneten Knochenstreuung mehr oder weniger vollständige Skelette zusammenzusetzen. Dabei ist bemerkenswert, dass zwischen den menschlichen Überresten auch Knochen von mindestens fünf Pferden nachgewiesen wurden. An Waffen fanden sich Schwerter, Dolchklingen und Lanzenspitzen sowie drei hölzerne Keulen, aber auch Messer. Die meisten Waffen lassen sich nicht individuell zuordnen, da sie aus dem Fluss geborgen wurden. Bei den wenigen Exemplaren aus der bronzezeitlichen Fundschicht handelt es sich ausnahmslos um bronzene und steinerne Pfeilspitzen. Aus dem Bachbett und den torfbedeckten Grabungsf‐ 158 4 Funde und Befunde: Zur Systematik urgeschichtlicher Quellen <?page no="159"?> 178 Zur Strontiumisotopenanalyse Knipper 2004; zusammenfassend Eggert/ Samida 2022, 224 mit Abb. 7.7.1. 179 Jantzen/ Terberger 2018, 274. 180 Hierzu im Einzelnen Jantzen/ Lidke/ Dräger et al. 2014. lächen konnten im Zuge des Projekts gut fünfzig Pfeilspitzen aus Bronze und zehn aus Feuerstein geborgen werden. Sie fanden sich auch vermischt mit menschlichen Knochen; eine Flintspitze steckte noch in einem menschlichen Humerus. Sieben der zehn Pfeilspitzen aus Feuerstein werden derzeit im Rahmen eines laufenden Forschungsprojekts der Universitäten Hamburg und Berlin sowie des Landesamts für Kultur und Denkmalpflege Mecklenburg-Vorpom‐ mern untersucht. Ziel ist es, mit Hilfe hochauflösender Computertomogra‐ phie und digitaler Mikroskopie Spuren wie Abrasion, Glanz, Riefungen und Mikropolitur an der Oberfläche der Projektilspitzen festzustellen, um daraus Rückschlüsse auf ihre Verwendung zu ziehen. In diesem Zusammenhang werden auch Tests zu etwaigen Anhaftungen wie Fett, Gewebe und Blut durchgeführt. Ein sehr gut illustrierter Vorbericht lässt auf eine Reihe wichtiger weiter Erkenntnisse dieses Projekts hoffen (Harten-Buga et al.) An einer Stelle im Flussbett wurde zudem Schmuck in Form von zwei Zinnfingerringen und drei Spiralringen aus Golddraht gefunden. Zunächst ging man davon aus, dass bei diesem kriegerischen Konflikt Ortsansässige von nicht-autochthonen Kriegern überfallen worden seien. Diese auf den ersten Blick recht einleuchtende Hypothese konnte auf der Basis der Strontiumisotopenanalyse von Zähnen der Toten nicht bestätigt werden. 178 Es ergaben sich keine signifikanten Hinweise auf bestimmte Her‐ kunftsregionen. Vielmehr sprechen die bisherigen Analysen für eine ausge‐ prägte Inhomogenität der Getöteten und damit zugleich für ihre Herkunft aus sehr unterschiedlichen Naturräumen. 179 Eine Reihe von Radiokohlen‐ stoff- und Dendrodaten verweisen den kriegerischen Konflikt im Tollensetal in die Zeit zwischen 1300 und 1250 v. Chr., also in die Mittlere Nordische Bronzezeit. Durch geophysikalische Untersuchungen stellte sich heraus, dass die Talaue des Flusses wohl beidseitig durch eine etwa rechtwinklig zur Tollense angelegte, teils von Steinen begrenzte, dammartige, rund 3 bis 3,5 m breite Holz-Erde-Rasensoden-Trasse verbunden war. Allerdings ließ sich diese Trasse nur auf der Ostseite der Tollense über rund 100 m nachweisen. Sie wurde an zwei Stellen durch kleine Schnitte erschlossen. 180 Aufgrund von Dendro- und Radiokarbon-Proben ließ sich die erste Phase ihrer Errichtung 4.4 Hauptkategorien urgeschichtlicher Quellen 159 <?page no="160"?> 181 Ebd. 39. 182 Jantzen/ Terberger 2018, 281. 183 Das gilt insbesondere für Jantzen/ Terberger 2018. in die Zeit nach 1900 v. Chr., also noch in die Frühe Nordische Bronzezeit datieren. Weitere Daten zeigten, dass die Trasse über mehr als 500 Jahre benutzt wurde und offenbar auf eine relativ enge und flache Stelle der Tollense zulief, die als Furt geeignet war. Nach der Entdeckung der Wegtrasse konzentrierte sich die Deutung des gewaltsamen Ereignisses auf die Frage, welche Rolle die Tollense und ihre Querung in der fraglichen Zeit gespielt haben könnten. In diesem Zusammenhang wird nunmehr ein potenzielles bronzezeitliches Netzwerk von Wasser-, aber auch Landrouten im Bereich des südlichen Ostseeraums in Betracht gezogen, in dem die Tollense und ihre mutmaßliche Furt um 1300 v. Chr. eine Rolle gespielt haben könnte: als Wasserweg zwischen der Mecklenburger Seenplatte und der Ostsee einerseits und als Furt einer Landverbindung an der zur Diskussion stehenden Stelle zwischen dem Mündungsbereich der Oder und der Mecklenburger Seenplatte anderer‐ seits. 181 Leider sind solche bronzezeitlichen supraregionalen Wasser- und Landverbindungen im südlichen Ostseeraum zum derzeitigen Zeitpunkt weitestgehend spekulativ. Es ist darüber hinaus wohl unnötig, zu betonen, dass solche Überlegungen notgedrungen mit ausgesprochen allgemeinen Vorstellungen von ›Handel‹ verknüpft sind. Man geht von einem »Rückgang des Warenaustausches« aus, der an einer »Verknappung der Bronze im Norden« ablesbar sei. 182 In der Zusammenfassung stellen sich die Befunde und Funde aus dem Tollensetal als ein in jeder Hinsicht faszinierendes archäologisches Ensem‐ ble dar, dessen geradezu greifbare Komplexität der seiner historischen Deutung entspricht. Es muss allerdings ausdrücklich betont werden, dass die verschiedenen Autoren die Schwierigkeiten einer plausiblen Interpretation der gegenwärtig erschlossenen Funde und Befunde des Tollensetals keines‐ wegs herunterspielen. 183 Im neuesten mir zugänglichen Beitrag erörtern D. Jantzen und G. Lidke (2022) zusammenfassend die bisher in der Literatur kursierenden Hypothesen. Sie erwägen schließlich eine sogenannte »Kara‐ wanenhypothese«: Die osteologische Untersuchung des Skelettmaterials spreche dafür, dass die Toten zu Lebzeiten einem regelhaften Aktivitäts‐ modus ausgesetzt gewesen seien, der »möglicherweise Fortbewegung zu Fuß über große Distanzen und/ oder das Tragen und/ oder Heben schwerer 160 4 Funde und Befunde: Zur Systematik urgeschichtlicher Quellen <?page no="161"?> 184 Im englischen Original heißt es: »The osteoarchaeological investigations have shown musculo-skeletal markers indicating that the victims were individuals with a compa‐ rable routine activity level, possibly including moving on foot for long distances and/ or carrying/ lifting heavy weights« ( Jantzen/ Lidke 2022, 349). 185 Für die Späthallstattzeit hierzu Eggert 1991a/ 2011. Lasten« eingeschlossen habe. 184 Hieraus allerdings die Hypothese abzulei‐ ten, die Toten seien Fernhändler zwischen dem Ostalpenraum und dem Ostseebereich gewesen, deren Karawane im Tollensetal überfallen worden sei (ebd. 350-352), finde ich jedoch nicht überzeugend. Dagegen sprechen meines Erachtens nicht nur die verschiedenen Hilfshypothesen, die Jantzen und Lidke in diesem Zusammenhang zur Stützung ihrer Ansicht bemühen. Wichtiger noch erscheint mir, dass - wenn man hier denn überhaupt Handel mit dem Süden unterstellen will - in jener Zeit Fernhandelsbeziehungen über Land kaum als Direkt-, sondern weit eher als Etappenhandel vorstellbar sind. 185 4.4.13 Die Grabenanlage von Herxheim Nachdem nunmehr eine Reihe von Quellengruppen idealtypisch als ›Haupt‐ kategorien‹ erörtert worden sind, möchte ich an einem konkreten Beispiel auf die ›Gemengelage‹ mancher Quellen im Hinblick auf die einstige Wirk‐ lichkeit zu sprechen kommen. Natürlich ist klar, dass zu Siedlungen auch Bestattungen in dieser oder jener Form gehören und häufig wird man auch geneigt sein, Kultorte welcher Art auch immer mit dem einen oder anderen bzw. beiden zu assoziieren. Eine bisher einzigartige Verbindung zwischen Leben und Tod im Zuge fortschreitender Zeit bieten jedoch die Funde und Befunde auf einem Gelände von Herxheim bei Landau in der Südpfalz (Kr. Südliche Weinstraße, Rheinland-Pfalz). Dort konnten - zunächst wesentlich von der Gemeinde Herxheim finanziert und schließlich in einem über zehn Jahre von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Forschungsprojekt große Teile einer Siedlung der Linearbandkeramischen Kultur (LBK) untersucht werden. Diese von einem Doppelgraben umge‐ bende Siedlung nahm eine Fläche von etwa 4,5 ha ein; sie bestand von ungefähr 5300 bis 4950 v. Chr. Es handelt sich hier also um eine »Siedlung der frühesten Ackerbauern Mitteleuropas«, die allerdings - so die Ausgräberin 4.4 Hauptkategorien urgeschichtlicher Quellen 161 <?page no="162"?> 186 Meine Ausführungen folgen im Wesentlichen der vorzüglichen Zusammenschau von A. Zeeb-Lanz 2018. Wann immer weitere Veröffentlichungen herangezogen werden, wird darauf verwiesen. 187 Einen knappen Überblick über wesentliche Aspekte der Ausgrabungen in Herxheim einschließlich der nicht kollegial zum Abschluss zu bringenden Zusammenarbeit mit französischen Archäologen und Anthropologen bieten Zeeb-Lanz/ Haack 2016. Zu den Gräben und ihrer Verfüllung im Einzelnen Haack 2016. - Das in Band 1 der Gesamtpublikation (Zeeb-Lanz 2016) nicht vorgelegte Fundmaterial ist ebenso wie ein beträchtliches Spektrum archäometrischer Analysen in Band 2 (Zeeb-Lanz 2019) veröffentlicht worden. Leider fehlt darin aufgrund der bei Zeeb-Lanz/ Haack (2016, 8 f.; hierzu auch Boulestin/ Coupey 2015, VII) angedeuteten Schwierigkeiten die detaillierte Untersuchung der menschlichen Skelettreste (siehe hierzu Boulestin/ Coupey 2015). 188 Zur Strontiumisotopenanalyse Knipper 2004; zusammenfassend Eggert/ Samida 2022, 224 mit Abb. 7.7.1. Andrea Zeeb-Lanz (2018, 83) - »ganz am Ende ihrer Existenz einen radikalen Funktionswandel zu einem zentralen Ritualort« erfuhr. 186 Der als »radikaler Funktionswandel« umschriebene Tatbestand zeigte sich in Herxheim in der Verfüllung der beiden V-förmigen, teils noch mehr als drei Meter tiefen Gräben der Siedlung. 187 Vor allem, aber nicht nur, im inneren Graben wurden in kleinste Fragmente zertrümmerte Knochen von hunderten junger wie alter Menschen, von Männern wie Frauen freigelegt. Frühadulte Individuen (ca. 20 bis 30 Jahre) sind gegenüber spätadulten bis frühmaturen (ca. 30 bis 50 Jahre) deutlich überrepräsentiert. Da die Skelette dermaßen zerkleinert wurden und überdies viele anatomische Einzelteile fehlen, lassen sich für die erkennbaren Alters- und Geschlechtsgruppen keine genauen Individuenzahlen nennen. Jedenfalls ist offenkundig, dass hier keine normale Sterbepopulation vorliegt (Zeeb-Lanz 2018, 84). Die Funde und Befunde in Herxheim belegen, dass wir es mit einer systematisch und wiederholt vollzogenen Ausübung höchst befremdlicher Handlungen an gezielt Getöteten zu tun haben. Bei diesen Opfern hat es sich offenbar nicht um Angehörige benachbarter bandkeramischer Gruppen gehandelt. Analysen von Strontiumisotopen an Zähnen von etwa 80 Individuen erga‐ ben vielmehr, dass die meisten von ihnen ihre frühe Kindheit nicht in typi‐ schen, von LBK-Leuten bevorzugten Lößgegenden wie Herxheim, sondern in Mittelgebirgsregionen mit Granit- oder Gneissuntergrund verbrachten. 188 Folgt man Zeeb-Lanz (ebd. 89), sprechen die »sehr heterogenen Strontiums‐ werte« für eine Herkunft der Opfer von Herxheim aus unterschiedlichen Gegenden und geologischen Formationen, »wobei höhere Gebirgslagen dominieren«. Hinzu kommt eine stilistisch ungewöhnlich differenzierte Keramik, die mit der Ritualphase des Endes der Herxheimer Siedlung von 162 4 Funde und Befunde: Zur Systematik urgeschichtlicher Quellen <?page no="163"?> 189 Siehe Zeeb-Lanz 2017, 108 mit Abb. 10. etwa 5000 bis 4950 v. Chr. verbunden ist. Es ließen sich in den Gräben zusammen mit den Knochen auch gezielt zerschlagene Gefäße aus acht Stilregionen nachweisen. Dabei ist die Heimat der jüngsten Stilgruppe - Šarka-Linearbandkeramik in Böhmen - rund 400 km Luftlinie von Herxheim entfernt. Bemerkenswert ist nicht nur die Behandlung der Menschenknochen insgesamt, sondern gerade auch der Schädel. In der Regel wurden die Unterkiefer - wie zahlreiche Schnitte an den Kieferästen zeigen - mit der Durchtrennung der Kaumuskeln vom Schädel gelöst. Sowohl Oberals auch Unterkiefer wurden zum Teil systematisch zerkleinert. 189 Gesichtsschädel und Schädelbasis wurden mit Steinbeilen abgeschlagen, so dass nur noch die Schädelkalotten übrigblieben. Kalotten machen den größten Teil der Schä‐ delreste in Herxheim aus; demgegenüber konnten während der gesamten Ausgrabungen nur etwa ein Dutzend vollständig erhaltene Schädel erfasst werden. Die Schädeldächer erfuhren darüber hinaus ebenfalls besondere Aufmerksamkeit, da sie anders als die übrigen zerkleinerten Skelettteile nicht einfach regellos mit anderen menschlichen Knochen und Fragmenten von Artefakten vermischt, sondern auch mehrfach in Form regelrechter ›Kalottennester‹ aufgefunden wurden. Eine ähnlich systematische Zerstörung wie das Knochenmaterial der Getöteten erfuhr auch die Keramik. Darüber hinaus wurden ebenso Fels‐ gesteinbeile und Silexklingen - auch solche aus mutmaßlich wertvollen Rohmaterialien - sowie eine beträchtliche Anzahl an Mahlsteinen und Sandsteinplatten gewaltsam zertrümmert. Schließlich fand sich in Herxheim neben gängigem Schlachtabfall auch ein spezifisches Spektrum von Tier‐ knochen, die Zeeb-Lanz (2018, 87) nicht in diesem Sinne interpretieren möchte. Es handelt sich dabei um »untere Extremitätenknochen von Rind, Auerochse, Schwein und Schaf«, die »in auffallender Menge im Bestand« auftreten. Sie sind für bandkeramische Siedlungen ebenso unüblich wie eine große Zahl von Hundeknochen und zahlreiche Hirnschädel mit Hörnern (Bukranien) von Rind und Ziege. Wie selbst diese knappe Zusammenfassung zeigt, ist die jüngste Phase der LBK-Siedlung von Herxheim derart komplex, dass sie in jeder Hinsicht vom gemeinhin unterstellten Bild unserer Vorstellungen von bandkeramischen Siedlungen abweicht. Selbst über die grundlegendsten Fragen des einstigen Geschehens an diesem Ort sind sich die Spezialisten nicht einig. So ist etwa 4.4 Hauptkategorien urgeschichtlicher Quellen 163 <?page no="164"?> 190 Boulestin et al. 2009, 975 f. Die Ausführungen in dieser Veröffentlichung beziehen sich größtenteils auf die anthropologischen Untersuchungen von Boulestin. Sie wurden dort erstmals vorgelegt. 191 Dies. 977; Boulestin/ Coupey 2015, 119 ff. der französische Anthropologe Bruno Boulestin, der das Skelettmaterial der Grabungskampagnen 2005-2008 bearbeitet hat, der Meinung, dass die Behandlung der Körper der Getöteten - ihre sorgfältige Zerlegung und Entfleischung ebenso wie die Zerschlagung der Knochen - sehr ähnlich der von Schlachtvieh sei. 190 Er und seine Mitautorin Sophie Coupey unterstellen daher eine Art Nahrungsgewinnung beträchtlichen Ausmaßes: Die unge‐ fähr 500 nachweisbaren Individuen in den ausgegrabenen Flächen wären somit Opfer von Kannibalismus gewesen, 191 und etwa dieselbe Zahl käme noch aus dem unausgegrabenen Areal hinzu. Diese These - wenngleich gut begründet - ist jedoch nicht unwidersprochen geblieben. Es genügt an dieser Stelle, auf Überlegungen von Zeeb-Lanz (2017, 114 f.) hinzuweisen. Sie gab zu bedenken, dass sehr viel für die Kannibalismusthese spreche, »das Ritualgeschehen in Herxheim« jedoch »deutlich mehr als ›nur‹ kan‐ nibalische Mahlzeiten« umfasse. In ihren Worten: »Wenn die Opfer verzehrt wurden, worauf vieles hinweist, dann stellten sie einen Bestandteil einer übergeordneten Zeremonie dar, bei der offensichtlich die Zerstörung den Leitfaden des Handelns« bildete (ebd. 116). Um es in einem Satz zusammenzufassen: Die Deutung des Ritualgesche‐ hens in der letzten Phase des LBK-Grabenwerks von Herxheim stellt auf absehbare Zeit eine der größten Herausforderungen am und über das Ende des Altneolithikums dar. Denn wie Zeeb-Lanz wiederholt betont hat (so auch ebd. 2017, 118), verschwindet die LBK in ihrem westlichen Verbreitungsge‐ biet während des 49. Jahrhunderts v. Chr. in allerkürzester Zeit. Nur vermag diese Feststellung weder die Befunde und Funde von Herxheim noch das überregionale Verschwinden der jüngsten Linearbandkeramischen Kultur zu erklären. 4.4.14 Klimawandel und Archäologie 4.4.14.1 Gletscher- und Eisfeldarchäologie Mit der Wende vom zweiten zum dritten Jahrtausend begann sich die Bezeichnung Anthropozän (von griech. ánthropos, Mensch, und kainós, neu) für eine neue geochronologische Epoche durchzusetzen, die mehr 164 4 Funde und Befunde: Zur Systematik urgeschichtlicher Quellen <?page no="165"?> 192 Nach einer Neufestlegung der Grenze wurde festgestellt, dass die Fundstelle in der Gme. Schnals in Südtirol liegt. als je zuvor durch den dominierenden Einfluss des Menschen auf die gesamte Umwelt gekennzeichnet ist. Die neue Epoche wird als Ablösung des Holozäns begriffen, und eines ihrer wesentlichsten Merkmale ist die menschengemachte globale Klimaveränderung. Sie ist durch Jahr für Jahr steigende Rekordwerte mit Hitzesommern und schneearmen Wintern sowie ständig abschmelzenden und sich nicht erneuernden Gletschern und Pol‐ kappen in der Arktis und Antarktis gekennzeichnet. Gleichzeitig kommt es unter anderem zum Rückgang von Permafrostböden und auf längere Sicht zu einem erheblichen Anstieg des Meeresspiegels. Es bedarf keiner besonderen Hervorhebung, dass das menschliche Kul‐ turerbe mehr oder weniger lange zurückliegender Zeiten in einem unmit‐ telbaren Verhältnis zu dem hier angedeuteten Klimawandel steht. Thomas Reitmaier (2021a) hat in einem einleitenden Aufsatz zu dem von ihm her‐ ausgegebenen Sonderheft der Zeitschrift »Archäologie in Deutschland« das Arbeitsfeld einer Gletscher- oder Eisfeldarchäologie knapp umrissen. Dieses spezielle Arbeitsgebiet der archäologischen Geländeforschung existierte noch gar nicht, als der erste und bis heute in jeder Hinsicht singuläre Fundkomplex dieses Forschungsbereichs zutage kam. 4.4.14.2 Die Gletschermumie vom Tisenjoch (Ötztaler Alpen) Im September 1991 wurde von einem Ehepaar auf einer Bergwanderung in gut 3200 m Höhe in der Nähe des Tisenjochs in den Ötztaler Alpen im Grenzgebiet von Österreich und Italien in einer mit Gletschereis und Schmelzwasser gefüllten Felsmulde zufällig eine gut konservierte Gletscher‐ mumie entdeckt. 192 Da man zunächst annahm, die Leiche stamme aus dem 19. oder 20. Jahrhundert, zog man bei ihrer Bergung durch die Innsbrucker Gerichtsmedizin keinen Archäologen hinzu. Stattdessen legte ein Polizist sie schließlich unsachgemäß mit Skistock und Eispickel frei. Immerhin fiel den ›Ausgräbern‹ doch manch Ungewöhnliches auf, und so wurde bereits am nächsten Tag der Innsbrucker Prähistoriker Konrad Spindler (1939-2005) in die Gerichtsmedizin gerufen. Spindler erkannte sofort die Bedeutung des Funds, da ein zugehöriges Randleistenbeil seines Erachtens für eine Datierung in die Frühe Bronzezeit sprach. Später stellte sich dann anhand 4.4 Hauptkategorien urgeschichtlicher Quellen 165 <?page no="166"?> 193 Kutschera/ Müller 2003. 194 Die Datierung ergab bereits sehr früh ein wahrscheinliches Alter von 3350 bis 3300 calBC (Bonani et al. 1992, 115). Von der umfangreichen Literatur zu diesem Fund seien folgende Titel zitiert: Egg/ Spindler 1992; dies. 1999; Höpfel et al. 1992; Spindler et al. 1995. Zusammenfassend Eggert/ Samida 2022, 221-ff. - Siehe auch unten. von Radiokohlenstoffdaten heraus, dass die sehr schnell als ›Ötzi‹ bekannte Gletschermumie vom Tisenjoch entschieden älter ist. Anhand von Radiokarbondaten aus Zürich und Oxford ergab sich später nach der Kalibrierungskurve OxCal 4.4 ein Todeszeitpunkt des - wie sich ebenfalls später herausstellte - männlichen mumifizierten Toten von 3368- 3108 calBC (95,4 %) bzw. von 3371-3101 calBC (99,7 %). 193 Damit war klar, dass die Gletschermumie vom Ende des Neolithikums bzw. aus der Frühen Kupferzeit stammt. 194 Der Tote hatte zahlreiche Ausrüstungsgegenstände bei sich, darunter einen unfertigen Bogen aus Eibenholz, einen Köcher mit 14 Pfeilen, von denen lediglich zwei gebrauchsfertig waren, ein Kupferbeil mit flachen Randleisten und Knieholzschäftung, ein in Holz geschäfteten Feuersteindolch mit einer aus Bast gefochtenen Scheide sowie ein ebenfalls mit einem Holzgriff versehener, vermutlich aus Hirschgeweih gefertigter Stift - ein Gerät, das wohl als Druckstab für die Retuschierung von Feuers‐ teinklingen gedient hat. Diese zufällig entdeckte männliche Gletschermumie hat die Medien und damit die Öffentlichkeit in einem in der Archäologie bisher kaum gekannten Ausmaß beschäftigt. Die Wissenschaft ist bis heute mit der Auswertung der zahlreichen Analysen des Körpers und der Ausrüstung des Toten im Südtiroler Archäologiemuseum in Bozen befasst. Nach der umfassenden Bearbeitung der Kleidung und der Ausrüstung durch Markus Egg vom Römisch-Germanischen Zentralmuseum in Mainz und Spindler (2009) erscheint es überraschend genug, dass den Beifunden immer noch Geheimnisse zu entlocken sind. Dazu gehört etwa eine kleine weiße, annä‐ hernd rundliche Scheibe aus Dolomitmarmor, durch deren Durchbohrung ein Lederriemen gezogen ist, an dem eine ›Quaste‹ weiterer Riemen hängt. Dieses Ensemble ist in der Literatur gemeinhin als Schmuckobjekt oder Talisman interpretiert worden. Dieser recht unverbindlichen Deutung hat Thomas Reitmaier (2014) eine umfassend belegte Neuinterpretation als sogenannter ›Vogelgalgen‹ entgegengestellt, das heißt als Tragegerät, etwa am Gürtel, für erlegte Vögel oder Kleinwild. Bleibt diese neue Deutung auf die Ausrüstung beschränkt, gibt es doch inzwischen auch grundlegende naturwissenschaftliche Einsichten aus der 166 4 Funde und Befunde: Zur Systematik urgeschichtlicher Quellen <?page no="167"?> 195 Keller et al. 2012. Zusammenfassend zu den naturwissenschaftlichen Ergebnissen Zink/ Maixner 2021. 196 Oeggl 1999; ders. et al. 2007. 197 Zu diesen Deutungen knapp Egg/ Spindler 1992, 96 ff. 198 Ich schließe mich hier der überzeugenden kritischen Zusammenschau von Egg in Egg/ Spindler 2009, 199 ff. an (»Die letzten Tage des Mannes aus dem Eis - Theorien zur Todesursache«). Analyse des Toten selbst. So konnte das vollständige Genom des Toten entschlüsselt werden, und wir wissen jetzt, dass er wahrscheinlich braune Augen hatte, die Blutgruppe 0 besaß und an Laktoseintoleranz litt, also keinen Milchzucker verdauen konnte. 195 Auch die letzte Etappe des Wan‐ derungswegs des ›Mannes aus dem Eis‹ ließ sich anhand von Untersuchun‐ gen des Darminhalts und verschiedener Gegenstände seiner Ausrüstung klären. 196 Mit Hilfe der Archäobotanik konnten Pollen dem nahegelegenen Vinschgau, genauer dem Schnalstal, zugewiesen werden. Die letzte Mahlzeit bestand aus Getreide - vor allem feingemahlenen Einkorn -, das wohl als Brei oder einer Art Brot konsumiert wurde sowie aus Fleisch und Sammelfrüchten. Das Fleisch stammt vermutlich von einem Steinbock, von dem sich zwei Halswirbelknochen nahe bei der Mumie fanden. Über den Grund, der den ›Gletschermann‹ dazu veranlasst hat, sich bis auf eine Höhe von rund 3200 m in das Hochgebirge zu begeben, wird bis heute spekuliert. Man hat ihn als Jäger, als Schamanen, als Almhirten und als Kupfersucher interpretiert. Dabei trugen der unfertige Bogen samt den ebenfalls unfertigen Pfeilen zum rätselhaften Charakter dieses ungewöhnli‐ chen Funds in den Hochalpen bei. Schließlich wurde der Hypothese, es habe sich um einen Hirten gehandelt, besonderes Gewicht beigemessen. Man erwog, dass der Mann sich von anderen Hirten getrennt und die Talsiedlung seiner Gruppe aufgesucht haben könnte. Auf dem Rückweg zu seiner Herde und den anderen Hirten habe er dann den Tod gefunden. 197 Seit rund eineinhalb Jahrzehnten kann man wohl davon ausgehen, dass er in den letzten beiden Tagen seines Lebens von Süden in Richtung Norden unterwegs war. Dabei stieg er von der Baumgrenze in etwa 2500 m ü. M. in ein Hochtal auf rund 1200 m ü. M. hinab, um sich in den letzten 9 bis 12 Stunden seines Lebens wieder auf eine Höhe von rund 3200 m zu begeben. Im Hochtal ist es anscheinend zu einer ersten kämpferischen Auseinandersetzung gekommen. 198 Bald darauf, mindestens 24 Stunden vor seinem Tod, hatte er offenbar eine sehr schwere Auseinandersetzung mit einem Gegner, die im Nahkampf bei einer Abwehrreaktion zu einer tiefen 4.4 Hauptkategorien urgeschichtlicher Quellen 167 <?page no="168"?> 199 Lippert et al. 2007, 11. 200 Ebd. 11 f. 201 Ebd. 8. 202 Ebd. 11. 203 Oeggl 1999, 106; Oeggl et al. 2007. Verletzung zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand führte. 199 Oberflächliche Abschürfungen sowie Blutergüsse im Bereich des Rückens und am Schädel sprechen dafür, dass er bei seiner anschließenden Flucht in Richtung Alpenhauptkamm erneut angegriffen wurde, seinen Verfolgern jedoch wiederum entkommen konnte. 200 Bereits 2001 wurde im Röntgenbild seines linken Schulterblatts eine 21 mm lange und maximal 17 mm breite Pfeilspitze aus Feuerstein entdeckt, ohne dass jedoch irgendwelche Reste des Holzschafts nachgewiesen werden konnten. Im Zuge neuerer Untersu‐ chungen stellte sich heraus, dass der Pfeil bei seinem Eindringen in die Schulter die zum linken Arm führende Arterie über 13 mm aufgeschlitzt und den Angeschossenen lebensgefährlich verletzt hat. 201 Der sofort einsetzende hohe Blutverlust wäre nur durch eine chirurgische Gefäßverschließung aufzuhalten gewesen. Es ist daher davon auszugehen, dass der Verwundete an Ort und Stelle einem Kreislaufkollaps erlegen ist. 202 Archäobotanische Analysen seines Darminhalts haben ergeben, dass er im Frühjahr, spätestens im Frühsommer zu Tode gekommen ist. 203 Folgt man Andreas Lippert und Kollegen, dann war der Mann vom Tisenjoch im Hochtal - vielleicht bei seiner eigenen Gruppe - in eine gewaltsame Konfrontation verwickelt und ist daraufhin in Richtung Alpen‐ hauptkamm geflüchtet. Auf dem Weg dorthin kam es offenbar zu der genannten weiteren, aber letztlich nicht lebensbedrohlichen Auseinander‐ setzung mit seinen Verfolgern, die er erneut abschütteln konnte. Auf gut 3200 m ü. M. angekommen, fühlte er sich offenbar sicher genug, um seine Ausrüstung und seinen noch nicht fertiggestellten neuen Bogen ebenso wie den Köcher mitsamt den unfertigen Pfeilen an verschiedenen Stellen der Vertiefung im Felsen abzulegen. Warum er selbst dann - vermutlich kurzfristig - die Felsmulde über eine höher gelegene Felsplatte verlassen wollte, muss unbekannt bleiben. Jedenfalls traf ihn in diesem Augenblick der Pfeil von hinten in die linke Schulter. Er fiel auf den Rücken und wurde offenbar wenig später von seinem Verfolger auf den Bauch gedreht. Der Versuch, den Pfeil zu bergen, scheiterte jedoch zumindest insoweit, als die Pfeilspitze in der Schulter des Opfers steckenblieb. Der Pfeilschaft hingegen 168 4 Funde und Befunde: Zur Systematik urgeschichtlicher Quellen <?page no="169"?> 204 Lippert et al. 2007, 13 f. 205 Pilø et al. 2022, 4 Fig. 4 oben. 206 Ebd. 12. 207 Ebd. 11; Steiner 2021, 22 f.; ders./ Marzoli/ Oeggl 2016. 208 Hafner 2015; Pilø et al. 2022, 6. 209 Pilø et al. 2022, 10. wurde weder im Zuge der Bergung der Gletschermumie 1991 noch 1992 bei einer Nachuntersuchung dokumentiert. 204 Soweit die immer noch weit verbreitete wissenschaftliche Interpretation des ›Eismanns‹, der seit seiner zufälligen Entdeckung bis heute eine inter‐ nationale Sensation ersten Ranges darstellt. Allerdings sind in den letzten Jahren erhebliche Zweifel an wesentlichen Einzelheiten dieser allzu glatten Interpretation aufgekommen. So war bisher bestenfalls beiläufig erörtert worden, warum der Mann vom Tisenjoch seine gesamte Ausrüstung nicht an ein und derselben Stelle der Felsvertiefung abgelegt hatte. Vielmehr fanden sich der Bogen, das geschäftete Beil, das Tragegestell und der Köcher in einem Umkreis von maximal 7 m von der Felsplatte, auf die der ›Eismann‹ dann später stieg und nach dem tödlichen Pfeilschuss verblutete. 205 Ausgelöst durch das Abschmelzen von Gletschern seit der Entdeckung der Eismumie hat man sich vor allem aber weit intensiver als je zuvor mit dadurch zutage gekommenen archäologischen Funden beschäftigt. Diese vom Neolithikum bis in die Römerzeit datierenden Funde stammen inzwischen auch aus dem Bereich nahegelegener Pässe; sie zählen in die Tausende. 206 Dazu gehört etwa auch ein Schneereif (Schneeschuh) aus Birkenholz vom Gurgler Eisjoch (3134 m ü. M.), einem wichtigen Pass in Südtirol zwischen Schnals- und Pfossental einerseits und Gurglertal andererseits. Er ist rund 500 Jahre älter als der Mann aus dem Eis. 207 Ein ähnliches, jedoch etwa 500 Jahre jüngeres Inventar als die Funde vom Tisenjoch wurde ab 2003 ungefähr 270 km nordwestlich am Schnidejoch - einem Pass, der die westlichen Berner Alpen mit dem Wallis verbindet - entdeckt und ausgegraben. Allerdings fanden sich dabei keine menschlichen Überreste. 208 Inzwischen ist klar, dass sich die ursprüngliche These von Konrad Spind‐ ler nicht mehr aufrechterhalten lässt. 209 Spindler war der Meinung, der Mann vom Tisenjoch sei kurz nach seinem gewaltsamen Tod auf der zu diesem Zeitpunkt schneefreien Oberfläche durch die Kälte gleichsam ›gefriergetrocknet‹ und dann sehr bald von einem Gletscher überdeckt worden. So habe er samt seiner Ausrüstung in einer Art »Zeitkapsel« bis 4.4 Hauptkategorien urgeschichtlicher Quellen 169 <?page no="170"?> 210 Pilø et al. 2022, 11. Für die Ermittlung der genannten Zeitspanne ebd. 10 f. mit Fig. 8. Zum Auftauen prinzipiell schon Oeggl 2003. Siehe hierzu auch Egg in Egg/ Spindler 2009, 47 ff. (»Anmerkungen zur Fundlage in der Felsrinne am Tisenjoch«). 211 Hierzu Pilø et al. 2022, bes. 6 f. 212 In den Worten von Pilø et al. (ebd. 11): »Ötzi has triggered a new and ground-breaking period in alpine archaeology«. 213 Dixon et al. 2014. Dieser Aufsatz erschien im ersten Heft des ersten Jahrgangs der Zeitschrift Journal of Glacial Archaeology. 214 Pilø et al. 2022, 2. - Ich würde hier eher von einem neuen ›Arbeitsfeld‹ der Archäologie sprechen. zu seiner Entdeckung 1991 überdauern können. Heute spricht dagegen alles dafür, dass das Fundensemble am Tisenjoch in heißen Sommern über 1500 Jahre nach dem Tod des Mannes vom Tisenjoch immer wieder auftaute. 210 Eine erhebliche Rolle bei dieser neuen Deutung spielen Untersuchungen zur Dynamik der glazialen Massenbilanz in Bezug auf eine Höhe zwischen 3150 und 3250-m ü.-M. sowie die Variabilität dieser Dynamik im Jahreslauf. 211 4.4.14.3 Kulturerbe im Bereich von Gletschern und Eisfeldern weltweit Es ist somit offenkundig, dass die aus der Entdeckung des ›Eismanns‹ vor gut 30 Jahren resultierenden Fragen noch längst nicht alle beantwortet sind. Im Gegenteil, die Forschungen der letzten Jahre zeigen, dass sich im Augenblick eine grundlegende Neuinterpretation der Deponierungs- und Postdeponierungsbedingungen vollzieht. Dennoch - oder gerade deswegen - haben der norwegische Archäologe Lars Pilø und Mitautoren nicht nur die bleibende Bedeutung der Gletschermumie betont. 212 Darüber hinaus konnten sie nachdrücklich zeigen, dass archäologische Forschungen im Hochgebirge heutzutage nicht nur in Zusammenarbeit mit Glaziologen und - wie auch sonst in der Archäologie - anderen Spezialfächern der Erd- und Naturwissenschaften zu Erkenntnissen jenseits des üblichen Rahmens führen. Mit E. James Dixonet al. sind sie sogar Meinung, 213 dass sich die glacial archaeology seit der Entdeckung der Tisenjochmumie in eine »archäologische Disziplin« entwickelt habe. 214 In diesem Zusammenhang muss man, wie einleitend angesprochen, nicht unbedingt an Gletscher im strengen Wortsinn denken. Im Zuge der fortschreitenden globalen Klimaerwärmung ist es in entsprechenden Höhenlagen auch zu Eisflächen von weniger als 10 km Durchmesser ge‐ kommen, die im Sommer ebenfalls noch weiter abschmelzen und daher 170 4 Funde und Befunde: Zur Systematik urgeschichtlicher Quellen <?page no="171"?> 215 Siehe Hafner 2015a, bes. 41. 216 Hierzu die eingehenden Erörterungen in ebd. 39 ff. Zusammenfassend und zeitübergrei‐ fend sowie unter Einschluss der Zentralanden Argentiniens, der Nordanden Ecuadors, ferner Grönlands, der Mongolei und Tibets siehe Reitmaier 2021. 217 Auf jüngere Objekte vom Schnidejoch und Lötschenpass gehe ich hier nicht ein. 218 Hafner 2015b. 219 Bei allen Datierungen handelt es sich um 2σ-Werte, also Werte mit einer Wahrschein‐ lichkeit von 94,5%. 220 Hafner 2015b, 9. 221 Hafner/ Klügl 2015. 222 Hierzu Hafner et al. 2015a, 247 ff., 280 ff. auch kulturgeschichtlich relevante Objekte freigeben. Für solche begrenzten Eisflächen wird seit Ende der 1990er Jahre der Begriff ice patch verwendet; in diesem Sinne spricht man heute mit Albert Hafner auch von einer ice patch archaeology. 215 Entsprechende Eisfelder mit archäologisch relevantem Material gibt es in den Alpen, in Süd- und Nordnorwegen, in Schweden, in den USA (Alaska und Rocky Mountains) sowie im westlichen und nördlichen Kanada. 216 4.4.14.4 Funde in Lenk am Schnidejoch (Berner Alpen) Neolithische Objekte aus ehemaligem Gletscherbzw. Eisfeldkontext sind auch von der Fundstelle Lenk am Schnidejoch in den westlichen Berner Alpen geborgen worden. 217 Dabei handelt es sich unter anderem um ein Fragment einer Schüssel aus Ulmenholz mit Henkelöse. 218 Drei Radiokar‐ bondatierungen ergaben ein Alter zwischen 4536-4346 calBC und 4526- 4327 calBC. Ein weiteres, allerdings nicht direkt anpassendes Fragment aus Ulmenholz lieferte eine Datierung von 4428-4365 calBC. 219 Damit handelt es sich bei diesem Gefäß um das älteste Holzgefäß nicht nur der Schweiz, sondern der gesamten Alpen. 220 An derselben Fundstelle am Schnidejoch sind aber auch noch andere neolithische Objekte gefunden worden, so zum Beispiel ein Bogenfutteral aus Birkenrinde, Holz und Leder. 221 Aus dem betreffenden Eisfeld konnten zudem ein vorzüglich erhaltener Eibenbogen, Pfeile sowie Pfeilfragmente, das Fragment einer Bogensehne aus verzwirn‐ ter Tiersehne sowie ein Beinling (legging) aus Leder geborgen werden. Hinzu kommt ein fragmentarischer Lederschuh mit Flicksohle. 222 Während die fünf Pfeile etwas älter als die Schüssel aus Ulmenholz sind, datieren die anderen 4.4 Hauptkategorien urgeschichtlicher Quellen 171 <?page no="172"?> 223 Hafner 2015b, 225 ff. mit Abb. 186-190. Funde in die erste Hälfte des 3. Jahrtausends, sind also noch neolithisch, aber doch erheblich jünger als die Pfeile und die beiden Schüsselfragmente. 223 Im Vorstehenden konnten nur einige wenige Beispiele jener Folgen ange‐ sprochen werden, die dem weltweiten kulturellen Erbe durch den sich immer mehr beschleunigenden Klimawandel drohen. Wie Jørgen Hollesen (2022, 1391) zu Recht betont, haben wir es hier mit einer Krise globalen Ausmaßes zu tun. Dabei ist die gegenwärtige Forschung jedoch auf Europa und Nordamerika konzentriert, sodass wir jenseits davon bisher nur sehr wenig wissen. Was sind die genauen Auswirkungen der nicht mehr zu igno‐ rierenden Klimakrise auf welches archäologische und allgemein-historische Erbe in globaler Sicht? Hollesen hebt hervor, dass der Klimawandel zwar ein weltweites Problem darstellt, »das Schicksal der globalen archäologischen Quellenbasis« aber »weitgehend von nationaler und örtlicher Aktion« abhängt. Das wiederum bedeute für jedes Land, den Klimawandel auch auf der Ebene des Kulturerbes als ein dringendes Problem ins Auge zu fassen (ebd.). 172 4 Funde und Befunde: Zur Systematik urgeschichtlicher Quellen <?page no="173"?> 1 Zur Struktur prähistorischer und historischer Quellen zuletzt Eggert 2011a/ 2023; ferner Samida 2006. 5 Die Hinterlassenschaften und ihr Aussagewert: Struktur und Kritik urgeschichtlicher Quellen 5.1 Struktur Nachdem wir uns im vorangehenden Kapitel eine Übersicht über die wich‐ tigsten Quellengruppen der Prähistorischen Archäologie verschafft haben, ist zu fragen, welche Bereiche der urgeschichtlichen Vergangenheit sie in erster Linie erhellen können. Die Antwort hat den spezifischen Charakter urgeschichtlicher Quellen zu berücksichtigen, der sich am ehesten vor dem Hintergrund der historischen Quellen im engeren Sinne, also der Schriftquellen, erschließt. 1 Die urgeschichtliche Quelle ist ihrem Wesen nach statisch. Sie vermag historische Phänomene nicht in ihrer einstigen Dynamik widerzuspiegeln, da es ihr nicht möglich ist, die Verflechtung von fortschreitender Zeit und Geschehen zum Ausdruck zu bringen. In ihrem physischen Habitus repräsentiert sie einen wie im Einzelnen auch immer beschaffenen, gewis‐ sermaßen ›erstarrten‹ Ausschnitt aus der einstigen Realität. Es bietet sich an, die urgeschichtliche Quelle in diesem Sinne mit einer Metapher aus dem Bereich der Foto- und Filmtechnik als ›materialisierte Momentaufnahme‹ zu bezeichnen. Trotz ihres statischen Quellencharakters sind urgeschichtliche Sachgüter und Befunde jedoch hinsichtlich ihrer Entstehung direkte oder indirekte Produkte historischen Geschehens: Sie sind dessen materieller Niederschlag. Es ist eines der Ziele der Archäologie, Mittel und Wege zu finden, um daraus die einstige Dynamik zu erschließen. Ganz anders steht es in dieser Hinsicht mit den Schriftquellen. Sie besitzen durch die Schrift eine fundamental andere Qualität als urgeschichtliche Quellen. Die durch Schrift vermittelte Information ist nach einem bestimm‐ ten System verschlüsselt und damit nur jenen zugänglich, die den Schlüssel kennen. Schrift ermöglicht die Darstellung auch abstrakter und komple‐ xer Sachverhalte. Durch kodifizierte Zeichen können zwischen beliebigen Inhalten beliebige Verknüpfungen einfacher wie höchst komplexer Art her‐ gestellt werden. Diese Verknüpfungen - der Quelleninhalt - sind keinerlei <?page no="174"?> zeitlichen oder räumlichen Einschränkungen unterworfen. Sie können sich sowohl auf die Zeit und den Ort, in denen die Quelle entstanden ist, als auch auf Phänomene gänzlich anderer Zeiten und Räume beziehen. Im günstigen Falle vermag die Schriftquelle also auch vergangene Dynamik recht direkt, wenngleich durchaus nicht ohne mancherlei Brechungen wiederzugeben. Eine solche verschlüsselte, aber grundsätzlich intersubjektiv lesbare In‐ formation lässt sich den urgeschichtlichen Quellen nicht ohne Weiteres entnehmen. Dennoch ist davon auszugehen, dass ein Teil dieser Quellen in seinem einstigen Kulturzusammenhang ebenfalls als Träger solcher verschlüsselter oder ›symbolischer‹ Mitteilungen fungiert hat. Man mag hier zum Beispiel an die Insignienfunktion bestimmter Kleidungs- und Trachtbestandteile denken. Die jeweilige ›Botschaft‹ solcher gleichsam als Medium symbolischer Information dienenden Sachgüter war den Zeitge‐ nossen durch ihre spezifische Erscheinungsform - also durch ihre jeweilige materielle Ausprägung - verständlich. Der dafür notwendige einstige Kul‐ tur- und Funktionszusammenhang besteht heute jedoch nicht mehr; die Botschaft dieser Quellen ist uns daher a priori auch nicht zugänglich. Die Aufhebung dieses Zusammenhangs stellt ein Wesensmerkmal urgeschicht‐ licher Quellen bzw. archäologischer Sachgüter dar. Bei jenen Sachgütern, die zugleich als Träger symbolischer Information fungierten, resultierte diese spezifische Eigenschaft nicht eigentlich aus diesen Realien selbst, sondern aus ihrem soziokulturellen Kontext. Im Hinblick auf ihren potenziellen eins‐ tigen Symbolgehalt gleichen urgeschichtliche Sachgüter nicht entzifferten Sprachen: die Botschaft ist zwar in sie eingebettet, aber sie ist uns nicht zugänglich. Urgeschichtliche Quellen sind nichtschriftliche Überreste der Vergangen‐ heit. Als genuiner Teil dieser Vergangenheit können sie darüber bestimmte Erkenntnisse liefern, die zunächst einmal den unmittelbar stofflichen Habi‐ tus der Vergangenheit betreffen. Jede Aussage, die über das rein Stoffliche der Sachgüter und Befunde hinausgeht, fällt strenggenommen bereits in den Bereich der Deutung des konkreten Überrests. Dabei ist es gleichgültig, ob die entsprechenden Aussagen sich auf ein Bronzeschwert oder einen aus Pfostenlöchern bestehenden Hausgrundriss beziehen. Sowie die Ebene des rein Stofflichen verlassen wird, haben wir es bereits mit ›sekundären‹ oder ›abgeleiteten‹ Erkenntnissen zu tun. Die Aufgabe der Archäologie liegt darin, über den durch die Sachgüter und Befunde unmittelbar zugänglichen 174 5 Die Hinterlassenschaften und ihr Aussagewert <?page no="175"?> 2 Generell zum Materiellen und Immateriellen Eggert 2003b/ 2011. 3 Sangmeister (1967, 202 ff.) lieferte hierzu mit seiner Betrachtung zur funktionalen Deu‐ tung eines Schwerts aus dem Hortfund von Apa in Siebenbürgen ein sehr anschauliches Beispiel. 4 Ebd. 200. 5 Piggott 1965, 2 Bereich des Stofflichen in den dahinterliegenden Bereich vorzudringen. 2 Dieser wesentliche ›nichtmaterielle‹ Aspekt der Quellen, ihr einstiger Kul‐ tur- und Funktionszusammenhang, ist nicht aus ihnen selbst, sondern nur über Analogien, also über Vergleiche mit dem historisch Bekannten, zu ermitteln. 3 5.2 Aussagepotenzial Das Aussagepotenzial urgeschichtlicher Quellen beruht auf zwei fundamen‐ talen Gegebenheiten. Es leitet sich zum einen direkt aus der physischen Beschaffenheit und Erscheinungsform der Quelle ab - man denke etwa an ein bronzenes Tüllenbeil oder einen hallstattzeitlichen Grabhügel mit Kammergrab. Zum anderen aber beruht das Aussagepotenzial auf dem Befund, das heißt auf dem gesamten Kontext, in den die Quelle einge‐ bettet ist. Man könnte also von einem direkten und einem indirekten Aussagezusammenhang sprechen. Urgeschichtliche Quellen sind nur in einem recht begrenzten Umfang durch den urgeschichtlichen Menschen selbst mit einer bestimmten, auf die Beeinflussung der Mit- und Nachwelt gerichteten Absicht versehen worden. Zwischen unserer Interpretation und der Entstehung der Quelle besteht gewöhnlich kein ursächlicher, durch den urgeschichtlichen Menschen absichtsvoll geschaffener Zusammenhang. In diesem Sinne hat Edward Sangmeister (1916-2016) darauf hingewiesen, dass urgeschichtliche Quellen ursprünglich nicht dazu bestimmt waren, »eine irgendwie historisch gedachte Aussage zu machen«. 4 Allerdings gilt diese Feststellung, wie sich noch zeigen wird, nicht uneingeschränkt. Soweit es sich bei diesen Quellen jedoch um konkrete Objekte im Sinne von beweglichen Sachaltertümern handelt, sind sie in ihrem einstigen Kultur‐ zusammenhang in der Regel sicherlich nicht als potenzielle historische Zeugnisse begriffen worden. Dies bewog Stuart Piggott (1910-1996) dazu, sie als unconscious evidence zu bezeichnen. 5 5.2 Aussagepotenzial 175 <?page no="176"?> 6 So z. B. Schlette (1951/ 52, 83): »Unsere Quellen haben […] gegenüber den schriftlichen Quellen einen wesentlichen Vorteil. Während jene subjektiv und zudem noch meist der Ausdruck einer herrschenden Minderheit sind, stellen die Bodenfunde völlig objektive Quellen dar.« 7 Zur Bestimmung von Monumenten als »Erinnerungszeichen« siehe Kulenkampff 1991. 8 Hierzu z.-B. Kimmig 1987; Stary 1997. In der Regel liefern urgeschichtliche Quellen aufgrund ihrer bloßen Existenz, gewissermaßen ›unbeabsichtigt‹, historische Erkenntnis. Damit besteht ein wesentlicher Unterschied zu den meisten Schriftquellen, die aufgrund einer ganzen Reihe jeweils spezifischer Faktoren gewöhnlich mehr oder weniger subjektiv oder, allgemeiner ausgedrückt, mehr oder weniger tendenziös sind. Zu diesen Faktoren gehören zum Beispiel der Anlass, der zur Entstehung der betreffenden Schriftquelle geführt hat, die Auswahl des Dargestellten durch den Darstellenden und die der Darstellung zugrunde liegende Perspektive. Im Gegensatz zu Schriftquellen, deren Subjektivität oder Tendenz durch quellenkritische Untersuchungen in jedem Einzelfalle herauszuarbeiten wäre, gelten urgeschichtliche Quellen gemeinhin als ob‐ jektiv. 6 Somit stellt man den als subjektiv verstandenen Schriftquellen gern, wie Rafael v. Uslar (1975, 6) einmal formulierte, »das stumme, aber unbestechliche archäologische Material« gegenüber. Allerdings muss man sich davor hüten, die sogenannte ›Objektivität‹ urgeschichtlicher Quellen von vornherein als allgemeingültig anzusehen. Es besteht kein Zweifel, dass manchen urgeschichtlichen Quellen in ihrem einstigen Kulturzusammenhang durchaus die Aufgabe zukam, den Zeitge‐ nossen oder der Nachwelt eine wie auch immer geartete ›historische‹ Kunde zu übermitteln. Das trifft in einem besonderen Maße für jene Quellen zu, die mit dem Grab- oder Bestattungsritus verknüpft sind. So erscheint es unmittelbar einleuchtend, dass der Überwölbung von Gräbern mit Erd- oder Steinhügeln eine bestimmte Funktion zugedacht war: Zeitgenossen und Nachgeborenen wurde damit kundgetan, dass hier ein bedeutender Toter oder vielleicht auch eine entsprechende Tote bestattet worden ist. Derartig mehr oder weniger monumentale Grabbauten dienten einst der öffentlichen kollektiven Erinnerung, waren »Erinnerungszeichen«. 7 Ein eindrucksvolles Beispiel bildet der späthallstattzeitliche Grabhügel »Magdalenenberg« bei Villingen im Nordschwarzwald mit seinem antiken Durchmesser von rund 100 m bei einer Höhe von etwa 8 m. Auch anthropomorphe Stelen, die im mitteleuropäischen Raum beispielsweise im Kontext früheisenzeitlicher Gräber auftreten, 8 dürften als Erinnerungszeichen gedient haben. Als her‐ 176 5 Die Hinterlassenschaften und ihr Aussagewert <?page no="177"?> 9 Siehe hierzu auch oben S. 113. Neben der bekannten Kriegerstatue liegen vom Glauberg Fragmente von drei weiteren Statuen vor (Bosinski/ Herrmann 1998/ 99). 10 Siehe oben, Kap. 4.1 (S. 79 ff.) 11 Hierzu auch Härke 1993 mit Rückgriff auf Mühlmanns (1938a, 108 ff.) bekannte Unter‐ scheidung von »intentionalen« und »funktionalen Daten« sowie Härke 1994; kritisch dazu Stjernquist 1994b, 258 f. 12 Siehe oben, Kap. 4.4.4 (S. 124 ff.). ausragende Beispiele können der ›Krieger‹ von Hirschlanden bei Leonberg (Zürn 1970, 53 ff.) und die in den 1990er Jahren entdeckte Statue vom Glauberg in der Wetterau (Herrmann 1997) gelten. 9 Solche Grabmonumente - Hügel und Stelen - sind also der Tradition im Sinne von Droysen und Bernheim gemäß der oben gegebenen Erläuterung zuzurechnen. 10 Das trifft auch auf die Quellengattung der Felsbilder zu, die in ihrem einstigen kulturellen Kontext vermutlich eine beträchtliche kommunikative Funktion besaßen. Im Zusammenhang mit der vorgeblichen ›Objektivität‹ der urgeschicht‐ lichen Quellen muss darauf hingewiesen werden, dass Gräbern und Horten eine Eigenschaft innewohnt, die sie von den meisten anderen Quellengat‐ tungen unterscheidet: Die Form, die Bauart und der Inhalt von Gräbern sowie der Inhalt von Horten stellen - zumindest in letzter Konsequenz - das Ergebnis von Entscheidungen der Bestattungsgemeinschaft und des bzw. der Deponierenden dar. Daher dürfen diese beiden Quellengruppen nicht von vornherein als Widerspiegelung ›objektiver Verhältnisse‹ angesehen werden. Das gilt in besonderem Maße für Gräber: Es ist durchaus nicht ohne Weiteres und häufig überhaupt nicht erkennbar, inwieweit ein Grab in seiner Gesamtheit das darin bestattete Individuum in seinem oder ihrem einstigen sozialen und materiellen Sein adäquat repräsentiert. 11 Auch der Inhalt von Horten gibt in dieser Hinsicht manche Fragen auf. So sind beispielsweise die Artefakte eines Metallhortes oft weder in ihrem Typenspektrum noch in ihrer Zeitstellung homogen. Hinzu kommt das bereits angesprochene Problem ihrer Interpretation. 12 Somit können Horte nicht vorbehaltlos als Ansammlungen von Sachgütern angesehen werden, die zum Zeitpunkt der Deponierung für die materielle Kultur der Deponierenden repräsentativ waren. Wenn es um die Objektivität und Subjektivität oder ›Tendenz‹ urge‐ schichtlicher Quellen geht, sind auch die erörterten quellengattungsspezifi‐ schen Aspekte zu berücksichtigen. Wir dürfen also festhalten, dass manche Monumente als Erinnerungszeichen und damit in der quellenkundlichen 5.2 Aussagepotenzial 177 <?page no="178"?> Bestimmung als Tradition zu werten sind. Zu dieser Einschränkung der ›Objektivität‹ treten jene besonderen Faktoren hinzu, die bei der Entstehung mancher Quellengruppen wirksam werden und diese Quellen zu Ergebnis‐ sen einer gezielten Auswahl in antiker Zeit machen. Beide Gegebenheiten widersprechen dem pauschalen Bild einer allen urgeschichtlichen Quellen innewohnenden ›Objektivität‹. Man mag im Übrigen darüber streiten, inwieweit die zuletzt genannten Quellengruppen überhaupt als ›Überreste‹ im Sinne der konventionellen Definition von Droysen und Bernheim be‐ griffen werden dürfen. Jedenfalls ist klar, dass die oben zitierte Aussage von Sangmeister eingeschränkt werden muss: Urgeschichtliche Quellen verdanken ihre Entstehung in der Regel nicht dem Zweck, ›historische‹ Kunde zu vermitteln. 5.3 Quellenaufbereitung und Quellenkritik Auch urgeschichtliche Quellen müssen, wie historische Quellen im engeren Sinne, also Schriftquellen, aufbereitet und auf ihren Erkenntniswert hin analysiert werden. Unter Aufbereitung der Quellen verstehe ich in diesem Zusammenhang all jene Prozeduren, denen sie nach ihrer Bergung unter‐ worfen werden. Dazu zählen die Reinigung, eine eventuelle Konservierung und Ergänzung, die Beschriftung, das Zeichnen und Fotografieren sowie das Klassifizieren und Beschreiben der Funde und Befunde. Die Aufberei‐ tung der archäologischen Quellen schließt mit ihrer wissenschaftlichen Veröffentlichung ab. Von der Aufbereitung der Quellen ist die Untersuchung des Quellenwerts zu trennen. Sie wird in den historischen Fächern gemeinhin als ›Quellen‐ kritik‹ bezeichnet. Wenngleich Aufbereitung und Kritik urgeschichtlicher Quellen zwei voneinander getrennte Verfahren sind, stehen sie doch in einer gewissen Beziehung zueinander. Es liegt beispielsweise auf der Hand, dass die Konservierung und Restaurierung unmittelbar, das heißt in einer mehr oder weniger handgreiflichen Art und Weise, auf die Quelle einwirken. Dadurch kann bisweilen sogar die konkrete äußere Erscheinungsform oder die innere materielle Struktur dieser Quelle verändert werden. Eine solche Veränderung wird dann erhebliche negative Konsequenzen haben, wenn sich Erkenntnisse, die aus dem ursprünglichen Zustand des entsprechenden archäologischen Objekts ableitbar gewesen wären, nach einer solchen Veränderung nicht mehr gewinnen lassen. So wirkt sich beispielsweise 178 5 Die Hinterlassenschaften und ihr Aussagewert <?page no="179"?> 13 Dass die in den Geschichtswissenschaften übliche ›Kritik des Quellentexts‹ oder kurz ›Textkritik‹ in der Archäologie der ›Kritik der Quellenüberlieferung‹ entspricht, hat schon Eggers (1950a, 51; ders. 1959, 256 f.) dargelegt. 14 Hierzu Kirn/ Leuschner 1972, 54 ff. 15 So auch Eggers 1959, 257. die Behandlung von Keramik mit Konservierungsmitteln negativ auf die nachträgliche Anwendung von chemischen Analysen des verwendeten Tons aus. Aber schon eine inadäquate zeichnerische oder fotografische Wiedergabe eines Objekts im Rahmen der Quellenaufbereitung genügt, um zu falschen Ergebnissen zu kommen. Unter systematischen Gesichtspunkten lässt sich die archäologische Ana‐ lyse des Quellenwerts in eine Äußere und in eine Innere Quellenkritik unterteilen. Bei der Äußeren Kritik handelt es sich um die Kritik der Quellenüberlieferung, bei der Inneren Kritik hingegen um die Bewertung des Erkenntnispotenzials einer Quelle, mithin um ihren inneren Wert. Diese Differenzierung ist auch in der Geschichtswissenschaft üblich. So unter‐ scheidet Kirn eine »Kritik des Textes« oder »Textkritik« - sie entspricht der archäologischen Kritik der Quellenüberlieferung 13 - und eine »Kritik der Quellenaussagen«. 14 Wie in der Archäologie, geht es bei Letzterer nicht mehr um äußere Faktoren, z. B. Echtheit, Art der Überlieferung und Vollständigkeit der Quelle, sondern um ihren Aussagewert. Es liegt in der Natur der Sache, dass zunächst die Äußere Kritik erfolgt. Nur wenn sie positiv ausfällt, setzt man sich mit dem Aussagewert der betreffenden Quelle, also der Inneren Kritik auseinander. Eggers (1950a, 51) hat den Unterschied zwischen Äußerer und Innerer Kritik in der Archäologie einmal prägnant durch die Gegenüberstellung von zwei Fragenkomplexen charakterisiert. Es gebe Fragen, so stellte er fest, die sich auf die »Zuverlässigkeit der Überlieferung einer Quelle« und solche, die sich auf die »Zuverlässigkeit der Quelle selbst« bezögen. 15 In diesem Sinne können wir die Innere Quellenkritik in der Archäologie als Kritik des Quellenwerts bezeichnen (Abb. 20). 5.3 Quellenaufbereitung und Quellenkritik 179 <?page no="180"?> Abb. 20: Äußere und Innere Quellenkritik. - Entwurf A. Mehling. 5.4 Äußere Quellenkritik (Kritik der Quellenüberlieferung) In der Archäologie betrifft die Kritik der Quellenüberlieferung all jene Angaben, die sich auf die Fundgeschichte, und zwar in erster Linie auf den Fundort und die Fundumstände beziehen. Daher ist zu prüfen, ob der Fundort, unter dem die entsprechenden Einzelstücke oder Objekte eines Ensembles geführt werden, über jeden Zweifel erhaben ist. Desgleichen muss geklärt werden, ob die mit diesen Objekten verknüpften Angaben vertrauenswürdig erscheinen. Dabei geht es beispielsweise um Angaben zur Art der Auffindung der Gegenstände, zu etwaigen Besonderheiten ihrer Anordnung oder Lagerung im Boden, zu beobachteten Verfärbungen, zu zugehörigem Leichenbrand oder unverbrannten menschlichen Knochen und dergleichen mehr. Es ist klar, dass eine solche kritische Prüfung vor allem bei Altfunden häufig nicht zu einem hinreichend befriedigenden Ergebnis führen wird. Gerade bei alten Museumsbeständen bleibt oft nur das Kriterium der inneren Stimmigkeit zwischen den Objekten und den ihnen zugeschriebenen Einzelheiten ihrer Auffindung, einschließlich des Fundortes bzw. der spezifischen Fundstelle. So kann man bei Altfunden aus Bronze in Museumssammlungen häufig bereits anhand der Patina 180 5 Die Hinterlassenschaften und ihr Aussagewert <?page no="181"?> 16 Siehe Janssen 1993; Diemer 1995. entscheiden, ob es sich dabei tatsächlich, wie der Eintrag im Inventarbuch besagt, um einen beim Baggern geborgenen Flussfund handelt oder vielmehr um einen Fund von festem Terrain, für den aus welchem Grunde auch immer eine falsche Fundstelle angegeben worden ist. Vor allem bei Objekten, die um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert aus dem lokalen oder regionalen Antiquitätenhandel erworben wurden, entsprechen die mitgelieferten Angaben erfahrungsgemäß häufig nicht den Tatsachen. Das gilt aber durchaus auch für die Gegenwart, insbesondere für jene oft sehr reichhaltigen Horte, die mit Hilfe elektronischer Metall‐ suchgeräte von Unbefugten aufgespürt, dann unsachgemäß geborgen und schließlich unter häufig fingierten Angaben zu Fundort und Fundumständen nicht nur im Kunst- und Antiquitätenhandel, sondern bisweilen (oder schließlich) sogar staatlichen Sammlungen angeboten werden. Ein besonders instruktives Beispiel bietet der südöstlich von Würzburg am Westrand des Steigerwaldes bei Uffenheim gelegene Bullenheimer Berg, in dessen Bereich mindestens 17 urnenfelderzeitliche Horte zutage gekommen sein sollen. 16 Nur ein einziger von ihnen wurde fachmännisch geborgen (Wamser 1995). Allein im Jahre 1990 sind der damaligen Prä‐ historischen (heute Archäologischen) Staatssammlung in München fünf Horte vom Bullenheimer Berg angeboten worden, darunter einer, der aus 12 Gold- und mindestens 19 Bronzegegenständen bestand (Gebhard 1990). Bei den goldenen Objekten handelt es sich um zwei längsovale, punzverzierte Goldbleche, sechs entsprechend verzierte Buckel und vier Armspiralen. Die Bronzen dieses Hortes bestehen aus Lappenbeilen, einem Tüllenbeil, einem Tüllenmeißel, einem Beitel und zwei Sicheln sowie aus massiven Arm- und Schaukelfußringen. Nach voneinander »unabhängigen Überlieferungssträngen« sollen sich die Bronzen in größerer Tiefe über den Goldobjekten befunden haben. Ein fragmentiert geborgenes Gefäß hat nach den verfügbaren Angaben als Behälter gedient, jedoch ist unklar, ob es alle oder nur einen Teil der Gegenstände - zum Beispiel nur das Gold - barg (ebd. 53 f.). Einige dieser fünf Horte des Jahres 1990 sind offenbar bald nach ihrer unsachgemäßen Bergung zunächst in verschiedene Einzelkomplexe aufgelöst worden, bevor sie dann von der Staatssammlung erworben wurden. Aus quellenkritischer Sicht liegt mit dem Hortensemble vom mainfrän‐ kischen Bullenheimer Berg ein Musterfall für den Stellenwert der Äußeren 5.4 Äußere Quellenkritik (Kritik der Quellenüberlieferung) 181 <?page no="182"?> Quellenkritik vor. Aus den diffusen Angaben, die für die meisten der dort gefundenen Horte vorliegen, muss mit detektivischem Spürsinn ein Maxi‐ mum gesicherter oder zumindest plausibler Informationen herausgefiltert werden. Dabei geht es um die Klärung bzw. Erhellung der jeweiligen Fundstellen und Fundumstände, die für die Gesamtdeutung dieser unge‐ wöhnlichen Hortkonzentration von zentraler Bedeutung sind. So hat man die Geschlossenheit des Fundkomplexes mit den Goldobjekten aufgrund der heterogenen Zeitstellung der darin enthaltenen Gegenstände in Frage gestellt. Für Rupert Gebhard (1990, 54) hingegen spricht ein an sich un‐ scheinbares Detail - Spuren von Bronzepatina auf der Schauseite eines der beiden Goldbleche - für die Geschlossenheit des Komplexes. Die Patinareste beweisen indes nur, dass das Blech mit Bronze in Kontakt gewesen sein muss, nicht aber, dass es sich dabei um eine der Bronzen dieses angeblichen Fundensembles gehandelt hat. Auch die Feststellung, vom Bullenheimer Berg sei schon ein vergleichbarer Hort (»Depot 5«) bekannt, der in der Typenzusammensetzung an den vorliegenden Fund erinnere und den beiden Goldblechen ähnelnde Goldblechfragmente mit Kreispunzenzier enthalten habe, erscheint im Gegensatz zur Meinung Gebhards nur bedingt geeignet, die Zweifel an der Geschlossenheit des Ensembles zu entkräften. Angesichts der Tatsache, dass das »Depot 5« selbst in seiner Zusammensetzung nicht über jeden Zweifel erhaben ist (Diemer 1995, 154 f.), vermag es bestenfalls ein recht schwaches Argument für die Geschlossenheit anderer fraglicher Komplexe zu liefern. Inwieweit die Angaben zu den unsachgemäß geborgenen Fundkomple‐ xen des hier exemplarisch angeführten Bullenheimer Bergs der Wahrheit entsprechen oder zumindest entsprechen könnten, muss durch eingehende Prüfung jedes einzelnen Falls geklärt werden. Insbesondere bei den fünf der Prähistorischen Staatssammlung aus dem Kunsthandel angebotenen Horten muss nicht nur die Fundzusammensetzung, sondern auch der Fundort mit Vorsicht betrachtet werden. In einem solchen Falle wird allerdings auch die eingehendste Überprüfung der zur Verfügung stehenden Informationen bestehende Zweifel kaum völlig ausräumen können. Im Zusammenhang mit der Äußeren Quellenkritik bzw. der Kritik des Quellenwerts bildet die seit langem international berühmte sogenannte ›Himmelsscheibe von Nebra‹ ein besonders gutes Beispiel. Aufgrund einer intensiven Erörterung in den Medien (Reichenberger 2004) und großen Ausstellungen (zum Beispiel Meller 2004) hat sie bis in jüngste Zeit und inzwischen weltweit für beträchtliches Aufsehen gesorgt. Sie soll 1999 zu‐ 182 5 Die Hinterlassenschaften und ihr Aussagewert <?page no="183"?> 17 Schlosser 2002; ders. 2004; ferner Gleirscher 2007; Pásztor/ Roslund 2007. 18 Siehe Meller 2002, 7 ff., 17 f.; ders. 2004a, 22 f.; ders. 2004b. 19 Hierzu auch Eggert/ Samida 2022, 228 ff. 20 Zuletzt Gebhard/ Krause 2020a; dies. 2020b; Meller/ Schefzik 2020; Pernicka et al. 2020. sammen mit zwei Bronzeschwertern, zwei bronzenen Randleistenbeilen, ei‐ nem bronzenen Knickrandmeißel und zahlreichen Fragmenten wohl zweier ebenfalls bronzener Armspiralen von zwei illegal operierenden, mit einem Metallsuchgerät ausgerüsteten Männern auf dem Mittelberg bei Nebra in Sachsen-Anhalt gefunden worden sein. Sogleich veräußert, gelangte das Ensemble erst 2002 nach einer vorgetäuschten Echtheitsprüfung in Basel unter Einschaltung der schweizerischen und deutschen Polizei an das Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle. Mir geht es hier nicht um die Interpretation der verschiedenen Goldap‐ plikationen auf der ›Himmelsscheibe‹ und damit um ihre astronomische Gesamtdeutung, 17 sondern um die Geschlossenheit des Fundkomplexes. Wie fast immer bei gesetzeswidrig und unsachgemäß geborgenen archäolo‐ gischen Funden ist der unter mancherlei Schwierigkeiten ermittelte angeb‐ liche Fundort nicht über jeden Zweifel erhaben. Das Gleiche trifft auch auf die ›Beifunde‹ und somit auf die Zusammengehörigkeit des Ensembles zu. Harald Meller legte eine Indizienkette vor, die seines Erachtens den Mittelberg als tatsächlichen Fundort und überdies die Geschlossenheit aller Gegenstände erweisen sollten. 18 Gegen diese Auffassung hat Peter Schauer (2005a; 2005b) eine Reihe gewichtiger Argumente vorgetragen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die Bronzen nicht als Geschlossener Fund betrachtet werden können und der angebliche Fundort alles andere als gesichert ist (Schauer 2005a, 327). Obwohl sich die von ihm angeführten Gründe keineswegs einfach beiseiteschieben lassen, hat meines Wissens darauf bisher weder Meller noch irgendein anderer Archäologe reagiert. Das ist umso unverständlicher, als die Auffassung Mellers nur durch eine einge‐ hende Entkräftung der Argumente Schauers zu überzeugen vermöchte. Solange dies nicht geschehen ist, wird der angeblich auf dem Mittelberg bei Nebra gefundene Bronzehort mit der ›Himmelsscheibe‹ aufgrund seiner undurchsichtigen Überlieferungsgeschichte mit einem großen Fragezeichen versehen bleiben. 19 Die Diskussion um die Authentizität des Ensembles von Nebra wird auch noch beinah 25 Jahre nach seiner Auffindung mit unveränderter Heftigkeit weitergeführt. 20 5.4 Äußere Quellenkritik (Kritik der Quellenüberlieferung) 183 <?page no="184"?> 21 Für die ›Himmelsscheibe‹ von Nebra etwa liegen nach Auffassung von Schauer (2005a, 327 mit Anm. 25) »bisher keine eindeutigen Hinweise auf ein Erzeugnis der europäi‐ schen Bronzezeit vor«. Siehe hierzu auch die in der vorigen Anmerkung genannten neuesten Arbeiten. Für die Kritik der Quellenüberlieferung lässt sich grundsätzlich festhal‐ ten, dass im Zuge einer eingehenden Prüfung des ›Fundberichts‹ in aller Regel klar wird, ob es sich bei dem vorliegenden Gegenstand oder Fund‐ komplex um einen ›gesicherten‹ Fund handelt oder nicht. Dabei ist auch eine Fälschung der Objekte selbst nicht von vornherein auszuschließen. 21 Hat die Äußere Kritik zu einem negativen Ergebnis geführt, obwohl die entsprechenden Gegenstände sich als echt erwiesen haben, liegt es nahe, anzunehmen, dass Fundort und/ oder Fundumstände auf falschen Angaben beruhen. Diese erste Ebene der Quellenkritik schließt mit einer eingehenden Bewertung aller für die Überlieferung der jeweiligen Quelle zur Verfügung stehenden Informationen ab. 5.5 Innere Quellenkritik (Kritik des Quellenwerts) Alle Fragen, die nicht die Überlieferung der Quelle - also ihren Weg vom Zeitpunkt der Bergung bis zur Auswertung - betreffen, gehören in den Bereich der Inneren Kritik. Sie zielt auf eine Einschätzung des wissenschaft‐ lichen Potenzials der betreffenden Quelle ab. Die Innere Kritik einer urgeschichtlichen Quelle setzt mit der Frage nach der Art und den Umständen ihrer Gewinnung ein. Quellengewinnung und Quellenwert stehen in einem kausalen Zusammenhang. Dies lässt sich exemplarisch mit der Gegenüberstellung eines zufällig geborgenen Oberflächenfunds mit einem Objekt zeigen, das aus einer systematischen, sorgfältigen dokumentierten Ausgrabung stammt. Bei fachgemäß ausgegra‐ benen Quellen verfügen wir nicht nur über das dabei geborgene Sachgut, sondern auch über eine eingehende Beschreibung sowie eine zeichneri‐ sche und fotografische Dokumentation des gesamten Fundzusammenhangs. Daraus lassen sich Erkenntnisse ableiten, die über jene hinausgehen, die sich lediglich aus den betreffenden Objekten selbst, also aus Aspekten wie Material und Herstellungstechnik, Form und Verzierung, ergeben. Das Erkenntnispotenzial einer solchen Quelle ist somit von grundlegend anderer Qualität als das eines kontextlosen Zufallfunds von der Oberfläche oder 184 5 Die Hinterlassenschaften und ihr Aussagewert <?page no="185"?> unsachgemäß geborgener und damit in aller Regel auch nicht hinreichend dokumentierter Fundgegenstände. Der Modus der Quellengewinnung bildet daher eine grundlegende Deter‐ minante des Quellenwerts. Aber auch die Fragestellung, zu deren Klärung die betreffende Quelle dienen soll, ist dabei von Bedeutung. Die Fragestel‐ lung wiederum ist nicht von der Quellengattung zu trennen, der die zur Verfügung stehenden Funde und Befunde zuzurechnen sind. Sie bestimmt in einem wesentlichen Maß den Bereich, über den die betreffende Quelle Erkenntnisse zu liefern vermag. So wird man Kleinfunde aus Siedlungs‐ schichten in aller Regel nicht für die Herausarbeitung von Feinchronologien verwenden. Gräber und Gräberfelder hingegen sind dafür hervorragend geeignet, stellen aber andererseits im Vergleich zu Siedlungen keine idealen Indikatoren für die Siedlungs- und Wirtschaftsstruktur einer Bevölkerung dar. Horte wiederum vermögen bisweilen oft einschlägige Erkenntnisse über bestimmte Aspekte der Wirtschaft zu liefern, und zwar vor allem jene Horte, die Brucherz, Halbfabrikate oder Fertigwaren enthalten. Je nach Fragestellung und Quellengattung mag die Geschlossenheit eines Fundkomplexes ein wichtiger Aspekt der Inneren Kritik sein. Das gemein‐ same Auftreten mehrerer Objekte in einem Geschlossenen Fund impliziert die Gleichzeitigkeit dieser Objekte im Augenblick ihrer Niederlegung. Aus dieser Gleichzeitigkeit ergeben sich bei Erfüllung des Quantitätskriteriums eine Reihe weiterer Folgerungen, die bei bestimmten Fragestellungen - z. B. für die Erarbeitung einer relativen Altersordnung der entsprechenden Funde (und eventuell auch der Befunde) - von erheblicher Bedeutung sind. Schließlich sind auch die jeweiligen Fundbzw. Auffindungsverhältnisse für die Beurteilung des Erkenntniswerts einer Quelle relevant. So wie das ur- und frühgeschichtliche Sachgut ein konkreter Bestandteil jener vergangenen Zeit ist, die wir erhellen möchten, so verweisen die aus den Auffindungsverhältnissen ableitbaren Deponierungsverhältnisse unmittel‐ 5.5 Innere Quellenkritik (Kritik des Quellenwerts) 185 <?page no="186"?> 22 Ohne dass dies hier im Einzelnen dargelegt werden kann, sei auf die Bedeutung der archäologischen Taphonomie für die Einschätzung des Quellenwerts hingewiesen. Die aus der Paläontologie entlehnte Taphonomie (griech. táphos, Grab, und nomía zu nómos, Gesetz, Grundlage) lässt sich in der Archäologie etwa als ›Lehre von der Entstehung und Veränderung von Befunden einschließlich der Einlagerung und Veränderung kulturgeschichtlich relevanter Objekte‹ bestimmen. Sie wurde in den 1970er Jahren zunächst in der Amerikanischen Archäologie vor allem auf paläolithische Befunde angewandt. Hierzu gehört aber auch die etwa gleichzeitig von Michael B. Schiffer (1976; ders. 1987) entwickelte Behavioral Archaeology mit ihrem Ziel der systematischen Analyse von »Formationsprozessen« (siehe hierzu auch unten, Kap. 8.4, S. 263 Anm. 33). - Die in diesem und im vorangehenden Kapitel angesprochene Analyse der Beziehung zwischen Auffindungs- und Niederlegungsbzw. Deponierungsverhältnissen ist Teil der Taphonomie. Zur Grundlegung einer archäologischen Taphonomie siehe Sommer 1991; ferner Wolfram 2014. bar auf diese Zeit zurück. Sie gestatten uns daher einen oft sehr direkten Blick auf das Verhalten der damaligen Menschen. 22 Die bisher genannten Aspekte der archäologischen Kritik des Quellen‐ werts beziehen sich ausnahmslos auf individuelle Quellen im Sinne eines Fundobjekts bzw. eines Komplexes solcher Objekte. Daneben gibt es aber jenen wichtigen Bereich, der die Ebene individueller Quelle überschreitet. Er umfasst die Gesamtheit aller archäologischen Quellen einer bestimmten Zeit und eines bestimmten Raums, die für die verfolgte Thematik aussage‐ fähig erscheinen. Bei der Kritik des Erkenntniswerts solcher regionaler Quellenlagen geht es im Wesentlichen um die Frage, inwieweit das Fundbild die urgeschichtliche Wirklichkeit adäquat widerspiegelt. Wenngleich diese Quellenanalyse auf regionaler Grundlage einen zentralen Teil der Inneren Quellenkritik repräsentiert, soll sie dennoch im Folgenden in einem eigenen Abschnitt erörtert werden. 5.6 Innere Quellenkritik auf regionaler Grundlage Die Bedeutung der Inneren Kritik ur- und frühgeschichtlicher Quellen auf regionaler Grundlage ist in der deutschen Ur- und Frühgeschichtswis‐ senschaft erst nach dem Zweiten Weltkrieg erkannt worden. Das war nur möglich, weil inzwischen die drei wichtigsten Quellengattungen - Gräber, Siedlungen und Horte - hinreichend analysiert und ihr besonderer Charakter bestimmt worden waren. 186 5 Die Hinterlassenschaften und ihr Aussagewert <?page no="187"?> 23 Der Beitrag von C. von Carnap-Bornheim (2001) über Eggers ist in unserem Zusam‐ menhang lediglich von biographischer Bedeutung. 24 Für eine grundlegende Kritik der auf dem römischen Import beruhenden und später von Eggers (1955) im Einzelnen dargelegten absoluten Chronologie der Römischen Kaiserzeit konsultiere man Kunow 1983, 11 f., 15 ff. 5.6.1 H. J. Eggers Die entscheidenden Impulse für die Innere Quellenkritik auf regionaler Grundlage lieferte Hans Jürgen Eggers, der sich seit der zweiten Hälfte der 1930 Jahre als Erster umfassend mit Fragen der räumlichen Verbreitung archäologischer Quellen und der Interpretation ihres kartographischen Niederschlags beschäftigte (z. B. Eggers 1939). 23 Das Fach verdankt ihm zahlreiche grundlegende Studien zu dieser Problematik. So veröffentlichte er im Jahre 1951 eine Monographie über den römischen Import im Freien Germanien, die mit ihrer »großen Gesamtkarte« und ihren 64 Einzelkarten einen Meilenstein in der Erforschung der Römischen Kaiserzeit darstellt. Eggers (1951, 11) ging es dabei vor allem um zwei Ziele: Die nach Germanien importierten römischen Güter sollten zum einen »als Quelle zur Geschichte des römisch-germanischen Handels« und zum anderen »als Schlüssel zur absoluten Chronologie des freien Germaniens« dienen. Nach einhelligem Urteil hat er diese beiden Ziele seinerzeit erreicht. 24 Aber die Bedeutung seiner Monographie erschöpft sich nicht in ihrem Rang als ein Standardwerk zur Römischen Kaiserzeit. Sie stellt daneben eine bis heute grundlegende Einführung in einige zentrale Bereiche der archäologischen Quellenkritik dar. Die darin systematisch entwickelten und am Beispiel der Verbreitung bestimmter Importgüter konkret erörterten quellenkritischen Prinzipien betreffen die Innere Kritik, also den Erkenntniswert archäologischer Quel‐ len. Dabei hat sich Eggers besonders der Frage angenommen, inwieweit das heutige Verbreitungsbild archäologischer Phänomene der einstigen Wirklichkeit entsprechen könnte. Es ging ihm also um eine Kritik des Quellenwerts auf regionaler Basis, und daher spielten dabei jene Faktoren eine entscheidende Rolle, die die Intensität, die Art und Weise sowie die Bedingungen der Quellengewinnung und Quellenerschließung betrafen. Fragen der neuzeitlichen wirtschaftlichen Nutzung einer Region standen somit neben solchen nach dem Vorhandensein einer systematischen, insti‐ tutionalisierten archäologischen Forschung (Bodendenkmalpflege, Landes‐ aufnahme); zugleich war der Stand der Bearbeitung der bereits geborgenen 5.6 Innere Quellenkritik auf regionaler Grundlage 187 <?page no="188"?> 25 Es überrascht, dass Eggers dieses Dreistufenmodell nur in einer sehr allgemeinen, gegenüber dem ursprünglichen Anliegen stark reduzierten bzw. veränderten Form in seine Einführung übernommen hat (Eggers 1959, 258 ff.). 26 Eggers (1951, 24) schreibt in diesem Zusammenhang, dass dem heutigen Forscher nur die 3. Stufe, also die »wiederentdeckte Kultur« als Quelle für seine Untersuchungen zur Verfügung stehe. Er fährt dann fort: »Es ist seine Aufgabe, zunächst unter Berück‐ sichtigung des Forschungs- und Bearbeitungsstandes die 2. Stufe zu erfassen, um über eine Analyse der toten zu einer Rekonstruktion der lebenden Kultur und damit zur 1. Stufe vorzudringen. Dieses Endziel muß dem Archäologen immer vor Augen stehen, auch wenn er sich dessen bewußt ist, daß er es nur selten erreichen wird.« archäologischen Quellen einer Region nicht weniger relevant als der ihrer Veröffentlichung. Um einen analytischen Zugang zur Beurteilung des Verhältnisses von heutigem Verbreitungsbild und einstiger Wirklichkeit zu bekommen, hat Eggers (1951, 24) sein bekanntes Dreistufenmodell der Kultur entwickelt: 1. Stufe: die lebende Kultur, das heißt die Gesamtheit jener Kultur, um deren Erforschung sich die Archäologie bemüht. 2. Stufe: die tote Kultur, das heißt jene Teile der lebenden Kultur, die zwar im bzw. über dem Erdboden oder im Wasser überliefert, jedoch noch nicht ausgegraben bzw. aufgefunden worden sind. 3. Stufe: die wiederentdeckte Kultur, das heißt jene Teile der toten, also der überlieferten Kultur, die ausgegraben oder sonst wie geborgen worden sind, und die damit für die archäologische Auswertung zur Verfügung stehen. 25 Dieses Modell schlägt also einen Bogen von der Fülle der einstigen zur uns fassbaren, gleichsam ›skelettierten‹, archäologischen Kultur. Es muss demnach das Ziel archäologischer Forschung sein, auf der Basis der »wie‐ derentdeckten Kultur« zu einer angemessenen Einschätzung der »toten Kultur« zu gelangen. Aus einer Synthese beider müsste dann ein Bild der ur- und frühgeschichtlichen Vergangenheit herausgearbeitet werden, das der »lebenden Kultur« nahekommt - soweit dies auf der Basis des Sachguts und seines Kontexts möglich ist. 26 Dass dieses Bild aufgrund der mannig‐ fachen, bereits in ur- und frühgeschichtlicher Zeit auf die Überlieferung der materiellen Kultur negativ einwirkenden Faktoren notwendigerweise reduziert sein muss, versteht sich von selbst. Gerade Eggers war sich darüber im Klaren, dass der Archäologie aufgrund der besonderen Natur ihrer Quellen bei der Rekonstruktion der »lebenden Kultur« von vornherein enge Grenzen gesetzt sind. Die archäologische Quellenbasis eignet sich nun einmal nicht für die Erarbeitung einer umfassenden ›Ethnographie‹ ur- und 188 5 Die Hinterlassenschaften und ihr Aussagewert <?page no="189"?> 27 Unter »Bearbeitungsstand« verstand Eggers (1951, 13) »das Material, das bereits in Büchern und Zeitschriften publiziert wurde.« 28 Die hier vorgeschlagene Differenzierung zwischen ›Bearbeitungs-‹ und ›Publikations‐ stand‹ findet sich in etwas abweichendem Sinne auch bei Kunow (1983, 11); er versteht frühgeschichtlicher Bevölkerungen im Sinne einer modernen ethnographi‐ schen Studie. Bei der Inneren Kritik der Quellen auf regionaler Basis müssen wir drei wichtige Begriffe einführen, die unterschiedliche, wenngleich zusam‐ menhängende Ebenen der Quellenerfassung repräsentieren. Zwei dieser Begriffe - Forschungsstand und Bearbeitungsstand - sind bereits von Eggers (1951, 13 ff.) vorgeschlagen und am Beispiel des römischen Imports erörtert worden. Sie sollten durch einen dritten Begriff - Publikationsstand - ergänzt werden. Damit ergibt sich gegenüber Eggers eine Verschiebung der inhaltli‐ chen Bestimmung des Begriffs ›Bearbeitungsstand‹. Die drei Begriffe lassen sich folgendermaßen definieren: (1) Forschungsstand: Hierunter werden der Grad, der Charakter und die Bedingun‐ gen der Quellengewinnung verstanden. Dabei meint ›Grad‹ eine Einschätzung des Maßes oder Umfangs der bereits zur Verfügung stehenden archäologischen Quellen; ›Charakter‹ hingegen steht für die Art und Weise, unter der sich die Quellengewinnung vollzogen hat. Dabei interessiert insbesondere, ob es sich wesentlich um eine eher zufällige, weitgehend auf die Privatinitiative von Sammlern und Laien gegründete oder um eine systematische, institutionalisierte Forschung (Bodendenkmalpflege, Landesaufnahme) handelte. Unter ›Bedingun‐ gen‹ der Quellengewinnung verstehe ich die Umstände der Feldforschungspraxis, die sich zwischen den Polen ›Notbergung‹ und ›Plan-‹ bzw. ›Forschungsgrabung‹ bewegen. Zu diesen ›Bedingungen‹ gehört zum Beispiel auch ein hoher Fundan‐ fall als Folge großangelegter industrieller Eingriffe in die Landschaft - etwa durch Bims- oder Braunkohle-Tagebau. (2) Bearbeitungsstand: 27 Dieser Begriff bezeichnet den Grad und den Charakter der Aufarbeitung der ur- und frühgeschichtlichen Quellen einer Region. Unter ›Charakter‹ verstehe ich dabei die Art und Weise der Bearbeitung, das heißt ob es sich um eine reine Quellenvorlage oder um eine mehr oder weniger breit angelegte Auswertung handelt. Der Bearbeitungsstand ist so lange nicht mit dem Publikationsstand identisch, wie es Quellenkomplexe gibt, die zwar bereits umfassend bearbeitet, aber noch nicht veröffentlicht sind. (3) Publikationsstand: 28 Dieser Begriff steht für den Grad und den Charakter der Veröffentlichung der ur- und frühgeschichtlichen Quellen einer Region. Der 5.6 Innere Quellenkritik auf regionaler Grundlage 189 <?page no="190"?> unter ›Bearbeitungsstand‹ über reine Materialvorlagen hinausgehende, veröffentlichte Auswertungen archäologischer Quellen (siehe auch ders. 1991, 839: »veröffentlichte Kultur«). 29 Konkret geht es hier um einst in der ›lebenden‹ Kultur vorhandene Selektionsmechanis‐ men, die zu einer quellengattungsspezifischen Deponierung bestimmter Objektgruppen geführt haben. Zu den »Filtern«, die die Quellengattungen der Gräber, Horte und Siedlungen bilden, im Einzelnen erstmals Eggers 1939, 3 ff., bes. 6; ferner ders. 1951, 26 ff.; ders. 1959, 264 ff. ›Charakter‹ des Publikationsstands entspricht inhaltlich insofern dem des Bear‐ beitungsstands, als er sich auf Art und Umfang der zur Diskussion stehenden Ver‐ öffentlichungen bezieht und somit zugleich den Charakter der Bearbeitung mit einschließt. Häufig werden die Veröffentlichungen bestimmter Quellenkomplexe einen eher vorläufigen Charakter aufweisen. So machte Jürgen Kunow (1983, 9) darauf aufmerksam, dass der Publikationsstand bei Neufunden von römischen Importen im Gebiet der Germania libera sehr hoch sei, da die Importfunde von neu ausgegrabenen Gräberfeldern gewöhnlich sehr schnell und damit lange vor der eingehenden Bearbeitung und Veröffentlichung der entsprechenden Nekropolen in Vorberichten publiziert würden. Der Idealfall wäre natürlich eine umfassende Bearbeitung und Veröffentlichung und somit eine Identität von Bearbeitungs- und Publikationsstand auf hohem Niveau. Die Aufgabe einer Kritik des Quellenwerts auf regionaler Basis besteht zunächst darin, den Grad der Übereinstimmung von Forschungsstand, Bearbeitungsstand und Publikationsstand festzustellen. Damit gewinnt man eine Einschätzung jenes Teils der wiederentdeckten Kultur, der für eine wissenschaftliche Auswertung tatsächlich zur Verfügung steht. Sodann gilt es zu untersuchen, inwieweit die zur Verfügung stehenden Realien durch das bevorzugte Auftreten bestimmter Kleinaltertümer in jeweils spezifischen Quellengattungen ›gefiltert‹ sind. 29 Tritt beispielsweise eine Klasse von Objekten in einem Gebiet nur in Horten auf, in einem Nachbargebiet hingegen in Gräbern, wird man zunächst einmal prüfen müssen, ob aus diesem Nachbargebiet überhaupt Hortfunde vorliegen. Gibt es Horte, so fällt ›Hortmangel‹ als Erklärung für das Fehlen des entsprechenden Sachguts aus. Genauso wird zu prüfen sein, wie es mit zeitgleichen Gräbern im ersten Gebiet steht. Sind sie vorhanden, spricht sehr viel dafür, dass wir es in den zur Diskussion stehenden Regionen mit unterschiedlichen Grab- und Hortsitten zu tun haben. Nicht irgendwelche sekundären Faktoren wie etwa die unterschiedlichen Auffindungsbedingungen der verschiedenen Quellen‐ 190 5 Die Hinterlassenschaften und ihr Aussagewert <?page no="191"?> 30 Für den römischen Import der Bronze- und Glasgefäße ist dies unter Rückgriff auf Eggers’ »tote« und »lebende Kultur« exemplarisch von Kunow (1983, 31 ff.) mit der Gegenüberstellung von »Grabfunden« und »Nichtgrabfunden« durchgeführt worden. 31 Eggers war in diesem Zusammenhang immer um eine allgemeine quantitative und qua‐ litative Einschätzung des Verhältnisses zwischen wiederentdeckter, toter und lebender Kultur bemüht. Siehe hierzu insbesondere seine Ausführungen zum römischen Import während der Jüngeren Kaiserzeit (Eggers 1951, 54 ff.). Sehr wichtig sind ferner die Darlegungen von Kunow (1983, 33, 107 ff.), der in diesem Kontext auch auf die Frage der Bedeutung einer möglichen geschlechtsspezifischen Differenzierung des Imports eingeht. Darüber hinaus erörtert er grundlegende Aspekte der wirtschaftlich-sozialen Verhältnisse und der mehr oder minder direkten Interaktion von Germanen und Römern anhand des römisch-germanischen Handels (ebd. 41 ff.), der Funktion von Bronzegeschirr im Römischen Reich und im Freien Germanien (ebd. 69 ff.) sowie der Zahl von Importgütern in Gräbern (ebd. 99 ff.). gattungen hätten folglich die jeweiligen Fundbilder bewirkt, sondern das Deponierungsverhalten der damaligen Menschen. Schwieriger ist die Lage, wenn ein Fundbild in erster Linie durch eine einzige Quellengruppe bestimmt wird. Das gilt beispielsweise für den römi‐ schen Import, dessen Gesamtverbreitung vor allem von seinem Auftreten in Gräbern abhängt. In solchen Fällen wird die von Eggers herausgestellte Tatsache wichtig, dass Grabbeigaben das Ergebnis einer positiven Auslese durch die Bestattungsgemeinschaft sind, Siedlungsfunde bilden hingegen eine negative Auslese aus der materiellen Kultur des einstigen Alltags. Sie seien daher vorzüglich für eine Gegenprobe geeignet. Sind also Siedlungen vorhanden, wird man sie in diesem Sinne nutzen, ohne dabei allerdings jene einschränkenden Faktoren zu vernachlässigen, die dieser Quellengruppe innewohnen. 30 Entsprechend wird man beispielsweise mit Horten oder mit Flussfunden verfahren. Die so relativierte 3. Stufe des Kulturmodells von Eggers, die wiederent‐ deckte Kultur, muss nun zur 2. Stufe, der nur hypothetisch bestimmbaren toten Kultur, in Beziehung gesetzt und der Grad ihrer mutmaßlichen Übereinstimmung erörtert werden. Das ist allerdings schwierig, denn mit der Frage, was noch alles im Boden stecken mag, verlassen wir den Bereich des Faktischen. Hier sind wir ganz auf mehr oder weniger gut abgesicherte Analogieschlüsse, auf Plausibilitätserwägungen und auf Indizienbeweise angewiesen. Dies gilt in einem noch stärkeren Maße für den Versuch, mit Eg‐ gers über die durch konkrete Verbreitungsbilder - also die wiederentdeckte Kultur - erschlossene hypothetische tote Kultur zu einer Einschätzung der einstigen lebenden Kultur vorzudringen. 31 5.6 Innere Quellenkritik auf regionaler Grundlage 191 <?page no="192"?> 32 Hier ist auch auf die Anwendung des Eggers’schen Dreistufenmodells auf die Fundkar‐ ten einer archäologischen Landesaufnahme hinzuweisen, die sein Schüler Claus Ahrens (1925-1998) vorgenommen hat (Ahrens 1966, 11 ff.). 33 Ausführliche quellenkritische Einlassungen, wie sie etwa Wilhelm Albert von Brunn (1911-1988) (v. Brunn 1959, 1 ff.) oder Helmut Geißlinger (1967, 20 ff.) vorgelegt haben, sind außerordentlich selten. Siehe in diesem Zusammenhang auch die eingehende »siedlungsarchäologische Quellenkritik« von Wolfgang Schier 1990, 40 ff. Angesichts der Tatsache, dass sich allein die dritte Ebene, die wiederent‐ deckte Kultur, klar und eindeutig bestimmen lässt, wird die Beurteilung des gegenseitigen Verhältnisses der drei Kulturebenen meist recht spekulativ bleiben. Die Arbeiten von Eggers und die den Römischen Import weiterfüh‐ rende Dissertation von Kunow zeigen jedoch, dass das Dreistufenmodell der Kultur trotz dieser Schwierigkeiten ein heuristisch fruchtbares Instrument der Inneren Quellenkritik ist. 32 Ungeachtet zahlreicher nach wie vor bestehender und zweifellos auch bleibender Schwierigkeiten bei der Beurteilung archäologischer Quellen darf man zusammenfassend feststellen, dass Eggers als der Begründer einer systematischen archäologischen Quellenkritik gelten kann. Er hat in seinen Arbeiten fundamentale Beiträge zu einem umfassenden Verständnis der Na‐ tur archäologischer Quellen und damit zu den Grundlagen archäologischer Erkenntnis geliefert. Heute sind die wesentlichen Bestandteile der von ihm entwickelten und systematisch praktizierten Quellenanalyse Gemeingut der ur- und frühgeschichtlichen Forschung. 5.6.2 W. Torbrügge Die Grundlegung der archäologischen Quellenkritik durch Eggers ist, wie gesagt, inzwischen tief im Fach verankert. Häufig ist man sich nicht einmal mehr bewusst, dass viele ihrer substanziellen Elemente - man denke nur an das Konzept des den archäologischen Quellen inhärenten ›Filters‹ - auf ihn zurückgehen. Natürlich gab es und gibt es im Rahmen von konkreten Bearbeitungen archäologischen Materials immer wieder bedenkenswerte, gelegentlich auch über den Anlass hinausweisende quellenkritische Über‐ legungen einzelner Archäologinnen bzw. Archäologen. Meist aber handelt es sich dabei um eher begrenzte Erwägungen, die eben auf die Klärung einer bestimmten Fragestellung und nicht auf eine systematische Fundierung oder Erweiterung archäologischer Quellenkritik abzielen - wie bedeutungsvoll sie auch immer in diesem Zusammenhang sein mögen. 33 Soweit ich sehe, gibt 192 5 Die Hinterlassenschaften und ihr Aussagewert <?page no="193"?> 34 In diesem Zusammenhang ist ein biographisches Detail von Interesse: Torbrügge ist als junger Student der Germanistik an der Universität Hamburg durch die Begegnung mit Eggers und Willi Wegewitz (1898-1996) zu einem Studienfachwechsel veranlasst worden. Schauer (1994, 9) zufolge hat er gern Eggers und nicht seinen Doktorvater Joachim Werner als seinen »eigentlichen Lehrer« bezeichnet. 35 Dieses und alle folgenden Zitate stammen, soweit nicht anders vermerkt, aus Torbrügge 1958. es außer Walter Torbrügge (1923-1994) niemanden, der sich wie Eggers um eine Grundlegung bzw. Verbesserung archäologischer Quellenkritik bemüht hat. 34 Torbrügge hat sich bereits in seiner Dissertation über die Bronzezeit in der Oberpfalz intensiv mit Fragen der Quellenkritik auseinandergesetzt. Die wichtigsten Überlegungen und Ergebnisse sind seinerzeit von ihm in einem Aufsatz vorab veröffentlicht (Torbrügge 1958) und dann in ausführlicher Form in der gedruckten Fassung der Dissertation vorgelegt worden (ders. 1959a, 19 ff.). Grundlegende quellenkritische Betrachtungen waren auch ein integraler Bestandteil aller späteren Arbeiten. Ebenso wie Eggers ging es ihm um eine Quellenkritik auf regionaler Basis, wenngleich die von ihm gewählten Regionen meist sehr klein waren. Das ergab sich jedoch keineswegs aus seinem speziellen Arbeitsgebiet, der Oberpfalz mit ihren verschiedenen Landschafts-, Wirtschafts- und Klimaräumen (Oberpfälzer Wald, Vorderer Bayerischer Wald, Donauebene, Niederbayerisches Hügel‐ land, Fränkische Alb). Die Konzentration auf den Kleinraum resultierte vielmehr aus der Überlegung, dass eine Betrachtung von Großräumen nur Erscheinungen festzustellen vermag, deren Herausbildung durch Faktoren bedingt ist, die auf der Ebene des Kleinraums wirksam werden. Somit registriert eine Beurteilung von Großräumen nach Torbrügge (1959a, 48) »im Grunde nur Folgeerscheinungen, deren wirkliche Ursachen sie nicht kennt und demzufolge auch nicht würdigen kann«. Selbst wenn sich die gleichen Erscheinungen in verschiedenen Gebieten ständig wiederholten, wäre damit keine »prähistorische Regel« aufgedeckt, sondern nur bestätigt, dass »historische, geographische oder ökonomische Parallelen das Fundbild in den fraglichen Gebieten auf immer gleiche Weise verzerren«. Aus dieser methodischen Voraussetzung folgte zwingend, dass Torbrügge seine Arbeiten auf die detaillierte Analyse meist kleinräumiger »Fundland‐ schaften« 35 konzentrierte. Die Grundlage dieser Analysen bildeten einerseits die spezifischen neuzeitlichen naturräumlich-wirtschaftlichen Gegebenhei‐ ten, andererseits »die Prüfung der lokalen Forschungsgeschichte«. Diese 5.6 Innere Quellenkritik auf regionaler Grundlage 193 <?page no="194"?> 36 Dazu Torbrügge (1965, 79 f.): »Für das einzelne Fundstück verlangt man genaue Angaben über seine Entdeckung, aber selten genug wird diese Forderung für ganze Typengruppen gestellt, obwohl ihr Fundbild sich allein aus der Summe aller Einzel‐ fälle erklärt. Dies ist für die Bewertung der prähistorischen Region außerordentlich bedeutsam, weil sie sich ebenso durch eigentümliche Quellengattungen wie durch eigentümlichen Sachbesitz auszeichnen kann.« systematische Einbeziehung »einer Quellenuntersuchung aufgrund lokaler Bezüge« erwies sich als eminent fruchtbar: Es zeigte sich immer wieder, dass das »gegenwärtige Fundbild« durch forschungsgeschichtliche Faktoren in Form spezifischer »Forschungsregionen« von Altertumsvereinen und einzelnen Personen, von »Ausbeutungslandschaften« und »Raubzonen« ausschließlich kommerziell interessierter Grabräuber bedingt war. Dies alles ging insbesondere auf die zweite Hälfte des 19.-Jahrhunderts zurück. Torbrügge interessierte die Frage, was sich hinter dem uns entgegentre‐ tenden Verbreitungsbild archäologischer Erscheinungen verbirgt. Es war sein zentrales Anliegen, herauszuarbeiten, inwieweit dieses Verbreitungs‐ bild durch historische und geologische Faktoren in den verschiedenen Kleinräumen verzerrt wird. Damit stellte sich zugleich die Frage, in welchem Grade die entsprechenden Fundbilder auf genuine, das heißt in der einstigen Kultur selbst liegende Faktoren zurückzuführen sind. Er suchte den »Regel‐ gesetzen« der jeweiligen ur- und frühgeschichtlichen Phänomene bzw. den »Regelbeziehungen zwischen Landschaft, Lokalgeschichte und Fundanfall« auf die Spur zu kommen und hat zu Recht beklagt, dass die Bedeutung von Quellenanalysen auf regionaler Grundlage noch Mitte der 1960er Jahre im Fach kaum erkannt war. 36 Aus den quellenkritisch bedeutenden Arbeiten Torbrügges ragt nicht zuletzt seine kritische Auseinandersetzung mit der Monographie Hermann Müller-Karpes (1961) über die urnenfelderzeitlichen Vollgriffschwerter in Bayern heraus (Torbrügge 1965). Diese ursprünglich als Rezension gedachte, dann aber zu einer umfassenden Untersuchung erweiterte Abhandlung kann geradezu als Inkarnation der Inneren Quellenkritik gelten. Nie zuvor ist die quellenkritische Analyse einer spezifischen Denkmälergruppe so konsequent, so systematisch und so breit angelegt durchgeführt worden wie in dieser Arbeit. Ausgangspunkt auch dieser Analyse war die Konzentration auf die regio‐ nale Fundlandschaft. In diesem besonderen Fall lag der Untersuchung vor allem die empirisch gewonnene Einsicht zugrunde, dass eine urgeschichtli‐ che Region sich »ebenso durch eigentümliche Quellengattungen wie durch 194 5 Die Hinterlassenschaften und ihr Aussagewert <?page no="195"?> eigentümlichen Sachbesitz« auszeichnen könne (Torbrügge 1965, 80, hierzu auch oben, Anm. 36): im slowakischen Raum gebe es beispielsweise mehr ur‐ nenfelderzeitliche Horte als Grabfunde, in Bayern verhalte es sich hingegen umgekehrt. Andererseits ständen in der Denkmälerstatistik der Urnenfel‐ derzeit Bayerns die Fluss- und Moorfunde an zweiter Stelle, während für die Urnenfelderzeit der Schweiz nur die Uferbereiche der Seen von Belang seien. Auf diese Weise werde der »prähistorische Besitzstand« schon durch die Deponierungsarten ungleichmäßig vorgesiebt. Darüber hinaus gebe es bisweilen eine »Regelbindung« zwischen Artefakttyp und Quellengattung in dem Sinne, dass beispielsweise Vollgriffschwerter vom Typ Liptau in erster Linie in den oberungarisch-slowakischen Waffenhorten aufträten (ebd. 80 f.). Gerade der so veranschaulichten »Regelbeziehung zwischen Typus und Fundart« (ebd. 97) kommt - wie Torbrügge in einer Reihe von Arbeiten eindrucksvoll gezeigt hat - eine besondere Bedeutung zu, da sie urgeschichtliche »Verhaltensweisen als Ursachen für die Güterdeponierung sichtbar machen« (ebd. 79). Das setzt einschlägige »regionale Gegenpro‐ ben« voraus (ebd. 87 ff.), die sicherzustellen haben, dass das entsprechende Fundbild nicht durch forschungsgeschichtliche oder wirtschaftsspezifische neuzeitliche Faktoren bedingt ist. Somit gilt grundsätzlich, niemals »dem optischen Schein der Kartenoberfläche« (ebd. 91) zu vertrauen und »die einfache geographische Projektion antiquarischer Systeme« - also den kartographischen Niederschlag unserer Fund- und Befundklassifikation - »als echte Spiegelung prähistorischer Verhältnisse« anzusehen (ebd. 101). Torbrügges (1965) Abhandlung über die urnenfelderzeitlichen Vollgriff‐ schwerter demonstriert in reichem Maße, wie sich hinter den »kartographi‐ schen Oberflächenbildern« (ebd. 101) durch souveräne Beherrschung von Methode und Material »Gesittungs-« oder »Brauchtumskreise« (ebd. 97) zu erkennen geben. Sie erschließen sich durch solide antiquarisch-chrono‐ logische Analysen sowie durch das chorologische Wechselspiel zwischen quellen- und typspezifischer ›Probe‹ auf der einen und sachgerechter Gegenprobe auf der anderen Seite. Die mannigfachen Beiträge Torbrügges zu einer Verfeinerung der archäo‐ logischen Quellenkritik kulminierten in seiner bis heute grundlegenden Abhandlung über Flussfunde (1970/ 71). Da diese Quellengattung bereits im vorangehenden Kapitel angesprochen worden ist, können wir uns hier auf einige wenige Bemerkungen zu den quellenkritischen Aspekten beschränken. Die Untersuchung ist auf die einsichtige Prämisse gegründet, dass sich eine Entscheidung der Frage, ob diese Objekte absichtlich oder 5.6 Innere Quellenkritik auf regionaler Grundlage 195 <?page no="196"?> 37 Hierzu Torbrügge 1970/ 71, 28, 31 f. mit Beil. 18. unbeabsichtigt in den Fluss geraten sind, auf »Gruppenbewertungen« stüt‐ zen müsse. Somit müssten für den Nachweis absichtlicher Versenkung »Regelerscheinungen von einiger Meßbarkeit« fassbar sein oder anders ausgedrückt: »Orte und Dinge« müssen »in regelhafter Beziehung stehen«. Es gilt daher, die Quellengattung nach Kriterien zu analysieren, die sich (1) auf die Region, (2) auf die chronologische Staffelung und (3) auf die einstige Funktion der aus dem Fluss geborgenen Objekte beziehen. Mit ihrer Hilfe sollen und - wie sich dann im Zuge der Untersuchung gezeigt hat - können »Gruppenmodelle« herausgearbeitet werden, die deutlich einige »Grundregeln zur Versenkung« erkennen lassen (ebd. 6). Das von Torbrügge (1970/ 71) praktizierte operative Vorgehen beruhte wiederum auf dem heuristischen Prinzip der »Proben und Gegenproben« (ebd. 3; 9). Die Gegenproben dürfen im Übrigen - wie bereits im voran‐ gehenden Kapitel angesprochen - keineswegs auf Flüsse und Flussfunde beschränkt bleiben. Ihre Aussagekraft gründet sich vielmehr gerade auf den Kontrast, den sie in Bezug auf die ›Fluss-‹ und ›Flussfundproben‹ zu bieten vermögen. So erscheint die Tatsache, dass urnenfelderzeitliche Bronzeschilde in bestimmten Gegenden nur in Mooren gefunden wurden, in einem anderen Licht, wenn dieser Regelbefund mit quellengattungsspezifi‐ schen Gegenproben kontrastiert wird. Dabei stellt sich heraus, dass solche Schilde so gut wie nie in Gräbern und Horten, in bestimmten Regionen aber vorwiegend in Flüssen gefunden werden. 37 Torbrügges Schluss, dass hinter solchen »regelhaften Fundartverbindungen« feste Verhaltensweisen oder »regional gebundene Absichten« stehen, ist naheliegend (ebd. 31). Torbrügge (1970/ 71) liefert viele Beispiele für die heuristische Bedeutung von Gegenproben oder Gegenkontrollen auf der Basis der Deponierungsart. So lassen sich bisweilen »Versenkungslandschaften« (ebd. 35) herausarbei‐ ten, die dann als »regelrechte Flußfundregionen« jenen Gebieten gegen‐ überstehen, die »ausgesprochene Grab- und Hortprovinzen« bilden (ebd. 28). Genauso wichtig sind auch Proben und Gegenproben, bei denen ver‐ schiedene Objektgruppen (etwa Schwerter und Nadeln, Ringschmuck und Helme) oder Lokalitäten (z. B. Fluss und Ufer, Moor und Fluss, festes Land und feuchtes Milieu) miteinander kontrastiert werden. Schließlich gilt auch für Flussfunde, dass die wirtschaftliche Erschließung der Flüsse eine ebenso große Rolle spielt wie bei anderen Quellengattungen. Bei sachgerechter Einschätzung dieses Faktors, der hier vor allem durch die Instandhaltung 196 5 Die Hinterlassenschaften und ihr Aussagewert <?page no="197"?> der Wasserwege, das heißt durch Fahrrinnenausbaggerung, sowie durch Kraftwerksbau zur Geltung kommt, lassen sich systematische Gegenproben gewinnbringend einsetzen. Zieht man die Summe aus Torbrügges Untersuchung der Quellengattung der Flussfunde, wird deutlich, dass das von ihm seit der zweiten Hälfte der 1950er Jahre entwickelte quellenkritische Instrumentarium sich auch hier bewährt hat. Es bedurfte für diese Gattung insofern einer gewissen Modi‐ fizierung, als dabei nicht Geschlossene Funde und differenzierte Befunde verschiedenster Quellengattungen eines Kleinraums, sondern mehr oder weniger isolierte und weiträumig verbreitete Objekte im Zentrum des Inter‐ esses standen. Nach wie vor bildet diese Abhandlung eine unerschöpfliche Inspirationsquelle, und zwar nicht nur für die »Ordnung und Bestimmung einer Denkmälergruppe«, wie es im Untertitel bescheiden heißt, sondern auch als ein über die Quellenkritik hinausweisendes Werk ersten Ranges. Anhand der hier exemplarisch resümierten quellenkritischen Arbeiten Torbrügges wird deutlich, dass er die von Eggers entwickelten Grundlinien einer systematischen Analyse des archäologischen Fundbilds in einem ganz erheblichen Maße verfeinert und perfektioniert hat. Seine Arbeiten besitzen Modellcharakter, und zwar durchaus nicht nur jene, die er der Frage der Entstehung des uns geläufigen archäologischen Fundbilds - der »antiquari‐ schen Oberfläche«, wie er gern sagte (z. B. Torbrügge 1970/ 71, 39) - widmete. Welchem Thema er sich auch zuwandte, er verband damit zumeist eine umfassende und konsequent praktizierte Quellenkritik. Diese Fallstudien quellenkritischer Befund- und Fundanalyse sind zudem in didaktischer Hinsicht vorbildlich: Die graphische Umsetzung und Veranschaulichung der jeweils behandelten Problematik scheint mir unübertroffen. Auch in dieser Hinsicht, also in der Wahl der illustrativen Mittel - Karte und Diagramm - und ihrer jeweiligen Gestaltung, kann Torbrügge nicht nur als konsequenter Nachfolger von Eggers, sondern als Vollender der von Eggers in Angriff genommenen quellenkritischen Grundlegung der Prähistorischen Archäologie gelten. 5.6 Innere Quellenkritik auf regionaler Grundlage 197 <?page no="199"?> 1 Sokal 1974, 1116. 6 Über das Ordnen archäologischen Materials: Klassifikation zwischen Notwendigkeit und Selbstzweck 6.1 Archäologie und Klassifikation Wie alle Wissenschaften kommt auch die Ur- und Frühgeschichtliche Archäologie nicht ohne eine mehr oder weniger detaillierte Ordnung der von ihr behandelten Phänomene aus. Diese Ordnung oder ›Klassifikation‹ des archäologischen Materials ist eine notwendige Voraussetzung für seine wissenschaftliche Bearbeitung. Es handelt sich beim Vorgang des Klassi‐ fizierens um eine Aufbereitung des Materials in dem Sinne, dass etwas wesentlich Unstrukturiertes in etwas wesentlich Strukturiertes verwandelt wird. Erst mit der Klassifizierung gewinnen die Archäologin und der Archäologe eine adäquate Übersicht über die Variabilität des von ihnen zu bearbeitenden Materials, gleichgültig ob es sich dabei um bestimmte Grup‐ pen von Sachgütern, um wie im Einzelnen auch immer beschaffene Befunde oder um eher abstrakte archäologische Phänomene wie etwa Grabsitten oder Besiedlungsstrukturen handelt. Immer wird es darum gehen, aus dem Material einzelne Elemente oder Merkmale zu isolieren und auf dieser Basis Gleiches von Ungleichem zu trennen. Unter ›Klassifikation‹ oder ›Klassifizierung‹ verstehe ich in Anlehnung an den amerikanischen Entomologen, Biostatistiker und Mitbegründer der numerischen Taxonomie Robert R. Sokal (1926-2012) das Ordnen von Phänomenen in Gruppen auf der Basis ihrer Entsprechungen. 1 In der Archäologie handelt es sich bei diesen Phänomenen vor allem um Sachgut und Befunde. Das wesentliche Anliegen einer Klassifikation besteht darin, die zu klassifizierenden Phänomene so zu ordnen, dass die Übereinstimmung der Individuen innerhalb einer Klasse größer ist als die der Individuen verschiedener Klassen. Hat man dieses Ziel erreicht, sind damit die Bezie‐ hungen zwischen den klassifizierten Phänomenen derart bestimmt, dass an die Stelle von Aussagen über einzelne Phänomene (etwa bestimmte Objekte der Sachkultur) nunmehr solche über Klassen von Phänomenen treten. ›Klassen‹ dieser Art bilden die Basis aller weiteren archäologischen <?page no="200"?> 2 Etwa Dunnell 1971; Rouse 1960; Vossen 1970; ders. 1986; Whallon/ Brown 1982. Forschung. Es ist üblich, nicht nur den klassifikatorischen Vorgang selbst, sondern auch sein Ergebnis als ›Klassifikation‹ oder ›Klassifizierung‹ zu bezeichnen. Man hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Klassifikationen nicht nur den Zweck hätten, eine Übersicht und bessere Manipulierbarkeit der zur Diskussion stehenden Phänomene zu ermöglichen. Sie besäßen darüber hin‐ aus, wie beispielsweise Sokal (1974, 1117) meint, auch einen beträchtlichen heuristischen Wert, indem sie den Blick auf potenzielle Zusammenhänge zwischen einzelnen Phänomenen bzw. Klassen von Phänomenen richteten. Dieser Auffassung ist zweifellos zuzustimmen. Im Bereich der Archäologie handelt es sich bei solchen Zusammenhängen um historisch-kulturelle Beziehungen. Sie ergeben sich häufig aus der vergleichenden Betrachtung technischer, formspezifischer, ornamentaler und genereller stilistischer Ei‐ genschaften von Artefakten. Hinzu kommen Aspekte allgemeinerer Art. Hier wäre etwa an Fragen historischer Abhängigkeit zwischen ähnlichen Kulturerscheinungen zweier oder mehrerer Gebiete zu denken. Dies könnte beispielsweise für das Bestattungs- und Siedlungswesen gelten. Historische Beziehungen würden sich möglicherweise als Übereinstimmungen im ma‐ teriellen Erscheinungsbild der jeweiligen Phänomene zu erkennen geben, und derartige Übereinstimmungen lassen sich kaum besser als durch syste‐ matisches Vergleichen und Klassifizieren herausarbeiten. Dabei ergeben sich häufig auch Forschungslücken, deren Bearbeitung nicht selten zu neuen Fragestellungen führt. In all diesen Fällen erweist sich die konkrete Klassifi‐ kation also tatsächlich nicht nur als ein grundlegendes Ordnungsverfahren, sondern zugleich als ein nicht zu unterschätzendes heuristisches Mittel. 6.2 Analytische und synthetische Klassifikation Im Gegensatz zur üblichen Praxis in Spezialarbeiten zum Problem der Klassifikation in der Archäologie, 2 können hier nur einige grundsätzliche Aspekte angesprochen werden. Das weite Feld der ›Klassifikation von Klassifikationen‹ einschließlich ihrer keineswegs einheitlich definierten Klassen wird daher nicht behandelt. Einige Begriffsbestimmungen sind dennoch nicht zu umgehen. 200 6 Über das Ordnen archäologischen Materials <?page no="201"?> In der Literatur wird gelegentlich zwischen einer ›absteigenden‹ und einer ›aufsteigenden‹ Klassifikation unterschieden, wenngleich man sie nicht so bezeichnet. Rüdiger Vossen (1970, 30 f.) verwendet in diesem Zusammenhang die Begriffe ›analytisch‹ und ›synthetisch‹. Entscheidend ist, dass die absteigende Anordnung die Phänomene dieser Ebene weiter untergliedert, während die aufsteigende sie zu größeren Einheiten zusam‐ menfasst. Die erste Verfahrensweise geht also gleichsam sezierend (›analy‐ tisch‹), die zweite integrierend (›synthetisch‹) vor. Grundsätzlich gesehen stellen diese beiden Klassifikationsweisen daher lediglich verschiedene Seiten ein und derselben Medaille dar; sie unterscheiden sich nur durch die Wahl der Betrachtungs- oder Ausgangsebene. Als ein Beispiel für eine analytische Klassifikation führt Vossen den Fall eines Ethnologen an, der sich in einem Dorf mit einer großen Zahl unterschiedlicher Keramikge‐ fäße konfrontiert sieht, die er gemäß ihres Verwendungszwecks gliedern möchte (Abb. 21). Der Feldforscher hat dabei auf der Basis von Befragungen und teilnehmender Beobachtung auf der ersten Ebene zunächst einmal Vorrats-, Koch- und Kultgefäße unterschieden, die er dann jeweils weiter unterteilt. Die Kochgefäße beispielsweise hat er nach ihrer Verwendung in drei Gruppen differenziert, und zwar in Gefäße für die Zubereitung von fester Nahrung, Gefäße für die Zubereitung von Flüssigkeiten sowie Gefäße zum Braten. Eine weitere und letzte Gliederungsebene illustriert Vossen mit der Aufteilung der Kochgefäße für Flüssigkeiten in Behälter für Suppen, für Alkoholika, für Narkotika und für Gift. Es versteht sich, dass die hier anhand der Funktion vorgenommene Klassifikation genauso gut anhand anderer Kriterien, etwa der Form, der Herstellungstechnik, der Verzierungsart oder der Verzierungstechnik bzw. entsprechender Kombinationen durchgeführt werden könnte. Dieses Beispiel ist auch zur Illustration der synthetischen Klassifikation geeignet. Nehmen wir einmal an, ein Ethnologe bzw. eine Ethnologin beschäftige sich mit materieller Kultur in Zentralafrika und gehe der Frage nach, ob ein Zusammenhang zwischen der Form der Gefäße und der ihnen von Töpferinnen jeweils zugedachten primären Funktion besteht. Zu diesem Zweck würden beide Ethnologen dann gewiss auch die einschlägige Literatur und vielleicht auch die Sammlungen in den Afrika-Abteilungen größerer Völkerkundemuseen durchsehen und dabei unter anderem auf eine sehr differenzierte funktionale Gliederung der einschlägigen Töpferware stoßen. Der Einfachheit halber nehmen wir weiter an, dass diese Gliede‐ rung mit jener identisch ist, die Vossen zur Illustration des analytischen 6.2 Analytische und synthetische Klassifikation 201 <?page no="202"?> Klassifikationsmodells gewählt hat. In diesem Falle könnte der betreffende Ethnologe oder die Ethnologin natürlich auf jeder der drei von Vossen unterschiedenen Klassifizierungsebenen mit der Untersuchung einsetzen, aber es spricht manches dafür, dass die Gefäße der Klassen dritter und jene der Klassen zweiter Ordnung zunächst einmal zusammengefasst wür‐ den. Stattdessen würde man sich vermutlich auf die Klassen der Ebene erster Ordnung konzentrieren; somit hätte man wohl zunächst die Frage untersucht, ob bzw. in welchem Maße die Form von der Funktion (Kult, Kochen, Vorratshaltung) determiniert ist. Damit wäre dann ein in der veröf‐ fentlichten und unveröffentlichten Dokumentation über zentralafrikanische Keramik relativ stark aufgegliederten Sachbereich im Sinne des synthetisch vorgehenden Klassifikationsmodells zusammengefasst. Abb. 21: Analytische Klassifikation. - Nach Vossen 1970, 30 Abb. 1. 202 6 Über das Ordnen archäologischen Materials <?page no="203"?> Analytische und synthetische Klassifikation 129 11, 12) und des Verzierungsstiles (Merkmale 13, 14, 15, 16) definiert hat, fasst er solche Fragmente, die eine häufig auftretende Kombination bestimmter Elemente (im Beispiel jeweils fünf) aufweisen, zu insgesamt vier Typen (A, B, C und D) zusammen, die er jeweils als Typus 1. Kategorie bezeichnet. Die Typen A und B einerseits und die Typen C und D andererseits werden dann aufgrund von jeweils drei ihnen gemeinsamen Merkmalen zu zwei Typen der 2. Kategorie (X und Y) zusammengruppiert. Diese wiederum vereint er schließlich anhand von lediglich zwei Merkmalen des Tones und der Magerung, die bisher bei der Typbildung nicht berücksichtigt wurden und daher für die betreffende Klassifikation auch nicht besonders aussagekräftig sind, zu einem sogenannten Typus 3. Kategorie (Z). Diese Beispiele - so konstruiert bzw. abstrakt insbesondere das zweite Beispiel auch sein mag - zeigen, dass sich jede vorliegende Klassifikation als ›absteigend‹ wie als ›aufsteigend‹ begreifen lässt; ausschlaggebend ist allein die der Beurteilung zugrunde gelegte Ausgangsebene. Sie sollte sich immer auf das klassifizierte Phänomen beziehen, mag es sich dabei um konkrete Objekte (z. B. Keramikscherben oder Bronzeschwerter) oder Befunde (z. B. Siedlungsgruben oder Megalithgräber) oder um übergeordnete Klassen solcher Phänomene (z. B. Bronzewaffen oder Grabbauten) handeln. Allerdings zeigt das dritte Beispiel bei näherem Hinsehen, dass hier nicht die einzelnen Scherben der konkret vorliegenden Sammlung fragmentierter Keramikgefäße zu Abb. 22 Synthetische Klassifikation nach R. Vossen. Eggert_s001-470_4Aufl_End.indd 129 Eggert_s001-470_4Aufl_End.indd 129 31.01.2012 9: 57: 47 Uhr 31.01.2012 9: 57: 47 Uhr Abb. 22: Synthetische Klassifikation. - Nach Vossen 1970, 34 Abb. 2. Vossen (1970, 33) hat zur Illustration der synthetischen Klassifikation ein anderes Beispiel gewählt. Er nimmt an, dass ein bestimmter Archäologe eine Sammlung mehr oder weniger fragmentarischer Keramikgefäße klassifizie‐ ren möchte (Abb. 22). Nachdem dieser Archäologe anhand seines Materials zunächst einmal insgesamt 16 ihm relevant erscheinende Eigenschaften des Tones (Merkmal 1), der Magerung (Merkmal 2), der Herstellungstechnik (Merkmale 3 u. 4), der Oberflächenbeschaffenheit (Merkmale 5 u. 6), der Gesamtform (Merkmale 7, 8, 9), der Verzierungstechnik (Merkmale 10, 11, 12) und des Verzierungsstils (Merkmale 13, 14, 15, 16) definiert hat, fasst er solche Fragmente, die eine häufig auftretende Kombination bestimmter Elemente (im Beispiel jeweils fünf) aufweisen, zu insgesamt vier Typen (A, B, C und D) zusammen, die er jeweils als Typus1.-Kategorie bezeichnet. Die Typen A und B einerseits und die Typen C und D andererseits werden dann aufgrund von jeweils drei ihnen gemeinsamen Merkmalen zu zwei Typen der 2. Kategorie (X und Y) zusammengruppiert. Diese wiederum vereint er schließlich anhand von lediglich zwei Merkmalen des Tons und der Magerung, die bisher bei der Typbildung nicht berücksichtigt wurden und daher für die betreffende Klassifikation auch nicht besonders aussagekräftig sind, zu einem sogenannten Typus 3.-Kategorie (Z). Diese Beispiele - so konstruiert bzw. abstrakt insbesondere das zweite Beispiel auch sein mag - zeigen, dass sich jede vorliegende Klassifikation als ›absteigend‹ wie als ›aufsteigend‹ begreifen lässt; ausschlaggebend ist allein die der Beurteilung zugrunde gelegte Ausgangsebene. Sie sollte sich 6.2 Analytische und synthetische Klassifikation 203 <?page no="204"?> immer auf das klassifizierte Phänomen beziehen, mag es sich dabei um konkrete Objekte (z. B. Keramikscherben oder Bronzeschwerter) oder Be‐ funde (z. B. Siedlungsgruben oder Megalithgräber) oder um übergeordnete Klassen solcher Phänomene (z. B. Bronzewaffen oder Grabbauten) handeln. Allerdings zeigt das dritte Beispiel bei näherem Hinsehen, dass hier nicht die einzelnen Scherben der konkret vorliegenden Sammlung fragmentier‐ ter Keramikgefäße zu einem hierarchisch aufsteigenden System integriert worden sind. Vielmehr wurden aus ihnen auf analytischem Wege zunächst einmal Merkmale gewonnen, deren teilweise gemeinsames Auftreten an diesen Scherben dann zur Definition von Typen unterschiedlicher Ordnung geführt hat, die ihrerseits wiederum aufgrund solcher Gemeinsamkeiten zusammengefasst wurden. Jeder dieser Typen würde also nur jenen Teil der Scherben der Sammlung repräsentieren, der die entsprechenden Merkmale aufweist. Somit zeigt sich zweierlei. Zum einen ist festzuhalten, dass der soge‐ nannten synthetischen Klassifikation auf allen Ebenen der Integration eine analytisch ausgerichtete Verfahrensweise vorausgehen muss, die aus den jeweiligen hierarchischen Einheiten relevante Einzelmerkmale zum Zwecke weiterer Integration isoliert. Zum andern aber wird das Problem der Archäologie deutlich, eine mehr oder weniger ungegliederte Gesamtheit von Funden oder Befunden so zu unterteilen, dass daraus sinnvolle Einheiten gemäß der konkreten Fragestellung entstehen. Dem Archäologen und der Archäologin geht es in aller Regel um die Herausarbeitung von Typen, die jeweils als Repräsentanten einer Teilmenge der zur Diskussion stehenden Grundgesamtheit angesehen werden können. Dieser Prozess der Gliederung eines gegebenen Materials wird in der empirischen Forschung gemeinhin in Richtung einer immer stärkeren Differenzierung tendieren, deren Grad durch das Ziel bestimmt wird, archäologisch sinnvolle Ergebnisse zu ge‐ winnen. So betrachtet, herrscht auf der Ebene der empirischen Grundlagen‐ arbeit - der konkreten Aufbereitung ur- und frühgeschichtlicher Funde und Befunde - zweifellos die analytische Klassifikation vor. Im Gegensatz dazu werden synthetische Klassifikationen im Sinne von Vossen vor allem dann wichtig, wenn die mittels analytischer Klassifikation gewonnenen Einheiten in zeitlicher und räumlicher Hinsicht integriert werden müssen, um kulturgeschichtlich relevante Erkenntnisse zu erzielen. Aus den bisherigen Erörterungen ergibt sich, dass die Archäologie, um überhaupt klassifizieren zu können, aus der Gesamtheit des zu gliedernden Materials zunächst einmal jene Elemente isolieren muss, mit denen sich 204 6 Über das Ordnen archäologischen Materials <?page no="205"?> 3 Insofern ist - wie bereits angesprochen - der erste Schritt in Vossens synthetischem Klassifikationsbeispiel, der die Definition der von ihm dann verwendeten Elemente betrifft, eben nicht synthetischer, sondern - wie er selbst anmerkt (Vossen 1970, 30 Anm. 4) - analytischer Natur. 4 Ottenjann 1969. die angestrebte Gruppierung, also die Klassifikation dieses Materials, vor‐ nehmen lässt. 3 Diese Elemente werden, wie schon angedeutet, traditionell als Merkmale (oder ›Attribute‹) bezeichnet. Zum Konzept des Merkmals tritt, wie ebenfalls deutlich geworden ist, das des Typs als weitere zentrale Kategorie hinzu. Im Folgenden wird zu klären sein, wie diese beiden Konzepte inhaltlich bestimmt sind und welche Rolle ihnen im Rahmen der archäologischen Klassifikationskonzeption und damit bei der konkreten Operation des Klassifizierens zukommt. 6.3 ›Merkmal‹ als archäologisches Konzept Die wesentlichste Voraussetzung jeder Klassifikation ist die Definition von Kriterien, mit denen die zur Diskussion stehenden Phänomene klassifiziert werden können. Als ›Klassifikationskriterien‹ bezeichne ich bestimmte Charakteristika - eben Merkmale - dieser Phänomene, die als Vergleichsein‐ heiten dienen und damit die Differenzierung oder Zusammengruppierung von Teilmengen dieser Phänomene ermöglichen. Archäologische Sachgüter - aber auch Befunde - stellen in der Regel komplexe Gebilde dar, an denen sich eine Vielzahl von kennzeichnenden Eigenschaften feststellen lässt. Betrachtet man beispielsweise bronze- und urnenfelderzeitliche Vollgriff‐ schwerter, so lassen sich an diesen Waffen mit Ingeborg v. Quillfeldt (1995) eine Reihe charakteristischer Einzelheiten unterscheiden und benennen (Abb. 23). Jede einzelne Bezeichnung verweist auf ein Formmerkmal, das je nach seiner Ausprägung weiter untergliedert werden kann. So ist z. B. das Merkmal ›Heft‹ in die Einzelmerkmale ›Heftschulter‹, ›Heftflügel‹, ›Heftausschnitt‹ und ›Heftabschluss‹ unterteilt worden, und sie wiederum könnten aufgrund bestimmter formaler und/ oder ornamentaler Einzelheiten weiter differenziert werden. Wie die kennzeichnenden Eigenschaften archäologischen Sachguts im Kontext der Klassifikation genutzt werden, sei am Beispiel der von Hel‐ mut Ottenjann (1931-2010) bearbeiteten Vollgriffschwerter der Älteren Nordischen Bronzezeit erörtert (Abb. 24 u. 25). 4 An diesen Schwertern kön‐ 6.3 ›Merkmal‹ als archäologisches Konzept 205 <?page no="206"?> 5 Angesichts der von Ottenjann vorgenommenen und hier unvollständig wiedergegebe‐ nen Klassifikation mag man Zweifel haben, ob sie dem Material angemessen ist. So fällt beispielsweise auf, dass er die Typbildung der Vollgriffschwerter ausschließlich anhand der Verzierung der Griffstange unter völliger Vernachlässigung ihrer Form sowie anderer Formelemente des Griffs und ihrer Verzierungen vorgenommen hat. Für unseren Zweck, das heißt zur Erläuterung des methodischen Vorgehens, ist dies jedoch unerheblich. nen beispielsweise folgende Details unterschieden werden: (1) Knaufform (rund, rund-oval, spitz-oval, rundlich-rhombisch); (2) Form der Griffstange (Wulste, Querschnitt); (3) Heftform (Schultern, Heftflügel, Heftausschnitt, Heftabschluss); (4) Verzierung des Knaufs; (5) Verzierung der Griffstange; (6) Verzierung des Hefts. Bei diesen Eigenschaften handelt es sich also teils um formspezifische und teils um ornamentale Merkmale. 5 Es geht bei der archäologischen Klassifikation aber nicht nur um Sachgüter und Befunde - also um materiell fassbare Phänomene -, sondern um alles, was nach einer Ordnung verlangt. Dabei kann es sich also auch um Abstrakta handeln, beispielsweise um Konzepte der zeitlich-räumlichen Gliederung wie etwa ›Stufe‹, ›Phase‹, ›Horizont‹ oder ›Regionalstil‹. Den Vorgang der Isolierung von Merkmalen aus einem zu klassifizierenden ›Material‹ pflegt man als Merkmalsanalyse zu bezeichnen. Die Merkmalsanalyse stellt, wie im vorigen Abschnitt bereits deutlich wurde, gewissermaßen den Prototyp der absteigenden oder analytischen Klassifikation dar, da sie eine ungegliederte Gesamtheit in mehr oder weniger viele kleinere Einheiten zerlegt. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass Merkmale nicht notwendigerweise die kleinsten differenzierbaren Einheiten darstellen müssen; ihre inhaltliche Festlegung ist reine Definitionssache. Somit lassen sich Merkmale beispielsweise nicht nur an einzelnen Objekten isolieren, sondern auf einer höheren Ebene können wiederum die Objekte selbst - etwa als Teile eines Geschlossenen Funds - als ›Merkmale‹ fungieren. 206 6 Über das Ordnen archäologischen Materials <?page no="207"?> Über das Ordnen archäologischen Materials: Klassifikation zwischen Notwendigkeit und Selbstzweck verlangt. Dabei kann es sich also auch um Abstrakta handeln, beispielsweise um Konzepte der zeitlich-räumlichen Gliederung wie etwa ›Stufe‹, ›Phase‹, ›Horizont‹ oder ›Regionalstil‹. Den Vorgang der Isolierung von Merkmalen aus einem zu klassifizierenden ›Material‹ pflegt man als Merkmalsanalyse zu bezeichnen. Die Merkmalsanalyse stellt, wie im vorigen Abschnitt bereits deutlich wurde, gewissermaßen den Prototyp der absteigenden oder analytischen Klassifikation dar, da sie eine ungegliederte Gesamtheit in mehr oder weniger viele kleinere Einheiten zerlegt. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass Merkmale nicht notwendigerweise die kleinsten differenzierbaren Einheiten darstellen müssen; ihre inhaltliche Festlegung ist reine Definitionssache. Somit lassen sich Merkmale beispielsweise nicht nur an einzelnen Objekten isolieren, sondern auf einer höheren Ebene können wiederum die Objekte selbst - etwa als Teile eines Geschlossenen Abb. 23 Bezeichnungen verschiedener Teile von Vollgriffschwertern nach I. v. Quillfeldt. Abb. 23: Bezeichnungen verschiedener Teile von Vollgriffschwertern. - Nach v. Quillfeldt 1995, 3 Abb. 1. Die Gesamtheit der isolierten bzw. isolierbaren Merkmale eines gegebenen Materials bildet das Reservoir, aus dem wir unsere Klassifikationskriterien nehmen. Da die inhaltliche Bestimmung von Merkmalen eine Ermessens‐ frage ist, hängen ihre Zahl und ihre ›Natur‹ von der Perspektive und dem analytischen Raster, das heißt von der Fragestellung des bzw. der Klassifizierenden ab. Natürlich spielt dabei auch die Komplexität des zu klassifizierenden Materials eine Rolle. Aus dem Merkmalsreservoir wird man für eine konkrete Klassifikation nur jene Merkmale auswählen, die man gemäß der Fragestellung für aussagefähig hält. Sie werden gewöhnlich 6.3 ›Merkmal‹ als archäologisches Konzept 207 <?page no="208"?> als diagnostische Merkmale bezeichnet. Als Beispiel für die Struktur einer solchen Merkmalsanalyse mag hier wiederum die Schwerterklassifikation von Ottenjann dienen (Abb. 26). ›Merkmal‹ als archäologisches Konzept 133 Abb. 24 Klassifikation von Vollgriffschwertern der Älteren Nordischen Bronzezeit nach H. Ottenjann. Eggert_s001-470_4Aufl_End.indd 133 Eggert_s001-470_4Aufl_End.indd 133 31.01.2012 9: 57: 48 Uhr 31.01.2012 9: 57: 48 Uhr Abb. 24: Klassifikation von Vollgriffschwertern der Älteren Nordischen Bronzezeit. - Nach Ottenjann 1969, 8 Abb. 1. 208 6 Über das Ordnen archäologischen Materials <?page no="209"?> 134 Über das Ordnen archäologischen Materials: Klassifikation zwischen Notwendigkeit und Selbstzweck Abb. 25 Klassifikation von Vollgriffschwertern der Älteren Nordischen Bronzezeit nach H. Ottenjann. Eggert_s001-470_4Aufl_End.indd 134 Eggert_s001-470_4Aufl_End.indd 134 31.01.2012 9: 57: 48 Uhr 31.01.2012 9: 57: 48 Uhr Abb. 25: Klassifikation von Vollgriffschwertern der Älteren Nordischen Bronzezeit. - Nach Ottenjann 1969, 9 Abb. 2. 6.3 ›Merkmal‹ als archäologisches Konzept 209 <?page no="210"?> ›Merkmal‹ als archäologisches Konzept 135 gen ihre Zahl und ihre ›Natur‹ von der Perspektive und dem analytischen Raster, d. h. von der Fragestellung des Klassifizierenden ab. Natürlich spielt dabei auch die Komplexität des zu klassifizierenden Materials eine Rolle. Aus dem Merkmalsreservoir wird man für eine konkrete Klassifikation nur jene Merkmale auswählen, die man gemäß der Fragestellung für aussagefähig hält. Sie werden gewöhnlich als diagnostische Merkmale bezeichnet. Als Beispiel für die Struktur einer solchen Merkmalsanalyse mag hier wiederum die Schwerterklassifikation von Ottenjann dienen (Abb. 26). Dieses Schema veranschaulicht, wie ein bestimmtes Merkmal des Griffes - die Form des Knaufes - auf vier weiteren Klassifikationsebenen aufgegliedert wird. Es ist in das Ermessen des Klassifizierenden gestellt, welche Ebene und welches Merkmal dieser Ebene er als ein Kriterium seiner Klassifikation der Bronzeschwerter der Periode II der Nordischen Bronzezeit und damit als diagnostisches Merkmal auswählt. Abb. 26 Schema einer Merkmalsanalyse für eine Schwerterklassifikation. Abb. 26: Schema einer Merkmalsanalyse für eine Schwerterklassifikation. - Entwurf. Verf. nach Ottenjann 1969. Dieses Schema veranschaulicht, wie ein bestimmtes Merkmal des Griffs - die Form des Knaufs - auf vier weiteren Klassifikationsebenen aufgegliedert wird. Es ist in das Ermessen des oder der Klassifizierenden gestellt, welche Ebene und welches Merkmal dieser Ebene als ein Kriterium der Klassifika‐ tion der Bronzeschwerter der Periode II der Nordischen Bronzezeit und damit als diagnostisches Merkmal ausgewählt wird. So wäre es denkbar, für eine bestimmte chronologische Fragestellung alle Schwerter mit einem rund-ovalen, mit Inkrustationen sowie mit ech‐ ten Spiralen und Würfelaugen versehenen Knauf in einer synthetischen Klassifikation zu einer Klasse zusammenzufassen, und zwar ohne jede Be‐ rücksichtigung der Merkmale ›Griffstange‹ und ›Heft‹ bzw. ihrer weiteren 210 6 Über das Ordnen archäologischen Materials <?page no="211"?> 6 Rouse 1972, 48; 300. analytischen Differenzierungen. Genauso gut könnte man sich aber für eine Berücksichtigung gerade dieser Merkmale entscheiden, wenn dies für die Fragestellung sinnvoll erschiene. Die Festlegung von diagnostischen Merkmalen schließt damit zugleich die Ausgrenzung solcher Merkmale ein, die nicht als diagnostisch angesehen werden. Nichtdiagnostische Merkmale sind für die angestrebte Ordnung des Materials irrelevant. In dem gerade genannten Schwerterbeispiel sind also alle Knäufe von nicht rund-ovaler Form ebenso wenig diagnostisch wie rund-ovale Knäufe ohne Inkrustation oder rund-ovale Knäufe mit Inkrustation und Pseudo-Spiralen bzw. Pseudo-Würfelaugen. Es ist jedoch auch ohne Weiteres möglich, dass Merkmale, die für die Definition einer klassifikatorischen Einheit irrelevant, also nicht diagnostisch sind, für die einer anderen als diagnostisch gewertet werden. 6.4 ›Typ‹ als archäologisches Konzept Das zweite zentrale Klassifikationskonzept, der ›Typ‹, hatte bereits in der sich im letzten Viertel des 19.-Jahrhunderts langsam herausbildenden Metho‐ denlehre der Ur- und Frühgeschichtlichen Archäologie eine große Bedeutung. Wenngleich seither in der deutschsprachigen Archäologie direkt und indirekt - etwa durch Begriffe wie ›Typologische Methode‹ und ›Typologie‹ - allgegen‐ wärtig, ist hierzulande dennoch nur wenig Systematisches zu diesem Konzept veröffentlicht worden. In den gängigen Einführungen unseres Faches taucht der Begriff zwar auf, ohne jedoch jemals wirklich erörtert zu werden. Insofern wird eine Tradition fortgesetzt, die - wie wir später sehen werden - von Oscar Montelius im Rahmen seiner systematischen Darstellung der sogenannten ›typologischen Methode‹ begründet worden ist. Unter einem ›Typ‹ verstehe ich in Anlehnung an Irving Rouse (1913- 2006) eine Kombination von Merkmalen, die eine Gruppe von spezifischen Erscheinungen kennzeichnet. 6 In diesem Sinne bilden keramische Gefäße, die durch die Kombination bestimmter Merkmale charakterisiert sind, einen ›Keramik-‹ bzw. ›Gefäßtyp‹. Die Gefäße als solche sind aber entgegen landläufiger Meinung nicht mit dem Typ identisch, sondern sie vertreten oder repräsentieren ihn lediglich - sie sind gewissermaßen ›Vertreter‹ oder 6.4 ›Typ‹ als archäologisches Konzept 211 <?page no="212"?> ›Repräsentanten‹ des Typs. Diese ›Typvertreter‹ oder ›Typrepräsentanten‹ bilden als solche wiederum eine bestimmte ›Klasse‹ von Gefäßen. Die hier vertretene Definition des Konzepts ›Typ‹ ist insofern relativ unspezifisch, als sie keinerlei Aussage darüber enthält, wie viele Merkmale notwendig und ausreichend sind, um ein Objekt oder einen Befund einem Typ zuweisen zu können. Da jedoch für einen Typ eine Kombination von Merkmalen gefordert wird, müssen mindestens zwei Merkmale vorhanden sein. Es sei aber ausdrücklich erwähnt, dass das in der archäologischen Praxis meist unreflektiert verwendete Typkonzept oft auf ein einziges diagnostisches Kriterium eingeengt wird (so etwa beim Keramiktyp ›Zy‐ linderhalsgefäß‹ oder im Falle der oben behandelten ›Vollgriffschwerter‹). Der insgesamt recht laxe Umgang mit den verschiedenen Aspekten ar‐ chäologischer Klassifikation soll an einem willkürlich aus der Literatur herausgegriffenen Beispiel demonstriert werden. In seiner monographischen Bearbeitung der bronzenen Äxte und Beile im mittleren Westdeutschland hat Kurt Kibbert (1984) sich auch mit Tül‐ lenbeilen beschäftigt, die hier in einer Auswahl vorgestellt werden (Abb. 27). Bei den ausgewählten Beilen hat Kibbert maximal drei hierarchische Ebenen unterschieden, die er allerdings nicht einheitlich benennt. So spricht er auf der ersten Ebene teils von »Typen« und teils von »Formen«; auf der gleichen Ebene verwendet er aber auch Charakteristika der Verzierung und regionale Verbreitungsschwerpunkte, um die klassifikatorischen Ein‐ heiten zu benennen. Die Formen der hierarchisch nachgeordneten Ebene bezeichnet er zum einen als »Varianten«, zum anderen als »Gruppen«. Den einzigen Fall, der für eine dritte nachgeordnete Ebene vorliegt, subsumiert er unter der Bezeichnung »Untervariante«. Eine Betrachtung der jeweils als diagnostisch erachteten Merkmale zeigt, dass die so gebildeten Typen, Formen, Varianten etc. nicht nur untereinander, sondern auch in sich sehr heterogener Natur sind (Abb. 28). Dieses Beispiel veranschaulicht im Übrigen auch, in welch starkem Maße Typen und ähnliche klassifikatorische Einheiten in der empirischen Forschung nicht über eine Kombination von Merkmalen, sondern auf der Basis eines einzigen Merkmals definiert werden. 212 6 Über das Ordnen archäologischen Materials <?page no="213"?> ›Typ‹ als archäologisches Konzept 137 net. In diesem Sinne bilden keramische Gefäße, die durch die Kombination bestimmter Merkmale charakterisiert sind, einen ›Keramik-‹ bzw. ›Gefäßtyp‹. Die Gefäße als solche sind aber entgegen landläufiger Meinung nicht mit dem Typ identisch, sondern repräsentieren ihn lediglich - sie sind ›Typvertreter‹, die als solche wiederum eine bestimmte ›Klasse‹ von Gefäßen bilden. Die hier vertretene Definition des Konzeptes ›Typ‹ ist insofern relativ unspezifisch, als sie keinerlei Aussage darüber enthält, wie viele Merkmale notwendig und ausreichend sind, um ein Objekt oder einen Befund einem Typ zuweisen zu können. Da jedoch für einen Typ eine Kombination von Merkmalen gefordert wird, müssen mindestens zwei Merkmale vorhanden sein. Es sei aber ausdrücklich erwähnt, dass das in der archäologischen Praxis meist unreflektiert verwendete Typkonzept oft auf ein einziges diagnostisches Kriterium eingeengt wird (z. B. im Falle der oben behandelten ›Vollgriffschwerter‹ oder des Keramiktyps ›Zylinderhalsgefäß‹). Der insgesamt recht laxe Umgang mit den verschiedenen Aspekten archäologischer Klassifikation soll an einem willkürlich aus der Literatur herausgegriffenen Beispiel demonstriert werden. Abb. 27 Klassifikation von Tüllenbeilen nach K. Kibbert. Eggert_s001-470_4Aufl_End.indd 137 Eggert_s001-470_4Aufl_End.indd 137 31.01.2012 9: 57: 49 Uhr 31.01.2012 9: 57: 49 Uhr Abb. 27: Klassifikation von Tüllenbeilen. - Entwurf Verf. nach Kibbert 1884. 138 Über das Ordnen archäologischen Materials: Klassifikation zwischen Notwendigkeit und Selbstzweck In seiner monographischen Bearbeitung der bronzenen Äxte und Beile im mittleren Westdeutschland hat Kurt Kibbert (1984) sich auch mit Tüllenbeilen beschäftigt, die hier in einer Auswahl vorgestellt werden (Abb. 27). Bei den ausgewählten Beilen hat Kibbert maximal drei hierarchische Ebenen unterschieden, die er allerdings nicht einheitlich benennt. So spricht er auf der ersten Ebene teils von »Typen« und teils von »Formen«; auf der gleichen Ebene verwendet er aber auch Charakteristika der Verzierung und regionale Verbreitungsschwerpunkte, um die klassifikatorischen Einheiten zu benennen. Die Formen der hierarchisch nachgeordneten Ebene bezeichnet er zum einen als »Varianten«, zum anderen als »Gruppen«. Den einzigen Fall, der für eine dritte nachge- Abb. 28 Verteilung diagnostischer Merkmale am Beispiel der Tüllenbeil-Klassifikation von K. Kibbert. Abb. 28: Verteilung diagnostischer Merkmale am Beispiel der Tüllenbeil-Klassifikation von K. Kibbert. - Entwurf Verf. nach Kibbert 1984. 6.4 ›Typ‹ als archäologisches Konzept 213 <?page no="214"?> 7 Beckner (1959, 21 ff.) gebrauchte die Termini ›monotypisch‹ und ›polytypisch‹, die dann von Peter H. A. Sneath (1923-2011) in ›monothetisch‹ und ›polythetisch‹ umbenannt worden sind (hierzu Sokal 1974, 1123 Anm. 12; Sokal/ Sneath 1963, 13 ff.). 8 Clarke 1968, 35 ff. In der Klassifikationstheorie pflegt man heute zwischen monothetischen und polythetischen Klassifikationen zu unterscheiden - eine Unterscheidung, die auf den Biologen und Taxonomen Morton O. Beckner (1928-2001) zurückgeht. 7 Von einer ›monothetischen‹ Klassifikation spricht man, wenn der Typbildung eine konstante Kombination von Merkmalen zugrunde liegt (griech. móno, einzig; thétos, Anordnung, Gliederung). Über die Zugehörig‐ keit beispielweise eines Keramikgefäßes zu einem bestimmten Typ entschei‐ det das Vorhandensein aller für diesen Typ festgelegten diagnostischen Merkmale. Anders verhält es sich mit der polythetischen Klassifikation (griech. póly, viel). Die auf Beckner (1959, 22) zurückgehende Definition legt Folgendes fest: 1. Jedes zu einem bestimmten Typ gerechnete Individuum weist eine große, aber nicht näher bestimmte Zahl der für die Typbildung zugrunde gelegten diagnostischen Merkmale auf; 2. jedes diagnostische Merkmal tritt bei einer großen Zahl der zu diesem bestimmten Typ gerechneten Individuen auf; 3. keines dieser diagnostischen Merkmale tritt bei jedem der entsprechen‐ den Individuen auf (Abb. 29). 4. Aus dieser Definition folgt, dass kein Merkmal für die Typzugehörigkeit notwendig, aber auch keins dafür ausreichend ist. Das Prinzip der polythetischen Klassifikation erscheint auf den ersten Blick wenig fruchtbar; es drängt sich der Eindruck einer gewissen Beliebigkeit auf, wenn die für die Definition eines bestimmten Typs festgelegten Merkmale im Einzelfalle zwar vorhanden sein können, aber nicht vorhanden sein müssen. Dieser negativen Einschätzung der polythetischen Klassifikation ist David L. Clarke (1937-1976) schon vor mehr als 55 Jahren entgegengetreten, jedoch nur mit geringem Erfolg. 8 Seine damals als Kritik gemeinte Feststel‐ lung, dass der vorherrschenden Konzeption archäologischer Klassifikation das monothetische Modell zugrunde liege, gilt auch heute noch. Es ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich, dass das Problem der Typdefinition in drei einflussreichen englisch-sprachigen Einführungen in die Grundlagen der Archäologie zwischen 1989 und 2004 ausschließlich im Sinne des mo‐ 214 6 Über das Ordnen archäologischen Materials <?page no="215"?> 9 Siehe Fagan 1991, 258; 260 ff.; Renfrew/ Bahn 2004, 587 et pass.; Thomas 1989, 668 et pass. nothetischen Modells erörtert wird. 9 Ohne es überprüft zu haben, vermute ich, dass sich daran bis heute kaum etwas verändert hat. Über das Ordnen archäologischen Materials: Klassifikation zwischen Notwendigkeit und Selbstzweck ein monothetisches Typkonzept doch voraus, dass alle Merkmale vorhanden sind. Jene Individuen, die die geforderte Merkmalskombination nicht aufweisen, gehören demzufolge nicht zu dem definierten Typ. Rechnet man sie dennoch dazu, handelt es sich einfach um eine unsaubere Arbeitsweise - sie begegnet allerdings ziemlich häufig. Clarkes Bemerkung ist insofern wichtig, als sie den Blick auf neuralgische Punkte der Klassifikation richtet. Sie mag für uns Anlass sein, uns bei der Erörterung von solchen Fragen nicht nur am Ideal, sondern auch an der Realität des Klassifizierens zu orientieren. So wird sich bei näherer Analyse der von Clarke beklagten Praxis zumeist ergeben, dass der Klassifizierende den Aussagebzw. Entscheidungswert der einzelnen diagnostischen Merkmale (in aller Regel unbewusst) unterschiedlich gewichtet. Daher kann festgestellt werden, dass sich die Klassifizierungspraxis auf der Basis des monothetischen Modells häufig nicht grundsätzlich von jener Vorgehensweise unterscheidet, die das polythetische Modell explizit zur Maxime erhebt. Betrachtet man das polythetische Modell genauer, so erscheint es in der Archäologie nur dort gewinnbringend und regelkonform, also einer systematischen Verfahrensweise angemessen anwendbar, wo der Beliebigkeit in der Gewichtung der Merkmale und ihrer Kombination Grenzen gesetzt sind. Jedenfalls sollte das allgegenwärtige Problem der unzureichenden Übereinstimmung unserer Konzepte mit der realen Welt nicht noch mit einer methodisch und handwerklich Abb. 29 Monothetische und polythetische Typdefinition. Abb. 29: Monothetische und polythetische Typdefinition. - Nach Clarke1968, 37. Clarke (1968, 37) hat behauptet, die archäologische Realität widerspreche dem allgemein vertretenen monothetischen Modell. Zwar definiere man Typen durch einen Satz von Merkmalen, jedoch seien auf der Ebene der einzelnen, zu einem bestimmten Typ gerechneten Artefakte tatsächlich keineswegs alle, sondern jeweils nur ein Teil dieser Merkmale in unter‐ schiedlichen Kombinationen vorhanden. Diese Ansicht ist in der Tat sehr fragwürdig, setzt ein monothetisches Typkonzept doch voraus, dass alle Merkmale vorhanden sind. Jene Individuen, die die geforderte Merkmals‐ kombination nicht aufweisen, gehören demzufolge schlicht nicht zu dem definierten Typ. Rechnet man sie dennoch dazu, handelt es sich offenkundig um eine unsaubere Arbeitsweise - sie begegnet allerdings ziemlich häufig. Clarkes Bemerkung ist insofern wichtig, als sie den Blick auf neuralgische Punkte der Klassifikation richtet. Sie mag für uns Anlass sein, uns bei der Erörterung von solchen Fragen nicht nur am Ideal, sondern auch an der Realität des Klassifizierens zu orientieren. So wird sich bei näherer 6.4 ›Typ‹ als archäologisches Konzept 215 <?page no="216"?> 10 Die oben genannte Bedingung, dass zu einer Typdefinition mindestens zwei Merkmale notwendig seien, gilt aufgrund des zitierten Beckner’schen Merkmalskriteriums nicht für polythetische Klassifikationen. Analyse der von Clarke beklagten Praxis zumeist ergeben, dass der oder die Klassifizierende den Aussagebzw. Entscheidungswert der einzelnen dia‐ gnostischen Merkmale (in aller Regel unbewusst) unterschiedlich gewichtet. Daher kann festgestellt werden, dass sich die Klassifizierungspraxis auf der Basis des monothetischen Modells häufig nicht grundsätzlich von jener Vorgehensweise unterscheidet, die das polythetische Modell explizit zur Maxime erhebt. Betrachtet man das polythetische Modell genauer, so erscheint es in der Archäologie nur dort gewinnbringend und regelkonform, also einer syste‐ matischen Verfahrensweise angemessen anwendbar, wo der Beliebigkeit in der Gewichtung der Merkmale und ihrer Kombination Grenzen gesetzt sind. Jedenfalls sollte das allgegenwärtige Problem der unzureichenden Übereinstimmung unserer Konzepte mit der realen Welt nicht noch mit einer methodisch und handwerklich inadäquaten Umsetzung dieser Kon‐ zepte belastet werden. Aus dieser pragmatischen Perspektive erscheint das Verhältnis zwischen dem monothetischen und dem polythetischen Modell relativ unproblematisch. Es lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Der Typbildung sollte eine monothetische Konzeption zugrunde gelegt werden; ergeben sich bei Typzuweisungen von Artefakten oder anderer zu klassifizierender Phänomene auf der Basis dieses Modells Schwierigkeiten bei der Gewichtung der diagnostischen Merkmale, sollten die dabei implizit vorhandenen Wertungen explizit gemacht und soweit wie irgend möglich objektiviert werden. Mithin empfiehlt es sich, die von der monothetischen Konzeption für jeden Typvertreter geforderte konsistente Kombination von diagnostischen Merkmalen im Zweifelsfall um eine explizite und begründete Gewichtung einzelner Merkmale zu ergänzen. Die vorstehende Betrachtung dürfte gezeigt haben, dass das Konzept ›Typ‹ sowohl nach dem monothetischen als auch dem polythetischen Modell auf mehreren diagnostischen Merkmalen, dem sogenannten Significatum, beruht. 10 Die diagnostischen Merkmale stellen dabei lediglich eine Auswahl dar, die anhand einer vorgegebenen Fragestellung aus einem größeren Komplex bereits definierter oder definierbarer Merkmale getroffen wurde. Sie repräsentieren jene Eigenschaften, die bei der Klassifikation für ge‐ mäß der jeweiligen Fragestellung relevant erscheinen. Wenn wir das im 216 6 Über das Ordnen archäologischen Materials <?page no="217"?> monothetischen und polythetischen Klassifikationsmodell unterschiedlich bewertete Vorhandensein bzw. Fehlen diagnostischer Merkmale einmal vernachlässigen, impliziert die hier vertretene Definition des Typkonzepts, dass die einem Typ zugewiesenen Individuen nur in ihrem Significatum übereinstimmen, jedoch in einer beliebig großen Zahl weiterer, nicht als diagnostisch betrachteter Merkmale voneinander abweichen. Aus dieser Definition des Typkonzepts folgt zum einen, dass Typen relative klassifikatorische Einheiten darstellen, deren Significata aus der Fragestellung der Klassifikation resultieren. Zum andern ergibt sich, dass es sich bei Typen um Abstraktionen bzw. mentale Konstrukte, nicht aber um reale Objekte oder historische Entitäten handelt. Aus diesem Grunde sollte, jedenfalls bei präzisem Sprachgebrauch, zwischen den Begriffen ›Typ‹ und ›Typvertreter‹ (oder ›Typrepräsentant‹) sowie ›Typ‹ und ›Klasse‹ unterschieden werden. Typvertreter oder Typrepräsentanten bilden somit keine Typen, sondern Klassen. Dies lässt sich gut mit Hilfe eines Diagramms veranschaulichen (Abb. 30). Der linke Kreis repräsentiert die Gesamtheit der Artefakte (A n ). Der rechte Kreis hingegen steht für die Gesamtheit der an diesen Artefakten unterschiedenen Merkmale (m n ). Der in diesem Diagramm die Artefaktklasse repräsentierende Artefakttyp beruht allein auf sechs aus der Gesamtheit der Merkmale ausgewählten diagnostischen Merkmalen (dm 2,6,7,9,11,15 ). Er wird durch das grau unterlegte Segment ver‐ körpert. Über das Ordnen archäologischen Materials: Klassifikation zwischen Notwendigkeit und Selbstzweck ke Kreis repräsentiert die Gesamtheit der Artefakte (A n ). Der rechte Kreis hingegen steht für die Gesamtheit der an diesen Artefakten unterschiedenen Merkmale (m n ). Der die Artefaktklasse repräsentierende Artefakttyp beruht allein auf sechs aus der Gesamtheit der Merkmale ausgewählten diagnostischen Merkmalen (dm 2,6,7,9,11,15 ). Er wird also durch das grau unterlegte Segment verkörpert. 5. Typen von Typen In der vorstehenden Erörterung einiger Grundaspekte der archäologischen Klassifikation ist mehrfach die enge Verknüp- Abb. 30 Artefaktklasse (I) und Artefakttyp (II, gerastertes Segment). Abb. 30: Artefaktklasse (I) und Artefakttyp (II, gerastertes Segment). - Nach Rouse 1972, 49 Abb. 4. 6.4 ›Typ‹ als archäologisches Konzept 217 <?page no="218"?> 11 Ich möchte hier ausdrücklich betonen, dass diese Diskussion des Typkonzepts in der Amerikanischen Archäologie bereits vor rund siebzig Jahren und mehr erfolgte (siehe auch unten, Kap. 9.2, S. 272 ff. sowie 9.3, S. 282 ff.). Seitdem werden solche Fragen eher selten erörtert. Umso wichtiger erscheint es mir, diese grundsätzlichen Überlegungen auch in der 5. Auflage dieser Einführung zu belassen. 6.5 Typen von Typen In der vorstehenden Erörterung einiger Grundaspekte archäologischer Klassifikation ist mehrfach die enge Verknüpfung von Fragestellung und Klassifikationskriterien angeklungen. Es dürfte klargeworden sein, dass die Typbildung ein Verfahren ist, das keine absoluten, sondern nur relative, einer bestimmten Fragestellung mehr oder weniger adäquate Ergebnisse hervorbringen kann. Dieser Punkt kann nicht nachdrücklich genug betont werden, und in diesem Sinne hat Rouse (1970) einen einschlägigen Beitrag mit dem Titel »Classification for What? « versehen. Insbesondere in der deutschsprachigen Archäologie ist die Ansicht weit verbreitet, dass man Typen ohne jeden Bezug zu einer Fragestellung zu definieren habe, diese Definitionen entweder ›richtig‹ und ›falsch‹ sein könnten und ›richtig‹ definierte, das heißt invariable Typen die Ausgangs‐ basis für alle weiteren Forschungen bildeten. Diese Auffassung beruht also auf falschen Voraussetzungen. Hier liegt insofern ein Missverständnis vor, als man meint, Typen seien konkrete Objekte. Solche Objekte weisen im Gegensatz zu Typen einen spezifischen Habitus auf, der sich nicht mit der Fragestellung ändert. In der Theoriediskussion der Amerikanischen Archäologie werden gemäß der Natur des Typkonzepts verschiedene »Typen von Typen« (Steward 1954) unterschieden. 11 Von grundlegender Bedeutung sind dabei zwei in der amerikanischen Literatur nicht einheitlich benannte Kategorien. Der sogenannte ›morphologische‹, ›deskriptive‹ oder ›analytische‹ Typ zielt auf eine Gesamterfassung der zu typisierenden Individuen ab. Bei der Bildung solcher Typen geht es um die Herausarbeitung charakteristischer morpho‐ logisch-ornamentaler Merkmale, mit denen die betreffenden Artefakte mög‐ lichst präzise erfasst und beschrieben werden können. Der ›historisch-rele‐ vante‹ (historical-index), ›historische‹ oder ›chronologische‹ Typ hingegen dient im Wesentlichen als Indikator von Zeit und Raum. Es werden solche Merkmale für die Typbildung herangezogen, deren spezifische Ausprägung möglichst kurzlebig ist, und die damit gute ›Zeitindikatoren‹ darstellen. Da nicht von vornherein bekannt ist, welche Merkmale bzw. welche Typen 218 6 Über das Ordnen archäologischen Materials <?page no="219"?> 12 Die aus solchen Untersuchungen resultierenden Erkenntnisse könnte man dann wie‐ derum im Rahmen Analogischen Deutens für die entsprechende Interpretation ur- und frühgeschichtlicher Keramik heranziehen. tatsächlich nur kurzfristig auftreten, orientiert man sich zunächst einmal an Merkmalen mit einer möglichst großen Variabilität. Dieses Kriterium hatte bereits Montelius (1903, 16) im Zusammenhang mit der Erarbeitung von relativen Chronologien hervorgehoben, als er auf die Bedeutung der »typologisch ›empfindlichen‹ Serie« hinwies. In der Amerikanischen Archäologie werden jedoch nicht nur deskriptive und chronologische Typen unterschieden. Hinzu tritt unter anderem der sogenannte ›funktionale‹ Typ. Sein Significatum bilden solche Merkmale, die Erkenntnisse über den früheren Kulturbzw. Gebrauchszusammenhang materieller Formen zu liefern vermögen. So könnte man versuchen, die einstige Funktion ur- und frühgeschichtlicher Keramik mit formspezifischen und ornamentalen Merkmalen zu verknüpfen und auf diese Weise Funkti‐ onstypen herauszuarbeiten. Weitaus einfacher lässt sich die funktionale Klassifikation von Keramik im ethnographischen Kontext durchführen, da man dort die tatsächliche Funktion beobachten und erfragen kann. 12 Ein einfaches Beispiel einer solchen Klassifikation ist oben im Zusammenhang mit der analytischen Klassifikation erörtert worden (Abb. 21). Misst man das vor allem implizite und undifferenzierte Allzweckkonzept ›Typ‹ der deutschsprachigen Archäologie mit der amerikanischen Elle, wird deutlich, dass es in erster Linie mit dem morphologischen Typ der Amerikanischen Archäologie identisch ist. Man ist bei uns dem Ideal einer möglichst detaillierten und umfassenden Beschreibung verpflichtet - einer Beschreibung, die letztlich die Erfassung des Individuums bzw. einer mehr oder minder großen Zahl von Individuen im Sinne einer Klasse anstrebt. Die eingangs erwähnte, für jedwede Typbildung relevante Fragestellung bezieht sich dabei in aller Regel nicht auf ein bestimmtes archäologisches Problem, sondern auf die möglichst erschöpfende deskriptive Erfassung der Phänomene selbst. Gerade in diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, inwieweit mor‐ phologisch-deskriptive und historisch-chronologische Typen in der For‐ schungspraxis identisch sind. Grundsätzlich gesehen ist klar, dass diese beiden Typkategorien tatsächlich zusammenfallen können und in der deut‐ schen und darüber hinaus in der kontinentaleuropäischen Archäologie auch häufig zusammenfallen. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass in der 6.5 Typen von Typen 219 <?page no="220"?> 13 Die Anführungsstriche stehen für die Tatsache, dass die mit dem Begriff ›deskriptiv‹ angesprochene Differenzierung des Typkonzeptes hierzulande weitgehend unbekannt ist; sie verweisen im oben erörterten Sinne auf die Tatsache, dass die hier gängige Definition von Typen deskriptiv ausgerichtet ist. 14 Das PBF-Unternehmen wurde 1965 von H. Müller-Karpe begründet. Es wurde in den Jahren Zeit 1965-2002 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und von 2002-2015 der Akademie der Wissenschaften und Literatur, Mainz, sowie den Universitäten Frankfurt und Münster gefördert. Zum Abschluss des Projekts siehe Dietz/ Jockenhövel 2016. VIII. ›normalen‹ Forschungspraxis - also in einem archäologisch weitestgehend bekannten und damit bereits vielfach differenzierten Umfeld - nur ein sehr geringer Bedarf an einer weiteren Herausarbeitung rein deskriptiver Typen besteht; in einem solchen Kontext konzentriert sich die Typbildung vielmehr von vornherein auf die Erarbeitung vor allem chronologisch aussagefähiger Typen. Ein gängiges Verfahren der Herausarbeitung chronologischer Typen stellt die Überprüfung der chronologischen Relevanz bereits definierter ›deskrip‐ tiver‹ Typen dar. 13 Dies führt gemeinhin zur Auswahl einiger weniger Typen, die man als chronologisch empfindlich erkannt hat. Unterstellen wir einmal, die Typdefinition sei dabei nicht modifiziert worden, dann hätte sich in einem solchen Fall ein deskriptiver Typ in einen chronologischen Typ verwandelt, ohne dass sein Significatum verändert worden wäre. Das wird jedoch nicht die Regel sein. Vielmehr werden sich aus der Prüfung der chro‐ nologischen Relevanz meist mehr oder weniger gravierende Veränderungen der Significata solcher deskriptiven Typen ergeben, die als Zeitindikatoren geeignet sind. Wie in anderen Wissenschaften ist das Anliegen beschreibender Doku‐ mentation auch in der Archäologie nicht nur legitim, sondern eine wesent‐ liche Voraussetzung der Forschung. Die gesamte listen- und katalogmäßige Erfassung von archäologischen Materialien basiert schließlich auf präziser Beschreibung. Leider wird dabei häufig übersehen, dass dies ohne eine Auseinandersetzung mit den Grundkonzepten der Klassifikation kaum zu einem befriedigenden Ergebnis zu führen vermag. Insofern überrascht es, selbst so groß angelegte Editionsprojekte wie das Mitte der 1960er Jahre gegründete Korpuswerk Prähistorische Bronzefunde (PBF), das sich die sys‐ tematische, weltweit intendierte Veröffentlichung bronzener Artefakte zum Ziel gesetzt hat (Müller-Karpe 1973), nach 50 Jahren und rund 185 Bänden 14 weitgehend ohne ein im Einzelnen reflektiertes theoretisches Fundament 220 6 Über das Ordnen archäologischen Materials <?page no="221"?> 15 Für eine paradigmatische Kritik des in den PBF-Monographien verwendeten Klassifi‐ kationskonzeptes siehe Eggert 1981, 278 f. 16 Davon zeugt auch die Verwendung des gleichnamigen Stichworts in RGA 2 (Brather 2006). Ein Stichwort ›Klassifikation‹ wird dort bezeichnenderweise nicht geführt. 17 Zur ›Typologischen Methode‹ siehe unten, Kap. 9, einschließlich seiner Unterkapitel (S. 267 ff.). 18 Kunst (1982, 1 Anm. 3) verweist darauf, dass Sangmeister wegen der eigentlichen Bedeutung des Begriffes ›Typographie‹ - es handelt sich ja um einen Fachausdruck der Buchdruckerkunst - später von »Typfindung« sprach. auskam. Seine klassifikatorische und allgemeine methodologische Grund‐ lage ist weder generell noch anlässlich dafür besonders probat erscheinender Artefaktgruppen zur Diskussion gestellt worden. 15 Im Zusammenhang mit der Typbildung sei auch noch ein nomenklatori‐ scher Aspekt angesprochen. Es ist in der deutschsprachigen Archäologie üblich, die Klassifikation bzw. Typbildung und deren Ergebnis mit dem Terminus ›Typologie‹ zu belegen. 16 Dieser Begriff ist ausgesprochen dop‐ peldeutig und daher unglücklich, da er sich zugleich und in erster Linie auf die sogenannte Typologische Methode bezieht. 17 In Anbetracht der Tatsache, dass diese sogenannte Methode auf evolutionistischen Prämissen des 19. Jahrhunderts beruht, die wir heute nicht mehr vertreten, sollte man den Begriff ›Typologie‹ und dessen Ableitungen nicht im Kontext der Klas‐ sifikation verwenden. Hier wäre stattdessen, einem Vorschlag von Edward Sangmeister (1967, 211) folgend, der Terminus ›Typographie‹ angebracht. 18 6.6 Klassifikation, Heuristik und Realität Die Frage nach der Entsprechung bzw. Nichtentsprechung von Kategorien und Realität zielt auf den Kernbereich der Klassifikation. Sie entzieht sich aber - soweit ich sehe - einer verbindlichen, von persönlichen Setzungen freien Antwort. Die hier vertretene Position geht davon aus, dass die archäologische Klassifikation die Aufgabe hat, fachspezifische Phänomene auf der Basis bestimmter Vorgaben systematisch zu ordnen. Die erzielte Gruppierung ändert sich demnach mit den jeweiligen Vorgaben. In diesem Sinne beanspruchen definierte Klassen oder Kategorien lediglich, bestimmte Aspekte der zur Diskussion stehenden Phänomene mehr oder weniger gut widerzuspiegeln. Sie sind Konstrukte des Archäologen oder der Archäologin und damit ein Element der archäologischen Heuristik und nicht der unter‐ suchten einstigen kulturellen Realität. 6.6 Klassifikation, Heuristik und Realität 221 <?page no="222"?> 19 Zum Folgenden auch Lyman/ O’Brien/ Dunnell 1997, 121 ff. 20 Taylor 1968, 128. 21 Spaulding 1953; ders. 1954. 22 Ford 1954a; ders. 1954b. 23 Siehe hierzu die zusammenfassende Darstellung in Eggert 1976a. 24 Das Begriffspaar emic/ etic hat der amerikanische Linguist und Kulturaanthropologe Kenneth L. Pike (1912-2000) von den in der Phonologie verwendeten Termini phonetic und phonemic abgeleitet und als eine grundlegende Kategorisierung von Forschungs‐ ansätzen in die Linguistik und Kulturwissenschaften eingeführt (Pike 1967). Ganz im Sinne der Debatte zwischen Ford und Spaulding handelte es sich dabei für ihn um den Unterschied von »creation versus discovery of a system« (ebd. 38): Bei Zugrundelegung einer etischen Perspektive werde das Verhalten der Mitglieder einer bestimmten Kultur von außen, aus der emischen Perspektive hingegen von innen untersucht und analysiert (ebd. 37). In diesem Sinne ist das Emische das einer bestimmten Kultur Spezifische, Dieser Position steht eine Konzeption gegenüber, die in der Amerikani‐ schen Archäologie eine gewisse Tradition besitzt. 19 Sie basiert auf einer Auffassung, die Walter W. Taylor (1913-1997) in seiner berühmten Disser‐ tation von 1948 in dem Satz zusammengefasst hat, allen Kulturgütern sei die »Systematik« der Leute inhärent, die diese Güter hergestellt haben. 20 Wenn der Archäologe die Kultur dieser Leute verstehen wolle - so Taylor -, dann müsse er sich um eine möglichst weitgehende Übereinstimmung seiner Typen mit jenen bemühen, die in der untersuchten Kultur selbst unterschieden wurden. Um die beiden hier zur Diskussion stehenden Konzeptionen - zugespitzt auf die Frage, ob die Archäologie Typen ›entdeckt‹ oder ›kreiert‹ - hat es in den Jahren 1953 und 1954 eine vielbeachtete Debatte zwischen Albert C. Spaulding (1914-1990) 21 und James A. Ford (1911-1968) 22 gegeben. Dabei plädierte Ford für die hier vertretene Position, während es Spaulding - wie es im Titel seines Aufsatzes von 1953 heißt - um die »Entdeckung von Artefakttypen« ging. Spauldings Auffassung ist dann in den 1960er und 1970er Jahren im Zusammenhang mit der sogenannten New Ethnography oder Cognitive Anthropology erneut diskutiert worden. 23 Auf der Grundlage dieser Diskussion hat Rouse (1972, 52; 300) zu den bereits erörterten deskriptiven, chronologischen und funktionalen Typen den »kognitiven Typ« als eine weitere Kategorie hinzugefügt. Im Rahmen der Kognitiven Anthropologie wurde das Bemühen um die Weltsicht der untersuchten Bevölkerungen und ihre Kategorisierung der belebten und unbelebten Natur schon früh als ›emischer‹ Forschungsansatz bezeichnet und mit einem ›etischen‹ Erkenntnismodus, der einer vergleichenden Methodologie ver‐ pflichtet ist, kontrastiert. 24 Das heute in den Kulturwissenschaften weit ver‐ 222 6 Über das Ordnen archäologischen Materials <?page no="223"?> während als ›etisch‹ alles gilt, was aus einem kulturvergleichenden, mithin eine bestimmte Kultur transzendierenden Blickwinkel resultiert. breitete Begriffspaar ›emisch‹/ ›etisch‹ steht meist für die Unterscheidung der Positionen und Kategorien der zu erforschenden Ebene einerseits und jenen der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler andererseits. Somit vertreten jene Archäologen und Archäologinnen, die etwa das auf Kera‐ mik bezogene Ordnungssystem einer bestimmten Kulturgruppe in seinen Grundzügen rekonstruieren und zur Basis ihres eigenen wissenschaftlichen Klassifikationssystems der zu analysierenden Töpferware machen möchten, eine emische Perspektive. Besonders jene, die mit dem Anliegen der Kognitiven Anthropologie nicht näher vertraut sind, dürften sich fragen, wie denn die Archäologie das auf materielle Kulturgüter bezogene Klassifikationssystem einer längst unter‐ gegangenen Kultur zu ›entdecken‹ vermag. Ich bin der Auffassung, dass dies für schriftlose Kulturen unmöglich ist. Auch ein in der amerikanischen Ar‐ chäologie-Tradition ausgebildeter Klassifikationsspezialist wie Rouse (1972, 52, 86, 167 f.) schätzt die Möglichkeit der archäologischen Herausarbeitung von kognitiven Typen offenbar gering ein; er betrachtet diese Kategorie im Wesentlichen als eine Domäne der Ethnologie. Die Vergeblichkeit des Bemühens, auf der Basis nicht-schriftlicher archäologischer Quellen in den kognitiven Bereich vergangener Kulturen vorstoßen zu wollen, ist schon vor knapp fünf Jahrzehnten anhand allgemeiner methodologischer und quellenkritischer Überlegungen demonstriert worden (Eggert 1977/ 2023). Die wesentlichen Schwierigkeiten eines kognitiven Klassifikationsansatzes hat Rouse im Übrigen bereits 1939 in seiner Dissertation erkannt und nüchtern zum Ausdruck gebracht. Er schrieb damals, es sei vorstellbar, dass die von ihm bearbeitete haitianische urgeschichtliche Keramik von ihren Herstellern ebenfalls auf der Basis gewisser gemeinschaftsspezifischer Ver‐ haltensmuster und ihrer materiellen Konsequenzen kategorisiert worden wäre, wenn sie wie er archäologisch-kulturanthropologisch ausgebildet worden wären. In Anbetracht der Tatsache, dass tatsächlich jedoch nichts über ihr einstiges Klassifikationssystem in Erfahrung zu bringen sei, müsse er sich mit der Feststellung begnügen, die von ihm herausgearbeiteten Merkmale und Typen seien im Gegensatz zu den keramischen Artefakten Produkte seines eigenen Geistes (Rouse 1939, 19). In diesem Zusammenhang muss aber auch festgestellt werden, dass die Fragwürdigkeit kognitiver Typen nicht nur auf der empirischen Ebene liegt. 6.6 Klassifikation, Heuristik und Realität 223 <?page no="224"?> 25 Die wesentlichen Aspekte der Klassifikationsdiskussion in der Amerikanischen Ar‐ chäologie sind von Dunnell (1986) in einem kritischen Übersichtsartikel eingehend erörtert worden. 26 Siehe etwa Renfrew 1993; ders. 1994; ders. 1998a; ders. 1998b. 27 Hierzu auch Renfrew 2001; Malafouris 2004. Hinzu kommen erhebliche erkenntnistheoretische Bedenken, die letztlich auf der Prämisse beruhen, autochthone, das heißt außerhalb des Rahmens der Wissenschaft entstandene Erkenntnissysteme seien zwar Gegenstand, aber nicht Mittel der Forschung (Eggert 1977/ 2023, 52 ff.). Das gilt auch für jene Systeme, die man in der amerikanischen Kognitiven Anthropologie als folk classifications bezeichnet, und für deren Aufdeckung und klassifikato‐ rische Nutzung Taylor, Spaulding und andere Archäologen plädiert haben. 25 In der deutschsprachigen Archäologie ist die gesamte, hier knapp skiz‐ zierte amerikanische Klassifikationsdebatte weitgehend unbekannt geblie‐ ben. Dies hat sich auch nicht geändert, nachdem Vossen (1969a; ders. 1970; ders. 1974) - selbst Anhänger des kognitiven Klassifikationsansatzes - sich in mehreren Arbeiten grundsätzlich mit Problemen der Klassifikation sowie speziell mit der einschlägigen amerikanischen Diskussion auseinanderge‐ setzt hat. Die hier im Zusammenhang mit den sogenannten ›kognitiven‹ Typen angesprochene Grundproblematik ist jedoch keineswegs nur auf den Be‐ reich der Theorie der archäologischen Klassifikation beschränkt. Sie ist überdies auch nicht etwa von rein forschungsgeschichtlichem Interesse, sondern höchst aktuell. Seit ungefähr 30 Jahren gibt es im Kontext der anglophonen Archäologie ein beträchtliches Interesse an Fragen der ur- und frühgeschichtlichen ›Kognition‹. Mehr noch, Colin Renfrew hat schon 1982 eine archaeology of mind gefordert und diese Forderung seitdem mehrfach wiederholt. 26 Seit einigen Jahren sucht er diese Forschungsrichtung um eine sogenannte theory of materialengagement zu ergänzen, deren Ziel es ist, die Beziehungen zwischen dem Menschen und der materiellen Welt zu thematisieren. Dabei geht es um die Verwendung und den Status von Objekten (Artefakten im umfassenden Sinne) sowohl zwischen einzelnen Menschen als auch generell zwischen Menschen und ihrer Umwelt (Renfrew 2004, 23). 27 Letztendlich soll diese Theorie - die Renfrew als »einen bedeu‐ tenden Teil kognitiver (oder kognitiv-prozessualer) Archäologie« betrachtet - zur Analyse und zum Verständnis kulturellen Wandels beitragen (ebd.). In den rund 40 Jahren seit seiner Cambridger Inaugural Lecture über die Kognitive Archäologie (Renfrew 1982) ist ein weites Spektrum differenzierter 224 6 Über das Ordnen archäologischen Materials <?page no="225"?> 28 Siehe außer Renfrew 2004 und Malafouris 2004 z. B. auch andere Beiträge in DeMa‐ rais/ Gosden/ Renfrew 2004; ferner Hodder 2004. Überlegungen zur Frage von Geist versus Materie bzw. Geist versus Körper und ihren archäologischen Implikationen veröffentlicht worden. 28 Dennoch erscheint das gesamte Feld nach wie vor in einem beträchtlichen Maße diffus, und ich bezweifle aus prinzipiellen Erwägungen, dass sich dieser ›Nebel‹ angesichts der Natur archäologischer Quellen jemals lichten wird. Mir scheint das Potential einer Kognitiven Archäologie aus den oben umrissenen Gründen sehr gering zu sein. 6.6 Klassifikation, Heuristik und Realität 225 <?page no="227"?> 7 Über Zeit und Altersbestimmung: Relative und absolute Chronologie 7.1 Zum Konzept der Zeit Es liegt auf der Hand, dass historische Gegebenheiten erst dann sinnvoll zueinander in Beziehung gesetzt werden können, wenn ihr zeitliches Verhältnis bestimmt worden ist. Insofern kann man mit Fug und Recht sagen, Chronologie sei eine fundamentale Voraussetzung der Geschichts‐ wissenschaft - und damit auch der Ur- und Frühgeschichtsforschung. ›Chronologie‹ meint hier nicht nur im wörtlichen Sinne die ›Lehre von der Zeit‹, sondern auch das Ergebnis entsprechender Untersuchungen, also Zeitbestimmungen, die Feststellung zeitlicher Beziehungen und dergleichen mehr. In der archäologischen Praxis wird der Begriff vor allem in dieser zu‐ letzt genannten Bedeutung, das heißt im Sinne von ›Datierung‹ verwendet. Somit ist die eigentliche Bedeutung des Begriffs ›Chronologie‹ weitgehend in den Hintergrund gedrängt worden; der allgemeine Sprachgebrauch hat ihn und seine Ableitungen von der Ebene der Theorie und Methodik auf die der konkreten Datierung übertragen und damit seine eigentliche Bedeutung teilweise eingeschränkt. In diesem Sinne spricht man nunmehr von ›Me‐ thoden der Chronologie‹, wenn man eigentlich ›Methoden der Datierung‹ meint, und in gleicher Weise steht ›chronologisch‹ für ›zeitlich‹. Ich werde mich diesem Sprachgebrauch im Folgenden anschließen, allerdings auch die theoretischen und methodischen Implikationen des Begriffs ›Chronologie‹ erörtern. Mit Joseph W. Michels (1973, 3) können wir das Problem der Datierung als die »Achillesferse« der Archäologie bezeichnen. Dabei geht es um zwei Ebenen der Datierung, nämlich um die relative und um die absolute Chronologie. Bevor wir uns mit diesen beiden Begriffen näher vertraut machen, muss eine erste theoretische Bestimmung des archäologischen Zeitkonzepts erfolgen. Der Begriff ›Zeitkonzept‹ oder ›Zeitkonzeption‹ steht hier für die Gesamtheit des archäologischen Nachdenkens über Zeit. Damit sind also neben Vorstellungen über die Beziehungen zwischen dem Faktor ›Zeit‹ und der Ausprägung bestimmter archäologischer Funde und Befunde auch Datierungsmethoden sowie Modelle und Konzepte archäolo‐ gischer Periodisierung gemeint. Die verschiedenen Aspekte dieses Konzepts <?page no="228"?> 1 Chang 1967, 23. 2 Grundsätzlich zum Zeitkonzept einschließlich der Archäologie siehe Eggert 2011b/ 2023. Ferner unter anderem Bailey 1983; Lucas 2005; Murray 1999. bzw. die theoretischen und methodischen Konsequenzen, die sich aus der archäologischen Auffassung von Zeit ergeben, werden in diesem Kapitel nacheinander entwickelt. Es geht daher zunächst um einige generelle Bemerkungen zum Zeitkonzept in der Archäologie. Der amerikanische Archäologe Kwang-chih (»K. C.«) Chang (1931-2001) rechnete das Zeitkonzept zu den besonders schwierigen Konzepten der Archäologie. 1 Angeregt durch den britischen Sozialanthropologen Edmund Leach (1910-1989) differenzierte er das Konzept ›Zeit‹ in eine »naturwis‐ senschaftliche« und eine »kulturelle Zeit«. Diese Unterscheidung erscheint sinnvoll; allerdings deckt sich Changs Auffassung nur teilweise mit jener, die im Folgenden erläutert wird. Es empfiehlt sich zunächst einmal, Changs »kulturelle Zeit« in ein kulturspezifisches und ein kulturwissenschaftliches bzw. archäologisches Zeitkonzept zu untergliedern. Unter einem kultur‐ spezifischen Zeitkonzept verstehe ich jene Vorstellungen, die sich eine bestimmte Menschengruppe über ›Zeit‹ macht. Die Vielfalt solcher Zeitauf‐ fassungen und Zeitsysteme ist in der kulturanthropologischen Literatur mannigfach dokumentiert und diskutiert worden (z. B. Bradley 1993). Da solche Vorstellungen der von uns erforschten ur- und frühgeschichtlichen Menschen jedoch ebenso wie ihre bereits angesprochenen Konzeptionen der Artefaktkategorisierung unwiederbringlich verloren, das heißt der direkten Analyse nicht mehr zugänglich sind, spielt dieses Zeitkonzept in unserem Zusammenhang keine Rolle. Das kulturwissenschaftliche oder, konkreter, das archäologische Kon‐ zept von Zeit bestimmt sich im Wesentlichen als Gegenpol zum natur‐ wissenschaftlichen oder chronometrischen Zeitkonzept, wenngleich beide bisweilen eine enge Verbindung eingehen. 2 So bezieht sich die Archäo‐ logisch-Historische Methode der absoluten Datierung auf die gängigen chronometrischen Zeiteinheiten des Jahrs, Monats und Tags. Mit Hilfe dieser Methode werden archäologische Kulturen oder Phänomene und Räume, die lediglich relativ-chronologisch bestimmt sind, mit solchen verknüpft, deren absolut-zeitliche Position bekannt ist. Dabei dienen jene Kulturen, die über ein Kalendersystem und damit über absolute Zeitangaben verfügen, dazu, diese Zeitangaben auf Kulturen zu übertragen, deren absolut-chro‐ nologische Stellung wir nicht kennen. Das geschieht auf der Basis von 228 7 Über Zeit und Altersbestimmung: Relative und absolute Chronologie <?page no="229"?> absolut datierten Objekten der kalenderbesitzenden Kultur, die mit Objekten der zu datierenden Kultur in Geschlossenen Funden assoziiert sind. Die Archäologisch-Historische Methode stellt also eine Verknüpfung zwischen dem archäologischen und dem naturwissenschaftlichen Zeitkonzept her. Das archäologische Zeitkonzept ist unlösbar mit einem Phänomen ver‐ bunden, das der amerikanische Kunsthistoriker und Kulturanthropologe George Kubler (1912-1996) in einem grundlegenden Essay über die Ge‐ schichte materieller Formen the shape of time genannt hat. Mehr als jedes andere Fach hat es die Archäologie mit materiellen Formen zu tun, und ihr Zeitbegriff ist davon geprägt. Obwohl allgegenwärtig, ist Zeit nicht als solche, sondern nur über bestimmte Repräsentationen erfahrbar. Zu den unmittelbarsten Erfahrungen von Zeit durch den Menschen gehören der tägliche Wechsel von Tag und Nacht, die Jahreszeiten und damit verbunden das eigene unaufhaltsame Älterwerden oder, allgemeiner, der menschliche Lebenszyklus. Mit Kubler (1962, 13) können wir sagen, dass wir Zeit nur indirekt durch das erfahren, was in ihr passiert. Wir erfahren sie durch die Beobachtung von Wandel und Kontinuität. In diesem Sinne hat Kubler materielle Hervorbringungen des Menschen, also Artefakte aller Art, als Repräsentationen von Zeit begriffen, und es ist sein Verdienst, durch systematisches Nachdenken über Formenkonstanz und Formenwandel die Gestalt der Zeit konzeptuell erfasst und durch zahl‐ reiche empirisch verankerte Kategorien der Analyse zugänglich gemacht zu haben. Wenngleich er seine Vorstellungen in erster Linie an Beispielen aus dem Bereich der Kunstgeschichte entwickelt hat, unterscheidet sich sein Ausgangspunkt prinzipiell nicht von dem des Archäologen. Seine Überlegungen sind daher auch für uns von grundsätzlichem Interesse. Von Menschen geschaffene Dinge sind mit Kubler (1962, 1) die einzigen Zeugen der Vergangenheit, die wir ständig vor Augen haben, und er ist der Meinung, sie spiegelten das Vergehen oder - vielleicht richtiger - den Wandel der Zeit weit besser wider als wir gemeinhin annehmen. Sie »füllen«, so sagt er, »die Zeit mit Formen begrenzter Variationsbreite« - Konstanz und Wandel dieser materiellen Formen repräsentieren für ihn »historische Zeit« (ebd. 13). Den Dingen sei damit eine »kulturelle Uhr« inhärent, deren innere Struktur es zu ergründen gelte. Kubler ging es in erster Linie darum, wenn schon nicht eine Theorie der Zeit, so doch zumindest Bausteine für eine solche Theorie zu liefern, die der Geschichtswissenschaft, wie er zu Recht bemerkt (Kubler 1962, 1, 96), bis heute fehlt. Im Gegensatz zu dem mit Schriftquellen arbeitenden Historiker 7.1 Zum Konzept der Zeit 229 <?page no="230"?> 3 Es steht außer Frage, dass sich sowohl die Veränderung von Artefakten als auch die der Zusammensetzung von Geschlossenen Funden nicht allein mit oder in der Zeit - also entlang der Zeitachse - vollzieht. So etwas kann auch durch soziokulturelle Faktoren bedingt und damit in zeitlicher Hinsicht nachgeordnet sein. Davon sehe ich jedoch bei den folgenden Überlegungen um der chronologischen Fragestellung willen ab. 4 Strenggenommen gilt dies nicht nur für die Konstanz bzw. den Wandel des Habitus der materiellen Formen, sondern auch für die Beständigkeit bzw. Veränderung der typenspezifischen Vergesellschaftung von materiellen Formen vor allem in Geschlos‐ senen Funden. Zeitstufen etc. werden häufig auf der Basis solcher Veränderungen von Grabinventaren definiert. ist die Archäologie darauf angewiesen, die Einheiten der ihren Quellen innewohnenden kulturellen Uhr zu bestimmen. In diesem Zusammenhang sind Kublers Überlegungen zu historisch verknüpften Sequenzen materieller Formen von grundlegender Bedeutung; archäologisch gesehen entfaltet er damit die Implikationen des Montelius’schen Konzepts der »typologischen Serie«, ein Konzept, das Kubler trotz seiner Versiertheit in der einschlägigen deutschsprachigen theoretischen Literatur offenbar unbekannt geblieben ist. Halten wir also fest, dass das archäologische Zeitkonzept im Wesentlichen auf Konstanz und Veränderung materieller Formen beruht. 3 Dabei verstehe ich ›materielle Form‹ als ein Ganzes im Sinne einer Integration von Material, Morphologie und Ornamentik. Das Verhältnis von Konstanz und Wandel legt zugleich die Maßeinheit der kulturellen Uhr fest. Solange sich die materiellen Formen nicht verändern, befinden wir uns in ein und derselben Zeiteinheit; erst wenn sie sich wandeln, vollzieht sich der Schritt zu einer neuen. 4 Dabei ist es zunächst unerheblich, ob wir diese Zeiteinheiten Phasen, Stufen, Perioden, Horizonte oder sonst wie nennen. 7.2 Zum Konzept der relativen Chronologie Die relative Chronologie oder relative Datierung bestimmt das zeitliche Ver‐ hältnis von mindestens zwei archäologischen Phänomenen zueinander. Es geht einerseits um die zeitlich korrekte Abfolge von Ereignissen, Zuständen und Abläufen innerhalb einzelner lokaler oder regionaler Kultursequenzen und andererseits um die zeitliche Relation zwischen den Gegebenheiten solcher raumbezogenen Kulturphänomene. Dabei ergibt sich die Alternative ›gleichzeitig/ ungleichzeitig‹ und daraus folgen drei Möglichkeiten: (1) Phä‐ 230 7 Über Zeit und Altersbestimmung: Relative und absolute Chronologie <?page no="231"?> nomen A und Phänomen B sind gleichzeitig, (2) Phänomen A ist älter als Phänomen B und (3) Phänomen A ist jünger als Phänomen B. Das Kennzeichen relativer Chronologie ist somit das Fehlen eines zeitli‐ chen Fixpunktes, zu dem der Abstand der behandelten Phänomene mit Hilfe festgelegter Zeiteinheiten bestimmt werden kann. Das ist der wichtigste Unterschied zur absoluten Chronologie. Mit der relativen Festlegung des Früher oder Später und damit des Älter oder Jünger allein ist natürlich keineswegs die Frage beantwortet, um welche Zeitspanne die beiden so datierten Phänomene auseinanderliegen, das heißt konkret, um wie viele Jahre Phänomen A älter bzw. jünger als Phänomen B ist. Dies lässt sich nur mit Hilfe der absoluten Chronologie ermitteln. Ein Problem besonderer Art stellen die Zeiteinheiten der relativen Chro‐ nologie dar. Wir unterscheiden gemeinhin zwischen Epochen (›Zeitalter‹, z. B. Altsteinzeit, Bronzezeit), Perioden (z. B. Mittelneolithikum, Ältere Eisenzeit), Stufen (z. B. Bronzezeit A, Latène B), Phasen (z. B. Hallstatt A1, Latène D2) und Unter- oder Subphasen (z. B. Bronzezeit A2a, Latène D1a). Die genannte Abfolge repräsentiert eine hierarchische Gliederung, deren kleinste Einheit die ›Subphase‹ bildet. Dabei gilt es allerdings zu beachten, dass die Benennung solcher Zeiteinheiten in der archäologischen Praxis höchst unterschiedlich gehandhabt wird; auch die hier vorgeschlagene hierarchische Gliederung ist keineswegs allgemein akzeptiert. So entspre‐ chen die von Oscar Montelius (1885) herausgearbeiteten Perioden I bis IV der Nordischen Bronzezeit hierarchisch gesehen den Stufen A bis D der süddeutschen Bronzezeit-Chronologie von Paul Reinecke, wenngleich damit durchaus keine genaue zeitliche Parallelität unterstellt werden soll. Es geht hier lediglich darum, auf die mangelnde Systematik der einschlägigen chronologiebezogenen Nomenklatur in der Archäologie aufmerksam zu machen. Es wäre sicherlich wenig sinnvoll, bei der Periodisierung der Ur- und Frühgeschichte für die Entwicklung und Einhaltung eines strengen hierar‐ chischen Systems klassifikatorischer Einheiten zu streiten. Der weitgehend konzeptlose und allzu oft widersprüchliche Sprachgebrauch der Praxis stellt jedoch das andere Extrem dar. In diesem Dilemma versteht sich die hier präsentierte Hierarchie lediglich als ein Vorschlag, mit dem eine gewisse Ordnung in die Vielfalt der Begriffe bzw. Zeiteinheiten gebracht wird. Ein näheres Eingehen auf die Hierarchie insgesamt erscheint auch deswegen wenig sinnvoll, weil in der archäologischen Praxis nicht alle der genannten Einheiten gleichermaßen relevant sind. 7.2 Zum Konzept der relativen Chronologie 231 <?page no="232"?> Stufen und Phasen stellen - jedenfalls im Kontext der Chronologisierung des Neolithikums und der Metallzeiten - die wichtigsten Zeiteinheiten dar. Für diese Epochen erscheint es angebracht, das Konzept ›Phase‹ in der empirischen Realität immer im Sinne einer Untergliederung der mit dem Konzept ›Stufe‹ belegten Phänomene zu verwenden. Wie alle anderen archäologischen Zeiteinheiten sind auch Stufen und Phasen im Gegensatz zu chronometrischen Maßeinheiten dadurch gekennzeichnet, dass ihre Länge bzw. Dauer a priori unbekannt und mit archäologischen Mitteln nicht bestimmbar ist. Wenn also Müller-Karpe (1959, 182 ff.) die Urnenfelderzeit nördlich der Alpen in die Stufen Bronzezeit D (Bz D), Hallstatt A (Ha A) und Hallstatt B (Ha B) unterteilt und die beiden Hallstattstufen wiederum in die Phasen Ha A1 und Ha A2 sowie Ha B1, Ha B2 und Ha B3, so fehlt jede archäologische Möglichkeit, die Dauer dieser Stufen und Phasen chronometrisch, das heißt in Jahren, zu fixieren. Auf der Basis historisch-archäologischer Erwägungen glaubte er die nach diesem Modus relativ-chronologisch differenzierte Urnenfelderzeit zwischen dem 14. und dem 7. Jahrhundert v. Chr. ansetzen zu können (ebd. 226 ff.). Wenn er die Zeitspanne von 600 Jahren dann so auf die einzelnen Stufen und Phasen verteilte, dass er jeder seiner Untergliederungen rund 100 Jahre zuspricht, praktizierte er damit einen Schematismus, der sich einer angemessenen Begründung entzieht (Abb. 31). Konzept der relativen Chronologie verständnis orientiert und im relativ-chronologischen Kontext inadäquat sind. Wir hatten bei der Behandlung des archäologischen Zeitkonzeptes festgestellt, dass archäologische Zeiteinheiten über die Veränderung materieller Formen bzw. ihrer Assoziation definiert werden. Dies geschieht natürlich nicht auf der Basis eines einzigen, sondern möglichst vieler Typen, die wiederum miteinander in Geschlossenen Funden kombiniert sein sollen. Zu diesen sich verändernden Typen materieller Formen treten häufig auch andere, sich verändernde kulturelle Gegebenheiten ergänzend hinzu, z. B. bestimmte Aspekte des Bestattungsbrauchtums. Solange die zur Definition Abb. 31 Relativ- und absolut-chronologische Differenzierung der Urnenfelderzeit nach H. Müller-Karpe. Abb. 31: Relativ- und absolut-chronologische Differenzierung der Urnenfelderzeit. - Nach Müller-Karpe 1959. Die Struktur archäologischer Zeiteinheiten wird auch bei der chronologi‐ schen Bewertung der durch sie repräsentierten Zeitspanne in der Praxis oft nicht genügend bedacht. Hier besteht ein sehr wesentlicher Unterschied zwischen den Maßeinheiten der relativen und denen der absoluten Chro‐ 232 7 Über Zeit und Altersbestimmung: Relative und absolute Chronologie <?page no="233"?> nologie. So wie das Jahr als chronometrische Grundeinheit beliebig oft in Untereinheiten festgelegter Dauer differenziert werden kann (Monate, Wochen, Tage, Stunden etc.), so lassen sich auch darauf aufbauende chrono‐ metrische Einheiten ( Jahrzehnte, Jahrhunderte, Jahrtausende) entsprechend unterteilen. Das trifft auf archäologische Zeiteinheiten jedoch nicht zu. Es ist nicht möglich, innerhalb einer nicht weiter unterteilbaren Zeitstufe ein Früher und Später zu unterscheiden; die Zeitstufe muss vielmehr als Gesamtheit, als synchrones Gebilde betrachtet werden. Daher stellen allge‐ genwärtige Formulierungen wie »am Ende der Stufe A« oder »zu Beginn der Phase B« relativ-zeitliche Präzisierungen dar, die am herkömmlichen, chro‐ nometrischen Zeitverständnis orientiert und im relativ-chronologischen Kontext inadäquat sind. Wir hatten bei der Behandlung des archäologischen Zeitkonzepts festge‐ stellt, dass archäologische Zeiteinheiten über die Veränderung materieller Formen bzw. ihrer Assoziation definiert werden. Dies geschieht natürlich nicht auf der Basis eines einzigen, sondern möglichst vieler Typen, die wiederum miteinander in Geschlossenen Funden kombiniert sein sollen. Zu diesen sich verändernden Typen materieller Formen treten häufig auch andere, sich verändernde kulturelle Gegebenheiten ergänzend hinzu, bei‐ spielsweise bestimmte Aspekte des Bestattungsbrauchtums. Solange die zur Definition der jeweiligen Zeiteinheiten gewählten Typen und sonstigen Phänomene konstant sind, bleibt folglich die entsprechende Zeiteinheit ›konstant‹; wandelt sich hingegen das Erscheinungsbild der Typen und der damit verknüpften Phänomene und/ oder verändern sich die betreffenden Assoziationen, liegt definitionsgemäß ein Stufen- oder Phasenwechsel vor. Somit kommt der Stringenz der den jeweiligen relativen Zeiteinheiten zugrunde liegenden Definition entscheidende Bedeutung zu. Die Erfahrung lehrt, dass hier in der archäologischen Praxis häufig gesündigt wird. Die oben kritisierten, die Möglichkeit einer inneren Diffe‐ renzierung relativer Zeiteinheiten unterstellenden Formulierungen beruhen oft auf laxen Definitionen. So pflegt man - wenn das Bild erlaubt ist - ›erste Vorboten‹ einer neuen ›Typenfront‹, also einer neuen Zeiteinheit, im Sinne des nahen Endes der zur Diskussion stehenden Stufe etc. zu interpre‐ tieren. Analog deutet man eine ›noch schwach ausgeprägte Typenfront‹ als ›Beginn‹ einer neuen Zeiteinheit. Da sich jedoch die mannigfachen Deter‐ minanten, die solche und ähnliche Typenbilder verursachen, der Einsicht und Kontrolle der Archäologie entziehen, ist es ihr strenggenommen nicht möglich, derartige Aussagen zu treffen. Ihr bleibt vielmehr nur ein rigoroser 7.2 Zum Konzept der relativen Chronologie 233 <?page no="234"?> 5 Whitehead 1925, 74 ff., 85. Schematismus, um zu einigermaßen konsistenten relativ-chronologischen Einheiten zu kommen. In diesem Sinne markieren neue oder wesentlich veränderte Typen eine neue Zeiteinheit, und die qualitative und quantitative Grundlage dürfte kaum jemals so gut und eindeutig sein, dass man aus dem Nebeneinander alter und neuer Typen wirklich auf eine spezifische zeitliche Position innerhalb der betreffenden relativ-chronologischen Einheit schlie‐ ßen könnte. Wo dies dennoch geschieht, wird zumeist stillschweigend eine kontinuierliche Formenentwicklung unterstellt, und die Präzisierung von Positionen innerhalb dieser Stufe oder Phase beruht dann auf der selektiven Betrachtung einzelner Formen. Allgemein ist jedenfalls festzuhalten, dass es zwischen den relativ-chronologischen Einheiten und jenen der Chronome‐ trie einen grundlegenden strukturellen Unterschied gibt. In Anbetracht dieser Ausgangslage kann über den ›ontologischen‹ Status von Stufen und Phasen, um bei den wichtigsten relativ-chronologischen Maßeinheiten der archäologischen Praxis zu bleiben, keinerlei Zweifel bestehen. Sie verkörpern ebenso wenig wie die sie konstituierenden Typen historische Entitäten, sondern sind Konstrukte der Archäologie. Wenn ihnen dennoch häufig, allerdings meist implizit, eine Existenz ›an sich‹ zuerkannt wird, haben wir es mit einer in den Wissenschaften weitverbrei‐ teten Erscheinung zu tun, die der britisch-amerikanische Mathematiker und Philosoph Alfred North Whitehead (1861-1947) 5 bereits vor fast genau 100 Jahren als fallacy of misplaced concreteness gegeißelt hat. Dieser »Trugschluß unangebrachter Konkretisierung« spielt auch in kulturanthropologischen Fächern wie der Archäologie eine große Rolle (Eggert 1977/ 2023, 57 f.). Dass dieser Trugschluss in der Archäologie zum Alltäglichen gehört, ist eigentlich erstaunlich, wenn man sich einmal die Struktur der Chrono‐ logiesysteme von Reinecke ansieht. Die Tatsache, dass er nicht nur für die Bronze-, sondern auch für die Hallstatt- und Latènezeit jeweils vier Stufen herausgearbeitet hat, hätte doch immer schon zu dem einzig sinnvollen Schluss führen müssen: Eine dermaßen gleichförmige chronologische Struk‐ tur kann nicht historische Realität, sondern nur intellektuelle Konstruktion sein. 234 7 Über Zeit und Altersbestimmung: Relative und absolute Chronologie <?page no="235"?> 6 Siehe auch oben, Kap. 7.1 (S. 227 ff.). 7 In den hier interessierenden Erörterungen knüpft Steuer vor allem an die durch M. Ørsnes (1969, 10 ff.) vermittelten Überlegungen von Almgren (1955, 70 ff.) an. Siehe zu den folgenden Darlegungen auch Steuer 1990. 7.3 Über Grenzen relativ-chronologischer Differenzierung Seit der Herausbildung der großen, bis auf den heutigen Tag tradierten Chronologiesysteme von Montelius und Reinecke im letzten Viertel des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts besteht in der deutschsprachigen Ur- und Frühgeschichtsforschung eine ausgeprägte Tendenz, die entsprechen‐ den relativ-chronologischen Einheiten immer weiter zu verfeinern. Rolf Hachmann (1960, 20), der sich selbst in einer Reihe grundlegender Arbeiten mit der Feinchronologie insbesondere der Vorrömischen Eisenzeit ausein‐ andergesetzt hat, veranschaulichte die hinter diesen Bemühungen stehende Idee mit einer auf den ersten Blick überzeugenden Metapher: In einem Film wirke das dargestellte Geschehen umso lebensnäher, je größer die Zahl der »Momentaufnahmen«, also der aneinandergereihten »Zustände innerhalb einer bestimmten Zeiteinheit« sei. Das gelte auch für kulturgeschichtliche Vorgänge innerhalb einer Zeitstufe - sie würden umso deutlicher, je feiner die Auflösung dieser Zeitstufe in Phasen und Subphasen sei. In Hachmanns Worten: »Und je größer die Zahl der Unterstufen ist, desto lebensnäher wird das Bild vom vergangenen Geschehen, das sich danach zeichnen läßt.« Diese Metapher basiert offenkundig auf einem chronometrischen Verständnis relativer archäologischer Chronologie und lässt damit den oben angesprochenen Unterschied zwischen den beiden Zeitdifferenzierungen außer Acht: Die Einheiten der relativen Zeiteinteilung lassen sich aber nicht mit der Elle der auf zyklischen astronomischen Abläufen beruhenden Einheiten der naturwissenschaftlichen Zeit messen. 6 Das Bedürfnis nach einer immer feineren relativen Chronologie ist nicht nur ungebrochen, sondern so dominant, dass sich Heiko Steuer (1990, 498) veranlasst sah, von einem nicht zu rechtfertigenden »zwanghaften Drang« zu sprechen. Dem gleichen Autor verdanken wir eine der äußerst raren grundlegenden Auseinandersetzungen mit dem Problem der relativ-chro‐ nologischen Untergliederung archäologischer Phänomene: Steuer (1977) hat speziell den Aspekten des Sterbealters und der Grabausstattung im Kontext der sogenannten ›Feinchronologie‹ eine Reihe grundsätzlicher Überlegun‐ gen gewidmet. 7 Wenngleich er speziell chronologische Probleme der Mero‐ 7.3 Über Grenzen relativ-chronologischer Differenzierung 235 <?page no="236"?> 8 Hierzu Steuer 1977, 381, 390 et pass. wingerzeit behandelt, sind seine Ausführungen nicht nur für diese Epoche, sondern für das gesamte Thema der Chronologisierung von Grabbeigaben relevant. Es geht ihm bei der Erörterung der verschiedenen methodischen Ansätze zur zeitlichen Gliederung der Merowingerzeit weniger um das archäologisch Konkrete als vielmehr um den konzeptuellen Hintergrund der chronologischen Systeme und ihrer jeweiligen Begrifflichkeit. Im Mittel‐ punkt seiner Überlegungen steht der Status von chronologischen Einheiten zwischen historischer Realität und Fiktion. Damit ist zugleich die Frage angesprochen, inwieweit das allgegenwärtige Interesse der Forschung an immer feineren relativ-chronologischen Gliederungen sinnvoll ist, und wo das Bemühen um Feinchronologie an seine Grenzen stößt. 8 Steuer (1977, 390) meint, dass bestenfalls chronologische Einheiten (»Perioden«) von 50 Jahren Dauer erreichbar seien. Diese Zeitspanne repräsentiert seiner Meinung nach die »mittlere ›Lebensdauer‹ eines Typs«; sie könne bei einer auf Typen beruhenden chronologischen Einheit so lange nicht unterschritten werden, wie es keine Möglichkeit gebe, die Zeitspanne zwischen der Herstellung und der Deponierung der entsprechenden Objekte zu bestimmen. Der Ausgangsüberlegung Steuers (1977, 387), zwischen dem Grad der Feinchronologie und der Lebensdauer der betreffenden chronologischen Leittypen bestehe eine direkte Korrelation, wird man zustimmen müssen. Zur Diskussion steht lediglich der von ihm vorgeschlagene ›Mittelwert‹. Die dabei in Betracht gezogene Zeitspanne von rund 50 Jahren resultiert aus drei Annahmen: (1) Ein handwerklich tätiges Individuum hält während seiner gesamten aktiven Produktionszeit an den gleichen Formen fest; diese Zeit kann 30 bis 40 Jahre betragen (ebd.); (2) die Möglichkeit der Deponierung eines Objekts als Beigabe setzt unmittelbar nach seiner Fertigung ein, aber die Wahrscheinlichkeit der Deponierung dieser Formen nimmt mit der Zahl der produzierten, das heißt der im Umlauf befindlichen Stücke zu. Hieraus folgt, dass sie in einem fortgeschrittenen Stadium des Herstellungszeitraums am größten sein wird; (3) die empirische Erfahrung lehrt, dass in Gräberfel‐ dern die maturen Individuen, das heißt die in einem Alter von 40 bis 60 236 7 Über Zeit und Altersbestimmung: Relative und absolute Chronologie <?page no="237"?> 9 Steuer (1977, 389) schreibt wörtlich: »Da die größte Wahrscheinlichkeit für den Erwerb eines Gegenstandes dann besteht, wenn er am meisten vorhanden ist, also zwischen Höhepunkt und Schluß der Produktion, und die Wahrscheinlichkeit ebenfalls relativ groß ist, daß die Funde mit maturen Toten in die Erde gelangen, liegt die größte Wahrscheinlichkeit für die Vergrabung eines Gegenstandes im Bereich eines halben Jahrhunderts nach dem Beginn der Herstellung.« Er erläutert seine Auffassung an einem konkreten Beispiel: »Ein junger Mensch von 20 Jahren erwirbt einen Gegenstand, der in gleicher Form seit 30 Jahren hergestellt wird, behält ihn und bekommt ihn mit 50 mit ins Grab: Der Fund deckt einen Zeitraum von 60 Jahren ab.« Jahren Verstorbenen, vorherrschen. Es ist daher zu erwarten, dass sich die meisten Objekte in Gräbern maturer Toter finden. 9 Bei Ausrüstungs-, Tracht- und Schmuckgegenständen wird die Spanne zwischen dem Zeitpunkt ihrer Herstellung und dem ihres Erwerbs in aller Regel wohl relativ kurz gewesen sein. Damit nähert sich die Zeitspanne zwi‐ schen Herstellung und Deponierung weitgehend jener an, die zwischen dem Zeitpunkt des Erwerbs durch ein Individuum und dem seines Todes liegt. Die Deponierungswahrscheinlichkeit und damit die Deponierungshäufigkeit eines Gegenstands nimmt mit der Zahl der umlaufenden Stücke zu, ist also - wie Steuer (1977, 387) zu Recht feststellt - gegen Ende der Produktion am größten. Er meint, dass zwischen dem Zeitpunkt des Erwerbs eines Objekts und dem seiner Deponierung oft rund 20 bis 45 Jahre lägen, wobei häufig durchaus auch ein halbes Jahrhundert erreicht werde (ebd. 389). Die erste der beiden oben angeführten Annahmen, aus denen Steuer für Schmuck und andere potenzielle Grabbeigaben eine Laufzeit bzw. eine mittlere ›Lebensdauer‹ von rund 50 Jahren erschließt, überzeugt nicht: In einer Region mit mehreren miteinander kommunizierenden Siedlungsge‐ meinschaften wird es immer mehrere gleichzeitig produzierende Handwer‐ ker gegeben haben. Mit seiner Vorstellung eines einzigen produzierenden Individuums geht er zwangsläufig von einer statischen Gesellschaft aus. Daraus wiederum resultieren gewisse Verzerrungen bei der Interpretation der Fertigung und Veränderung materieller Güter. Der konkrete Produkti‐ onsprozess ist de facto an ein Kontinuum unterschiedlicher Lebensalter der Produzenten geknüpft. Im Einklang damit vollzieht sich die Weiter‐ gabe und Veränderung der die Produktion leitenden handwerklichen und ›ästhetischen‹ Normen ebenfalls kontinuierlich. Dabei werden die jeweils neu initiierten bzw. jüngeren Handwerker in aller Regel innovationsfreudi‐ ger als ihre Lehrmeister sein, wenngleich dies eine Innovationsfähigkeit, Innovationsbereitschaft und Innovationsannahme der Älteren keineswegs 7.3 Über Grenzen relativ-chronologischer Differenzierung 237 <?page no="238"?> ausschließt. Die materielle Produktion ist im realen Leben also in einem mehr oder weniger ausgeprägten kontinuierlichen Wandel begriffen. Das Modell Steuers ist dieser dynamischen Konzeption des Produktions‐ prozesses genau entgegengesetzt. Würde sein statisches Konzept tatsächlich die Produktion bestimmen, müsste die Gesamtheit der Sachgüter nicht durch Wandel, sondern durch Konstanz geprägt sein. Eine Veränderung der Sachgüter, konkret also der ›Typvertreter‹, wäre dann weitgehend ausgeschlossen, da das Modell postuliert, dass jeder Handwerker während seiner gesamten aktiven Zeit die gleichen Typen herstellt und in diesem Sinne natürlich auch den Nachwuchs ausbildet. Das Phänomen des Wan‐ dels materieller Formen impliziert allerdings nicht die Existenz irgendwel‐ cher Regeln oder gar Gesetzmäßigkeiten, nach denen sich dieser Wandel vollzieht. Der Archäologie bleibt nur, die in dieser Hinsicht negativen Ergebnisse der kulturanthropologischen Innovationsforschung zur Kennt‐ nis zu nehmen. Aus der Vielfalt der potenziellen, einen Formenwandel auslösenden Stimuli ergibt sich, dass jeder innovative Prozess samt seiner materiellen Ausprägungen individuell erforscht werden müsste; das vermag die Archäologie aufgrund ihrer spezifischen Quellenlage jedoch nicht zu leisten. Sie muss für den Formenwandel somit gewisse Modellvorstellungen entwickeln, die sich an den Ergebnissen der kulturanthropologischen For‐ schung orientieren sollten. Wenn wir in dem hier interessierenden Falle das recht mechanistische Modell Steuers durch eine dynamischere Version ersetzen, verändert sich damit zwar die Spanne der ›mittleren Laufzeit‹ von Typen, nicht aber jene Implikationen, die die Feinchronologie betref‐ fen. Eine ›dynamischere‹ Auffassung der materiellen Produktion würde also nicht von der Betrachtung eines einzigen Handwerkers, sondern von mehreren, miteinander kommunizierenden und sich dadurch gegenseitig beeinflussenden Handwerkern ausgehen. Man sollte auch nicht die Annahme eines durchschnittlichen Herstel‐ lungszeitraums von 30 bis 40 Jahren für gleichartige Objekte zugrunde legen, sondern versuchen, den Mindestzeitraum einzuschätzen. Natürlich kann man hierüber nur spekulieren. Jedenfalls sollte man diesen Zeitraum möglichst niedrig ansetzen, um im Sinne der zur Diskussion stehenden Fragestellung zu einer möglichst kurzen zeitlichen Spanne relativ-chronolo‐ gischer Einheiten zu kommen. Für chronologisch aussagefähige Objekte im Sinne weitgehend ›normierter‹ Produkte des Metallhandwerks wie Fibeln, Nadeln, Ringe und Schwerter wird man dabei jedoch kaum unter die Grenze von einem bis zwei Jahrzehnten gehen wollen. Zu diesem Schätzwert ist 238 7 Über Zeit und Altersbestimmung: Relative und absolute Chronologie <?page no="239"?> die Nutzungsdauer der Objekte bis zum Zeitpunkt ihrer Deponierung in Gräbern hinzuzurechnen. Hier wird man bei Schmuck-, Tracht- und anderen Gegenständen der persönlichen Ausstattung und Ausrüstung wie Waffen sicherlich eine mittlere Nutzungsdauer von mindestens 15 Jahren unterstel‐ len müssen. Bei der angenommenen Herstellungsspanne von mindestens 15 Jahren würde sich der ›Deponierungszeitraum‹ auf etwa 30 Jahre belaufen. Dabei wird unterstellt, dass die ersten Exemplare des betreffenden Typs schon sehr bald nach Produktionsbeginn in die Erde geraten sind. Auf die Länge des Deponierungszeitraums wirkt sich auch das unter‐ schiedliche Lebensalter gleichzeitig tätiger Handwerker und die damit in Zusammenhang stehende Innovationsfreudigkeit aus. Außerdem dürften dabei auch deren individuelle Dispositionen - das Festhalten am Überkom‐ menen bzw. der Wunsch nach Veränderung - eine wichtige Rolle gespielt haben. Es ist also in der Praxis damit zu rechnen - und ein dynamisches Modell sollte dies berücksichtigen -, dass zur gleichen Zeit ›moderne‹ wie inzwischen schon ›veraltete‹ Objekte hergestellt, erworben und deponiert werden. Es sei noch einmal betont, dass es sich bei allen vorgetragenen Überlegun‐ gen zur zeitlichen Quantifizierung der ›Lebensdauer‹ materieller Formen nur um sehr subjektive Schätzwerte handeln kann. Der hier angenommene Wert von 30 Jahren als Deponierungszeitraum für die im Laufe von 15 Jahren gefertigten Exemplare eines Metalltyps tendiert meines Erachtens zu einer eher zu niedrig denn zu hoch angesetzten Zeitspanne. Viele Metallobjekte sind vermutlich länger hergestellt und auch genutzt worden, so dass die durch ihre Präsenz im aktiven Formenvorrat einer Bevölkerung repräsen‐ tierte Zeitspanne durchaus länger gewesen sein dürfte - eine Zeitspanne, in deren Verlauf es natürlich immer wieder zu Deponierungen dieses Typs ge‐ kommen ist. Hinzu tritt das Phänomen der parallelen Produktion und damit auch der parallelen Deponierung alter bzw. älterer und moderner Formen. Insbesondere exzeptionelle Objekte, denen in der Gemeinschaft überdies vielleicht eine Insignienfunktion zukam - Steuer (1990, 500) nennt in diesem Zusammenhang merowingerzeitliche Goldgriffspathen, Ringschwerter und Prunkhelme -, dürften häufig auch vererbt und damit erst erhebliche Zeit nach ihrer Produktion deponiert worden sein. Somit ergibt sich, dass selbst bei Annahme einer Mindestlaufzeit des chronologisch relevanten Sachguts von rund 30 Jahren die darauf basierende Zeiteinheit nicht auf diese Zeitspanne festzulegen ist. Wendet man diese Überlegungen auf konkrete Gräberfelder an, hat das direkte Konsequenzen 7.3 Über Grenzen relativ-chronologischer Differenzierung 239 <?page no="240"?> 10 Bisweilen werden statt ›vor Christus‹ und ›nach Christus‹ (›v. Chr.‹ bzw. ›n. Chr.‹) auch - um den Bezug auf Christi Geburt zu vermeiden - Bezeichnungen ›vor‹ bzw. ›nach unserer Zeitrechnung‹ (›v. u. Z‹ bzw. ›n. u. Z.‹) oder ›vor‹ bzw. ›nach der Zeitenwende‹ (›v. Z.‹ bzw. ›n. Z.‹) verwendet. Im Englischen lauten entsprechende Bezeichnungen bei Umgehung des christlichen Bezugs ›Before (the) Common‹ oder Current Era‹ und Common/ Current Era‹ (›BCE‹ bzw. ›CE‹). Oder auf Deutsch: ›Vor der Üblichen‹ oder ›Gegenwärtigen Ära‹ bzw. ›Übliche‹ oder ›Gegenwärtige Ära‹). auf die Beurteilung feinchronologischer Differenzierungen: Es erscheint höchst fraglich, dass sich eine Belegungsdauer von etwa zwei Generatio‐ nen, also eine Zeitspanne von rund 50 bis 60 Jahren, mit traditionellen Mitteln - also durch morphologisch-ornamentale Typdifferenzierung und Auswertung von Geschlossenen Funden - unterteilen lässt. Insofern vermag auch eine ›dynamischere‹ Sichtweise der Produktion materieller Güter, ihrer Nutzung und Deponierung, die im Gegensatz zu Steuer von einer sehr kurzen Mindestlaufzeit des einschlägigen Sachguts ausgeht, letztlich kein anderes Gesamtergebnis zu erzielen. Die von Steuer (1977, 390) für die Merowingerzeit festgestellte Diskrepanz zwischen »dem Bestreben der Forschung, eine exakte chronologische Systematik« aufzubauen und dem »theoretisch Möglichen und Sinnvollen« gilt offenbar ganz generell. 7.4 Das Konzept der absoluten Chronologie Im Gegensatz zur relativen Zeitbestimmung vermag die absolute Chronolo‐ gie im Idealfall die zeitliche Position eines beliebigen Ereignisses exakt zu fixieren. Dazu bedarf es eines festen Bezugspunkts, von dem aus oder zu dem der Abstand dieses Ereignisses in Jahren - dem gängigen, astronomisch gegründeten naturwissenschaftlichen oder chronometrischen Zeitmaß - ausgedrückt wird. Der von uns verwendete christliche Kalender 10 und seine Standardzeitmaße ›Tag‹, ›Monat‹ und ›Jahr‹ beruhen auf drei zyklischen Abläufen: (1) der Rotation der Erde um die eigene Achse (Tag), (2) den Mondphasen, das heißt der Bahn des Mondes um die Erde (Monat), und (3) der Bahn der Erde um die Sonne ( Jahr). Aufgrund der unterschiedlichen Länge von Mond- und Sonnenjahren (das Mondjahr ist um 11 Tage kürzer) hat man die Länge der 12 Monate des Mondjahres so festgelegt, dass Mond- und Sonnenjahr gleich lang sind. Somit ist die reale zeitliche Erstreckung der 12 Mondzyklen durch Konvention an die Dauer einer Umrundung der Sonne durch die Erde angepasst worden. Insofern beruht die Monatsrech‐ nung unseres Kalenders zwar noch auf einem zyklischen astronomischen 240 7 Über Zeit und Altersbestimmung: Relative und absolute Chronologie <?page no="241"?> 11 Siehe Gossler 1981, 44 (s. v. »juedische Weltaera«). Phänomen, stimmt aber chronologisch gesehen nicht mehr mit ihm überein (Bickerman 1980, 19). Der Bezugspunkt unseres christlichen Kalenders ist ›Christi Geburt‹, und alle absolut zu datierenden Gegebenheiten werden je nach ihrer zeitlichen Position zu diesem Bezugspunkt in Jahren ›vor‹ bzw. ›nach Christus‹ aus‐ gedrückt. In Ländern mit einer marxistischen Staatsordnung hat bzw. hatte man den christlichen Kalender zwar beibehalten, den Bezugspunkt aber aus ideologischen Gründen durch die Formel ›vor unserer Zeitrechnung‹ bzw. ›unserer Zeitrechnung‹ ersetzt. Der christliche Kalender ist natürlich nur eine Möglichkeit der absolut-chronologischen Fixierung. In islamischen Ländern bezieht man sich auf die Hedschra, die Flucht Mohammeds von Mekka nach Medina, die im Jahre 622 n. Chr. stattfand. Der jüdische Kalender hingegen beginnt seine Jahreszählung mit der Erschaffung der Welt, die nach der Überlieferung an einem Tag stattgefunden hat, der nach unserem Kalender auf den 7. Oktober 3761 v.-Chr. fällt. 11 Im Zusammenhang mit der Entwicklung der Radiokarbonmethode wurde ein von religiösen Systemen unabhängiges, naturwissenschaftliches Zeit‐ system eingeführt, dessen Bezugspunkt die ›Gegenwart‹ ist. Die zeitliche Position der zur Diskussion stehenden Phänomene wird dabei in Jahren Before Present (›B. P.‹) bzw. ›vor Heute‹ ausgedrückt. Da ›Gegenwart‹ bzw. ›Heute‹ jedoch relative Begriffe sind, war auch hier ein fester Bezugspunkt notwendig. Man kam daher im Jahre 1962 überein, das Jahr 1950 n. Chr. als ›Gegenwart‹ festzulegen (Flint/ Deevey 1962, V). Zum einen bot es sich als eine Bezugsgröße an, mit der gut zu rechnen war, zum andern ehrte man damit zugleich den amerikanischen Physiker Willard F. Libby (1908-1980), der in den unmittelbar vorausgehenden Jahren die Radiokar‐ bonmethode entwickelt hatte. In diesem Sinne interpretierte man das Kürzel B. P. nunmehr als Before Physics, das heißt ›vor der kernphysikalischen Altersbestimmung‹. Man könnte meinen, dass der zeitlichen Differenz zwischen dem jeweils realen ›Heute‹ und dem per Übereinkunft festgelegten ›1950‹ im Bereich für die letzten drei Jahrtausende eine gewisse Bedeutung zukommen müsse, die dann jedoch mit zunehmendem Alter des zu datierenden Phänomens immer geringer werde. In diesem Sinne wäre für einen im Jahre 1995 mit Hilfe der Radiokarbonmethode auf 2030 ± 25 B. P. datierten spätlatènezeit‐ lichen Fundkomplex mit Nauheimer Fibeln und Keramik die entsprechende 7.4 Das Konzept der absoluten Chronologie 241 <?page no="242"?> 12 Hierzu z. B. Becker 1992; ders. 1993; Willkomm 1988. Zum neueren Forschungsstand siehe Bronk Ramsey et al. 2006; Manning/ Wacker/ Büntgen et al. 2020; Reimer/ Austin/ Bard et al. 2020; Taylor/ Bar-Yosef 2014; ferner Geyh 2005, 69 ff.; Kromer 2008. Differenz von 45 Jahren vielleicht von erheblichem Interesse, während dies für einen im gleichen Jahre auf 36 000 ± 105 B. P. datierten Lagerplatz jungpaläolithischer Jäger des Gravettien hingegen als irrelevant zu gelten hätte. Tatsächlich ist diese Differenz jedoch grundsätzlich irrelevant, denn die konventionellen Altersangaben der Radiokarbondatierung repräsentie‐ ren keine Sonnen-, sondern ›Radiokarbon‹-Jahre. Durch die ›Kalibration‹ der 14 C-Daten mit Hilfe der Dendrochronologie 12 spielt der zeitliche Abstand zwischen dem realen ›Heute‹ und dem auf 1950 festgelegten ›Heute‹ der Radiokohlestoff-Methode keine Rolle mehr. Dieser schnelle Blick auf die verschiedenen absolut-chronologischen Bezugssysteme zeigt, dass die absolute oder chronometrische Datierung ebenfalls eine wesentliche relative Komponente enthält. Absolute Zeit wird in Relation zu einem wie auch immer festgelegten Fixpunkt gemessen. Auf der anderen Seite setzt chronometrisches Datieren eine auf unverän‐ derlichen Gegebenheiten beruhende Quantifizierung von Zeit voraus. Die Grundeinheit dieser Quantifizierung ist das tropische oder solareJahr mit einer feststehenden Länge von 365 Tagen, 5 Stunden, 48 Minuten und 47 Sekunden. In diesem Sinne spricht man also zu Recht von ›absoluter‹ Datierung. Abschließend sei noch erwähnt, dass alle Methoden der absolu‐ ten Zeitbestimmung mit Ausnahme der Dendrochronologie keine präzisen Jahresangaben, sondern nur mehr oder weniger große Datierungsspannen zu liefern vermögen. Die Möglichkeit exakter absoluter Datierung ist somit schon aus prinzipiellen bzw. methodischen Gründen recht begrenzt. Im archäologischen Alltag kommt daher der relativen Datierung eine größere Bedeutung als der absoluten Zeitbestimmung zu. 242 7 Über Zeit und Altersbestimmung: Relative und absolute Chronologie <?page no="243"?> 1 Siehe z. B. Brockhaus Enzyklopädie 19 21 (1993) 161; Geyer 1973, 9. - Aus dem um‐ fangreichen Schrifttum zu Stensen konsultiere man vor allem Scherz (1963) und Fabian (1988). Dem Essay von Fabian ist ein Nachdruck der 1923 von Mieleitner veröffentlichten deutschen Übersetzung der hier interessierenden Arbeit von Stensen (Vorläufer einer Dissertation über feste Körper, die innerhalb anderer fester Körper von Natur aus eingeschlossen sind) vorangestellt (Steno 1988); ein zweiter Band erhält einen Faksimiledruck der Originalausgabe, die 1669 in Florenz erschienen ist: De solido intra solidum naturaliter contento Dissertationis Prodromus. 2 Hierzu Steno 1988, 43 f.; Fabian 1988, 148 f. Die Formulierung des Lagerungsgesetzes ist in vier nummerierten Überlegungen enthalten, in denen Steno (1988, 43 f.) systematisch über den »Ort der Schichten« handelte. Damit nahm er das später von E. C. Harris (1989, 29 ff.) so bezeichnete »Gesetz der ursprünglichen Horizontalität« und das »Gesetz der ursprünglichen Kontinuität« vorweg. Das Stratigraphische Grundgesetz findet seinen klarsten Ausdruck in der zweiten Überlegung: »2. Zu der Zeit, als eine der oberen Schichten entstand, hatte die untere bereits feste Konsistenz erlangt« (Steno 1988, 43). 8 Schichten und ihr Inhalt: Die Stratigraphische Methode 8.1 Über die Entwicklung der Methode Es ist allgemein bekannt, dass das Phänomen der Stratifizierung, das heißt der Abfolge von Schichten oder ›Straten‹ (lat. stratum, Schicht), in der Geo‐ logie erkannt und zu einem methodologischen Prinzip entwickelt wurde. Dabei spielte auch das paläontologische Interesse der auf diesem Felde führenden Gelehrten eine wesentliche Rolle, denn der Fossiliengehalt der erkannten Schichten wurde von Anfang an als ein sehr wichtiger Faktor für die Interpretation dieser Schichten gewertet. Der bedeutende dänische Arzt, Naturwissenschaftler und - nach der Konversion vom protestantischen zum katholischen Glauben - spätere Bischof Niels Stensen (1638-1686) wird in Lexika und einschlägigen Handbüchern als Urheber »des Grundgesetzes der Stratigraphie« genannt. 1 Dieses sogenannte ›Lagerungsgesetz‹ von Nicolaus Stenonis oder Steno - so lautete sein Name in latinisierter Form - besagt, dass bei der Entstehung geschichteter Sedimentgesteine Schicht auf Schicht folgt, so dass bei ungestörter Lagerung die jeweils jüngere Schicht auf der älteren ruht. 2 Steno hat sich bei seiner Interpretation erdgeschichtlicher Vorgänge bereits auf Fossilien gestützt, die in den Schichten eingeschlossen waren. Aus dänischen Sammlungen waren ihm zungenförmig gestaltete Steine, <?page no="244"?> 3 Ein beträchtlicher Teil dieser Zungensteine stammte von den Kalkklippen auf Malta, und nach dem Volksglauben bezogen sie ihre heilende Wirkung aus der Tatsache, dass der Apostel Paulus während seiner Reise nach Rom auf der Insel schiffbrüchig geworden war. 4 Steno sagt über die Zungensteine: »Dass es Haizähne sind, beweist ihre Gestalt, weil sie einander völlig ähnlich sind, Fläche um Fläche, Seite um Seite, Basis um Basis. […] Da man also die aus der Erde gegrabenen Körper, die Teilen von Tieren gleichen, für Teile von Tieren halten kann; da die Zungensteine ihrer Gestalt nach den Haifischzähnen gleichen wie ein Ei dem andern; da weder ihre Zahl noch ihre Lage im Boden dagegen spricht, so scheinen mir diejenigen nicht weit von der Wahrheit zu sein, die behaupten, dass die Zungensteine Haifischzähne sind« (zit. nach Scherz 1963, 188). In diesem Zusammenhang ist besonders bemerkenswert, dass Mercati in seinem Manuskript Metallotheca Vaticana, aus dem Stensen den Kupferstich des Haikopfs und der beiden Zähne reproduzierte, davor warnt, die Zungensteine mit Haifischzähnen zu verwechseln (Scherz 1987, 172). 5 Hierzu auch Harris (1989, 1 f.). damals so genannte Glossopetrae oder ›Zungensteine‹, bekannt, denen man in der Volksmedizin Heilkraft zubilligte. Tatsächlich handelte es sich dabei um fossile Haifischzähne, die jedoch nicht als solche erkannt wurden. 3 Als der achtundzwanzigjährige Steno als Gast des Großherzogs Ferdinando II. de’ Medici in Florenz weilte, ließ sein Gönner den Kopf eines großen, in Küstennähe gefangenen Hais nach Florenz transportieren, damit ihn der bereits als Anatom sehr bekannte Steno sezieren konnte. Aufgrund seiner eingehenden Untersuchung der in mehreren Reihen angeordneten Zähne des Haifischs kam Steno in einer 1667 gedruckten Schrift über die Sektion dieses Haifischkopfs zu dem Ergebnis, dass es sich bei den Glossopetrae um versteinerte Haifischzähne handeln müsse (Abb. 32). 4 In der gleichen Schrift hat er auch andere steinerne Objekte, die Teilen von Tieren ähnelten und ihrerseits wiederum in Gestein eingebettet waren, als Reste einstiger aquatischer Lebewesen gedeutet. Aus seinen konsequent und systematisch entwickelten Überlegungen zog er dann in sehr vorsichtiger Weise den Schluss, dass die Gesteine, die solche Reste enthalten, einstmals wohl nicht verfestigt und überdies von Wasser bedeckt gewesen sein müssten, in dem die entsprechenden Tiere gelebt hätten. 5 244 8 Schichten und ihr Inhalt: Die Stratigraphische Methode <?page no="245"?> Abb. 32: Von N. Steno im Zusammenhang mit der Sektion eines Haifischkopfs veröffent‐ lichter Kupferstich aus dem Manuskript »Metallotheca Vaticana« von M. Mercati mit zwei Haifischzähnen, die die Übereinstimmung mit den Zungensteinen demonstrieren sollten. - Nach Noe-Nygaard 1986, 170 Abb. 23. Zwei Jahre nach seiner Haifisch-Studie kulminierten Stenos geologisch-pa‐ läontologische Untersuchungen in jener bereits genannten Arbeit, die die Formulierung des nach ihm benannten Lagerungsgesetzes enthält und die heute als eine der ersten grundlegenden Schriften der Geologie gilt (Steno 1988). Zusammenfassend ist über seine geologischen Studien zu Recht gesagt worden, dass er bereits mit dem aktualistischen Prinzip gearbeitet hat, das erst 100 Jahre später, 1795, durch den englischen Geologen James 8.1 Über die Entwicklung der Methode 245 <?page no="246"?> 6 So Wheeler 1956, 57; ferner Daniel 1975, 37 f. 7 Der Titel des 1816 erschienenen Buches von Smith lautete: Strata Identified by Organized Fossils. Hutton (1726-1797) formuliert wurde: »Die Gegenwart ist der Schlüssel zur Vergangenheit« (Noe-Nygaard 1986, 181). Es ist nicht notwendig, der Entwicklung der Stratigraphischen Methode hier im Einzelnen nachzugehen. Es seien nur noch zwei Forscher genannt, die dabei eine herausragende Rolle gespielt haben, nämlich der Engländer William Smith (1769-1839) und der Schotte Charles Lyell (1797-1875). Der Ingenieur und Geologe Smith beobachtete zu Beginn des 19. Jahrhunderts bei einem Kanalbau in Südengland eine immer wiederkehrende Abfolge von Straten mit charakteristischem Fossiliengehalt. Wie Edward C. Harris (1989, 3) zu Recht betont, hat Smith - »Strata-Smith« wie man ihn nannte 6 - mit dieser Entdeckung und ihrer Veröffentlichung die Basis für die chro‐ nologische Korrelation solcher geologischen Straten gelegt, die sich nicht aufgrund lithologischer oder sedimentologischer Kriterien miteinander ver‐ binden ließen. Die Schichtenkorrelation mittels stratifiziert auftretender Fossilien geht davon aus, dass Ablagerungen mit qualitativ und quantitativ übereinstimmendem Fossiliengehalt zeitgleich sind. Smiths Entdeckung des Prinzips der ›Identifikation von Straten mit Hilfe von Fossilien‹ 7 kann somit als Begründung der Biostratigraphie, der geohistorischen Schichtordnung auf der Grundlage des Fossilieninhalts, angesehen werden. Lyell veröffentlichte in den Jahren 1830 bis 1833 sein berühmtes drei‐ bändiges Werk Principles of Geology, das fortan zu einem immer wieder aufgelegten Standardwerk wurde und zu Lebzeiten des Autors 12 Aufla‐ gen erfuhr. Mit diesem Buch sind das Prinzip der Stratifizierung und die Stratigraphische Methode fest in der Geologie verankert worden. Auch Lyell richtete sein Augenmerk auf den Fossiliengehalt von Schichten. So entwickelte er eine Methode der relativen Altersbestimmung, die auf der Ermittlung des Verhältnisses von fossilen zu noch existierenden Mollusken in einer je spezifischen Schicht beruhte. Mit dieser Methode bestätigte er die sich beim Stratenstudium aufdrängende Hypothese, dass in sehr alten Schichten nur eine sehr geringe Zahl von Fossilien auftritt, die heute noch lebenden Arten entsprechen, während der Grad der quantitativen Übereinstimmung in einem geologischen Profil mit der Richtung vom Liegenden zum Hangenden, also von unten nach oben, ständig zunimmt. Er stellte beispielsweise fest, dass zu Beginn des Tertiärs lediglich 3,5-% der 246 8 Schichten und ihr Inhalt: Die Stratigraphische Methode <?page no="247"?> 8 Die Katastrophen- oder Kataklysmentheorie de Cuviers besagte in ihrer extremen Form, dass die Fauna am Ende der wesentlichen geologischen Zeiteinheiten durch Naturka‐ tastrophen ausgelöscht und dann jeweils in erneuten Schöpfungsakten in anderer Form wiedererstanden sei. De Cuvier selbst rechnete auch mit Katastrophen nicht-globalen Ausmaßes und erklärte in solchen Fällen die in den Katastrophengebieten wiedererstan‐ dene Tierwelt durch Zuwanderung älterer Formen aus nichtbetroffenen Erdgebieten. - Lyells entwicklungsgeschichtliche Auffassung von der Entstehung der belebten und unbelebten Welt kollidierte also mit der biblischen Schöpfungsgeschichte, mit der sich de Cuviers Theorie bis zu einem gewissen Gradem durchaus vereinbaren ließ. Damit verstieß Lyell zugleich gegen den Zeitgeist. 9 Die Gegenposition zum Aktualismus ist der sogenannte Exzeptionalismus, der unter‐ stellt, dass sich die Prozesse der erdgeschichtlichen Vergangenheit qualitativ und quantitativ von jenen der Gegenwart unterschieden (Brockhaus Enzyklopädie 19 21 [1993] 39). Fossilien zu noch lebenden Spezies gehörten, während die entsprechende Zahl gegen Ende dieser erdgeschichtlichen Epoche 90-% betrug. Mit den Erkenntnissen von Steno, Smith und Lyell waren in der Geologie die Grundlagen für die Stratigraphie im Sinne einer Methode zur räumlichen und zeitlichen Ordnung von Gesteinen in ihrer erdgeschichtlichen Abfolge geschaffen. Diese Methode gründete in einer ›dynamischen‹, letztlich ent‐ wicklungsgeschichtlichen Konzeption der belebten und unbelebten Welt. Gemeinhin heißt es, dass mit LyellsPrinciples die Genesis mit ihrer Sintflut und die sogenannte Kataklysmentheorie von Georges de Cuvier (1769-1832) als wichtigste Erklärungsprinzipien des Auftretens von Stratifizierungen endgültig abgelöst worden seien. 8 An ihre Stelle sei nunmehr der Uniformi‐ tarianismus oder, wie er im Deutschen meist genannt wird, der Aktualismus getreten. Er geht von der Annahme aus, dass geologische Prozesse, die heute beobachtet werden, sich prinzipiell nicht von jenen unterscheiden, die in früheren erdgeschichtlichen Epochen gewirkt und jene Formationen hervorgebracht haben, die Gegenstand geologischer Forschung sind. Mit dieser Arbeitshypothese wurde es möglich, aus der Beobachtung heutiger geologisch relevanter Faktoren und Prozesse einschließlich ihrer Folgen auf gleichartige Wirkkräfte vergangener Epochen zu schließen. 9 Das Erklä‐ rungsprinzip des Aktualismus beruht also auf Analogiebildung. Diese knappe Skizze der Herausbildung der stratigraphischen Methode in der Geologie und die Bedeutung, die paläontologische Aspekte dabei gespielt haben, entspricht jener Darstellung, die man in Lehrbüchern der Geologie liest, und zwar keineswegs nur in solchen deutscher Sprache. Wie kompliziert die Dinge tatsächlich waren, hat der amerikanische Paläonto‐ 8.1 Über die Entwicklung der Methode 247 <?page no="248"?> 10 Gould 1987. 11 Zu Jeffersons Bedeutung als Archäologe siehe Lehmann-Hartleben 1943; Thomas 1989, 27 ff.; Narr 1997; Eggert 2002/ 2023. loge Stephen Jay Gould (1941-2002) im Einzelnen dargelegt. 10 Die heute gängigen Klischees des Gegensatzes zwischen Kataklysmikern und Aktua‐ listen, sprich zwischen ›bibelhörigen Reaktionären‹ und empirisch-induktiv vorgehenden ›Fortschrittlichen‹ haben eine lange Tradition. Für diese ein‐ gängige Vereinfachung einer komplexen Forschungssituation hatte bereits Lyell in seinen Principles die Grundlagen geschaffen - natürlich nur, um seine eigene Auffassung in einem hellen Lichte erstrahlen zu lassen. 8.2 Die Stratigraphische Methode in der Archäologie Im Verlaufe des 19. Jahrhunderts hat man die Bedeutung des Prinzips der Stratifizierung im Kontext von Kulturschichten erkannt. Es wurde nunmehr auch bei der Ausgrabung ur- und frühgeschichtlicher Hinterlassenschaften beachtet und genutzt. Damit fand die Stratigraphie, also das Studium, die Beschreibung und die Interpretation stratifizierter Ablagerungen, Eingang in die sich allmählich entwickelnde Wissenschaft von der ur- und frühge‐ schichtlichen Vergangenheit. Hier sind vor allem die wegweisenden Ausgra‐ bungen dänischer Archäologen zu nennen, allen voran die Grabhügel- und Muschelhaufenuntersuchungen von Worsaae. Eine ähnliche Entwicklung lässt sich aber auch in der Neuen Welt, in Nordamerika, feststellen. Kein Geringerer als Thomas Jefferson (1743-1826), Gouverneur von Virginia und später der dritte Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, hat bereits im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts anlässlich der Ausgrabung von Grabhügeln der amerikanischen Ureinwohner auf seinem Besitz herausra‐ gende stratigraphische Beobachtungen angestellt. Er veröffentlichte sie im Rahmen eines von ihm verfassten größeren Werkes über den Staat Virginia im Jahre 1787. 11 In den letzten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ist die Entwicklung und Rezeption der Stratigraphischen Methode in der Archäologie besonders durch eine intensive Ausgrabungstätigkeit in Frankreich und in Anatolien gefördert worden. Dabei stand in Frankreich die Frage nach dem ›dilu‐ vialen‹ Menschen und damit verknüpft die unter zunehmend genauerer Beobachtung der Schichtenfolge durchgeführten Ausgrabungen von Abris und Höhlen im Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Das auf dieser Basis 248 8 Schichten und ihr Inhalt: Die Stratigraphische Methode <?page no="249"?> 12 Die Differenzierung der Steinzeit in ein »Paläolithikum« und ein »Neolithikum« ist ebenfalls 1865 von Lubbock vorgeschlagen worden (Daniel 1975, 85 f.) - Zu Lubbock siehe unten, Kap.-14.5 (S. 420 f.). 13 Über de Mortillet unterrichtet knapp und prägnant Daniel 1975, 98 ff. Die in unserem Zusammenhang wesentlichen Aspekte sind allerdings klarer von Trigger (1989, 95 ff.) herausgearbeitet worden. Die Arbeit von Junghans (1987) bietet trotz ihres vielverspre‐ chenden Titels für unsere Fragestellung nichts Weiterführendes. 14 Zu Schliemann als Ausgräber siehe vor allem Korfmann 1990. Zur häufig sehr einsei‐ tigen Betonung der Rolle Dörpfelds bei den Ausgrabungen in Troia Kormann 1993. - Siehe jetzt auch Samida 2012. 15 Virchow (1881, X f.) schrieb: »Die Ausgrabungen von Hissarlik würden einen unver‐ gänglichen Werth haben, auch wenn die Ilias niemals gedichtet worden wäre. Nirgends in der Welt ist eine gleiche Zahl übereinandergelagerter Reste alter Ansiedelungen mit so reichen Einschlüssen aufgedeckt worden. Wenn man im Grunde des grossen Trichters steht, welcher das Herz des Burgberges erschlossen hat, wenn das Auge an den hohen Wänden der Ausgrabung hingleitet, hier die Trümmer der Wohnungen, dort die Geräthe der alten Bewohner, an anderer Stelle die Abfälle ihrer Nahrung erschauend, so schwindet bald jeder Zweifel an dem Alter dieser Stätte. […] Die einfache Untersuchung des Burgberges von Hissarlik weist mit vollständiger Genauigkeit die Aufeinanderfolge der Ansiedelungen nach. […] Aber Reihenfolge ist noch nicht Chronologie. Man erfährt durch die erstere, was älter und was jünger ist, aber nicht, wie alt jede einzelne Schicht ist. Dazu gehört die Vergleichung mit zeitlich gut bestimmten ähnlichen Stellen oder mindestens Gegenständen, mit anderen Worten, die Deutung.« Auf diese wichtige Passage hat im vorliegenden Zusammenhang erstmals R. Echt (1984, 24) aufmerksam gemacht. Er leitet seine höchst lesenswerten Bemerkungen zur Entwicklung stratigraphischer Methoden und Systeme im Vorderen Orient mit einer Betrachtung der Schliemann’schen Ausgrabungen in Hisarlık ein (ebd. 24 ff.). von Édouard Lartet (1801-1871) erarbeitete und erstmals im Jahre 1865 veröffentlichte Gliederungssystem des Paläolithikums 12 war zunächst rein paläontologisch begründet (Daniel 1975, 99 ff.). Es wurde schließlich in den frühen 1870er Jahren von Gabriel de Mortillet (1821-1898) durch eine Unterteilung ersetzt, die nunmehr ausschließlich mit Hilfe archäologischer Kriterien erstellt war, im Übrigen aber wie das System von Lartet auf stratigraphischen Beobachtungen beruhte. 13 In Anatolien trugen die Ausgrabungen, die Heinrich Schliemann auf dem Burghügel von Hisarlık - dem antiken Ilion oder Troia - durchgeführt hat, erheblich zur allgemeinen fachlichen Akzeptanz stratigraphischen Ausgrabens und damit der Stratigraphischen Methode bei. Dabei muss auch Wilhelm Dörpfeld (1853-1940), der ab 1882 sein Mitarbeiter in Troia war, gebührend gewürdigt werden. 14 Rudolf Virchow verdient in diesem Zusam‐ menhang ebenfalls Erwähnung: Er hat die Bedeutung der von Schliemann in Troia praktizierten Arbeitsweise für die Besiedlungsgeschichte dieses Fundplatzes in exemplarischer Klarheit zum Ausdruck gebracht. 15 8.2 Die Stratigraphische Methode in der Archäologie 249 <?page no="250"?> Bevor wir uns näher mit der Stratifizierung und der Stratigraphie in der Archäologie beschäftigen, müssen wir uns klarmachen, dass das Entstehen von Schichtungen durch zwei Prozesse bedingt ist, die man in der Geologie als Erosion und Akkumulation bzw. als Abtragung und Ablagerung bezeich‐ net. Mit gewissen Abstrichen gilt dies auch für archäologische Schichtun‐ gen. Die Stratigraphische Methode beruht auf der Prämisse, dass es zwischen zwei stratigraphisch relevanten Befunden vier grundlegende räumliche Beziehungen gibt: (1) A liegt auf B; (2) B liegt auf A; (3) A und B sind als Teile eines einstigen Ganzen zu korrelieren; (4) A und B berühren sich nicht. Die räumliche Relation zweier stratigraphischer Einheiten ist in einer direkten Weise mit der zeitlichen Ebene verknüpft. Ihr zeitliches Verhältnis wird entsprechend der genannten räumlichen Beziehungen durch eines von vier möglichen zeitlichen Verhältnissen beschrieben: (1) A ist jünger als B; (2) B ist jünger als A; (3) A und B sind gleichzeitig; (4) das zeitliche Verhältnis zwischen A und B ist nicht bestimmbar (Abb. 33). Abb. 33: Stratigraphische Grundbeziehungen. - Entwurf Verf. 250 8 Schichten und ihr Inhalt: Die Stratigraphische Methode <?page no="251"?> 16 Hier ist eine einschlägige, aber auch kritische Bemerkung Virchows (1881, XI) zitierens‐ wert. Er äußerte sich im Zusammenhang mit Schliemanns Grabungen in Troia über die Stratifizierung des Burghügels von Hisarlık und die für die Erstellung einer absoluten Chronologie wichtigen archäologischen Leitfunde, die er mit den »Leitmuscheln« der Paläontologen verglich. Dabei betonte er, wie »unsicher die archäologischen ›Leitmuscheln‹« gegenüber jenen der Paläontologen seien: »Der menschliche Geist erfindet an verschiedenen Orten dasselbe und an demselben Ort verschiedenes. Zu derselben Zeit entwickeln sich gewisse artistische oder technische Formen ohne allen Zusammenhang der Künstler oder Handwerker.« Mit der Übernahme des Prinzips der Stratifizierung und der Methode der Stratigraphie in die Archäologie ist bis in die jüngste Zeit eine weitgehende strukturelle Identität von geologischer und archäologischer Stratigraphie unterstellt worden. Jedenfalls hat man es in der Archäologie nur höchst selten für notwendig erachtet, den fundamentalen Unterschied zwischen Kulturschichten einerseits und geologischen Schichten andererseits zu ana‐ lysieren und die sich daraus ergebenden Konsequenzen zu bedenken. Daher wurde der Fossilieninhalt einer geologischen Schicht mit dem Artefaktinhalt einer archäologischen Schicht gleichgesetzt - eine Gleichsetzung, die sich auch auf der sprachlichen Ebene in der strukturellen Identität der Fachbe‐ griffe Leitfossilien und Leittypen spiegelt. 16 Im Sinne von Smiths Prinzip der zeitlichen Bestimmung von Schichten durch den Schichtinhalt hing man in der Archäologie der Meinung an, ein stratifizierter Befund besitze solange keine archäologische Bedeutung, wie der ›kulturelle‹ Inhalt der Schichten nicht miteinander verglichen worden sei (so beispielsweise Rowe 1961, 324). Gegen eine derartige Auffassung hat sich erstmals E. C. Harris gewandt (1979, 112). Er war zu Beginn der 1970er Jahre bei einer Ausgrabung im Stadtkern von Winchester (England) mit einer äußerst komplexen Stratifi‐ zierung konfrontiert und hat sich daraufhin intensiver als jeder andere Archäologe mit den Prinzipien der Stratigraphischen Methode beschäftigt. Seine 1979 veröffentlichte Dissertation über dieses Thema ist schnell zu einem Standardwerk geworden; es liegt inzwischen in einer überarbeiteten zweiten Auflage vor (Harris 1989). Harris ist in der Archäologie schon vor der Veröffentlichung seines Standardwerks bekannt geworden, weil er in Winchester die sogenannte Harris-Winchester Matrix - schon bald nur noch als Harris Matrix bezeichnet - entwickelt hat. Es handelt sich dabei um die graphische Darstellung von Stratifizierungen. In der Harris-Matrix werden die stratigraphischen Einheiten, zum Beispiel Schichten, durch rechteckige Kästen repräsentiert; 8.2 Die Stratigraphische Methode in der Archäologie 251 <?page no="252"?> 17 In den Worten von Harris (1989, 34): »The Harris Matrix is the name given to a printed sheet of paper which contains a grid of rectangular boxes […] The name has no other connotation, mathematical or otherwise: it is simply a format for exhibiting the stratigraphic relationships of a site. The resulting diagram, which is often called a ›matrix‹ in shorthand, represents the stratigraphic sequence of the site. A ›stratigraphic sequence‹ is defined as ›the order of deposition of layers and the creation of feature interfaces through the course of time‹ of an archaeological site.« 18 Für die Erstellung solcher Harris-Matrizen gibt es inzwischen spezielle Computerpro‐ gramme (z.-B. Bridger/ Herzog 1991; Herzog 1993). die zeitlichen Beziehungen zwischen diesen Einheiten stellt man durch vertikale und horizontale Verbindungslinien dar. Für diese Darstellungsart benutzt man in der Regel vorgedruckte Formblätter mit einem Kastenraster; in die einzelnen Kästen werden dann die Nummern der Schichten und anderen stratigraphischen Einheiten eingetragen. 17 Die Eintragung folgt dem Prinzip der Stratifikation, so dass die jeweils jüngere Schicht über der älteren angeordnet wird; gleichzeitige Schichten setzt man auf eine Ebene (Abb. 34). 18 Abb. 34: Darstellung von Stratifizierungen mit Hilfe der Harris-Matrix. - Nach Bibby 1987, 159 Abb. 5. 252 8 Schichten und ihr Inhalt: Die Stratigraphische Methode <?page no="253"?> 19 Zur Erläuterung von Abb. 35 sei Beispiel A gewählt: In einem Befund liegt an einer Stelle Schicht 1 über Schicht 2 und an einer anderen Schicht 3 unter Schicht 2; die stratigraphisch relevante Information für den gesamten Befund lautet: Über Schicht 3 liegt Schicht 2 und darüber Schicht-1. Die Harris-Matrix veranschaulicht in einer sehr einfachen, klaren Weise die stratigraphischen Beziehungen innerhalb eines Fundplatzes (Abb. 35). 19 Archäologie und Stratigraphische Methode Aktivitäten erzeugten stratifizierten Befunde sich einerseits durch ihre äußerst variable Beschaffenheit und andererseits durch den Ort unterscheiden, an dem sie vorkommen. Archäologische Stratifizierungen können an beinah jeder beliebigen Stelle eines einstmals vom Menschen genutzten Areals auftreten. Somit ist Harris zuzustimmen, dass durch das menschliche Kulturverhalten - hier sei nur das Bestattungswesen, Bautätigkeit, Vorratshaltung und Abfallbeseitigung genannt - Stratifizierungen hervorgebracht werden, die kein natürliches bzw. geologisches Äquivalent besitzen. Abb. 35: Regeln für die Zusammenfassung stratigraphischer Verhältnisse in Form der Harris-Matrix. - Nach Bibby 1987, 162 Abb. 5. Harris machte zu Recht darauf aufmerksam, dass es archäologische Strati‐ fizierungen gibt, in deren Schichten keine Artefakte eingeschlossen sind. Zugleich forderte er, archäologische Stratifizierungen seien ohne Berück‐ 8.2 Die Stratigraphische Methode in der Archäologie 253 <?page no="254"?> 20 Siehe hierzu auch Kossack 1994, 12, 16. 21 Hierzu Harris 1977, 85; ders. 1979, 111 f.; ders. 1989, 45 f. sichtigung des in ihnen eingeschlossenen kulturellen Inventars zu analysie‐ ren. Denn erst auf der Basis dieser Analyse könne den in diesen Straten auftretenden Artefakten eine eindeutige und unanfechtbare relativ-zeitliche Position zugeordnet werden. 20 Dabei ist klar, dass diese Position zunächst einmal nur für diesen spezifischen Befund gilt. Harris hat im Übrigen auch als erster mit der überkommenen Auffassung gebrochen, archäologische Stratifizierungen könnten hinreichend durch die Anwendung geostratigra‐ phischer Prinzipien erklärt werden und die Archäologie bedürfe somit keiner eigenen stratigraphischen Methodik. Er geht in seinen Principles of Archaeological Stratigraphy (1989, XI ff.) vielmehr davon aus, dass sich die in erster Linie vom Menschen verursachte archäologische Stratifizierung grundlegend von jener unterscheidet, die durch natürliche Prozesse bewirkt worden ist. Bei genauer Betrachtung ist klar, dass die durch menschliche Aktivitäten erzeugten stratifizierten Befunde sich einerseits durch ihre äu‐ ßerst variable Beschaffenheit und andererseits durch den Ort unterscheiden, an dem sie vorkommen. Archäologische Stratifizierungen können an beinah jeder beliebigen Stelle eines einstmals vom Menschen genutzten Areals auftreten. Somit ist Harris zuzustimmen, dass durch das menschliche Kultur‐ verhalten - hier sei nur das Bestattungswesen, Bautätigkeit, Vorratshaltung und Abfallbeseitigung genannt - Stratifizierungen hervorgebracht werden, die kein natürliches bzw. geologisches Äquivalent besitzen. Harris hat nachdrücklich darauf hingewiesen, dass die Schichtfolge ei‐ nes stratifizierten archäologischen Befunds im Gegensatz zu geologischen Schichtfolgen weder durch natürliche Prozesse noch durch menschliches Handeln so umgelagert werden kann, dass die jüngste Schicht unten und die älteste oben zu liegen kommen könne. 21 Damit wendet er sich zu Recht gegen die Übertragung des nach dem Vorbild flach-überkippter oder horizontal-inverser Lagerungen in der Geologie gebildeten Konzepts der ›umgekehrten‹ oder ›inversen Stratigraphie‹ auf archäologische Befunde. Eine nähere Betrachtung der einschlägigen archäologischen Literatur würde allerdings schnell zeigen, dass sich der Begriff der ›umgekehrten Stratigraphie‹ gar nicht auf die Schichten, sondern auf die in ihnen enthal‐ tenen Artefakte bezieht. In diesem Sinne ist es tatsächlich ohne Weiteres möglich, dass Artefakte - im Gegensatz zu Schichten - durch Umlagerung in 254 8 Schichten und ihr Inhalt: Die Stratigraphische Methode <?page no="255"?> 22 So auch Harris 1977, 87. gleichsam ›umgekehrter‹ stratigraphischer Position auftreten. 22 Ein fiktives Beispiel vermag das recht klar zu veranschaulichen. Man stelle sich vor, in einer mitteleuropäischen Gemeinschaft des 16. Jahrhunderts v. Chr. sei es üblich gewesen, weibliche Gruppenangehörige im Rahmen von Initia‐ tionsriten anlässlich des Endes der Pubertät mit einem Schmucksatz an Ringen und dergleichen auszustatten, den sie fortan bis zu ihrem Tode tragen würden. Nehmen wir ferner an, dass eine junge Frau, die gerade den abschließenden Initiationsritus absolviert und einen solchen Schmucksatz bekommen hat, überraschend stirbt und gemäß der herrschenden Bestat‐ tungssitte mit ihrem Schmuck (B) unverbrannt in einer Grabgrube beigesetzt wird, die man anschließend mit einem Erdhügel überwölbt. Nach einiger Zeit verstirbt ein anderes Mitglied der gleichen Verwandtschaftsgruppe, und zwar eine bereits sehr alte Frau, die rund 40 Jahre zuvor mit einem inzwischen recht ›altmodisch‹ wirkenden Schmucksatz (A) ausgestattet worden ist. Für ihre Bestattung wird der obere Teil des Grabhügels der jung Verstorbenen horizontal abgetragen. Von dieser Fläche tieft man dann eine Grabgrube ein, in die die Tote eingebracht wird. Anschließend überwölbt man auch dieses Grab mit einem Erdhügel, der dann den Torso des anderen und das Grab der zuvor Verstorbenen miteinschließt (Abb. 36). 174 Vom Liegenden zum Hangenden: Die Stratigraphische Methode Position auftreten. 21 Ein fiktives Beispiel vermag das recht klar zu veranschaulichen. Man stelle sich vor, in einer mitteleuropäischen Gemeinschaft des 16. Jahrhunderts v. Chr. sei es üblich gewesen, weibliche Gruppenangehörige im Rahmen von Initiationsriten anlässlich des Endes der Pubertät mit einem Schmucksatz an Ringen etc. auszustatten, den sie fortan bis zu ihrem Tode tragen würden. Nehmen wir ferner an, dass eine junge Frau, die gerade den abschließenden Initiationsritus absolviert und einen solchen Schmucksatz bekommen hat, überraschend stirbt und gemäß der herrschenden Bestattungssitte mit ihrem Schmuck (B) unverbrannt in einer Grabgrube beigesetzt wird, die man anschließend mit einem Erdhügel überwölbt. Nach einiger Zeit verstirbt ein anderes Mitglied der gleichen Verwandtschaftsgruppe, und zwar eine bereits sehr alte Frau, die rund 40 Jahre zuvor mit einem inzwischen recht ›altmodisch‹ wirkenden Schmucksatz (A) ausgestattet worden ist. Für ihre Bestattung wird der obere Teil des Grabhügels der jung Verstorbenen horizontal abgetragen. Von dieser Fläche tieft man dann eine Grabgrube ein, in die die Tote eingebracht wird. Anschließend über- Abb. 36 Scheinbarer Widerspruch zwischen Schichtfolge und Schichtinhalt: Im stratigraphisch älteren Grab liegen die jüngeren Objekte. Abb. 36: Scheinbarer Widerspruch zwischen Schichtfolge und Schichtinhalt: Im stratigra‐ phisch älteren Grab liegen die jüngeren Objekte. - Entwurf Verf. Für die Archäologen, die diesen Hügel ausgraben, ist der stratigraphische Befund eindeutig. Auf den ersten Blick problematisch erscheint lediglich die Tatsache, dass das aufgrund vergleichender Studien eindeutig ältere Schmuckinventar in dem stratigraphisch eindeutig jüngeren Grab liegt. Eine 8.2 Die Stratigraphische Methode in der Archäologie 255 <?page no="256"?> 23 Harris (1989, 31) schreibt, dass Schichten, die in geneigter Position angetroffen werden, entweder so abgelagert worden seien oder sich an eine vorgegebene Oberflächenform (basin of deposition) angepasst hätten. Wörtlich heißt es: »Any archaeological layer de‐ posited in an unconsolidated form will tend toward a horizontal position. Strata which are found with tilted surfaces were originally deposited that way, or lie in conformity with the contours of a pre-existing basin of deposition.« Die erste Möglichkeit (»[…] originally deposited that way«) lässt sich meines Erachtens nur dann mit der Horizon‐ talitätsregel vereinbaren, wenn dafür einleuchtende Gründe genannt werden. Solche Gründe liegen bei der zweiten Möglichkeit vor. Zu den spezifischen Oberflächenformen zählen in archäologischem Kontext nicht nur entsprechende natürliche Gegebenheiten, sondern vor allem solche, die vom Menschen verursacht wurden. Hier sind zum Beispiel Wälle, Mauern und Gräben zu nennen. Besonders bei Gräben ist zu beobachten, dass anthropologische Untersuchung der erhaltenen Skelette würde in diesem Falle sicherlich recht schnell zu einem Ergebnis führen, das diesen zunächst verblüffenden Fall zu erklären vermöchte. Man braucht jedoch nur einmal anzunehmen, dass die Knochen nicht erhalten gewesen wären, um eine Vorstellung von den Schwierigkeiten und den daraus resultierenden ad hoc-Hypothesen zu bekommen, die dieser stratifizierte Befund im Gefolge hätte. 8.3 Geologisch-archäologische Gesetze der Stratigraphischen Methode Die Stratigraphische Methode beruht auf vier Regeln oder Prinzipien, die für die Archäologie erstmals von Harris (1979; 1989, 29 ff.) systematisch formuliert worden sind. Er bezeichnet sie als »stratigraphische Gesetze« oder »stratigraphische Axiome«: (1) Das Steno’sche ›Lagerungsgesetz‹ (law of superposition); (2) das Gesetz der ursprünglichen Horizontalität (law of original horizontality); (3) das Gesetz der ursprünglichen Kontinuität (law of original continuity); (4) das Gesetz der stratigraphischen Abfolge (law of stratigraphical succession) Wie bereits ausgeführt, besagt das Steno’scheLagerungsgesetz, dass bei einem längerfristigen Ablagerungsvorgang Schicht auf Schicht folgt, so dass bei ungestörter Schichtüberlieferung die jeweils jüngere auf der älteren Schicht aufliegt. Das Gesetz der ursprünglichen Horizontalität unterstellt, ein im Augenblick der Ablagerung nicht verfestigtes Material tendiere dazu, sich auf ein mehr oder weniger waagerechtes Niveau auszurichten. Dies beruht vor allem auf dem Gesetz der Schwerkraft. 23 Das Gesetz der ursprünglichen 256 8 Schichten und ihr Inhalt: Die Stratigraphische Methode <?page no="257"?> die ersten Verfüllungsschichten keine horizontale, sondern eine mehr oder weniger konkave, an das Grabenprofil angepasste Oberfläche aufweisen. Im Zuge der Verfüllung nähern sie sich dann immer mehr der Waagerechten an. 24 Man vergleiche Harris 1989, 39 Abb. 12 A/ B mit Abb. 12 C. Mit Hilfe des »Gesetzes der stratigraphischen Abfolge« wurden in Abb. 12 C alle in Abb. 12 A/ B enthaltenen redundanten stratigraphischen Informationen eliminiert. Kontinuität besagt, jede archäologische Schicht werde entweder durch eine vorgegebene Oberflächenform begrenzt oder laufe allmählich aus. Wenn eine Schicht weder eine solche Begrenzung aufweist noch merklich dünner wird, muss dafür eine Erklärung gesucht werden. Die ersten drei stratigraphischen Regeln stammen aus der Geologie. Sie wurden bereits von Steno (1988, 43 ff.) formuliert. Die vierte Regel hingegen, das sogenannte Gesetz der stratigraphischen Abfolge, wurde in der Archäologie entwickelt. Sie besagt, dass die Position einer Schicht oder jeder anderen stratigraphischen Einheit in einer stratigraphischen Sequenz ausschließlich durch ihre Lage zwischen der untersten (oder ältesten) aller Einheiten, die darüber, und der obersten (oder jüngsten) aller, die darunter liegen, bestimmt wird. Damit sind für die stratigraphische Position einer spezifischen Schicht nur jene beiden Schichten oder sonstigen stratigra‐ phischen Einheiten entscheidend, mit denen die zur Diskussion stehende Schicht einen unmittelbaren Kontakt hat - alle anderen stratigraphischen Relationen sind für die Festlegung ihrer Position irrelevant. Diese letzte Regel unterstellt, dass aus der Position der stratigraphischen Einheiten die Abfolge ihrer Deponierung erschlossen und damit eine relative Chronologie dieser Einheiten festgestellt werden kann. Die stratigraphi‐ schen Beziehungen zwischen zwei Schichten oder anderen Einheiten bilden die Grundlage für die Erarbeitung der stratigraphischen Sequenz eines Fundplatzes. Harris (1989, 34) sieht in dieser Abfolgeregel die Basis der nach ihm benannten Matrix, deren Endziel die lückenlose Erfassung und übersichtliche graphische Dokumentation solcher Sequenzen ist. Dabei besteht die stratigraphisch relevante Gesamtaussage durchaus nicht in der Addition aller tatsächlich bestehenden unmittelbaren räumlichen Beziehun‐ gen stratigraphischer Einheiten zueinander. Es gilt vielmehr, die Gesamtzahl solcher direkten stratigraphischen Beziehungen auf jene zu reduzieren, die eine stratigraphische Aussagekraft besitzen. Das ist hier an einem fiktiven Befund exemplarisch dargestellt (Abb. 37). 24 8.3 Geologisch-archäologische Gesetze der Stratigraphischen Methode 257 <?page no="258"?> Vom Liegenden zum Hangenden: Die Stratigraphische Methode Schicht nur jene beiden Schichten oder sonstigen stratigraphischen Einheiten entscheidend, mit denen die zur Diskussion stehende Schicht einen unmittelbaren Kontakt hat - alle anderen stratigraphischen Relationen sind für die Festlegung ihrer Position irrelevant. Abb. 37 Stratifizierter Befund (A) mit der Gesamtzahl direkter räumlicher Kontakte (B und C) sowie ihrer Reduktion auf die stratigraphisch relevanten Beziehungen (D). Eggert_s001-470_4Aufl_End.indd 176 Eggert_s001-470_4Aufl_End.indd 176 31.01.2012 9: 57: 54 Uhr 31.01.2012 9: 57: 54 Uhr Abb. 37: Stratifizierter Befund (A) mit der Gesamtzahl direkter räumlicher Kontakte (B und C) sowie ihrer Reduktion auf die stratigraphisch relevanten Beziehungen (D). - Nach Bibby 1987, 163 Abb. 6. 258 8 Schichten und ihr Inhalt: Die Stratigraphische Methode <?page no="259"?> 25 Ich folge hier nicht dem weitverbreiteten Sprachgebrauch, der den Begriff »Stratum« bzw. »Strate« für willkürliche, metrisch definierte ›Abhübe‹ oder ›Abstiche‹ reserviert. In diesem Sinne z.-B. Hachmann (1969, 52): »Im Gegensatz zu einer Schicht […] ist ein Stratum keine natürliche oder vom Menschen verursachte Ablagerung. Ein Stratum ist gewissermaßen eine ›Scheibe‹ von einheitlicher Dicke, die der Ausgräber ohne Rücksicht auf Verlauf und Konsistenz der Schichten horizontal in einer Grabung abhebt. Die Dicke eines Stratums hängt von den Absichten des Ausgräbers ab.« 26 Harris (1989, 37 f., 127) verwendet den wenig treffenden Terminus upstanding layers. - Der Klarheit halber sei bemerkt, dass es sich bei den drei Begriffen - positive features, standingstructures, upstanding layers - lediglich um sprachliche Varianten handelt; sie meinen dasselbe, nämlich ›Aufgehendes‹ und dergleichen. 27 Ebd. 54 ff., 157. 8.4 Grundbegriffe der Stratigraphischen Methode In den vorstehenden Ausführungen sind schon mehrfach grundlegende Begriffe der Stratigraphischen Methode erwähnt, jedoch meist nicht näher besprochen worden. Das soll jetzt im Rahmen der Einführung und Erläute‐ rung weiterer Grundbegriffe nachgeholt werden. Die wesentliche stratigraphische Einheit von Geologie und Archäologie ist die Schicht oder das Stratum. 25 In archäologischem Kontext müssen wir zwischen natürlichen und anthropogenen Schichten unterscheiden. Obwohl in der Archäologie vor allem anthropogene Schichten von Bedeutung sind, müssen auch natürliche Schichten in die Auswertung einbezogen werden, da sie häufig wichtige Informationen liefern. Das gilt etwa für natürlich entstandene Zwischenschichten in Siedlungsbefunden, die oft aufgrund des Sediments sowie botanischer Einschlüsse als Wüstungsphasen interpretiert werden können. Eine Besonderheit archäologischer Straten stellen jene Befunde dar, deren Charakteristikum nicht ihre Erstreckung in der Horizontalen, sondern in der Vertikalen bildet. Es handelt sich dabei insbesondere um Mauern und andere Befunde, bei denen Aufgehendes erhalten ist. In der englischsprachigen Literatur bezeichnet man sie bisweilen als positive features und grenzt sie gegen sogenannte negativefeatures - Gruben und Gräben - ab. Für einen anderen in der einschlägigen Literatur vorkommenden Begriff - standing structures  26 - ist es relativ schwierig, ein deutsches Äquivalent zu finden; solche Befunde lassen sich am ehesten allgemein als ›Aufgehendes‹ oder als ›aufgehende‹ bzw. ›positive Befunde‹ oder ›Strukturen‹ bezeichnen. Zu den bisher unterschiedenen drei stratigraphischen Einheiten - natür‐ liche Straten, anthropogene Straten und Aufgehendes - kommt eine weitere Gruppe hinzu, die Harris mit dem Begriff interfaces belegt. 27 Die Bezeich‐ 8.4 Grundbegriffe der Stratigraphischen Methode 259 <?page no="260"?> 28 Webster’s Third New International Dictionary of the English Language (1971, 1178) definiert: »A plane or other surface forming a common boundary of two bodies or spaces.« 29 Als alternative Begriffe bieten sich ›Kontaktebene‹/ ›Kontaktfläche‹, ›Schnitt‐ ebene‹/ ›Schnittfläche‹ oder ›Zwischenebene‹/ ›Zwischenfläche‹ an. Hachmann (1969, 93) spricht im Rahmen der Erfassung der Profile seiner Grabung Kāmid el-Lōz in diesem Zusammenhang von »Grenzlinien«; dieser Terminus taucht allerdings in der Bearbeitung der Stratigraphie dieser Grabung durch Echt (1984), der sich ansonsten eng an Hachmanns Vademecum anlehnt, nicht auf. Harris (1977, 87, 90) verwendet zur Veranschaulichung des Begriffes interface bei Gruben und Gräben die Bezeichnung cutline. 30 In diesem Sinne unterscheidet Harris (1989, 54 ff.) layer interfaces und feature interfaces, zwei Begriffe, die wohl am besten als ›Schichtgrenzebenen‹ (oder ›Grenzebenen von Schichten‹) und ›Befundgrenzebenen‹ (oder ›Grenzebenen von Befunden‹) zu übersetzen sind. nung interface  28 lässt sich im Deutschen wohl am besten mit ›Grenzebene‹ bzw. ›Grenzfläche‹ wiedergeben. 29 Bei natürlichen und anthropogenen Straten sowie bei aufgehenden Befunden sind deren Oberflächen mit den Grenzebenen identisch. Die Entstehung dieser Oberflächen erfolgte im Zuge der Akkumulation - sei es in mehr oder weniger horizontaler Position durch Aufeinanderlagern immer neuer Schichten oder, bei Mauern und dergleichen, in vertikaler Erstreckung durch Anlagern. Es gibt jedoch auch Grenzebenen, die nicht durch Ablagerung von Schichten, sondern durch deren partielle oder vollständige Zerstörung entstanden sind. Grenzebenen sind daher nicht in jedem Falle mit antiken Oberflächen identisch. 30 Für Harris (1989, 55) zeigt die Grenzebene einer Schicht das Ende der Bildung dieser Schicht an. Sie beschließt bei einer allmählich gewachsenen Schicht die letzte Phase der Schichtbildung und ist damit nicht etwa mit der gesamten Schicht, sondern nur mit deren Abschluss gleichzeitig. Hat sich eine Schicht hingegen sehr schnell gebildet, wie es beispielsweise meist auf Planierungshorizonte zutrifft, so ist sie mehr oder weniger zeitgleich mit ihrer Grenzebene. Es kommt aber auch vor, dass die Grenzebene selbst eine kürzere oder längere Zeitspanne repräsentiert; das hängt davon ab, ob sie nach dem Ende der Bildung der zu ihr gehörenden Schicht schnell oder langsam unter einer weiteren Akkumulation begraben worden ist. Es ist ebenso denkbar, dass diese neue Schichtbildung zunächst nur einen Teil dieser Grenzebene überlagert, ein anderer hingegen länger freigelegen hat. Harris erläuterte die Bedeutung von Grenzebenen unter anderem am Bei‐ spiel einer von Mortimer Wheeler (1890-1976) übernommenen Abbildung (Abb. 38 A). In dem von Wheeler (1956) präsentierten Fall wurde eine schein‐ 260 8 Schichten und ihr Inhalt: Die Stratigraphische Methode <?page no="261"?> 31 Wheeler 1956, 61 f. 32 Es handelt sich um die Grenzebenen 9 und 10. Entgegen der von ihm entwickelten Praxis hat er die übrigen Grenzebenen nicht nummeriert, wohl aber durch einen stärkeren Strich markiert. bar eindeutige Abfolge von drei Schichten (6, 5 und 4) durch die Verlänge‐ rung des Profils nach rechts (über die ›Pfeillinie‹ hinaus) als gleichzeitige Ablagerung erkannt. 31 Wheeler hatte damit auf die Gefahr hinweisen wollen, die sich ergibt, wenn man chronologische Schlussfolgerungen lediglich auf ein einziges Profil gründet. Harris fügte dieser Abbildung zwei Grenzebenen hinzu (Abb. 38 B), 32 die - wie ein Vergleich der zugehörigen Harris-Matrizen zeigt - die chronologische Interpretation dieser Stratifizierung grundlegend verändern. Überdies gilt, dass Grenzebene 10 als Teil der Schicht 7 während der Akkumulation der Schichten 6, 5 und 4 exponiert gewesen ist. Das Gleiche trifft für Grenzebene 9 in Bezug auf die Schicht 5 zu (Harris 1989, 56). Harris (1989, 61) ist zuzustimmen, dass Eingriffe in bereits bestehende Schichten Grenzebenen schaffen, die für die Analyse der stratigraphischen Sequenz von erheblicher Bedeutung sind. Die Grenzebene einer Grube ist eben nicht gleichzeitig mit ihrer Verfüllung, sondern geht ihr voraus und ist ihrerseits jünger als die Schicht, in die diese Grube eingegraben wurde. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das Konzept des interface bzw. der Grenzebene in der Stratigraphie-Methodik von Harris eine zentrale Rolle spielt. Eine Grenzebene stellt zwar nominell eine stratigraphische Einheit eigener Art dar und ist somit den beiden anderen Einheiten, Schicht und Auf‐ gehendes, gleichgeordnet. Auf der anderen Seite bilden Grenzebenen aber ein wesentliches Element von Schichten, Aufgehendem und Eingetieftem und sind damit also Teil dieser stratigraphischen Einheiten. Daraus folgt, dass Schichten, Mauern, Gruben und Gräben erst dann als stratigraphisch vollständig erfasst gelten können, wenn man sich auch der Bedeutung der an ihnen feststellbaren Grenzebenen bewusst ist und sie analysiert und dokumentiert. 8.4 Grundbegriffe der Stratigraphischen Methode 261 <?page no="262"?> Vom Liegenden zum Hangenden: Die Stratigraphische Methode Harris (1989, 37 f., 127) verwendet den wenig treffenden Terminus upstanding layers. - Der Klarheit halber sei bemerkt, dass es sich bei den drei Begriffen - positive features, standing structures, upstanding layers - lediglich um sprachliche Varianten handelt; sie meinen dasselbe, nämlich ›Aufgehendes‹ etc. Webster’s Third New International Dictionary of the English Language (1971, 1178) definiert: »A plane or other surface forming a common boundary of two bodies or spaces«. Als alternative Begriffe bieten sich ›Kontaktebene‹/ ›Kontaktfläche‹, ›Schnittebene‹/ ›Schnittfläche‹ oder ›Zwischenebene‹/ ›Zwischenfläche‹ an. Hachmann (1969, 93) spricht im Rahmen der Erfassung der Profile seiner Grabung Ka¯mid el-Lo¯ z in diesem Zusammenhang von »Grenzlinien«; tures - Gruben und Gräben - ab. Für einen anderen in der einschlägigen Literatur vorkommenden Begriff - standing structures 25 - ist es relativ schwierig, ein deutsches Äquivalent zu finden; solche Befunde lassen sich am ehesten allgemein als »Aufgehendes« bzw. als ›aufgehende‹ oder ›positive Befunde‹ bzw. ›Strukturen‹ bezeichnen. Zu den bisher unterschiedenen drei stratigraphischen Einheiten - natürliche Straten, anthropogene Straten und Aufgehendes - kommt eine weitere Gruppe hinzu, die Harris (1989, 54 ff.; 157) mit dem Begriff interfaces belegt. Die Bezeichnung interface 26 lässt sich im Deutschen wohl am besten mit ›Grenzebene‹ bzw. ›Grenzfläche‹ wiedergeben. 27 Bei natürlichen und anthropogenen Straten sowie bei aufgehenden Befunden sind deren Oberflächen mit den Grenzebenen identisch. Die Entstehung dieser Oberflächen erfolgte im Zuge der Akkumulation - sei es in mehr oder weniger Abb. 38 Die Bedeutung von Grenzebenen. Abb. 38: Die Bedeutung von Grenzebenen. - Nach Harris 1989, 56 Abb. 17 A. B. In der Archäologie hat man es im Kontext der Stratigraphischen Methode mit drei zentralen Begriffen zu tun: Stratifizierung, Stratigraphie und stratigraphischeSequenz. Eine archäologische Stratifizierung oder, anders ausgedrückt, ein stratifizierter archäologischer Befund, ist eine Abfolge von Schichten oder anderen stratigraphischen Einheiten, bei deren Ent‐ stehung der Mensch wesentlich beteiligt war. Die verschiedenen Schich‐ ten bzw. sonstigen stratigraphischen Einheiten eines konkreten Befundes erkennt man an makroskopisch wahrnehmbaren Materialunterschieden. Wenngleich meist kulturell bedingt, können stratigraphische Einheiten durchaus auch durch natürliche Vorgänge entstanden sein. Man braucht 262 8 Schichten und ihr Inhalt: Die Stratigraphische Methode <?page no="263"?> 33 Mit den verschiedenen »Formationsprozessen«, die bei der Herausbildung archäolo‐ gisch relevanter Befunde mitwirken und die seit Mitte der 1970er Jahre recht intensiv untersucht werden, hat sich M. B. Schiffer bereits früh befasst. Sein rund 10 Jahre nach seiner ersten einschlägigen Monographie (1976) erschienenes Standardwerk (Schiffer 1987) sucht die grundlegenden Prinzipien, die die Entstehung archäologischer Befunde determinieren, im Rahmen der von ihm entwickelten umfassenden »Transfor‐ mationsperspektive der Behavioral Archaeology« zu erörtern und ihre Bedeutung für eine realitätsgerechte Interpretation der ur- und frühgeschichtlichen Vergangenheit aufzuzeigen (ebd. 8). 34 Hierauf weist Harris (1989, 128 ff.) nachdrücklich hin. nur an natürliche Umlagerungsprozesse zu denken, die beispielsweise in aufgelassenen Siedlungen auftreten. 33 Unter dem Begriff archäologische Stratigraphie versteht man das Studium, die Beschreibung und die Interpretation archäologischer Stratifizierungen. Die individuellen Besonderheiten je konkreter Befunde vermögen nichts an der Tatsache zu ändern, dass für alle diese Stratifizierungen das Steno’sche Lagerungs- oder Stratigraphische Grundgesetz gilt. Der Terminus strati‐ graphische Sequenz bezeichnet die Abfolge von Schichten und anderen stratigraphischen Einheiten. Dabei unterscheidet man zwischen ›unilinea‐ ren‹ und ›multilinearen stratigraphischen Sequenzen‹. Nur sehr einfach strukturierte archäologische Fundplätze weisen eine unilineare stratigraphi‐ sche Sequenz auf. Darunter versteht man eine Stratifizierung, in der die stratigraphischen Einheiten in einer einzigen Kette von Überlagerungen angeordnet sind. Dies ist in der Archäologie nicht die Regel, sondern die Ausnahme. 34 Für archäologische Fundplätze sind folglich multilineare stratigraphische Sequenzen kennzeichnend (Abb. 39). Sie gehen auf kulturelle Aktivitäten zurück, die sich an verschiedenen Stellen der ausgegrabenen Aktivitätszone teils gleichzeitig, teils zu verschiedenen Zeiten abgespielt haben. Damit setzen sie sich aus einer mehr oder weniger großen Zahl unilinearer stratigraphischer Sequenzen zusammen. Die chronologische Interpretation multilinearer stratigraphischer Sequenzen ist mit erheblichen Problemen der Zuordnung einzelner stratigraphischer Einheiten verbunden. Die Frage der potenziellen Gleich-, Vor- oder Nachzeitigkeit solcher Einheiten lässt sich auf rein stratigraphischem Wege häufig nicht lösen, da es eine mehr oder weniger große Zahl denkbarer, das heißt zeitlich möglicher Anordnun‐ gen dieser Einheiten gibt. Hier muss die Grundregel, dass archäologische Stratifizierungen ohne Berücksichtigung des in ihnen eingeschlossenen kulturellen Inventars zu analysieren sind, eingeschränkt werden. In solchen 8.4 Grundbegriffe der Stratigraphischen Methode 263 <?page no="264"?> Fällen lässt sich eine Entscheidung über die Wahrscheinlichkeit der einen oder anderen Abfolge nur anhand von Artefakten treffen, die sich in den zur Diskussion stehenden stratigraphischen Einheiten finden. Vom Liegenden zum Hangenden: Die Stratigraphische Methode Mit den verschiedenen »Formationsprozessen«, die bei der Herausbildung archäologisch relevanter Befunde mitwirken und die seit Mitte der siebziger Jahre recht intensiv untersucht werden, hat sich Schiffer bereits vergleichsweise früh befasst. Sein rund 10 Jahre nach seiner ersten einschlägigen Monographie (1976) erschienenes Standardwerk (Schiffer 1987) sucht die grundlegenden Prinzipien, die die Entstehung archäologischer Befunde determinieren, im Rahmen der von ihm entwickelten umfassenden »Transformationsperspektive der nominell eine stratigraphische Einheit sui generis dar und ist somit den beiden anderen Einheiten, Schicht und Aufgehendes, gleichgeordnet. Auf der anderen Seite bilden Grenzebenen aber ein wesentliches Element von Schichten, Aufgehendem und Eingetieftem und sind damit also Teil dieser stratigraphischen Einheiten. Schichten, Mauern, Gruben und Gräben sind daher erst dann stratigraphisch vollständig erfasst, wenn man sich auch der Bedeutung der an ihnen feststellbaren Grenzebenen bewusst ist, sie analysiert und gegebenenfalls dokumentiert. In der Archäologie hat man es im Kontext der Stratigraphischen Methode mit drei zentralen Begriffen zu tun: Stratifizierung, Stratigraphie und stratigraphische Sequenz. Eine archäologische Stratifizierung oder, anders ausgedrückt, ein stratifizierter archäologischer Befund, ist eine Abfolge von Schichten oder anderen stratigraphischen Einheiten, bei deren Entstehung der Mensch wesentlich beteiligt war. Die verschiedenen Schichten bzw. sonstigen stratigraphischen Einheiten eines konkreten Befundes erkennt man an makroskopisch wahrnehmbaren Materialunterschieden. Wenngleich meist kulturell Abb. 39 Multilineare Stratifizierung eines Schutthügels. Abb. 39: Multilineare Stratifizierung eines Schutthügels. - Nach Harris 1989, 130 Abb. 53 A. 8.5 Die Bedeutung der Stratigraphischen Methode Sofern an einem archäologischen Fundplatz stratifizierte Befunde vorhan‐ den sind, kommt der Stratigraphischen Methode eine zentrale Bedeutung bei der Erstellung einer lokalen relativen Chronologie zu. Dabei ist, wie ausgeführt, streng zwischen der Abfolge der Schichten selbst und ihrem archäologisch relevanten Inhalt in Form von Keramik und anderen Objekten zu unterscheiden. Die in ihnen eingeschlossenen Objekte spielen über den am Ende des vorstehenden Absatzes angesprochenen Fall hinaus erst dann eine Rolle, wenn Schichten, die untereinander keine stratigraphische Beziehung aufweisen, zeitlich verknüpft werden sollen. Dabei kann es sich sowohl um Schichten eines bestimmten Grabungsplatzes als auch um solche unterschiedlicher Fundplätze handeln. 264 8 Schichten und ihr Inhalt: Die Stratigraphische Methode <?page no="265"?> 35 Schaeffer 1948. 36 Sehr kritisch zu Schaeffers eigener Grabungsmethode äußert sich aus stratigraphischer Sicht Echt (1984, 28 f.). 37 Milojčić 1949. Siehe hierzu im Einzelnen Eggert/ Lüth 1987 und Eggert/ Wotzka 1987 sowie unten, Kap.-12.5. (S. 366 ff.) Die über größere Distanzen vorgenommene Verknüpfung jeweils ortsge‐ bundener Stratifizierungen führt zu einer sogenannten stratigraphie compa‐ rée oder ›vergleichenden Stratigraphie‹. Diese Bezeichnung wurde durch den Titel einer monumentalen Arbeit von Claude (»C. F.-A.«) Schaeffer (1898-1982), die bei ihrem Erscheinen große Beachtung fand, 35 zu einem gängigen Begriff. 36 In diesem Zusammenhang ist vor allem das auf einer ent‐ sprechend vergleichenden Basis von Vladimir Milojčić (1918-1978) errich‐ tete »komparativ-stratigraphische Chronologiesystem« des europäischen Neolithikums zu nennen, das seinerzeit im Rahmen der absoluten Datierung insbesondere der altneolithischen Kulturen Mitteleuropas eine bedeutende Rolle spielte. 37 Es liegt auf der Hand, dass der Zuverlässigkeitsgrad der abso‐ lut-chronologischen Datierung, der aus solchen stratigraphischen Korrela‐ tionen zu gewinnen ist, von zahlreichen Bedingungen abhängt. Dazu zählen nicht nur die Qualität und Anzahl der konkret miteinander verknüpften Stratigraphien, sondern auch die Qualität und Anzahl der dafür verwen‐ deten Leittypen. Auch die Größe des durch die einzelnen Korrelationen überspannten Raumes sowie die Variabilität der dabei zur Diskussion ste‐ henden archäologischen Kulturen sind wichtig. Somit ergibt sich, dass die Stärke der Stratigraphischen Methode nicht in ihrer regionalen oder gar überregionalen Anwendung, sondern in der Orts‐ gebundenheit ihrer Befunde liegt. Jede Stratigraphie gilt grundsätzlich nur für den Befund, den sie beschreibt. Ihre Bedeutung besteht in der Erstellung jeweils lokaler, zunächst einmal fundarealspezischer Abfolgen. Jedwede Ausweitung dieses unmittelbaren, vorgegebenen Bezugsrahmens geht not‐ wendigerweise mit einer stetigen, wenngleich in ihren Konsequenzen nicht unbedingt linearen Reduzierung ihrer Aussagekraft einher. Insofern ver‐ wundert es nicht, wenn man heute angesichts der naturwissenschaftlichen Möglichkeiten absoluter Datierung auf methodisch prekäre, großräumig 8.5 Die Bedeutung der Stratigraphischen Methode 265 <?page no="266"?> 38 Als ein heute rares Beispiel eines solchen Versuchs kann H. Parzingers Monographie über die Chronologie des Neolithikums und der frühen Metallzeit zwischen Karpaten und Mittlerem Taurus (1993) gelten. Es ist Parzingers erklärtes Ziel, »eine Prüfung der archäologisch-historischen Methode und damit der komparativen Stratigraphie« vorzunehmen (ebd. 12). Dennoch entbehrt diese Arbeit - abgesehen von einigen weni‐ gen, knapp zwei Seiten umfassenden Bemerkungen (ebd. 13 ff.) - jeder grundlegenden Reflexion sowohl der Möglichkeiten und des Werts komparativer Stratigraphie als auch der Natur archäologischer Chronologie. Entsprechend dürftig fällt, wie er selbst einräumt (ebd. 290), das Gesamtergebnis aus (siehe hierzu auch unten, Kap. 12.3 - S. 347-ff., bes. S. 358 mit Anm. 25.) angelegte Versuche einer Erarbeitung komparativ-stratigraphischer Chro‐ nologiesysteme weitgehend verzichtet. 38 266 8 Schichten und ihr Inhalt: Die Stratigraphische Methode <?page no="267"?> 1 Almgren 1965/ 66. 2 Gräslund 1974; ders. 1976; ders. 1986; ders. 1987. 3 Zur Typologischen Methode jetzt auch Brather 2006; dort mangelt es leider an einer genügenden Differenzierung von ›Typologie‹ und Klassifikation. 9 Materielle Variabilität und relative Chronologie: Die ›Typologische Methode‹ 9.1 Zur Stufengliederung der Nordischen Bronzezeit Im Jahre 1885 veröffentlichte Oscar Montelius in schwedischer Sprache ein epochales Werk Über die Zeitbestimmung in der Bronzezeit mit besonderer Berücksichtigung Skandinaviens. Darin wurde die Nordische Bronzezeit erstmals in sechs - wie Montelius sie nannte - »Perioden« unterteilt und damit jene Stufengliederung geschaffen, die sich im Prinzip bis auf den heutigen Tag bewährt hat. So bedeutend dieses Werk für die relative Chronologie der Bronzezeit war und immer noch ist, es besteht doch kein Zweifel, dass die internationale Forschung zwar das Ergebnis, nicht aber die innere Struktur der ihm zugrunde liegenden Methode rezipiert hat. Diese Methode bot vor allem deswegen kaum Anlass für ein intensives Studium, weil sie - so schien es - bei verschiedenen späteren Gelegenheiten von Montelius (1899; 1903) selbst klar und einleuchtend dargelegt wurde. Folgen wir seiner eigenen Darstellung, ist die Stufengliederung der Nordischen Bronzezeit mit Hilfe der Typologischen Methode gewonnen worden. Auch heute noch wird die Typologische Methode gemeinhin mit Monte‐ lius identifiziert; dabei pflegt man aber durchaus darauf hinzuweisen, dass er nicht der alleinige Urheber sei, sondern er und Hans Hildebrand sie gleichzeitig, jedoch unabhängig voneinander entwickelt hätten. Dank der forschungsgeschichtlichen Studien von Bertil Almgren (1918-2011) 1 und vor allem von Bo Gräslund 2 besteht inzwischen kein Zweifel mehr, dass die typologische Betrachtungsweise zuerst von Hildebrand - und zwar auf nicht-numismatische archäologische Kleinfunde - angewandt wurde. Dabei haben seine eigenen numismatischen Studien sowie die seines Vaters, des schwedischen Reichsantiquars Bror Emil Hildebrand (1806-1884), offenbar eine entscheidende Rolle gespielt (Gräslund 1987, 91 ff.). Die klassische Formulierung der typologischen Betrachtungsweise aber stammt von Mon‐ telius. 3 <?page no="268"?> 4 Die von Montelius verschickten Sonderabdrucke dieses ersten Teils des genannten, zwischen 1903 und 1923 erschienenen Werks trugen indes - wie G. Jacob-Friesen (1967, 6 mit Anm. 14) betont hat - den Titel »Die Typologische Methode«. Man wird ohne Übertreibung sagen dürfen, dass die Typologische Me‐ thode in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts als die Methode der Ur- und Frühgeschichtlichen Archäologie schlechthin angesehen wurde. Dabei berief man sich auf jene Darlegungen, die Montelius im Jahre 1903 als ersten Teil seines Werkes Die älteren Kulturperioden im Orient und in Europa unter dem Titel »Die Methode« veröffentlicht hatte. 4 Bereits der erste Satz seiner Darlegungen brachte prägnant zum Ausdruck, wozu diese Methode dienen sollte: »Für jede Untersuchung ist eine sichere Kenntniss der chronologischen Verhältnisse von grösster Wichtigkeit.« Die Typologie von Montelius war keine ›Lehre von den Typen‹ in dem Sinne, dass dort die Prinzipien der Herausarbeitung von Typen aus dem archäologischen Material entwickelt worden wären. Es ging ihm nicht um Klassifikation, sondern um eine ›Lehre von der Entwicklung von Typen‹ - eine Entwicklung, die sich chronologisch interpretieren ließ. Obwohl das Typkonzept damit im Mittelpunkt seiner Betrachtungen stand, wird man in jenem Werk vergeblich nach Ausführungen darüber suchen, was denn nun eigentlich ein ›Typ‹ ist und wodurch er sich von Artefakten unterscheidet, die keine ›Typen‹ sind. Das zentrale Konzept der Typologie wurde in dieser grundlegenden Abhandlung nicht erläutert, sondern vorausgesetzt - eine Tatsache, die sicherlich zu den späteren Auswüchsen ›typologischer Arbeitsweise‹ wesentlich beigetragen hat. Montelius begnügte sich in seiner Methode damit, verschiedene Gattungen archäologischer Kleinfunde sowohl hinsichtlich ihrer Form als auch ihrer Verzierung zu untersuchen. Dabei handelte es sich vor allem um bronzene Beile, Waffen, Fibeln und Gefäße aus dem nord- und nordmitteleuropäischen Bereich sowie aus Italien. Außerdem widmete er der Entwicklung des Lotus- und Palmettenmotivs besondere Aufmerksamkeit. Für die Erarbeitung einer relativen Chronologie stellte Montelius (1903, 3) von vornherein zwei wichtige Forderungen auf: Man habe erstens zeit‐ gleiche, also aus ein und derselben »Periode« stammende Typen herauszu‐ arbeiten und zweitens die Abfolge solcher typenmäßig definierten Perioden zu bestimmen. Um die erste Forderung zu erfüllen, müssten Geschlossene (»sichere«) Funde analysiert werden; die Gleichzeitigkeit von Typen ergebe sich dabei aus ihrem gemeinsamen Auftreten in diesen Funden. Bei der 268 9 Materielle Variabilität und relative Chronologie: Die ›Typologische Methode‹ <?page no="269"?> Bestimmung der Abfolge der Perioden ging er auf das Potenzial der Strati‐ graphie und der (heute so genannten) Horizontalstratigraphie ein. Er kam dabei zu dem Schluss, dass diese Abfolge nur selten durch stratifizierte Funde und Befunde bzw. durch entsprechende Gräberfeldzonierungen bestimmt werden könne. Glücklicherweise, so betonte er dann aber, gebe es jedoch die »typologische Methode«, mit der sich die gesuchte Periodensequenz in beinah allen Fällen bestimmen lasse (ebd. 15). Aus seiner Präsentation folgt, dass er die Typologie als eine Methode betrachtete, der angesichts der relativen Seltenheit von Stratifizierungen und chronologisch aussagefähigen Zonierungen eine herausragende Be‐ deutung bei der Erarbeitung von Stufengliederungen zukommt. Diese Stufengliederungen beruhten demnach in erster Linie auf zwei methodi‐ schen Prinzipien, nämlich dem Konzept des Geschlossenen Funds und dem Konzept der Entwicklung der in ihnen auftretenden Typen. Die aus diesen Untersuchungen resultierenden Sequenzen je spezifischer »Typen« der analysierten Artefaktgattungen verkörperten nach seiner Meinung die »Genealogie« dieser Typen. Seine »Serien« bzw. »Typenserien« oder, wie wir heute sagen, Typologischen Reihen basierten also auf formalen und/ oder ornamentalen Veränderungen konkreter Artefakte - Veränderungen, die er als Folge einer kontinuierlichen Entwicklung interpretierte. Dabei spielten Fibeln eine besondere Rolle, da sie - so Montelius (1903, 43) - »sehr ›emp‐ findlich‹«, also sehr variabel seien. Seine typologische Betrachtungs- und Argumentationsweise lässt sich am besten anhand der von ihm erörterten Entwicklungsgeschichte der Fibeln der Nordischen Bronzezeit erläutern (Abb. 40). 9.1 Zur Stufengliederung der Nordischen Bronzezeit 269 <?page no="270"?> Materielle Variabilität und relative Chronologie: Die ›Typologische Methode‹ man die inneren Scheiben aus einem Stück gegossen, so dass lediglich noch die runden äußeren Windungen unverbunden blieben (Abb. 40, 12). Das Endstadium der Entwicklung würden die aus einem Stück gegossenen Endscheiben (Abb. 40, 13.15.16) repräsentieren, die gelegentlich noch einen »Ueberrest von der alten Spiralenform« erkennen ließen, indem die Enden der jetzt mitgegossenen runden Ränder (die früheren äußeren Windungen) noch keine geschlossene Kreisform bil- Abb. 40 Typologische Serie von Fibeln der Nordischen Bronzezeit. Abb. 40: Typologische Serie von Fibeln der Nordischen Bronzezeit. - Nach Montelius 1903, 56 f. Abb. 189-204. 270 9 Materielle Variabilität und relative Chronologie: Die ›Typologische Methode‹ <?page no="271"?> Montelius (1903, 54 ff.) beschreibt zunächst knapp die formale Entwicklung der nordischen Fibeln, als deren Ausgangsform er bestimmte italische Bogenfibeln mit gestrecktem, flachem Bügel ansieht. Die typologisch relevanten Elemente der nordischen Fibeln sind für ihn der Bügel, insbesondere die Bügelenden, und der Nadelkopf. Bei den Bügelenden verlaufe die Entwicklung von spiralig aufgewi‐ ckelten rundstabigen Enden (Abb. 40, 1) über flachgehämmerte Windungen (Abb. 40, 5.7) zu flachen Innenwindungen mit betonter rundstabiger Außenwindung (Abb. 40, 8-10). Dann würden die flachen inneren Windungen sehr viel breiter, während die äußere Windung unverändert bleibe (Abb. 40, 11); schließlich habe man die inneren Scheiben aus einem Stück gegossen, so dass lediglich noch die runden äußeren Windungen unverbunden blieben (Abb. 40, 12). Das Endstadium der Entwicklung würden die aus einem Stück gegossenen Endscheiben (Abb. 40, 13.15.16) repräsentieren, die gelegentlich noch einen »Ueberrest von der alten Spiralenform« erkennen ließen, indem die Enden der jetzt mitgegossenen runden Ränder (die früheren äußeren Windungen) noch keine geschlossene Kreisform bildeten (Abb. 40, 13). Auch diese »Erinnerung an die alte Spiralenform« ver‐ schwinde nach und nach (Abb. 40, 14.15), bis die beiden Scheiben zu guter Letzt gewölbt und mit erhabenen gegossenen Rändern versehen seien (Abb. 40, 16). Die Entwicklung des Bügels hingegen führe von einer weitgehend geraden zu einer bogenförmigen Gestaltung; zunächst weise der Bügel sehr lange einen run‐ den, später einen konkaven Querschnitt auf. Der Kopf der Fibelnadel schließlich sei zunächst spindelförmig (Abb. 40, 1-4), dann doppelkreuzförmig (Abb. 40, 5.6); später dann besitze er die Form einer kleinen runden Scheibe, die bisweilen noch ein vertieftes Doppelkreuz aufweise - »eine Erinnerung an die alte Form des Nadelkopfes« (Abb. 40, 7). In der Mitte des scheibenförmigen Nadelkopfs sei oft ein großes rundes Loch vorhanden, wodurch das Ganze einen großen Ring bilde (Abb. 40, 13). Schließlich verschwinde der Nadelkopf völlig; nunmehr umgebe der hintere Teil der Nadel nur noch kreisförmig die Basis des Bügels (Abb. 40, 16). Nach diesen Darlegungen stellt Montelius (1903, 58) ohne weitere Beweisführung lapidar fest: »Zahlreiche, in verschiedenen Gegenden des Nordens gemachte Funde beweisen, dass solche Fibeln wie Abb. 40, 1-4 der 2. Periode des nordischen Bronzealters angehören; […] Fibeln wie Abb. 40, 5.6 der ersten Hälfte der 3. Periode, […] Fibeln wie Abb. 40, 7-10 der zweiten Hälfte derselben Periode; […] Fibeln wie Abb. 40, 11 und 12 der ersten Hälfte der 4. Periode, […] Fibeln wie Abb. 40, 13-15 der zweiten Hälfte derselben Periode […] [und] dass Fibeln wie Abb. 40, 16 der 5. Periode angehören.« Hierauf kommt er zu folgendem Ergebnis: »Die Funde bezeugen also die vollständige Richtigkeit der Entwicklungsgeschichte der 9.1 Zur Stufengliederung der Nordischen Bronzezeit 271 <?page no="272"?> 5 In diesem Zitat sind Montelius’ Abbildungsverweise ohne besondere Kennzeichnung durch Verweise auf die betreffenden Objekte in Abb. 40 ersetzt worden; die dort abgebildeten Objekte sind mit jenen identisch, auf die er sich in seinen Ausführungen bezieht. 6 Zur Definition des Typologischen Rudiments siehe unten, S.-274, 282 ff. nordischen Fibeln aus dem Bronzealter, die ein Studium der Typen uns gelehrt hat.« 5 Es besteht wohl kein Zweifel daran, dass mit den von Montelius erwähnten »Funden« Geschlossene Grabfunde gemeint waren. Es stellt sich die Frage, wie es ihm ohne Kenntnis solcher Grabfunde hätte möglich sein sollen, die Fibelentwicklung mit einer derartigen Sicherheit aus den Objekten selbst abzuleiten. Darauf findet sich in seinen Ausführungen keine Antwort. Sogar sein vordergründig überzeugendstes Argument - die postulierte Verände‐ rung des Bügelendes im Sinne der Herausbildung eines Typologischen Rudiments 6 - ist nicht mehr als eine Hypothese, über deren Stichhaltigkeit aus den Fibeln selbst keinerlei Aufschluss zu gewinnen ist. Hier können nur Geschlossene Funde weiterhelfen, und es wäre sicherlich interessant, sie einmal anhand der damals bekannten Inventare zu überprüfen und das Ergebnis mit dem heute zur Verfügung stehenden Material zu konfrontieren. Zusammenfassend lässt sich jedenfalls feststellen, dass seiner Entwicklungs‐ hypothese aus heutiger Sicht keinerlei überzeugende, methodenimmanente Kriterien zugrunde liegen. Im Übrigen fragt man sich, warum Montelius den Geschlossenen Funden - und dies keineswegs allein für das hier erörterte Fibelbeispiel - lediglich eine Kontrollfunktion für ein Ergebnis zubilligt, das auf einem anscheinend doch recht spekulativen Wege gewonnen wurde. Wenn diese Funde eine Kontrolle ermöglichen, dann wären sie ja offenbar schon von vornherein ein hervorragendes Mittel, um eine relative Altersordnung von Typen herauszuarbeiten. 9.2 Grundprinzipien der ›Typologischen Methode‹ Montelius (1903, 16) zufolge sind die verschiedenen Typenserien von un‐ terschiedlicher typologischer »Empfindlichkeit«, je nachdem, mit welcher Geschwindigkeit Veränderungen von Form und Verzierung innerhalb einer bestimmten Zeitspanne erfolgt sind. Je stärker die formale und ornamentale Variation einer Serie, desto brauchbarer sei sie für die Erstellung einer 272 9 Materielle Variabilität und relative Chronologie: Die ›Typologische Methode‹ <?page no="273"?> 7 Montelius (1903, 20) wörtlich: »Die Entwicklung kann langsam oder schnell verlaufen, immer ist aber der Mensch bei seinem Schaffen von neuen Formen genöthigt, demselben Gesetze der Entwicklung zu gehorchen, welches für die übrige Natur gilt.« relativen Altersordnung. Bei aller Variabilität der Serien im Einzelnen sei das Grundmuster ähnlich: Ihre Endglieder unterschieden sich so stark, dass man an ihrem Zusammenhang zweifeln könnte, wären nicht die jeweils nur in sehr kleinen Einzelheiten voneinander abweichenden Zwischenglieder bekannt. In diesen Betrachtungen über die graduelle Modifikation der einzelnen Glieder einer Serie zeigt sich bereits ein wesentlicher Grundsatz der Konzeption von Montelius: Für ihn verlief die Entwicklung materieller Formen so stetig, dass Sprünge gar nicht erst in Betracht gezogen wurden. Diese Grundauffassung brachte er in einer unmissverständlich evolutionis‐ tischen Formulierung zum Ausdruck. 7 Ein besonderes Problem Typologischer Serien besteht darin, dass es irgendeines leitenden Prinzips bedarf, um zu entscheiden, welcher der beiden äußersten Typen der Reihe der älteste und welcher der jüngste ist. Nach Montelius (1903, 17) kommt es allerdings in den meisten Fällen gar nicht zu einer Verwechslung von Anfang und Ende einer Serie, da sehr oft »eine einfache natürliche Form« den Ausgangspunkt bilde - eine Form, die ihr relatives Alter »durch ihre Ursprünglichkeit oder durch andere leicht bemerkbare Merkmale« zeige und sich so als »Prototypus« für alle anderen Formen erweise. Freilich sei es wahr, so schränkte er ein, dass auch die jüngste Form einer Serie »bisweilen sehr einfach« erscheinen könne - bei einer näheren Untersuchung würde sich aber herausstellen, dass »diese Einfachheit nur scheinbar« sei, »nicht so ursprünglich wie diejenige der ältesten Form«. In dieser pseudoempirischen Begründung offenbart sich der wissenschaftstheoretische Status der Typologischen Methode: Es handelt sich um ein Produkt des Klassischen Evolutionismus. Montelius unterstellt eine Entwicklung, die vom Niederen zum Höheren, vom Einfachen zum Komplexen fortschreitet. In diesem Sinne entspricht seine Position einem unilinearen Evolutionismus. Er hat sich überdies auch offen zur Entwick‐ lungslehre bekannt, so vor allem in einem Vortrag, den er am 12. Juli 1898 in Stockholm auf der 15. Versammlung Skandinavischer Naturforscher gehalten hat. Darin findet sich auch der einzige direkte Bezug auf den Darwinismus. Die Ur- und Frühgeschichtliche Archäologie, so heißt es dort, stehe »im Hinblick auf die Entwicklungslehre […] auf rein darwinistischem 9.2 Grundprinzipien der ›Typologischen Methode‹ 273 <?page no="274"?> 8 Die deutsche Übersetzung dieses auf Schwedisch gehaltenen Vortrages lautet: »Die Typologie oder die Entwicklungslehre in Anwendung auf die menschliche Arbeit«. 9 Åberg 1929, 508. Standpunkt« (Montelius 1899, 268). 8 Der Feststellung von Nils Åberg (1888- 1957) ist daher zuzustimmen, dass die Typologie »die Anwendung des Darwinismus auf die Produkte der menschlichen Arbeit« sei. 9 Bei der Festlegung der Richtung von Typenserien und damit der Abfolge von Perioden formulierte Montelius (1903, 17) das für die Typologie we‐ sentliche evolutionistische Prinzip des Typologischen Rudiments oder, in seinen Worten, der »rudimentären Bildungen«. Dabei handele es sich um jene »Theile eines Gegenstandes, welche einmal eine Funktion hatten, allmälig aber ihre praktische Bedeutung verloren haben«. Das nunmehr funktionslose »Organ« sei im Laufe der Zeit so verändert worden, dass man es nur noch schwer erkennen könne. Die Lösung der Frage, welcher Richtung die Entwicklung gefolgt sei, ergebe sich aus der Beschaffenheit des entsprechenden Merkmals eines konkreten Objekts in der Typenserie. Diejenigen Typvertreter, bei denen dieses »Organ« noch funktioniere, müssten älter sein als jene, bei denen es zu einem Rudiment geworden sei. Als Ergebnis dieser evolutionistischen Darlegungen stellte Montelius (1903, 17) fest, dass die Richtung einer Typenserie in den allermeisten Fällen durch die »rein typologischen Verhältnisse« ermittelt werden könne. Sei dies tatsächlich einmal nicht möglich, so folgten Anfang und Ende der Sequenz aus den »Fundverhältnissen«. Der Kontext dieser Feststellung lässt keinen Zweifel daran, dass Montelius damit auf die entscheidende Bedeutung Geschlossener Funde für die Reihung archäologischer Objekte hingewiesen hat. Für die Beurteilung der Typologischen Methode sind mithin zwei Dinge bemerkenswert. Zum einen ist nicht einzusehen, inwie‐ fern eine praktikable entwicklungsgenetische Methode von »Fundverhält‐ nissen« abhängig sein sollte. Zum andern aber musste Montelius einräumen, dass die Wirksamkeit des generell unterstellten Entwicklungsgesetzes nicht jede Typenserie entlang der Zeitachse zu orientieren vermag. Seine abschließenden methodischen Bemerkungen galten daher der Typenabfolge in Serien. Dabei ging es um die Frage, ob die durch die typologische Untersuchung festgestellte relative Position der Typen richtig sei. Der dafür von ihm vorgeschlagene Test hatte nichts mit einem wie auch immer gearteten Entwicklungsprinzip zu tun. Er basierte ausschließlich auf der Vergesellschaftung einzelner Typen aus mindestens zwei Serien in 274 9 Materielle Variabilität und relative Chronologie: Die ›Typologische Methode‹ <?page no="275"?> Geschlossenen Funden. Der Grad des dadurch dokumentierten »Parallelis‐ mus« der entsprechenden Typen wurde zum Eichmaß der Positionsabfolge der miteinander verglichenen Serien (Montelius 1903, 20). Verliefen solche über Geschlossene Funde verknüpfte Serien parallel, das heißt entsprachen die Typenkombinationen der relativen Positionierung dieser Typen in den Serien, so galt die erarbeitete Anordnung als richtig (Abb. 41: Serien 1 und 2 sowie 3 und 4). Liefen sie hingegen nicht parallel, so musste bei ihrer Aufstellung ein Fehler begangen worden sein (Abb. 41: Serien 5 und 6). Abb. 41: Das Prinzip des Parallelismus von O. Montelius. - Nach Montelius 1903, 19. Wir können also festhalten, dass die von Montelius dargelegte Methode zur Erarbeitung einer relativen Chronologie aus zwei heterogenen Kompo‐ nenten besteht. Auf der einen Seite präsentierte er ein genetisches, auf der Konzeption des unilinearen Evolutionismus beruhendes Chronologisie‐ rungsprinzip, das er faktisch als Regelverfahren hinstellte. Auf der anderen Seite aber räumte er ein, dass es Fälle gebe, in denen das Entwicklungs‐ prinzip versage - dann sei es notwendig, Geschlossene Funde zu Hilfe zu nehmen. Solche Fälle, die sich der erfolgreichen Anwendung des Entwick‐ lungsprinzips widersetzen, beschränkte er auf die Frage der Richtung von bereits etablierten Typenserien. Als viel problematischer hätte er eigentlich die relative Positionierung eines jeden Typs innerhalb einer Serie werten müssen. Darauf ging er jedoch lediglich beiläufig bei der Erörterung des Parallelismus-Tests ein. 9.2 Grundprinzipien der ›Typologischen Methode‹ 275 <?page no="276"?> 10 Zitiert und übersetzt nach dem von Gräslund (1987, 88) englisch wiedergegebenen dänischen Originalzitat. Die Ergebnisse der Ausführungen von Montelius lassen sich folgender‐ maßen zusammenfassen: (1) Archäologische »Perioden« sind durch zeitgleiche Typen definiert. (2) Die Bestimmung der Zeitgleichheit von Typen erfolgt über ihre Kom‐ bination in Geschlossenen Funden. (3) Aufgrund meist fehlender einschlägiger Befunde kann die Abfolge der durch zeitgleiche Typen definierten Perioden nur relativ selten mit Hilfe der Vertikal- und Horizontalstratigraphie bestimmt werden. (4) Die Festlegung der Periodensequenz erfolgt auf der Basis von Typen‐ serien. Diese Serien sind nach dem Prinzip des unilinearen Evolutio‐ nismus geordnet. (5) Die Adäquatheit von Typenserien kann mit Hilfe des Parallelis‐ mus-Tests überprüft werden. Dieser Test setzt das Vorhandensein Geschlossener Funde voraus. Hieraus folgt, dass eine Periodenbildung und eine Periodensequenzierung nach Montelius nur dann erfolgreich durchgeführt werden kann, wenn die Typologische Methode durch das Prinzip des Geschlossenen Funds ergänzt wird. Geschlossene Funde sind daher eine conditio sine qua non beim Erstellen relativer Chronologien. Somit ergibt sich die Frage, ob man die Typologische Methode benötigt, wenn Geschlossene Funde zur Verfügung stehen. Die Antwort auf diese Frage ist negativ. Alle für eine relative Altersord‐ nung notwendigen Informationen sind in den für die relativ-chronologische Fragestellung zur Verfügung stehenden Geschlossenen Funden enthalten. Diese Erkenntnis ist keineswegs neu: Schon vor 160 Jahren hielt der bedeu‐ tende dänische Archäologe Sophus Müller der »schwedischen Typologie« dieses Argument entgegen. Er wies die Behauptung von Hildebrand und Montelius, sie hätten ihre Chronologie mit Hilfe der Typologie erstellt, schlicht als unhaltbar zurück. Diese Typologen, so sagte er, hätten »ihre eigene Methode nur selten und an Stellen von gänzlich sekundärer Bedeu‐ tung angewandt - und in diesen Fällen sind und konnten sie nicht über Vermutungen hinauskommen« (Müller 1884). 10 Bo Gräslund hat mehrfach darauf hingewiesen, dass diese Kritik - der Montelius in einer im gleichen 276 9 Materielle Variabilität und relative Chronologie: Die ›Typologische Methode‹ <?page no="277"?> 11 Gräslund 1986, 12; ders. 1987, 88; ders. 1986, 12; ders. 1987, 88. 12 Clarke 1968, 164 Abb. 29. Jahr erschienenen Erwiderung nichts Substantielles entgegenzusetzen hatte - im Wesentlichen gerechtfertigt gewesen war. 11 Wenden wir uns abschließend der Frage zu, ob denn die sogenannte Typologische Methode überhaupt als Methode gelten kann. Auch das muss verneint werden. Die Typologie von Montelius unterstellt eine unilineare Entwicklung materieller Formen und bezieht ihr fundamentales Ordnungs‐ prinzip einzig und allein aus dieser Prämisse. Materielle Formen, so schrieb Montelius (1903, 20; 17), könnten sich im Zuge ihrer Entwicklung zwar ver‐ zweigen, »indem aus einem Typus zwei oder mehrere Serien« entständen, die Entwicklung verlaufe aber immer von »ursprünglichen«, »einfachen«, »natürlichen« zu komplexen Formen. Diese Konzeption einer zwangsläufi‐ gen, gerichteten Entwicklung materieller Kulturgüter ist inzwischen von den Kulturwissenschaften widerlegt und damit als Erklärungsprinzip ad absurdum geführt worden. Aus Gegenwart und jüngerer Vergangenheit las‐ sen sich viele Beispiele dafür liefern, dass eine entwicklungsgeschichtliche Reihe, die aufgrund eines ›typologischen‹ Prinzips aufgestellt wurde, kei‐ neswegs der realen historischen Abfolge der Glieder dieser Reihe entspricht. Hier sei nur auf David L. Clarke verwiesen, der am Beispiel einer Reihe datierter Standuhren darauf aufmerksam machte, dass ihre Anordnung nach dem typologischen Prinzip vermutlich zu einem historisch teilweise falschen Ergebnis führen würde. 12 Dieses Beispiel aufnehmend, sind die von ihm vorgelegten Standuhren hier anhand ihrer Form und Verzierung im Sinne einer klassischen typologischen Abfolge vom Einfachen zum Komplexen angeordnet worden (Abb. 42). Selbstverständlich wären bei einer anderen Gewichtung der für typologisch relevant erachteten Merkmale der Standuhren auch andere Anordnungen denkbar. Bei aller Variation im Einzelnen bliebe das Ergebnis jedoch im Wesentlichen unverändert: Die Positionsabfolge der einzelnen Standuhrtypen entspräche in der Regel nicht der historisch überlieferten Abfolge. 9.2 Grundprinzipien der ›Typologischen Methode‹ 277 <?page no="278"?> 13 Rowe 1961, 326 f., 329. Abb. 42: Typologische Reihe datierter Standuhren. - Nach Clarke 1968, 164 Abb. 39. Der amerikanische Kulturanthropologe John H. Rowe (1918-2004) hat einmal darauf hingewiesen, dass sich materielle Formen in einem gegebenen kulturellen Kontext meist kontinuierlich verändern. 13 Dieser regelhafte Pro‐ zess könne jedoch gelegentlich gestört werden, und zwar zum einen durch einen plötzlich dominant werdenden äußeren Einfluss und zum anderen durch ein Phänomen, das er Archaismus nennt. Dabei handelt es sich um die Wiederaufnahme oder Neubelebung von Formen einer vergangenen Zeit, die den Formenkanon dann mehr oder weniger stark beeinflussen kann. Auch hierfür lassen sich in der Literatur zahlreiche gut dokumentierte Fälle finden. Der geradezu zyklische Charakter der Veränderung der Kleidermode während des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart ist sicherlich ein beson‐ ders augenfälliges und zugleich auch extremes Beispiel. Überhaupt soll hier keineswegs für ein Verfahren plädiert werden, das Prozesse und Phänomene der Gegenwart mit solchen der ur- und frühgeschichtlichen Vergangenheit vorbehaltlos gleichsetzt. Das wäre natürlich Unsinn. Auf der anderen Seite wäre es aber nicht weniger unsinnig, gewisse strukturelle Konstanten des Kulturprozesses einfach zu leugnen oder zu ignorieren. In diesem Sinne liegt dem Konzept des Archaismus von Rowe ein ernst zu nehmendes 278 9 Materielle Variabilität und relative Chronologie: Die ›Typologische Methode‹ <?page no="279"?> 14 Siehe hierzu Rowe (1959, 322). Er bezeichnet mit dem für dieses Phänomen kongenialen Terminus revival die ›Wiederbelebung‹ einer keramischen Tradition im südlichen Peru, die durch die vorangehende Eroberung der Region durch die Inka abgerissen und weitgehend durch die keramische Tradition der Eroberer ersetzt worden war. Diese »bewußte Revitalisierung des alten einheimischen Stiles« setzte nach dem durch die spanische Eroberung in der Mitte des 16. Jahrhunderts herbeigeführten Untergang des Inka-Reiches ein. 15 Bei diesem Beispiel handelt es sich insofern nicht um die ›Revitalisierung‹ einer gänzlich unterbrochenen Tradition, als die Brauerei des Flensburger Pilsener im Internet darauf hinweist, dass sie sich seit 1888 stets des Bügelverschlusses bedient habe: »Entge‐ gen dem Tun der gesamten Konkurrenz wurde die Bügelflasche beibehalten, die sich bis heute bewährt hat« (<http: / / www.flensburger.de> [Stand: Februar 2000]; frdl. Hinweis von Almut Mehling). - Bis heute stellt man im Internetauftritt das Festhalten am Bügelverschluss heraus und betont, dass man ihn zum »Markenzeichen« gemacht habe: »Ohne Bügelverschluss kein plop’, ohne plop’ weniger Genuss! « Sowie ferner: »Und heute können wir mit Stolz sagen, dass wir die weltweit größte Bügelverschlussanlage konzipiert haben und die einzige Brauerei sind, die durchgängig den Bügelverschluss beibehalten hat. Dass der Bügelverschluss heutzutage wieder weit verbreitet ist, ist zweifellos auch der Beharrlichkeit unserer Flensburger Brauerei zu verdanken.« (<https: / / www.flens.de/ >; Zugriff: 22.01.2023) Phänomen zugrunde, das im Übrigen auch in archäologisch-historischen Zusammenhängen herausgearbeitet worden ist. 14 Aus der Fülle möglicher weiterer Beispiele sei ein Fall herausgegriffen, der zeigt, dass sich das Phänomen des Archaismus keineswegs auf mehr oder weniger sekundäre form- oder verzierungsspezifische Aspekte von materiel‐ len Formen beschränkt, sondern auch den unmittelbar funktionsrelevanten Bereich betrifft. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist der traditionelle und praktische Bügelverschluss an Bierflaschen recht schnell und letztendlich beinah umfassend durch Kronkorken ersetzt worden. In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre kam es dann zu einer gezielten ›Revitalisierung‹ des Bügelverschlusses, die in Norddeutschland - wenn ich richtig sehe - von einer einzigen in Flensburg ansässigen Brauerei ausging. Diese Brauerei warb im Jahre 1978 für ihr Bier in großangelegten Plakatierungsaktionen mit dem Slogan »Das mit dem Bügelverschluß! « und einer entsprechenden graphischen Hervorhebung dieses technischen Details (Abb. 43). Andere Brauereien folgten sehr schnell diesem Vorbild, und bald waren Flaschen mit Bügelverschluss wieder häufiger zu sehen, wenngleich der Kronkorken ›Marktführer‹ blieb. 15 Heute - das heißt 2024 - habe ich hingegen den Ein‐ druck, dass der Bügelverschluss gegenüber dem Kronkorken ganz erheblich aufgeholt hat. 9.2 Grundprinzipien der ›Typologischen Methode‹ 279 <?page no="280"?> Abb. 43: Bierreklame des Jahres 1978 in Hamburg. - Nach Foto Verf. Solche Beispiele führen uns nur scheinbar von der Typologischen Methode weg. Sie zeigen vielmehr, dass die von den klassischen Typologen unter‐ stellte kontinuierliche und unilineare Veränderung materieller Formen nicht der Realität entspricht. Insofern erweist sich der Blick von den materiellen Gütern der ur- und frühgeschichtlichen Vergangenheit auf jene der histori‐ schen Zeiten und der Gegenwart einschließlich ihres komplexen kulturellen Umfelds als sehr fruchtbar. Wie beim Analogischen Deuten vermag auch hier die Beschäftigung mit historisch oder ethnographisch dokumentierten Kulturen einschließlich der eigenen die Vorstellungskraft von Archäologen und Archäologinnen zu beflügeln und damit ihren interpretatorischen Horizont zu erweitern. Heute empfiehlt wohl niemand mehr die Typologie als Methode zur Erar‐ beitung von relativen Chronologien. Vereinzelte kritische Stimmen hatte es ohnehin immer wieder gegeben. Bereits im Jahre 1881, also drei Jahre vor der 280 9 Materielle Variabilität und relative Chronologie: Die ›Typologische Methode‹ <?page no="281"?> 16 Reinecke (1902, 227) schrieb: »Zudem ist eine Typologie, die beim Fehlen aller chro‐ nologischen Ansätze eine Chronologie construiren soll, ein verfehltes Unternehmen; typologische Betrachtungen und Schlussfolgerungen können und müssen sich erst einer gegebenen Chronologie anschliessen«. 17 Gräslund 1987, 70 ff., 86 ff. 18 Ebd. 71; ders. 1986, 12 f. Kritik Müllers, warnte Otto Tischler (1843-1891) vor einer mechanischen Beurteilung der Entwicklung materieller Formen: Man habe versucht, »eine Entwicklung der Formen auseinander, nach Art der Descendenztheorie, festzustellen, um so zu ergründen, welche Formen älter und welche jünger wären«, er aber werde einige Fälle anführen, »wo die einfacheren Formen grade die jüngeren sind«. Der Typologischen Methode sei »eine gewisse Gefahr« zu eigen, und sie ließe »der Willkür und den Conjecturen doch manchen Spielraum« (Tischler 1881, 48). Weit radikaler äußerte sich Paul Reinecke gut 20 Jahre später: »Beim gänzlichen Fehlen einer Chronologie«, so schrieb er, »beweisen typologische Ansichten garnichts«; seine Gesamt‐ bewertung der Typologischen Methode fiel entsprechend vernichtend aus. 16 Gräslund hat im Einzelnen gezeigt, dass Montelius’ Darlegungen über seine Vorgehensweise bei der Erarbeitung von relativen Chronologien mit Vorsicht zu betrachten sind. 17 Gerade die Tidsbestämning von Montelius (1885) basierte eben nicht, wie ihr Verfasser zu suggerieren suchte, auf der Typologie, sondern auf der systematischen Auswertung von 216 Geschlos‐ senen Funden. 18 Natürlich bleibt für uns heute die Frage, warum ein so bedeutender Archäologe wie Montelius die Notwendigkeit verspürt hat, seine frühe herausragende Leistung der relativ-chronologischen Ordnung der Nordischen Bronzezeit im Nachhinein mit einer theoretischen Unter‐ mauerung zu versehen, deren zentrales Element - die Typologische Methode - tatsächlich eine bestenfalls marginale Rolle gespielt hat. Warum hat es ihm nicht genügt, darzulegen, wie sich mit dem von ihm erstmals prägnant formulierten Konzept des Geschlossenen Fundes die relative Altersordnung einer ganzen Epoche erreichen lässt? Die Antwort auf diese und ähnliche Fragen muss leider spekulativ bleiben. Soweit bekannt, hat Montelius dazu niemals Stellung genommen. Die Vermutung liegt nahe, dass ihm das in seiner Chronologiearbeit von 1885 angewandte Verfahren der Auswertung Geschlossener Funde für ein sich gerade erst herausbildendes akademisches Fach nicht ›wissenschaftlich‹ genug erschien, um es generell zur archäologischen Methode für die Erarbeitung relativer Chronologien zu erklären. Ich nehme an, dass er 9.2 Grundprinzipien der ›Typologischen Methode‹ 281 <?page no="282"?> 19 In dem hier skizzierten Sinne ist die Typologische Methode auch immer interpretiert worden. So schreibt beispielsweise Jacob-Friesen (1928, 170): »In der Geschichte der Urgeschichtsforschung spielt sie insofern eine große Rolle, als sie diese aus der Reihe der bloßen Wissensgebiete heraushob. Als erste wirklich durchgebildete Methode erkämpfte sie der Urgeschichte die Anerkennung als Wissenschaft.« 20 Tylor 1871/ I, 63 ff. es für opportun hielt, dem Vorbild der so erfolgreichen Naturwissenschaf‐ ten nachzueifern, zu deren zentralen Elementen Konzepte gehörten, die wir mit Begriffen wie ›Entwicklung‹, ›Zweckrationalität‹, ›Funktion‹ und ›Anpassung‹ umschreiben können. Vielleicht hegte er die Hoffnung, der sich langsam entstehenden Ur- und Frühgeschichtsforschung mit einer naturwissenschaftlich inspirierten Methode einen unanfechtbaren Platz im Kanon der akademischen Disziplinen sichern zu können. Die Evolutions‐ theorie erfreute sich ja nicht nur in der Biologie, sondern auch in den Sozial- und Kulturwissenschaften jener Zeit sehr großer Anerkennung. 19 9.3 Typologie ohne Evolutionismus Auch als der unilineare Evolutionismus, der der Typologie zugrunde lag, als umfassendes Erklärungsprinzip in den Kulturwissenschaften längst jedes Terrain verloren hatte, gab es immer noch einzelne Aspekte, die weiterhin von erheblicher heuristischer Bedeutung für die Chronologisierung zu sein schienen. Dazu gehörte vor allem das Konzept des Typologischen Rudiments. Dieses Konzept stellte gewissermaßen die letzte Bastion des Evolutionismus dar. Mit ihrem Fall ist allerdings nicht das Rudiment als solches ad absurdum geführt worden; es gibt vielmehr keinerlei Zweifel, dass an materiellen Kulturgütern immer wieder bestimmte Ausprägungen zu beobachten sind, die ohne Weiteres ›Überlebsel‹ im Sinne solcher ›Rudi‐ mente‹ sein könnten. Das Problem liegt also nicht darin, dass es im Bereich der kulturellen Manifestationen keine Rudimente geben würde, sondern dass ihre Entstehung, eben ihr spezifischer Charakter als survivals - ein Begriff, den Edward Burnett (»E. B.«) Tylor (1832-1917) in die ethnologische Kulturtheorie eingeführt hat 20 -, nicht selbstverständlich ist. Montelius und die Evolutionisten des ausgehenden 19. Jahrhunderts interpretierten solche ›funktionslos‹ gewordenen »rudimentären Bildungen« als materielle Zeugnisse eines früheren Entwicklungsstandes. Das gleiche Phänomen lässt sich aber nicht nur diachron als Entwicklung, sondern genauso gut mehr 282 9 Materielle Variabilität und relative Chronologie: Die ›Typologische Methode‹ <?page no="283"?> oder weniger synchron, und zwar als Ergebnis von Kulturkontakt deuten. In diesem Sinne sind ›Survivals‹ insbesondere von der diffusionistischen Richtung der ethnologischen Theoretiker gewertet worden. Abb. 44: Zwei Typologische Reihen urnenfelderzeitlicher Beile. - Entwurf Verf. nach Sang‐ meister 1967, 210 Abb. 3 und Kibbert 1984. Ohne auf diese grundsätzliche Problematik der Evolutionismusdebatte Be‐ zug zu nehmen, hat Sangmeister (1967, 210 f.) das Rudimentkonzept von Montelius aus ›diffusionistischer‹ Sicht in Frage gestellt. Dabei ging er von einer hypothetischen Typenreihe aus, die von bronzenen Lappenbeilen über Tüllenbeile mit ornamental dargestellten Schaftlappen zu Tüllenbeilen ohne Lappenornament führt (Abb. 44). Anstelle einer klassisch-evolutionistischen Interpretation weist Sangmeister auf die Möglichkeit einer alternativen Deutung hin. Er unterstellt, dass zwei zur gleichen Zeit existierende Gesellschaften, die nicht miteinander in Verbindung stehen, Bronzebeile herstellen, und zwar jeweils ausschließlich Lappenbzw. Tüllenbeile. Diese beiden Gruppen traten dann irgendwann miteinander in Kontakt. Unter 9.3 Typologie ohne Evolutionismus 283 <?page no="284"?> 21 Es soll allerdings nicht unterschlagen werden, dass in den von Sangmeister aufgezeigten alternativen Interpretationsmöglichkeiten das Lappenbeil wie in der traditionellen Typologischen Reihe ›entwicklungsgeschichtlich‹ vor dem Tüllenbeil mit lappenartiger Verzierung rangiert. Seine Alternative kehrt jedoch die traditionelle Auffassung der typologischen Abfolge insofern um, als sie auch deren mutmaßliches Endglied, das einfache Tüllenbeil, ›entwicklungsgeschichtlich‹ vor das Tüllenbeil mit lappenartiger Verzierung platziert. Somit zeigt sich auch hier die grundsätzliche Schwierigkeit, die Montelius’schen »rudimentären Bildungen« zur Erstellung einer relativ-chronologi‐ schen Abfolge nutzen zu wollen. diesen beiden Voraussetzungen könnten sich für die Bronzebeilherstellung zwei mögliche Entwicklungen ergeben: (1) Die Lappenbeilproduzenten übernehmen die Tüllentechnik, verzieren die Tüllen aber mit Schaftlappe‐ nornamenten; (2) die Tüllenbeilproduzenten sind von den Lappenbeilen beeindruckt, übernehmen diesen Beiltyp aber nicht, sondern beschränken sich darauf, an den von ihnen auch weiterhin produzierten Tüllenbeilen Schaftlappen ornamental nachzuahmen. Die ›anti-evolutionistische‹ Alternative Sangmeisters geht also von der Gleichzeitigkeit von Lappen- und Tüllenbeilen aus, zieht aber eine unter‐ schiedliche relativ-chronologische Interpretation nach sich: (a) Im ersten Fall hätte die Produktion des Lappenbeils zu einem bestimmten Zeitpunkt aufgehört, da es durch das Tüllenbeil mit Schaftlappenzier ersetzt wor‐ den wäre. Folglich wäre ein Teil der einfachen Tüllenbeile älter als die Tüllenbeile mit Lappenzier, die übrigen würden jedoch parallel zu den Lappenzierbeilen hergestellt werden; (b) im zweiten Fall würden hingegen die einfachen Tüllenbeile zu einem bestimmten Zeitpunkt aussetzen; ein Teil der Lappenbeile wäre demnach älter als die Tüllenbeile mit Lappenzier, die übrigen wären jedoch zeitgleich mit den Lappenzierbeilen. Natürlich könnte man dieses einfache relativ-chronologische Modell durch zusätzliche Annahmen komplizieren und damit wohl auch etwas realitätsgerechter machen. Man brauchte beispielsweise nur anzunehmen, dass im ersten Fall neben den neu aufkommenden Tüllenbeilen mit Lappenzier auch weiterhin einfache Lappenbeile hergestellt würden. Im zweiten Fall würde das Gleiche für die einfachen Tüllenbeile gelten. Die Konsequenz aus Sangmeisters Rudimentkritik ist eindeutig: Es gibt kein Kriterium, mit dem klar entschieden werden könnte, welche formalen und ornamentalen Details eines Objekts relativ-chronologisch interpretier‐ bare Rudimente darstellen und welche nicht. 21 In Sangmeisters (1967, 210) Worten: 284 9 Materielle Variabilität und relative Chronologie: Die ›Typologische Methode‹ <?page no="285"?> 22 Zu den genannten Beilen konsultiere man beispielsweise die Arbeit von Kibbert (1984). Horte, die alle drei Typen vereinen, finden sich dort auf Taf. 90 D (Hillesheim), 93 D (Konz) u. 96 (Wallerfangen I). 23 Unnötig zu betonen, dass es sich hier in keinem einzigen Fall um wirkliche Sporen handelt. 24 Der Katalog vermerkt: »mit abnehmbarer Garnitur« bzw. »Riemchen-« oder »Schnal‐ lengarnitur«. »Auch das Argument des ›Rudimentes‹ ist also nicht in sich stichhaltig, da man - ungleich der Biologie - erst beweisen muß, daß ein ›Rudiment‹ im entwicklungsgeschichtlichen Sinne vorliegt.« Sangmeisters Beispiel ist zwar von ihm zum Zwecke einer eingängigen Demonstration konstruiert worden, kommt aber der Realität sehr nahe. Eine nähere Betrachtung zeigt nämlich, dass es kaum möglich ist, oberständige Lappenbeile, Tüllenbeile mit Lappenzier und einfache Tüllenbeile zeitlich zu unterscheiden. Alle drei Typen treten in der Späten Urnenfelderzeit auf, und es gibt eine Reihe von Geschlossenen Horten, in denen sie vergesellschaftet sind. 22 Auch für die Fragwürdigkeit der Aussagekraft des Typologischen Rudi‐ ments ließen sich zahlreiche Beispiele aus gut dokumentierten Zusammen‐ hängen beibringen. Hier sei lediglich ein einziger Fall angeführt. Dabei han‐ delt es sich um die Spiegelung der Damenstiefelmode des Winters 1978/ 79 im Katalog des damaligen Versandhauses Neckermann (»Stiefel-Look 78/ 79«). Als ›Typologisches Rudiment‹ sehe ich in diesem Fall eine sich scheinbar nach und nach vollziehende Reduzierung der Form von ›Sporen‹ an. Die auf dieser Basis konstruierte Typologische Reihe besteht aus sieben Positionen (Abb. 45). Sie beginnt mit einem ›echten‹ Reitstiefel mit ›Sporen‹ und führt über deren zunehmende Reduzierung zu einer Stiefelette, die oberhalb der Hackenregion mit einem angenähten Messingbügel versehen ist. Im Zuge ihrer fortschreitenden ›Degeneration‹ werden die ›Sporen‹, 23 die bei den Stiefeln Nr. 2-4 noch abnehmbar sind, 24 zu reinen Bügeln bzw. schmuckkettenartigen Gebilden umgestaltet. 9.3 Typologie ohne Evolutionismus 285 <?page no="286"?> Abb. 45: Typologische Reihe von Damenstiefeln. - Entwurf Verf. nach Katalog Versandhaus Neckermann, Winter 1978/ 79. Nach dem Prinzip des Typologischen Rudiments - hier dem sukzessiven Funktionswandel von ›Sporen‹ - würde man die einzelnen Positionen dieser Stiefelserie als zeitliche Abfolge zu interpretieren haben. Tatsächlich sind sämtliche durch die einzelnen ›Typen‹ vertretenen Stiefel jedoch weitge‐ hend gleichzeitig hergestellt und getragen worden. Auch an diesem Beispiel erweist sich daher Sangmeisters Feststellung als richtig, das sogenannte ›Rudiment‹ könne aus sich heraus keinerlei Beweiskraft beanspruchen. Dabei ist klar, dass dieser Fall insofern ein extremes Beispiel darstellt, als er den spezifischen Bedingungen der modernen Warenproduktion und Warenvermarktung unterworfen ist. Dennoch gilt die damit aufgezeigte Möglichkeit auch für weniger komplexe Kulturzusammenhänge. Diesem modernen Beispiel kommt daher allemal ein methodologischer Wert zu. 286 9 Materielle Variabilität und relative Chronologie: Die ›Typologische Methode‹ <?page no="287"?> Es bleibt bei Sangmeisters Feststellung: Nur wenn man die konkrete his‐ torische Entwicklung von materiellen Produkten kennt, ist man in der Lage, potenzielle ›Typologische Rudimente‹ als reale entwicklungsgeschichtliche Rudimente zu würdigen und damit als relativ-zeitlich relevante Phänomene zu werten. Das entscheidende Problem der von Montelius propagierten Typologi‐ schen Methode besteht also in ihrer schon früh als fragwürdig erkannten evolutionistischen Grundlage. Nur wenn man einem mechanistischen Ent‐ wicklungsdenken anhängt, kann man im Sinne von Montelius materielle Produkte in »typologische Serien« ordnen und deren hypothetische Abfolge als historisch reale Zeitfolge interpretieren. Ein derartiges Verfahren wider‐ spricht den konkreten Bedingungen der Produktion materieller Güter, die - wie seither insbesondere die Ethnologie gezeigt hat - in hohem Maße von Faktoren wie der Kommunikation zwischen verschiedenen Bevölkerungen geprägt sind. Somit spielen elementare soziale Gegebenheiten wie Beein‐ flussung, bewusste und unbewusste Nachahmung, Angleichung, gezielte Entlehnung und lokale Umwandlung eine bedeutende Rolle. Generell voll‐ zieht sich die Herstellung materieller Formen zwar in enger Bindung an einen durch Tradition sanktionierten Kanon, aber eben auch - und dennoch - zwischen den extremen Polen der Erfindung neuer Formen und dem Rückgriff auf längst aus der Mode Gekommenes. Wird die klassische Typologische Methode heute auch allgemein abge‐ lehnt, so bedeutet dies nicht, dass man damit den »Vergleich von Gegenstän‐ den und Befunden gleichen Zwecks und gleichen Materials« im Sinne von Sangmeister (1967, 211) ablehnt. Ganz im Gegenteil: Dieser Vergleich und die mit ihm verbundene Analyse der materiellen Formen - die Typographie oder Typfindung Sangmeisters - bilden die Basis der Ur- und Frühgeschichtlichen Archäologie. Die Typologie wurde als Methode nicht etwa aufgegeben, weil man heute der Meinung ist, die Veränderung materieller Kulturgüter erfolge grundsätzlich sprunghaft. Es besteht vielmehr nicht der geringste Zweifel, dass sie häufig langsam und in sehr kleinen Schritten - oft auch im Sinne einer stetigen ›Entwicklung‹ - vonstatten geht. Als Methode ist die Typologie einzig und allein deswegen gescheitert, weil der unilineare oder einlinige Evolutionismus kein umfassendes erklärendes Prinzip darstellt: Die Veränderung materieller Formen vollzieht sich eben nicht im Sinne eines gerichteten Wandels. 9.3 Typologie ohne Evolutionismus 287 <?page no="288"?> 25 Hempel 1965, 6. Der besondere Charakter konkreter Ausprägungen des Materiellen kann nicht mehr als Ergebnis eines allgemein gültigen Entwicklungsprinzips vor‐ ausgesetzt, sondern muss erarbeitet werden. Dabei können ›typologische‹ Erwägungen als Hypothesen eine wesentliche Rolle spielen. Diese Hypothe‐ sen stellen primär lediglich Spekulationen über entwicklungsgeschichtliche Zusammenhänge von formalen oder ornamentalen Details dar. Der reale Wert solcher entwicklungsgeschichtlichen Hypothesen erweist sich erst im Zuge ihrer kontinuierlichen Überprüfung anhand des jeweils zur Verfügung stehenden archäologischen Materials. Das sind vor allem Geschlossene Funde oder komplexe Objekte, die mehrere für eine vorgegebene Frage‐ stellung relevante Merkmale in sich vereinen. Die Typologische Methode von Montelius ist somit auf ein heuristisches Prinzip reduziert worden. Wie immer bei heuristischen Prinzipien, bewegen wir uns im Kontext der Entdeckung von Problemlösungen. Der Wert derartiger Hypothesen zeigt sich jedoch erst im Kontext der Bestätigung. In diesem Zusammenhang sei an eine Bemerkung des deutsch-amerikanischen Philosophen Carl G. Hempel (1905-1997) erinnert, nach der die Art und Weise, wie man zu einer Hypothese kommt, nichts mit ihrer Richtigkeit zu tun hat. 25 Sie könne sogar auf einen Traum oder eine Halluzination zurückgehen, entscheidend sei allein, wie sie sich in der Überprüfung, in der Konfrontation mit relevanten empirischen Fakten bewähre. Wenn man die heutige Praxis der Erarbeitung relativer Altersordnungen materieller Formen mit der klassischen Darstellung von Montelius aus dem Jahre 1903 vergleicht, wird die methodologische Distanz, die uns von jener Zeit trennt, deutlich. In der kanonischen Fassung seiner relativ-chronologi‐ schen Methode hat Montelius die Fundvergesellschaftung zu einem Hilfskri‐ terium der Typologie reduziert. Für uns hingegen ist die ›Typologie‹ - oder richtiger sind ›typologische‹ Hypothesen - bestenfalls ein Hilfskriterium relativer Altersordnung, und zwar vor allem dann, wenn nur wenige oder qualitativ mindere Fundkombinationen zur Verfügung stehen. Typologische Hypothesen sind Produkte der schöpferischen Imagination - sollen sie als tragfähige Elemente relativer Chronologie dienen, bedürfen sie der Bestätigung. Mangelt es dafür an Geschlossenen Funden und fehlen andere aussagefähige Befunde und Indizien, dann verharren diese Hypothesen auf dem Niveau von bloßen Möglichkeiten. 288 9 Materielle Variabilität und relative Chronologie: Die ›Typologische Methode‹ <?page no="289"?> 1 Petrie (1899, 295 f.) umschrieb sein Ziel mit folgenden Worten: »Such sequence dates would have varying relation to a scale of years in different parts of the scale, but would be, at least, a reasonable system of denoting the past, which would give that power of exact expression in commonly understood terms, which is the necessary basis of any scientific treatment.« 2 Petrie wird häufig auch unter diesem Namen geführt. 3 Kaiser (1956, 91 ff.; ders. 1956/ 57, 69) verwendete dafür den ebenfalls treffenden Begriff »Staffeldaten«. 10 Zeit und das Prinzip der Assoziation: Kombinationsstatistik und andere Seriationsverfahren 10.1 Zur Geschichte und Bedeutung archäologischer Seriation Der britische Ägyptologe und Archäologe William Matthew Flinders (»W. M. F.«) Petrie (1853-1942) versuchte um die Wende vom 19. zum 20. Jahr‐ hundert anhand von ägyptischem Gräbermaterial ein System relativer Altersordnung zu entwickeln. Es beruhte auf dem Prinzip der Veränderung archäologischer Objekte und der Vergesellschaftung solcher Objekte in entsprechenden Gräbern. Ihm schwebten Entwicklungsreihen unterschied‐ licher Formen von Keramik vor, eine Art keramischer Genealogie, die auf der Basis der Assoziation von Gefäßen in Grabfunden zu einem System so‐ genannter sequence dates führen würde. 1 Die jeweiligen »Sequenzen« wären dabei durch für sie typische Gefäße vertreten. Flinders Petrie 2 arbeitete für das prädynastische Ägypten ein System keramischer »Sequenzdaten« 3 aus, das dann den Rahmen für die Einordnung neuer Grabfunde bildete. Darüber hinaus stellte er auf der Grundlage der Kombination relevanter keramischer Formen mit bestimmten anderen Objektgruppen (z. B. Geräte aus Schiefer, Flint und Kupfer) auch für dieses nicht-keramische Sachgut Sequenzen auf und integrierte es damit in sein keramisches System. Petries chronologisches Grundgerüst beruhte auf rund 900 Grabinventa‐ ren, die aus einem Korpus von über 4000 Gräbern aufgrund der in ihnen auftretenden keramischen Typen ausgewählt worden waren. Dabei wurden die zwischen 1894 und 1899 ausgegrabenen Nekropolen von Naqada, Ballas, Abadiyeh und Hu berücksichtigt (Petrie 1899, 297 ff.). Anhand von fünf <?page no="290"?> 4 Die fünf von Petrie (1899, 297 ff.) genannten Kriterien lauten wie folgt: (1) Beachtung der Stratifizierung von Gräbern (selten vorkommend); (2) Herausarbeitung von Serien keramischer Formen aufgrund ihrer Entwicklung bzw. Rückbildung; (3) Herausarbei‐ tung umfangreicher, relativ grober Gruppen von Gräbern anhand der Ähnlichkeit der in ihnen enthaltenen Keramikgefäße und ihrer jeweiligen Häufigkeit; (4) Herausarbeitung differenzierter Typen; dadurch und durch stilistische Erwägungen Verfeinerung dieser Gruppen; (5) Ordnen der Grabinventare mit dem Ziel, die ›Laufzeit‹ eines jeden keramischen Typs möglichst kurz zu halten. - Hierbei fällt auf, dass das Prinzip der Geschlossenheit von Grabfunden, soweit ich sehe, von Petrie nirgendwo explizit angesprochen wurde. 5 Nach Herausarbeitung der für die Auswertung maßgebenden Gefäßtypen legte Petrie für jedes der 900 Gräber einen Pappstreifen an, auf dem die in dem jeweiligen Grab auftretenden Typen vermerkt wurden. Die Erstellung der Gräbersequenz erfolgte anhand dieser Pappstreifen (Petrie 1899, 297). 6 Siehe zum Verfahren auch Petrie 1901, 4 ff. Kriterien suchte Petrie zunächst einmal die zeitliche Abfolge dieser 900 Gräber möglichst genau zu rekonstruieren. 4 Die so erstellte Gräbersequenz 5 wurde dann in 50 Gruppen zu je 18 Gräbern und von der mutmaßlich ältesten zur jüngsten Gruppe durchnummeriert. 6 Da Petrie nicht ausschloss, dass später Gräber gefunden werden könnten, die älter als seine älteste Gruppe sein würden, ließ er seine Nummerierung mit der Ziffer 30 beginnen und reservierte die Ziffern 1 bis 29 für etwaige zukünftige Entdeckungen. Die für die 50 Gräbergruppen vergebenen Ziffern zwischen 30 und 80 bilden die sogenannten »Sequenzdaten«. Die keramischen Formen, die das Grundgerüst dieser Sequenzdaten und damit die Essenz des gesamten Systems bilden, hat Petrie in sieben »Stadien« (stages) zusammengefasst (Abb. 46). Dabei beschränkte er sich aber nicht nur auf die für jedes Stadium typischen Formen, sondern berücksichtigte auch jene, die noch in dem jeweils folgenden Stadium üblich waren; dies brachte er durch Verbindungslinien zum Ausdruck. Er hob hervor, dass es nicht möglich sei, die Position einzelner Stadien in dieser Sequenz umzukehren, ohne diese Verbindungen auseinanderzureißen. Für die Erstellung dieser Sequenz spielte schließlich die Gruppe der Gefäße mit Wellenhenkel eine besondere Rolle (Abb. 46: links außen, ab Stadium 3). Die »Degradation« dieser Henkel (Abb. 47) lieferte ihm nach eigenen Worten den besten Hinweis für die innere Abfolge der gesamten Sequenz (Petrie 1899, 300). Die so erarbeitete relativ-zeitliche Anordnung seiner Stadien basierte also 290 10 Zeit und das Prinzip der Assoziation <?page no="291"?> 7 Die zentrale Stellung der Gefäße mit Wellenhenkeln in Petries Chronologiesystem ist nachdrücklich von Kaiser (1956, 91 ff.) betont worden. nicht zuletzt auf dem Prinzip des Typologischen Rudiments im Sinne von Montelius. 7 204 Zeit und das Prinzip der Assoziation: Kombinationsstatistik und andere Seriationsverfahren Eggert_s001-470_4Aufl_End.indd 204 Eggert_s001-470_4Aufl_End.indd 204 31.01.2012 9: 58: 00 Uhr 31.01.2012 9: 58: 00 Uhr Abb. 46: Sequenzdaten-System des prädynastischen Ägyptens. - Nach Petrie 1899, Taf. 31, 1. 10.1 Zur Geschichte und Bedeutung archäologischer Seriation 291 <?page no="292"?> 8 Kendall 1963; 1970. 9 Kaiser 1956, 91 ff. 10 Kemp veröffentlichte 1982 eine relativ-chronologische Analyse zweier im Wesentli‐ chen prädynastischen Nekropolen, bei der er sich eines von Kendall entwickelten Computerprogrammes bediente. Dabei kam er zu dem Ergebnis, dass »der Grad der Harmonie« zwischen seiner Chronologie und dem System Petries angesichts der gegen dieses System vorgebrachten Einwände und des vorläufigen Charakters seiner eigenen Untersuchung »ermutigend« sei (ebd. 10). Abb. 47: Typologische Reihe von Gefäßen mit Wellenhenkel. - Nach Petrie 1901, Taf. 2. Es ist allgemein anerkannt, dass die von Petrie entwickelte Methode seiner‐ zeit außerordentlich innovativ war. Ihre expliziten und impliziten metho‐ dischen Voraussetzungen hat der englische Statistiker David G. Kendall (1918-2007) im Einzelnen erörtert. 8 Leider ist die von Petrie angelegte Originaldokumentation - die 900 Pappstreifen, die die Grabinventare reprä‐ sentierten - nicht mehr erhalten, so dass es Kendall (1963, 661 f.) nicht möglich war, Petries Chronologiesystem mit dem in den 1960er Jahren üblichen Lochkartenverfahren zu überprüfen. Aus der Betrachtung der seinem System zugrunde liegenden fünf Kriterien wird deutlich, dass sie der subjektiven, evolutionistisch inspirierten Wertung viel Raum ließen. Dies zeigt sich besonders klar an den Gefäßen mit Wellenhenkeln, mit deren Stellung im System Petries - wie bereits oben angemerkt - sich der deutsche Ägyptologe Werner Kaiser (1926-2013) sehr kritisch auseinandergesetzt hat. 9 Seine umfassenden Untersuchungen zur inneren Chronologie des prädynastischen Ägyptens (ders. 1956/ 57) stellten sowohl methodisch als auch inhaltlich erstmals eine Alternative zu Petries Chronologiesystem dar. Insofern überrascht es, dass der englische Ägyptologe Barry J. Kemp (1982) rund 25 Jahre später zu einer positiveren Bewertung von Petries System kam. 10 Hier geht es jedoch lediglich darum, dass Petries ideenreiche Methode am Anfang eines Spektrums von Verfahrensweisen in der Archäologie steht, 292 10 Zeit und das Prinzip der Assoziation <?page no="293"?> 11 Zu den verschiedenen Verfahren knapp Eggert/ Kurz/ Wotzka 1980, 111 Anm. 4 (mit Lit.); aus mathematischer Sicht Doran/ Hodson 1975, 267 ff.; Ihm 1978, 18 ff.; zur Graphisch-Quantitativen und zur Brainerd-Robinson-Seriation siehe auch Lyman/ O’B‐ rien/ Dunnell 1997, 121 ff. 12 Zürn 1942. - Nils Müller-Scheeßel verdanke ich den Hinweis, dass vor Zürn bereits Buttler (1935, 196 Abb. 5) eine solche Tabelle - allerdings bezogen auf das Neolithikum - veröffentlicht hat (elektr. Mitt. vom 10.05.2002). die bis heute das gemeinsame Auftreten von Objekten oder Merkmalen für die Erarbeitung von mehr oder weniger elaborierten Systemen relativer Chronologie nutzen. Es handelt sich dabei um kombinatorische Verfah‐ ren, die zusammenfassend als Seriationsverfahren oder Seriationsmethoden bezeichnet werden. Unter dem aus der englischsprachigen Archäologie übernommenen Begriff ›Seriation‹ werden sowohl qualitativ als auch quan‐ titativ ausgerichtete Verfahren zusammengefasst, die auf dem Prinzip der Assoziation oder ›Vergesellschaftung‹ beruhen: (1) die Graphisch-Qualitative, das heißt die nicht-quantitative Seriation (Occur‐ rence Seriation), (2) die Graphisch-Quantitative Seriation (Frequency Seriation), (3) die aus einer qualitativen und einer quantitativen Variante bestehende Typenbzw. Merkmalskorrelations-Seriation (Brainerd-Robinson Seriation) sowie (4) die sogenannte Kombinationsstatistik. 11 Während im englischsprachigen Raum beinah ausschließlich die ersten drei Seriationsverfahren erörtert und angewendet wurden, konzentrierte sich die deutschsprachige Archäologie bis in die frühen 1980er Jahre vor allem auf die Kombinationsstatistik. Angesichts der Rolle, die dieses Verfahren hierzulande bei der Gewinnung relativer Chronologie spielte und durch die strukturell ähnliche Korrespondenzanalyse immer noch spielt, sollen die ihr zugrunde liegenden Prinzipien kurz erläutert werden. Selbst wenn man sich über den methodischen Stellenwert der Kombina‐ tionsstatistik nicht im Klaren ist, wird bei der Betrachtung entsprechender Diagramme klar, dass es sich dabei zumindest um ein äußerst effektives Mittel der graphischen Darstellung häufig komplexer Typenvergesellschaf‐ tungen handelt. In metallzeitlichem Zusammenhang hat erstmals Hartwig Zürn (1916-2001) in einem knappen Aufsatz über die relative Chronologie der Späten Hallstattzeit eine derartige Darstellung gewählt. 12 Er benutzte sie, um damit die Unterteilung der Stufe Ha D in zwei Phasen zu demonstrieren (Abb. 48). Seit den frühen fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde die Kombinationsstatistik vor allem bei der relativ-chronologischen Unterglie‐ 10.1 Zur Geschichte und Bedeutung archäologischer Seriation 293 <?page no="294"?> derung der Metallzeiten angewandt. Hier sei nur auf die einschlägigen, 1960 in einer großen Synthese zusammengefassten Arbeiten von Rolf Hachmann zur Vorrömischen Eisenzeit im nördlichen Mitteleuropa und von Hermann Müller-Karpe (1957; ders. 1959) zur Urnenfelderzeit nördlich und südlich der Alpen verwiesen. Abb. 48: Kombinationstabelle zur Untergliederung der Stufe Ha D. - Nach Zürn 1942, 117 Tab. In Anbetracht der Tatsache, dass die Kombinationsstatistik seit Mitte der 1950er Jahre als Standardverfahren für die Erarbeitung relativer Chronolo‐ gien gelten konnte, ist es überraschend, dass eine Erörterung des methodolo‐ gischen Status solcher Auswertungstechniken miteinander korrelierter Phä‐ nomene erst erheblich später einsetzte. Im deutschen Sprachraum kommt Klaus Goldmann (1936-2019) die Pionierrolle auf diesem Feld zu. Goldmann hat 1970 an der Universität zu Köln mit einer Arbeit zur chronologischen Gruppierung der Älteren Bronzezeit promoviert und sich in diesem Rahmen intensiv mit der Seriation archäologischer Phänomene befasst. Aus der Auseinandersetzung mit Goldmann ging unter anderem eine experimentell ausgerichtete Arbeit hervor, in der die Aussagekraft des von ihm zugrunde 294 10 Zeit und das Prinzip der Assoziation <?page no="295"?> 13 Zu Goldmann ferner Ziegert 1983. Zusammenfassend zu Seriationsverfahren Eggert/ Sa‐ mida 2022, 74 ff.; Müller-Scheeßel 2014; Theune 1995. 14 In diesem Sinne definierte Rouse (1967, 157) ›Seriation‹ wie folgt: »It is the procedure of working out a chronology by arranging local remains of the same cultural tradition in the order which produces the most consistent patterning of their cultural traits« - bei ihm ist zum Aspekt der kulturellen Tradition noch jener der geographischen Eingrenzung hinzugetreten. 15 Ziegert 1983, 45 ff. gelegten Seriationsverfahrens der Kombinationsstatistik untersucht wurde (Eggert/ Kurz/ Wotzka 1980). 13 10.2 Voraussetzungen und Grundstruktur der Kombinationsstatistik Das Auftreten von Typen bzw. Typvertretern in Geschlossenen Funden darf nicht von vornherein zeitlich gedeutet werden. Es ist zum Beispiel ohne Weiteres denkbar, dass selbst unterschiedlich ausgestattete Inventare im archäologischen Sinne gleichzeitig sind. Ihr uneinheitlicher Typenbestand muss nicht auf einer im Laufe der Zeit erfolgten Veränderung materieller Formen oder einem veränderten ›Deponierungsverhalten‹ beruhen. Es ist ebenso gut möglich, dass die Unterschiedlichkeit von Inventaren durch bestimmte, soziokulturell gesteuerte Auswahlkriterien in ein und derselben, archäologisch nicht weiter unterteilbaren Zeitspanne - also gewissermaßen gleichzeitig - zustande gekommen ist. Der chronologischen Interpretation einer Kombinationsmatrix hat daher grundsätzlich eine rigorose Quellen‐ kritik vorauszugehen. Sie soll sicherstellen, dass das Zustandekommen der ausgewerteten Fundkomplexe nicht auf Faktoren beruht, die etwa religiöser, geschlechtsspezifischer oder wirtschaftlicher Art sind. Erst wenn dieser wichtige Schritt getan ist, darf die Matrix chronologisch interpretiert werden. Bei diesen quellenkritischen Erwägungen ist die Forderung üblich, dass die für die kombinationsstatistische Auswertung zur Verfügung stehenden Typen - und damit die entsprechenden Inventare - einer einzigen kultu‐ rellen Tradition angehören sollten. 14 In der deutschen Archäologie fordert man dabei zumeist, das auszuwertende Material solle zu einem einzigen »Formenkreis« gehören. 15 Man will damit vermeiden, aus verschiedenen Traditionen resultierende zeitgleiche Objekte fälschlich im Sinne einer zeit‐ 10.2 Voraussetzungen und Grundstruktur der Kombinationsstatistik 295 <?page no="296"?> 16 Stöllner (1999b, 197 mit Anm. 6) verbindet die hier interessierende Forderung nach kulturspezifischen Chronologien mit v. Merhart. Wenn ich richtig sehe, hat sich das Konzept der ›kulturgruppenspezifischen‹ Chronologie erst mit den Arbeiten Hach‐ manns seit den frühen 1950er Jahren durchgesetzt. 17 Siehe hierzu auch Stöllner 1999b, 198 mit Anm. 8. 18 Clarke (1968, 460) stellte hierzu pragmatisch fest: »Nevertheless, this multilinear tradition can be viewed as generating a single developing system at a certain level of generalization. The individually differing site and community time-trajectories can be represented as part of a broad, general trending development within a subculture or culture.« 19 Es ist üblich, die in einer Kombinationstabelle berücksichtigten Geschlossenen Funde als ›Leitfunde‹ zu bezeichnen. Von ›Leittypen‹ hingegen spricht man erst dann, wenn durchlaufende und damit zeitlich ›unempfindliche‹ Typen nach Abschluss der kom‐ lichen Abfolge zu interpretieren. 16 Wie Clarke (1968, 462 f.) zu Recht bemerkt hat, setzt das Postulat einliniger kultureller Kontinuität letztlich voraus, dass sich die Analyse auf individuelle Fundplätze konzentriert, an denen jeweils nur eine einzige Gruppe kontinuierlich gesiedelt hat. 17 Man müsste eigentlich noch weiter gehen und mit der Fiktion einer totalen kulturellen Isolation operieren. Es ist daher realistischer, mit Clarke von der Vorstellung auszugehen, die von vornherein mit verschiedenen kulturellen Traditionen und ihrer gegenseitigen Beeinflussung rechnet (ebd. 460 ff.). Das Postulat, nur Inventare auszuwerten, die zu ein und derselben kulturellen Tradition gehören, ist daher so zu erweitern, dass darunter jene materiellen Formen eines bestimmten Raumes fallen, die bei aller Variabilität im Einzelnen doch ein überwiegend einheitliches Gepräge aufweisen. 18 Im Übrigen gilt, dass Gräberfelder am ehesten eine relativ homogene kulturelle Tradition verkörpern. Sie bieten daher die besten Voraussetzungen für die Anwendung der Kombinationsstatistik und anderer Seriationsverfahren. Wir unterstellen hier, das zur Verfügung stehende Material sei quellen‐ kritisch bewertet und für chronologisch relevant befunden worden. Die bereits erstellte oder daraufhin zu erstellende Kombinationstabelle oder Kombinationsmatrix darf nun als hauptsächlich zeitabhängig angesehen werden. Sie wird durch zwei Dimensionen bestimmt (Abb. 49). In der Front‐ spalte (Ordinate) sind die Geschlossenen Funde, in der Kopfzeile (Abszisse) die in diesen Funden auftretenden, für chronologisch relevant erachteten Typen aufgeführt. Aufgrund des Ergebnisses der quellenkritischen Analyse stellen die Vertikale und die Horizontale Zeitachsen dar. Im Idealfall würden diese beiden Achsen eine historisch richtige Anordnung von Geschlossenen Funden bzw. von Typen widerspiegeln. Auf der Leitfund-Ebene 19 entspräche 296 10 Zeit und das Prinzip der Assoziation <?page no="297"?> binationsstatistischen Analyse aus dem für die Matrix verwendeten Typenspektrum eliminiert worden sind. diese Anordnung der korrekten Reihung der Funde nach ihrem individuellen Niederlegungszeitpunkt. Bei den Typen hingegen könnte eine historisch richtige Anordnung unter anderem nach dem Herstellungszeitpunkt der durch sie repräsentierten Objekte erfolgen. Es ist deutlich, dass diese ›historisch richtige‹ Ordnung der Typ- und der Leitfunddimension zwar postuliert, aber nicht ohne Weiteres hergestellt werden kann. Betrachten wir zunächst die Leitfundebene. Der Niederle‐ gungszeitpunkt eines Geschlossenen Funds kann mit archäologischen Mit‐ teln bestenfalls indirekt und in Relation zu einem anderen Fund oder sons‐ tigen archäologischen Phänomen festgestellt werden. Die dabei zugrunde liegende Relation erlaubt lediglich eine Aussage im Sinne von Vorzeitig‐ keit, Nachzeitigkeit oder Gleichzeitigkeit, zum Beispiel: Fundkomplex A ist vor, nach oder gleichzeitig mit Fundkomplex B deponiert worden. Eine Entscheidung zwischen diesen drei Möglichkeiten ist nur auf der Basis der in den Funden auftretenden Typen möglich. Das jüngste Stück in einem Geschlossenen Fund datiert diesen Fund bekanntlich im Sinne eines terminus post quem, mit anderen Worten, das entsprechende Objekt muss verfügbar gewesen sein, bevor der Fund deponiert werden konnte. Daher stellt sich die Frage, wie man feststellen kann, welches der in einem Geschlossenen Fund miteinander kombinierten Objekte das jüngste ist. Der betreffende Fund selbst vermag hierzu nichts beizutragen. Erst die Existenz einer genügend langen relativen Chronologie lässt eine zeitliche Differenzierung der in einem bestimmten Fund miteinander kombinierten Typen zu. Für die kombinationsstatistische Matrix folgt daraus, dass eine ›historisch richtige‹ Anordnung der Leitfunde auf der Ordinatenachse, das heißt eine Anordnung nach den Niederlegungszeitpunkten, mit archäologi‐ schen Mitteln nicht möglich ist. 10.2 Voraussetzungen und Grundstruktur der Kombinationsstatistik 297 <?page no="298"?> Abb. 49: Kombinationstabelle zur Untergliederung der Stufe Ha A im Raum München. - Nach Müller-Karpe 1957, 11 Abb. 2. Die Archäologie versagt auch, wenn es um die historisch richtige An‐ ordnung der Typen auf der Abszisse geht. Sie müsste, wie gesagt, nach dem Produktionszeitpunkt der konkreten, die Typen vertretenden Objekte vorgenommen werden. Aber welchen der dafür in Frage kommenden 298 10 Zeit und das Prinzip der Assoziation <?page no="299"?> 20 Die Besetzungspunkte der endgültig geordneten Matrix vermitteln allerdings - be‐ trachtet man die Spalten - einen angemessenen Eindruck der Überschneidung von Typlaufzeiten. 21 Die idealtypische Anordnung geht von einem entsprechenden Zeitgefälle von links nach rechts sowie von oben nach unten aus. Da die geordnete Matrix auch den entge‐ gengesetzten Trend widerspiegeln könnte, muss durch externe Kriterien sichergestellt sein, wie das System zu lesen ist. Bezugspunkte sollte man nehmen? Den der erstmaligen Produktion eines der betreffenden Typvertreter? Oder vielleicht eher den Zeitpunkt der letztmaligen Herstellung solcher Objekte? Wie immer man sich entschiede, der Zeitpunkt ließe sich weder im ersten noch im zweiten Fall bestimmen. Damit gilt für die Typebene das Gleiche wie für die Leitfundebene: Es ist nicht möglich, die Typen ›historisch richtig‹ anzuordnen. Wir können daher festhalten, dass es bei der Kombinationsstatistik kein archäologisches Prinzip gibt, nach dem die zeitliche Reihung der Phänomene auf der Leitfund- und Typebene erfolgen könnte. Unter dieser Voraussetzung ist zu fragen, wie es denn möglich sein sollte, mit dieser Methode eine relativ-chronologische Abfolge zu erarbeiten. Hier müssen wir uns noch einmal klarmachen, dass eine kombinationsstatistische Matrix ein zweidi‐ mensionales System ist. Beide Dimensionen, sowohl die Leitfundebene als auch die Typebene, stellen Zeitachsen dar. Die zu seriierenden Systemele‐ mente - Leitfunde und Typen - sind aufgrund ihrer soeben erörterten archäologischen Struktur jedoch nicht in ihrer individuellen Zeitposition, sondern nur über ihre gegenseitigen Verknüpfungen fassbar: Typen sind mit anderen Typen in Leitfunden vergesellschaftet, und Leitfunde wiederum werden über Typen mit anderen Leitfunden verknüpft. Aus diesen Überlegungen ergibt sich, dass zwei in der Kopfzeile nebenei‐ nanderstehende Typen nicht im Sinne einer Zeitfolge interpretiert werden dürfen; In der Realität werden sich ihre Laufzeiten in aller Regel überlappen, und damit liegt eine mehr oder weniger lange Gleichzeitigkeit vor. Aufgrund der in einer Matrix fehlenden dritten Dimension kann diese Gleichzeitigkeit - selbst wenn sie bekannt wäre - nicht adäquat dargestellt werden. 20 Die Typen der Kopfzeile repräsentieren also von links nach rechts lediglich einen Trend, der von Alt nach Jung verläuft. 21 Das gilt aber eben nur für die Typen in ihrer Gesamtheit, nicht jedoch für jeden einzelnen Typ in Relation zum nächsten. Mit der Anordnung der Leitfunde in der Frontspalte verhält es sich genauso. Auch bei ihnen ist nicht die individuelle Position, sondern der 10.2 Voraussetzungen und Grundstruktur der Kombinationsstatistik 299 <?page no="300"?> 22 Doran und Hodson (1975, 268 f.) beschreiben die Vorgehensweise so: »To make progress […] criteria for plausible chronological sequences must be adopted. These criteria must express reasonable beliefs about likely and unlikely trends of developments for the seriation units concerned. What, for example, is a plausible process of development for a particular type of bronze sword? Such questions are usually answered either by a detailed and expert assessment of directed stylistic or functional evolution, or by less sophisticated arguments which relate similarity of form and style to proximity in time - the more aspects and characteristics shared by two seriation units, the shorter the time intervall between them is likely to be - or rest on simple assumptions about the dynamics of artifacts types. […] In practice the unaided [i.e., not computer-aided] archaeologist must use a combination of intelligence, insight and systematic search to obtain a plausible ordering reasonably quickly.« 23 Dieses Prinzip ist sehr anschaulich von Zimmermann (1997, 9) formuliert worden: »Das Ziel von ordnenden Verfahren ist, Zeilen (z. B. Grabinventare) und Spalten (z. B. Typen) einer Tabelle so zu sortieren, daß ähnliche Inventare aufeinander folgen und daß Typen, die oft gemeinsam in Gräbern auftreten, benachbarte Spalten bilden.« generelle Trend maßgebend. Er verläuft von oben nach unten im Sinne einer Richtung von Alt nach Jung. Bei der praktischen Durchführung einer kombinationsstatistischen Ana‐ lyse ist die Ausgangsanordnung der Leitfunde auf der Ordinatenachse und der Typen auf der Abszissenachse prinzipiell beliebig, erfolgt aber häufig auf der Basis eines gewissen Vorwissens oder von Hypothesen über die zeitliche Abfolge der Typen bzw. einiger Typen. 22 An eine so zustande gekommene Ausgangsanordnung schließen sich jetzt manuell oder mit Computerprogrammen durchgeführte Umstellungen der Spalten und Zeilen an. Diese sogenannten ›Permutationen‹ zielen darauf ab, die Besetzungs‐ punkte der Matrix, konkret also die Typen und die Funde, möglichst dicht aneinanderzurücken. Das dabei praktizierte Verfahren entspricht dem bei Approximationsverfahren üblichen ›Iterationsprinzip‹, bei dem eine erste Anordnung als Näherungslösung begriffen wird und damit die Grundlage für die nächste Anordnung bildet etc. 23 Mit der Erzeugung einer möglichst dichten Besetzung der Matrix sol‐ len die miteinander kombinierten Typen zusammengerückt werden. Die Matrixordnung verfolgt aber nicht nur das Zusammenrücken der Beset‐ zungspunkte an sich, sondern sie ist außerdem bemüht, diese Punkte um eine fiktive, die Matrix von links oben nach rechts unten durchlaufende Diagonale zu gruppieren. Das Prinzip der Diagonalgruppierung ergibt sich aus der Voraussetzung, dass der links oben gelegene Ausgangspunkt dieser Diagonale die Position ›Alt‹ und der rechts unten gelegene Endpunkt die Position ›Jung‹ verkörpert, die Diagonale somit von ›Alt‹ nach ›Jung‹ 300 10 Zeit und das Prinzip der Assoziation <?page no="301"?> verläuft. Es ist eine empirische Binsenweisheit, dass in Geschlossenen Funden in erster Linie zeitgleiche Typen bzw. deren ›Inkarnationen‹ (also die Typvertreter) miteinander vergesellschaftet sind. Hieraus folgt in einem zweidimensionalen System, dass sich die Besetzungspunkte einer chrono‐ logisch adäquat geordneten Matrix um eine aus diesen beiden Dimensionen resultierende Diagonale gruppieren. Dieser Tatsache trägt also das Prinzip der Matrixordnung Rechnung, mittels systematischer Permutationen eine Diagonalgruppierung der Besetzungspunkte herbeizuführen. Als Maßstab für die Qualität einer Matrixordnung hat Goldmann (1972, 24) das sogenannte »Gütemaß« eingeführt. Es ist als die Summe der Ab‐ stände zwischen den jeweils äußersten Besetzungspunkten der einzelnen Zeilen und Spalten definiert. Prinzipiell gilt, dass der Grad der Zusammen‐ gruppierung der Besetzungspunkte mit der Verringerung der Maßzahl zunimmt. Damit muss jedoch nicht zwangsläufig eine Verbesserung der Diagonalverteilung gekoppelt sein. Das Gesamtgütemaß (GM t ) besteht aus zwei Komponenten, dem Gütemaß der Zeilen (GM h ) und dem der Spalten (GM v ). Solange beide noch nicht ihren Minimalwert erreicht haben, lässt sich jeweils das Gütemaß der einen Ebene auf Kosten der anderen verbessern. Dies mag zu recht unterschiedlichen Verteilungen der Besetzungspunkte führen. So beträgt das Gesamtgütemaß der folgenden vier hinsichtlich der Leitfunde und Typen identischen Matrizen jeweils 163, obwohl die Verteilung der Besetzungspunkte nicht nur insgesamt recht unterschiedlich ist, sondern auch einen unterschiedlichen Grad der Diagonalgruppierung aufweist (Abb. 50). Um die Struktur der Kombinationsstatistik herauszuarbeiten und ihre Leistungsfähigkeit einzuschätzen, ist das Verfahren seinerzeit anhand datierten Materials untersucht worden. Dabei gingen die Autoren (Eg‐ gert/ Kurz/ Wotzka 1980) davon aus, dass für ein derartiges Vorhaben ein sich stetig veränderndes und in diesem Veränderungsprozess kontinuierlich dokumentiertes Material am besten geeignet sein würde. Solche Bedingun‐ gen gelten in einem besonderen Maße für sogenannte Bestsellerlisten. Daher wurden die wöchentlich in dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel veröffent‐ lichten Sachbuch-Bestsellerlisten eines bestimmten Zeitraums ausgewählt. Jedes Spiegelheft bzw. die darin publizierte Bestsellerliste entspricht formal gesehen einem Geschlossenen Fund, dessen ›Typen‹ die darin aufgeführten Titel bilden. 10.2 Voraussetzungen und Grundstruktur der Kombinationsstatistik 301 <?page no="302"?> 214 Zeit und das Prinzip der Assoziation: Kombinationsstatistik und andere Seriationsverfahren punkte keine erkennbare Ordnung zeigte. Im Folgenden ging es dann darum, diese ungeordnete Matrix auf streng kombinationsstatistischem Wege durch eine systematische Umstellung der Zeilen und Spalten zu strukturieren (Abb. 53). Die durchgeführten Experimente erbrachten eine Reihe wichtiger Einsichten in das Wesen der Kombinationsstatistik. Dabei stellte sich u. a. heraus, dass der Grad der Reproduktion einer historisch richtig geordneten Matrix vom Grad der Überlieferung der in Geschlossenen Funden erfassten Typen abhängt. Je kontinuierlicher diese Typen überliefert sind, desto eher vermag das Diagonalprinzip der historisch richtigen Anordnung gerecht zu werden. Diese Erkenntnis war für die Bewertung der Leistungskraft des kombinationsstatistischen Ordnungsprinzips von besonderer Bedeutung. Da wir die Überlieferungskontinuität des relativ-chronologisch auszuwertenden archäologischen Materials a priori Abb. 50 Kombinationsmatrizen gleichen Gesamtgütemaßes (GM t = 163). Eggert_s001-470_4Aufl_End.indd 214 Eggert_s001-470_4Aufl_End.indd 214 31.01.2012 9: 58: 03 Uhr 31.01.2012 9: 58: 03 Uhr Abb. 50: Kombinationsmatrizen gleichen Gesamtgütemaßes (GM t = 163). - Nach Eggert/ Kurz/ Wotzka 1980, 129 Abb. 9 (a); ebd. 130 Abb. 10 (B); ebd. 130 Abb. 11 (C); ebd.136 Abb. 15 (D). Für das ausgewählte Material wurde eine historisch richtige Matrix erstellt, indem die Fundebene nach dem Erscheinungsdatum des jeweiligen Spiegel‐ hefts und die Typebene nach dem jeweils ersten Auftreten des Bestsellers in einer Liste geordnet wurde (Abb. 51). Diese Matrix diente im Folgenden als Vergleichsbasis für die kombinationsstatistisch gewonnenen Anordnungen der Besetzungspunkte. Den ›Geschlossenen Funden‹ und ›Typen‹ wurden dann willkürlich Buchstaben bzw. Zahlen zugeordnet. So anonymisiert, erfolgte eine Neuordnung der Matrix gemäß der alphabetischen bzw. num‐ merischen Abfolge der Buchstaben und Zahlen (Abb. 52). Das Ergebnis war eine Matrix, deren Besetzungspunkte keine erkennbare Ordnung zeigte. Im Folgenden ging es dann darum, diese ungeordnete Matrix auf streng 302 10 Zeit und das Prinzip der Assoziation <?page no="303"?> kombinationsstatistischem Wege durch eine systematische Umstellung der Zeilen und Spalten zu strukturieren (Abb. 53). Abb. 51: Historisch richtig geordnete Matrix des Testmaterials. - Nach Eggert/ Kurz/ Wotzka 1980, 118 Abb. 1. 10.2 Voraussetzungen und Grundstruktur der Kombinationsstatistik 303 <?page no="304"?> Abb. 52: Anonymisierte Matrix des Testmaterials. - Nach Eggert/ Kurz/ Wotzka 1980, 119 Abb. 2. Die durchgeführten Experimente erbrachten eine Reihe wichtiger Einsich‐ ten in das Wesen der Kombinationsstatistik. Dabei stellte sich unter anderem heraus, dass der Grad der Reproduktion einer historisch richtig geordneten Matrix vom Grad der Überlieferung der in Geschlossenen Funden erfassten Typen abhängt. Je kontinuierlicher diese Typen überliefert sind, desto eher vermag das Diagonalprinzip der historisch richtigen Anordnung gerecht zu werden. Diese Erkenntnis war für die Bewertung der Leistungskraft des kombinationsstatistischen Ordnungsprinzips von besonderer Bedeutung. Da uns die Überlieferungskontinuität des relativ-chronologisch auszuwer‐ tenden archäologischen Materials unbekannt ist, fehlt uns naturgemäß die Kontrolle über die Angemessenheit der mit Hilfe des Diagonalprinzips 304 10 Zeit und das Prinzip der Assoziation <?page no="305"?> gewonnenen Ordnung. Es besteht zwar kein Zweifel daran, dass die so erzeugte räumliche Ordnung - die Verteilung der Besetzungspunkte - den Faktor Zeit widerspiegelt, aber wir wissen nicht, inwieweit die erzielte Abfolge innerhalb der beiden Zeitachsen die Realität wiedergibt. Wir müs‐ sen uns also mit der Feststellung begnügen, mit der Kombinationsstatistik lediglich einen Trend, nicht jedoch eine im Einzelnen richtige Abfolge von Geschlossenen Funden und Typen reproduzieren zu können. Abb. 53: Kombinationsstatistisch geordnete Matrix des Testmaterials. - Nach Eggert/ Kurz/ Wotzka 1980, 120 Abb. 3. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Aussagekraft der Kombinati‐ onsstatistik bisweilen etwas überschätzt wurde. Dennoch stellt sie ein bewährtes Verfahren der relativ-chronologischen Ordnung geschlossener Grabinventare dar, sofern bei einer vorhergehenden Prüfung wahrschein‐ 10.2 Voraussetzungen und Grundstruktur der Kombinationsstatistik 305 <?page no="306"?> 24 Hierzu beispielsweise Schwerdtner 2007. 25 Hierzu z. B. Herzog/ Scollar 1987; Scollar et al. 1993. Die manuelle Handhabung der 900 Pappstreifen, die Petrie für die Erstellung seiner Gräbersequenz zu bewältigen hatte, muss ungewöhnlich schwierig und zeitraubend gewesen sein. Wenn er alle Streifen zu einer einzigen Sequenz vereint hätte, dann hätte sie eine Länge von knapp 6 m aufgewiesen. Man wird Kendall (1963, 661) zustimmen, wenn er sagt: »[…] its manipulation must have been a nightmare.« 26 Abb. 54 entspricht der Kombinationsmatrix Abb. 49; es wurden lediglich Fragezeichen eliminiert und jeder Typvertreter nur einmal gezählt. 27 Die mit dem Programm WinBASP 5.2 durchgeführte Neuordnung der Kombinations‐ matrix von Müller-Karpe verdanke ich Corina Knipper M.A. 28 Die Dichte der Matrixbesetzung ist hier nicht mit dem Goldmann’schen Gütemaß, also der Summe der Abstände zwischen den jeweils äußersten Besetzungspunkten der Zeilen und Spalten, sondern durch Zählung der entsprechenden Leerstellen quantitativ zum Ausdruck gebracht worden. lich gemacht werden konnte, dass die Variation dieser Inventare nicht auf synchron, sondern diachron wirksam werdenden Faktoren beruht. Mit den vorstehenden Ausführungen zur traditionellen Kombinationssta‐ tistik sind die Grundprinzipien kombinatorischer Verfahren zur Erzeugung relativer Chronologie in einer nicht-mathematischen Sprache erläutert worden. Die früher übliche manuelle Ordnung von Kombinationstabellen wurde mit der rasanten Entwicklung immer leistungsfähigerer Kleincom‐ puter insbesondere seit den beginnenden 1980er Jahren hinfällig. Heute gibt es einschlägige Computerprogramme, mit deren Hilfe die Seriation von Geschlossenen Funden und anderen Inventaren (etwa Siedlungsgru‐ ben 24 ) ebenso wie beispielsweise die Seriation miteinander korrelierter Merkmale von Keramik und Steinartefakten auf jedem beliebigen, mit einer hinreichend großen Speicherkapazität versehenen Notebook durchgeführt werden kann. 25 Als Beispiel einer mit dem Rechner erstellten kombinations‐ statistischen Matrixordnung mag die Seriation jener urnenfelderzeitlichen Gräber aus der Münchener Gegend dienen, die Müller-Karpe seinerzeit auf traditionellem Wege kombinationsstatistisch ausgewertet hat (Abb. 54). 26 Die mit dem Rechner geordnete Matrix (Abb. 55) 27 weist bei gleichem Dichtegrad der Besetzungspunkte 28 gegenüber der Kombinationsmatrix von Müller-Karpe eine recht unterschiedliche Abfolge der Typen und der Leitfunde auf, wenngleich sich die beiden Matrizen im großen Ganzen entsprechen. 306 10 Zeit und das Prinzip der Assoziation <?page no="307"?> Zeit und das Prinzip der Assoziation: Kombinationsstatistik und andere Seriationsverfahren Abb. 54 Ausgangsmatrix der Computer-Seriation zur Untergliederung der Stufe Ha A im Raum München. 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 L1 L2 1 Grünw. 32 x x x x x 4 5 2 Grünw. 12 x x x x 5 6 3 Grünw. 16 x x x x 4 5 4 Grünw. 1 2 x x 6 7 5 Grünw. 54 x x x 5 6 6 Unterh. 42 2 x 2 5 6 7 Unterh. 124 x x 2 2 8 Unterh. 70 x x x 4 5 9 Gernl. 49 2 x x 6 7 10 Gernl. 152 x x x 5 6 11 Unterh. 3 x x x 2 3 12 Unterh. 8 x x x 2 x 3 4 13 Unterh. 88 x x x 1 1 14 Unterh. 37 x x x x x 3 4 15 Gernl. 86 2 x x 2 3 16 Gernl. 36 2 x x 2 3 17 Gernl. 76 2 x x 3 4 18 Gernl. 91 x 2 x 4 5 19 Unterm. 2 x 2 2 3 20 Englsch. 12 x x 1 1 21 Gernl. 46 x x 1 1 22 Unterh. 5 x 2 2 3 23 Grünw. 38 x x 3 4 24 Gernl. 151 x x 0 0 25 Unterh. 32 x 2 2 3 26 Unterh. 24 x x 0 1 27 Grünw. 13 2 0 0 28 Feldg. 1 x x 2 3 29 Unterh. 61 x x 1 2 30 Unterh. 103 x x 2 3 31 Unterh. 108 2 x 0 0 32 Gernl. 53 x x 0 0 33 Unterh. 104 3 0 0 34 Grünw. 18 x x? x? 7 10 35 Gernl. 135 x 2 10 14 36 Gernl. 22 x x 6 9 37 Grünw. 33 x x x 5 8 38 Grünw. 42 x x 2 3 39 Grünw. 17 x x x x 3 6 40 Grünw. 44 x x x? x 0 2 41 Unterh. 26 x x 2 2 5 42 Unterh. 13 x x 2 2 5 43 Grünw. 56 x x x 2 5 44 Gernl. 58 x x 1 3 45 Englsch. 7 x x x? 1 3 46 Grünw. 3 x x 0 3 47 Unterh. 39 x x 2 3 48 Unterh. 53 x x x 0 0 49 Grünw. 57 x x 0 0 50 Grünw. 59 2 x 0 1 51 Unterh. 50/ 52 x x 2 0 1 52 Unterh. 84 x x x 0 1 53 Unterh. 85 x x 1 2 54 Unterh. 86 x x x 0 1 55 Unterh. 40 x x 1 2 56 Unterh. 106 x x 0 1 57 Unterh. 79 x x 0 1 58 Gernl. 130 x x 0 1 59 Grünw. 47 x x 0 0 60 Oberm. 3 x x 0 0 61 Grünw. 41 x x 0 0 62 Gernl. 120 3 0 0 127 196 L1 = Leerstellen 1 0 0 0 11 16 6 0 17 17 26 3 0 0 0 4 7 0 5 7 119 L2 = Leerstellen 2 0 0 0 14 16 8 0 20 20 28 3 0 0 0 5 8 10 8 8 148 L1 ohne bei Müller-Karpe nur einmal aufgeführte Typen bzw. Gräber Summe L1: 246 L2 unter Einbeziehung aller bei Müller-Karpe aufgeführten Typen bzw. Gräber Summe L2: 344 Hallstatt A 1 Hallstatt A 2 Position Eggert_s001-470_4Aufl_End.indd 218 Eggert_s001-470_4Aufl_End.indd 218 31.01.2012 9: 58: 04 Uhr 31.01.2012 9: 58: 04 Uhr Abb. 54: Ausgangsmatrix der Computer-Seriation zur Untergliederung der Stufe Ha A im Raum München. - Nach einer Vorlage von C. Knipper (damals Tübingen). 10.2 Voraussetzungen und Grundstruktur der Kombinationsstatistik 307 <?page no="308"?> Abb. 55: Computer-Seriation (Programm WinBASP 5.2) zur Untergliederung der Stufe Ha A im Raum München. Es wurden jene Typen bzw. Gräber eliminiert, die in der Ausgangsmat‐ rix nur einmal vertreten waren. - Nach einer Vorlage von C. Knipper (damals Tübingen). Der Statistiker Peter Ihm (1926-2014) hat bereits früh darauf hingewiesen, dass das von Goldmann in Zusammenarbeit mit dem Rechenzentrum der Universität zu Köln entwickelte Seriationsverfahren im Prinzip mit der seit 308 10 Zeit und das Prinzip der Assoziation <?page no="309"?> 29 Ihm 1983, 8; 13. - Grundlegend zur Korrespondenzanalyse Greenacre 1984. den frühen siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts in anderen Disziplinen zunehmend praktizierten Korrespondenzanalyse identisch sei. 29 Er selbst veröffentlichte in diesem Zusammenhang einen von ihm entwickelten Rechenmodus (Algorithmus), der das von Goldmann benutzte Rechenver‐ fahren verbesserte und damit eine effektivere Umstellung der Zeilen und Spalten der Kombinationsmatrix ermöglichte (Goldmann 1982; ders. 1983). Die Korrespondenzanalyse ist derzeit das in der Archäologie am häufigsten verwendete Verfahren zur Erzeugung relativ-chronologischer Ordnungen. Es entspricht in der Zielsetzung - die Gewinnung einer möglichst optimalen, das heißt ›dichten‹ Anordnung der Besetzungspunkte der Matrix - der tradi‐ tionellen Kombinationsstatistik, von dessen manuell-intuitivem Ordnungs‐ verfahren es sich durch einen auf Chi-Quadrat-Abständen beruhenden Algorithmus unterscheidet. Dieser Algorithmus regelt das Permutationsver‐ fahren, nach dem eine systematische Umstellung der Zeilen und Spalten der Kombinationsmatrix mit dem Ziel erfolgt, eine diagonale Anordnung der Besetzungspunkte herzustellen. Es versteht sich, dass für die Korrespondenzanalyse die gleiche Grund‐ voraussetzung wie für die Kombinationsstatistik gilt: Über die Frage, ob das erzielte Ergebnis maßgeblich durch den Faktor ›Zeit‹ bestimmt ist oder nicht, vermag nicht das mathematisch-statistische Verfahren, sondern nur die sachgerechte archäologische Gewichtung der betreffenden Phänomene zu entscheiden. Dabei muss untersucht werden, ob hierfür nicht vielleicht andere Faktoren wie etwa Geschlecht, Alter, soziale Position, wirtschaftliche Potenz, ethnisch oder sonst wie bestimmte Gruppenzugehörigkeit entwe‐ der allein oder in je spezifischer Kombination verantwortlich sind. Oder man wird, in einer Umkehrung der Verfahrensweise, bemüht sein, nur solche Variablen in die Untersuchung einzubeziehen, die von vornherein eine vorwiegend zeitlich bestimmte Ausprägung erwarten lassen. Da das jedoch a priori unbekannt ist, würde man der Bewertung auch hier das im Zusammenhang mit der Klassifikation (siehe Kap. 6) und der Typologischen Methode (siehe Kap. 9) erörterte Montelius’sche Prinzip der »typologisch ›empfindlichen‹ Serie« zugrunde legen. Aus Sicht der Statistik handelt es sich bei der Korrespondenzanalyse um eine Methode der Auswertung von multivariaten und nominalskalierten Daten, deren Häufigkeitsverteilung einem unimodalen Modell mehr oder weniger angenähert ist. Das bedeutet, die zur Diskussion stehenden Daten 10.2 Voraussetzungen und Grundstruktur der Kombinationsstatistik 309 <?page no="310"?> 30 Qualitative Merkmalsausprägungen beziehen sich auf die Relation eines bestimmten ›Merkmals‹ (im umfassenden Sinne eines einzuordnenden Phänomens) zu einer jeweils vorgegebenen Klasse, zum Beispiel ›vorhanden/ nichtvorhanden‹, ›zugehörig/ nicht zu‐ gehörig‹, ›männlich/ weiblich‹, ›Grab/ Hort/ Siedlung‹, ›Keramik/ Eisen/ Bronze/ Gold‹, ›Fibel vom Frühlatèneschema/ Fibel vom Mittellatèneschema/ Fibel vom Spätlatène‐ schema‹. Die einzige quantitative Komponente nominalskalierter Daten stellt ein etwaiges Zählen der qualitativen Merkmalsausprägungen dar. bestehen aus mehreren Variablen, die nur einen vergleichsweise geringen Informationsgehalt, nämlich qualitative Merkmalsausprägungen, besitzen 30 und deren Häufigkeitsverteilung nur einen Gipfel und damit nur einen häufigsten Wert (Modalwert, Modus) aufweist. Die der relativ-chronologi‐ schen Analyse zugrunde liegende unimodale Modellvorstellung gilt sowohl für Befundbzw. Fundkomplexe (etwa Geschlossene Grabfunde) als auch für die darin enthaltenen, zu seriierenden Typen. So geht man davon aus, dass die zu den jeweiligen Typen gezählten Typvertreter aufgrund einer anfangs geringen, jedoch allmählich zunehmenden Produktion zunächst selten sind, dann aber nach einer Innovationsphase immer häufiger werden. Sie erreichen zur Zeit ihrer größten Beliebtheit ein Herstellungsmaximum, während danach ihre abnehmende Beliebtheit zu immer geringerer Produk‐ tion führt, so dass sie schließlich durch andere Formen ersetzt werden. Die gleiche Modellvorstellung gilt auch für die Deponierungshäufigkeit der betreffenden Typvertreter bzw. der Geschlossenen Funde, die einen bestimmten Satz dieser Typvertreter enthalten. Sie ergibt sich zum einen aus dem Grad der Verfügbarkeit der entsprechenden Objekte in der jeweiligen Kultur. Zum anderen unterstellt das unimodale Modell, dass auch die deponierenden Menschen bei der Zusammensetzung dessen, was sie der Erde anvertrauen, einem Trend folgen, der einer eingipfeligen Häufigkeits‐ verteilung entspricht. Bei der durch den Rechner erfolgenden sukzessiven Umstellung der Zeilen und Spalten der zweidimensionalen Ausgangsmatrix wird die angestrebte Anordnung der ›Individuen‹ beider Ebenen - in unserem Falle also Geschlossene Funde und Typen - gewissermaßen nach ihrem jeweiligen Häufigkeitsmaximum oder ›Schwerpunkt‹ vorgenommen. Das führt zu einer Diagonalisierung der Besetzungspunkte der Matrix (Abb. 56). 310 10 Zeit und das Prinzip der Assoziation <?page no="311"?> Zeit und das Prinzip der Assoziation: Kombinationsstatistik und andere Seriationsverfahren Qualitative Merkmalsausprägungen beziehen sich auf die Relation eines bestimmten ›Merkmals‹ (im umfassenden Sinne eines einzuordnenden Phänomens) zu einer jeweils gegebenen Klasse, z. B. vorhanden/ nicht vorhanden, zugehörig/ nicht zugehörig, männlich/ weiblich, Grab/ Hort/ Siedlung, Keramik/ Eisen/ Bronze/ Gold, Fibel vom Frühlatèneschema/ Fibel vom Mittellatèneschema/ Fibel vom Spätlatèneschema. Die einzige quantitative Komponente nominalskalierter Daten stellt ein etwaiges Zählen der qualitativen Merkmalsausprägungen dar. multivariaten und nominalskalierten Daten, deren Häufigkeitsverteilung einem unimodalen Modell mehr oder weniger angenähert ist. Das bedeutet, die zur Diskussion stehenden Daten bestehen aus mehreren Variablen, die nur einen vergleichsweise geringen Informationsgehalt, nämlich qualitative Merkmalsausprägungen besitzen 26 und deren Häufigkeitsverteilung nur einen Gipfel und damit nur einen häufigsten Wert (Modalwert, Modus) aufweist. Die der relativ-chronologischen Analyse zugrunde liegende unimodale Modellvorstellung gilt sowohl für die Befundbzw. Fundkomplexe (z. B. Geschlossene Grabfunde) als auch für die darin enthaltenen, zu seriierenden Typen. So geht man davon aus, dass die zu den jeweiligen Typen gezählten Typvertreter aufgrund einer anfangs geringen, jedoch allmählich zunehmenden Produktion zunächst relativ selten sind, dann aber nach einer Innovationsphase immer häufiger werden. Sie erreichen zur Zeit ihrer größten Beliebtheit ein Herstel- Abb. 56 Matrixdiagonalisierung durch Zeilen- und Spaltenpermutation auf der Basis des jeweiligen Häufigkeitsschwerpunktes der Typen und Geschlossenen Funde. Hell gerasterte Flächen: Idealisierte, eingipfelige ›Lebensdauer‹ sich überlappender und ablösender Typen; dunkel gerasterte Flächen: Idealisierte, eingipfelige Struktur sich überlappender und ablösender Geschlossender Funde mit jeweils zwei Typen. Abb. 56: Matrixdiagonalisierung durch Zeilen- und Spaltenpermutation auf der Basis des jeweiligen Häufigkeitsschwerpunktes der Typen und Geschlossenen Funde. Hell gerasterte Flächen: Idealisierte, eingipfelige ›Lebensdauer‹ sich überlappender und ablösender Ty‐ pen; dunkel gerasterte Flächen: Idealisierte, eingipfelige Struktur sich überlappender und ablösender Geschlossender Funde mit jeweils zwei Typen. - Entwurf A. Mehling nach Zimmermann 1997, 13 Abb. 1. 10.2 Voraussetzungen und Grundstruktur der Kombinationsstatistik 311 <?page no="313"?> 11 Zeit und Raum: Die ›Horizontalstratigraphische Methode‹ 11.1 Zur Entwicklung der Fundtopographie Unter ›Horizontalstratigraphie‹ versteht man die Gliederung von Gräber‐ feldern und Siedlungen in verschiedene Zonen. Diese Bezeichnung ist zwar inhaltlich fragwürdig, wird aber dennoch seit vielen Jahrzehnten verwendet; immer wieder geäußerte Vorschläge, sie durch einen anderen, adäquaten Begriff zu ersetzen, sind bisher erfolglos geblieben. Der in ihr enthaltene Terminus ›Stratigraphie‹ macht deutlich, dass man sich bei der Herausarbeitung einer horizontalen oder zonalen Gliederung eines Fundplatzes in erster Linie von chronologischen Prämissen leiten lässt. Man sucht die räumliche Verteilung der Befunde in aller Regel im Sinne einer relativ-chronologischen Abfolge zu deuten. Weitaus seltener werden solche Gliederungen durchgeführt, um durch die Herausarbeitung etwaiger Zonierungen kulturelle bzw. soziale Gruppenbildungen der betreffenden Gemeinschaft sichtbar zu machen. Die folgende Erörterung bezieht sich ausschließlich auf den zeitlichen Aspekt. Damit wird unterstellt, dass die räumliche Gruppierung des Materials eines konkreten Fundplatzes durch eine einschlägige Quellenkritik als wesentlich zeitlich bedingt erwiesen worden ist. Die Grundvoraussetzung für eine horizontalstratigraphische Gliederung ist ein genauer Gräberfeldbzw. Siedlungsplan. Auf der Basis dieses Plans werden chronologisch relevante, zweidimensional eingemessene Objekte (als konkrete Repräsentationen von Typen) und/ oder Befunde mit dem Ziel kartiert, das Gesamtareal in verschiedene zeitlich und räumlich diffe‐ renzierte Zonen zu untergliedern. Es liegt auf der Hand, dass eine solche Gräberfeldbzw. Siedlungschorologie (griech. chóra; chóros, Raum) nur dann herausgearbeitet werden kann, wenn sich die Belegung des Gräberfelds oder der Ausbau der Siedlung von einem ursprünglichen Kern aus in der Grundtendenz systematisch vollzogen hat. Dabei mag eine durch fortschrei‐ tendes Bestatten oder Siedeln erfolgende Vergrößerung des Areals nicht nur kreisbzw. zwiebelschalenförmig, uni- oder mehrdirektional, kontinuierlich oder intermittierend, sondern durchaus auch durch eine Kombination dieser Möglichkeiten zustande gekommen sein. Der reale Prozess der Ausdehnung <?page no="314"?> 1 Hübener 1952, 86. - Im Folgenden werden die Begriffe ›Fundtopographie‹, ›Fundchoro‐ logie‹ (bzw. ›Siedlungstopographie‹/ ›Gräberfeldtopographie‹, ›Siedlungschorologie‹/ ›Gräberfeldchorologie‹) und ›Horizontalstratigraphie‹ sowie die entsprechenden Ad‐ jektive synonym verwendet. - Narr (1991, 6 mit Anm. 14) empfahl - einen Vorschlag von E. Albrectsen aufgreifend - den Terminus »Planigraphie«; so auch ders. 1990, 294 Anm. 4. 2 So z.-B. Hachmann 1960, 16. der Nutzfläche ergibt sich erst aus der entsprechenden Kartierung von Leitformen oder chronologisch relevanten Befunden. Wolfgang Hübener (1924-2015) hat diese Verfahrensweise treffend als Methode der Fundtopo‐ graphie bezeichnet. 1 11.2 Oscar Montelius Fälschlicherweise wird gemeinhin angenommen, die relativ-chronologische Bedeutung der allmählichen Belegung eines Gräberfelds sei erstmals von Montelius erkannt und als methodologisches Prinzip formuliert worden. 2 Er bezog sich in seiner Methode zwar auf seine Arbeit über die Chronologie der Eisenzeit aus dem Jahre 1895 und bildete in diesem Zusammenhang die 1886 und 1889 von Emil Vedel (1824-1909) bzw. F. Nordin (? -1920) nach Zeitgruppen differenzierten Pläne der Gräberfelder von Kannikegård auf Bornholm und Bläsnungs auf Gotland ab. Sein überaus knapper, die zeitliche Entwicklung der beiden Nekropolen resümierender Kommentar lässt sich jedoch nicht in dem Sinne deuten, dass er damit das Prinzip der Horizontalen Stratigraphie entwickelt hat. Der Kontext, in dem Montelius die beiden Gräberfeldpläne präsentiert, ist lediglich insofern von methodologischem Interesse, als es ihm dabei um das Konzept des »sicheren« bzw. Geschlossenen Fundes ging. Er erläuterte dieses Konzept unter anderem anhand dieser beiden Gräberfelder, deren Belegung im Wesentlichen linear erfolgt sei, so dass die jeweils aneinander‐ grenzenden »verschiedenen Theile verschiedenen Perioden« angehörten. Damit trat er einer angeblich verbreiteten Vorstellung entgegen, die jegliche aus einem Gräberfeld stammenden Funde, von denen man nicht einmal wisse, ob sie »in demselben Grabe, oder wenigstens in demselben Theile des Gräberfeldes« gefunden worden seien, als »sichere« Funde interpretiere. Vielmehr verhalte es sich so, dass die in jeder einzelnen Gräbergruppe 314 11 Zeit und Raum: Die ›Horizontalstratigraphische Methode‹ <?page no="315"?> 3 Montelius 1903, 5 mit Abb. 2 u. 3. gefundenen Objekte ungefähr gleichzeitig seien, während das gesamte Gräberfeld mehrere Jahrhunderte repräsentieren könne. 3 Es ist klar, dass Montelius die Beobachtungen von Vedel und Nordin nicht zu einem expliziten methodologischen Prinzip weiterentwickelt hat. Betrachtet man seinen Kommentar zum chronologisch-räumlichen Befund von Kannikegård genauer, wird deutlich, dass er ihn überdies in einem unzulässigen Maße reduziert bzw. schematisiert hat. Wenn die einzelnen dort zeitlich unterschiedenen Zonen tatsächlich eine kontinuierliche Bele‐ gung widerspiegeln, dann können sie einerseits nicht in sich »ungefähr gleichzeitig« sein und andererseits »verschiedenen Perioden« angehören. Es wäre vielmehr zu erwarten, dass diese ›Zeitzonen‹ in ihren Kontaktberei‐ chen durch Grabinventare geprägt wären, deren Bestandteile eine zeitliche Mittlerstellung einnehmen. Hier stellt sich bereits sehr klar das Problem der inhaltlichen Definition von ›Kontinuität‹ sowie von ›Gleichzeitigkeit‹ und ›Ungleichzeitigkeit‹. Davon nicht abzulösen ist das Problem des räumlichen Niederschlags bzw. der räumlichen Identifizierung solcher zeitbezogenen Gegebenheiten. Im Nachhinein ist man überrascht, dass Montelius auf jedwede grundsätzliche Erörterung seiner chronologischen Interpretation der chorologischen Be‐ funde von Kannikegård und Bläsnungs verzichtet hat. Aufgrund seiner ausgesprochen mechanistischen Deutung gewinnt man den Eindruck, er sei sich über die Implikationen seiner Darlegungen nicht im Klaren gewesen. 11.3 Emil Vedel Das Verdienst, aus der horizontalen Verbreitung bestimmter Grabbeigaben auf ihre Zeitfolge geschlossen zu haben, kommt nicht Montelius, sondern anderen Autoren zu. Dazu ist beispielsweise der von ihm zitierte Bornholmer Amtmann Emil Vedel zu nennen, der 1886 ein noch heute herausragendes Werk über Bornholms Bodendenkmäler und Altertümer vorgelegt hat. Er untersuchte darin nicht nur die horizontale Verteilung charakteristischer Grabbeigaben von Kannikegård, sondern auch die anderer Gräberfelder (be‐ sonders Mandhøj) und setzte die so gewonnenen Erkenntnisse zueinander in Beziehung (Vedel 1886, 229 ff.). 11.3 Emil Vedel 315 <?page no="316"?> Vedels Ausführungen über die zonale Gliederung von Kannikegård und Mandhøj sind in ihrer Knappheit und Prägnanz auch heute noch lesenswert. Bei der Erörterung der unterschiedlich zusammengesetzten Grabinventare der beiden Nekropolen entschied er sich nach Prüfung der Hypothese eines sozial bedingten Zustandekommens - die Inventare von Mandhøj sind ärmlicher - für eine chronologische Deutung: Das Gräberfeld von Mandhøj gehe, so meinte er, dem von Kannikegård unmittelbar voraus. Für die weitere Differenzierung des durch Kannikegård repräsentierten Zeitraums zog er die dort von ihm festgestellte zonale Gliederung der Gräber heran (Vedel 1886, 229 ff.). Interessant ist die Umsetzung des von Montelius umgezeichneten Vedel‐ schen Gräberfeldplans von Kannikegård durch Eggers (1959, 83 Abb. 5). Eggers arbeitete die wesentlichen Informationen dieses Plans graphisch brillant heraus, ging aber dabei ein wenig nach dem Prinzip des Corriger la fortune vor und trug auch dort einschlägige Befunde in den Plan ein, wo sie in Wirklichkeit nicht vorhanden waren. 11.4 Christian Hostmann Zu jenen frühen Altertumskundlern, die aus der horizontalen Verteilung von Gräbern aufgrund der in ihnen enthaltenen Grabbeigaben auf deren relati‐ ves Alter geschlossen haben, gehört auch Christian Hostmann (1829-1889). Er hat in seiner 1874 erschienenen Monographie über den Urnenfriedhof der Römischen Kaiserzeit von Darzau bei Dannenberg (Niedersachsen) einschlägige Beobachtungen zur horizontalen Verteilung insbesondere von Fibeln notiert. Dabei fand er heraus, dass Augenfibeln und eingliedrige kräf‐ tig profilierte Fibeln nur im südlichen Teil des Gräberfelds, Scharnierschei‐ benfibeln hingegen »davon am weitesten entfernt, in der nordwestlichen Ecke des Friedhofs« auftraten (Hostmann 1874, 59). In Richtung Norden folgten dann zweigliedrige kräftig profilierte Fibeln sowie solche der Gruppe Almgren V, Ser. 3 und schließlich - nach einer Zone ohne fibelführende Gräber - knieförmig gebogene Fibeln der Gruppe Almgren V, Ser. 9 sowie eingliedrige Armbrustfibeln mit breitem Fuß. Rollenkappenfibeln seien hingegen über das gesamte Gräberfeldareal mit Ausnahme der fibelfreien Gräberzone verbreitet gewesen. Hostmann (1874, 59 f.) hegte aufgrund dieses Befunds keinerlei Zweifel, dass die Belegung des Gräberfelds von Süden nach Norden fortgeschritten 316 11 Zeit und Raum: Die ›Horizontalstratigraphische Methode‹ <?page no="317"?> 4 Almgren 1923. 5 Es handelt sich dabei um einen ohne Titel veröffentlichten Vortrag auf der XI. Allge‐ meinen Versammlung der Deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte zu Berlin (Tischler 1880). war. Seine Beobachtungen zur Fibelzonierung übten noch Jahrzehnte später einen beträchtlichen Einfluss auf die relativ-chronologische Gliederung kaiserzeitlicher Fibeln aus; das gilt vor allem für das Standardwerk von Oscar Almgren (1869-1945) über die nordeuropäischen Fibeln der ersten Jahrhunderte nach Christi Geburt. 4 Aus heutiger Sicht werden Hostmanns Ausführungen durch die Tatsache beeinträchtigt, dass er im Zuge seiner Ausgrabung des Gräberfelds von Darzau weder auf den Fundzusammenhang des Materials achtete noch der sehr schnell erfolgten Veröffentlichung einen Plan beigab. In solchen quellenkritischen Fragen waren ihm skandinavische Zeitgenossen wie Vedel weit überlegen. Für uns ist jedoch wichtig, dass er die horizontale Vertei‐ lung von Fibeln im Sinne einer gerichtet fortschreitenden Belegung des Gräberfelds deutete. Wenngleich er sich dabei mit keinem Wort zu den von ihm zugrunde gelegten Annahmen äußerte, legen seine Ausführungen nahe, dass frühe Augenfibeln und Scharnierscheibenfibeln für ihn zeitliche Extrempositionen verkörperten. Aus dieser Voraussetzung ergab sich dann die chronologische Interpretation der anderen Fibelgruppen. 11.5 Otto Tischler Schließlich muss in diesem Zusammenhang auch der bedeutende ostpreu‐ ßische, früh verstorbene Archäologe Otto Tischler (1843-1891) erwähnt werden. Seine Beiträge zur Chronologie der Eisenzeit, zum Beispiel zur Untergliederung der Latènezeit, sind heute noch Bestandteil unseres Fundus - sie leben in der Chronologie Reineckes fort. Tischler hat sich vor allem in einem im Jahre 1880 in Berlin gehaltenen Vortrag mit der chronologischen Gliederung der ersten vier nachchristli‐ chen Jahrhunderte auseinandergesetzt. 5 Dabei war es sein erklärtes Anlie‐ gen, jene Konsequenzen vorzuführen, »welche die systematische Ausbeu‐ tung eines Gräberfeldes für ganz Deutschland zu römischer Zeit ergeben hat, 11.5 Otto Tischler 317 <?page no="318"?> 6 Tischler stellte in diesem Zusammenhang fest, derartige systematische Untersuchun‐ gen seien in letzter Zeit mehrfach unternommen worden und verwies dabei sowohl auf Hostmann als auch auf Vedel. 7 Es lohnt sich auch heute noch, die für unsere Fragestellung zentrale Aussage Tischlers (1880, 81 f.) im Wortlaut zu zitieren: »Wenn man die topographischen Pläne eines solchen Grabfeldes ansieht, […] so findet man, dass die Gräber sich in gewisse lokale, vollständig von einander getrennte Gruppen arrangieren. Von einer Gruppe zur andern verändert sich vollständig das Inventar: die Thongefässe, die Metallgeräthe und die Waffen, und zwar gleichzeitig so, dass man ein abgeschlossenes Bild von jeder Gruppe gewinnen kann.« 8 Diese Aussage (Tischler 1880, 82; Hervorhebung von mir) schließt unmittelbar an das Zitat in der vorigen Anm. an. und welche sich besonders auf die chronologische Feststellung der einzelnen Formen beziehen« (Tischler 1880, 81). 6 Tischlers Ausgangs- und methodologischer Angelpunkt war das von ihm ausgegrabene, nahe Königsberg gelegene Gräberfeld von Dolkeim. Auf der Basis der horizontalen Verteilung insbesondere fibelführender Gräber arbeitete er vier Gräbergruppen heraus. Dabei lagen die ältesten Gräber im Südosten, und die Belegung schritt nach Norden fort. Die vierte Gruppe trat jedoch nicht mehr geschlossen, sondern lediglich in Form einiger verstreuter Gräber im Nordteil auf. Schließlich gab es dort auch noch einige beigabenlose Gräber. Er illustrierte seinen Vortrag mit einer Kartierung der Gräbergruppen, die jedoch leider - soweit ich sehe - niemals veröffentlicht wurde. Die fundtopographische Struktur Dolkeims war die Grundlage seiner Vierstufengliederung der nachchristlichen Eisenzeit (»Periode b, c, d, e«), die in der Folgezeit eine erhebliche Rolle spielen sollte. Er hatte bereits in seinem Berliner Vortrag betont, dass diese Gliederung nicht nur für Ostpreußen, sondern auch für Norddeutschland und Skandinavien gelte (Tischler 1880, 82). 7 Man kann wohl ohne Übertreibung sagen, dass Tischler den Idealfall der Horizontalstratigraphie formuliert hat. Unter der Voraussetzung einer kontinuierlichen Belegung kann die von ihm für Dolkheim postulierte Gräberfeldstruktur in Wirklichkeit jedoch nicht entstehen - wir haben es hier also nicht mit einer archäologischen Widerspiegelung von Realität, sondern mit einer Fiktion zu tun. Er selbst bestätigt diese Einschätzung, wenn er schließlich einschränkend feststellt, dass er vier »zum Theil recht scharf getrennte Abtheilungen« habe unterscheiden können. 8 318 11 Zeit und Raum: Die ›Horizontalstratigraphische Methode‹ <?page no="319"?> 11.6 Zur Bewertung der frühen horizontalstratigraphischen Ansätze Aus den hier exemplarisch betrachteten horizontalstratigraphischen Ansät‐ zen von Vedel, Hostmann und Tischler ergibt sich, dass alle drei Forscher die räumliche Verteilung herausragender Fundgruppen, vor allem Fibeln, als Indikator für die Abfolge der diese Funde enthaltenden Gräber - und damit dieser Funde selbst - gewertet haben. Die Basis jedoch, auf der die Deutung bzw. Umwandlung der räumlichen in eine zeitliche Dimension im konkreten Falle beruhte, wurde nicht erörtert. Es ist aber anzunehmen, dass nicht nur bei Hostmann, sondern auch bei Vedel und Tischler gewisse chronologische ›Eckwerte‹ bei der Festlegung der grundsätzlichen Belegungsrichtung ent‐ scheidend gewesen sind. Beim Studium ihrer Ausführungen fällt auf, dass der räumliche und relativ-chronologische Bezugsrahmen verhältnismäßig grob war. Selbst Vedel hat als Regelfall nicht individuelle Gräber, sondern Grabgruppen auf seinen Gräberfeldplänen verzeichnet. Für die zu jener Zeit außerordent‐ lich wichtige Frage einer ersten grundlegenden Gliederung der Eisenzeit, insbesondere der Römischen Kaiserzeit, war die Herausarbeitung der vor‐ herrschenden Belegungsrichtung von Gräberfeldern offenbar besonders wichtig. Zwischen die bereits mehr oder weniger sicheren, zeitlich und räumlich extremen Pole ließen sich unter Beachtung der wirklichen oder vermeintlichen Belegungsrichtung jene Gräber und damit jene Beigaben einordnen, deren relativ-zeitliche Position nicht hinreichend bekannt war. 11.7 Die Blütezeit der Horizontalstratigraphie Die frühen horizontalstratigraphischen Ansätze von Vedel, Hostmann und Tischler sind jedoch ebenso wie die beiläufige Aufnahme dieses Themas durch Montelius ohne Folgen geblieben. Eine intensive Auswertung von Gräberfeldern aus dieser Perspektive ist erst rund ein halbes Jahrhundert nach dem Erscheinen von Montelius’ Methode, nämlich seit den frühen 1950er Jahren betrieben worden. Eine besondere Bedeutung kommt dabei jenen horizontalstratigraphischen Analysen zu, die Rolf Hachmann seit 1950 zum Zwecke der Feindifferenzierung der jüngeren Vorrömischen Eisenzeit im nördlichen Mitteleuropa an verschiedenen Gräberfeldern vorgenommen 11.6 Zur Bewertung der frühen horizontalstratigraphischen Ansätze 319 <?page no="320"?> 9 Hierzu zusammenfassend Hachmann 1960. - Hachmann ist nach eigenem Bekunden (ebd. 3) durch Vogts (1944) Bearbeitung des Gräberfeldes von Cerinasca d’Arbedo im Tessin zu horizontalstratigraphischem Arbeiten angeregt worden. 10 Die Analyse dieses Gräberfeldes hielt allerdings einer späteren Kritik nicht stand (Eggert 1976b, 94 ff.). hat. 9 Seine Untersuchungen und entsprechende, von ihm angeregte Arbeiten waren bei der Durchsetzung dieser Methode besonders wichtig. Zu Beginn der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts fand auch die Analyse des Urnengrä‐ berfeldes von Kelheim an der Donau durch Hermann Müller-Karpe (1952) große Beachtung, da er damit die Grundlage für eine - heute allerdings zumeist abgelehnte - Dreiteilung der jüngeren Urnenfelderkultur anstelle der bis dahin allgemein akzeptierten Gliederung in zwei Phasen schuf. 10 Inzwischen gibt es zahlreiche, mit Hilfe der Horizontalstratigraphie durchgeführte Gräberfeldanalysen. Dennoch findet man kaum explizite Stellungnahmen zu den theoretischen Grundlagen, den Zielen und der spezifischen Verfahrensweise dieser Analysetechnik. Müller-Karpe (1975, 69) beispielsweise beschränkt sich in seiner Einführung in die Vorgeschichte auf die Feststellung, dass die Herausarbeitung einer zeitlich bedingten Zo‐ nierung »als Bestätigung einer allgemeinen chronologischen Stufenfolge« zu werten sei. Jankuhn (1981, 616) zufolge können mit einer derartigen Zonierung »auch solche Funde chronologisch eingeordnet werden, deren Datierung sonst unbekannt ist«. Eggers, der sich recht intensiv mit der horizontalstratigraphischen Arbeitsweise beschäftigt hat, kommt zu dem Schluss, sie sei keine exakte Methode - »nie kann man«, so stellte er in seiner Einführung fest, »mit ihr allein einen schlüssigen Beweis erbringen«. In Verbindung mit anderen Methoden könne sie jedoch »manche chronolo‐ gische Unsicherheit beseitigen helfen« (Eggers 1959, 84). 11.8 Relative Chronologie und Gräberfeldchorologie am Beispiel Langenhagen Zur Illustration des horizontalstratigraphischen Verfahrens bei Gräberfel‐ dern sei hier ein in den Jahren 1934/ 35 und 1936-39 von H. J. Eggers in Langenhagen, damals Kr. Saatzig in Pommern, ausgegrabenes Brandgräber‐ feld gewählt. Dieser Bestattungsplatz besitzt den Vorteil, dass er nur relativ wenige für die horizonalstratigraphische Auswertung relevante Grabinven‐ tare geliefert hat; die Auswertung bleibt damit übersichtlich. Außerdem hat 320 11 Zeit und Raum: Die ›Horizontalstratigraphische Methode‹ <?page no="321"?> Eggers (1964) bereits eine entsprechende Analyse vorgenommen und in methodisch vorbildlicher Form veröffentlicht. Das Gräberfeld von Langenhagen bietet sich auch aufgrund seiner Aus‐ wertungsgeschichte als ein Lehrbeispiel an. Bis in die Mitte der 1950er Jahre standen lediglich die 1936 von Eggers veröffentlichten ersten 70 Gräber der Grabungen von 1934/ 35 für eine Auswertung zur Verfügung. Sie wurden von Hachmann (1951) zur Unterteilung des älteren Abschnitts der Spätlatènezeit im östlichen Mitteleuropa herangezogen. Lediglich elf dieser Gräber wiesen ein für diese feinchronologische Unterteilung hinreichend differenziertes Inventar auf; nur sie wurden daher in seiner Kombinationstabelle berück‐ sichtigt. Bei den dabei verwendeten chronologisch relevanten Typen handelt es sich um Fibeln vom Mittel- und Spätlatèneschema sowie um Flügelnadeln, Kolbenhalsringe und Gürtelhaken (Abb. 57). Auf dieser Grundlage meinte Hachmann zwei »Zeitstufen« herausarbeiten zu können (Abb. 58). 11.8 Relative Chronologie und Gräberfeldchorologie am Beispiel Langenhagen 321 <?page no="322"?> Abb. 57: Leittypen des Gräberfelds von Langenhagen. - Nach Eggers 1964, Taf. 1. Das Gräberfeld von Langenhagen konnte wegen des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs zwar nicht vollständig freigelegt werden, aber die Grabungen der Jahre 1936 bis 1939 erbrachten zahlreiche weitere Bestattungen. Sie gehörten ebenfalls der Spätlatènezeit, teils aber auch der älteren und mittleren Vorrömischen Eisenzeit an. Dabei kam in der Mitte des Gesamtareals ein Grab zutage, das nach gängiger Datierung aufgrund zweier mit Eisenringen verbundener bronzener Schieberpinzetten und einem ebenfalls bronzenen Zierbuckel noch in die Per. VI nach Montelius datiert (Abb. 59). In einer etwa 80 m südlich der Grabungsgrenze angelegten Sondage fand Eggers zudem ein Urnengrab der Jüngeren Bronzezeit (Per. IV-V), das ein charak‐ teristisches doppelkonisches Keramikgefäß als Leichenbrandbehälter und ein Fußschälchen als Beigefäß enthielt (Abb. 59). Insgesamt konnten in Langenhagen 129 Gräber freigelegt werden. 322 11 Zeit und Raum: Die ›Horizontalstratigraphische Methode‹ <?page no="323"?> Die Veröffentlichung des Materials der Grabungen von 1936-39 und des Gesamtplans des Gräberfelds wurden durch den Krieg verhindert. Zwischen 1957 und 1960 erhielt Eggers dann die Möglichkeit, nach Stettin zu reisen und an seiner alten Wirkungsstätte, dem früheren Pommer’schen Landesmuseum, auch die noch nicht veröffentlichten Funde und die Grabungsdokumentation von Langenhagen aufnehmen bzw. kopieren zu kön‐ nen. Auf dieser Basis konnte er schließlich eine horizontalstratigraphische Auswertung dieses Gräberfeldes vornehmen. Zunächst einmal kartierte er die elf von Hachmann ausgewerteten Gräber. Das Kartenbild führte zu keiner klaren fundtopographischen Aussage. Die von Hachmann zwei »Zeitstufen« bzw. Phasen zugewiesenen Bestattungen liegen in einer aus‐ gesprochenen Gemengelage. Dieser Befund vermochte also nichts zur rela‐ tiv-chronologischen Unterteilung beizutragen (Abb. 60). Abb. 58: Kombinationsmatrix des Gräberfelds von Langenhagen. - Nach Eggers 1964, Taf.-1. 11.8 Relative Chronologie und Gräberfeldchorologie am Beispiel Langenhagen 323 <?page no="324"?> Abb. 59: Grab 85 und Grab 106 von Langenhagen. - Nach Eggers 1964, Taf. 4. 324 11 Zeit und Raum: Die ›Horizontalstratigraphische Methode‹ <?page no="325"?> 11 Hierzu hat Eggers (1964, 9) auch jene Gräber gezählt, die lediglich eine Urne enthielten. Abb. 60: Plan des Gräberfelds von Langenhagen (Stand 1935). - Nach Eggers 1964, Taf. 1. Interessant ist ein Blick auf die nach beigabenlosen und beigabenführenden 11 Gräbern differenzierte Gesamtverteilung der Bestattungen. Die Gräber mit Beigaben sind insgesamt relativ gleichmäßig über das ausgegrabene Areal verteilt, wenngleich im Nordteil eine deutliche Konzentration festzustellen ist (Abb. 61). Eggers hat die Verbreitung der chronologisch relevanten Typen, also die ›Leittypen‹ des Gräberfelds, in einer Reihe von Einzelkarten doku‐ mentiert. So gibt ein Plan die ausnahmslos in der Nordhälfte verbreiteten Fibeln vom Mittel- und Spätlatèneschema wieder (Abb. 62-A). 252 Zeit und Raum: Die ›Horizontalstratigraphische Methode‹ Abb. 73 Verbreitung einiger Leittypen in Langenhagen. Abb. 61: Gesamtplan des Gräberfelds von Langenhagen. - Nach Eggers 1964, Taf. 2 Plan 2. 11.8 Relative Chronologie und Gräberfeldchorologie am Beispiel Langenhagen 325 <?page no="326"?> Abb. 62: Verbreitung einiger Leittypen in Langenhagen. - Nach Eggers 1964, Taf. 2 Plan 3 (A) u. 4 (B); ebd. Taf. 3 Plan 9; ebd. Taf. 3 Plan 9 (D). Von den insgesamt sieben Kartierungen unterschiedlicher Typen, die Eggers vorgelegt hat, lassen lediglich drei gewisse Konzentrationen erkennen. Dabei handelt es sich um die genannten Fibeln (Abb. 62 A), die Scharnier‐ gürtelhaken (Abb. 62 B) und die Jastorfbzw. Ripdorfurnen (Abb. 62 C). Auffällig ist auch, dass die Südhälfte des Gräberfelds auf allen Karten mit Ausnahme der Keramikkarte weitgehend frei bleibt. Und schließlich erscheint bemerkenswert, dass die Keramikgefäße ausschließlich auf diesen Teil konzentriert sind. Die Urnengräber mit Jastorf- und Ripdorfgefäßen weisen in diesem Gräberfeld mit einer Ausnahme keine diagnostischen Metallbeifunde auf; lediglich Grab 91 enthielt einen Leittyp, und zwar einen Zungengürtelhaken. Die übrigen drei Gräber mit diesen Gürtelhaken waren allerdings über den gesamten nördlichen Bereich verteilt (Abb. 62-D). 326 11 Zeit und Raum: Die ›Horizontalstratigraphische Methode‹ <?page no="327"?> 12 Eggers (1964, 11) macht allerdings darauf aufmerksam, dass vieles auf eine zeitliche Parallelität der späten - Schieberpinzetten und flache eiserne Ringe enthaltenden - Steinkistengräber mit Gräbern der Jastorf- und vielleicht sogar noch der Ripdorfstufe hindeute. Insofern, so fügt er hinzu, ständen sich Grab 85 (Schieberpinzetten) und Grab 73 ( Jastorf) möglicherweise nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich nahe. Nach der von Gustav Schwantes für Norddeutschland aufgestellten rela‐ tiven Chronologie der Vorrömischen Eisenzeit entspricht die Zeitstellung der Keramik im Großen und Ganzen der Früh- und Mittellatènezeit. Auch für Eggers bestand kein Zweifel daran, dass die Gräber mit diesen Gefäßen denen der Zeitstufen 1 und 2 der Spätlatènezeit nach Hachmann vorausge‐ hen. Die Gesamtkartierung der Gräber nach den konventionellen Zeitstufen (Abb. 63) macht das bereits in den Einzelkartierungen fassbare Ergebnis sehr deutlich: Das älteste Grab des Friedhofs - eine Bestattung der Jüngeren Bronzezeit - liegt weit außerhalb des ausgegrabenen Areals. Im Südteil befinden sich einige wenige Bestattungen der Jastorf- und Ripdorfstufe, zu denen aber auch solche der Spätlatènezeit hinzutreten. Im Mittelfeld liegt das einzige Grab der Per. VI (Grab 85), in seiner unmittelbaren Nachbarschaft eine etwas isolierte Bestattung der Jastorfstufe (Grab 73). 12 Der Nordteil hingegen wird ausschließlich von Gräbern der Spätlatènezeit eingenommen. Grundsätzlich ergibt sich also eine relativ klare, von Süden nach Norden fortschreitende Belegung. Die Verteilung der chronologisch diagnostischen Gräber bestätigt im Wesentlichen die im nördlichen Mitteleuropa seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts herausgearbeitete Abfolge der Stufen Jastorf/ Ripdorf und Seedorf (Spätlatène). Da chronologisch aussagekräftige Typen der Stufen Jastorf und Ripdorf in Langenhagen fehlen, ist es nicht möglich, die Gräber entsprechend zu unterscheiden. Damit entfällt die Mög‐ lichkeit, eine derartige zeitliche Differenzierung anhand der Gräberchorolo‐ gie aufzuzeigen. Der Langenhagener Verbreitungsbefund führt aber auch bei der von Hachmann für das gesamte nördliche Mitteleuropa vorgeschlagenen zeitlichen Untergliederung des Spätlatène nicht weiter. Die von ihm anhand bestimmter Typen vorgenommene Zweiteilung dieses Gräberfeldes (Abb. 58) findet in der Gräberverteilung keine Stütze. 11.8 Relative Chronologie und Gräberfeldchorologie am Beispiel Langenhagen 327 <?page no="328"?> Struktur und Aussagekraft der Gräberfeldchorologie 253 (Abb. 73 B) und die Jastorfbzw. Ripdorf-Urnen (Abb. 73 C). Auffällig ist auch, dass die Südhälfte des Gräberfeldes auf allen Karten mit Ausnahme der Keramik-Karte weitgehend frei bleibt. Und schließlich erscheint bemerkenswert, dass die Keramikgefäße ausschließlich auf diesen Teil konzentriert sind. Die Urnengräber mit Jastorf- und Ripdorf-Gefäßen weisen in diesem Gräberfeld mit einer Ausnahme keine diagnostischen Metallbeifunde auf; lediglich Grab 91 enthielt einen Leittyp, und zwar einen Zungengürtelhaken. Die übrigen drei Gräber mit diesen Gürtelhaken waren allerdings über den gesamten nördlichen Bereich verteilt (Abb. 73 D). Nach der von Gustav Schwantes (1881-1960) für Norddeutschland aufgestellten relativen Chronologie der Vorrömischen Eisenzeit entspricht die Zeitstellung der Keramik im Großen und Ganzen der Früh- und Mittellatènezeit. Auch für Eggers bestand kein Zweifel daran, dass die Gräber mit diesen Gefäßen denen der Zeitstufen 1 und 2 der Spätlatènezeit nach Hachmann vorausgehen. Die Gesamtkartierung der Gräber nach den konventionellen Zeitstufen (Abb. 74) macht das bereits in den Einzelkartierungen fassbare Ergebnis sehr deutlich: das älteste Grab des Friedhofs - eine Bestattung der Jüngeren Bronzezeit - liegt weit außerhalb des ausgegrabenen Areals. Im Südteil befinden sich einige wenige Bestattungen der Jastorf- und Ripdorfstufe, zu denen aber auch solche der Spätlatènezeit hinzutreten. Im Mittelfeld liegt das einzige Grab der Per. VI (Grab 85), in seiner unmittelbaren Nachbarschaft eine etwas isolierte Bestattung der Jastorfstufe (Grab 73). 10 Der Nordteil hingegen wird ausschließlich von Gräbern der Spätlatènezeit eingenommen. Grundsätzlich ergibt sich also eine relativ klare, von Süden nach Norden fortschreitende Belegung. Die Verteilung der chronologisch diagnostischen Gräber bestätigt im Wesentlichen die im nördlichen Mitteleuropa seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts herausgearbeitete Abfol- 10 Eggers (1964, 11) macht allerdings darauf aufmerksam, dass vieles auf eine zeitliche Parallelität der späten, Schieberpinzetten und flache eiserne Ringe enthaltenden Steinkistengräber mit Gräbern der Jastorf- und vielleicht sogar noch der Ripdorfstufe hindeute. Insofern, so fügt er hinzu, ständen sich die Gräber 85 (Schieberpinzetten) und 73 (Jastorf) möglicherweise nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich nahe. Abb. 74 Zeitstufenkartierung in Langenhagen. Eggert_s001-470_4Aufl_End.indd 253 Eggert_s001-470_4Aufl_End.indd 253 31.01.2012 9: 58: 09 Uhr 31.01.2012 9: 58: 09 Uhr Abb. 63: Zeitstufenkartierung in Langenhagen. - Nach Eggers 1964, Taf. 3 Plan 10. Die aus dem horizontalstratigraphischen Befund von Langenhagen ableit‐ bare Unterstützung der allgemein akzeptierten zeitlichen Differenzierung von Jastorf- und Ripdorfmaterial auf der einen und Spätlatèneleittypen auf der anderen Seite trägt also nichts Wichtiges zur Einschätzung des relativ-chronologischen Stellenwerts der Gräberfeldtopographie bei. Auf‐ schlussreicher ist die Betrachtung dieses Befunds unter der fiktiven Voraus‐ setzung, die chronologische Ausgangslage sei fragwürdig. Wie also würde man den chorologischen Befund unter der Prämisse beurteilen, dass das Verhältnis der Keramik zu den Metalltypen nicht notwendigerweise zeitlich, sondern vielleicht sozial bedingt ist? In diesem Falle könnte die Verteilung dieser beiden Materialgruppen nichts zu einer Entscheidung zwischen diesen beiden Möglichkeiten beitragen. Das in Langenhagen erzielte Gesamtergebnis gilt nicht nur für dieses Gräberfeld. Mit welcher konkreten horizontalstratigraphischen Analyse von Bestattungsplätzen man sich auch immer beschäftigt, das Resultat ist stets gleich: Die horizontalstratigraphische Auswertung setzt erstens eine sichere relative Chronologie und zweitens eine weitgehend systema‐ tische Belegung voraus. Sollte sich bei der topographischen Analyse eine erkennbare räumliche Differenzierung zeitlich relevanter Typen ergeben, kann diese Zonierung allerdings als Bestätigung der zugrunde gelegten Chronologie gelten. Warum das so ist, wird im Folgenden erläutert. 11.9 Zur Struktur und Aussagekraft der Gräberfeldchorologie Bevor wir uns mit der Basis des chronologischen Potenzials von Gräber‐ feldchorologien beschäftigen, muss noch einmal festgestellt werden, dass die Verbreitung von Funden und Befunden allein niemals zu gesicherten relativ-chronologischen Erkenntnissen führen kann. Hingegen vermag die Gräberfeldtopographie unter günstigen Bedingungen ein Zusatzkriterium 328 11 Zeit und Raum: Die ›Horizontalstratigraphische Methode‹ <?page no="329"?> für die Richtigkeit der relativen Chronologie zu liefern, von der die Interpre‐ tation der Gräberfeldzonierung ausgegangen ist. Daher müssen wir uns nun der zentralen Frage zuwenden, wie denn aus einem räumlich gegliederten Gräberareal von den Grabinventaren unabhängige chronologische Indizien gewonnen werden können. Die Chronologie, die der Interpretation einer Gräberfeldchorologie zu‐ grunde liegt, wurde in der Regel auf der Basis von Typenkombinationen in Gräbern erstellt. Um einen Zirkelschluss zu vermeiden, darf das aus dem Verbreitungsbild zu gewinnende Zusatzkriterium nicht aus den Grabinven‐ taren selbst resultieren. Diese Gefahr ist gebannt, weil die Topographie der Gräber eine Zeitkomponente eigener Art verkörpert. Diese von der Ver‐ änderung der Grabinventare unabhängige Zeitdimension eines Gräberfelds ergibt sich aus dem Auftreten von Todesfällen in einer Gemeinschaft. Von seltenen Ausnahmen abgesehen, sind Bestattungsplätze die Konsequenz des sukzessiven Sterbens der Mitglieder einer oder mehrerer Siedlungsge‐ meinschaften. Somit repräsentiert jedes einzelne Grab einen bestimmten Zeitpunkt, der sich von dem des nächsten Grabes meist um Tage, Wochen oder Monate, bisweilen aber auch um Jahre oder Jahrzehnte unterscheidet. Die Gesamtverbreitung der Gräber eines Bestattungsplatzes schließt folglich eine zeitliche Dimension ein, die gänzlich unabhängig von jener ist, die sich in der Veränderung der Grabbeigaben beziehungsweise der Befunde spiegelt. In der Tatsache, dass die räumliche Position einzelnen Gräber von ihren Inventaren unabhängige Punkte auf der Zeitachse verkörpern, liegt die Be‐ deutung der Gräberfeldchorologie für die Erarbeitung relativer Chronologie. Das Grundprinzip ist somit denkbar einfach: Wenn die kartierten, zeitlich in‐ terpretierten Leitformen (bzw. Leitbefunde) - und damit bestimmte Gräber - derart räumlich aufeinander folgen, dass ihre Anordnung eine systematisch fortschreitende Belegung des Gräberfeldareals erkennen lässt, dann bildet diese Regelhaftigkeit ein Zusatzkriterium für die Richtigkeit der relativen Chronologie, auf der die Kartierung beruht. In diesem Augenblick stimmen zwei voneinander unabhängige zeitliche Komponenten - nämlich die Asso‐ ziation von Leittypen in nacheinander erfolgten Bestattungen - überein. Auf diese Weise wird die vorab gegebene, wie auch immer gewonnene Chronologie durch den chorologischen Befund gestützt. Der chronologische Wert der Horizontalstratigraphie von Gräberfeldern ruht also einzig und allein in jenem genuinen Zeitbezug, der aus dem sukzessiven Sterben von Menschen folgt. Da sich dieser latente Zeitbezug 11.9 Zur Struktur und Aussagekraft der Gräberfeldchorologie 329 <?page no="330"?> erst über eine auf anderem Wege gewonnene Altersordnung manifestieren und damit methodologisch wirksam werden kann, stellt die Horizontalst‐ ratigraphie im günstigsten Fall ein positives Indiz für die Richtigkeit der vorausgesetzten Chronologie dar. Wie gering ihr chronologischer Wert aber insgesamt anzusetzen ist, wird deutlich, wenn die Kartierung der für relevant erachteten Leittypen nicht zu einem regelhaften, das heißt im Sinne einer systematisch fortschreitenden Belegung interpretierbaren Verbreitungsbefund führt. In einem solchen Falle kann die Chorologie nicht das Geringste zur Beurteilung der zugrunde gelegten Chronologie beitragen, da die Belegung eines Gräberfelds nach Kriterien erfolgt sein mag, die nicht zu einer kontinuierlichen, räumlich-zeitlichen Abfolge ge‐ führt haben. Das am Beispiel Langenhagen gewonnene Ergebnis wird durch eine Betrachtung der einschlägigen Literatur bestärkt. Beim Studium der zahlreichen veröffentlichten Gräberfeldchorologien drängt sich der Eindruck auf, dass mit der Horizontalstratigraphie nur sehr allgemeine Tendenzen der fortschreitenden Belegung eines Bestattungsplatzes fassbar sind. Gewöhnlich lassen sich mannigfache Abweichungen von der oder den vorherrschenden Belegungsrichtungen feststellen. Methodologisch gesehen werden dadurch ständig ad hoc-Hypothesen notwendig, die jedoch meist - da keine eindeutige Belegungsabfolge erkennbar ist - ohne chronologisches ›Eigengewicht‹ im oben erörterten Sinne bleiben müssen. In Anbetracht der hier skizzierten Struktur von Gräberfeldchorologien ist klar, dass es mit ihrer Hilfe - entgegen der Auffassung von Jankuhn (1981, 616) - niemals gelingen wird, auch solche Gräber bzw. Typen relativ-chro‐ nologisch einzuordnen, deren Datierung auf anderem Wege nicht möglich ist. 11.10 Zum Verhältnis von Zeit und Raum Bei der Erarbeitung von Gräberfeldgliederungen ist der besondere Zeitbezug der deponierten Objekte nur selten beachtet worden. Die chronologische Dimension der Leittypen einer Zeitstufe oder Zeitphase betrifft nicht den Zeitraum der Herstellung der Objekte, sondern den Zeitraum ihres Ge‐ brauchs oder, genauer, ihrer potenziellen Deponierung. Sie repräsentieren also lediglich jene Zeitspanne, die aus dem Zeitpunkt der Anlage des ältesten und des jüngsten Grabs, in denen sie als Beigaben auftreten, resultiert. Steuer (1977, 394 f. et pass.) hat in diesem Zusammenhang zwischen einer 330 11 Zeit und Raum: Die ›Horizontalstratigraphische Methode‹ <?page no="331"?> 13 Im Folgenden spreche ich wegen des chronologischen Kontexts von ›Leittypen‹; gemeint sind natürlich immer die entsprechenden Typvertreter. 14 Christlein 1964, 244 Anm. 18. 15 Strenggenommen kann man ohne zusätzliche Informationen nur sagen, dass solche Objekte nicht mehr in Gräbern deponiert wurden. »Fundchronologie« und einer »Grablegungschronologie« unterschieden. Die gängigen relativ-chronologischen Einheiten verkörpern demnach keine »Fundchronologie«: Es handelt sich bei den entsprechenden Leittypen nicht um »Fundgruppen gleicher Herstellungszeit«, sondern gleicher Deponie‐ rungszeit. Daraus ergibt sich eine wichtige methodologische Einsicht. Wenn sich die Zeitdimension von Leittypen auf Gebrauchsbzw. Deponierungszeit‐ spannen bezieht, dann folgt aus der demographischen Struktur einer Be‐ völkerung, dass in ein und demselben Zeitraum Gegenstände 13 deponiert worden sein müssen, die zu unterschiedlichen Zeiten hergestellt wurden. Nehmen wir einmal an, Leittyp A sei eine bestimmte Zeitlang hergestellt und dann von Leittyp B abgelöst worden. Die Nutzungszeit beider Typen wird sich dann mehr oder weniger lange überschnitten haben. Es müsste also immer wieder vorgekommen sein, dass Leittyp A noch zu einer Zeit, in der man bereits Gräber mit Leittyp B angelegt hat, weiter genutzt und deponiert worden ist. Auf dieses Faktum hat schon vor vielen Jahren Rainer Christlein (1940-1983) beiläufig hingewiesen. 14 Er ging zu Recht davon aus, das Auslaufen von Typen in der Gräberfeldchorologie markiere nicht das Ende ihrer Produktion, sondern ihres Gebrauchs. 15 Gerade bei Fibeln als Trachtgegenständen müsse damit gerechnet werden, dass sie »bis zu einer Generation nach ihrer Herstellung noch in Benutzung waren und in den Boden gelangen konnten«. Dieses Phänomen finde seinen räumlichen Niederschlag in Form von Übergangszonen, »in denen ältere und jüngere Typen gleichmäßig nebeneinander vorkommen, die älteren jedoch in Grä‐ bern älterer, die jüngeren in denen jüngerer Personen.« Diese demographisch-chorologische Konsequenz von »Grablegungs‐ chronologien« ist insofern wichtig, als sie sich in ein methodologisches Hilfskriterium ummünzen lässt: Wenn sich zwischen den ›Kernzonen‹ eines Gräberfelds deutlich ausgeprägte ›Übergangszonen‹ bzw. ›Unschärfeberei‐ che‹ mit älteren und jüngeren Typen in Gemengelage herausarbeiten lassen, dann spricht das für einen chronologisch bedingten chorologischen Gesamt‐ befund. Man kann dieses Phänomen als ›Unschärfekriterium‹ bezeichnen. In der archäologischen Praxis ist die Anwendung dieses Kriteriums allerdings 11.10 Zum Verhältnis von Zeit und Raum 331 <?page no="332"?> 16 Der Ausgangspunkt ihrer Argumentation (Gebühr/ Hartung/ Meier 1989, 94 f.) ent‐ spricht der hier vertretenen Ansicht. Sie schreiben: »Mit der Form, dem Typ eines Gegenstandes (z. B. der Fibel Almgren II, 24) fassen wir bekanntlich den Zeitpunkt seiner Herstellung. Mit dem geschlossenen Grabinventar dagegen hoffen wir auf eine Datierung der Grablegung. Wenn aber im Laufe eines langen Lebens von einem gewissen Alter an kein chronologisch empfindliches Material (kein neuer Schmuck) mehr erworben wird, so kann im Beigabengut des älteren Menschen nur die Zeitstufe sichtbar werden, in der die datierenden Gegenstände hergestellt wurden, also […] die Mode seiner Jugendzeit. Die Gräber dieser Personen werden bei Unkenntnis oder ohne Berücksichtigung des Sterbealters fehldatiert.« an gewisse Bedingungen geknüpft. Es setzt einerseits ein genügend differen‐ ziertes Beigabengut sowie eine möglichst geringe Zahl beigabenloser Gräber voraus. Andererseits ist es nur dann anwendbar, wenn solche Beigaben Teil der persönlichen Habe des Verstorbenen gewesen und nicht erst in jüngerer Zeit oder gar eigens für die Bestattung hergestellt worden sind. Da dies für Schmuck und Trachtbestandteile zwar unterstellt, jedoch nicht in jedem Falle vorausgesetzt werden darf, sind der Aussagekraft des Unschärfekrite‐ riums Grenzen gesetzt. Man wird sich daher mit der Feststellung begnügen müssen, dass klar abgrenzbare Zonierungen in Gräberfeldern - wenn sie sich denn tatsächlich einmal herausarbeiten lassen - sehr wahrscheinlich nicht chronologisch bedingt sind. Mit dem Problemkreis ›Sterbealter und Chronologie‹ haben sich auch Michael Gebühr (1942-2021), Ulrich Hartung und Horst Meier (1989, 93 ff.) auseinandergesetzt. Aus einer im Gräberfeld von Neubrandenburg in Meck‐ lenburg auftretenden Gemengelage von Gräbern der Spätlatène- und älteren Römischen Kaiserzeit mit Inventaren der Stufen Eggers A und B glauben sie schließen zu können, dass dieses Gräberfeld insgesamt einen Unschär‐ febereich im hier charakterisierten Sinne darstellt. Neubrandenburg, so meinen sie, repräsentiere »mit dem ausgegrabenen Friedhofsteil in etwa nur jenes Menschenalter, in dem sich die Stufen A und B überlappen« (ebd. 95). 16 Sie sind darüber hinaus der Auffassung, dass sämtliche Grablegungen des ausgegrabenen Gräberfeldteils vermutlich erst während der frühen Stufe Eggers B erfolgt sind. Die Toten der Gräber mit Inventaren der Stufe A seien zwar während der Herstellungszeit der A-Gegenstände mit entsprechendem Trachtzubehör ausgestattet worden, jedoch erst während der Stufe B gestorben (ebd.). Diese Auffassung sehen sie durch die Tatsache bestätigt, dass ›A-Gräber‹ mit Toten in einem Alter von mindestens 45 Jah‐ 332 11 Zeit und Raum: Die ›Horizontalstratigraphische Methode‹ <?page no="333"?> 17 Diese Verteilung (ebd. 96 mit Abb. 13 rechts) besagt meines Erachtes allerdings gar nichts, da aus Abb. 13 links hervorgeht, dass immerhin knapp 50 % der A-Gräber (26 von 58) südlich des durch die neun A-Gräber mit mindestens 45 Jahre alten Individuen umschriebenen Areals liegen. In diesen südlichen Gräbern sind Adulte (im Sinne von 20 bis 40 Jahre alten Individuen) bestattet worden. 18 Zum bisher weitgehend vernachlässigten Faktor etwaiger bevölkerungsdynamischer Einflüsse auf das relativ-chronologisch interpretierte Fundbild siehe auch Stöllner (1999b, 203 ff.). ren ausschließlich im nördlichen Teil des Gräberfelds liegen. 17 Auch wenn man die Schlüssigkeit der Argumentation von Gebühr, Hartung und Meier für den konkreten Fall ›Neubrandenburg‹ nicht vollständig teilen mag, ist die methodologische Bedeutung ihrer Darlegungen doch nachdrücklich zu unterstreichen. 18 Zieht man die Konsequenz aus den topographisch-chronologischen Im‐ plikationen des oben eingeführten ›Unschärfekriteriums‹, ist klar, dass es die chronologische Aussagekraft der Horizontalstratigraphie schwächt. Um feinchronologische Unterscheidungen zu erzielen, müsste die horizon‐ tal-stratigraphische Analyse zu möglichst scharf abgegrenzten, sich gegen‐ seitig ausschließenden Gräberzonen führen. Solche Befunde sind jedoch - wie ausgeführt - tendenziell nicht chronologisch bedingt. Sieht man sich die zahlreichen horizontalstratigraphischen Analysen von Gräberfeldern näher an, zeigt sich zudem, dass scharf abgegrenzte Gräberzonen äußerst selten vorkommen. 11.11 Stratigraphie und Siedlungschorologie am Beispiel Haithabu Bei den Bemerkungen zur Blütezeit der horizontalstratigraphischen Arbeits‐ weise habe ich darauf hingewiesen, dass Eggers (1959, 84) ihr in seiner Einführung den Status einer »exakten Methode« abgesprochen hat. Zugleich stellte er aber fest, sie könne in Verbindung mit anderen Methoden dazu beitragen, manche chronologische Unsicherheit zu beseitigen. Als Parade‐ beispiel einer solchen Methodenverknüpfung führte er die Verbindung der sogenannten ›Bachbettstratigraphie‹ von Haithabu mit der räumlichen Entwicklung dieser Siedlung an. Haithabu ist eine in Schleswig-Holstein an der Schlei gelegene wikingische Großsiedlung. Mitten durch die Sied‐ lungsfläche floss seinerzeit ein Bach, den Jankuhn vor allem in den Jahren 1937-39 über eine Strecke von etwa 83 m systematisch untersucht hat. Im 11.11 Stratigraphie und Siedlungschorologie am Beispiel Haithabu 333 <?page no="334"?> 19 Jankuhn 1943; 1956. Verlaufe des 9. und 10. Jahrhunderts ist das Bachbett infolge von Sedimen‐ tation um gut 1,5 m erhöht worden. Dabei gerieten zahlreiche Fragmente sowohl einheimischer als auch importierter Keramik in die verschiedenen Schwemmschichten. Der so entstandene stratifizierte Bachbettbefund bot eine hervorragende Möglichkeit, die einzelnen keramischen Formen und damit die verschiedenen Stile in ihrer stratigraphischen Abfolge zu erfas‐ sen und diese Stratifizierung als Basis für eine relative Chronologie der verschiedenen keramischen Gruppen zu nutzen. Eggers stützte seine Ausführungen über Haithabu noch ganz auf einen Vorbericht und eine zusammenfassende Darstellung von Jankuhn, 19 obwohl schon damals ein wichtiger Aufsatz von Wolfgang Hübener (1952) über die Topographie von Haithabu vorlag. Im gleichen Jahr wie die Erstauflage von Eggers’ Einführung erschien dann Hübeners Gesamtbearbeitung der aus den Vorkriegsgrabungen stammenden Keramik (Hübener 1959). Es ist methodisch reizvoll, das Problem ›Bachbettstratigraphie und Siedlungsto‐ pographie von Haithabu‹ im Lichte der beiden bis heute grundlegenden Arbeiten von Hübener zu betrachten. Er konnte darin zeigen, dass der durch das Siedlungsareal von Haithabu fließende Bach in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts aufgestaut wurde. Daraus resultierten zwei Bachabschnitte mit fortan unterschiedlichen Sedimentationsraten, und zwar ein etwa 21 m langer Abschnitt oberhalb und ein etwa 62 m langer Abschnitt unterhalb des Wehrs. Dieser nach seinem Sedimentationsverhalten differenzierte Bachlauf bildet mit seinen keramikführenden Straten - wie Hübener (ebd. 63, 171) anschaulich formulierte - das »chronologische Rückgrat der gesamten Hai‐ thabukeramik«. Es ist sein bleibendes Verdienst, diesen stratigraphischen Gesamtbefund umfassend interpretiert zu haben. Wie schon Jankuhn nutzte er ihn zum einen zur relativ-chronologischen Gliederung der Keramik (Abb. 64) und zum anderen zu ihrer absoluten Datierung. Als zeitliche Fixpunkte für die Bestimmung des absoluten Alters dienten ihm stratifizierte nicht-keramische Objekte (Abb. 55). 334 11 Zeit und Raum: Die ›Horizontalstratigraphische Methode‹ <?page no="335"?> Abb. 64: Bachbettstratigraphie von Haithabu. - Nach Hübener 1959, Tab. 2.7.10.11.13.14 und Eggers 19959, 87 Abb. 6. 11.11 Stratigraphie und Siedlungschorologie am Beispiel Haithabu 335 <?page no="336"?> Abb. 65: Absolut-chronologisch aussagefähige Objekte in der Bachbettstratigraphie von Haithabu. - Nach Hübener 1959, 62 mit Aufriss 6. Hübener ging jedoch noch einen Schritt weiter. Er verband diesen Befund in einer beispielhaften »Kombination von Stratigraphie und Topographie« (Hübener 1959, 186) mit der räumlichen Dimension der Ansiedlung, indem er jene einheimische und importierte Töpferware kartierte, die über die Bachbettstratigraphie in ihrem gegenseitigen Verhältnis datiert war. Aus der Bachbettstratigraphie folgte, dass zwei Gruppen der fränkischen Importke‐ 336 11 Zeit und Raum: Die ›Horizontalstratigraphische Methode‹ <?page no="337"?> 20 Durch die Ausgrabung einer unmittelbar südlich des Halbkreiswalls gelegenen Sied‐ lung, der sogenannten »Südsiedlung«, sowie weiterer Grabungen innerhalb des Halb‐ kreiswalls hat sich die Quellenlage in Haithabu ab 1962 insgesamt wesentlich verändert. Für die hier interessierenden Aspekte ist dies jedoch nur insofern relevant, als die Siedlungsentwicklung sich aufgrund der Auswertung der Funde und Befunde der Südsiedlung heute etwas anders darstellt (hierzu Steuer 1974, 154 ff.; zu den Ergebnissen im Inneren des Halbkreiswalls bis Ende der 1970er Jahre Schietzel 1981, bes. 51 ff.; zusammenfassend Jankuhn 1986, 65 ff., 79 ff.). ramik (Badorf und Reliefbandamphoren) im Großen und Ganzen zeitgleich waren. Sie repräsentieren gemeinsam mit einer weiteren, allerdings nur außerhalb des Bachbetts vorkommenden Gruppe fränkischer Importware (Tating) eine »ältere Siedlungsphase« (ebd. 72 f., 179 f.). Hinzu kam die einheimische, im Bachbettbefund stratifizierte Muschelgruskeramik. Diese Keramikgruppen werden nach dem Bachbettbefund von einer vierten Gruppe fränkischer Keramik (Pingsdorf) abgelöst, die Hübener somit einer »jüngeren Siedlungsphase« zurechnete. Diese jüngere Phase ist jedoch vor allem durch einheimische Keramik, und zwar in erster Linie durch den sogenannten »Sacktopf«, den »Drehscheibentopf« und den »Kugeltopf mit profiliertem Rand« charakterisiert (ebd. 73 f., 183). Innerhalb der älteren Siedlungsphase konnte Hübener (1959, 179 f.) durch Einzelkartierungen und den stratigraphischen Befund ebenfalls eine ge‐ wisse zeitlich-räumliche Differenzierung wahrscheinlich machen und als schrittweise Ausdehnung eines kleinen, ursprünglichen Siedlungskerns deuten. Dabei spielte auch die Tatinger Gruppe, die sich aufgrund externer chronologischer Indizien mit der frühen Besiedlung des 9. Jahrhunderts verbinden ließ, eine Rolle. Ihre Verbreitung entspricht ungefähr jener der dunklen Variante der Badorfer Keramik. Beide Gruppen umreißen damit den ursprünglichen Siedlungskern (Abb. 66). Dieser Kernbereich erfuhr offenbar eine sukzessive Ausweitung, so dass Hübener von insgesamt vier Subphasen der älteren Besiedlung ausging. Die ältere Siedlungsphase der wahrscheinlich noch unbefestigten Ansiedlung datiert in die Zeit von etwa 800 bis in die ersten Jahrzehnte des 10. Jahrhunderts. Der Halbkreiswall ist wohl erst während der jüngeren Siedlungsphase, vermutlich um die Mitte des 10. Jahrhunderts, errichtet worden (Abb. 67); um die Mitte des 11.-Jahrhunderts wurde Haithabu aufgelassen. 20 11.11 Stratigraphie und Siedlungschorologie am Beispiel Haithabu 337 <?page no="338"?> Abb. 66: Siedlungskern von Haithabu. - Nach Jankuhn 1956, 75 Abb. 17 und Schietzel 1981, 11 Abb. 1. Abb. 67: Aufsiedlung von Haithabu. - Nach Hübener 1959, Plan 25 und Schietzel 1981, 11 Abb. 1. 338 11 Zeit und Raum: Die ›Horizontalstratigraphische Methode‹ <?page no="339"?> 21 Siehe hierzu Hübener 1952, 78 f. mit Plan 1; ders. 1959, 180 mit Plan 2, 10 u. 24. Trotz der Position der frühen Importkeramik in der Bachbettstratigraphie bestand immer noch die Möglichkeit, dass ihre Verteilung in der Fläche nicht primär zeitlich bedingt war. Um diese Hypothese zu prüfen - es wäre ja zum Beispiel denkbar gewesen, dass das Verbreitungsbild lediglich die Quartiere einer sozial bessergestellten Bevölkerungsschicht widerspiegelt -, nahm Hübener eine Gegenprobe vor. 21 Er kartierte zum einen die Muschelgruske‐ ramik, eine zur »Nordseegruppe« gehörende, nur mäßig gebrannte, der fränkischen Importware qualitativ weit unterlegene Töpferware; in einem zweiten Kartenbild zeigte er die Verbreitung von frühen Metallfunden. Die Fundverteilung dieser beiden kennzeichnenden, zur älteren Siedlungsphase gehörenden Materialgruppen deckte sich weitgehend mit dem der Badorfer Ware - ein Beweis, dass die Verbreitung dieser fränkischen Importkeramik nicht durch eine soziale Differenzierung der Bevölkerung bestimmt war. In gleichem Sinne ließ sich auch der Kartierungsbefund verschiedener anderer einheimischer Keramikgruppen deuten. Somit hatte sich für Haithabu ein innerer Zusammenhang zwischen Stratigraphie und Topographie ergeben: Die stratigraphisch tiefer liegenden, also älteren keramischen Gruppen nehmen ein kleineres Areal ein als die stratigraphisch jüngere Keramik. Dieses Ergebnis war für die Erkenntnis der Siedlungsgeschichte von Haithabu von beträchtlichem Interesse. Es führt aber zu der grundsätzlichen Frage, ob die sogenannte Horizontalstratigra‐ phie damit in einem kausalen Zusammenhang steht. Stimmt es wirklich, wie Eggers (1959, 85 f.) behauptet, dass »die Auswertung der Bachbettchro‐ nologie im Sinne einer horizontalen Stratigraphie […] für die Topographie von Haithabu völlig neue Ergebnisse« gebracht hat? Oder handelt es sich lediglich um die simple kartographisch-topographische Umsetzung jener chronologischen Konsequenzen, die sich aus der Analyse der Bachbettgra‐ bung ergaben? Grundsätzlicher gefragt: Hat die Horizontalstratigraphie in diesem Falle irgendetwas beigetragen, das auf anderem Wege nicht erreichbar gewesen wäre? Bereits Hübener (1952, 83) hat darauf aufmerksam gemacht, dass er die schrittweise Siedlungsvergrößerung von Haithabu auch allein auf der Basis der allgemeinen relativen Chronologie der relevanten Fundgruppen - also ohne die Bachbettstratigraphie - hätte herausarbeiten können. Die Existenz eines lokalen stratigraphischen Befundes verleiht der Chronologisierung des Fundmaterials hier lediglich eine besondere, im Allgemeinen nicht 11.11 Stratigraphie und Siedlungschorologie am Beispiel Haithabu 339 <?page no="340"?> gegebene Qualität. Die damals schon bekannte Abfolge der keramischen Warenarten wurde durch die Stratifizierung von Haithabu nur ein weiteres Mal bestätigt. Wie steht es also mit dem chronologischen Stellenwert des siedlungstopographischen Befundes? Dieser Befund resultiert zwar aus der voranschreitenden Zeit und verändert sich mit ihr - aber es stellt sich die Frage, ob er tatsächlich irgendetwas zur Untermauerung der Bachbett‐ chronologie, auf der die Kartierung beruht, beizutragen vermochte. Die Antwort ist negativ, und zwar deswegen, weil die Aussagekraft der im Bachbett vorliegenden Keramikstratifizierung aufgrund des Steno’schen ›Lagerungsgesetzes‹ jener des topographischen Befundes überlegen ist. Aber selbst dann, wenn es in Haithabu keine Bachbettstratigraphie gäbe und die Kartierungen nur auf der Grundlage einer extern gewonnenen relativen Chronologie erfolgt wären, hätte der topographische Befund nichts zur Beurteilung dieser Chronologie beizutragen vermocht. Im Falle von Haithabu liegt es zwar nahe, das Verbreitungsbild im Sinne einer kontinu‐ ierlichen Siedlungsausweitung zu deuten. Aber grundsätzlich gilt, dass sich aus dem räumlichen Niederschlag von Siedlungsaktivitäten im Gegensatz zu Gräberfeldern kein eindeutig erkennbarer Zeitfaktor ergibt. Daher lässt sich aus der Fundtopographie auch kein Zusatzargument für die Angemessenheit der bei der Kartierung zugrunde gelegten Chronologie gewinnen. Die Deu‐ tung eines bestimmten räumlichen Befunds als Siedlungsausweitung beruht auf der relativen Chronologie der kartierten Fundgruppen und vermag daher nicht ihre eigene Voraussetzung zu bestätigen. Dass die Siedlungschorologie keine relativ-chronologische Aussagekraft im hier interessierenden Sinne besitzt, erweist sich auch bei einem ›nega‐ tiven‹ Kartierungsergebnis: Welche Konsequenzen würde man aus einem topographischen Befund zu ziehen haben, der sich nach der relativen Chronologie der kartierten Fundgruppen mit der fortschreitenden Zeit nicht kontinuierlich vergrößerte, sondern der gleichsam oszillierte, also teils wuchs, dann aber auch wieder schrumpfte? Die Antwort ist eindeutig: Ein solcher Befund könnte nichts zur Bewertung der Chronologie beitragen. Das hier skizzierte Problem der chronologischen Irrelevanz von sied‐ lungstopographischen Befunden zeigt sich sehr gut an den unter optimalen chronologischen Bedingungen erzielten Ergebnissen von Haithabu. Hübe‐ ner (1959, 71) hatte gehofft, auch solche keramischen Typen, die nicht oder nur spärlich im Bachbett, wohl aber in eindeutig mit der Bachbettstra‐ tigraphie korrelierten Zonen auftreten, allein aufgrund dieser Verbreitung datieren zu können. Diese Erwartung wurde nicht erfüllt. Er kam zu dem 340 11 Zeit und Raum: Die ›Horizontalstratigraphische Methode‹ <?page no="341"?> Ergebnis, dass der topographische Befund zur Datierung dieser Typen kaum etwas beitragen konnte; in solchen Fällen würden sich stets nur Hinweise unterschiedlichen Gewichts, aber keine gesicherten Datierungen ergeben (ebd. 75). Als Gesamtergebnis unserer Betrachtung des Falls ›Haithabu‹ lassen sich folgende Punkte festhalten: (1) Durch die Tatsache, dass Eggers (1959) in seiner Einführung den für die chro‐ nologische Gesamtinterpretation von Haithabu zentralen Aufsatz von Hübener (1952) nicht berücksichtigt hat, entstand ein Bild, das weder methodologisch noch forschungsgeschichtlich adäquat war. (2) Die Erörterung des Falls ›Haithabu‹ durch Eggers beschränkte sich auf Deskription. Eine Analyse des Potenzials der Horizontalstratigraphie erfolgte nicht. (3) Eggers behauptete, dass durch die Anwendung der Horizontalstratigraphie in Haithabu ein erheblicher Erkenntnisfortschritt erzielt worden sei, begründete dies jedoch nicht. (4) Die topographisch-chronologische Interpretation Haithabus wäre - wie Hübener schon 1952 feststellte - aufgrund der extern erarbeiteten relativen Chronologie der einschlägigen Keramik auch ohne die Bachbettstratigraphie möglich gewesen. (5) Die Bachbettstratigraphie fügte dem lokalen Befund und damit seiner Deutung insofern eine neue Qualität hinzu, als die extern festgestellte Abfolge dadurch auch für diese Siedlung erwiesen ist. Die relevanten Keramikgruppen sind also nicht mehr oder weniger gleichzeitig, sondern offenbar entsprechend ihres zeit‐ lichen Auftretens in ihrem Ursprungsgebiet nach Haithabu exportiert worden. (6) Die durch Kartierung festgestellte Verbreitung der einschlägigen Keramik erscheint in Relation zum Bachbettbefund peripher. Die relative Chronologie dieser Keramik bedurfte in Anbetracht ihrer externen Fundierung und ihrer örtlichen Stratifizierung keiner weiteren Absicherung, um akzeptiert zu werden. An ihrer Richtigkeit hätte aus den erörterten methodischen Gründen auch dann nicht gezweifelt werden können, wenn der entsprechende kartographisch-topo‐ graphische Befund kein eindeutiges Ergebnis erbracht hätte. (7) Die mangelnde relativ-chronologische Aussagekraft der Horizontalstratigra‐ phie im Kontext von Siedlungen wird besonders deutlich, wenn man einmal unterstellt, dass der topographische Befund von Haithabu weder der externen Chronologie noch der Bachbettstratigraphie entsprochen hätte. Unter diesen Um‐ ständen wäre sicherlich niemand bereit gewesen, die vorgegebene relativ-zeitli‐ 11.11 Stratigraphie und Siedlungschorologie am Beispiel Haithabu 341 <?page no="342"?> che Gliederung der Keramik aufgrund des topographischen Befunds zu modifi‐ zieren. Abschließend ist festzuhalten, dass die Horizontalstratigraphie von Siedlun‐ gen im günstigsten Falle eine Fundverteilung liefern kann, die sich auf der Basis der vorgegebenen Chronologie als Resultat eines gerichteten Siedlungsausbaus deuten lässt. Ein derartiges Ergebnis darf jedoch nicht als Zusatzkriterium für die Adäquatheit der Chronologie gewertet werden, da es nicht aus dem Siedelprozess selbst, sondern allein aus der Chronologie des kartierten Materials abgeleitet worden ist. 342 11 Zeit und Raum: Die ›Horizontalstratigraphische Methode‹ <?page no="343"?> 12 Kalendarische Zeit: Zum traditionellen Modus der absoluten Datierung 12.1 Zur Genauigkeit traditioneller absoluter Datierungen Hermann Müller-Karpe (1975, 70 f.) sagt in seiner Einführung in die Vorgeschichte, dass es für die »historische Beurteilung von Entwicklun‐ gen, Traditionen, Ausprägungen, Wandlungen und Ausbreitungen tech‐ nisch-wirtschaftlicher und geistig-religiöser Phänomene« wichtig sei, ein »begründetes Wissen darüber zu besitzen, wie lange Zeitspannen - in Jahren, Jahrzehnten oder Jahrhunderten ausgedrückt - dafür jeweils in Be‐ tracht« gezogen werden müssten. Wenn wir dies wörtlich nähmen, gerieten wir in Schwierigkeiten: Wir werden weder auf archäologisch-historischem noch - mit einer Ausnahme - auf naturwissenschaftlichem Wege jemals regelhaft in die Lage versetzt sein, jenseits der Schwelle der jüngeren Vorrömischen Eisenzeit mit Jahrzehnten oder gar Jahren argumentieren zu können. Lediglich die Dendrochronologie, so eingeschränkt anwendbar sie aufgrund ihrer quellenspezifischen Voraussetzungen leider ist, kann im optimalen Falle tatsächlich jahrgenau datieren. Ansonsten bewegt sich die Möglichkeit absoluter Datierung in aller Regel in der Größenordnung von Jahrhunderten; alles, was darunter liegt, ist auf mehr oder weniger plausible Schätzwerte gegründet. Die Plausibilität dieser Schätzungen wächst mit der Qualität und Quantität der Verknüpfungen der zu datierenden Phänomene mit ›festdatierten‹, das heißt absolut-chronologisch sicher bestimmten Kul‐ turverhältnissen. Die auf traditionellem Wege gewonnene absolute Datie‐ rung ist folglich umso genauer, je jünger die datierten Erscheinungen sind. Es überrascht daher nicht, dass die absoluten Daten der Latènezeit um vieles feinmaschiger und präziser als die des Neolithikums sind, sofern es sich bei Letzteren nicht um Dendrodaten handelt. Das große Potenzial, das die Dendrochronologie bietet, ist in den letzten Jahren insbesondere im Zusammenhang mit der jahrgenauen Datierung von ostfranzösischen, schweizerischen und südwestdeutschen Seeufersiedlun‐ gen aufgezeigt worden. So konnte Claus Wolf (1998) bei der Untersuchung des Kulturwandels vom Spätzum Endneolithikum in der Westschweiz, der sich im 31. und 30. Jahrhundert v. Chr. vollzog, wahrscheinlich machen, <?page no="344"?> 1 Eine kürzere Vortragsversion dieses Aufsatzes wurde zwei Jahre zuvor veröffentlicht (Hafner/ Suter 1997). 2 Den Höhepunkt bildete Joachim Werners (1978) Gedenkrede auf Milojčić. dass dieser Wandel von Horgen zu Lüscherz und anderen Regionalkulturen »geographisch gestaffelt in Generationsschritten« - wie er etwas überspitzt formuliert - vor sich gegangen ist. Während die Horgener Kultur im französischen Jura wohl nur rund ein Jahrhundert bestanden hat, hielt sie sich am südlichen Neuenburger See und im Becken des Genfer Sees ungefähr zwei Jahrhunderte; im Bereich des Bodensees hingegen existierte sie von etwa 3300 bis 2800 v. Chr., also rund ein halbes Jahrtausend (ebd. 216). In diesem Zusammenhang ist auch das auf Dendrodaten beruhende neue Chronologieschema von Bedeutung, das Albert Hafner und Peter J. Suter (1999) für das Neolithikum des schweizerische Mittellands als »Zeit/ Raum-Modell« in Relation zum Neolithikum sowohl der Westwie der Ostschweiz entworfen haben. 1 Beim gegenwärtigen Stand der absoluten Datierung in der Archäologie muss man sich immer wieder daran erinnern, dass die heute gängigen naturwissenschaftlichen Datierungsverfahren - und sie dominieren den Bereich der absoluten Datierung - im Wesentlichen erst seit der zweiten Hälfte der 1940er Jahre zur Verfügung stehen. Die mannigfachen archäo‐ logischen Probleme, die gerade mit der Vervollkommnung der Radiokar‐ bonmethode einhergingen, sind vielfach erörtert worden. Aufgrund der außerordentlichen Diskrepanz zwischen den für das europäische Neolithi‐ kum auf traditionellem Wege gewonnenen Daten (Milojčić 1949) und jenen der Radiokarbonmethode hatte sich seinerzeit vor allem in der deutschen Archäologie eine recht geschlossene Ablehnungsfront gegenüber der Radi‐ okohlenstoffmethode gebildet (Eggert 1988a/ 2023). 2 Die Ergebnisse dieser neuen Methode waren so umstürzlerisch, dass Colin Renfrew (1973a) von einer radiocarbon revolution sprach. Vor der ›naturwissenschaftlichen Wende‹ im Bereich der absoluten Altersbestimmung war man darauf angewiesen, die zu datierenden Phä‐ nomene schriftloser Kulturen mit solchen Kulturen zu verknüpfen, in denen systematische Naturbeobachtungen zur Entwicklung eines schriftlich fixierten Kalenders geführt hatten. In Anbetracht der Tatsache, dass in der Archäologie auf der Grundlage des Schriftkriteriums zwischen ›Urge‐ schichte‹ und ›Geschichte‹ unterschieden wird, pflegt man diese Methode 344 12 Kalendarische Zeit: Zum traditionellen Modus der absoluten Datierung <?page no="345"?> 3 Ich folge hier der Definition von Kaletsch (1965, 3307 f.), der unter ›Zeitrechnung‹ die »Festlegung des zeitlichen Abstands eines Ereignisses von einem anderen oder von der Gegenwart« und unter ›Kalender‹ ein System »immer wiederkehrender gleicher Zeitkreise (Tag, Monat, Jahr, Zyklen)« versteht. Zeitrechnung und Kalender sind gene‐ rell über die konkret durchaus unterschiedlich definierte Einheit ›Jahr‹ miteinander verknüpft. 4 Die Grundzüge der altägyptischen Zeitrechnung sind von Eggers (1959, 126 ff.) sehr prägnant zusammengefasst worden. Für eine schnelle Übersicht ferner v. Beckerath (1975) und Bickerman (1980, 40 ff. et pass.). Das letztgenannte Werk stellt darüber hinaus eine umfassende Einführung in die antike Chronologie dar. Sehr detaillierte Darlegungen finden sich auch bei Kaletsch 1965. Eine ausgezeichnete neuere Erörte‐ rung der wesentlichen Grundlagen und Ergebnisse der historisch-astronomischen absoluten Chronologie bietet ferner das Lexikon Alte Kulturen (Brunner/ Flessel/ Hiller 1990, 485 ff.). der absoluten Datierung als Archäologisch-Historische Methode zu bezeich‐ nen. 12.2 Grundaspekte der antiken Chronographie Die Archäologisch-Historische Methode der absoluten Datierung ist mithin auf das Vorhandensein schriftlich überlieferter Zeitrechnungen angewiesen, die ihrerseits wiederum an die Existenz von Kalendern gebunden sind. 3 Daher ist ihr Anwendungsbereich begrenzt, denn die altägyptische Zeit‐ rechnung, die dabei von herausragender Bedeutung ist, reicht lediglich bis an die Wende vom 4. zum 3. Jahrtausend zurück. Ihr lag als Standardein‐ heit ein Jahr mit der festgelegten Länge von 365 Tagen zugrunde. 4 Diese Standardeinheit, die gegenüber dem Sonnenjahr um einen Vierteltag zu kurz war, diente als Basis aller Zeitangaben. Die absolut-chronologische Fixierung dieser Zeitrechnung erfolgt durch zyklische astronomische Er‐ scheinungen, und zwar einerseits durch die Mondphasen und andererseits durch die Frühaufgänge des Fixsterns Sirius (Sothis). Nach einer längeren Zeit der Unsichtbarkeit zeigte der Aufgang des Sothis alljährlich den für die Landwirtschaft wichtigen Beginn der Nilüberschwemmungen an. Solche Naturphänomene wurden im Alten Ägypten nicht zuletzt aus religiösen Gründen beobachtet und zur zeitlichen Bestimmung historischer Ereignisse benutzt. So sind vor allem Neumonde und einige wenige Sothisaufgänge auf verschiedenen Denkmälern überliefert. Diese astronomischen Ereignisse werden dort direkt mit den jeweils regierenden Pharaonen verknüpft. Damit ist eine Verbindung zum zeitgenössischen ägyptischen Kalender hergestellt, 12.2 Grundaspekte der antiken Chronographie 345 <?page no="346"?> 5 Zum Folgenden vor allem Brunner/ Flessel/ Hiller 1990, 486. 6 Dabei handelte es sich um ›Jahresbeamte‹, das heißt um höchste Beamte, die für jeweils ein Jahr - das nach ihnen benannt wurde - tätig waren. Diese Institution war sowohl im Alten Orient als auch im antiken Griechenland und Rom üblich. so dass auf diese Weise sichere, das heißt astronomisch verankerte Daten gewonnen werden konnten. Das älteste so ermittelte Datum ist das Jahr 1991 v. Chr., das den Beginn der 12. Dynastie markiert. Die innere Gliederung der altägyptischen Zeitrechnung beruht auf verschiedenen Herrscherlisten, auf denen die Reihenfolge und die Regierungszeit der Könige bzw. Pharaonen verzeichnet sind. Auf dieser Basis wird die altägyptische Zeit vom Beginn des Alten Reichs um 3000 bis zur Eroberung Ägyptens durch Alexander d. Gr. im Jahre 332 v. Chr. in 31 Dynastien eingeteilt. Die absolute Chronologie für die 11. und 12. Dynastie (etwa 2040-1785) des Mittleren Reichs sowie für die Zeit nach 664 v. Chr. gilt als völlig, die des mit der 18. Dynastie um die Mitte des 16. Jahrhunderts v. Chr. beginnenden Neuen Reichs als weitgehend sicher. Im Allgemeinen bereitet jedoch die genaue zeitliche Fixierung der einzelnen Dynastien mit wenigen Ausnahmen bis heute mehr oder weniger große Schwierigkeiten. Das gilt insbesondere für die Frühzeit und das Alte Reich; so wird die Dauer der ersten drei Dynastien zwischen 300 und 500 Jahren angesetzt. Für die ersten fünf Dynastien schwankt der absolut-zeitliche Ansatz je nach Forscher zwischen rund 50 und 100 Jahren (v. Beckerath 1975). Die zweite wichtige Bezugsebene für frühe absolute Datierungen im urgeschichtlichen Bereich ist die historische Chronologie des Alten Orients. 5 Diese Chronologie beruht auf assyrischen und babylonischen Eponymen- 6 und Königslisten, die ihrerseits durch astronomische Erscheinungen und Synchronismen mit zeitlich fixierten Ereignissen anderer Länder, insbeson‐ dere Ägyptens, absolut-zeitlich bestimmt sind. Die historische Chronologie Assyriens basiert auf einer Sonnenfinsternis im Jahre 763 v. Chr. und erlaubt ab etwa 900 v. Chr. sichere Datierungen. Ab etwa 1180 v. Chr. weisen sie einen Fehler von 1 bis 2 Jahren auf, der sich ab dem Ende des 15. Jahrhunderts auf höchstens 10 Jahre vergrößert. Die absolute Chronologie Babyloniens ist nach 747 v. Chr. gesichert. Als ältestes unstrittiges historisches Datum gilt das Jahr 883/ 2 v. Chr. - alle früheren absoluten Zeitangaben sind aufgrund der unzureichenden Quellenlage proportional zur wachsenden zeitlichen Tiefe mit zunehmender Unsicherheit behaftet. Sie beträgt in der Mitte des 3. Jahrtausends bereits knapp 250 Jahre (Eggert/ Lüth 1987, 24 f.). Die 346 12 Kalendarische Zeit: Zum traditionellen Modus der absoluten Datierung <?page no="347"?> 7 Hierzu Eggers 1959, 123 ff. sowie Bickerman 1980, 27 ff., 43 ff., 70 ff. 8 Brunner/ Flessel/ Hiller 1990, 487. 9 Siehe Bickerman 1980, 77 f. sowie Brunner/ Flessel/ Hiller 1990, 488. assyrische und die babylonische Chronologie des 2. und 3. Jahrtausends sind durch wechselseitige Synchronismen voneinander abhängig; hinzu kommt eine teilweise Abhängigkeit von der ägyptischen Chronologie. Schließlich gibt es eine dritte Bezugsebene für die absolute Datierung der jüngeren Urgeschichte. Dabei handelt es sich um griechische und römische Zeitrechnungen, die jedoch ursprünglich keinem verbindlichen Standard unterworfen waren. 7 Von Timaios von Tauromenion (4./ 3. Jh. v. Chr.) oder von Eratosthenes von Kyrene (3. Jh. v. Chr.) wurden die alle vier Jahre stattfindenden panhellenischen Olympischen Spiele, für die seit dem frühen 5. Jahrhundert Siegerlisten geführt wurden, mit anderen chronologischen Zählungen verknüpft. Die Olympiadenrechnung bezog sich auf das Jahr 776 v. Chr.; in jenem Jahr sollen die ersten Olympischen Spiele stattgefunden haben. Durch den panhellenischen Charakter dieser Spiele war die Olympi‐ adenära im gesamten hellenistischen Bereich als zeitlicher Referenzrahmen von großer Bedeutung. Mit Eratosthenes wurde die Olympiadenzählung schließlich zur Grundlage der Chronologie der griechischen und - über ihre Verknüpfung mit der römischen Zählung der Konsulnjahre - auch der römischen Welt. 8 In Rom selbst gab es aber auch noch mehrere stadteigene Ärenzählungen, von denen die sogenannte ›Ära seit Gründung der Stadt‹ (ab urbe condita) am wichtigsten war. Dabei handelte es sich um relative Zeitbestimmungen, bei denen man den zeitlichen Abstand des zu datierenden Ereignisses zum Jahr der Gründung der Stadt Rom angab. Dieses Gründungsdatum war in der Antike allerdings umstritten: Die Angaben schwankten zumeist zwischen 759 und 748 v. Chr. Im 1. Jahrhundert v. Chr. hat man schließlich das Jahr 753 v. Chr. als Epochenjahr festgelegt; es ist auch heute noch der offizielle Bezugspunkt für die Gründung der Stadt Rom und damit für die Zählung der Stadtjahre. 9 12.3 Die Archäologisch-Historische Methode Durch die mannigfachen Verknüpfungen historischer Personen und Ereig‐ nisse mit den verschiedenen antiken Systemen der Zeitrechnung in der Alten Welt verfügen wir über eine alles in allem recht sichere absolute 12.3 Die Archäologisch-Historische Methode 347 <?page no="348"?> 10 Zu v. Merhart und die Forschung zur Vorrömischen Eisenzeit siehe Theune 2001. historische Chronologie. Sie reicht in der griechisch-römischen Welt bis in die Mitte des 8. Jahrhunderts v. Chr., im Alten Orient und in Ägypten hingegen bis an die Wende vom 3. zum 2. Jahrtausend zurück. Mit einem wachsenden Unsicherheitsfaktor lässt sich die absolute Zeitbestimmung für die altägyptische Kultur sogar bis an die Wende vom 4. zum 3.-Jahrtausend zurückverlängern; mit dem Schwellenjahr ›um 3000 v. Chr.‹ ist die äußerste Grenze der mit historischen Mitteln realisierbaren absoluten Zeitbestim‐ mung erreicht. Dieser Fixpunkt markiert folglich zugleich die äußerste Grenze der Bestimmung des absoluten Alters archäologischer Phänomene mit Hilfe der Archäologisch-Historischen Methode. Den methodischen Weg der archäologisch-historischen Datierung hat Eggers (1959, 147 ff.) in exemplarischer Klarheit an einem Beispiel dargelegt, in dessen Mittelpunkt ein urnenfelderzeitliches Brandgrab von Mühlau bei Innsbruck steht. Das in seinen relativ- und absolut-chronologischen Bezügen erstmals von Gero von Merhart (1930) eingehend gewürdigte Grab‐ inventar enthielt unter anderem eine Violinbogenfibel (›Peschierafibel‹) sowie ein für die nordtiroler Urnenfelder recht typisches Keramikgefäß mit ›Säulchenhenkeln‹ (Abb. 68, 11.22). 10 Das von Eggers gewählte Bei‐ spiel entspricht auch heute noch allen didaktischen Anforderungen einer Einführung. Es liegt daher nahe, es auch hier bei der Erläuterung der Archäologisch-Historischen Methode zu verwenden. Dies gilt umso mehr, als Eggers’ Vorgehensweise die methodischen Probleme, mit denen die Archäologisch-Historische Methode zu kämpfen hat, aufs beste illustriert. Für die Wiederverwendung dieses Beispiels spricht vor allem die Tatsache, dass damit unzähligen Studierenden des Fachs ›Ur- und Frühgeschichte‹ die Archäologisch-Historische Methode über einen Zeitraum von mehr als 60 Jahren vermittelt und ihre Konzeption dieser Methode davon wesentlich ge‐ prägt worden ist. Allerdings muss es heute darum gehen, die Stichhaltigkeit der Eggers’schen Argumentation auf der Basis des damaligen Forschungs‐ standes kritisch zu würdigen. Nur wenn die tatsächlichen Probleme archäo‐ logisch-historischer absoluter Datierung anhand dieses Beispiels aufgezeigt werden, seine didaktische Qualität also um eine inhaltlich angemessene Darstellung ergänzt wird, erfüllt es auch heute seinen Zweck. 348 12 Kalendarische Zeit: Zum traditionellen Modus der absoluten Datierung <?page no="349"?> Kalendarische Zeit: Zum traditionellen Modus der absoluten Datierung heit an einem Beispiel dargelegt, in dessen Mittelpunkt ein urnenfelderzeitliches Brandgrab von Mühlau bei Innsbruck stand. Das in seinen relativ- und absolut-chronologischen Bezügen erstmals von Gero v. Merhart (1930) eingehend gewürdigte Grabinventar enthielt unter anderem eine Violinbogenfibel (›Peschierafibel‹) sowie ein für die nordtiroler Urnenfelder recht typisches Keramikgefäß mit ›Säulchenhenkeln‹ (Abb. 79, 11; 22). Das von Eggers gewählte Bei- Abb. 79 Urnenfelderzeitliches Brandgrab von Mühlau bei Innsbruck. Abb. 68: Urnenfelderzeitliches Brandgrab von Mühlau bei Innsbruck. - Nach v. Merhart 1930, Taf. 11. Im Folgenden wird die Argumentation von Eggers so knapp, aber auch so präzis wie möglich nachgezeichnet. Daran schließt sich ein eingehender, kri‐ tischer Kommentar zu allen wesentlichen von ihm genannten Bezügen an. 12.3 Die Archäologisch-Historische Methode 349 <?page no="350"?> 11 Furumark 1941a. - Im Folgenden verwende ich für die spätmykenische Zeit die übliche Abkürzung ›SH III‹ (für ›Späthelladisch‹). 12 Zum Vorstehenden Eggers 1959, 147 f. 13 Eggers 1959, 144. Diese Zeitangabe (dazu Furumark 1941b, 57: etwa 1365 bis 1350 v. Chr.) widerspricht der zuvor von Eggers genannten Laufzeit der Bügelkannen. - Der von Eggers (1959, 143 Abb. 12, 149 Abb. 13) für Tell el-Amarna abgebildete Bügelkannentyp ist in der mykenischen Keramik dieses Fundplatzes nicht vertreten (siehe Hankey 1973, 134 Abb. 1; unsere Abb. 81 ist entsprechend korrigiert worden). Es bleibt unklar, wieso er diesen Typ mit Tell el-Amarna in Verbindung gebracht hat. 14 Der heutige Stand der absolut-chronologischen Diskussion findet sich in der zusam‐ menfassenden Arbeit von Warren und Hankey (1989); eine Einführung in die mykeni‐ sche Keramik bietet Mountjoy 1993. Dieser Kommentar bildet die Grundlage für eine generelle Einschätzung des Potenzials der Archäologisch-Historischen Methode absoluter Datierung. Es sei betont, dass es ausschließlich um eine Bewertung der im engeren Sinne archäologischen Beweisführung geht und nicht etwa um die Korrektur bestimmter, von Eggers verwendeter ägyptischer Daten, beispielsweise der Regierungszeit von ihm genannter Pharaonen. Mit der Peschierafibel von Mühlau schlug Eggers zunächst einmal den Bogen nach Mykene (Griechenland). Er verwies darauf, dass Violinbogenfi‐ beln dort zwar nicht in der Phase A, wohl aber in den Phasen B und C der von dem schwedischen Archäologen Arne Furumark (1903-1982) erarbeiteten Phasengliederung der spätmykenischen Keramik aufträten. 11 Sie liefen mit jüngeren spätmykenischen Bügelkannen parallel, die von rund 1300 bis spätestens 1150 v. Chr. in Gebrauch gewesen seien. 12 Bügelkannen insgesamt seien von rund 1350 bis 1150 v. Chr. anzusetzen. So habe man entsprechende Fragmente in Tell el-Amarna, der von dem Pharao Amenophis IV. - er nannte sich später »Echnaton« - erbauten Residenzstadt gefunden; sie könnten dort auf wenige Jahrzehnte festgelegt werden, und zwar auf den Zeitraum von etwa 1375 bis 1350 v. Chr. 13 Die in Tell el-Amarna gefundene spätmykenische Keramik datiere allerdings in die Phase SH III A. Eine Bügelkanne habe sich auch in einem Grab »einer nubischen Nekropole, 160 km nilaufwärts von Assuan« gefunden, das sicher in die Zeit von Ramses II. (1292-1225 v. Chr.) gehöre. Schließlich seien mehrere Bügelkannen auf einer Wandmalerei im Grabe Ramses III. (1198-1167 v.-Chr.) dargestellt (Eggers 1959, 145). Die absolut-chronologischen Darlegungen von Eggers zur mykenischen Keramik müssen allerdings mit einem gewissen Vorbehalt versehen werden. Dies ergibt ein Vergleich mit den immer noch grundlegenden Ausführungen von Furumark (1941b, 110 ff.). 14 Der von Eggers (1959, 148) für »jüngere 350 12 Kalendarische Zeit: Zum traditionellen Modus der absoluten Datierung <?page no="351"?> 15 Hierzu Furumark 1941b, 91 ff. 16 Bei Fimmen (1924, 166) heißt es: »Grab 1 der nubischen Nekropole 131 ungefähr 160 km nilaufwärts von Assuan« (entsprechend ebd. 99). Der auch sonst in Eggers’Einführung zu beobachtende sehr großzügige und gelegentlich auch unkritische Umgang mit der von ihm benutzten, im Anhang lediglich pauschal nach Kapiteln aufgeführten Literatur ist in dem Abschnitt über »Ägypten, Kreta und Griechenland« besonders deutlich. Bügelkannen« in Mykene gegebene Zeitraum »von rund 1300 bis 1200 bzw. 1150« wird nicht näher begründet. Sein Beginn ist vermutlich indirekt aus der Tatsache abgeleitet, dass es in Griechenland keine Geschlossenen Funde von Violinbogenfibeln und SH III A-Keramik gibt. 15 Furumark (1941b, 115) lässt SH III B mit 1300 beginnen; die Phase SH III C1 - sie führt Violinbogenfibeln - endet bei ihm mit 1125. Somit bleibt offen, aus welcher Quelle Eggers das Enddatum »1200 bzw. 1150« gewonnen hat. Bei seinen Ausführungen über »Ägypten, Kreta und Griechenland«, die oben knapp referiert wurden, hat sich Eggers (1959, 137 ff.) - ohne dass dies aus seinem Text hervorginge - weitgehend an die 1921 posthum erschienene erste Auflage der zusammenfassenden Untersuchung Die kretisch-mykeni‐ sche Kultur von Diedrich Fimmen (1886-1916) gehalten; auch die von ihm in seine vergleichende Chronologietabelle integrierten Abbildungen einschlägiger kretisch-mykenischer bzw. ägyptischer Funde (Eggers ebd. 143 Abb. 12) sind mit einer Ausnahme diesem Werk entnommen. Darin fehlt allerdings das von Eggers im Text angesprochene nubische Grab. 16 Es war damals noch unveröffentlicht und auch Fimmen mit Ausnahme einer kleinen Bügelkanne im Museum von Elephantine nur vom Hörensagen bekannt. Soweit ich sehe, ist dieses Grab mit seinen weiteren Funden, die nach Aussage von Fimmens Gewährsmann »eine ganz sichere Datierung des Grabes in die Regierungszeit Ramses’ II. erlauben« (Fimmen 1924, 166) im Kontext der einschlägigen Chronologiediskussion nie wieder erwähnt worden. Es überrascht, dass Eggers ein derart dubioses Ensemble anführt, auf der anderen Seite aber das 1921 ausgegrabene und 1927 veröffentlichte Grab 605 der Nekropole von Gurob in Unterägypten, das außer einer SH III B-zeitlichen Bügelkanne unter anderem auch einen Skarabäus von Ramses II. enthielt, nicht erwähnt. Dabei wird es - allerdings etwas verschlüsselt - in der von ihm benutzten Arbeit von Furumark (1941b, 113 mit Anm. 8) genannt. Dieses Grab ist in seiner chronologischen Bedeutung vor einigen Jahrzehnten von Martha R. Bell (1941-1991) ausführlich analysiert und gewürdigt worden (Bell 1985). Was die von Eggers herangezogene Wandmalerei im Grabe von Ramses III. angeht, hat Fimmen (1924, 208 f.) 12.3 Die Archäologisch-Historische Methode 351 <?page no="352"?> 17 Eggers (1959, 149 Abb. 13) hat zwar von Fimmen (1924, 209 Abb. 202) die Abbildung der Bügelkannen aus dem Grabe Ramses’ III. übernommen (siehe unsere Abb. 60), dessen negative Einschätzung des Datierungspotenzials dieser Kannen aber ignoriert. 18 Bei Furumarks (1941b, 91 ff.) Verknüpfung von Violinbogenfibeln und spätmykenischer Keramik spielten weder Bügelkannen noch irgendein anderer bestimmter keramischer Typ eine Rolle. Insofern ist es auf den ersten Blick sehr merkwürdig, dass Eggers sich ausschließlich auf die Bügelkannen konzentriert hat. Im Übrigen gibt es, wenn ich rich‐ tig sehe, bei den wenigen Fibeln vom Violinbogenschema vom griechischen Festland und der ionischen Insel Kephallenia, die mit spätmykenischer Keramik vergesellschaf‐ tet sind, nur fünf Fälle, in denen sie zusammen mit Bügelkannen gefunden wurden; zumindest bei zwei dieser Grabkomplexe erscheint die Geschlossenheit fraglich (Kilian 1985, 163, 165, 171 f., 180, 182). Es liegt daher nahe anzunehmen, dass Eggers sich bei der Betonung dieses Keramiktyps von didaktischen und graphisch-gestalterischen Überlegungen leiten ließ. seinerzeit mit sehr guten Argumenten darauf aufmerksam gemacht, dass man »diese Darstellungen von Vasen mit ganz unmykenischer Ornamentik […] gewiß nicht« für die Datierung mykenischer Keramik benutzen dürfe. Dies gilt auch heute noch. 17 Selbst wenn wir gemäß unserem Anliegen einmal unterstellten, dass die hier angeführten chronologischen Verbindungen über jeden Zweifel erhaben seien, verkörpert der über die Violinbogenfibel ermittelte zeitliche ›Fixpunkt‹ bereits ein erstes methodisches Problem. Folgt man der von Eggers auf der Grundlage von Furumarks Chronologie über Ägypten vorge‐ nommenen absoluten Datierung der Vergesellschaftung von Violinbogenfi‐ beln und Bügelkannen (bzw. von SH III B- und SH III C1-Keramik 18 ), wären diese Fibeln von etwa 1300 bis 1150 v. Chr., also rund 150 Jahre, in Gebrauch gewesen. Mit einer derart großen Datierungsspanne hätte die Violinbogen‐ fibel des Brandgrabes von Mühlau zum Zeitpunkt des ersten Erscheinens der Einführung in die Vorgeschichte (1959) keine große Aussagekraft für die absolut-chronologische Fixierung der Stufe Ha-A besessen. Daher wundert man sich, dass dieses Grab auch in dem im gleichen Jahr von H. Müller-Karpe (1959, 227) vorgelegten Werk Beiträge zur Chronologie der Urnenfelderzeit nördlich und südlich der Alpen eine wichtige Rolle spielt: Dort wird es neben anderen nordtiroler Gräbern für die absolute Datierung der nordalpinen Phase Ha A1 ins 12. Jahrhundert herangezogen. Müller-Karpes Argumen‐ tation beruht dabei auf einer sehr differenzierten relativ-chronologischen Gliederung des italischen spätbronze- und urnenfelderzeitlichen Materials, dessen Frühphase er mit Hilfe mykenischer Keramik der Phasen SH III A, SH III B und SH III C1 bzw. ihrer ägyptischen Verknüpfungen absolut datieren zu können meint, ohne dies jedoch im Einzelnen zu belegen. Nur 352 12 Kalendarische Zeit: Zum traditionellen Modus der absoluten Datierung <?page no="353"?> 19 Hierzu v. Merhart 1930, 118 ff.; ders. 1942, 71 ff. 20 Siehe oben, S. 352 mit Anm. 18. 21 Auch Müller-Karpe (1959, 34) machte auf die in dieser Hinsicht unbefriedigende Befundlage in Griechenland aufmerksam. Sicher sei nur, dass der »Bronzeformenkreis der Peschieradolche, Violinbogenfibeln, mittelständigen Lappenbeile usw. […] in der Stufe SH III B vorhanden war; ein unmittelbarer Nachweis aus der Stufe SH III A, das heißt dem 14. Jahrhundert« stehe noch aus. Dies besage jedoch bei den »wenigen überhaupt einigermaßen bestimmbaren mykenischen Funden dieser Art nicht viel«; man müsse es vielmehr »als durchaus wahrscheinlich« bezeichnen, dass diese Typen noch ins 14.-Jahrhundert hinabreichten. wenn man seiner inneren Differenzierung der zeitgenössischen italischen Kulturen oder den prinzipiell ähnlichen Vorstellungen v. Merharts 19 folgt, kann das Brandgrab von Mühlau jene Funktion übernehmen, die ihm auch Eggers - allerdings ohne dies zu begründen - für die Urnenfelderkultur zuwies. In unserem Zusammenhang kommt aber den generellen Schwierigkei‐ ten, die mit der absolut-chronologischen Festlegung der Violinbogenfibeln verknüpft sind, besonderes Gewicht zu. Sie ergeben sich aus der oben erwähnten Tatsache, 20 dass seinerzeit vom griechischen Boden - wie schon v. Merhart (1942, 72 f.) in Auseinandersetzung mit Furumarks (1941b, 91 ff.) Darlegungen feststellte - lediglich rund eine Handvoll Fibeln vom Violinbogenschema (Violinbogen- und Blattbügelfibeln) aus mehr oder weniger eindeutigen Vergesellschaftungen mit spätmykenischer Keramik vorlagen. 21 Nun repräsentiert gerade dieser Fibeltyp - wie Müller-Karpe (1959, 90) zu Recht festgestellt hat - einen der wichtigsten Stützpfeiler für die Synchronisierung der griechischen, nordwestbalkanischen und italischen »Kulturstufen«. Daher kommt der Frage, wo diese Fibel entstanden ist - man hat an Oberitalien, Griechenland und den Nordbalkanraum gedacht -, eine herausragende Rolle in der Chronologiediskussion zu. Immerhin ist damit schließlich das Problem etwaiger, davon abhängiger sekundärer Verbreitungsgebiete und daraus resultierender zeitlicher Verschiebungen aufs engste verknüpft. Das hat bereits Merhart, der eine Entstehung der Violinbogenfibel im Nordbalkanraum favorisierte, klar und treffend formu‐ 12.3 Die Archäologisch-Historische Methode 353 <?page no="354"?> 22 v. Merhart (1930, 119) schrieb: »Alle Ansätze beruhen doch letzten Endes auf subjektiver Anschauung über Entstehungsgebiet und Wanderweg der Form. Wird ihre Urheimat in Oberitalien, ihr Alter in Griechenland mit 1400-1200 v. Chr. angenommen, so erklärt sich der Ansatz von 1500 für ihr erstes Erscheinen in Italien. Läßt man sie von Griechenland her eindringen und hält man die ganze, nur Violinbogenfibeln führende Terramareschicht für ein Aequivalent oder gar für eine Randfazies der Übergangskultur mit ihren Neubildungen, dann kann man das erste Erscheinen in Italien irgendwann ins 13. Jahrhundert, in den fernnördlichen Terramaren sogar noch später setzen. Denkt man schließlich an ein Einwandern nach Griechenland wie auch Oberitalien vom dritten Ort her, so wird man bei dem augenfälligen Parallelismus zwischen den Formen beider Gebiete ungefähre Zeitgleichheit nicht gerne ablehnen. Eine Bestandszeit von 200 und mehr Jahren für die beiderseits nicht allzu zahlreichen und nicht sehr variierenden Stücke ist aber vielleicht etwas zu hoch gegriffen.« 23 Kilian 1985, 202. liert, als er sich für einen Zeitansatz des Mühlauer Grabes »um 1200 v. Chr.« aussprach. 22 Angesichts dieser Sachlage überrascht es, dass Eggers auf die erheblichen methodischen Probleme, die sich daraus ergaben, mit keinem Wort einging. Es sei beiläufig erwähnt, dass wir in dieser Hinsicht auch heute noch nicht sehr viel weiter sind. In einer umfassenden Erörterung der Violinbogen- und Blattbügelfibeln des griechischen Festlands kam Klaus Kilian (1939-1992) zu dem Ergebnis, dass weder die oberitalienischen Uferrand- und Terrama‐ restationen als »primäres Entwicklungszentrum« noch der nordwestbalka‐ nische Raum als »Entstehungsheimat« der Violinbogenfibeln angesehen werden könne; dies gelte auch für Griechenland, dessen Violinbogenfibeln »einen eigenen Entwicklungsbereich« verkörperten. Er nahm daher an, dass es in allen drei Regionen zu einer zeitlich parallelen, »bodenständigen Herausbildung« mit »wechselseitigen Kontakten« gekommen sei. 23 Für uns ergibt sich aus der Betrachtung der spätmykenischen Bügelkan‐ nen und der Violinbogenfibeln, dass in die Übertragung von absoluten Datierungen mannigfache und notgedrungen oft sehr subjektive Annahmen über die zeitlich-kulturelle Position der für die Synchronisation verwende‐ ten Objekte eingehen. Dies hängt eng mit der Einschätzung der inneren Differenzierung nicht nur der ›gebenden‹ und der ›aufnehmenden‹ Kul‐ tur, sondern auch der Beurteilung der kulturellen Verhältnisse etwaiger Zwischenstationen zusammen. Von dieser Gesamteinschätzung wird die kulturelle Verknüpfung und damit die zeitliche Position der datierenden Gegenstände unmittelbar bestimmt. In diesem Bereich liegt zweifellos einer der neuralgischen Punkte der Archäologisch-Historischen Methode. 354 12 Kalendarische Zeit: Zum traditionellen Modus der absoluten Datierung <?page no="355"?> Methodisch noch bedenklicher als der Umgang mit den Synchronisati‐ onsobjekten ist die Tatsache, dass Eggers (1959, 148) über die sogenannte »Säulchen-Urne« von Mühlau eine Verbindung zu einem formal und orna‐ mental entfernt ähnlichen Gefäß aus einem Zentralgrab in einem Hügel der Per. IV von Fanger, ehemals Kr. Naugard in Pommern, herstellte (Abb. 69, 12). Er hatte den Grabhügel im Jahre 1938 selbst ausgegraben (Eggers 1940). Außer diesem Gefäß mit vier großen randständigen und einem kleinen Henkel enthielt das Brandrab weitere keramische Beigaben. Das terrinen‐ artige Fünfhenkelgefäß, ließ - wie Eggers (1940, 179) seinerzeit betonte - eine Beeinflussung durch die Keramik der Lausitzer Kultur vermuten. In Pommern gibt es - wenn ich richtig sehe - für dieses Gefäß keine Parallelen. Einige Jahre zuvor waren von der gleichen Fundstelle verschiedene Bronzen, unter anderem eine nordische Plattenfibel der Per. IV bekanntgeworden, die Eggers ebenfalls diesem Grab zuwies (Abb. 69, 3). Mit Hilfe der Fibel verknüpfte er nunmehr das Grab von Fanger mit einem Brandgrab im Kung Björns Hög bei Håga im südöstlichen Schweden (Uppland). Es enthielt eine ähnliche, allerdings reich verzierte und mit einem Goldblechüberzug versehene Plattenfibel. Neben weiteren Metallbeigaben, darunter ein Griff‐ zungenschwert der Per. IV, barg man aus diesem Grab nach Eggers (1959, 150) auch »mehrere Ziernägel und Spiralröllchen aus feinstem Golddraht«, die er folgendermaßen kommentierte: »[…] genaue Gegenstücke fanden sich übrigens in dem Grabe von Mühlau, also eine weitere Beziehung, diesmal sogar eine direkte, unter Umgehung von Fanger«. Eggers (1959, 150) zufolge hat dieses »Beispiel der Importbeziehungen um 1200 v.-Chr., das uns von Ägypten über Griechenland nach Tirol und weiter über Pommern bis hinauf nach Schweden führte« gezeigt, »wie etwa der moderne Prähistoriker arbeitet, wenn er über weite Entfernungen hinweg die absolute Chronologie eines Landes wenigstens ungefähr festlegen will«. »Natürlich«, so fügte er allerdings sogleich einschränkend hinzu, »sind die Dinge in Wirklichkeit weit komplizierter, als es unsere Karte […] mit den in Art eines ›Dominospieles‹ zusammenpassenden Funden darstellt« (Abb. 60). 12.3 Die Archäologisch-Historische Methode 355 <?page no="356"?> Abb. 69: Jungbronzezeitliches Brandgrab von Fanger, ehemals Kr. Naugard, Pommern. - Nach Eggers 1940, Taf. 2 und Kunkel 1939, Taf. 7. Hier muss man allerdings der kaum verhohlenen Ansicht von Eggers widersprechen, dass der didaktische Zweck jedes Mittel heiligt: Gerade in einer Einführung darf dem didaktischen Anliegen nicht die methodische Stringenz geopfert werden. Dies gilt im vorliegenden Fall nicht nur für die spätmykenische Keramik und die Violinbogenfibeln, sondern auch für den Vergleich ›Mühlau - Fanger‹: Es ist mit archäologischer Methodik unver‐ einbar, keramische Traditionen, die durch rund 850 Kilometer voneinander getrennt sind und nicht das Geringste miteinander zu tun haben, über ein formales und ein ornamentales Detail (randständige Henkel bzw. halbkreis‐ förmige Buckelumrandungen) eines einzigen Keramikgefäßes zueinander 356 12 Kalendarische Zeit: Zum traditionellen Modus der absoluten Datierung <?page no="357"?> 24 Der Klarheit halber sei darauf hingewiesen, dass die anderen drei Gefäße des Grabs von Fanger keinerlei Ähnlichkeit mit der Keramik der nordtiroler Urnenfelder aufweisen (vgl. Abb. 68 mit Abb. 69 und den Tafeln bei Wagner 1943). in Beziehung zu setzen. 24 Dies wäre nur dann akzeptabel, wenn das Gefäß von Fanger als Importstück aus dem Bereich der nordtiroler Urnenfelder angesehen werden könnte - das wurde allerdings auch von Eggers nicht angenommen. Abb. 70: Importbeziehungen um 1200 v.-Chr. - Nach Eggers 1959, 149 Abb. 53. 12.3 Die Archäologisch-Historische Methode 357 <?page no="358"?> 25 Schachermeyr (1939, 279) meinte damit einen Modus des Vergleichs, dem nicht eine »solide Erforschung des Kontaktes der miteinander in engerer Beziehung stehenden Völker und Kulturen« zugrunde gelegt wird, sondern bei dem es sich stattdessen um einen Vergleich von »zeitlich schwankenden, isolierten Einzeltypen« handelt. 26 Die Festlegung, was als ›einheimisch‹ und was als ›fremd‹ zu gelten hat, muss in Bezug auf die datierte oder die zu datierende Kultur festgelegt werden. Hier und im Folgenden werden die beiden Begriffe aus der Sicht der datierten Kultur bestimmt. 27 Die Violinbogenfibeln erfüllen diese Bedingung trotz ihrer scharfen Formengliederung und der erörterten relativ-chronologischen Differenzierung der zugehörigen kulturel‐ len Verhältnisse aus den dargelegten, von v. Merhart formulierten Gründen nur in eingeschränktem Maße. Dieses Beispiel der sogenannten »Importbeziehungen um 1200 v. Chr.« entspricht aufs beste jenem Modus des überregionalen Vergleichs, den der Althistoriker Fritz Schachermeyr (1895-1987) einmal mit dem abwer‐ tenden, aber sehr treffenden Etikett »Siebenmeilenstiefel-Vergleichung« belegt hat. 25 Es lehrt uns, dass bei einem chronologisch intendierten Ver‐ gleich gewisse Grundregeln eingehalten werden müssen, damit die Archäo‐ logisch-Historische Methode dabei nicht zu einer »Siebenmeilenstiefel-Me‐ thode« (ebd. 280) degeneriert: (1) Man unterscheidet grundsätzlich zwischen der datierten oder datierenden und der zu datierenden Kultur. Die datierte, also absolut-zeitlich bestimmte Kultur dient als Ausgangspunkt für die entsprechende Fixierung der zu datierenden Kultur. Die absolut-zeitliche Fixierung der zu datierenden Kultur erfolgt durch Funde, die sowohl einheimische (autochthone) als auch fremde (allochthone) Formen enthalten. 26 (2) Jene Objekte, die zur absolut-zeitlichen Bestimmung der zu datierenden Kultur dienen, sollten eine möglichst eng begrenzte Laufzeit aufweisen. 27 Die Laufzeit, also jener Zeitraum, in der das betreffende Objekt in der einstigen Kultur verfüg‐ bar gewesen ist und daher deponiert werden konnte, ist a priori unbekannt; sie lässt sich auch bei günstigsten absoluten Datierungsbedingungen nicht festlegen, da sie selbst unter solchen Umständen nur für ein einziges konkretes Objekt, nicht aber für das gesamte Spektrum identischer oder jedenfalls weitgehend ähnlicher Exemplare bestimmt werden könnte. Eine erste Einschätzung der Länge 358 12 Kalendarische Zeit: Zum traditionellen Modus der absoluten Datierung <?page no="359"?> 28 Das grundsätzliche Problem der Laufzeit aller für eine Synchronisation herangezogenen Objekte ist von Hankey und Warren (1974, 145) sehr prägnant am Beispiel ägäischer Keramik in datierten Fundzusammenhängen des südöstlichen Mittelmeerraumes for‐ muliert worden: »The presence of Aegean pottery in a dated context in the south-eas‐ tern Mediterranean demonstrates its existence at the time of the deposit, but does not tell us when the pottery was made and in fashion in the Aegean, how long was its journey to the eastern market by direct or indirect trade, or how long it was used or kept before being laid in a tomb, or broken, or lost in a violent event.« 29 Die oben erwähnten, von Eggers genannten Ziernägel und goldenen Spiraldrahtröll‐ chen erfüllen diese Bedingung nicht. 30 Diese Bedingung ist im hier erörterten Fall nicht erfüllt. 31 Da zwischen Mühlau und Fanger keine Zwischenstationen vorliegen, ist dieser Sach‐ verhalt hier irrelevant. 32 Der Unsicherheitsfaktor der Datierung nimmt mit der Zahl der auf diese Weise indirekt miteinander verknüpften Befunde als Glieder einer »Kettendatierung« - so der Terminus bei H. Parzinger (1993, 14 et pass.) - zu. der Laufzeit eines Typs ergibt sich aus der Variabilität des mit ihm assoziierten Materials. 28 (3) Das zur Verknüpfung herangezogene Material muss formal und/ oder orna‐ mental hinreichend differenziert sein, um als Synchronisationsmedium dienen zu können. 29 (4) Kulturelle und damit auch zeitliche Verknüpfungen sind nur dann statthaft, wenn der allgemeine Kontext und das zur Verknüpfung verwendete archäologi‐ sche Material die Existenz von Kulturbeziehungen zumindest möglich erscheinen lassen; direkte Vergleiche über große Distanzen sollten daher vermieden wer‐ den. 30 (5) Mit wachsender Zahl der Stationen zwischen der datierten und der zu datierenden Kultur erhöht sich die Wahrscheinlichkeit eines engeren kulturellen Zusammenhangs der so verknüpften Regionalkulturen. Zugleich und im direkten Verhältnis zur zunehmenden räumlichen Distanz der absolut-chronologisch zu verknüpfenden Kulturen verringert sich allerdings auch die Stabilität der Synchronisation. 31 Vom generellen Verfahren her ist es gleichgültig, ob die Verknüpfung der datierten mit der zu datierenden Kultur über ein oder mehrere autochthone und/ oder allochthone Objekte direkt hergestellt wird oder ob die beiden Kulturen über entsprechende Objekte in einer oder mehreren Zwischen‐ stationen gewissermaßen etappenweise und damit indirekt verbunden werden (siehe Punkt 6). 32 Generell ist festzuhalten, dass die Sicherheit einer chronologi‐ 12.3 Die Archäologisch-Historische Methode 359 <?page no="360"?> 33 Die hier umrissene Problematik gilt natürlich nicht nur im Kontext absoluter Datierung auf archäologisch-historischem Wege, sondern für jedwede Verknüpfung archäologi‐ scher Kulturen aufgrund charakteristischer Funde. In diesem Zusammenhang konsul‐ tiere man z. B. die entsprechenden auf Siedlungen bezogenen Ausführungen von Parzinger (1993, 13 ff.), der die dem Verfahren inhärenten Schwierigkeiten allerdings mit Hilfe eines nicht überzeugenden Horizontkonzepts zu überwinden bzw. abzumildern sucht; hierzu auch Petrasch 1997, 417; 418; Stöllner 1999b, 202 Anm. 15. 34 Auch dieser Sachverhalt ist für den hier interessierenden Fall bedeutungslos, da kein Import vorliegt. schen Verknüpfung mit der Zahl einschlägiger ›direkter‹ Assoziationen einer ›Kettendatierung‹ wächst. 33 (6) Der Import eines datierten Objekts in eine zu datierende Kultur bietet aus sich selbst heraus keinerlei Gewähr für ein chronologisch enges Verhältnis zwischen Ursprungs- und Endkontext, da sich nicht feststellen lässt, über welche zeitlichen und räumlichen Etappen das betreffende Objekt an seinen Auffindungsort gelangt ist. 34 Die Wahrscheinlichkeit der chronologischen Nähe beider Phänomene nimmt mit der Zahl der Verknüpfungen zu. Die chronologisch intendierte Verknüpfung zweier Kulturen kann im Übrigen sowohl über autochthone Objekte im zu datierenden Kontext (Abb. 71, 1) als auch über allochthone Objekte im datierten Kontext erfolgen (Abb. 71, 2). Darüber hinaus lässt sich auch die Vergesellschaf‐ tung autochthoner und allochthoner Objekte in einem dritten (vierten usw.) Kulturzusammenhang für die absolut-zeitliche Bestimmung der zu datierenden Kultur heranziehen (Abb. 71, 3). 360 12 Kalendarische Zeit: Zum traditionellen Modus der absoluten Datierung <?page no="361"?> Abb. 71: Prinzip der Kettendatierung. - Entwurf Verf. 12.4 Neuere Arbeiten zu altweltlichen Kulturbeziehungen Aus der Betrachtung der »Importbeziehungen um 1200 v. Chr.« dürfte deutlich geworden sein, dass die Ergebnisse der Archäologisch-Historischen Methode unter dem Aspekt der Qualität und Quantität der ihnen zugrunde liegenden Verknüpfungen gewertet werden müssen. In der Vergangenheit ist man in dieser Hinsicht oft zu großzügig gewesen. Da es allzu viele ›Siebenmeilenstiefel-Vergleiche‹ gegeben hat, verwundert es nicht, dass die Archäologisch-Historische Methode heute recht zurückhaltend beurteilt wird. Angesichts dieser Grundstimmung wirken erneute konventionelle Zusammenstellungen altbekannter und in vielen Teilen zu Recht als frag‐ würdig erachteter ›Zeugnisse‹ altweltlicher Kulturbeziehungen zwischen 12.4 Neuere Arbeiten zu altweltlichen Kulturbeziehungen 361 <?page no="362"?> 35 Schauer 1983; ders. 1984; ders. 1985. 36 Die Überschrift dieses Unterkapitel (»Neuere Arbeiten zu altweltlichen Kulturbezie‐ hungen«) bezieht sich auf die Niederschrift des Manuskripts zur 1. Auflage. Aus didaktischen Gründen erschien mir der Wiederabdruck auch in der 5. Auflage sinnvoll. 37 Hänsel ging dabei von Radiokohlenstoffdaten seiner Grabung Kastanas in Nordgrie‐ chenland aus. dem ägäisch-vorderorientalischen Raum und Europa, wie sie Peter Schauer ohne eingehende quellenkritische Analyse vorgelegt hat, 35 wenig hilfreich. 36 In den hier interessierenden Zusammenhang gehört auch ein von Bern‐ hard Hänsel (1982) veröffentlichter großer Versuch der Zusammenschau einschlägiger Funde der zweiten Hälfte des 2. Jahrtausends v. Chr. in Südosteuropa. Ihm ging es darum, auf Basis teils alter, teils neuer direkter Formvergleiche zwischen Griechenland und dem Karpatenbecken ein im Gegensatz zu Schauers Arbeiten von vornherein absolut-chronologisch in‐ tendiertes Gesamtbild Südosteuropas zu entwerfen. Obwohl er dabei einige den Aussagewert relativierende Überlegungen mit einfließen ließ (ebd. bes. 5, 18 ff.), ist es ihm doch nicht gelungen, mit dieser Abhandlung die insge‐ samt zurückhaltende Beurteilung des Potenzials der Archäologisch-Histo‐ rischen Methode positiv zu beeinflussen. Seine Darlegungen leiden nicht zuletzt darunter, dass er seine Argumentation auf eine methodologisch inkonsequente Opposition von Radiokohlenstoff- und Archäologisch-His‐ torischer Methode gründet. 37 Angesichts des statistischen Charakters aller 14 C-Daten und der Nichtidentität von Radiokarbon- und Sonnenjahren ist klar, dass die Radiokarbonmethode unter bestimmten, die historische Aussagefähigkeit der Daten einschränkenden Bedingungen operiert. Es erscheint aber nicht angemessen, diesem Datierungsverfahren den von Hänsel (ebd. 19) propagierten »Einzelvergleich zweier Gegenstände aus verschiedenen Fundlandschaften« als weit effektiveres methodisches Mit‐ tel gegenüberzustellen. Eine nähere, über seine eigenen, oben erwähnten kritischen Erwägungen hinausgehende Betrachtung der Aussagekraft der Archäologisch-Historischen Methode hätte hier - wie der ›Fall Mühlau‹ gezeigt hat - sehr schnell ergeben, dass die angeblich »direkteste und daher beste Methode zur absoluten Datenfindung« (ebd.) ebenfalls mit erheblichen Einschränkungen behaftet ist. Inhaltlich gesehen werden Hänsels Ausführungen durch die Tatsache unterminiert, dass er die traditionelle absolut-chronologische Gleichung ›16. Jahrhundert = mykenische Schachtgräberzeit = Phase Reinecke BZ A2‹ 362 12 Kalendarische Zeit: Zum traditionellen Modus der absoluten Datierung <?page no="363"?> 38 Hänsel 1982, 1, 5ff., 20. 39 Die genauen Daten lauten wie folgt: Leubingen 1942 ± 10 v. Chr.; Helmsdorf 1840 ± 10 v.-Chr. (Becker et al. 1989, 304, 307; Becker/ Krause/ Kromer 1989, 427). 40 Der letzte Satz der Abhandlung von Gerloff (1993, 86) lautet: »Abschließend können wir feststellen, daß […] die Thesen der ›Mittelmeerkontakte und Fernbeziehungen‹ der frühen Bronzezeit Mittel- und Westeuropas kein Trugschluß der traditionellen Forschung waren, sondern daß sie ein ernstzunehmendes Phänomen der frühen Bronzezeit darstellen, und daß sie deshalb […] endgültig ›rehabilitiert‹ werden sollten.« 41 Angedeutet bei Hänsel (1982, 7f., 20f.) und Gerloff (1975, 88ff., 98f.). 42 Zur Forschungsgeschichte siehe Krause 1988. - Die traditionelle Auffassung hat Mül‐ ler-Karpe (1977), eingebettet in ein vorderorientalisch-ägäisch inspiriertes »Gesamtbild der altbronzezeitlichen Geschichte Europas«, prägnant zusammengefasst (ebd. 64). zu retten bzw. wiederzubeleben versucht. 38 Inzwischen liegen Dendrodaten von Hölzern aus den reichen Bestattungen von Leubingen und Helmsdorf ins 20. bzw. 19. vorchristliche Jahrhundert vor. Beide Gräber gehören der entwi‐ ckelten Aunjetitzer Kultur, also der Phase BZ A2 an. Damit ist endgültig klar, dass die Gleichung, die Hänsel wiederzubeleben suchte, nicht aufrechterhalten werden kann. 39 Gut zehn Jahre nach Hänsels Abhandlung von 1982 hat sich Sabine Gerloff (1993) der gleichen Fragestellung unter einem allerdings erheb‐ lich erweiterten sowie räumlich und zeitlich unterschiedlichen Blickwinkel angenommen. Ihr ging es einerseits um einen systematischen Vergleich der Radiokohlenstoff- und Dendrodaten in Europa und im Vorderen Orient, ande‐ rerseits aber um die Konfrontation dieser Daten mit den herkömmlichen, auf archäologisch-historischem Wege gewonnenen Datierungen frühbronzezeit‐ licher Kulturerscheinungen in Mittel- und Nordwesteuropa. Im Mittelpunkt ihrer Darlegungen stand der Versuch, die traditionelle, jedoch seit Ende der 1960er Jahre insbesondere von Renfrew (1968) unter dem provokativen Titel »Wessex without Mycenae« in Frage gestellte These angeblicher Kul‐ turbeziehungen zwischen der englischen Wessex-Kultur und der Kultur der mykenischen Schachtgräber auf einer neuen Datenbasis zu »rehabilitieren«. 40 Renfrew war aufgrund der seinerzeit zur Verfügung stehenden kalibrierten 14 C-Daten zu dem Ergebnis gekommen, dass die Wessex-Kultur um 1700 v.-Chr. endete und daher nicht mehr existierte, als die erste Phase der Myke‐ nischen Kultur (SH I) um 1600 v. Chr. einsetzte. Damit waren die gängigen Thesen einer das Bronzehandwerk und die Sozialstruktur der mittel- und westeuropäischen Frühbronzezeit mehr oder weniger prägenden kulturellen Beeinflussung durch Mykene 41 offenbar ad absurdum geführt worden. 42 Gerloff, die sich in ihrer Oxforder Dissertation (1975) intensiv mit der Wessex-Kultur, und zwar insbesondere mit den zugehörigen Dolchen aus‐ 12.4 Neuere Arbeiten zu altweltlichen Kulturbeziehungen 363 <?page no="364"?> 43 Siehe Gerloff 1993, 77 Abb. 9 mit 95 f. Liste 4 Nr. 18-22. Das mit 1881-1638 cal BC erheblich ältere Wessex II-Datum von Shaugh Moor (ebd. 96 Nr. 22) ist merkwürdiger‐ weise nicht in die Abb. 9 integriert worden. - In einem Aufsatz von 1973 (Renfrew 1973b, 222 f.) sowie in einer Vorbemerkung zum Wiederabdruck seines Aufsatzes von 1968 hat Renfrew (1979b, 281) übrigens eingeräumt, dass die nach 1968 bekanntgewordenen Radiokarbondaten zur Wessex-Kultur jünger ausgefallen sind als er erwartet hatte. 44 Hierzu Gerloff 1993, 95 Nr.-13-17. einandergesetzt hat, weist noch einmal auf die gängige Differenzierung die‐ ser Kultur in zwei Stufen (Wessex I und Wessex II) hin (ebd. 75 ff.). Renfrew konnte seinerzeit, da es keine 14 C-Daten zur Wessex-Kultur gab, nur indirekt mit Hilfe entsprechender Daten der späten britischen Becherkulturen sowie der bretonischen Frühbronzezeit und der Aunjetitzer Kultur argumentieren. Inzwischen hatte sich insofern eine beträchtliche Veränderung ergeben, als nunmehr erstmals Radiokohlenstoffdaten für die Stufe II der Wessex-Kultur zur Verfügung standen. 43 Darüber hinaus konnte Gerloff Daten für einige irische und englische Grabfunde, die aufgrund ihres Inventars wohl mit der Stufe Wessex I zu parallelisieren sind, auswerten. 44 Das Gesamtergebnis unter Berücksichtigung auch der mitteleuropäischen Radiokarbon- und Dendrodaten zur Frühbronzezeit ist insofern höchst interessant, als jetzt kein Zweifel mehr daran besteht, dass »sowohl die Wessex-Kultur als auch die Phase Reinecke Bz A2 zum Zeitpunkt der frühesten Schachtgräber schon seit mindestens zwei Jahrhunderten voll ausgebildet« waren (ebd. 81). Trotz dieser aufgrund der Datenlage unabweislichen Schlussfolgerung sieht Gerloff damit keineswegs die These von Renfrew bestätigt - im Gegenteil. Die Daten für die Stufe Wessex II zeigen ihrer Ansicht nach nämlich, dass »der Übergang von Wessex I zu II, der in den spätesten Abschnitt der mitteleuropäischen Frühbronzezeit (A2/ B1 gleich A3) fällt, in das 16., eventuell auch schon in das ausgehende 17. Jahrhundert zu setzen ist« (ebd. 78). Somit könne die These Renfrews »in der damals formulierten Art« nicht mehr aufrechterhalten werden. Es sei nunmehr sicher, dass »ein entwickelter Abschnitt sowohl der frühen Wessexkultur (Wessex I) als auch der mitteleuropäischen Phase Bz A2 sehr wohl mit der ausgehenden Mittel- und der beginnenden Spätbronzezeit der Ägäis zeitgleich ist« (ebd. 81). Wie immer man die vieldiskutierten Kulturbeziehungen zwischen der Schachtgräberzeit der Mykenischen Kultur und Mittelsowie Westeuropa beurteilen mag: Es steht fest, dass bisher kein einziges eindeutiges mykeni‐ sches Objekt in einem Grabinventar der Wessex-Kultur gefunden wurde. Wohl aber gibt es eine Reihe von Gegenständen der Wessex-Kultur, die hin‐ 364 12 Kalendarische Zeit: Zum traditionellen Modus der absoluten Datierung <?page no="365"?> 45 Gerloff 1993, 79 ff. mit weiterer Lit. 46 Hierzu z.-B. Krause 1988, 156 ff. 47 Gerloff (1993, 81) schreibt: »Wir müssen jedoch davon ausgehen, daß die primären Impulse der Verbindung Wessex - Mykene zu Beginn der Schachtgräberzeit aus Westeuropa kamen, und daß die in den mykenischen Schachtgräbern manifestierte Kultur nicht, wie bisher angenommen, der gebende Partner bzw. das auslösende Moment in dieser Verbindung war.« 48 Renfrew hatte schon 1979, als er einräumte, die im Anschluss an seinen Aufsatz von 1968 veröffentlichten 14 C-Daten zur Wessex-Kultur fielen jünger aus als seinerzeit von ihm erwartet, darauf hingewiesen, dass es ihm im Wesentlichen auf die kulturge‐ schichtlichen Konsequenzen, nicht aber auf chronologische Detailfragen ankam. Im Anschluss an einen Kommentar zu den neuen Daten und einer von McKerrell 1972 vorgeschlagenen Kalibrationskurve, die die traditionell unterstellte Gleichzeitigkeit der Wessex-Kultur und Mykene ergab, stellte er fest: »[…] even if his calibration curve were a valid one, it would certainly not of itself re-establish that once plausible notion of a European early bronze age, dependent upon the Mycenaean world for its metallurgical skills, its metal forms, its system of social ranking and its economic development« (Renfrew 1979b, 282). Ähnlich hatte er bereits fünf Jahre nach der Veröffentlichung von »Wessex without Mycenae« reagiert, als die ersten relativ jungen Daten vorlagen: Er räumte ein, dass nunmehr wohl doch mit einer teilweisen Gleichzeitigkeit zu rechnen sei, konzentrierte sich dann aber auf die kulturgeschichtlichen und sozialarchäologi‐ schen Implikationen der Wessex-Kultur (Renfrew 1973b). 49 Unter ›Hinabdatierung‹ verstehe ich hier eine Datierung, die gegenüber einer vorher‐ gehenden Zeitbestimmung älter ausfällt (siehe Eggert/ Lüth 1987, 18 Anm. 11). sichtlich ihrer Form bzw. Verzierung Entsprechungen im mykenisch-minoi‐ schen Bereich besitzen. 45 Über die kulturgeschichtliche Interpretation dieser Erscheinungen besteht jedoch keine Einigkeit. 46 Wenn man bedenkt, dass auch für Gerloff (1993, 81) kein Zweifel an der Priorität der frühbronzezeit‐ lichen Kulturen West- und damit natürlich auch Mitteleuropas gegenüber der Mykenischen Kultur besteht, 47 dann erscheint ihre ›Relativierung‹ der These Renfrews für die zentrale Problematik eher nachgeordnet. 48 Aus der Betrachtung dieser zum Zeitpunkt der Abfassung des Manu‐ skripts der 1. Auflage dieses Buchs neueren Arbeiten zu altweltlichen Kul‐ turbeziehungen wird deutlich, dass die Archäologisch-Historische Methode durchaus noch ein wichtiges Verfahren der absoluten Datierung darstellt. Dabei müssen allerdings die einschränkenden Bedingungen berücksichtigt werden, unter denen diese Methode zu operieren hat. Diese Tatsache wurde durch die Hinabdatierung 49 der Frühen Bronzezeit Mitteleuropas, die wir allein der Dendrochronologie und Radiokohlenstoffmethode verdanken, nachhaltig demonstriert. Die derzeit bekannten naturwissenschaftlich ge‐ wonnenen Daten für das Ende der mitteleuropäischen Frühbronzezeit lassen 12.4 Neuere Arbeiten zu altweltlichen Kulturbeziehungen 365 <?page no="366"?> 50 Zur Geschichte des Zusammenhangs von Dendrochronologie und Kalibrierung der Radiokohlenstoffdaten knapp Becker 1992. 51 Zur damaligen Chronologiediskussion siehe Eggert 1988a/ 2023. kaum einen Zweifel daran, dass dieses Ende im Wesentlichen mit dem frühen SH I, also dem Beginn der Mykenischen Kultur, zusammenfällt. 12.5 Naturwissenschaftliche kontra archäologisch-historische Zeitbestimmung Angesichts der mannigfachen Unbekannten, die eine eindeutige Beurteilung absolut-chronologischer Relationen im Rahmen der Archäologisch-Histori‐ schen Methode beeinträchtigen, verwundert es nicht, dass mit ihrer Hilfe auch bei strengster Beachtung der methodischen Prinzipien in aller Regel nur sehr allgemeine Zeitbestimmungen vorgenommen werden können. Wie wenig präzis diese Methode vor allem dann ist, wenn der dabei zu überwindende Raum groß und entsprechende Assoziationen rar sind, zeigte sich in einem ganz besonderen Maße seit den späten 1950er Jahren am Beispiel des europäischen Neolithikums. Seinerzeit konfrontierte man die von Vladimir Milojčić traditionell, das heißt auf archäologisch-historischem Wege gewonnenen und von ihm bis zu seinem Tode vehement verteidigten Datierungen zunehmend mit den meist um Jahrhunderte abweichenden Radiokohlenstoff- oder 14 C-Daten. Dass die traditionellen Datierungen der verschiedenen neolithischen Kulturen unter keinen Umständen mehr aufrechtzuerhalten waren, wurde in dem Augenblick deutlich, als eine mitteleuropäische Standardkurve für Eichenholz erarbeitet war und damit eine Eichung bzw. ›Kalibration‹ oder ›Kalibrierung‹ der konventionellen Radiokarbondaten möglich wurde. 50 Um das Ausmaß dessen würdigen zu können, was sich seit dem Ende der 1950er Jahre auf dem Felde der Vergleichenden Chronologie verändert hat, genügt eine Gegenüberstellung der entsprechenden Darlegungen in Eggers’ Einführung und der heutigen Situation. Eggers (1959, 150 f.) ließ das mitteleuropäische Neolithikum um 2700 und die Bronzezeit um 1600 v. Chr. beginnen. Er vermittelte bei seiner Erörterung der Archäologisch-Histori‐ schen Methode die traditionelle Chronologiekonzeption, ein Bild, das für das Neolithikum bereits vor der Veröffentlichung seiner Einführung in Frage gestellt worden war. 51 Auch wenn man in Rechnung stellt, dass die von ihm gegebenen Datierungen konservativ, das heißt zu hoch angesetzt waren, 366 12 Kalendarische Zeit: Zum traditionellen Modus der absoluten Datierung <?page no="367"?> 52 Nach dem derzeitigen Stand der 14 C-Datierung wird die Linearbandkeramik als »um 5500 v. Chr. zwischen Westungarn und dem Rhein fertig ausgebildet« angesehen (Lüning 1996, 45 mit weit. Lit.). Für die Aunjetitzer Kultur lege ich hier die bereits oben angeführten Dendrodaten der frühbronzezeitlichen ›Fürstengräber‹ von Leubingen und Helmsdorf zugrunde; siehe oben, Kap.-12.4, S.-363 Anm. 39. 53 Siehe Eggert/ Lüth 1987; Eggert/ Wotzka 1987; Eggert 1988a/ 2023; Wotzka 1990. 54 Freilich hatte es vier Jahrzehnte lang niemand gewagt, die meist hinter vorgehalte‐ ner Hand weitergegebene Einschätzung des Milojčić’schen Chronologiesystems zu veröffentlichen und damit aus dem Umfeld von Gerüchten und nicht belegten An‐ schuldigungen herauszuheben. Dies wirft ein bezeichnendes Licht auf das fachinterne Selbstverständnis nicht nur bis Ende der 1970er Jahre. 55 Es konnte gezeigt werden, dass die von Eggers (1959, 142 f. mit Abb. 20 u. 21) angeführten und auch graphisch veranschaulichten (ebd. 143 Abb. 12) chronologischen Verknüpfungen zwischen Ägypten und Kreta für die Mittelminoische Zeit - und damit zugleich für die absolute Datierung des mitteleuropäischen Neolithikums - weitgehend unbrauchbar sind. Für Einzelheiten siehe Eggert/ Wotzka 1987 und Wotzka 1990. ist der Unterschied der seinerzeit als gültig erachteten archäologisch-histo‐ rischen Datierungen zu den heutigen Zeitansätzen dennoch außerordentlich groß. Er beträgt für die frühe Linearbandkeramik mehr als zweitausend und für die entwickelte Phase der Frühen Bronzezeit (Bz A2 nach Reinecke, das heißt entwickelte Aunjetitzer Kultur) rund 250 bis 350 Jahre. 52 In diesem Zusammenhang muss allerdings festgestellt werden, dass die traditionelle, auf Milojčić zurückgehende Datierung des Neolithikums niemals eine kriti‐ sche Überprüfung erfahren hat. Als dann schließlich sehr verspätet, nämlich beinah 40 Jahre nach dem Erscheinen seiner als grundlegend erachteten Habilitationsschrift (Milojčić 1949), eine forschungsgeschichtliche Aufar‐ beitung erschien, 53 fand sie kaum positive Resonanz: sie wurde zumeist als ein posthum ehrabschneidendes Unterfangen oder mit Schulterzucken - das alles wisse man doch längst 54 - aufgenommen. Jedenfalls ergab diese retrospektive Analyse, dass die von Milojčić so hartnäckig verteidigte archäologisch-historische Chronologie auf einer höchst fragwürdigen Basis beruhte. Insofern täuschten auch die von Eggers referierten absoluten Datierungen eine Sicherheit vor, die in Wirklichkeit nicht gegeben war. 55 Diese Tatsache muss in unserem Zusammenhang besonders betont werden, denn der erhebliche Altersunterschied zwischen der traditionellen und der Radiokohlenstoffdatierung des Neolithikums beruhte nicht allein auf dem bestenfalls höchst approximativen Datierungswert der Archäologisch-His‐ torischen Methode. Hier spielte vielmehr auch die wenig professionelle Art und Weise, in der diese Methode auf die Datierung des südost- und mitteleu‐ ropäischen Neolithikums angewendet worden war, eine wesentliche Rolle. 12.5 Naturwissenschaftliche kontra archäologisch-historische Zeitbestimmung 367 <?page no="368"?> 56 Zur absoluten, auf die Radiokarbonmethode und Dendrochronologie gegründeten Datierung der mitteleuropäischen Bronzezeit siehe Rassmann 1996; Rychner/ Böhrin‐ ger/ Gassmann 1996; Schopper 1996. 57 Hierzu konsultiere man die einschlägigen Kalibrationskurven: Reimer et al. 2004, 1057 Fig. A12; ferner Pearson/ Stuiver 1993, 28 Fig. 1A; Stuiver/ Pearson 1993, 12 Fig. 1E; Stuiver/ Becker 1993, 45 Fig. 2E; 46 Fig. 2F. 58 Bei einer Verdoppelung der Standardabweichung wächst die Wahrscheinlichkeit, dass das gemessene Alter innerhalb der durch das Datum angegebenen Zeitspanne liegt, von 68,3 auf 95,4%. 59 Zur Chronologie der Hallstatt- und Frühen Latènezeit siehe Guggisberg 2006; Trachsel 2004; speziell zur Heuneburg: J. Pape 2000. Anders als bei der Zeitbestimmung des Neolithikums und der Bronzezeit 56 ist die archäologisch-historische Datierung für die Vorchristliche Eisenzeit Europas immer noch außerordentlich wichtig, sofern keine dendrochrono‐ logischen Altersbestimmungen möglich sind. Die Radiokohlenstoffmethode ist hier aus mehreren Gründen meist nicht genügend aussagefähig. Zum einen verläuft die Kalibrationskurve im Zeitraum von etwa 750 bis 400 und von 330 bis 200 v. Chr. dermaßen flach, dass einem gegebenen kon‐ ventionellen Radiokarbondatum nicht nur ein, sondern mehrere mögliche Kalenderdaten entsprechen. 57 Daraus ergibt sich ein gegenüber der traditio‐ nellen Datierung entschieden zu großer zeitlicher Spielraum. Der gleiche Effekt wird durch den statistischen Charakter der 14 C-Daten bewirkt: will man sich ›im sicheren Bereich‹ eines 14 C-Datums bewegen, so verdoppelt man die Standardabweichung; 58 auch dadurch erhält man für die Frühe Eisenzeit inakzeptabel große Zeitspannen. Trotz mancher inhärenten Schwierigkeiten hat sich die ab der Späthall‐ stattzeit, also dem späten 6. Jahrhundert v. Chr., alles in allem doch recht gute und entlang der Zeitachse zunehmend dichter werdende Verknüpfung der nordalpinen Kulturen mit dem absolut datierten mediterranen Süden als hinreichend stabil erwiesen. 59 Insgesamt ist aber klar, dass die Dendrochro‐ nologie in diesem Bereich eine immer wichtigere Rolle spielt (z. B. Fried‐ rich/ Hennig 1995). Dabei kommt es bisweilen zu Widersprüchen zwischen den naturwissenschaftlich gewonnenen Daten und der archäologischen Grundlage bzw. ihrer kulturhistorischen Interpretation. Als ein besonders interessanter und zugleich komplexer Fall kann die Datierung des jüngsten Tores der Heuneburg bei Herbertingen-Hundersingen, Kr. Sigmaringen (Baden-Württemberg), gelten. Michael Friedrich (1996) hat 13 verkohlte Eichenbohlen aus der Fahrbahn des Tores der letzten Heuneburgperiode (Bauperiode Ia, Baustadium 4) 368 12 Kalendarische Zeit: Zum traditionellen Modus der absoluten Datierung <?page no="369"?> 60 Siehe hierzu Gersbach 1996b, 135 ff. 61 Knapp resümiert von Gersbach (1996b, 135 f.). Mit diesem Zeitansatz formuliert Gersbach eine Gegenposition zur gängigen archäologisch-historischen Datierung. Danach wäre die Lehmziegelmauerburg um 520 v. Chr. und die Heuneburg insgesamt um 440 v. Chr. durch Brand zerstört worden. Beides lässt sich für ihn nicht »mit der Baufolge und dem Fundstoff« in Einklang bringen. 62 Hier geht es einerseits um Importgut und andererseits um Überlegungen zur Lebens‐ dauer von Befestigungswerken, die wesentlich unter Verwendung von Holz erbaut sind. dendrochronologisch datiert. Davon sind 12 nach seiner Meinung aufgrund des Verlaufs ihrer Jahrringkurven aus dem Stamm einer einzigen Eiche gewonnen worden (ebd. 174). Das dafür ermittelte Fälldatum liegt mit hoher Sicherheit zwischen 530 und 510 v. Chr. (ebd. 179 f.). Geht man von diesem Datum aus, müsste die Eiche, aus der diese Fahrbahnbohlen gespalten wurden, zu einem Zeitpunkt gefällt worden sein, der nach Egon Gersbach (1921-2020), dem Ausgräber der Heuneburg, noch vor dem Wiederaufbau der Lehmziegelmauerburg in Bauperiode IVa/ 1, Baustadium 12, gelegen hat (Gersbach 1996b, 138). Die Burg war in einer Feuersbrunst in Bauperiode IVa/ 2, Baustadium 13, zerstört worden (Abb. 83). Mit einer erneuten Brand‐ katastrophe nach dem Wiederaufbau - Gersbach (1995, 176) denkt an eine »Brandschatzung als Schlußakt einer kriegerischen Auseinandersetzung« - fand die Lehmziegelmauerburg dann ihr Ende. Es wird von Gersbach (1996b, 135) um 500 v. Chr. angesetzt. Diese Einschätzung beruht einerseits auf der archäologisch-historischen Datierung von attischer Keramik, die sowohl auf der Heuneburg als auch in reich ausgestatteten späthallstatt- und frühlatènezeitlichen Gräbern gefunden wurde, und andererseits auf sonstigem mediterranen Importgut in nordalpinem Grabkontext, das nach derselben Methode datiert worden ist. 60 Aufgrund verschiedener Gesichts‐ punkte - darunter nicht zuletzt die acht Perioden der nunmehr mit einer Holz-Erde-Mauer umwehrten befestigten Siedlung, die auf die endgültige Zerstörung der Lehmziegelmauerburg folgte - datiert Gersbach das Ende der Heuneburg mit dem Brand in Periode Ia (Baustadium 4) um 400 v. Chr. 61 Da die von Friedrich datierten Fahrbahnbohlen aus dem Fundzusam‐ menhang der in Periode Ia, Baustadium 4, endgültig durch Feuer zerstörten Heuneburg stammen, ist das dendrochronologisch ermittelte Datum von 520 ± 10 v. Chr. - wie Gersbach (1996b, 138) unmissverständlich feststellt - mit der archäologisch-historischen Datierung der Lehmziegelmauerzeit »schlechterdings unvereinbar«. Da es höchst unwahrscheinlich ist, dass der auf archäologisch-historischem Wege gewonnene Zeitansatz 62 um mehr 12.5 Naturwissenschaftliche kontra archäologisch-historische Zeitbestimmung 369 <?page no="370"?> 63 Dieser Schluss wird zwar von Kurz nicht ausgesprochen, aber seine Argumentation läuft darauf hinaus. als einige wenige Jahrzehnte älter sein könnte, kann die Auflösung des Dilemmas nur im Bereich der Dendrochronologie liegen. Dafür zeichnen sich derzeit zwei Möglichkeiten ab, die im Folgenden erörtert werden sollen. Siegfried Kurz (1952-2014) hat sich 2006 unter anderem in Auseinan‐ dersetzung mit einem Aufsatz von Ursula Brosseder und Eckart Sauter (2003) über die Heuneburg sowie einem darin enthaltenen Beitrag von Stefan Schwenzer intensiv mit der relativen und absoluten Datierung der Heuneburg befasst. Da er mit den von Brosseder und Sauter vorgetragenen Argumenten zur absoluten Datierung der auf der Heuneburg gefundenen attischen Keramik und ihren relativ-chronologischen Überlegungen weit‐ gehend übereinstimmt, muss das hier nicht näher kommentiert werden. Wichtiger ist seine Erörterung des von Friedrich ermittelten Dendrodatums. Er bringt zwei Überlegungen vor, die die Qualität dieser Datierung nach seiner Ansicht in Frage stellen. Dabei geht es zum einen um die Bedeutung der »Vollständigkeit der Probenserie« und zum anderen um die Meinung Friedrichs, 12 der 13 Fahrbahnbohlen seien aus ein und derselben Eiche gewonnen worden (Kurz 2006, 15 f.). Mit Hilfe eines hypothetischen Beispiels vermag Kurz zu zeigen, dass mit den aus dem jüngsten Tor der Heuneburg vorliegenden Fahrbahnbohlen möglicherweise eine ›unvollständige‹ Probenserie erfasst wurde. Sollte das zutreffen, wäre das ermittelte Datum für die Datierung des Tors insofern irrelevant, als jüngere Hölzer der Toranlage, etwa aufgrund ihres Erhal‐ tungszustandes, nicht datiert wurden bzw. werden konnten. 63 Folgt man Kurz, müsste man allerdings erklären, warum Hölzer so unterschiedlichen Alters in ein und demselben Tor verbaut worden sind. Zu dieser Frage äußert er sich leider nicht. 370 12 Kalendarische Zeit: Zum traditionellen Modus der absoluten Datierung <?page no="371"?> Abb. 72: Stratigraphische und absolute Datierung des jüngsten Tors der Heuneburg bei Herbertingen-Hundersingen, Kr. Sigmaringen (Baden-Württemberg). (ZZKM = Zweizellige Kastenmauer; LZM = Lehmziegelmauer; BWKM = Blockwerkkastenmauer; BR = Brand; Probe = Stratigr. Position der Dendroprobe; Datum = Dendrochron. Bestimmung der Probe; Importdaten nach E. Sauter in Brosseder/ Sauter 2003.) - Nach Gersbach 1996a, 3 Abb. 2 und Kurz 2006, 2 Abb. 1; ebd. 13 Abb. 7. 12.5 Naturwissenschaftliche kontra archäologisch-historische Zeitbestimmung 371 <?page no="372"?> 64 Allerdings hatte Friedrich (1995, 294 f.) ursprünglich auch Probe 9 - sie stammt von einer Radnabe -, wie oben bereits erwähnt, demselben Eichenstamm wie Probe 1 und 7 zugeordnet. Warum er 2001 davon abgesehen hat, bleibt leider offen. Die zweite Überlegung von Kurz geht davon aus, dass die von Friedrich angeführten Gründe für die These, 12 Bohlen stammten aus ein und demselben Eichenstamm, nicht stichhaltig sind. Hierbei bezieht er sich auf eine seines Erachtens inhaltlich gleiche Beweisführung, die Friedrich (Friedrich/ Hennig 1995, 294 f.) zunächst für Hölzer der Grabkammer und des Wagens des hallstattzeitlichen Grabs von Wehringen im Ldkr. Augsburg veröffentlicht hat. Aufgrund des Grabplans habe er davon jedoch später (Friedrich 2001, 139) - ohne dass sich die holzanatomischen Gegebenheiten in irgendeiner Weise verändert hätten - Abstand genommen (Kurz 2006, 18). Schaut man sich daraufhin die beiden Arbeiten von Friedrich an, zeigt sich, dass Kurz dessen Darlegungen etwas einseitig interpretiert hat. Die letzte Aussage von Friedrich weicht von der von 1995 nur insoweit ab, als er von den ursprünglich genannten drei Proben (Probe 1, 7 und 9) in seiner Publikation von 2001 nur noch von zweien (Probe 1 und 7) spricht, die »sehr wahrscheinlich aus Holz derselben Eiche« stammten. Für das Anliegen von Kurz ist es de facto unerheblich, dass Friedrich (2001, 139) dabei aufgrund des Befundplans feststellen musste, eine der beiden (Probe 7) könne nicht mehr länger als zum Wagen gehörig betrachtet, sondern müsse ebenfalls der Kammer zugeordnet werden. 64 Vergegenwärtigt man sich, dass das Wehringer Beispiel der Zuordnung von Hölzern zu ein und demselben Baum lediglich auf drei bzw. zwei Proben - gegenüber zwölf von der Heuneburg - beruht, wird man das Argument von Kurz zu relativieren haben. Alles in allem sind seine Überlegungen zweifellos wichtig, vermögen aber nach meiner Meinung das Friedrich’sche Datum nicht zu erschüttern. Die zweite grundsätzliche Möglichkeit, den Widerspruch zwischen Fäll‐ datum und Fundkontext aufzulösen, besteht in der Annahme, bei den datierten Bohlen habe es sich um Altholz gehandelt. Da Friedrich (1996, 179) unterstellt, das »äußerst harte, getrocknete Eichenholz« habe eine Bearbeitung mit den damaligen Werkzeugen »kaum« zugelassen, nimmt er eine Zurichtung und Verarbeitung »in saftfrischem Zustand« an (ebd. 180). Dieser Ansicht neigt offenbar auch Gersbach (1996b, 138) zu, wenngleich er einschränkt, Altholz habe »allenfalls von den nicht abgebrannten Bauten der Perioden II/ 9-Ib1/ 5 stammen können«. Dagegen ist einzuwenden, dass 372 12 Kalendarische Zeit: Zum traditionellen Modus der absoluten Datierung <?page no="373"?> 65 Gersbach 1995, 95 ff. mit Abb. 62 u. 78. 66 Die vorstehenden Überlegungen zur Zweitverwendung der im Heuneburgtor verbau‐ ten Spaltbohlen verdanke ich Gero Schwerdtner M.-A., der sich eingehend mit diesem Problem in zwei Seminaren von Prof. H. Reim an der Universität Tübingen beschäftigt hat (briefl. Mitt. vom 9.02.2002). Spaltbohlen seit der Linienbandkeramik hergestellt und in unterschiedli‐ chen Anlagen verbaut worden sind. Spuren solcher Bohlen wurden auch in älteren Perioden der Heuneburg (Per. IVc-IVa) nachgewiesen. 65 Im Übrigen lässt sich durchaus nicht ausschließen, dass geeignetes Altholz aus aufgelassenen Bauten in Siedlungen der Umgebung für Bautätigkeiten auf der Heuneburg genutzt wurde. Vorausgesetzt, in solchen Bauten sei genügend Holz vorhanden gewesen, wäre es sogar denkbar, dass daraus mehrere Bohlen geborgen werden konnten, die aus einem einzigen Stamm gespalten worden waren. Was die Härte alter Eichenbohlen betrifft, darf man getrost davon ausgehen, dass dieses Holz mit den zur Verfügung stehenden Werkzeugen ohne Weiteres auf das gewünschte Maß gekürzt werden konnte. 66 Darüber hinaus erscheint es durchaus nicht gesichert, dass sich mit den damaligen Werkzeugen nicht auch abgelagertes Eichenholz spalten ließ. Es gibt aber noch eine andere Möglichkeit. Da saftfrisches Holz für Fahrbahnbohlen sicher nicht so geeignet war wie abgelagertes Holz, wäre auch vorstellbar, dass die Bohlen aus saftfrischen Bäumen gespalten und vor der Verbauung erst einmal gelagert wurden. Nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand muss man meines Erachtens davon ausgehen, dass es sich bei den Fahrbahnbohlen des jüngsten Heune‐ burgtores um Altholz handelt. Jede alternative Hypothese hätte entweder die archäologisch-historische Datierung des Fundkontexts in Zweifel zu ziehen oder aber gravierende Fehler in der dendrochronologischen Bestim‐ mung zu unterstellen. Für beides fehlen mir hinreichende Gründe. 12.5 Naturwissenschaftliche kontra archäologisch-historische Zeitbestimmung 373 <?page no="375"?> 13 Raum und Zeit: Synchrone und diachrone Aspekte von Fund- und Befundbildern 13.1 Zur räumlichen Analyse archäologischer Quellen Während die zeitliche Stellung archäologischer Funde und Befunde nicht ohne Weiteres ersichtlich ist, besteht über ihre räumliche Position nur dann ein Zweifel, wenn ihr Auffindungsort nicht gesichert erscheint. Die ›Fundstelle‹ bildet die zentrale Größe aller Bemühungen, archäologische Hinterlassenschaften räumlich zu ordnen. Erst wenn ein bestimmter lokaler Fund oder Befund mit solchen anderer Fundstellen verglichen wird, ist es möglich, isolierte und daher zunächst nur sehr begrenzt aussagefähige Einzelerscheinungen in einen größeren Zusammenhang zu stellen und damit schließlich zur Basis einer historischen Deutung zu machen. Die zentrale Wichtigkeit des Vergleichs von Funden und Befunden für die Archäologie ist von Sangmeister (1967, 201 ff.) betont und gerade auch im Kontext ihrer räumlichen Verteilung erörtert worden. Wie groß die geographische Vergleichseinheit in einem konkreten Falle sein sollte, hängt von der jeweiligen Fragestellung ab. Grundsätzlich gilt, dass die komparative Betrachtung archäologischer Erscheinungen verschiedener Fundstellen ein und desselben Fundorts die unterste Ebene einer solchen räumlichen Einheit bildet. Wie alle historischen Gebilde sind auch archäologische Kulturerschei‐ nungen durch die Dimensionen ›Zeit‹ und ›Raum‹ bestimmt. In der For‐ schungspraxis wird sich die vergleichende räumliche Betrachtung archäo‐ logischer Funde und Befunde daher immer vor dem Hintergrund einer möglichst feinen relativen Chronologie der entsprechenden Phänomene vollziehen. Dabei lässt sich die Analyse je nach Fragestellung auf zwei unterschiedlichen Ebenen durchführen. Bei der synchronen Betrachtungs‐ weise vergleicht man Phänomene, die als mehr oder weniger zeitgleich anzusehen sind, während sich die diachrone Betrachtungsweise mit der Veränderung dieser Phänomene in einer bestimmten Zeitspanne befasst. Die in der Archäologie interessierenden raum- und zeitgebundenen Kul‐ turerscheinungen - etwa politische oder verwandtschaftliche Verbände, Kultgemeinschaften oder Austausch- und Handelsnetze - lassen sich in den Quellen nicht ›an sich‹, als direkt fassbare Größen studieren. Es ist vielmehr <?page no="376"?> 1 Kartiert wurden verschiedene Typen von Bronzebeilen, Ruder- und Scheibenkopfna‐ deln sowie Fibeln der Bronze- und Vorrömischen Eisenzeit. 2 Siehe hierzu auch Kiekebusch 1929. 3 Zur Zielsetzung ferner Lissauer (1906, 817 f.): »[Die Typenkarten] sollen nur auf einen Blick dartun, welche Verbindungen die ehemaligen Bewohner Deutschlands mit dem Auslande und untereinander unterhalten haben und welche Grenzen dem Verkehr damals gesteckt waren; sie sollen ferner auf einen Blick dartun, ob und wo die nötig, die materiellen Hinterlassenschaften ur- und frühgeschichtlicher Gemeinschaften auf etwaige Hinweise solcher Beziehungen zu untersuchen, diese Phänomene dann in ihrem zeitlichen und räumlichen Zusammenhang zu analysieren und schließlich zu lokalen und regionalen Fund- und Be‐ fundkomplexen zusammenzuführen. Erst wenn eine solche analytische Differenzierung und Aufbereitung der archäologischen Phänomene erfolgt ist, kann an ihre historische Deutung gedacht werden. Die räumliche Verteilung archäologischer Funde und Befunde ist bereits im 19. Jahrhundert von der sich allmählich etablierenden systematischen Ur- und Frühgeschichtsforschung als ein wesentliches Element der Quellen er‐ kannt und berücksichtigt worden (Gummel 1938, 234 ff., 335 ff.). Dabei muss insbesondere die Tätigkeit einer von der Deutschen Anthropologischen Gesellschaft eingesetzten »Kommission für prähistorische Typenkarten« gewürdigt werden. Sie veröffentlichte in den Jahren 1904 bis 1913 zunächst (bis 1908) unter Federführung von Abraham Lissauer (1832-1908) und dann von Robert Beltz (1854-1942) in der Zeitschrift für Ethnologie insgesamt sechs Berichte, die eine vollständige Erfassung und Kartierung bestimmter Gruppen von Metallartefakten anstrebten. 1 Der Kartierung dieser Objekt‐ gruppen ging eine für die damalige Zeit vorbildliche und auch aus heutiger Sicht noch bemerkenswerte formbezogene Differenzierung der Artefakte voraus. Die Berichte und Typenkarten dieser Kommission stellten einen Meilenstein in der Erforschung der mitteleuropäischen Bronze- und Eisen‐ zeit dar. 2 Mit ihnen war eine erste solide Grundlage für eine archäologische Chorologie (griech. chóra; chóros, Raum) geschaffen, deren methodische Basis 1901 von Albert Voss (1837-1906) bzw. 1903 von Lissauer knapp und prägnant dargelegt wurde. Es ging in den Worten Lissauers darum, »eine möglichst vollständige und zuverlässige Grundlage für die objective Bear‐ beitung der Vorgeschichte«, mithin »ein authentisches Quellenmaterial« zu schaffen, damit »eine sichere Abgrenzung der archäologischen Provinzen ermöglicht und damit ein fester Boden für den Aufbau einer Vorgeschichte der deutschen Volksstämme gewonnen« werde (ebd. 124). 3 Während Lis‐ 376 13 Raum und Zeit: Synchrone und diachrone Aspekte von Fund- und Befundbildern <?page no="377"?> prähistorischen Bewohner unseres Vaterlandes eine eigene Industrie erzeugt haben, sei es dass sie importierte Formen hier umgestaltet oder dass sie ganz neue Formen selbständig geschaffen haben. Dass dadurch viele Fundstücke zum ersten Mal bekannt werden, dass die Fundnotizen auch eine relative chronologische Bestimmung der Typen ermöglichen, ist nur ein sekundärer Nutzen, den diese Karten haben. Wer aber eine vollständige Inventarisierung aller gleichen Funde und eine absolute chronologische Bestimmung derselben von den Typenkarten verlangt, der stellt ihnen eine Aufgabe, deren Lösung weder von der Zentral-Kommission beabsichtigt wird, noch überhaupt mit den verfügbaren Kräften zu erreichen ist. Es eignen sich überhaupt nur solche Gegenstände zur kartographischen Darstellung, welche in geographisch begrenzten Gebieten verschiedene Formen zeigen, nicht solche, welche überall in gleicher Form auftreten und nicht solche, welche überhaupt nur selten gefunden werden.« sauer den nationalen Aspekt betonte, hob Voss (1901, 28) hervor, dass die Typenerfassung und Typenkartierung »in allen Ländern Europas in gleicher Weise ausgeführt, und so ein gleichartiges Netz über ganz Europa ausgebreitet« werden solle, »um das Ursprungs-Gebiet, als welches das Gebiet des häufigsten Vorkommens mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen sein würde, festzulegen, und die Wege, sowie die Grenzen der Ausbreitung in ihrem ganzen Umfange bestimmen zu können.« Dabei sei es wichtig, vor der Kartierung »auf stilistisch-vergleichendem Wege die Bestimmung der Haupt- oder Grundform, sowie die der Neben- und verwandten Formen« vorzunehmen und »für jeden Typus […] eine besondere Karte von genau bestimmtem Format herzustellen«. Dieses ambitionierte Programm konnte seinerzeit allerdings nicht verwirklicht werden. Die mit der »prähistorischen Kartographie« der Deutschen Anthropolo‐ gischen Gesellschaft begründete archäologische Chorologie wurde erstmals von K. H. Jacob-Friesen (1928, 120 ff.) systematisch behandelt. Er unterschied drei Varianten dieser von ihm als »Verbreitungslehre« bzw. »Fundgeogra‐ phie« bezeichneten Forschungsrichtung. Sie ruhten auf jeweils eigenen Faktoren, die seiner Meinung nach die Verbreitung archäologischer Phäno‐ mene mehr oder weniger direkt beeinflussten bzw. bewirkten, nämlich erstens die natürliche Umwelt, zweitens ethnische Gegebenheiten und drit‐ tens kulturell bedingte Verbreitungsmechanismen wie Tausch und Handel (»Materialausbreitung«), allgemeiner Kulturkontakt (»Ideenausbreitung«), ferner Wanderung und Kriegszüge (»Völkerausbreitung«). Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass diese drei Varianten der Verbreitungslehre aus theoretischer Sicht weder gleichwertig noch in sich gänzlich stimmig sind. So lassen sich mit der Umwelt, die im Mittelpunkt seiner »Fundgeographie auf ökologischer Grundlage« steht, offenbar nur gewisse natürliche Rah‐ 13.1 Zur räumlichen Analyse archäologischer Quellen 377 <?page no="378"?> 4 Die »chorologische Methode« erörterte Jacob-Friesen (1928, 170 ff.) erst im darauffol‐ genden Kapitel (»Methodik«). menbedingungen der Fundverteilung verbinden. Dagegen zielte die »Fund‐ geographie auf ethnischer Grundlage« ebenso wie die »Fundgeographie auf metabasischer Grundlage« - so nannte er die anderen kulturellen Faktoren - direkt auf die Interpretation und die Art und Weise der Verbreitung, das heißt auf Verbreitungsmechanismen und kausale Verknüpfungen. Insofern handelte er konsequent, wenn er die Verbreitungslehre im Kapitel »Inter‐ pretation« abhandelte und die Erörterung der »chorologischen Methode« davon absetzte. 4 Jacob-Friesen (1928, 174) wählte den Begriff chorologische Methode, um deutlich zu machen, dass die Kartierung von Funden und Befunden nicht Endzweck, sondern Hilfsmittel für die Auswertung der entsprechenden Verbreitungen sein sollte. Wenngleich er nicht immer scharf genug zwischen der Ebene der analytischen Aufbereitung der Quellen auf der einen und ihrer Interpretation auf der anderen Seite - und damit zwischen der cho‐ rologischen Methode und seiner Verbreitungslehre oder Fundgeographie - getrennt hat, ist seine Leistung doch unbestritten: Er bemühte sich um eine kritische Würdigung der bisherigen kartographischen Arbeiten, suchte den methodischen und interpretatorischen Rahmen abzustecken und führte unter Berufung auf den Zoologen Ernst Haeckel (1834-1919) den Begriff Chorologie in die Archäologie ein. Er war im Übrigen der Auffassung, dass die Fundgeographie als Teilgebiet der Archäologie in der Zukunft erheblich ausgebaut werden müsse, um ein der Anthropogeographie sowie der Tier- und Pflanzengeographie entsprechendes Niveau zu erreichen (ebd. 120). Diese Meinung hat sich allerdings nur in einem sehr eingeschränkten Maße erfüllt. Stärker als bei Jacob-Friesen wird in diesem Buch die Ebene der Methodik von jener getrennt, die der Interpretation zuzurechnen ist. Dabei stellt sich zunächst die Frage, wie denn das konzeptuelle Instrumentarium der Archäologie für die Analyse von raum- und zeitgebundenen Fundbildern beschaffen ist. Anders gefragt: Welche quellen-, das heißt fund- und befund‐ bezogenen analytischen Konzepte gibt es, die der räumlichen Integration des archäologischen Materials und damit dann auch seiner Interpretation zugrunde liegen? Sie sollen im Folgenden forschungsgeschichtlich betrach‐ tet und auf ihre heutige Brauchbarkeit hin geprüft werden. Dass solche Konzepte immer ein mehr oder minder großes Quantum theoretischer Vor‐ 378 13 Raum und Zeit: Synchrone und diachrone Aspekte von Fund- und Befundbildern <?page no="379"?> 5 Über sein Verfahren äußerte sich Wilke (1917, 7) wie folgt: »Um ganz streng methodisch vorzugehen, werden wir die einzelnen Kulturkreise von frühgeschichtlicher Zeit an, aus der uns sichere Nachrichten über die ethnische Zugehörigkeit der betreffenden Bevölkerung vorliegen, rückwärts verfolgen«. Bereits hier zeigt sich, dass er die Begriffe entscheidungen und Prämissen einschließen, soll uns nicht daran hindern, Quellenaufbereitung und Quelleninterpretation auf der analytischen Ebene auseinanderzuhalten. 13.2 Grundkonzepte der räumlichen Integration Der Begriff Formenkreis spielte in der Archäologie bereits um die Wende vom 19. zum 20.-Jahrhundert und in den darauffolgenden Jahrzehnten eine beträchtliche Rolle, und zwar ohne dass er jemals präzis definiert worden wäre. Man bezog ihn im Wesentlichen auf die kartographische Darstellung von Fundverbreitungen, aber es blieb meist unklar, wie man sich das gegenseitige Verhältnis im Einzelnen vorstellte. Bisweilen betrachtete man die Fund- oder Typenkarte nicht nur als Basis eines Formenkreises, sondern der einzelne, durch sie umschriebene Raum wurde damit gleichgesetzt. Andererseits gab es aber auch Arbeiten, aus denen trotz fehlender expliziter Erörterung klar wird, dass der Autor oder die Autorin nur dann von einem ›Formenkreis‹ sprach, wenn sich die Verbreitung mehrerer Typen - konkret also mehrerer Typenkarten - weitgehend deckte. Ein gutes Beispiel für diese Auffassung bildet eine Abhandlung von Georg Wilke (1917), in der er die Frage der Herkunft der Kelten, Germanen und Illyrer unter anderem mit Hilfe von Typenkarten zu lösen versuchte. Wilke meinte, in der Verbreitung bestimmter bronzezeitlicher Metallfor‐ men die Widerspiegelung der jungsteinzeitlichen Megalithkultur sowie bestimmter Ausprägungen der südwestdeutschen und mitteldeutsch-böh‐ mischen Linear- und Stichbandkeramik - »Spiralmäander- und Stichreihen‐ keramik« - erkennen und überdies mit einer ähnlichen räumlichen Diffe‐ renzierung während der Hallstatt- und Latènezeit verknüpfen zu können. Auf dieser Basis unterschied er einen »nordischen«, einen »südwestdeut‐ schen« und einen »östlichen Formenkreis«, deren mutmaßliche Konstanz er im Sinne der sogenannten siedlungsarchäologischen Methode von Gustaf Kossinna (1858-1931) ethnisch, das heißt als Niederschlag von Germanen, Kelten und Illyrern interpretierte. 5 Diese Abhandlung stellt insofern einen wichtigen methodischen Fortschritt dar, als Wilke insgesamt 46 Einzelkar‐ 13.2 Grundkonzepte der räumlichen Integration 379 <?page no="380"?> ›Formenkreis‹ und ›Kulturkreis‹ synonym verwendete; dies gilt auch für den von ihm gelegentlich benutzten Terminus ›Kulturprovinz‹. 6 Jacob-Friesen (1928, 143 f., 173 f.) hat den methodischen Fortschritt, den diese Arbeit repräsentierte, seinerzeit gebührend gewürdigt, die Gesamtinterpretation hingegen zurückgewiesen. Aus heutiger Sicht erscheint allerdings auch das methodische Vorge‐ hen Wilkes unzureichend, da es sich um einen mechanistischen Vergleich von nicht einmal im Ansatz analysierten archäologischen Verbreitungskarten handelte. 7 So etwa Jacob-Friesen 1928, 138. 8 Siehe z. B. Jacob-Friesen 1928, 143 ff. Wohl in diesem Sinne spricht er beispielsweise von einem »Lausitzer Formenkreise« (ebd. 141). 9 So z.-B. Jacob-Friesen 1928, 181 ff. 10 Jacob-Friesen 1928, 138. ten, die zumeist auf den Typenkarten von Lissauer bzw. Beltz basierten, vorlegte und dann die räumliche Kongruenz jeweils mehrerer Typenkarten während der Latène-, Hallstatt- und Bronzezeit als »Formenkreis« definierte und über die räumliche Konstante mit den neolithischen Erscheinungen verknüpfte. Dass er diese Formenkreise dann ethnisch interpretierte, ent‐ sprach der zentralen Fragestellung jener Zeit. 6 Obwohl Jacob-Friesen (1928) sich sowohl im Rahmen seiner Verbreitungs‐ lehre als auch seiner chorologischen Methode relativ ausführlich mit dem Begriff ›Formenkreis‹ beschäftigte, hat er es unterlassen, ihn eindeutig zu definieren. Wenn man seine Ausführungen liest, gewinnt man bisweilen den Eindruck, er belege bereits die Verbreitung einer spezifischen Objekt- oder Befundgruppe mit diesem Begriff. 7 An anderer Stelle hingegen deutet alles darauf hin, dass für ihn erst die Kongruenz mehrerer Typenkarten einen Formenkreis definierte. 8 Dann jedoch gibt es wieder Passagen, bei denen offen bleibt, wie seine Ausführungen zu interpretieren sind. 9 Wie immer man dieses Konzept bei Jacob-Friesen letztlich zu deuten hat, fest steht jedenfalls, dass er im Gegensatz zu anderen Archäologen dem Formenkreis den Kulturkreis gegenüberstellte, und zwar mit nachdrücklicher Betonung ihrer Unterschiede. Angesichts der breiten kulturanthropologischen Perspektive, die seine Grundfragen kennzeichnet, überrascht es nicht, dass das Kulturkreiskon‐ zept von Jacob-Friesen (1928, 83 ff.) aus der Ethnologie stammt. Erstaun‐ licherweise berief er sich dabei ausschließlich auf die frühen Arbeiten zur »Kulturlehre« von Leo Frobenius (1873-1938). Er wies darauf hin, dass man in der Urgeschichtswissenschaft »noch lange nicht bestimmte Kulturkomplexe oder Kulturkreise in ihrer Gesamtheit erfassen, sondern erst einzelne Formenkreise« herausarbeiten könne. 10 Da Frobenius (1898; 380 13 Raum und Zeit: Synchrone und diachrone Aspekte von Fund- und Befundbildern <?page no="381"?> 11 Die Begriffe ›Verhaltens-‹ und ›Brauchtumskreis‹ finden sich in dem hier zugrunde gelegten Verständnis schon bei Torbrügge (1970/ 71, 123), wobei er in der Regel ersteren verwendete (ebd. 42, 43 Anm. 220, 87). In gleichem Sinne sprach er auch von »Motivkreis«: »Wenn nämlich bestimmte Flußfunde in voller Absicht versenkt worden sind, muß die bewußte Güterauswahl im und am Fluß Motivkreise eingrenzen, die im Unterschied zu reinen Formenkreisen die vorgeschichtliche Gruppenbildung nicht nach dem Besitzstand, sondern nach Verhaltensweisen sichtbar machen« (ebd. 3). - Meinem Verständnis von ›Befundkreis‹ entspricht auch Bergmann (1968, 233 ff.), wenn er das Ergebnis einer Kartierung von bronzezeitlichen Gräbern mit Waffenbeigabe als »Bewaffnungs- oder Kampfesartkreise« bezeichnet. 12 Frobenius 1897; ders. 1898. - Hierzu z.-B. Jensen 1933, bes. 77 f., 93 f. ders. 1899) gezeigt habe, »wie kompliziert ein Kulturkreis« sei und »aus wie vielen Formenkreisen« er sich zusammensetze, kam Jacob-Friesen (1928, 138) für die Archäologie schließlich zu folgendem Urteil: »Ein Kulturkreis wird eben nicht durch einen einzelnen Formenkreis charakte‐ risiert, sondern setzt sich aus der Summe aller Formenkreise sachlicher und geistiger Kultur zusammen, die erst einmal jeder für sich festgestellt und dann - ihre Gleichaltrigkeit vorausgesetzt - übereinander gedeckt werden müssen.« Diese Definition des Kulturkreises zeigt, dass Jacob-Friesen zwei Typen von Formenkreisen auf der Basis des Kulturkriteriums unterschied. Man darf davon ausgehen, dass sich seine Formenkreise »sachlicher Kultur« aus der Kartierung von archäologischem Sachgut ergeben sollten, während jene der »geistigen Kultur« den geographischen Niederschlag bestimmter Sitten und Gebräuche bildeten, wie sie beispielsweise im Bestattungswesen greifbar werden. Es dürfte seiner Intention nicht zuwiderlaufen, wenn man hier von Formenkreisen und Brauchtumskreisen bzw. Verhaltenskreisen (oder, quellenbezogen und damit neutraler, Befundkreisen) spräche. 11 Aus seinen knappen Ausführungen wird deutlich, dass sein Kulturkreiskonzept im Wesentlichen additiven Charakters gewesen ist: Mehrere sich weitge‐ hend deckende Typenkarten (im traditionellen Sinne von individuellen ›Fundkarten‹) werden zu ›Formenkreisen‹ und mehrere kongruente Karten individueller Befunde zu ›Befundkreisen‹ integriert; liegt eine annähernde Gleichzeitigkeit und eine genügende Deckung der so herausgearbeiteten Formen- und Befundkreise vor, definiert man sie als einen ›Kulturkreis‹. Jacob-Friesens Gewährsmann Frobenius gilt als Begründer der Kultur‐ kreislehre, da er auf der Basis einer großen Zahl von Verbreitungsstudien zu einzelnen Kulturelementen den sogenannten »westafrikanischen Kul‐ turkreis« herausgearbeitet hatte. 12 Allerdings stand nicht das Konzept des 13.2 Grundkonzepte der räumlichen Integration 381 <?page no="382"?> 13 Siehe z.-B. Frobenius 1898, VII ff., 3 ff., 269 ff., bes. 283 f. 14 Ankermann 1905; Graebner 1905. 15 Für eine frühe Kritik an der von ihm so genannten »kartographierenden Ethnologie«, das heißt an der Kulturkreislehre Graebner’scher Prägung, siehe Haberlandt (1911; Zitat ebd. 165). 16 Auf Graebner findet sich nur ein beiläufiger Hinweis: Er habe gemeinsam mit Anker‐ mann und Pater W. Schmidt die Kulturkreislehre weiter ausgebaut ( Jacob-Friesen 1928, 85). 17 Der Linguist, Ethnologe und Religionswissenschaftler Schmidt, Mitglied des Missions‐ ordens Societas Verbi Divini (S.V.D.), war der Begründer der ›Wiener Schule‹ der kulturhistorischen Ethnologie. 18 In der Diskussion der Vorträge von Graebner und Ankermann ist Frobenius (1905) mit seinem berühmten Pater peccavi allerdings von diesem Aspekt seiner früheren Arbeiten abgerückt. Er stellte nunmehr der von Graebner und Ankermann geleiste‐ ten »statistischen Arbeit« sehr nachdrücklich den »organischen Zusammenhang der Kulturformen«, mithin die »Entwicklungsgeschichte«, kurz die »biologische Seite der Methode« gegenüber (ebd. 89). Zur Rolle von Frobenius in der Ethnologie siehe Mühlmann 1968, 126 ff. Kulturkreises im Mittelpunkt seiner ersten großen Monographie von 1898, sondern das der ›Kulturform‹; 13 es war zentraler Teil der von ihm in jenen Jahren entwickelten »naturwissenschaftlichen Kulturlehre« (Frobe‐ nius 1899). Erst mit dem berühmten Doppelvortrag der Ethnologen Fritz Graebner (1877-1934) und Bernhard Ankermann (1859-1943) vom 19. November 1904 vor der Berliner Gesellschaft für Ethnologie, Anthropolo‐ gie und Urgeschichte 14 wurde der Begriff des Kulturkreises sehr schnell zu einem Grundkonzept der kulturhistorischen Ethnologie, die fortan als Kulturkreislehre eine sehr große Popularität gewann. 15 Da Graebner (1911) die Kulturkreislehre als erster methodologisch zu untermauern suchte und dieser Arbeit rund zweieinhalb Jahrzehnte lang nichts Gleichrangiges gegenüberstand, bleibt unverständlich, dass Jacob-Friesen sich nicht auf ihn, sondern auf Frobenius berief. 16 Dessen frühe biologistische Kulturtheorie hatte mit der von Graebner, Ankermann und Pater Wilhelm Schmidt (1868-1954) 17 betriebenen Kulturkreisforschung lediglich die listenmäßige Erfassung von Kulturelementen gemein. 18 Graebners (1911, 132 f.) Definition dieses Konzepts betonte zwar den Aspekt der allgemeinen räumlichen Koinzidenz der betrachteten Kulturele‐ mente, verwies aber auch darauf, dass dies keine lückenlose Gleichartigkeit bedeute. Er stellt fest, dass »der Hilfsbegriff des Kulturkreises« zunächst einmal »jedes Gebiet einheitlicher Kultur« bezeichne und fährt dann fort: 382 13 Raum und Zeit: Synchrone und diachrone Aspekte von Fund- und Befundbildern <?page no="383"?> 19 Zur Geschichte des Begriffes ›Kulturkreis‹ siehe Leser 1963. »Aber der Begriff des Kulturkreises geht über den einer Kultureinheit im abso‐ luteren Sinne hinaus: Wenn im Verlaufe der Kulturgeschichte eine Kultur sich ausbreitet und Gebiete mit ursprünglich anderer Kultur überflutet, wie etwa die römisch-griechische das übrige Europa, die hellenistisch-byzantinische den vor‐ deren Orient, die hinduische das westliche Indonesien, so verdrängt sie die älteren Kulturen kaum jemals vollständig; selbst die Überlagerung ist in der Regel nicht lückenlos, besonders nicht der Art, daß alle Elemente der neuen Kultur in allen Teilen der Verbreitungszone aufträten. Trotzdem sprechen wir in solchem Falle von einem römischen, hellenistischen, indischen Kulturkreise. Dessen Merkmal ist also nicht absolute Einheitlichkeit der Kulturverhältnisse - eine jüngere Kultur kann ja mehrere kulturell ganz heterogene Teilgebiete überlagern - noch weniger absolute Kontinuität in der Verbreitung aller Einzelelemente, sondern die einfache Tatsache, daß ein bestimmter Komplex von Kulturelementen für ein bestimmtes Gebiet charakteristisch und in der Hauptsache darauf beschränkt ist.« An diese Feststellung schloss Graebner eine Anmerkung an, in der er das Hilfsmittel der kartographischen Darstellung ansprach und dabei auch auf die »Prähistorie« und ihre von der Deutschen Anthropologischen Gesell‐ schaft herausgegebenen »prähistorischen Typenkarten« verwies. Vergegen‐ wärtigt man sich, dass Jacob-Friesen das Kulturkreiskonzept von Frobenius abzuleiten versuchte, mutet Graebners Hinweis beinah wie Ironie an. 19 Gegen das solchen Auffassungen zugrunde liegende additive Kulturkonzept, dessen relevante Merkmale sich erst »aus der Koinzidenz der Erscheinungen selbst« ergaben (Graebner 1911, 133 Anm. 3), hat sich in der deutschen Ethnologie vor allem Wilhelm E. Mühlmann in Auseinandersetzung mit Graebner gewandt. Er warf ihm eine »atomare« bzw. »atomistische« Sicht der Kultur vor, die dazu führe, dass die betrachteten »Kulturzüge« - den Terminus »Kulturelemente« vermied er als »zu atomistisch« - »erst gewissermaßen ›künstlich‹, sekundär, auf Grund historischer Vorgänge« zueinander in Beziehung träten (Mühlmann 1938a, 173). Dem setzte er eine Auffassung entgegen, die »Kultur als den funktionalen Gesamtzusammen‐ hang von Sitten, Bräuchen und Einrichtungen« definiert. Es sei also nicht die spezifische Ausprägung einer ›Form‹ von entscheidender Bedeutung, sondern ihr »Leistungs-« oder »Wirkungszusammenhang«, der sich aus Integration der ›Formen‹ - konkret der Graebner’schen »Kulturelemente« - in das kulturelle Ganze ergebe (ebd. 172). 13.2 Grundkonzepte der räumlichen Integration 383 <?page no="384"?> 20 In Mühlmanns (1938a, 180) Worten: »Nicht die Form ist das Problem, sondern die Funktion. Die Wiederkehr der Form, als Gestaltphänomen, ist ja Voraussetzung dafür, daß ich überhaupt an einen Zusammenhang denken kann! Sie ergibt nur die Handhabe für das Wiedererkennen eines Problems, nämlich des Problems der Funktion. Mich interessiert die Abwandlung der Funktion, ihre Anpassung an neue Bedingungen« (Hervorhebungen eliminiert). 21 Siehe Schmidt 1937; dazu Mühlmann 1938b. 22 Siehe Hachmann 1950; zu diesen Ansätzen Hachmanns auch Kossack 1997, 2. 23 Zu Kossack konsultiere man Andresen (1997), dem allerdings weitgehend der nötige Abstand zu seinem Gegenstand fehlt. 24 Gemäß der gängigen englisch-amerikanischen und deutschen Schreibweise von Mali‐ nowskis Vornamen ›Bronisław‹ verzichte ich hier auf das linguistisch korrekte ›ł‹ zugunsten eines einfachen ›l‹. 25 Hachmann (1950, 45 Anm. 51) nennt außer Malinowski und Radcliffe-Brown den deutschen Sozialethnologen R. Thurnwald. Zu seinen späteren Vorstellungen auch ders. 1973a, 82 ff.; ders. 1973b, 530 ff.; ders. 1977, 260 f. - Zum funktionalistischen An die Stelle der Form von Kulturelementen als herausragender analy‐ tischer Kategorie tritt nunmehr die Funktion dieser Elemente im Kulturge‐ füge. 20 Zugleich verlagerte sich damit die Fragestellung von der diachronen Ebene des über Formgleichheit erschlossenen historischen Zusammenhan‐ ges zur synchronen Betrachtung kultureller Verknüpfung und Dynamik. Mit dieser neuen Gewichtung des Forschungsinteresses wurde die von der Kul‐ turkreislehre angestrebte historische Rekonstruktion bewusst preisgegeben. Die historische Komponente wurde auf einen - wie Mühlmann (1938a, 180) formulierte - »Mechanismus der faktisch bekannten historischen Zusammenhänge« reduziert. An die Stelle der kartographisch-kulturhisto‐ rischen Integration von Kulturelementen trat nunmehr ein weitgehend synchron vorgehender kulturbzw. sozialethnologischer Ansatz funktio‐ nalistischer Prägung. ›Kultur‹ wurde nicht mehr als ein »Aggregat von ›Elementen‹«, sondern als »Funktion und Struktur« begriffen (ebd. 173). Soweit feststellbar, blieb dieser funktionalistische Ansatz - der ungefähr parallel zum ›Schwanengesang‹ der ›Wiener Schule‹ der kulturhistorischen Ethnologie 21 ausgearbeitet wurde - in der deutschen Archäologie zunächst ohne Echo. Erst in den späten 1940er Jahren finden sich funktionalistische Grundüberzeugungen vor allem bei Rolf Hachmann 22 und, in einem gerin‐ geren Maße, bei Georg Kossack (1923-2004). 23 Hierbei spielt in erster Linie der nach 1945 recht massiv einsetzende Einfluss der funktionalistischen Ausrichtung der britischen Social Anthropology eine entscheidende Rolle. Dies gilt besonders für Bronislaw Malinowski (1884-1942) 24 und Alfred Re‐ ginald (»A. R.«) Radcliffe-Brown (1881-1955). 25 In den späten sechziger und 384 13 Raum und Zeit: Synchrone und diachrone Aspekte von Fund- und Befundbildern <?page no="385"?> Kulturbegriff Hachmanns siehe auch die recht vehemente Kritik von Lüning (1972, bes. 155 ff.), die jedoch aufgrund ihrer Ausgangsbasis (hierzu unten, Kap. 12.2, S. 410 ff.) methodologisch nicht zu überzeugen vermag. 26 So z. B. Bergmann 1972, 108 f. Dieser und andere, das gleiche Ziel verfolgende Beiträge (ders. 1968; ders. 1974a; ders. 1974b) sind aus seiner Monographie über die Ältere Bron‐ zezeit in Nordwestdeutschland (ders. 1970) erwachsen; siehe in diesem Zusammenhang auch ders. 1987, bes. 29 ff. 27 Siehe z.-B. Eggers 1936, bes. 36 ff.; ders. 1937a; ders. 1937b; ders. 1937c. 28 Hierzu vor allem Schlenger 1934; Kretschmer 1965; zur »Kulturraumforschung« insge‐ samt Wiegelmann 1965; ders. 1978; ders. 1984. 29 Eggers’ erster grundlegender Aufsatz zu chorologischen Fragen behandelte natürliche Erkenntnisgrenzen bei Karten in der Prähistorischen Archäologie und der Volkskunde; er erschien in einem von dem Volkskundler K. Kaiser herausgegebenen Sammelband zur Volkskunde Pommerns. Eggers (1939) ging darin einleitend sowohl auf den Atlas der deutschen Volkskunde als auch auf den von Kaiser herausgegebenen Atlas zur Pommerschen Volkskunde ein. In seinem programmatischen Aufsatz zum ersten Band der von ihm gegründeten Zeitschrift Archaeologia Geographica wies er darauf hin, dass der Aussagewert von Karten erstmals im Rahmen des Deutschen Sprachatlas und des Atlas der deutschen Volkskunde erkannt und systematisch genutzt worden sei (ders. 1950b, 1). Schließlich sei erwähnt, dass Eggers bereits an dem 1931 erschienenen, von G. Lüdtke und L. Mackensen herausgegebenen ersten Band des Deutschen Kulturatlas frühen siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts hat dann Joseph Bergmann eine Reihe von Beiträgen veröffentlicht, in denen er sich von einer rein additiven Formen- und Kulturkreisauffassung lossagte und statt der »künstlichen Synthese des Kulturkreises« die Beachtung »ganzheitlicher Elemente« durch die Anwendung »funktionaler Arbeitsmethoden« forderte. 26 Aller‐ dings führte auch dieser Vorstoß nicht zu einer grundsätzlichen Erörterung von analytischen Konzepten zur räumlichen Integration archäologischer Phänomene. Offenbar in Unkenntnis und damit gänzlich unabhängig von Mühlmanns funktionalistischer Kulturauffassung begann Eggers sich seit Mitte der 1930er Jahre eingehend mit quellenkritischen Fragen auseinanderzusetzen. Er war seinerzeit am Pommerschen Landesmuseum in Stettin tätig und entwickelte seine uns interessierenden analytischen Vorstellungen auf der Basis von Untersuchungen zur räumlich-kartographischen Integration und ethnischen Interpretation pommerscher Hort- und Grabfunde von der Bron‐ zezeit bis zur slawischen Epoche. 27 Man darf annehmen, dass er dabei vor allem von den seit 1930 intensiv laufenden Arbeiten zum 1928 gegründeten Atlas der deutschen Volkskunde 28 beeinflusst worden war. Dies geht aus beiläufigen Hinweisen in seinen Schriften zwar eindeutig hervor, lässt sich aber nicht präziser fassen. 29 13.2 Grundkonzepte der räumlichen Integration 385 <?page no="386"?> mitgearbeitet hat. Die dort von ihm veröffentlichten Karten entbehrten allerdings noch all jener Charakteristika, die er dann seit Mitte der 1930er Jahre entwickelte. 30 Ähnlich Eggers 1938, 13; ders. 1959/ 60, 52. 31 Das Konzept des ›Formenkreises‹ hat Eggers (1959/ 60, 51) später mit einem »geogra‐ phischen Raum« gleichgesetzt, »in dem in einer bestimmten Zeitstufe immer wieder dieselben Formen von Keramik, Stein- oder Metallgeräten auftauchen.« 32 Hierzu z. B. Eggers 1950a; ders. 1950b; ders. 1951, 23 ff.; ders. 1959, 255 ff.; ders. 1959/ 60. 33 Die entsprechenden Arbeiten Torbrügges setzen im Jahre 1958 ein (Torbrügge 1958; ders. 1959a, 19 ff.). Eggers (1937b, 37) kam zu dem Ergebnis, der einstige Lebenszusammen‐ hang der ur- und frühgeschichtlichen Menschen, beispielsweise »das Sied‐ lungsgebiet eines Volksstammes«, sei mit der »Kartierung der Grabsitte« weit eher zu erfassen, »als es die Summe vieler Typenkarten je vermöchte«. 30 Er unterschied in diesem Zusammenhang zwischen einem »Formenkreis von Grabausstattungen« und einem »Hort-Formenkreis« 31 - während der erste eben bei der »völkisch-stammlichen Ausdeutung« von Fundkarten relevant sei, würde der zweite »in erster Linie den Absatzbereich von Bronzegießereien« veranschaulichen (ders. 1937a, 25). Für uns ist wichtig, dass sein Schlüsselbegriff »Grabsitte« bzw. »Grabsittenkreis« (ders. 1950b, 1) nicht allein über eine »kennzeichnende Vergesellschaftung gewisser For‐ men« im Sinne des gerade angesprochenen Grabausstattungs-Formenkrei‐ ses bestimmt wurde. Als ein weiteres wesentliches Element kam vielmehr die eingehende Betrachtung von »Grabform und Bestattungssitte« hinzu (ders. 1936, 38 f.). Eggers (1939; 1940) hat seine bahnbrechenden Überlegungen bereits früh in einen größeren quellenkritisch-kartographischen Kontext eingebettet. Nach dem Zweiten Weltkrieg, am Hamburgischen Museum für Völkerkunde und Vorgeschichte sowie als Außerplanmäßiger Professor an der Universität Hamburg tätig, trug er für eine weite Verbreitung seiner methodologischen Grundüberzeugung Sorge, die er als vergleichende geographisch-kartogra‐ phische Methodein der Urgeschichtsforschung mit einem programmatischen Namen versehen hatte. 32 Seine Ideen haben sich in der deutschen Ur- und Frühgeschichtswissenschaft dennoch letztlich nicht im wünschenswerten Maße durchsetzen können. Lediglich Torbrügge, der - wie oben bereits angesprochen - sein Ur- und Frühgeschichtsstudium in Hamburg nicht zuletzt unter dem Einfluss von Eggers begann, hat die von jenem erstmals grundlegend und systematisch betriebene archäologische Quellenkritik bereits früh zu seinem eigenen Anliegen gemacht. 33 386 13 Raum und Zeit: Synchrone und diachrone Aspekte von Fund- und Befundbildern <?page no="387"?> Obwohl es sich bei dem von Eggers in die fachwissenschaftliche Diskus‐ sion eingeführten Konzept des Grabsittenkreises um einen wesentlichen Fortschritt gegenüber dem eingefahrenen, stark mechanistischen Denken in Typenkarten und inhaltlich nur ungenügend reflektierten ›Formenkreisen‹ handelt, ist es nicht weiter beachtet oder gar gewürdigt worden. Man muss daher Hachmann dankbar sein, der dieses Konzept und seine Bedeutung bei geeigneten Gelegenheiten in Erinnerung rief. Dabei wies er darauf hin, dass Eggers den Begriff nicht genauer definiert habe (Hachmann 1977, 257) - eine Aussage, die zumindest in formaler Hinsicht zutrifft. Um der begrifflichen Klarheit willen hat Hachmann dieses Manko durch einen eigenen Vorschlag ausgeglichen (ebd. 257 f.). Seine Differenzierung des Terminus »Grabsitte« muss hier kurz betrachtet werden. Die Grabsitte repräsentiert für Hachmann (1977, 257) »die Gesamtheit aller […] Funde und Befunde, die sich archäologisch vom Totenritual erhal‐ ten haben«. Das Totenritual wiederum bestehe aus einer meist recht großen Zahl miteinander zusammenhängender, kulturspezifischer Praktiken, die mit dem Eintritt des Todes bzw. angesichts des nahenden Endes einsetzten und bisweilen »weit über den eigentlichen Bestattungsakt hinausreichen, bis der Tote aus der Erinnerung der Lebenden entschwunden sei«. Im mentalen Nachvollzug des durch den Tod ausgelösten Ablaufs spezifischer Handlungen einerseits sowie unter dem Aspekt potenzieller archäologischer Erkennbarkeit andererseits unterscheidet er zunächst einmal die Aufbah‐ rungssitte, also jenen »Komplex von Brauchtümern, die allesamt mit der Vorbereitung des Körpers des Toten für die Bestattung« zusammenhingen. Damit sei die Trachtsitte sehr eng verbunden, die eine reine Totentracht gewesen sein könne, aber nicht gewesen sein müsse. Die Bestattungssitte wiederum umfasst in Hachmanns Terminologie die Gesamtheit der Maß‐ nahmen, die sich von der Auswahl des Grabplatzes über dessen Zurichtung einschließlich aller Details der Totenbettung bis zur Ausgestaltung der Oberfläche des verfüllten Grabes erstrecken. Der Begriff der Beigabensitte schließlich gründe in bestimmten, uns a priori unbekannten kulturellen Normen; sie umfasse jenes Brauchtum, das die materielle Ausstattung der Toten bestimme. In einer 1999 erschienenen Monographie hat Hachmann dieses, wie er es nennt, »›Modell‹ der Totenvorstellungen« noch um die Kategorien Totenglaube, Totenbrauchtum bzw. Totenbrauchtümer und Nachgabensitte 13.2 Grundkonzepte der räumlichen Integration 387 <?page no="388"?> 34 Siehe Hachmann in ders./ Penner 1999, 169 ff. 35 Hachmann (1999, 169) definiert wie folgt: »Der Totenglaube ist der Teil der Religion, der die Vorstellungen vom Dasein des toten Menschen und die damit verbundenen Auffas‐ sungen von der Vorbereitung des Todes und von den Bestattungsmaßnahmen betrifft. […] Aus dem Totenglauben ergeben sich die Totenbrauchtümer. Der Begriff umfaßt die gesamten mit dem Eintreten des Todes und dem Vollzug der Bestattung verbundenen Maßnahmen. Sie sind in aller Regel ritualisiert«; ferner: »Eine Sitte, die Nachgaben verlangt, […] müßte als Nachgabensitte bezeichnet werden. Die Gegenstände, die in oder an das Grab gelangen, sind in Mitgaben, Beigaben, Nachgaben und Zeremonialgerät zu gliedern« (ebd. 171). ergänzt. 34 Dabei steht Letztere wie die Beigabensitte hierarchisch auf der Ebene der Sitten, die ihrerseits als ritualisierte Handlungsanweisungen dem Totenritual zugerechnet werden. Die Totenbrauchtümer wiederum sind - sofern ritualisiert - für Hachmann zu einem beträchtlichen Teil mit dem Totenritual identisch, während der Totenglaube schließlich als oberste Kategorie die Gesamtheit der mit dem Tod verbundenen Vorstellungen und Handlungen umfasse. 35 Damit liegt nunmehr ein differenziertes begriffliches Instrumentarium vor, mit dem die archäologisch dokumentierten Aspekte des Phänomens ›Tod‹ analytisch erfasst und damit zugleich kategorial in einen soziokulturellen Handlungszusammenhang eingeordnet werden kön‐ nen. Allerdings muss man sich darüber im Klaren sein, dass die Übertragung der vorgegebenen Kategorien auf den archäologischen Kontext nicht in jedem Falle und für jede Kategorie gelingen wird. Wie alle Modelle kann auch dieses nicht mehr als ein im Wesentlichen idealtypisch ausgerichtetes abstraktes Gebilde sein, das versucht, die Vielfalt der Wirklichkeit abzubilden. Inwieweit es sich dann bei konkreten Befunden und Funden bewährt, ist eine Frage der archäologischen Empirie. Darüber hinaus muss man sich immer wieder klarmachen, dass wir es hier mit analytischen Kategorien und nicht mit Phänomenen der zu erforschenden realen Welt zu tun haben. Daher können diese Kategorien lediglich ›Krücken der Erkenntnis‹ sein, derer wir uns bedienen müssen, um unserem Ziel näherzukommen. Der Grad der empirischen Relevanz dieser ›Krücken‹ wächst sicherlich mit der Breite der kulturanthropologischen Basis, die ihrer Formulierung zugrunde liegt. Grundsätzlich jedoch kann nicht nachdrück‐ lich genug betont werden, dass ein fundamentaler Unterschied zwischen den analytischen Kategorien der Forschung und der zu erforschenden Lebenswirklichkeit lange entschwundener Zeiten besteht. Hachmann (1950, 36) hat bereits in seiner ersten Veröffentlichung - einem Teildruck seiner 1949 von der Universität Hamburg angenommenen 388 13 Raum und Zeit: Synchrone und diachrone Aspekte von Fund- und Befundbildern <?page no="389"?> Dissertation - herausgestellt, dass die bis dahin übliche isolierte Betrach‐ tung einzelner Kulturelemente und ihrer räumlichen Verteilung sowie die Addition solcher Verbreitungskarten zu ›Kulturen‹ oder ›Kulturkreisen‹ nicht adäquat sei. Sie müsse durch »eine stärkere Beachtung des Funktions‐ zusammenhanges, in dem die einzelnen Kulturgüter zueinander stehen« ergänzt werden. Dies sei, so fügte er hinzu, bereits der »methodologische Kern« der einschlägigen Darlegungen seines Lehrers Eggers gewesen. Mit dieser Charakterisierung ist das zentrale Anliegen der komparativen Kartographie von Eggers zutreffend erfasst und benannt. Man mag Eggers in der Tat insofern als Funktionalisten ansehen, als er - gleichsam im Geiste Mühlmanns - das in der Synopse von Typen- und Formenkarten angelegte additive Prinzip als ungenügend zurückwies und stattdessen die Berücksichtigung solcher Phänomene forderte, die unmittelbar im einstigen Lebenszusammenhang gründeten. Letztlich ist eine solche Klassifizierung jedoch irrelevant, und dies umso mehr, als sie eben doch etwas forciert erscheint und überdies sicherlich von Eggers selbst mit einem kaum ver‐ hohlenen, belustigten Interesse zur Kenntnis genommen worden wäre. Es bedarf durchaus nicht des zeitgenössischen Etiketts, um im Konzept des Grabsittenkreises ein heuristisches Mittel zu erkennen, das in einem direkten Maße die analytische Ebene der kartographischen Erschließung ur- und frühgeschichtlicher Phänomene mit Lebensäußerungen verbindet, die in den Normen und Werten einstiger Gemeinschaften verankert waren. In diesem Sinne spiegeln Brauchtums- oder Befundkarten nach gängiger Meinung recht klar benennbare, sozial definierte und sozial wirksame, das heißt gemeinschaftsbildende Aspekte der vergangenen Wirklichkeit wider. Dies gilt nicht nur für Grabsitten, sondern gegebenenfalls ebenso für etwaige Hortsitten, Siedlungs- und Siedelmuster sowie dergleichen mehr. Als Ergebnis der bisherigen Darlegungen lässt sich festhalten, dass die traditionellen Typenkarten und die daraus mit dem Prinzip der Kongruenz gewonnenen Formenkreise seit Eggers’ Arbeiten nicht mehr als eine not‐ wendige archäologisch-kartographische Materialbasis bilden. Mit dieser ersten kartographischen Aufbereitung ist lediglich die Grundvoraussetzung für jedwede weitergehende inhaltliche Untersuchung geschaffen. Um die‐ ses typenmäßig und geographisch bestimmte Rohmaterial auszuwerten, müssen wir es gemäß der Eggers’schen Quellen- und Interpretationslehre 13.2 Grundkonzepte der räumlichen Integration 389 <?page no="390"?> 36 Hierzu exemplarisch Eggers’ Analyse des römischen Imports im Freien Germanien (1951, 13 ff., bes. 23 ff.). 37 Es ist hier nicht der Ort, auf Fischers Ergebnisse einzugehen. Kritische Bemerkungen dazu finden sich auch bei Lüning (1972, 148 f. Anm. 20). Man wird Wotzkas (1993a, 37 Anm. 34) Einschätzung zustimmen, dass Fischers Monographie eine »umfassende kritische Würdigung aus heutiger Sicht« verdiente. Zu Fischers späteren Arbeiten im Kontext ihrer Zeit zuletzt Eggert 2020, 239 ff. durch verschiedene »Filter« passieren lassen. 36 Mit jedem dieser Filter - Eggers lässt sie mit der Ebene der Quellengattung beginnen - sollen die in funktionaler Hinsicht amorphen Typen- und Formenkreise in Spiegelbilder einstigen konkreten Sozialverhaltens, also in Verhaltensbzw. Brauchtums- oder Befundkreise verwandelt werden. Die vorstehenden Betrachtungen zu Konzepten der räumlichen Inte‐ gration gehen von einer unterschiedlichen Aussagekraft der erörterten Einheiten aus. Diese Hierarchie resultiert aus der unterschiedlichen kul‐ turwissenschaftlichen Aussagekraft von Typenkarten, Formenkreisen und Befundkreisen. Letztere nehmen den höchsten Rang ein, da sie stärker als die beiden anderen Integrationsmittel mit einem spezifischen Verhalten verknüpft werden können. Dennoch versteht es sich, dass die Kategorie ›kulturwissenschaftliche Aussagekraft‹ keine von vornherein gegebene und damit auch keine unumstrittene Größe ist. Ohne dies hier wirklich ausloten zu können, soll die damit verbundene Problematik knapp am Beispiel der Grabsitten umrissen werden. Es ist gängige Praxis in den Kultur- und Geschichtswissenschaften, unterschiedlichen Lebensbereichen ein unterschiedliches ›kulturelles‹ oder ›soziales Gewicht‹ beizumessen. Dies gilt auch für die Archäologie. So wür‐ den wohl die meisten Archäologen dem Totenbrauchtum einer bestimm‐ ten Bevölkerung für deren Selbstverständnis einen höheren Stellenwert einräumen als etwa ihrer Töpferei oder ihrem Metallhandwerk. Es liegt nahe, anzunehmen, die sehr positive Aufnahme des Eggers’schen Grabsit‐ tenkreis-Konzepts sei - soweit sie erfolgt ist - wohl auf eine solche, teils unbewusste Gewichtung zurückzuführen. Dennoch hat es auch bei der Grabsitte nicht an kritischen Stimmen gefehlt. Ausgehend von einer knappen zusammenfassenden Einschätzung der vielgerühmten Dissertation von Ulrich Fischer (1915-2005) über Die Gräber der Steinzeit im Saalegebiet (1956), in der der Autor zu einer weitgehen‐ den Kongruenz von keramisch definierten Regionalgruppen und jeweils spezifischen Bestattungssitten kam, 37 warnte K. J. Narr (1984, 59) vor ge‐ 390 13 Raum und Zeit: Synchrone und diachrone Aspekte von Fund- und Befundbildern <?page no="391"?> 38 Fischers (1956, 10 f.) eigene Auffassung spiegelt recht gut die gerade umrissene Ein‐ stellung wider: »Die Gräber sind unmittelbare Zeugen der alten Kultur in ihrer persönlichsten Sphäre; […] Wenn man bedenkt, wie weit gerade der Totenkult in die geistige Welt der alten Kulturen hineinführt, und welche Bedeutung Tod und Begräbnis im menschlichen Leben haben, so wird man schwerlich annehmen können, daß die darauf bezüglichen Kulturformen nebensächlich oder zufällig seien, bei der konventionellen Strenge, die allem menschlichen Kulturleben, und gar in der Urzeit, eigentümlich ist.« Ferner: »Die Besonderheit des Grabritus liegt ohne Zweifel in seinem Zusammenhang mit den religiösen Ideen der betreffenden Zeit und Kultur. […] Man kann also von einer Betrachtung des Grabritus nicht nur Differenzierungen, sondern auch Verbindungen erwarten. Soweit er spezifisch ist, erweist er zugleich die religiöse Einheit und Besonderheit der betreffenden Kultur, und soweit sich Gleichungen [zwi‐ schen »verschiedenen Gruppen« bzw. »Kulturen«] zeigen, möchte man auch religiöse Verbindungen suchen« (ebd. 255); »Die Religion ist der eigentliche Hintergrund des Totenkultes, und alle Veränderungen in demselben müssen letzthin eine religiöse Wurzel haben« (ebd. 256). 39 In diesem Sinne auch Narr 1982, 44. 40 Da Kroebers Schlussfolgerungen auf einer Quellenbasis beruhen, die sowohl in archäo‐ logischer als auch in ethnographischer Hinsicht heutigen Ansprüchen nicht mehr genügt, vermögen sie mich nicht zu überzeugen. Es wäre höchst wünschenswert, die von ihm aufgeworfene Fragestellung anhand einer breiten, systematisch angelegten ethnographischen Materialsammlung zu untersuchen. Eine erste auf ethnographischem Material fußende, in quellenkritischer Hinsicht allerdings nicht befriedigende Ausein‐ andersetzung mit den Thesen Kroebers wurde von L. R. Binford (1972, 214 ff.) vorgelegt. Die in solchen Untersuchungen zu verfolgende generelle Vorgehensweise hat Heidrun Derks (1993; dies. 1997) in vorbildlicher Form am Beispiel geschlechtsspezifischer Bestattungssitten praktiziert. Siehe grundsätzlich auch F. McHugh 1999a; ders. 1999b. wissen »einseitigen Übertreibungen«, die sich im Gefolge von Fischers Untersuchung eingestellt hätten. 38 Man tendiere inzwischen dazu, die Be‐ stattungssitten in »einer Art Überreaktion« als die eigentlich entscheidende Größe bei der Abgrenzung von ›Kulturen‹ zu werten, wobei unterstellt werde, sie ständen »dem Traditionskern einer Kultur« näher als andere Kulturelemente. 39 Narr meinte, viele Archäologen neigten dazu, den Bestat‐ tungsbrauch in einer recht unkritischen und direkten Weise mit Religion und speziell mit Jenseitsvorstellungen zu verknüpfen. Er verwies dabei auf einen Aufsatz von Alfred L. Kroeber (1876-1960), in dem der amerikanische Kulturanthropologe zu dem Ergebnis kam, dass die Art und Weise, wie man mit seinen Toten umgeht, ein weit weniger beständiges Kulturelement sei, als gemeinhin angenommen werde (Kroeber 1927). 40 Jedenfalls ist Narr (1984, 60) der Meinung, dass man den Bestattungssitten nicht von vornherein einen »höheren heuristischen Rang für das Erkennen von ›Kulturen‹« einräumen sollte als sonstigen Kulturzügen. Nicht scheinbar ›selbstverständliche‹ Erwägungen, sondern empirische Feststellungen über 13.2 Grundkonzepte der räumlichen Integration 391 <?page no="392"?> 41 Fischer (1956, 256) gründet diese Auffassung auf die wenig überzeugende Ansicht, dass die Grabsitte der geistigen und religiösen Kultur entspringe, »wo Wandlung und Fortschritt sich zu allererst abzeichnen.« die Assoziation funktional voneinander unabhängiger Elemente seien für die Herausarbeitung von archäologischen Kulturen relevant. Fischer selbst hat den Grabsitten allerdings keineswegs eine besondere Konstanz unterstellt. Er war im Gegenteil der Auffassung, dass sie entgegen landläufiger Meinung kein konservatives, sondern vielmehr »ein ausgespro‐ chenes Element des Fortschrittes« darstellten - ein Element, »das sich alsbald verändert, wenn neue historische Ideen auf den Plan treten«. 41 Narr und Fischer entsprechen mit ihrer trotz aller Unterschiede im Grundsätzlichen übereinstimmenden Auffassung sicherlich nicht der gän‐ gigen Meinung. Dieses Beispiel zeigt recht klar, dass die Interpretation jener sozialen Phänomene, die die relative Homogenität von Befundkreisen verursacht haben, durchaus unterschiedlich gewichtet werden können. Das ist in Anbetracht der Tatsache, dass wir mit dieser Problematik die Ebene der archäologischen Realien verlassen und die ihrer Deutung betreten haben, nicht überraschend. Auf der Ebene der Deutung geht es vor allem um den Zusammenhang, der zwischen dem Sachgut einer Bevölkerung, ihrem Verhalten und dem besteht, was ihren spezifischen Habitus ausmacht. Dieser Frage wollen wir uns im nächsten Abschnitt zuwenden. 13.3 Zur diachronen Dimension von Fund- und Befundbildern 13.3.1 Kontinuität und Diskontinuität Wenn im Folgenden die diachrone Dimension von räumlich abgrenzbaren archäologischen Hinterlassenschaften erörtert wird, dann betrifft das letzt‐ lich die Frage, wie sich jene kulturellen und sozialen Phänomene der vergangenen Realität, deren Widerspiegelung wir im Idealfall als Archäolo‐ gische Kultur wahrnehmen, im Laufe ihrer ›Lebenszeit‹ verhalten haben. Auf eine kurze Formel gebracht, geht es also um relative Konstanz, mehr oder weniger starken Wandel oder plötzlichen Abbruch einer bestimmten Kultur. Der Bogen ist also zwischen den Polen ›Kontinuität‹ und ›Diskonti‐ nuität‹ der uns in den archäologischen Quellen entgegentretenden Kulturen der einstigen Lebenswirklichkeit gespannt. Dabei handelt es sich aber 392 13 Raum und Zeit: Synchrone und diachrone Aspekte von Fund- und Befundbildern <?page no="393"?> lediglich um einen ›äußeren‹ Bogen, denn hinter Kontinuität oder Diskon‐ tinuität der materiellen ›Fassade‹ einer real existierenden Kultur steht eine Gemeinschaft, die in ihren Normen und Vorstellungen wie in all ihren materiellen und immateriellen Lebensäußerungen und ihrer physischen Existenz im Fortschreiten der Zeit eine eigene Domäne von Kontinuität und Diskontinuität verkörpert. Das Problem von Konstanz, Wandel (etwa durch Mischung‹) oder Verschwinden (etwa infolge Abwanderung) einer spezifischen Bevölkerung ist zwar keineswegs mit Konstanz, Wandel oder Abbruch der zugehörigen Archäologischen Kultur identisch, aber nur über sie zu untersuchen. Eine systematische Erörterung der erkenntnistheoretischen Struktur und Bedeutung der Dichotomie ›Kontinuität und Diskontinuität‹ in der Archäo‐ logie ist lange ein Desiderat gewesen. Bereits vor rund 50 Jahren hat der Basler Archäologe Ludwig R. Berger (1933-2017) darauf hingewiesen, dass eine prinzipielle und umfassende Diskussion dieser Problematik fehle (Berger 1973, 23). Danach hat Jens Lüning (1976) sich mit dieser Frage auseinandergesetzt. Aber erst seit gut 20 Jahren liegt dazu eine grundlegende Untersuchung von Thomas Knopf (2002) vor. Die geringe Zahl solcher Versuche steht in einem bemerkenswerten Gegensatz zur allgegenwärti‐ gen Verwendung dieser beiden Begriffe im Rahmen der Interpretation archäologischer Gegebenheiten. Man wird wohl Jürgen Kunow (1994, 339) zustimmen können, dass sich das Kontinuitätsproblem in der archäologi‐ schen Forschung zumeist im Rahmen des Siedlungswesens stellt. Auch Berger (1973, 24 f.) hatte seinerzeit siedlungs- und besiedlungshistorische Fragen an die erste Stelle seiner Übersicht gesetzt. Er unterschied drei zentrale Untersuchungsfelder, und zwar (1) den siedlungsgeschichtlich-to‐ pographischen Bereich mit den Aspekten der Platz- und Raumnutzung, (2) den Bereich der Sachgüter und Befunde, das heißt die im umfassenden Sinne verstandene ›materielle Kultur‹, und (3) den Bereich der ethnischen Interpretation der aus den beiden ersten Bereichen gewonnenen Ergebnisse. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich im Sinne unserer einleitenden Bemer‐ kungen, dass hier unterschiedliche Sachebenen angesprochen sind: Die ethnische Deutung zielt auf Aussagen über die Bevölkerung, die hinter den mit den beiden ersten Bereichen erfassten siedlungshistorischen und archäologischen Erscheinungen steht. Hier geht es also nicht um den oben angesprochenen ›äußeren‹, sondern um den ›inneren‹ Spannungsbogen, der sich mit Begriffen wie ›Konstanz‹, ›Wechsel‹ und ›Mischung‹ der einst konkret handelnden Menschengruppen umschreiben lässt. Die beiden 13.3 Zur diachronen Dimension von Fund- und Befundbildern 393 <?page no="394"?> ersten Bereiche hängen insofern eng zusammen, als die Frage der Siedlungs- und Besiedlungskontinuität zwar nicht allein, aber doch zu einem wesent‐ lichen Maße auf der Basis von Konstanz bzw. Veränderung der Funde und Befunde beurteilt wird. Berger (1973, 24) sah eine der Ursachen für die nur zurückhaltende grundsätzliche Erörterung der Kontinuitätsproblematik in der Ur- und Früh‐ geschichtswissenschaft in der Tatsache, dass man sich stärker als je zuvor »der Lückenhaftigkeit und Vorläufigkeit des Quellenbestandes« bewusst sei. So überrascht es nicht, dass er das Problem der Quellenstruktur und Quellenüberlieferung in der Archäologie in seinem Beitrag immer wieder betont hat. Die fachspezifische Quellenlage war auch der Ausgangspunkt von Jens Lü‐ ning (1976), der sich allerdings nicht mehr mit der »einfachen Alternative« Kontinuitätversus Diskontinuität« zufriedengab (ebd. 174). Er entwarf viel‐ mehr eine Systematik für die archäologische Erfassung und Beschreibung von Formen der Kontinuität und Diskontinuität. Während er das Phänomen der Diskontinuität anhand der Konzepte »Unterbrechung«, »Ablösung« und »Überlappung« von wie im Einzelnen auch immer beschaffenen Tradi‐ tionen differenzierte (Abb. 73), betrachtete er das Problem der Kontinuität aus einem ausgesprochen sezierenden Blickwinkel. Indem er anstelle eines undifferenzierten Kontinuitätsbegriffs von Merkmalskomplexen ausging und damit notwendigerweise Einzelmerkmale bzw. ihre Kombination zur Grundlage seiner formalen Kontinuitätsanalyse machte, gelangte er zu unterschiedlichen Typen des Kontinuitätsgrads und Kontinuitätsverlaufs. Während eine »vollständige« oder »absolute« Kontinuität nur bei Konstanz aller betrachteten Merkmale von einer Zeitstufe zur nächsten besteht, lässt sich die »partielle« Kontinuität bzw. partielle Diskontinuität nach der An‐ zahl der konstant bleibenden Merkmale differenzieren. Läuft kein Merkmal weiter, liegt vollständige Diskontinuität vor (Abb. 74). Das Phänomen der Kontinuität lässt sich darüber hinaus auch in Bezug auf Konstanz bzw. Ersetzung von Merkmalen sowie auf ihren Umfang näher bestimmen (Abb. 75). 394 13 Raum und Zeit: Synchrone und diachrone Aspekte von Fund- und Befundbildern <?page no="395"?> Raum und Zeit: Synchrone und diachrone Aspekte von Fund- und Befundbildern wesentlichen Maße auf der Basis von Konstanz bzw. Veränderung der Funde und Befunde beurteilt wird. Berger (1973, 24) sah eine der Ursachen für die nur zurückhaltende grundsätzliche Erörterung der Kontinuitätsproblematik in der Ur- und Frühgeschichtswissenschaft in der Tatsache, dass man sich stärker als je zuvor »der Lückenhaftigkeit und Vorläufigkeit des Quellenbestandes« bewusst sei. So überrascht es nicht, dass er das Problem der Quellenstruktur und Quellenüberlieferung in der Archäologie in seinem Beitrag immer wieder betont hat. Die fachspezifische Quellenlage war auch der Ausgangspunkt von Lüning (1976), der sich allerdings nicht mehr mit der »einfachen Alternative Kontinuität-Diskontinuität« zufriedengab (ebd. 174). Er entwarf vielmehr eine Systematik für die archäologische Erfassung und Beschreibung von Formen der Kontinuität und Diskontinuität. Während er das Phänomen der Diskontinuität anhand der Konzepte »Unterbrechung«, »Ablösung« und »Überlappung« von wie im Einzelnen auch immer beschaffenen Traditionen differenzierte (Abb. 84), betrachtete er das Problem der Kontinuität aus einem ausgesprochen sezierenden Blickwinkel. Indem er anstelle eines undifferenzierten Kontinuitätsbegriffes von Merkmalskomplexen ausging und damit notwendigerweise Einzelmerkmale bzw. ihre Kombination zur Basis seiner formalen Kontinuitätsanalyse machte, gelangte er zu Abb. 84 Formen der Kontinuität und Diskontinuität anhand von je vier Merkmalen beim Übergang von Zeitstufe A zu Zeitstufe B und Zeitstufe C. Eggert_s001-470_4Aufl_End.indd 320 Eggert_s001-470_4Aufl_End.indd 320 31.01.2012 9: 58: 19 Uhr 31.01.2012 9: 58: 19 Uhr Abb. 73: Formen der Kontinuität und Diskontinuität anhand von je vier Merkmalen beim Übergang von Zeitstufe A zu Zeitstufe B und Zeitstufe C. - Nach Lüning 1976, 183 Abb. 8. Lüning ließ keinen Zweifel daran, dass eine adäquate Beurteilung der Konti‐ nuitätsproblematik in einem entscheidenden Maße von der chronologischen Kontrolle und damit vom Charakter der archäologischen Quellen und ihrer Überlieferung abhängt. Er wies zu Recht darauf hin, dass das zugrunde gelegte zeitliche Raster letztlich das Ergebnis der Kontinuitätsanalyse be‐ dingt: Die Ablösung eines bestimmten Keramikstils durch einen anderen mag sich bei einem zu groben Zeitraster als zeitliche Überlappung oder gar als diskontinuierliche Stilabfolge, das heißt als Abfolge mit Unterbrechung, darstellen (Lüning 1976, 185). Ein ähnlicher Effekt ist meines Erachtens auch bei einem kontinuierlichen Stilwandel denkbar, sofern dessen materieller Niederschlag schlecht überliefert und zeitlich wenig differenziert ist. Dieser Stilwandel könnte dann ohne Weiteres als Reflex einer Stilabfolge erschei‐ nen. Da der feinchronologischen Differenzierung in der Archäologie relativ enge Grenzen gesetzt sind, entzieht sich das mehr oder weniger große Interpretationsspektrum kultureller Beziehungen nur allzu oft einer klaren Festlegung. Hiervon sind vor allem die in erster Linie anhand von Keramik erarbeiteten neolithischen ›Kulturen‹ bzw. ›Kulturgruppen‹ betroffen. So 13.3 Zur diachronen Dimension von Fund- und Befundbildern 395 <?page no="396"?> 42 Hierzu z.-B. Narr 1991, 4 f. 43 Zu den hier umrissenen Fragen siehe auch Narr 1991. ist beispielsweise das Verhältnis der zum Spätrössener Horizont gehörenden sogenannten Bischheimer Gruppe zur Michelsberger Kultur bis heute umstrit‐ ten. 42 Neben einer unzureichenden feinchronologischen Auflösung spielen allerdings häufig Aspekte der Quellenüberlieferung und der Quellenstruktur eine Rolle. Aber selbst wenn eine vorzügliche chronologische Kontrolle gegeben wäre, ist das Medium ›Keramik‹ selbst doch nur von eingeschränk‐ tem Wert, wenn es darum geht, die Richtung und den Modus stilistischer Beeinflussung festzulegen. Letztendlich lassen sich solche Fragen eben doch nur anhand der Zeitfolge und damit bestenfalls indirekt entscheiden. 43 Abb. 74: Von vollständiger (1) über progressiv abnehmende Kontinuität bzw. zunehmende Diskontinuität (2-4) zu vollständiger Diskontinuität (5) von Zeitstufe A zu Zeitstufe B. - Nach Lüning 1976, 177 Abb. 2. 396 13 Raum und Zeit: Synchrone und diachrone Aspekte von Fund- und Befundbildern <?page no="397"?> Abb. 75: Formen der Kontinuität in Bezug auf Merkmalsumfang und Merkmalstausch von Zeitstufe A zu Zeitstufe B. - Nach Lüning 1976, 178 Abb. 3. 13.3 Zur diachronen Dimension von Fund- und Befundbildern 397 <?page no="398"?> 44 Sangmeister (1967, 227) schreibt: »Von Kulturwandel möchte ich dann sprechen, wenn die Mehrzahl der Kulturelemente, die den individuellen Charakter einer Kultur ausmachen, beibehalten wird und Änderungen nur begrenzte Teile der Kultur betreffen. Wird das gesamte Kulturbild anders, dann wäre der Begriff Kulturbruch angebracht« (siehe auch ebd. 222). Aus Lünings modellhafter Analyse von kultureller Konstanz, kulturellem Wandel und kulturellem Bruch ist jedenfalls deutlich geworden, dass die pauschale Betrachtung ›archäologischer‹ Kulturen weder der heute empirisch fassbaren noch der einstigen Realität angemessen ist. Aus die‐ sem Grunde hat Sangmeister (1967, 227) die Begriffe ›Kulturwandel‹ und ›Kulturbruch‹ nicht nur qualitativ, sondern vor allem auch quantitativ bestimmt. 44 Er machte zu Recht darauf aufmerksam, dass noch keine Ei‐ nigkeit darüber bestehe, wann man einen Kulturwandel »als so stark« ansehen müsse, dass man ihn als »Kulturbruch« zu bezeichnen habe (ebd. 228). Allerdings wird sich in solchen und ähnlichen Fragen der kulturellen Gewichtung wohl niemals Einigkeit erzielen lassen. Die Frage von Kontinuität und Diskontinuität ist vor gut 25 Jahren von Wolfgang Brestrich (1998, 183 ff.) am Beispiel der mittel- und spätbronzebzw. urnenfelderzeitlichen Grabfunde auf der Nordstadtterrasse von Singen am Hohentwiel aufgenommen worden. In seinen knappen allgemeinen Vorbemerkungen zur gräberfeldinternen Bewertung dieser Problematik betont er noch einmal nachdrücklich die Relativität der beiden Begriffe, deren graduelle und prinzipielle Bewertung sich sowohl nach den jeweils zugrunde gelegten Beurteilungskriterien als auch der Dichte der Quellen‐ überlieferung und dem Grad der chronologischen Auflösung bestimme. Die damit prägnant abgesteckte Problematik erfährt alsdann in seiner gräberfeldspezifischen Analyse ihre Konkretisierung. Die Untersuchung konzentriert sich quellenbedingt auf die Grabkeramik, die nach Form und Dekor, nach möglichen funktional bedingten Geschirrsätzen sowie nach der räumlichen Verteilung der wie üblich zu chronologischen Stufen bzw. Phasen zusammengruppierten Grabinventare analysiert wird. Dabei ging es dem Verfasser um Indizien, die im Sinne einer kontinuierlichen oder diskontinuierlichen Entwicklung interpretiert werden können. Auf der Suche nach solchen Kriterien unterschied Brestrich (1998, 185) zwischen der Ebene der Konstanz oder Veränderung der der Analyse zu‐ grunde gelegten Merkmale und jener des sogenannten »Wandlungsprozes‐ ses«. Mit dem Althistoriker Christian Meier (1973) begreift er kontinuierlich 398 13 Raum und Zeit: Synchrone und diachrone Aspekte von Fund- und Befundbildern <?page no="399"?> 45 Meier (1973, 62 f.) versteht die Kontinuität des »historischen Wandels« in diesem Kontext - »gleichgültig […], was am Ende eines bruchlosen Wandels noch von den Gegebenheiten des Anfangs übrig ist« - »einfach als langsame Form der Veränderung«. Man könne so »unter Umständen Kontinuierlichkeit des Wandels selbst dort und in solchen Bereichen beobachten, wo gerade eine Ordnung sich auflöst, also Diskontinui‐ tät einer Struktur eintritt.« 46 Für unseren Zweck ist es irrelevant, ob Brestrichs Analyse in allen ihren Aspekten zu überzeugen vermag. Dennoch sei angemerkt, dass der von ihm durchgehend als diskontinuierlich gewertete Wandel von Si I zu Si II (siehe Abb. 76) offenbar lediglich aus der Annahme eines sprunghaften Wandels abgeleitet ist (Bestrich 1998, 185 f.). Diese sprunghaften Veränderungen wiederum erschließt er aus den beiden »Typenfronten«, die sich unvermittelt gegenüberständen. Da er jedoch zugleich von »einer sich in bezug auf das chronologische System rasch und umfassend wandelnden Töpfereitradi‐ tion« ausgeht, bleibt seine Bewertung des Wandlungsprozesses unverständlich. Seine weiteren Ausführungen legen nahe, dass der überregionale Kontext dabei eine nicht unbeträchtliche Rolle gespielt haben könnte. ablaufende Wandlungsprozesse als sich allmählich vollziehende Verände‐ rung, bei der selbst dann von ›Kontinuität‹ gesprochen werden kann, wenn Ausgangsbasis und Endergebnis grundverschieden sind (Brestrich 1998, 185 Anm. 358). 45 Damit operiert er auf der Ebene der Merkmale und der Ebene des Wandlungsprozesses mit zwei Lesarten des Begriffes ›Kontinuität‹. Insofern kann er sagen, es ständen sich bei den keramischen Grundprinzi‐ pien der Singener Zeitstufen Si II und Si III zwar zwei unterschiedliche Formschemata gegenüber, der sie verbindende Wandlungsprozess sei jedoch »fließend« und damit »kontinuierlich« gewesen: Die »Kontinuität des Wan‐ dels« habe bei den keramischen Grundformen eine »klare Diskontinuität« hervorgebracht (ebd. 186, 185). Brestrich (ebd. 188) fasst seine Untersuchung des keramischen Wandels dahingehend zusammen, dass die Hauptphasen der Belegungsfolge (die Stufen Si I, II und III) »in ihrem wechselseitigen Verhältnis auf verschiedenen Ebenen durch Diskontinuitäten oder eine Ver‐ quickung aus Diskontinuitäten und Kontinuitäten« bestimmt würden (Abb. 76). 46 Damit wird jener differenzierte Kontinuitätsbegriff exemplifiziert, den Lüning in die Archäologie eingeführt hat. 13.3 Zur diachronen Dimension von Fund- und Befundbildern 399 <?page no="400"?> 324 Raum und Zeit: Synchrone und diachrone Aspekte von Fund- und Befundbildern 69 Meier (1973, 62 f.) versteht die Kontinuität des »historischen Wandels« in diesem Kontext - »gleichgültig […], was am Ende eines bruchlosen Wandels noch von den Gegebenheiten des Anfangs übrig ist« - »einfach als langsame Form der Veränderung«. Man könne so »unter Umständen Kontinuierlichkeit des Wandels selbst dort und in solchen Bereichen beobachten, wo gerade eine Ordnung sich auflöst, also Diskontinuität einer Struktur eintritt.« 70 Für unseren Zweck ist es irrelevant, ob Brestrichs Analyse in allen ihren Aspekten zu überzeugen vermag. Dennoch sei angemerkt, dass der von ihm durchgehend als diskontinuierlich gewertete Wandel von Si I zu Si II (siehe Abb. 87) offenbar lediglich aus der Annahme eines sprunghaften Wandels abgeleitet ist (Bestrich 1998, 185 f.). Diese sprunghaften Veränderungen wiederum erschließt er aus den beiden »Typenfronten«, die sich unvermittelt gegenüberständen. Da er jedoch zugleich von »einer sich in bezug auf das chrole und jener des sogenannten »Wandlungsprozesses«. Mit Christian Meier (1973) begreift er kontinuierlich ablaufende Wandlungsprozesse als sich allmählich vollziehende Veränderung, bei der selbst dann von ›Kontinuität‹ gesprochen werden kann, wenn Ausgangsbasis und Endergebnis grundverschieden sind (Brestrich 1998, 185 Anm. 358). 69 Damit operiert er auf der Ebene der Merkmale und der Ebene des Wandlungsprozesses mit zwei Lesarten des Begriffes ›Kontinuität‹. Insofern kann er sagen, es ständen sich bei den keramischen Grundprinzipien der Singener Zeitstufen Si II und Si III zwar zwei unterschiedliche Formschemata gegenüber, der sie verbindende Wandlungsprozess sei jedoch »fließend« und damit »kontinuierlich« gewesen: die »Kontinuität des Wandels« habe bei den keramischen Grundformen eine »klare Diskontinuität« hervorgebracht (ebd. 186; 185). Brestrich (1998, 188) fasst seine Untersuchung des keramischen Wandels dahingehend zusammen, dass die Hauptphasen der Belegungsfolge (die Stufen Si I, II und III) »in ihrem wechselseitigen Verhältnis auf verschiedenen Ebenen durch Diskontinuitäten oder eine Verquickung aus Diskontinuitäten und Kontinuitäten« bestimmt würden (Abb. 87). 70 Damit wird jener differenzierte Kontinuitätsbegriff exemplifiziert, den Lüning in die Archäologie eingeführt hat. Die Analyse der Singener Grabfunde ist ein gutes Beispiel für die erörterten, gerade auch bei archäologischen Kontinuitätsanalysen allgegenwärtigen Schwierigkeiten der inneren Gewichtung und der Relativität der zentralen Begriffe ›Kontinuität‹ und ›Diskontinuität‹. Darüber hinaus zeichnet sie sich durch eine vorbildlich klare historische bzw. kulturanthropologische Bewertung der dabei gewonnenen Einsich- Abb. 87 Kontinuität und Diskontinuität der mittelbis spätbronzezeitlichen Grabfunde von Singen a. H. Eggert_s001-470_4Aufl_End.indd 324 Eggert_s001-470_4Aufl_End.indd 324 31.01.2012 9: 58: 20 Uhr 31.01.2012 9: 58: 20 Uhr Abb. 76: Kontinuität und Diskontinuität der mittelbis spätbronzezeitlichen Grabfunde von Singen a. H. - Nach Brestrich 1998, 188 Abb. 35. Die Analyse der Singener Grabfunde ist ein gutes Beispiel für die erörterten allgegenwärtigen Schwierigkeiten der inneren Gewichtung und Relativität der zentralen Begriffe ›Kontinuität‹ und ›Diskontinuität‹ gerade auch bei ar‐ chäologischen Kontinuitätsanalysen. Darüber hinaus zeichnet sie sich durch eine vorbildlich klare historische bzw. kulturanthropologische Bewertung der dabei gewonnenen Einsichten aus. Brestrich (1998, 189) lässt keinen Zweifel daran, dass der von ihm in Singen herausgearbeitete »Wandlungs‐ prozeß« Si I/ II und Si II/ III lediglich den »formalen und ornamentalen Wandel einer Keramiktradition« repräsentiert. Mit diesem Ergebnis lassen sich nicht einmal die unmittelbar töpfereispezifischen Fragen - er nennt die Produktionsbedingungen bzw. die Organisation der Töpferei im ökono‐ mischen Gesamtgefüge - beantworten. Für die unmittelbare Ebene der den konkreten keramischen Wandel steuernden Faktoren gilt das Gleiche. Wie soll man sich zum Beispiel die Mechanismen vorstellen, die zu der von ihm konstatierten abrupten Veränderung der Keramik von der Stufe Si I zu Si II geführt haben? Zu all dem kann die archäologische Analyse nichts Wesentliches beitragen. Fragt man also nach dem historischen oder kulturanthropologischen Ergebnis der Singener Kontinuitätsanalyse, muss man eine Antwort schuldig bleiben. Hier bedarf es in der Tat, wie Brestrich (ebd. 189) in erkenntnistheoretischem Sinne feststellt, besonderer »problem‐ orientierter Forschungsansätze«. Diese Ansätze, so muss man hinzufügen, können allerdings nur aus jenen Fächern kommen, deren Erkenntnispoten‐ zial nicht durch eine Quellenbasis bestimmt wird, die wesentlich durch das Kriterium der Überlieferung selektiert worden ist. Grundsätzlich gesehen zeigt sich also, dass eine Beurteilung von kultureller Kontinuität und Diskontinuität in einem großen Maße von den Zielen 400 13 Raum und Zeit: Synchrone und diachrone Aspekte von Fund- und Befundbildern <?page no="401"?> und vom Raster der Untersuchung abhängt. Dabei ist auch die Frage von Bedeutung, welche Kulturzüge man wie - ob in relativer Isolierung oder in Kombination - zur Basis der Analyse macht. Es versteht sich, dass vor einer solchen Analyse bereits die notwendige räumliche Integration der archäologischen Phänomene erfolgt ist, wir es also mit der diachronen Betrachtung und Interpretation von Formenbzw. Befundkreisen zu tun haben. Wir begnügen uns damit, die Kriterien, die der Beurteilung der Fragestel‐ lung zugrunde liegen, aufzulisten. Es handelt sich (1) um das Kriterium der Form, (2) um das Kriterium der Assoziation und (3) um das Kriterium des Raums. Während das Formkriterium auf das archäologische Sachgut und die geeigneten Befunde unter dem Aspekt der Konstanz bzw. des Wandels ihrer formspezifischen Prägung während einer bestimmten Zeitspanne gerichtet ist, wird mit dem Assoziationskriterium die Stabilität oder Insta‐ bilität der Vergesellschaftungen von Sachgut bzw. Befunden (einschließlich ihrer zugehörigen nichtmateriellen Sphäre) innerhalb einer solchen Zeit‐ einheit untersucht. Das dritte Kriterium, das des Raums, dient sowohl in seiner lokalen als auch regionalen Variante zur Erfassung des Grads der Platzkonstanz bzw. der raumbezogenen Veränderungen. Es bedarf wohl keiner erneuten Betonung, dass sich die aus diachroner Perspektive vorge‐ nommene Beurteilung des Kulturverhaltens mannigfachen, die Erkenntnis einschränkenden Schwierigkeiten gegenübersieht. Noch schwieriger wird es, wenn wir über die betrachtete Ebene der Archäologischen Kultur zur einstigen Lebenswirklichkeit vorzustoßen suchen. Diese einstige Lebenswirklichkeit, die die Ebene der Archäologischen Kultur transzendiert, hat auch Edward Sangmeister (1967, 227) gemeint, als er am Beispiel der entlang der Zeitachse feststellbaren Veränderung der Kultur der Linearbandkeramik die Frage stellte, was dieser Wandel in wichtigen Teilen der Kultur bedeutet haben mag. Er fragte nach den Mechanismen des Kulturwandels, nach möglichen endogenen oder exogenen Faktoren, und er kam zu dem Schluss, es könne für diese Fragen weder in diesem noch in anderen Fällen eine »Patentlösung« geben. Man würde sich »in jedem Ein‐ zelfall die Argumente zusammensuchen müssen« und dann abwägen, »ob es schon eine Antwort gibt und welche Wahrscheinlichkeit sie beanspru‐ chen kann« (ebd. 228). Wenngleich dieser nüchternen Einschätzung sicher zuzustimmen ist, besteht doch andererseits auch Grund für die Auffassung, dass die für die Archäologie entscheidenden Fragen von Kulturkontinuität, 13.3 Zur diachronen Dimension von Fund- und Befundbildern 401 <?page no="402"?> 47 Siehe unten, Kap.-15.2.4, S.-480 ff. 48 ›Empirische Kulturwissenschaft‹ ist die auf Bausinger zurückgehende Tübinger Be‐ zeichnung für das Fach, das an anderen Universitäten anstelle von ›Volkskunde‹ heute meist ›Europäische Ethnologie‹ genannt wird. - Zur Entwicklung des Fachs unter Bausinger siehe Bürkert/ Johler 2021 (darin bes. der Beitrag von Bausinger. S. 33 ff.). 49 Bausinger (1969, 18 Anm. 33) verwendet dafür den Begriff ›Aktoren‹; er betont zu Recht, dass der Begriff ›Träger‹ an eine in der Wirklichkeit nicht vorhandene Distanz zwischen Aktoren bzw. Akteuren und Sache denken lässt. Kulturwandel und Kulturbruch in ihren theoretischen Aspekten nicht im Fach selbst, sondern nur im weiteren Rahmen der Vergleichenden Kultur‐ wissenschaften, insbesondere der Ethnologie, fruchtbringend bearbeitet werden können. Wenn diese Kulturwissenschaft auch in aller Regel nur über eine geringe zeitliche Dimension verfügt, sind ihre Quellen doch vorzüglich geeignet, um für die Archäologie relevante Prozesse und Mechanismen des kulturellen Wandels herauszuarbeiten bzw. zu präzisieren. Diese Prozesse und Mechanismen können mit Stichworten wie ›Innovation‹ oder ›interne Neuerung‹, ›Diffusion‹ oder ›Übernahme von Außen‹, ›Akkulturation‹ oder ›Aneignung‹, ›Assimilation‹ oder ›Anpassung‹ sowie ›Adaptation‹ oder ›Angleichung‹ umschrieben werden. In diesem Sinne ist der besonders wich‐ tige Bereich von Konstanz und Wandel im ethnographisch dokumentierten Töpfereihandwerk und sein archäologisches Erkenntnispotenzial vor gut 20 Jahren von Thomas Knopf (2002) in einer exemplarischen Untersuchung eingehend analysiert worden. 47 13.3.2 Kontinuität und Diskontinuität bei Hermann Bausinger Zum Abschluss erscheint es sinnvoll, noch kurz auf die Begriffe ›Konti‐ nuität‹ und ›Diskontinuität‹ in einem nichtarchäologischen kulturwissen‐ schaftlichen Fach einzugehen. Vor rund 50 Jahren hat sich der Tübinger Kulturwissenschaftler Hermann Bausinger (1926-2021) mit dem Kontinui‐ tätskonzept in der Empirischen Kulturwissenschaft 48 beschäftigt (Bausinger 1969). Er sprach dabei von der »Algebra der Kontinuität« im Sinne einer zwar schematischen, aber doch zugleich systematischen Erfassung und Bewertung von entsprechenden Traditionsmustern. Dabei entwarf er eine »Typologie von Traditionsbefunden« (ebd. 11), die auf vier Merkmalen basierte, und zwar (1) auf der Sache, (2) dem Ort oder Raum, (3) den Trägern oder ›Akteuren‹ 49 und (4) der Funktion. 402 13 Raum und Zeit: Synchrone und diachrone Aspekte von Fund- und Befundbildern <?page no="403"?> 50 So z. B. für die Merkmalskombination Nr. 3 der Abb. 77: »Eine Emigrantenfamilie feiert Weihnachten in Amerika wie früher in Deutschland; sie beschafft sich auch einen Christbaum, der im Mittelpunkt des Familienfestes steht - auch bei den in Amerika geborenen Kindern. Gewiß wird schon hier das Etikett der Kontinuität fragwürdig; es handelt sich weniger um Kulturkonstanz als um Kulturwanderung - aber zwischen beiden kann ein Zusammenhang bestehen« (Bausinger 1969, 18); Merkmalskombina‐ tion Nr. 5: »In einer Fremdenverkehrsgemeinde wird noch die alte Tracht getragen - aber nur bei besonderen Anlässen und ausschließlich in spektakulären Aufzügen, die mittelbar dem Fremdenverkehr dienen. In solchen Fällen wird die Kontinuität zwar oft ausdrücklich proklamiert, sie ist aber doch recht fraglich« (ebd. 19). Abb. 77: Kontinuität und Diskontinuität in der Empirischen Kulturwissenschaft am Beispiel von vier Merkmalen. - Nach Bausinger 1969, 17. ›Kontinuität‹ bestimmt sich für Bausinger (1969, 17) nicht aus der isolierten Betrachtung dieser Merkmale, sondern aus ihrer Kombination, in der jedes einzelne Element entweder positiv oder negativ sein kann. Die sich so ergebenden 24 = 16 Merkmalskombinationen werden von ihm in einem Dia‐ gramm aufgelistet und in eine Abfolge abnehmenden Kontinuitätsgehalts gebracht, der durch eine schematische Kurve symbolisiert wird (Abb. 77). Für die Mehrzahl der so unterschiedenen Merkmalskombinationen erörterte er dann fiktive ›Fälle‹ 50 und zeigte die Schwierigkeiten auf, die entstehen, wenn die Merkmalswerte ›vorhanden‹ bzw. ›nicht vorhanden‹ in ihrer Aussagekraft gewichtet werden müssen. So stellte er beispielsweise die 13.3 Zur diachronen Dimension von Fund- und Befundbildern 403 <?page no="404"?> 51 Der ›Fall‹ der Merkmalskombination Nr. 5 zeigt, wie Bausinger (1969, 19) zutreffend feststellt, sehr klar das »besondere Gewicht der Funktion«: Sache, Raum bzw. Ort und Aktoren bleiben gleich, die Funktion hat sich jedoch geändert. Frage, ob ein gegebenes Phänomen, eine »Sache« in seiner Terminologie, wirklich als konstant geblieben angesehen werden könne, wenn einzelne äußerliche Elemente fortbeständen, oder ob es nicht adäquater sei, die Sache ohne Berücksichtigung ihres äußeren Habitus von ihrer Funktion her zu definieren bzw. zu gewichten. Ist also die äußere Form für das Konzept der Kontinuität relevant oder der funktionale Stellenwert, den das jeweilige Phänomen in einem gegebenen kulturellen Kontext einnimmt? 51 Wie, so wäre mit Bausinger weiter zu fragen, sollte man das Merkmal des Raums bestimmen? Ist der lokale, der regionale oder vielleicht gar nur der kultur- oder sprachgeographische Kontext (im Sinne eines Kultur- oder Sprachraums) relevant? Deutet sich in Letzterem nicht vielleicht schon an, dass zur geographischen Komponente der ›soziale Raum‹ treten müsste? Wie aber wäre die bei Kontinuität ebenfalls unterstellte ›Konstanz‹ der Akteure im je konkreten Falle zu definieren? Dass man in der Regel keine biotische Identität fordern wird, bedarf keiner Frage, aber wie steht es zum Beispiel mit den Kategorien ›Ethnos‹ und ›soziale Schicht‹? Wie präzis kann und muss das Merkmal der Funktion festgelegt werden, damit in einem gegebenen Befund von funktionaler Kontinuität gesprochen werden kann? Wie wäre schließlich die ›Kontinuitätsrelevanz‹ jedes einzelnen Merkmals zu gewichten, wenn man denn wirklich die 16 Kombinationen in ihrem Kontinuitätsgehalt zu bewerten hätte? Solche Fragen sind in den soziologisch und historisch orientierten Kultur‐ wissenschaften im Kontext der Kontinuitätsproblematik von entscheiden‐ der Bedeutung. Hinzu kommt, wie Bausinger (1969, 21, 26) zu Recht feststellt, ein weiterer wichtiger Aspekt: Bei jedem Merkmal, das in Bezug auf Kontinuität oder Diskontinuität, also entlang der Zeitachse, betrachtet wird, könne sich das Pendel der Übereinstimmung dieses Merkmals mit sich selbst zwischen 100 Prozent und Null bewegen; auch die Nichtübereinstimmung sei keine absolute Größe, sondern eine Variable. Es verwundert daher nicht, wenn er am Ende seiner Analyse feststellt, der Begriff ›Kontinuität‹ sei »eher Herausforderung als Antwort«. Diese Feststellung radikalisiert er schließlich zu der Aussage, das Kontinuitätskonzept sei eine »Provokation«, die als Fernziel nach einer »umfassenden Theorie der Tradition« verlange (ebd. 30). 404 13 Raum und Zeit: Synchrone und diachrone Aspekte von Fund- und Befundbildern <?page no="405"?> 52 Siehe hierzu unten, Kap.-15, S.-457 ff. 53 Zur New Archaeology siehe Eggert 1978a; für eine knappe Zusammenfassung ders. 2014b. 54 So z.-B. Eggert 1994, 16 f.; ders. 1995, 36 f. Der Blick über die Grenzen des eigenen Fachs zeigt der Archäologie, dass jene Konzepte, derer man sich so oft in einer relativ unreflektierten Weise bedient, weder eindimensional noch in ihrer inhaltlichen Bestimmung ein für allemal fixiert sind. Aufgrund dieser an sich banalen, aber doch häufig nicht bzw. nicht hinreichend zur Kenntnis genommenen Tatsache ist seinerzeit die Forderung erhoben worden, die Archäologie möge ein aktives Interesse an bestimmten Aspekten der kulturanthropologischen Theoriediskussion entwickeln (Eggert 1978b, 19). Für die archäologische Kontinuitätsproblematik ergibt sich daraus die Konsequenz, Hypothesen bzw. Generalisierungen zur Interdependenz materieller und immaterieller Kultur zu entwickeln. Das sollte auf der Basis vor allem von ethnographi‐ schem Material im Lichte der übergreifenden wie der speziellen kultur‐ anthropologischen Diskussion des Traditionsbegriffs geschehen. Solche Generalisierungen, die die genuine Domäne der Ethnoarchäologie 52 bilden, verkörpern jenen Theoriebereich ›mittlerer Reichweite‹, dessen archäolo‐ gische Bedeutung im Rahmen der New Archaeology herausgestellt worden ist (Tschauner 1996). 53 Sie sollten dereinst zu einer Theorie der materiellen Kultur führen, deren Notwendigkeit für die Archäologie in den letzten drei Jahrzehnten verschiedentlich betont wurde. 54 13.3 Zur diachronen Dimension von Fund- und Befundbildern 405 <?page no="407"?> 1 Siehe unten Kap.-14.8, S.-446 ff. 14 Archäologie und Kulturwissenschaften: Das Problem der Interpretation Dieses Kapitel knüpft trotz des Titels insofern direkt an die vorausgehenden Ausführungen an, als hier zunächst Aspekte erörtert werden, die bereits zu‐ vor eine Rolle spielten. Im ersten Teil geht es um eine Vertiefung und Erwei‐ terung von Konzepten, die im vorangehenden Kapitel bereits angesprochen wurden. Anschließend folgt dann eine Auseinandersetzung mit verschiede‐ nen Aspekten archäologisch-kulturwissenschaftlicher Begrifflichkeit. Den letzten Teil dieses Kapitels bilden zwei Fallstudien archäologisch-kulturwis‐ senschaftlichen Vergleichens. 1 14.1 Sachgut und Verhalten Mit der räumlichen Integration archäologischer Phänomene über Typenkar‐ ten und Formenkreise hinaus zu geographisch umschreibbaren Einheiten eines oft präzis benennbaren Sozialverhaltens haben wir die ›künstliche‹, weil selbstgeschaffene klassifikatorische Welt der Archäologie bereits weit‐ gehend verlassen. Jetzt geht es nicht mehr um die Schaffung eines analyti‐ schen Instrumentariums, mit dem die Fülle der Erscheinungen in Relation zu einem bestimmten Erkenntnisziel geordnet werden kann, sondern um den Gegenstand dieses Erkennens selbst. In diesem Sinne münden die Bemü‐ hungen um eine räumliche Integration des Quellenmaterials in Kategorien, die zwar von uns geschaffen worden sind, dabei aber zugleich in ihrer besonderen Gestalt und Struktur einen bestimmten Ausschnitt der einstigen Lebenswirklichkeit widerspiegeln. Gemeinschaftsbildende Faktoren sowie Form und Struktur ur- und frühgeschichtlicher Gemeinschaften repräsentieren eine wesentliche Seite dieser einstigen Lebenswirklichkeit. Sie werden in der deutschsprachigen Archäologie traditionell unter dem Stichwort ›ethnische Deutung‹ erörtert. In diesem Zusammenhang meinte Eggers (1936, 43) seinerzeit, dass Grab‐ sittenkreise »von grundsätzlicher Bedeutung« für die »Lösung ethnischer Fragen seien«. Gerade im Falle des Ethnos sind wir uns jedoch seit 1945 <?page no="408"?> 2 Siehe z.-B. Eggers 1950a; ders. 1959, 199 ff. 3 Diese Feststellung gilt trotz der Tatsache, dass diese Frage die deutsche Ur- und Frühgeschichtsforschung zwischen 1900 und 1945 unter teils ausgesprochen chauvi‐ nistischen und rassistischen Vorzeichen dominiert hat. - Zum gegenwärtigen Stand der Diskussion immer noch Brather 2000; ders. 2004; ders./ Wotzka 2006; Siegmund 2000; ders. 2006. 4 Zu Kossinna und seiner ›Methode‹ siehe Eggert 2006, 42 ff. 5 Zum Problemkreis ›Kulturgruppe‹ und ›Kulturkreis‹ siehe Brather 2001. über die mannigfachen Facetten dieses Begriffs und die Schwierigkeit der archäologischen Festlegung dessen, was er in den Sozialwissenschaften umfasst, klargeworden. Dazu hat nicht zuletzt Eggers selbst beigetragen. 2 Allerdings schrieb er auch, die Ur- und Frühgeschichtswissenschaft gebe sich als historische Disziplin selber auf, wenn sie nicht immer wieder den Versuch mache, auch das Problem der ethnischen Deutung zu lösen (Eggers 1959, 200). Dem wird man zustimmen, denn die Frage nach dem ›Ethnos‹ einer ur- und frühgeschichtlichen Bevölkerung ist - völlig unabhängig von den Möglichkeiten ihrer Beantwortung - eine historische Frage wie jede andere. 3 Und auch der von Eggers in den 1930er Jahren häufig wiederholte Verweis auf das Potenzial der Grabsitte hat nichts von seiner Bedeutung eingebüßt, solange wir uns mit ihm darüber einig sind, dass sie ein Indi‐ kator für die Identität einer wie im Einzelnen auch immer beschaffenen Gemeinschaft sein kann, aber nicht sein muss. Gerade er war es, der später mit Nachdruck darauf hinwies, dass der »Kardinalfehler der ›Methode Kossinna‹« in ihrer einseitigen Fragestellung gelegen habe und dass man die ›ethnische Deutung‹ nur als eine von vielen Möglichkeiten historischer Deutung ansehen solle (Eggers 1950a, 58). 4 Die Erörterung der Beziehungen zwischen ›Verhaltenskreisen‹, wie etwa dem räumlichen Niederschlag einer bestimmten Grabsitte und der Frage der Gruppenidentität der Bestattenden soll uns jedoch nicht von der Beantwor‐ tung einer anderen, zumindest implizit vorhandenen Frage ablenken: Wie steht es heute mit dem Konzept des Kulturkreises bzw. der Archäologischen Kultur? Ohne hier die relativ intensive Diskussion, die zum Kulturkonzept vor allem in den letzten gut sechs Jahrzehnten stattgefunden hat, auch nur annäherungsweise umreißen zu wollen, erscheinen einige grundsätzli‐ che Bemerkungen unumgänglich. 5 Als Ausgangspunkt sollen Sangmeisters (1967) Ausführungen zu den Begriffen ›Formenkreis‹ und ›Kultur‹ dienen, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil seine Auffassung teils erheblich von der hier vertretenen Konzeption abweicht. 408 14 Archäologie und Kulturwissenschaften: Das Problem der Interpretation <?page no="409"?> 6 Sangmeister (1967, 219) betont nachdrücklich, dass bei der Aufstellung eines Formen‐ kreises äußerst sorgsam vorgegangen werden müsse und seine »Interpretation als Kultur« erst nach intensiven Prüfungen vorgenommen werden dürfe. Er fasst seine Ausführungen samt ihren Implikationen folgendermaßen zusammen: »Ein mit allen Kontrollen aufgestellter und in seiner räumlichen Ausdehnung festgelegter Formen‐ kreis aus Fundgesellschaften gibt die Hinterlassenschaft einer Menschengruppe wieder, in der traditionsbildende Kräfte am Werke waren […]. Wo alle Bedingungen erfüllt sind, darf der Formenkreis als Kultur bezeichnet werden« (ebd. 222). Sangmeisters Konzept des Formenkreises setzt die Existenz von »Fundge‐ sellschaften« voraus. Mit diesem unüblichen Begriff zielte er auf die vorran‐ gige Beachtung von Befunden bei der Auswertung, und zwar als Gradmesser der Zusammengehörigkeit von Funden. Ein einzelner Geschlossener Fund, etwa ein Grabensemble, bilde ebenso eine »Fundgesellschaft« wie eine Siedlungsschicht, und das Gleiche gelte auch für ein komplettes Gräber‐ feld oder eine Siedlung (Sangmeister 1967, 211 ff.). Den »Idealfall einer Fundgesellschaft« unter sozialen und zeitlichen Aspekten repräsentierte für Sangmeister ein Gräberfeld: Ein gemeinsamer Bestattungsplatz belege die Zusammengehörigkeit einer Bevölkerung, während die Grabinventare eine Fundgesellschaft repräsentierten, die »eine Bevölkerung als Grabbeigaben« erhalten habe. Der Hauptvorteil liege aber darin, dass diese Fundgesellschaft in »zahlreiche kleine Einzelgesellschaften« zerlegbar sei. ›Formenkreise‹ entstehen nach Sangmeister (1967, 218 f.) »aus der Zu‐ sammenfassung von Fundgesellschaften gleicher Zusammensetzung«, und darin sah er »den wohl wichtigsten methodischen Schritt der Urgeschichts‐ wissenschaft«, da dadurch das an einer Einzelsiedlung oder an einem Gräberfeld gewonnene »Kulturbild« einer einzelnen eng geschlossenen Gruppe für eine größere, weiter verteilte Gemeinschaft Gültigkeit erhalte. Dies wiederum lasse einen Schluss auf die Stärke der - gemäß gängiger Deutung - dahinterstehenden »prägenden, traditionsbildenden Kräfte« zu. Ein solcher Formenkreis könne »durch Ausweitung des Kulturbildes der am besten bekannten Siedlungen und Gräberfelder zum Erkennen einer zeitlich und räumlich abgrenzbaren ›Kultur‹ führen«, die aufgrund des gleichen Deutungsmodus ebenfalls auf entsprechende traditionsbildende Kräfte zurückzuführen sei. 6 Es dürfte klar sein, dass Sangmeisters ›Formenkreis‹ nach Inhalt und Interpretation mit den hier erörterten Konzepten des Formen- und Befund‐ kreises bestenfalls teilweise übereinstimmt. Auf der inhaltlichen Ebene liegt der wesentliche Unterschied einerseits in seinem Konzept der Fundgesell‐ 14.1 Sachgut und Verhalten 409 <?page no="410"?> 7 Siehe oben, 14, 1, S.-408 ff. schaft, das für die oben vertretene Auffassung von Formenkreisen irrelevant ist. Zum anderen entspricht die von mir vorgenommene analytische Tren‐ nung von materiellen ›Formen‹ und materialisiertem ›Verhalten‹ nicht der Konzeption von Sangmeister. 7 Wenn es im Folgenden darum geht, gewisse Grundlinien eines Kulturkonzepts herauszuarbeiten, das für die Archäologie angemessen ist, dann wird es gerade auch um diese beiden Ebenen gehen. Als Ausgangspunkt für unsere Betrachtungen bietet sich eine Abhandlung von Jens Lüning (1972) an. 14.2 Zum »Kulturbegriff der urgeschichtlichen Praxis« Lünings Auseinandersetzung mit dem Kulturbegriff liegt die Auffassung zugrunde, dass archäologische Erkenntnis möglichst voraussetzungslos aus den Quellen abgeleitet werden sollte. Inwieweit ein derart betont empirizistisches Archäologieverständnis wissenschaftstheoretisch haltbar ist, soll hier nicht untersucht werden. Allerdings steht und fällt seine Konzeption einer streng induktiv vorgehenden Archäologie mit der nicht weiter erörterten Prämisse, archäologische Objekte öffneten sich über ihren »kulturellen Aspekt« - er nennt die »formale, funktionale, technologische, topographische, ökonomische und ökologische Struktur des Materials« - gleichsam von selbst der Erkenntnis. Dabei lieferten sie der Archäologie zugleich die Kriterien, mit deren Hilfe das Material dann betrachtet und gegliedert, kurz in »kulturelle Einheiten« transformiert werden könne (Lüning 1972, 159). Auf der Basis dieses Credos plädiert Lüning (ebd. 162) für einen »Kulturbegriff der urgeschichtlichen Praxis« und meint, dass ein solches Konzept »zwanglos aus dem Quellenmaterial« erwachse. Für die Neolithikumsforschung reduziert Lüning (1972, 168) ›Kultur‹ (bzw. ›eine‹ Kultur) auf »die gesamten archäologisch erkennbaren Überreste und Produkte des Verhaltens und der Betätigung menschlicher Individuen und Gruppen innerhalb eines bestimmten zeitlichen und räumlichen Aus‐ schnittes«. Den materiellen Kern dieses Kulturkonzepts bildet Keramik, die die zeitliche und räumliche Dimension der jeweiligen neolithischen ›Kultur‹ bestimmt. Insofern bringt er die Sache auf den Punkt, wenn er schreibt: »Neolithische Kulturen stellen […] Projektionen aller vorhandenen neolithischen Kulturerscheinungen auf ein dreidimensionales Gliederungs‐ 410 14 Archäologie und Kulturwissenschaften: Das Problem der Interpretation <?page no="411"?> system der Keramik dar« (ebd.). Obwohl Keramik in seinem Kulturkonzept eine herausragende Rolle spielt, spricht er sich gegen die Verwendung dieses Konzepts aus, wenn damit ausschließlich keramisches Material gemeint ist. In solchen Fällen sollte man unter Berücksichtigung des »räumlichen Aspektes der stufendefinierenden Keramik«, so meint er, »neutral nur von keramischen Gruppen, Kreisen, Stilen, Stilprovinzen oder Bereichen« sprechen (ebd. 171). Lünings (1972, 162) »induktiver Kulturbegriff« ist nur scheinbar »empi‐ risch aus dem prähistorischen Material herausentwickelt worden«. Er hat all jene mehr oder weniger komplexen, auf mannigfachen theoretischen Prämissen und Analogien - mithin auf Deduktion - beruhenden Operatio‐ nen übergangen oder jedenfalls nicht der Erwähnung für wert erachtet, die bei der Analyse des »kulturellen Aspektes« der Quellen und ihrer Transformation in »kulturelle Einheiten« notwendig waren. Berücksichtigt man sie jedoch, ist klar, dass bereits die Typisierung des archäologischen Materials - der Funde wie der Befunde - auf klaren theoretischen Setzun‐ gen aufbaut, deren Produkte, die Typen, dann bei ihrer Integration zu höheren Einheiten, zum Beispiel zeitlich-räumlichen Gebilden, in einem zunehmenden Maße von kulturtheoretischen Annahmen inspiriert werden. Wenn also ein streng empirizistisches Wissenschaftsverständnis in der konkreten Forschung nicht praktiziert werden kann und daher eine Fiktion ist, dann wird man auch den Glauben aufgeben müssen, dass die Archäo‐ logie erkenntnistheoretisch autark sei. Sie verfügt eben nicht über eine »selbständige methodische Basis bei der Analyse ihres Quellenmaterials« (ebd. 146) und kann daher auch im analytischen Bereich nicht auf die Konzepte anderer Fächer verzichten. Die begrifflich sinnvolle, konkret jedoch nicht durchführbare säuberliche Trennung von sezierender Analyse und darauffolgender synthetisch vorgehender Interpretation hat bei Lüning zu einer Dichotomie von ›kulturell‹ und ›sozial‹ geführt, und zwar in dem Sinne, dass der erste Begriff dem archäologisch Handgreiflichen (= der oben erwähnte »kulturelle Aspekt«), der zweite hingegen der einstigen Lebenswirklichkeit zugeordnet wird (ebd. 156 ff.). Allein aufgrund der Fiktion, eine solche Differenzierung zwischen Kulturellem und Sozialem sei auch praktisch möglich, konnte er behaupten, es sei »methodisch unzu‐ lässig«, »an die Analyse kultureller Phänomene mit Begriffen, Einheiten, Prozessen und Relationen der sozialen Kategorie heranzugehen«. Genauso steht es mit seinem Urteil, die Urgeschichtsforschung dürfe nicht »mit einem ›soziokulturellen Gebilde‹« - sprich einem »deduktiven Kulturbegriff« - 14.2 Zum »Kulturbegriff der urgeschichtlichen Praxis« 411 <?page no="412"?> 8 Lünings gleichsam idealtypisches zweistufiges Verfahren wird klar, wenn er im Sinne der oben skizzierten Begrifflichkeit Folgendes feststellt: »Aus derartig entwickelten kulturellen Einheiten müssen dann in einem interpretativen Untersuchungsgang so‐ ziale Einheiten, Institutionen und Verhaltensweisen erschlossen werden, die sich ja im urgeschichtlichen Quellengut einer direkten Untersuchung entziehen« (Lüning 1972, 159). 9 Für Lüning (1972, 168 f.) bezeichnet der Begriff »nichtkulturell« hier die sich seinem klassifikatorisch-chronologischen Kulturkonzept entziehenden sozialen »Einheiten« der neolithischen Lebenswirklichkeit. beginnen, sondern ein solches Gebilde könne bestenfalls ein Ergebnis sein (ebd. 158). 8 Sucht man dem Lüning’schen Kulturkonzept auf den Grund zu gehen, dann gewinnt man den Eindruck, dass er die sogenannte ›materielle‹ Kultur als eine von vornherein gegebene, gewissermaßen empirische Größe begreift. Diese Auffassung übersieht, dass im Vollzuge des ersten Untersu‐ chungsschritts, der »Analyse«, diese materielle Kultur - die »kulturellen Einheiten« Lünings - erst ›geschaffen‹ wird und damit aus der Ebene der ›reinen‹ Empirie heraustritt. Ich bin überdies der Meinung, dass Lüning (1972, 169) das Potential des Materiellen unterschätzt hat. Zwar wird man zustimmen, wenn er meint, die »heute definierten neolithischen Kulturen« repräsentierten nicht unbedingt »bereits ursprünglich vorhandene Einhei‐ ten nichtkultureller Art«, 9 aber seine Folgerung, sie seien in »kultureller Hinsicht« kaum wesentlich mehr als »chronologisch relevante Keramikein‐ heiten«, ignoriert die verbindenden Elemente dieser ›Kulturen‹. Zudem verneint er damit die Möglichkeit einer wie auch immer beschaffenen Widerspiegelung relevanter Aspekte der einstigen Wirklichkeit im entspre‐ chenden Sachgut und den zugehörigen Befunden. Letztlich spricht er sich damit auch gegen die Existenz eines engen Bandes zwischen der ›eigentli‐ chen‹ Kultur und ihren Objektivationen aus, die ja lediglich unterschiedliche Manifestationen ein und desselben historischen Phänomens darstellen. Als Fazit seiner Überlegungen rief Lüning (1972, 169) schließlich dazu auf, »sich einer Gesamtanalyse der Kultur in neolithischer Zeit zuzuwenden« und darüber die Frage, »ob es ›Kulturen‹ im Neolithikum gegeben habe und welchen Begriff man sich davon mache«, fortan als »fruchtlos« zu betrachten und eine entsprechende »begriffliche Bereinigung« herbeizufüh‐ ren (ebd. 171). Seiner reduktionistischen Auffassung des archäologischen Kulturbegriffs wurde seinerzeit ein für das Fach als notwendig erachtetes kulturtheoretisch orientiertes Kulturkonzept entgegengesetzt. Diesem Kon‐ 412 14 Archäologie und Kulturwissenschaften: Das Problem der Interpretation <?page no="413"?> 10 Narr (1984, 65) schreibt zum Begriff ›Ethnos‹: »Versteht man darunter in einem sehr allgemeinen Sinne eine Gruppe von Menschen, die sich über natürliche oder angenommene Verwandtschaftsgruppen hinaus einerseits einer Einheit bewußt sind, sich andererseits aber von vergleichbaren Gruppen absetzen, können wir natürlich dieses Bewußtsein archäologisch nicht feststellen.« Es folgt sodann die im Text zitierte Einschränkung. 11 »[…] eine räumlich und zeitlich abgrenzbare und von anderen zu unterscheidende konkrete Erscheinungsform von ›Kultur‹« (Narr 1984, 62). zept lag die Auffassung zugrunde, dass zwischen den Sphären des Ideellen und des Materiellen eine dialektische Beziehung bestehe (Eggert 1978b, 16). 14.3 Alternative Konzeptionen Archäologischer Kultur Mit dem Konzept der Archäologischen Kultur hat sich auch Narr (1984) in einer methodologisch-kulturvergleichenden Studie befasst. Er wählte dafür die endneolithische Schönfelder Kultur Mitteldeutschlands und archäolo‐ gisch, ethnohistorisch und ethnographisch bezeugte indianische Kulturen im nordamerikanischen Südwesten. Im Kontext des vorgegebenen Rahmen‐ themas »Ethnogenese« ging es ihm unter anderem um das Problem der archäologischen Bestimmung des Konzepts ›Ethnos‹. Er wollte Kriterien entwickeln, mit deren Hilfe sich im archäologischen Material »Züge« erkennen lassen, »die eine bestimmte Gruppe so verbinden und so gegen andere Gruppen abheben, daß sie auf eine Zusammenhang und Abgrenzung stiftende oder bewahrende Größe schließen lassen« (ebd. 65). Solche Grup‐ pen nannte er »Ethnoi« oder »Ethnien«, wohl wissend, dass er damit das gängige Verständnis von ›Ethnos‹ in einer Weise einschränkte, die zwar der archäologischen Quellenbasis, nicht aber dem Gebrauch dieses Begriffs in der Ethnologie angemessen ist. 10 Seiner Ansicht nach war es möglich, anhand von bestimmten Kriterien definierte ›archäologische Kulturen‹ als materiellen Niederschlag von ›Ethnien‹ zu interpretieren. Die entsprechen‐ den Kriterien suchte er in Auseinandersetzung mit den Auffassungen von Kossinna und V. Gordon Childe zu entwickeln (ebd. 57 ff.). Narrs Konzept der ›Archäologischen Kultur‹ basiert auf dem partitiven Kulturbegriff, 11 trägt aber der Tatsache Rechnung, dass quellenbedingt »nicht alle Teilbereiche« vergangener Kulturen archäologisch repräsentiert sein können. Es handele sich daher um einen »Hilfsbegriff«: »Gemeint ist ein archäologisch greifbarer […] Komplex zusammengehöriger Kultur‐ elemente, der sich bei entsprechendem Stand der Forschung zeitlich und 14.3 Alternative Konzeptionen Archäologischer Kultur 413 <?page no="414"?> 12 Mit der von Narr (1984, 63) geforderten »funktionalen Unabhängigkeit« der defi‐ nierenden Kulturelemente soll verhindert werden, dass Phänomene zu einem kenn‐ zeichnenden Kulturkomplex vereinigt werden, die in Wirklichkeit aus ihrer inneren Abhängigkeit resultieren. In diesem Sinne darf man den Ritus der Brandbestattung einer archäologischen Kultur und dort ebenfalls nachgewiesene Ustrinen nicht als funktional unabhängige Elemente werten. 13 Narr (1984, 66) beschreibt dieses heuristische Prinzip als »die Suche nach überschau‐ baren Einheiten, die charakterisiert sind durch zusammengehörige, aber funktional gegenseitig nicht unmittelbar voneinander abhängige Kulturelemente«. Dabei strebt er an, dass eine solche Einheit »in einem einigermaßen umreißbaren, in einem möglichst geschlossenen Siedlungsgebiet auftritt, dessen Begrenzung jedoch nicht durch ökolo‐ gisch-geographische Faktoren allein schon hinreichend zu erklären sein darf.« 14 Es ist in unserem Zusammenhang nicht notwendig, die Projektion dieses heuristischen Prinzips auf einige der Kulturen des amerikanischen Südwestens und die aus der dort vorhandenen Kontaktsituation von Archäologie, Ethnohistorie und Ethnographie resultierenden Differenzierungen der Grundproblematik zu erörtern. Ich möchte nur erwähnen, dass mir das von Narr gewählte Beispiel nicht besonders aussagekräftig erscheint, weil die archäologische Quellenlage nicht befriedigend ist und die ethnohis‐ torischen und ethnographischen Quellen in dem Augenblick überfordert sind, in dem sie dafür als ›Korrektiv‹ wirken sollen. räumlich abgrenzen läßt« (Narr 1984, 62). Entscheidend sei dabei, dass die als definierend herangezogenen Kulturelemente funktional voneinander unabhängig seien. 12 Nur dann könne man sicher sein, dass ihre Assozia‐ tion durch »etwas archäologisch nicht unmittelbar Greifbares« zustande komme, »das diesen Zusammenhang erst stiftet oder doch mindestens bewahrt« (ebd. 63). Damit meinte Narr ein hinter der einstigen kulturellen Lebenswelt stehendes, den »Zusammenhalt bewirkendes Prinzip«, das als solches archäologisch natürlich nicht überliefert werden kann (ebd. 64). Im konkreten Fall der Schönfelder Kultur, die durch eine spezifische Keramik, eine spezifische Bestattungssitte und eine hinreichend klare räumliche und zeitliche Abgrenzung definiert wird, zögerte er nicht, sie als archäologisches Korrelat eines Ethnos zu betrachten (ebd. 65 ff.). Narr (1984, 66 et pass.) bezeichnete diesen kulturtheoretisch inspirierten, pragmatisch die Möglichkeiten der Archäologie ausschöpfenden interpre‐ tatorischen Ansatz bescheiden als »heuristisches Prinzip«, 13 und er ver‐ folgte damit das auch in unserem Kontext zentrale Ziel, den archäologisch überlieferten Phänomenen zu einer historisch und kulturanthropologisch relevanten Dimension zu verhelfen. 14 Dies von ihm vorgeschlagene Prinzip hat eine massive Kritik von H.-P. Wotzka (1993a) erfahren, der sich in einer scharfsinnigen Analyse mit dem »traditionellen Kulturbegriff« in der Archäologie auseinandergesetzt hat. Er geht dabei von einer paradigmati‐ 414 14 Archäologie und Kulturwissenschaften: Das Problem der Interpretation <?page no="415"?> 15 Zu Kossinna und Childe siehe Veit 1984. schen Analyse der Kulturkonzepte von Kossinna und vor allem von Childe aus. Childe hat seine Auffassung ursprünglich von Kossinna entlehnt. 15 Ihr zentrales Element bildete die wiederkehrende Assoziation einzelner Kulturzüge, und diese ›archäologische Kultur‹ setzte Childe mit einem Volk bzw. einer Gesellschaft gleich. Dieses Kulturkonzept weist Wotzka (ebd. 31 f.) als tautologisch und zirkulär zurück und stellt Narrs heuristisches Prinzip in diese Tradition: Von Childe stamme das Kriterium der wiederkeh‐ renden Verknüpfung, von Kossinna hingegen jenes der scharfen kulturellen und räumlichen Konturierung. Er wirft Narr vor, seine »archäologische Operationalisierung anthropologischer Konzeptionen« schaffe einen »un‐ tauglichen Bezugsrahmen«: Sein heuristisches Prinzip basiere auf einem »sterilen archäologischen Ethnosbegriff«, dessen für die Archäologie rele‐ vante soziale, das heißt anthropologische Merkmale - zum Beispiel das Gruppenbewusstsein - zuvor eliminiert worden seien (ebd. 39 f.). Wotzkas Lösung des von ihm konstatierten Dilemmas bleibt allerdings etwas diffus. Auf der einen Seite appelliert er an die Archäologie, sich zu einer allen Kulturwissenschaften gemeinsamen Theorie zu bekennen und die Fiktion einer theoretischen Autarkie aufzugeben; auf der anderen Seite aber begibt er sich mit scheinbar pragmatischen Forderungen in die Niederungen der archäologischen Empirie: ›Kultur‹ und ›Ethnos‹ seien ohne »soziale Bezugsgröße« irrelevant; daher bedürfe es einer »soziologisch bestimmten Gruppe«, um sinnvoll mit diesen Kategorien arbeiten zu kön‐ nen. Folglich müsse die Archäologie zunächst Gruppen herausarbeiten, »die als Träger der gesuchten Kategorien in Betracht kommen« (Wotzka 1993a, 40). Bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass diese Forderung, die er mit einem pauschalen Hinweis auf »Haus- oder Siedlungsgemeinschaften« konkretisiert, der Quadratur des Kreises entspricht: Hier gerät etwas zur Voraussetzung, das die Archäologie mit eigenen Mitteln nicht leisten kann; Narrs »heuristisches Prinzip« resultierte aus dieser Einsicht. Wir können festhalten, dass empirische archäologische Forschung allein keine kultur- und sozialwissenschaftlich relevanten Kategorien hervorbrin‐ gen kann. Diese Kategorien müssen vielmehr von ›außen‹, das heißt aus jenen Fächern kommen, deren Quellenbasis nicht in einem ähnlich großen Maße durch die Besonderheiten der Überlieferung determiniert wird. Ganz im Sinne von Narr sollten daher archäologische Kriterien entwickelt wer‐ den, deren mutmaßliches Potenzial man mit einer gewissen Zuversicht 14.3 Alternative Konzeptionen Archäologischer Kultur 415 <?page no="416"?> 16 In dieser Hinsicht ist die exemplarische Analyse lehrreich, die Müller-Scheeßel (2000) dem Konzept des sogenannten ›West-‹ und ›Osthallstattkreises‹ gewidmet hat. 17 So Eggert 1978b, 19. Gemeint waren natürlich nicht Daten im Sinne von Zeitangaben, sondern von archäologischen Fakten. 18 Hierzu im Einzelnen Eggert 2002, 23 ff. aus ihrer transarchäologisch-kulturwissenschaftlichen Herkunft und ihrer entsprechenden Verankerung ableiten kann. Solche Kriterien, Narrs »heu‐ ristisches Prinzip« oder die oben angesprochenen ›Befundkreise‹, enthalten von Beginn an einen wesentlichen theoretischen Kern. Die Plausibilität ei‐ ner spezifischen archäologischen Deutung resultiert sowohl aus der Qualität ihrer archäologisch-empirischen Fundierung als auch ihrer analogischen Verknüpfungen. Für das Konzept der Archäologischen Kultur ergibt sich also, dass es sich nicht um eine theoriefreie, ausschließlich empirisch-induktiv gegründete Größe im Sinne von Lüning handelt. Es ist vielmehr eine Schöpfung des Archäologen oder der Archäologin und damit notwendigerweise ein mehr oder minder stark theorieabhängiges Gebilde. 16 Daher ist es nicht nur naheliegend, sondern sogar notwendig, es von vornherein auf der Grund‐ lage kulturwissenschaftlich aussagefähiger Kategorien zu entwickeln. Die Aussage, »jeglicher Interpretation archäologischer Daten als Zeugnisse menschlichen Handelns« lägen wenigstens implizit immer auch Aspekte einer Kulturtheorie zugrunde, 17 muss heute schärfer formuliert und mit einer klaren Handlungsanweisung versehen werden: Nicht irgendwelche präexistenten archäologischen ›Fakten‹ gilt es zu interpretieren, sondern die ›Fakten‹ selbst sind bereits Teil des interpretatorischen Unterfangens. Zwar wird niemand bezweifeln wollen, dass archäologische Funde und Befunde als solche konkret existieren, aber im Gegensatz zu ihnen bestehen die in unserem Kontext interessierenden ›Fakten‹ nicht an sich, sondern sind bereits das Ergebnis theoriegeleiteter zeitlich-räumlicher Integration. 18 Das muss bewusst gemacht und bei der Deutung berücksichtigt werden. Unter diesen Prämissen spricht nichts dagegen, die zeitlich-räumliche Kongruenz von Befundkreisen als ›Kultur‹ im Sinne einer Archäologischen Kultur zu bezeichnen. Selbst der Begriff ›Kulturkreis‹ käme grundsätzlich durchaus in Frage. Da er jedoch durch die Kulturhistorische Ethnologie belastet, ›Kultur‹ hingegen in der Archäologie gang und gäbe ist, sollte man vielleicht besser auf seinen Gebrauch verzichten. Für eine konkrete, in einer bestimmten Fund- und Befundsituation herausgearbeitete Archäologische Kultur gibt es keine Patent- oder Standarddeutung. Das Spektrum der 416 14 Archäologie und Kulturwissenschaften: Das Problem der Interpretation <?page no="417"?> 19 Hierzu etwa Eggert 2006; Veit 2006. 20 Siehe vor allem Kimmig 1969; ders. 1983; Fischer 1973; ders. 1982; ders. 1983; ders. 1993; ders. 1995; ders. 1996; Eggert 1988b/ 2011; ders. 1989/ 2011; ders. 1991a/ 2011; ders. 1998c/ 2011; ders. 1999/ 2023; ders. 2003a/ 2023; ders. 2007/ 2023; zuletzt 2012a/ 2023; Pare 1995; Krauße 1996; ders. 1999; Schier 1998; Burmeister 2000; ders. 2003; Veit 2005; Theel 2006; zusammenfassend Schier 2010. Zur grundsätzlichen Frage soziokultureller Evolution - auch mit Bezug auf das ›Fürstenphänomen‹ - Eggert 2012a/ 2023. Möglichkeiten muss vielmehr an jeden einzelnen Fall herangetragen und sorgfältig erwogen werden. 14.4 Individual-homologischer versus universal-analogischer Vergleich Bei der inhaltlichen Bestimmung der Prähistorischen Archäologie im zwei‐ ten Kapitel dieses Buches ist bereits die kulturanthropologische Dimension des Faches angesprochen und knapp charakterisiert worden. In unserem Zusammenhang bedeutet eine derartige Ausrichtung also, dass eine expli‐ zit kulturanthropologisch orientierte Ur- und Frühgeschichtswissenschaft sich im Vollzug der Forschung der Doppeldeutigkeit des Begriffs ›Kultur‹ bewusst ist. Damit nähert sie sich der Kultur (holistisch) ebenso wie den Kulturen (partitiv) aus einer historisch-vergleichenden Perspektive. Sie lässt sich darüber hinaus sowohl als ›Kulturwissenschaft in historischer Absicht‹ als auch als ›Ur- und Frühgeschichtsforschung in kulturwissen‐ schaftlicher Absicht‹ beschreiben. Im Mittelpunkt des damit angedeuteten Forschungsprogramms steht einerseits der komparative Ansatz und ande‐ rerseits eine zweigleisige Vorgehensweise: Die ur- und frühgeschichtlichen Phänomene werden vergleichend-kulturwissenschaftlich untersucht; diese Forschungsergebnisse dienen zugleich als Bausteine spezifischer als auch übergreifender Kulturtheorien. 19 Wenn derartige Kulturtheorien die höchste Ebene der Integration vergleichend gewonnener Daten darstellen, gibt es auf weniger hohem Abstraktionsniveau mannigfache Möglichkeiten der Inter‐ pretation meist sehr konkreter empirischer Befunde und Funde. Es genügt, in diesem Zusammenhang an das vieldiskutierte ›Fürstenphänomen‹ der Späthallstattzeit des westlichen Mitteleuropas zu erinnern. 20 Die kontroverse Diskussion des ›Fürstenphänomens‹ vermag zugleich paradigmatisch in die Problematik des gegenwärtigen Archäologieverständ‐ nisses einzuführen. Etwas verallgemeinernd lässt sich sagen, dass sich hier zwei Konzeptionen gegenüberstehen, die bereits in der Frühzeit der Ur- 14.4 Individual-homologischer versus universal-analogischer Vergleich 417 <?page no="418"?> 21 Siehe unten, Kap. 14.7, S. 435 ff., bes. 443 ff. u. Kap. 4.8 (Beispiele Dirk Krauße und Franz Fischer). 22 Siehe unten, Kap. 14.7, S. 440 ff. (Ulrich Fischer). und Frühgeschichtswissenschaft vorhanden gewesen sind. Es handelt sich um den Gegensatz zwischen einem auf der Einheit von Zeit und Raum basierenden Individualvergleich historisch verknüpfter Phänomene und ei‐ nem analogisch vorgehenden komparativ-kulturanthropologischen Ansatz. Dieser Gegensatz lässt sich in Anbetracht der heutigen Diskussion grob mit den Schlagworten ›individuell-homolog‹ und ›vergleichend-analog‹ bezeichnen. Schaut man jedoch genauer hin, dann stellt sich heraus, dass der erste - seinem eigenen Anspruch nach ›historische‹ - Modus der Interpretation auf das Prinzip des Analogischen Deutens nicht nur nicht verzichten kann, sondern auch eine ausgesprochen analogisch geprägte Tiefenstruktur aufweist. Darauf wird zurückzukommen sein. 21 Die besondere Quellensituation der Prähistorischen Archäologie bringt es mit sich, dass wir ihren zentralen Forschungsgegenstand, den »Menschen im Zustand der Schriftlosigkeit« - wie Karl J. Narr (1974, 125) ihn so treffend be‐ zeichnet hat -, nur indirekt über materielle Zeugnisse zu erfassen vermögen. Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit, die sozial- und kulturgeschichtliche Interpretation dieser Zeugnisse mit Hilfe des Analogieschlusses vorzuneh‐ men. Dabei ist die Herkunft der Analogien nicht festgelegt. Wichtig ist zunächst nur, dass zwischen ihnen und dem zu erklärenden Phänomenen eine Beziehung besteht, die ihre Verknüpfung plausibel erscheinen lässt. Dabei geht es, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht um historische Zusammenhänge - dies könnte beispielsweise auf bestimmte autochthone Kulturen des Pueblo-Gebietes im Südwesten der USA zutreffen -, sondern um strukturelle Beziehungen. Darauf wird später noch im Einzelnen einge‐ gangen. 22 Der ›analogieliefernde‹ Kontext dürfte sich im Normalfall auf vorindustrielle Verhältnisse beschränken. Damit kommen hier vor allem die Ethnologie sowie die Alte und Mittlere Geschichte in Betracht. Wie naheliegend der ›ethnographisch‹ inspirierte Vergleich bereits zu einer Zeit gewesen ist, als es weder eine ›Archäologie‹ noch eine ›Ethnolo‐ gie‹ gab, wird sich in den folgenden forschungsgeschichtlich orientierten Darlegungen zur Verwendung sogenannter ›ethnographischer Parallelen‹ im Rahmen früher archäologischer Interpretation zeigen. 418 14 Archäologie und Kulturwissenschaften: Das Problem der Interpretation <?page no="419"?> 23 Hierzu Jacob-Friesen 1928, 103. 24 Oesterling schreibt: »Sollte aber jemand leugnen, daß diese Dinge den Germanen als Waffen gedient, so möge er zu den Eingeborenen von Louisiana und anderen wilden Völkern Nordamerikas gehen, welche bis heute angeschärfte Steine als Messer und Waffen gebrauchen, wie mir viele Augenzeugen berichtet haben« (zit. nach Jacob-Friesen 1928, 79). 14.5 Ethnographische Parallelen Bereits in der vorwissenschaftlichen Epoche der Prähistorischen Archäo‐ logie hat man sich bei der Deutung archäologischer Funde gelegentlich ethnographischer Objekte und Verhältnisse bedient. Das trifft insbesondere auf das Zeitalter der zunehmenden Erschließung der Welt durch seefahrende europäische Nationen zu, da dadurch erstmals Gesellschaften in den euro‐ päischen Gesichtskreis traten, deren zivilisatorische Verhältnisse sich we‐ sentlich von denen Europas unterschieden. So lag es nahe, zur Interpretation von Steinartefakten ähnliche ethnographisch dokumentierte Gegenstände heranzuziehen. Auf diese Weise verfuhr etwa Johannes Oesterling (1691- 1751) in seiner 1714 in Marburg veröffentlichten Dissertatio historica de urnis sepulchralibus et armis lapideis veterum Cattorum. Er deutete in Hessen gefundene Steinbeile als Waffen und suchte diese Interpretation nicht nur mit Hilfe von Tacitus und dem Germanenbild des frühen 18. Jahrhunderts, 23 sondern auch mit einer ethnographisch gegründeten Argumentation zu untermauern. 24 Man kann also Karl Hermann Jacob-Friesen (1928, 152) beipflichten, wenn er feststellt, dass Oesterling bei der Funktionsbestim‐ mung von Steinbeilen »ethnographische Parallelen« herangezogen habe. Allerdings wird man seine Ansicht, Oesterling sei der Erste gewesen, der »Völkerkunde vergleichend anwandte«, nicht teilen wollen (ebd. 79). Denn Oesterling war mit seinem Bemühen, heimische urgeschichtliche Steingeräte mit Hilfe von völkerkundlichem Material zu interpretieren, zu jener Zeit keineswegs ein Einzelfall. Bereits rund 150 Jahre zuvor hatte sich der Mediziner, Universalgelehrte und Begründer eines Metall- und Fossilienkabinetts Michele Mercati (1541-1593) gegen den weitverbreiteten Glauben gewandt, es handele sich bei steinernen Beilen und Pfeilspitzen um cerauniae, das heißt um »Donnersteine« oder »Donnerkeile« (von griech. keraunós, Donnerschlag = Donnerkeil, eingeschlagener Blitz), die in Gewit‐ terwolken entständen. Mercati, der unter drei Päpsten (Pius V., Gregor XIII. und Sixtus V.) Intendant des Botanischen Gartens des Vatikans war, berief sich dabei nicht nur auf das Alte Testament und auf klassische Autoren, 14.5 Ethnographische Parallelen 419 <?page no="420"?> 25 Zu Mercati und anderen einschlägigen Belegen siehe Stemmermann 1934, 122 ff.; Clarke 1968, 6 ff.; Trigger 1989, 52 ff.; die präzisesten und prägnantesten Informationen über Mercati bei Daniel 1981a, 35, 36. 26 Zu Lafitau siehe u. a. Trigger (1989, 65), der die gängige Auffassung relativiert, es handele sich bei Lafitaus Werk um einen frühen Beitrag zur evolutionistischen Anthropologie. sondern verwies auch auf entsprechende ethnographische Objekte aus der Neuen Welt, die den vatikanischen Sammlungen von Forschungsreisenden als Geschenk übersandt worden waren. Sein nachgelassenes Werk Metallotheca, das Abbildungen solcher Steinartefakte enthielt, wurde allerdings erst im Jahre 1717 auf Geheiß des Papstes Clemens XI. veröffentlicht. 25 Das große Zeitalter der Entdeckungs- und Forschungsreisen vom 15. bis in das 18. Jahrhundert mit seiner Kunde von Gesellschaften, die keine Kennt‐ nis der Metallgewinnung und Metallverarbeitung besaßen, ermöglichte somit erstmals objektbezogene ethnographische Analogieschlüsse bei der Deutung urgeschichtlicher Steinartefakte in Europa. Im 18. Jahrhundert sind die indigenen Gruppen Nordamerikas in diesem Kontext ein immer wieder zitiertes Beispiel. Mit der Veröffentlichung des Buches Mœurs des sauvages amériquains comparées aux mœurs des premiers temps (1724) des französischen Jesuitenpaters Joseph-François Lafitau (1681-1746), der unter den Indigenen Kanadas missioniert hatte, wurde der ethnographisch inspi‐ rierte Vergleich jedoch nicht mehr auf die Ebene der Funktionsdeutung von Artefakten beschränkt, sondern auf die Sitten und Gebräuche von zeitgenössischen und frühen Gesellschaften ausgeweitet. 26 Diese in erster Linie auf die sozialen Institutionen konzentrierte Betrachtungsweise sollte allerdings erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Rahmen des Kulturevolutionismus zu einer der wesentlichen Komponenten einer universalistischen, entwicklungsgeschichtlich ausgerichteten Kulturtheorie werden. Bei ihrer Herausbildung spielten vor allem die Werke des engli‐ schen Ethnologen Edward B. Tylor, insbesondere Primitive Culture (1871), sowie das einflussreiche Buch Ancient Society, or Researches in the Lines of Human Progress from Savagery through Barbarism to Civilization (1877) des amerikanischen Rechtsanwalts Lewis Henry Morgan (1818-1881) eine entscheidende Rolle. Im Kontext der kulturevolutionistischen Interpretation der Menschheits‐ geschichte wurden rezente oder subrezente traditionelle Gesellschaften - das Interesse richtete sich insbesondere auf Jäger/ Fischer und Sammler - als zeitgenössische Repräsentanten von Entwicklungsstufen der geschicht‐ 420 14 Archäologie und Kulturwissenschaften: Das Problem der Interpretation <?page no="421"?> 27 Die große Bedeutung von Lubbocks Werk zeigt sich darin, dass es bis 1913 sieben Auflagen erlebte (Daniel 1975, 79). 28 Die im Folgenden referierten Aspekte der Konzeption von Sollas finden sich schon bei Wylie 1985, 66 f. 29 Hierzu das unmissverständliche ›Glaubensbekenntnis‹ von Sollas (1915, 520 f.): »What part is to be assigned to justice in the government of human affairs? So far as the facts are clear they teach in no equivocal terms that there is no right which is not founded on might. Justice belongs to the strong, and has been meted out to each race according to its strength; each has received as much justice as it deserved. […] Hence it is a duty which every race owes to itself, and to the human family as well, to cultivate by every possible means its own strength: directly it falls behind in the regard it pays to this duty, whether in art or science, in breeding or organisation for self-defence, it incurs a penalty which Natural Selection, the stern but beneficent tyrant of the organic world, will assuredly exact, and that speedily, to the full.« lichen Vergangenheit angesehen. Der Klassische unilineare Kulturevolutio‐ nismus unterstellte eine universal gültige Stadiensequenz des kulturellen und ›sittlichen‹ Fortschritts der Menschheit, dessen Vollendung man in der zeitgenössischen abendländischen Führungsschicht sah. Die sogenannten »Primitiven« (primitives) oder gar »Wilden« (savages) verkörperten dem‐ nach ein im Einzelnen durchaus zu differenzierendes frühes Stadium der Kulturentwicklung. Angesichts dieser Konzeption verwundert es nicht, dass sich Prehistoric Times (1865) von Sir John Lubbock (später Lord Avebury) nicht zuletzt als ein Kompendium einschlägiger »Sitten und Gebräuche der jetzigen Wilden« präsentierte, die - um einen weiteren Teil des deutschen Untertitels aufzunehmen - die »Ueberreste des Alterthums« mit dem Odem des Lebens versehen sollten. 27 Am klarsten, aber auch am extremsten ist diese Auffassung von Willliam Johnson (»W. J.«) Sollas (1849-1936), seinerzeit Professor für Geologie und Paläontologie an der Universität Oxford, in einem umfangreichen, erstmals 1911 veröffentlichten Buch mit dem Titel Ancient Hunters and Their Modern Representatives (1915) vertreten worden. 28 Als ein ausgesprochener Nach‐ zügler dürfte Sollas einer der letzten Klassischen Evolutionisten gewesen sein. Seine Konzeption unterschied sich allerdings von der der meisten anderen Evolutionisten vor allem durch ihre eigentümliche Verbindung von entwicklungsgeschichtlichen, rassisch-biologistischen und geographischen Elementen. Diese drei Säulen seiner Weltsicht ruhten auf einem expliziten sozialdarwinistischen Fundament, 29 das über die Stufen des menschlichen Fortschritts keinen Zweifel ließ: Wie seine Zeitgenossen ging auch er zwar implizit, aber dennoch klar davon aus, dass die britische Elite seiner Zeit die Krone des damals in der Größenordnung von 30-40 000 Jahren 14.5 Ethnographische Parallelen 421 <?page no="422"?> 30 Zur Chronologie Sollas 1915, 548 ff., bes. 555 Abb. 308, 558 Abb. 309, 567. 31 Der Begriff ›eolithisch‹ verweis auf griech. Eós, Göttin der Morgenröte, und líthos, Stein. 32 Sollas (1915, 520) fasst seine entsprechenden Darlegungen folgendermaßen zusammen: »[…] the Mousterians survive in the remotely related Australians at the Antipodes, the Aurignacians are represented by the Bushmen of the southern extremity of Africa, the Magdalenians by the Eskimo on the frozen margin of the North American continent and as well, perhaps, by the Red Indians.« 33 Grahame Clark (1951, 54) bezeichnete den Forschungsansatz von Sollas nicht allein als »nicht mehr zeitgemäß« (not only unfashionable), sondern »auch vermessen« (also overdaring). Zu Clarks eigener Auffassung siehe unten. 34 Zum hier interessierenden forschungsgeschichtlichen Aspekt der Konzeptualisierung und Deutung urgeschichtlicher Kulturverhältnisse siehe auch den informativen, 1993 von Wil Roebroeks vorgelegten Beitrag; er geht darin auch knapp auf Sollas ein. Beiläufig sei erwähnt, dass Roebroeks unter anderem aufzeigt, wie sehr einige der großen Fragen von damals auch heute noch - oder vielleicht besser: heute wieder -, gerechneten mühsamen Aufstiegs der Menschheit von ihren mutmaßlichen Anfängen im Chelléen und Acheuléen repräsentierte. 30 Jedenfalls glaubte er, in den rezenten und subrezenten Jägern nicht nur Analogien für die unterschiedlichen Menschengruppen bzw. »Rassen« der verschiedenen Stufen des Alt- und Jungpaläolithikums sehen zu dürfen. Für ihn stellten diese modern representatives vielmehr zugleich die direkten Nachkommen jener frühen »Rassen« dar, die durch jeweils überlegene andere »Rassen« schließlich an die Ränder der bewohnten Erde abgedrängt wurden und dort in weitgehender Isolation überlebt hätten. In diesem Sinne waren die Tasmanier der Mitte des 19. Jahrhunderts für ihn »obwohl rezent, im selben Augenblick eine paläolithische oder sogar, wie man etwas übereilt behauptet hat, eine eolithische Rasse«. Es handele sich bei ihnen um das »am wenigsten fortgeschrittene« Volk der Welt, das in der Mitte des 19.-Jahrhunderts »im‐ mer noch in der Morgenröte der paläolithischen Epoche« gelebt habe (ebd. 87). 31 So wie er die Tasmanier als Abkömmlinge der frühesten Menschheit ansah, so suchte und fand Sollas auch entsprechende Repräsentanten des Moustérien, Aurignacien und Magdalénien. 32 Anders als seine kulturevolutionistischen Vorläufer betrachtete Sollas rezente und subrezente Jäger- und Fischergruppen also keineswegs als zivi‐ lisatorisch-strukturelle Analogien für die Interpretation urgeschichtlicher Lebensverhältnisse. Sie repräsentierten für ihn vielmehr die genetischen Nachfahren zeitlich und räumlich klar umgrenzbarer paläolithischer Men‐ schengruppen. 33 Insofern unterscheidet sich seine Auffassung erheblich vom gängigen Kulturevolutionismus, der ja nicht mit dem Prinzip der Homologie, sondern der Analogie arbeitete. 34 Die kulturevolutionistische 422 14 Archäologie und Kulturwissenschaften: Das Problem der Interpretation <?page no="423"?> wenngleich in etwas verdeckter Form, die Diskussion beherrschen (ebd. 17 ff.). Dies gilt besonders für die alte Frage des monogenetischen bzw. des polygenetischen Ursprungs der heutigen Menschheit, die nunmehr vor allem auf der Basis der Variation des Erbmaterials erörtert wird. Sicht der Menschheitsgeschichte stellte eine extrem generalisierende Kon‐ zeption dar. Mehr oder weniger zeitgenössische Gesellschaften wurden als ein facettenreiches Spiegelbild von Verhältnissen betrachtet, die in den archäologischen Quellen entweder gar nicht oder aber nur in einer außerordentlich reduzierten Form fassbar waren bzw. sich lediglich über oft sehr vage, indirekte Hinweise andeuteten. In der Regel bediente man sich nur dort, wo es um konkrete Probleme der Interpretation der materiellen Hinterlassenschaften ging, des spezifischen analogischen Vergleichs. Dies kam jedoch nur selten vor, da man vor allem an den großen Linien der Entwicklung interessiert war. Das Forschungsinteresse war im Übrigen insofern eingeschränkt, als es in erster Linie den frühesten und frühen Epochen der Menschheit galt. Es ist daher kein Zufall, dass sich die Ver‐ bindung der beiden Fächer Prähistorische Archäologie und Ethnologie - beide begannen sich ja damals erst herauszubilden - weitgehend auf das Paläolithikum bzw. auf Jäger und Sammler konzentrierte. Hinzu kommt, dass der angestrebte universalistisch-entwicklungsgeschichtlich ausgerich‐ tete analogische Vergleich meist von Ethnologen und nur sehr selten von Archäologen bzw. von solchen Gelehrten, die in erster Linie an Archäologie interessiert waren, praktiziert wurde. Auch aus diesem Grunde sollte man seine Rolle im Rahmen einer forschungsgeschichtlichen Betrachtung der Interpretationsproblematik in der Archäologie nicht überschätzen. Seine Bedeutung ist eher indirekter Natur, und zwar insofern, als durch die insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weitverbreitete evolutionistische Kultur- und Weltauffassung eine spezifische Grundstim‐ mung für die Betrachtung der urgeschichtlichen Vergangenheit geschaffen wurde; diese Grundstimmung dauert - wie Narr (1974, 94) zu Recht betont hat - unterschwellig bis heute fort. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die vorschriftliche Vergangen‐ heit des eigenen Raumes seit dem 17. Jahrhundert zunehmend im Lichte des durch die Entdeckungsreisen ausgeweiteten europäischen Horizonts interpretiert wird. Dabei wurden die sogenannten ›ethnographischen Par‐ allelen‹ als Interpretationsmittel gemeinhin auf den Bereich der Fertigung und Verwendung von Gegenständen der materiellen Kultur beschränkt. 14.5 Ethnographische Parallelen 423 <?page no="424"?> 35 Zu Bastian siehe Fiedermutz-Laun 1970, bes. 77 ff.; neuerdings auch Fischer/ Bolz/ Kamel 2007. 36 Siehe Andree 1878; ders. 1889. 37 Etwa Ehrenreich 1903. So hat man im Kontext der sich im Verlaufe des 19. Jahrhunderts heraus‐ bildenden Archäologie schon bald den ethnographisch dokumentierten Herstellungstechniken vor allem von Keramik und Steinbeilen Aufmerk‐ samkeit geschenkt und die dabei gewonnenen Einsichten zur Deutung entsprechender Fertigungsspuren an archäologischen Artefakten und damit zur Illustration nur indirekt erschließbarer urgeschichtlicher Techniken herangezogen. Die Rolle der Ethnographie bei der Interpretation der urgeschichtlichen Vergangenheit ist für Großbritannien recht prägnant von Bryony Orme (1981, 2 ff.) herausgearbeitet worden. Man wird ihr prinzipiell zustimmen, dass die Archäologie seit ihren vorwissenschaftlichen Anfängen im 16. Jahr‐ hundert über das sehr starke Anwachsen des ethnographisch inspirierten Argumentierens im 19. Jahrhundert bis auf den heutigen Tag von der Ethnographie bzw. Ethnologie abhängig ist. Sie vertritt sogar die Meinung, nicht nur die heute gängige Ansprache und Deutung von Artefakten, sondern auch die Herausarbeitung und Erklärung kultureller Prozesse in der Archäologie sei in einem fundamentalen Maße von der Ethnologie geprägt. Für die deutschsprachige Archäologie gilt dies sicherlich nicht, da hier traditionell der Einfluss der Geschichtswissenschaft auf den Modus und den Inhalt archäologischer Interpretation vorherrscht. Erst wenn man sich auf die tieferen Zusammenhänge und Voraussetzungen im Sinne der von Narr angesprochenen, in das allgemeine Bewusstsein abgesunkenen ethnologisch-kulturgeschichtlichen Konstruktionen einlässt, wird man dem Urteil von Orme beipflichten. Aber es bleibt eher fraglich, ob sie dies gemeint hat. Die systematische Beschäftigung mit dem Problem der ›ethnographi‐ schen Parallelen‹ bzw. - allgemeiner ausgedrückt - der Verwendung des Analogieschlusses geht in der sich allmählich herausbildenden deutschen Ethnologie in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts auf Adolf Bastian (1826-1905) 35 und Richard Andree (1835-1912) 36 zurück. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden die grundsätzlichen Aspekte, nicht zuletzt auch im Zusammenhang mit der Kulturkreislehre, besonders intensiv diskutiert. Hier sind besonders Paul Ehrenreich (1855-1914), 37 Michael Haberlandt 424 14 Archäologie und Kulturwissenschaften: Das Problem der Interpretation <?page no="425"?> 38 M. Haberlandt 1911. 39 A. Haberlandt 1913. 40 Die entsprechende Passage verdient es, im Wortlaut zitiert zu werden: »Die prähisto‐ rischen Studien, so jung sie sind, haben schon einen unermeßlichen Erfolg gehabt. Sie haben gleichsam eine neue Welt erschlossen. Und zwar nicht etwa blos die prähistorische Welt. Um dasjenige zu verstehen, was die prähistorische Forschung zu Tage fördert, um die Geräthe und Fabrikate, die Wohnungen und Befestigungen, die Schädel und das sonstige Gebein, welches nach Jahrtausenden langer Verborgenheit an das Licht tritt, zu deuten, um daraus die Menschen der Urzeit in ihrem körperlichen und geistigen Verhalten, ihren Sitten und Gebräuchen, ihrem Wissen und ihren Vorurtheilen wieder zu erschließen, dazu reicht weder der prähistorische Stoff, noch der bloße Scharfsinn des prähistorischen Forschers aus. Die Mittel dazu liefert in vielen Fällen erst die Beobachtung der lebenden Menschen, wie sie für die Vergangenheit bei den Historikern, für die Gegenwart bei den Ethnographen aufgesucht werden muß. Denn was an einzelnen Orten noch gegenwärtig in Gebrauch ist, das hat an anderen seit Menschengedenken aufgehört, es zu sein« (Virchow 1874, V). 41 Hierzu Eggert 2006, 66 ff. 42 Eine genaue Betrachtung von Müllers Ausführungen zum Analogieschluss zeigt al‐ lerdings, dass er nicht hinreichend zwischen analogen und homologen Schlüssen unterschieden hat. Auch eindeutig homologische Argumentationen werden von ihm unter der Bezeichnung ›analogisch‹ geführt; siehe Müller 1898, 303 f. (1860-1940) 38 und dessen Sohn Arthur Haberlandt (1889-1964) 39 zu nennen. Eine Äußerung von Rudolf Virchow (1874, V) im Vorwort zur deutschen Ausgabe von LubbocksPrehistoric Times macht deutlich, dass es in den sieb‐ ziger Jahren des 19. Jahrhunderts noch weitgehend unproblematisch schien, mit Hilfe der ethnographischen Befunde nicht nur eine Funktionsdeutung von urgeschichtlichen Artefakten, sondern auch eine Interpretation von »Sitten und Gebräuchen« der »Menschen der Urzeit« vorzunehmen. 40 Verglichen damit ist die Einschätzung des Analogieschlusses durch den dänischen Archäologen Sophus Müller (1898, 299 ff.) 41 entschieden zurück‐ haltender. Er betont zwar die bedeutende Rolle von Analogien, verschweigt aber auch die damit verbundenen Schwierigkeiten nicht: Die archäologi‐ schen Quellen seien »vorläufig lückenhaft«, und bedürften »zur Aufklärung der unbekannten fernen Zeiten der vollen Hilfe, die ein Vergleich mit den historischen und mit den exotischen Völkern bieten« könne (ebd. 304 f.). Insgesamt wird man Müller wohl am ehesten gerecht, wenn man feststellt, dass sich sein analogisches Bemühen vor allem auf den Bereich der materiellen Kultur richtete. 42 In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts finden sich in der deutschen Archäologie kaum Beiträge zum methodologischen Status von Analogie‐ schlüssen. Eine systematische Reflexion solcher Fragen setzte erst mit der 14.5 Ethnographische Parallelen 425 <?page no="426"?> 43 Crawford (1927, 3 f.) schreibt: »[…] we can learn much from living people who inhabit similar sites today in Algeria. From such, and from traditional accounts of Maori forts we learn, by comparison, to understand the dumb language of prehistoric earthworks. Thus to see the past in the light of the present is to give it life and substance; this is the old anthropological method of Tylor and Pitt-Rivers and it has too long been neglected by archaeologists.« intensiven Publikationstätigkeit von K. J. Narr seit den frühen 1950er Jahren ein. 14.6 Anglophone Stellungnahmen zu Ethnographischen Parallelen nach dem Zweiten Weltkrieg Dass die englischsprachige Forschung auf diesem Felde entschieden aktiver gewesen ist, hat - wie gesagt - für Großbritannien Bryony Orme sehr klar aufgezeigt. Bereits im 17., dann aber vor allem im 18. Jahrhundert sei die antiquarische Imagination zunehmend unter den Einfluss ethnographi‐ schen Materials geraten, und zwar durchaus im umfassenden Sinne - also sowohl der ethnographischen Realien als auch der als fremd und exotisch empfundenen Sitten und Gebräuche. Damit wirkte sich die ethnographische Erfahrung zum einen auf der Ebene der Deutung der urgeschichtlichen Artefakte aus, zum andern schärfte sie den Sinn für die Bedeutung des Ent‐ wicklungskonzepts beim vergleichenden Studium der Kultur und Kulturen (Orme 1981, 13). Wie direkt sich englische Archäologen etwa gegen Ende der 1920er Jahre Ethnographischer Parallelen bedienten, lässt sich zum Beispiel an Osbert Guy Stanhope (»O. G. S.«) Crawford (1886-1957) , den Gründer der Zeitschrift Antiquity, zeigen, der sich im Jahre 1927 im Geleitwort für den ersten Band im Kontext der befestigten Erdwerke der Wessex-Kultur für das vergleichende Studium rezenter Befestigungsanlagen ähnlicher Art ausge‐ sprochen hat. 43 Das von Crawford dort vorgetragene, recht unbekümmerte Bekenntnis zum ethnographisch-analogischen Vergleich erinnert an die von Virchow mehr als 50 Jahre früher vertretene Auffassung. Es überrascht daher nicht, dass er sich direkt auf Edward B. Tylor und General Augustus Lane Fox Pitt-Rivers (1827-1900) bezog und damit deutlich machte, in welchem kulturtheoretischen Rahmen er argumentierte. Im Jahre 1927 war eine dermaßen rückwärtsgewandte Position allerdings recht ungewöhnlich. 426 14 Archäologie und Kulturwissenschaften: Das Problem der Interpretation <?page no="427"?> 44 Clarks (1951, 51) Argumentation geht von einer »Abfolge ökonomisch-sozialer Zu‐ stände« (sequence of economico-social states) und der Existenz »signifikanter Stadien in der Evolution der Kultur« (significant stages in the evolution of culture) aus. Daraus folgt für ihn, man müsse beim analogischen Deuten mit Hilfe der »komparativen Methode« Tylors darauf achten, dass die zueinander in Beziehung gesetzten Gesellschaften »analoge Stadien der Entwicklung« (analogous stages of development) verkörperten (ebd. 53). - Zum heutigen Stand der Reflexion soziokultureller Evolution siehe Eggert 2012/ 2023. 45 Wörtlich heißt es bei Clark (1951, 52): »[…] there are in fact no really primitive peoples living today. Modern savages have a history precisely as long as that of the most civilized peoples, only it does not happen to have been written down.« Hier sei beiläufig auf die auch für die damalige Zeit befremdliche Terminologie hingewiesen. 46 Unter Berufung auf die 14. Ausgabe der Encyclopedia Britannica definiert Clark (1951, 56) wie folgt: »Folk-Culture is the term generally applied to the way of life of the rural element in civilized communities, ›those who are mainly outside the currents of urban culture and systematic education‹.« 47 »The peasant basis, prehistoric in origin and incorporating even elements from the old hunter-fisher way of life, persists in the Folk-Culture of the highly civilized parts of Europe« (Clark 1951, 55 f.). Ferner: »By means of a critical historical method, it should be possible to strip away the civilized accretions and reveal the essential barbarian core« (ebd. 56 f.). Dies gilt in einem noch stärkeren Maße für die Darlegungen, die Grahame (auch »J. G. D.«) Clark (1907-1995) rund 25 Jahre später zum ethnographisch inspirierten analogischen Vergleich in der Festschrift für Crawford und unter direkter Anknüpfung an dessen Bemerkungen von 1927 veröffent‐ lichte. Clark (1951) gibt sich darin einerseits als ein Kulturevolutionist beinah ›klassischer‹ Prägung zu erkennen, 44 während er jedoch andererseits darauf hinweist, dass es heute keine »wirklich primitiven Völker« mehr gebe, da die »modernen Wilden« eine ebenso lange Geschichte wie die »zivilisiertesten Völker« hätten. 45 Aus dieser Tatsache schließt er, dass man »die größte Vorsicht« walten lassen müsse, wenn man »heutige Wilde als Quellen für die Rekonstruktion der frühesten Wildheit« nutzen wolle (ebd. 52). In diesem Kontext führt er das Konzept der Folk-Culture 46 ein - einer »Volkskultur«, die als »essentieller barbarischer Kern« auch in Europa seit urgeschichtlicher Zeit überlebt und sogar Elemente der vorneolithischen Jäger-/ Fischer- und Sammlerkulturen aufgenommen habe. 47 Es liegt auf der Hand, dass diese Folk-Culture dem Survival-Konzept Tylors nachempfunden ist. Aus den Implikationen dieses romantisierenden »Volkskultur«-Kon‐ strukts recht dubioser Abkunft folgt, dass Clark für einen eingeschränkten Kulturvergleich plädiert: Wo immer möglich, sollten die verglichenen Kul‐ 14.6 Anglophone Stellungnahmen zu Ethnographischen Parallelen 427 <?page no="428"?> 48 Hier verschwimmt die Grenze zur homologischen Deutung bereits. turen ein und dieselbe natürliche Umwelt aufweisen oder doch zumindest an ähnliche physische Bedingungen angepasst sein. Aus diesen Forderungen ergibt sich für ihn, dass vor allem jene Archäologen und Archäologinnen, die sich mit feldbaubzw. ackerbautreibenden neolithischen Gemeinschaften beschäftigen, für deren Deutung Analogien aus der Folk-Culture jenes Raumes heranziehen sollten, in dem diese Gemeinschaften archäologisch nachgewiesen sind. Zwar möchte er daneben der Deutung entsprechend wirtschaftender urgeschichtlicher Kulturen in Europa mit Hilfe von rezen‐ ten Analogien aus weiter entfernten Weltgegenden nicht jeden Wert abspre‐ chen, aber er betont nachdrücklich, dass »Analogien zwischen Phänomenen, die aus ihrem historischen Kontext gerissen worden sind«, doch sehr in die Irre führen können (Clark 1951, 55). 48 In einer zwei Jahre später veröffentlichten Arbeit hat Clark (1953, 355) sich etwas differenzierter geäußert. Er beschränkte das Konzept der Folk-Culture, ohne es direkt zu nennen - er sprach lediglich allgemein von folk usage -, auf die »späteren Perioden der Prähistorie«, und zwar besonders auf jene Fälle, in denen eine »historische Kontinuität sowohl der Siedlungen als auch der Tradition« nachgewiesen werden könne. Dies gelte für den Nahen Osten, für den Mittelmeerraum und auch für die leichter zugänglichen Teile des gemäßigten Europas. Für jene Perioden hingegen, die sowohl in zeitlicher als auch in materieller und in einigen Fällen vielleicht auch in biotischer Hinsicht am weitesten von uns entfernt seien, müsse sich die Komparative Methode, das heißt das Analogische Deuten, auf jene Voraussetzungen gründen, die bereits oben erwähnt worden sind. Er forderte mithin, die zu vergleichenden Kulturen sollten dasselbe Subsistenzniveau aufweisen und möglichst unter ähnlichen ökologischen Bedingungen existieren bzw. existiert haben. Zusammenfassend beurteilt, stellt Clarks Konzeption - insbesondere jene Variante, die er 1951 vertreten hat - eine eigentümliche Verknüpfung von evolutionistisch-analogischen und evolutionistisch-homologischen Elementen dar. Die stärkere Differenzierung zwischen diesen beiden Kom‐ ponenten, die er 1953 vornahm, war zugleich mit einer unterschiedlichen Gewichtung des Potenzials der beiden Varianten des Vergleichenden Deu‐ tens verbunden. Es ist unübersehbar, dass er jener Variante, die auf den Nachweis historischer Kontinuität gegründet ist - er belegte sie nunmehr sehr allgemein mit dem Begriff folk usage -, einen weitaus größeren Wert als 428 14 Archäologie und Kulturwissenschaften: Das Problem der Interpretation <?page no="429"?> 49 In Clarks (1953, 355) Worten: »[…] as we know from our knowledge of living peoples, great diversity of cultural expression may be found among communities subject to the same economic limitations and occupying similar, if not identical, environments.« der allgemein-strukturellen Analogie zubilligte. Allerdings sei noch einmal betont, dass es sich dabei im Wesentlichen um Funktionsdeutungen materi‐ eller Funde und Befunde handelte. Demgegenüber fiel seine Einschätzung der allgemein-strukturellen Analogie trotz der einschränkenden Forderung einer sich weitgehend entsprechenden Subsistenzbasis und Umwelt recht zurückhaltend aus: Die ethnographische Erfahrung lehre, dass Kulturen auch unter recht ähnlichen ökonomisch-ökologischen Bedingungen eine hohe Variabilität aufwiesen. Damit sah er wenig Anlass für allzu großen Optimismus. 49 Er schloss daraus vielmehr, die Komparative Methode sei nur von eingeschränktem Wert. Sie vermöge zwar nützliche Hinweise auf all‐ gemeine Bedingungen (general conditions) zu geben, könne aber doch auch ein gefährlicher Ratgeber sein, wenn es um die spezifischen Ausprägungen der Kultur (the particular manifestations of culture) gehe, mit denen es die Archäologie in erster Linie zu tun habe. Leider erläuterte er nicht, was er unter jenen »allgemeinen Bedingungen«, die durch strukturelle Analogien erhellt würden, verstand. Vermutlich war damit das Spektrum möglicher kultureller Ausprägungen jener Bevölkerungen gemeint, die unter gleichen oder doch ähnlichen Subsistenz- und Umweltbedingungen leben. Natürlich ist der Hinweis auf eine Variationsbreite möglicher Deutungen in dem Augenblick keine perfekte Lösung, in dem eine eindeutige Interpretation spezifischer archäologischer Funde und Befunde angestrebt wird. In einem solchen Falle würde sich konkret die Frage stellen, welche der unter den angegebenen Voraussetzungen realisierten Gegebenheiten denn nun als Analogie für die zu deutenden archäologischen Phänomene herangezogen werden sollten. Clark leitete seine letztlich negative Einschätzung der allgemein-struk‐ turellen Analogie also aus der Tatsache ab, dass für ein konkretes Deu‐ tungsproblem in aller Regel nicht eine, sondern mehrere Lösungen zur Verfügung stehen. Diese Schlussfolgerung erscheint mir voreilig, weil sie von vornherein ausschließt, dass sich eine bestimmte Option im Prozess des Abwägens der verschiedenen Möglichkeiten plausibler als alle anderen erweist. Sie ist überdies unangemessen, weil ein Spektrum potenzieller, scheinbar oder vielleicht auch anscheinend gleichwertiger Deutungen in jedem Falle von größerem Wert ist als gar keine Interpretation. Insofern 14.6 Anglophone Stellungnahmen zu Ethnographischen Parallelen 429 <?page no="430"?> 50 Steward 1942. Es handelt sich dabei um die auf der Basis erwiesener oder wahrschein‐ licher historischer Kontinuität vorgenommene direkte Verknüpfung ethnographisch dokumentierter Populationen mit solchen des gleichen Raumes, die lediglich mit archäologischen Mitteln nachgewiesen sind. finde ich es symptomatisch für die insgesamt recht rigide und in manchem extreme Haltung Clarks, wenn er schließlich feststellt, dass die Ethnologie - er verwendet den ungewöhnlichen Terminus comparative ethnography - in keiner Weise als Substitut für die Aufgabe der Archäologie angesehen wer‐ den könne, die urgeschichtliche Vergangenheit der Menschheit ans Licht zu bringen (Clark 1953, 355). Dem wird man sofort zustimmen und ist zugleich über diese Feststellung verwundert - haben doch selbst die Klassischen Kulturevolutionisten die Rolle der Ethnologie in diesem Zusammenhang meist differenzierter beurteilt. Es hat sich aus mehreren Gründen angeboten, die Auffassung von Clark etwas ausführlicher zu erörtern. Da er einer der führenden Repräsentanten der britischen Archäologie war, hat seine Stellungnahme zu Fragen der Interpretation, dem zentralen Thema des Faches, seinerzeit beträchtliche Aufmerksamkeit gefunden; beide Aufsätze - insbesondere der von 1951 - sind immer wieder zitiert worden. Auf der anderen Seite gehören sie zu jenen Arbeiten nach dem Zweiten Weltkrieg, in denen das Problem des Analogischen Deutens in der englischsprachigen Archäologie erstmals grundsätzlich erörtert worden ist. Hinzu kommt, dass Clark mit seiner Beto‐ nung der Bedeutung historischer Kontinuität einerseits und des prägenden Einflusses von Wirtschaft und Umwelt andererseits Fragen thematisiert hat, die zwar bereits früher durchaus angesprochen worden sind, nunmehr aber ins Zentrum des Vergleichenden Deutens gerückt wurden. Schließlich ist, wie gesagt, insbesondere der Aufsatz von 1951 auch insofern ein wichtiges Zeitdokument, als sich darin eine recht eigentümliche Mischung von au‐ ßerordentlich heterogenen Elementen findet: Einerseits ein verklärend-ro‐ mantisierendes Volkskonzept, das der traditionellen Deutschen Volkskunde entstammen könnte, und andererseits ausgeprägt evolutionistische Stadien‐ konzepte einschließlich für die Mitte des 20. Jahrhunderts befremdlicher Wertkategorien. In dieser Hinsicht hat Clark keine Nachfolger gefunden. In einem gewissen Sinne lässt sich sein Konzept der Folk-Culture als Versuch betrachten, den unter anderem von Julian H. Steward (1902-1972) für Nord‐ amerika entwickelten Direct Historical Approach 50 auf Europa und andere Teile der Alten Welt zu übertragen. Dieser Versuch ist jedoch gescheitert, da 430 14 Archäologie und Kulturwissenschaften: Das Problem der Interpretation <?page no="431"?> 51 Hierbei sehe ich von Verbindungen auf der Ebene der Paläogenetik ab. 52 Zur englischsprachigen Diskussion vor allem Orme (1973; 1974) und Wylie (1985) sowie das entsprechende Kapitel in Bernbeck (1997, 85 ff.). Die deutschsprachige Erörterung findet im Wesentlichen im Rahmen der Ethnoarchäologie statt; hierzu vor allem Gramsch 2000; Gramsch/ Reinhold 1996; Noll 1996; 2002; Noll/ Struwe 1997; Struwe/ Weniger 1993. - Zur Bewertung von ›ethnograpischen Parallelen‹ in der westdeutschen Archäologie der frühen 1950er Jahre prägnant Sangmeister (1998, 79). Dieser autobiographische Bericht in der Reihe »Erzählte Erfahrung« der Freiburger Universitätsblätter ist über den hier interessierenden direkten Anlass hinaus für eine Einschätzung der fachspezifischen Grundlagenreflexion jener Zeit wichtig. Dabei kommt den höchst aufschlussreichen Bemerkungen Sangmeisters zu seiner methodo‐ logischen Abhandlung von 1967 und ihrer Genese eine besondere Bedeutung zu. 53 Freeman 1968. es - entgegen der Auffassung von Clark - in der Alten Welt zwischen dem Heute und der Urgeschichte keinerlei direkte Verbindungen gibt. 51 Aus der breiten englischsprachigen Erörterung der Analogieproblematik, die hier ebenso wenig wie die neuere deutsche Diskussion im Einzelnen referiert werden kann, 52 seien lediglich noch zwei weitere, recht unkonven‐ tionelle Beiträge von Leslie G. Freeman, Jr. (1935-2012) 53 und H. Martin Wobst (1978) behandelt. Es geht dabei um einen Vorwurf, der im Zusam‐ menhang mit dem Analogischen Deuten immer wieder vorgebracht wird und wohl erstmals von Freeman in seinem Beitrag für das Symposium Man theHunter in Chicago (1968) formuliert wurde. Freeman bezog sich dabei konkret auf Jäger und Sammler, aber es ist deutlich, dass er seine Folgerungen keineswegs darauf beschränkt wissen wollte. Für ihn ist es ein schwerer Verstoß gegen die Grundregeln der Wissenschaft, wenn man von vornherein davon ausgeht, dass es Parallelen zwischen heutigen und lediglich archäologisch dokumentierten Gesellschaften gibt. Die Existenz solcher Parallelen müsste vielmehr in jedem einzelnen Falle nachgewiesen werden. Setze man sie einfach voraus, dann verzichte man von vornherein darauf, eventuell herauszufinden, dass sie in Wirklichkeit gar nicht existier‐ ten (ebd. 264 f.). Letztendlich ist Freeman der Meinung, man übernehme mit dem Analogischen Deuten auch die interpretativen Kategorien der Kulturanthropologie in die Archäologie. Damit wiederum würden soziale Phänomene der Vergangenheit und eventuelle Besonderheiten urgeschicht‐ licher Sozialstruktur in ein bestimmtes Interpretationsraster gezwängt, das es von vornherein unmöglich mache, in der archäologisch überlieferten 14.6 Anglophone Stellungnahmen zu Ethnographischen Parallelen 431 <?page no="432"?> 54 In Freemans (1968, 262) Worten: »The use of analogy has demanded that prehistorians adopt the frames of reference of anthropologists who study modern populations and attempt to force their data into those frames, a process which will eventually cause serious errors in prehistoric analysis, if it has not done so already. […] It is unscientific, because if we utilize models which are only sensitive to the elucidation of parallels with modern groups, the discovery of parameters of social structure unique to prehistoric time periods is impossible.« 55 In diesem Sinne auch Wylie (1985, 89) über Freemans Konzeption: »He never made it clear, however, just how systematic comparison of analysis of the data could, in itself, transcend the level of a purely descriptive ›artifact physics‹.« Vergangenheit etwas anderes zu erkennen als das, was die Gegenwart vorgebe. 54 Freeman gründete seine Auffassung unter anderem auf folgende Punkte: Erstens, heutige Jäger und Sammler verkörperten ein so außergewöhnlich großes Spektrum kultureller Variabilität, dass sich beispielsweise aus einer eingehenden Analyse der Sozialstruktur der Buschleute nur sehr wenig Erhellendes über die der Kwakiutl gewinnen ließe; zweitens umfassten brauchbare Studien solcher Gruppen einen Zeitraum von maximal 100 Jahren und drittens betrage die Zeitspanne, in der Jäger- und Sammlerpo‐ pulationen existiert hätten, hingegen rund zwei Millionen Jahre. Es wäre demnach »viele tausend Male wahrscheinlicher«, dass die Buschleute das Spektrum aller heutigen Jäger repräsentierten als dass alle heutigen Jäger das gesamte Spektrum aller je existenten Jäger verkörperten (ebd. 264). Hinzu komme die Tatsache, dass sich der größte Teil aller frühen Jäger biologisch gesehen grundlegend von Homo sapiens sapiens unterscheide. Man dürfe daher nicht von einer Kontinuität zwischen ihrem und unserem Verhalten ausgehen (ebd.). Freeman schlug vor, dieses Dilemma durch eine weitestgehende Minimierung analogischen Argumentierens und eine entsprechende Konzentration auf rein archäologische Betrachtungen zu umgehen. Hierbei handelt es sich jedoch offenkundig um eine interpretato‐ rische Sackgasse. 55 Wobst (1978) veröffentlichte 10 Jahre später einen Aufsatz, in dem er die von Freeman angesprochene Problematik der Spiegelung der Vergan‐ genheit in der Gegenwart verallgemeinert und verschärft. Er spricht von der »Tyrannei der ethnographischen Quellenbasis in der Archäologie« und relativiert unter dieser griffigen Formel das Erkenntnispotential der Ethnologie insofern, als er ihr - nicht anders als der Archäologe - nur eine beschränkte Einsicht in das Gesamtspektrum menschlichen Verhaltens zubilligt. Gerade im Hinblick auf die Ethnographie und Ethnologie von 432 14 Archäologie und Kulturwissenschaften: Das Problem der Interpretation <?page no="433"?> 56 In den Worten von Wobst (1978, 303): »If archaeologists consume ethnographically derived theory without prior testing, there is a great danger that they merely reproduce the form and structure of ethnographically perceived reality in the archaeological record. This form and structure may spuriously confirm the ethnographically derived theoretical expectations, in a never ending vicious circle.« Jägern und Sammlern sei festzustellen, dass vor allem durch das Prinzip der ethnographischen Gegenwart ein gleichsam zeitloses Bild dieser Gesell‐ schaften erzeugt werde, das die enge Verflochtenheit der Jägerkulturen mit Feldbauern sowie die Auswirkungen direkten oder indirekten Kontakts mit komplexen, nicht-traditionellen Gesellschaften völlig ausblende. Ar‐ chäologen und Archäologinnen sollten die Vorgaben der Ethnologie - the behavioral images codified in the ethnographic literature (ebd. 303) - daher als ungeprüfte Hypothesen ansehen und an ihrem eigenen Quellenmaterial testen. 56 Eine genaue Betrachtung zeigt, dass Wobst und Freeman durchaus unter‐ schiedlich argumentieren. Freeman ging es eigentlich nur darum, darauf hinzuweisen, dass mit den ethnographisch dokumentierten Jägern und Sammlern auf keinen Fall das gesamte denkbare soziokulturelle Spektrum von Jägerpopulationen seit dem Altpaläolithikum abgedeckt sein könne. Daraus folgt für ihn die Notwendigkeit, das bisher praktizierte Analogische Deuten so weit wie irgend möglich zu vermeiden. Die Kritik von Wobst hingegen setzt insofern grundsätzlicher an, als er das Erkenntnispotential der Ethnologie mit einem starken Vorbehalt versieht. Seiner Meinung nach befinden sich Ethnologie und Archäologie in einer zwar unterschiedlichen, aber strukturell ähnlichen Lage: Beide vermögen nur bestimmte Teile der gegenwärtigen bzw. einstigen soziokulturellen Wirklichkeit zu erfassen. Für die Ethnologie wirke sich vor allem die Tatsache negativ aus, dass sie über keine bzw. nur sehr geringe Möglichkeiten verfüge, die Variabilität von 14.6 Anglophone Stellungnahmen zu Ethnographischen Parallelen 433 <?page no="434"?> 57 Dass Wobst hier auch den Raum anführt, ist zunächst überraschend. Am Beispiel von Jägern und Sammlern sucht er klarzumachen, die Ethnologie könne regionale und interregionale Interaktionen aus verschiedenen Gründen nicht adäquat erfassen und tendiere daher dazu, die ethnographische Realität in einem räumlich begrenzten, örtlichen oder bestenfalls kleinräumigen Rahmen zu untersuchen und zu deuten. Er schreibt z. B. (Wobst 1978, 304): »Ethnographers contribute a steady stream of support for the parochial model of hunter-gatherers because of time and space constraints on their fieldwork. […] This makes it easy to attribute what is observed to what is within the ethnographic field of vision: small group dynamics, small units of space, and temporal and spacial variability of low amplitude. In this way, the ethnographic literature perpetuates a worm’s-eye view of reality, exemplified by such constructs as the two-hour-walk territory […] or the catchment area […]«. 58 Wobst verweist immer wieder auf das analytische Verfahren multiplen Hypothesentes‐ tens, das Platt (1964) unter dem Begriff strong inference erörtert und der Wissenschaft als grundlegende Erkenntnismethode empfohlen hat. Seine Bemerkungen sind jedoch zu unspezifisch, als dass sich damit für die Archäologie ein alternatives Interpretati‐ onsverfahren abzeichnete. menschlichem Verhalten entlang der Dimensionen von Zeit und Raum zu studieren. 57 In Anbetracht dieser Einschätzung des Potentials der Ethnologie lau‐ fen die Darlegungen von Wobst notwendigerweise auf eine kategorische Zurückweisung eines ethnographisch inspirierten Analogischen Deutens hinaus. Für ihn stellt die Verwendung ethnographischer Analogien in der Archäologie nichts anderes als »Ethnographie mit der Schaufel« dar, »in der die Form und die Struktur der ethnographischen Quellenbasis in der Archäologie reproduziert werden« (Wobst 1978, 303). Wenn man sich die Konsequenzen dieses Urteils vor Augen führt, dann ist es zunächst sehr erstaunlich, dass er sich nicht bemüht, eine alternative Position zu entwi‐ ckeln. 58 Er hält dies jedoch offenbar deswegen nicht für nötig, weil er meint, dass das der Archäologie eigene Erkenntnispotenzial außerordentlich groß sei: Archäologen seien die einzigen Kulturwissenschaftler, die über Quellen aller Ebenen verfügten, auf denen sich menschliches Verhalten fassen lasse. So spiegelten die urgeschichtlichen Hinterlassenschaften menschli‐ ches Handeln sowohl von einzelnen Individuen als auch von großen sozialen Gruppen; in räumlicher Hinsicht umfassten sie das gesamte Spektrum vom kleinsten Nahrungsressourcen-Areal (catchment area) bis zum Lebensraum 434 14 Archäologie und Kulturwissenschaften: Das Problem der Interpretation <?page no="435"?> 59 Das Urteil von Wobst (1978, 307) kulminiert in folgender Feststellung: »Long after the ethnographic era of hunter-gatherer research will have passed into history, archaeolo‐ gists will be busy removing the ethnographically imposed form and structure from their data and retrodicting both the ethnographic and archaeological record. Only then will our theory become truly anthropological, that is, capable of predicting variability of behavior in all of its spatial and temporal dimensions.« kontinentaler Dimension, und auf der Zeitebene repräsentierten sie genauso einzelne Ereignisse wie Spannen von Jahrtausenden. 59 Das Wort von der »Tyrannei der Ethnographie« ist zweifellos eine sehr suggestive und damit schlagkräftige Formel, aber sie erscheint doch recht überzogen. Sie unterstellt eine Dominanz des Analogons, die weder bestehen muss noch besteht. In der Wirklichkeit kritischen Analogischen Deutens gilt vielmehr genau das Gegenteil: Die Archäologie ist bemüht, das Umfeld der Analogie ebenso sorgfältig zu analysieren wie das des zu deutenden archäologischen Befunds. Darüber hinaus ist sie bestrebt, für den konkreten Befund weitere Analogien zu ermitteln und in ihrer Tragfähigkeit zu überprüfen. Dennoch erscheint mir die Kritik von Wobst keineswegs irrelevant: Sie verweist die Archäologie mit aller Deutlichkeit auf die Bedingungen, unter denen ethnographische Analogien formuliert werden. Und es ist zweifellos wichtig, sich darüber im Klaren zu sein, dass die ethnographische bzw. die ethnologische Realität nicht das Leben selbst, sondern eine wissenschaftliche Widerspiegelung und Abstraktion dieses Lebens ist. 14.7 Kulturwissenschaftliche Analogien und historisches Erkennen Die hier knapp referierten Darlegungen von Freeman und Wobst haben - wenngleich in letztlich stark überzogener Form - auf gewisse Grundpro‐ bleme des ethnographisch inspirierten Analogischen Deutens vor allem in jenem Bereich aufmerksam gemacht, der frühe Jäger-/ Fischer- und Samm‐ lerkulturen betrifft. Gleichzeitig ist aber auch festzuhalten, dass das von ihnen konstatierte Dilemma bei beiden zu einer mehr oder weniger deutlich ausgesprochenen Ablehnung des Analogischen Deutens an sich geführt hat. Dieser Auffassung kann ich mich nicht anschließen. Die für irgendeine beliebige Interpretation archäologischer Phänomene erwogenen Analogien besitzen grundsätzlich den Charakter von Hypothesen. Daher ist nicht 14.7 Kulturwissenschaftliche Analogien und historisches Erkennen 435 <?page no="436"?> 60 Auf einer gemeinsamen Tagung der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde und der Anthropologischen Gesellschaft in Wien, die im Oktober 1961 in Freiburg i. Br. stattfand, war ein Symposium den sogenannten »Wildbeuterkulturen« gewidmet. In seiner Einleitung zu den in der Zeitschrift Paideuma veröffentlichten Beiträgen bezog sich Jettmar (1962) explizit auf das Konzept des »frühzeitlichen Jägertums« von Adolf Friedrich (1941/ 43). einzusehen, warum sie nicht als zentrale Elemente einer Deutung herange‐ zogen werden sollten. Bereits aus der Natur von Analogien folgt, dass eine Identität von zu deutendem Befund und analogischer Hypothese grundsätz‐ lich auszuschließen ist. Unter dieser Voraussetzung muss selbstverständlich auch die Formel von den ›zeitgenössischen Ahnen‹ (contemporary ancestors) betrachtet werden. Diese einprägsame, aber zugleich die Realität verfäl‐ schende Formulierung ergibt nur dann einen Sinn, wenn sie vor dem Hinter‐ grund der Differenzierung eines real-zeitlichen und eines phaseologischen Alterskonzepts gesehen wird. Insofern vertreten beispielsweise heutige Jä‐ ger-/ Fischer- und Sammlerkulturen ihrem Wirtschafts- und Kulturtyp nach ein frühes Stadium, wobei jedoch klar ist, dass sie damit keineswegs jene Verhältnisse im Einzelnen reproduzieren, die einstmals bei entsprechenden Gruppen während des Paläo- und Mesolithikums geherrscht haben. Die Kultur- und Wirtschaftsverhältnisse heutiger Jäger-/ Fischer und Sammler können lediglich eine allgemeine Vorstellung von der Sozialorganisation, der Subsistenzbasis, dem Aktionsradius, der zivilisatorischen Ausstattung und den Lebensbedingungen urgeschichtlicher Jäger-/ Fischer und Sammler vermitteln. Dabei versteht es sich von selbst, dass die jeweiligen Verhältnisse der natürlichen und sozialen Umwelt eine mehr oder weniger prägende bzw. einschränkende Rolle spielen. Nicht anders verhält es sich mit dem großen Variationsspektrum traditioneller bäuerlicher Kulturen. In dem hier angesprochenen Rahmen sind auf der anderen Seite aber auch bestimmte mentale Prägungen, die sich aus spezifischen Lebensverhältnis‐ sen ergeben, von besonderem Interesse. In diesem Sinne hat man einst in der deutschen kulturhistorischen Ethnologie versucht, als kulturspezifisch betrachtete ›Weltbilder‹ beispielsweise von Pflanzern auf der einen und Jägern auf der anderen Seite herauszuarbeiten (so etwa Jettmar 1962; Jensen 1966). 60 Wie immer man den Erfolg solcher Vorhaben beurteilen mag, erscheint doch unabweisbar, dass es erhebliche Unterschiede in den kol‐ lektiven mentalen Grundmustern entgegengesetzter soziokultureller und ökonomischer Strukturtypen gibt. Dies gilt etwa für zentralafrikanische Feldbauern und pygmoide Jäger-/ Fischer und Sammler - und zwar auch 436 14 Archäologie und Kulturwissenschaften: Das Problem der Interpretation <?page no="437"?> 61 Elias 1976. 62 Mauss 1993, 17 f. noch unter den heutigen Bedingungen, in denen sich die überkommenen sozioökonomischen Verhältnisse rapide verändert haben und weiter verän‐ dern. Zudem wird niemand bestreiten wollen, dass die ›Weltbilder‹ einer hocharbeitsteiligen Industriegesellschaft auf der einen und einer weitestge‐ hend auf Verwandtschaft basierenden, Feldbau betreibenden und in kleinen Dorfgemeinschaften siedelnden Bevölkerung auf der anderen Seite radikal verschieden sind. Aus einer kulturvergleichenden Perspektive liegt es nahe, in solchen Ge‐ gebenheiten ›phaseologische‹ Prägungen zu erkennen und entsprechende Grundmuster in entwicklungsgeschichtlicher Sicht mit der Vorstellung eines »Zivilisationsprozesses« im Sinne des deutsch-britischen Soziologen Norbert Elias (1897-1990) zu verbinden. 61 In ähnlichen Bahnen hat etwa auch der französische Soziologe und Religionswissenschaftler Marcel Mauss (1872-1950) gedacht, als er im Kontext seiner berühmten Studie Le don (1925) von einer »archaischen Gesellschaft« sprach. 62 Für jene Archäologen und Archäologinnen, die längere Zeit im Um‐ feld ›traditioneller‹ Gesellschaften gearbeitet haben, fällt es nicht schwer, zwischen der erlebten ›Dorfmentalität‹ und historisch dokumentierten Verhaltensweisen etwa im europäischen Mittelalter eine Reihe struktureller Ähnlichkeiten zu erkennen. Allerdings ist so etwas nicht mehr als ein weitgehend intuitives, ›einfühlendes‹ Vergleichen. Es kann zwar gewisse Einsichten vermitteln, aber natürlich handelt es sich dabei nicht um einen Vorgang, der auch nur annäherungsweise mit systematischer Interpretation in Verbindung gebracht werden darf. Hier geht es lediglich darum, auf jenen weiten Bereich jenseits der Funktionsdeutung materieller Phänomene aufmerksam zu machen, der der interpretativen Imagination und damit dem Analogischen Interpretieren offensteht. Das Analogische Deuten geht von der partiellen Übereinstimmung von Phänomenen aus, die ansonsten nicht übereinstimmen. Der Analogieschluss selbst ist strenggenommen auf eine einzige Annahme gegründet: Wenn zwei oder mehr Phänomene in einem oder mehreren Aspekten übereinstimmen, werden sie vermutlich auch in anderen Aspekten eine Übereinstimmung aufweisen. Diese Grundannahme hat Narr (1966, 11) klar zum Ausdruck gebracht, wenn er feststellt, dass eine Deutung urgeschichtlicher Phäno‐ mene mit Hilfe völkerkundlicher Analogien zumeist einer »inhaltlichen 14.7 Kulturwissenschaftliche Analogien und historisches Erkennen 437 <?page no="438"?> 63 Ähnlich formulierte Narr (1974, 94) einige Jahre später: »In der Regel geht es darum, aus der äußeren formalen Übereinstimmung oder Ähnlichkeit auf eine funktionale und inhaltliche Übereinstimmung zu schließen, das heißt aus einer unvollkommen erkennbaren auf eine mehr oder weniger vollkommene Übereinstimmung. Die Proble‐ matik liegt auf der Hand. Erwähnt seien hier nur die Ambivalenz und das notwendige Abwägen von Faktoren wie Konstanz und Wandel, Interdependenz und Unabhängig‐ keit der Kulturbereiche (Technik, Wirtschaft, Gesellschaft und Erscheinungsformen der geistigen Kultur), des im jeweiligen Gesamtniveau Möglichen und Unmöglichen, Wahrscheinlichen und Unwahrscheinlichen.« 64 Ascher 1961. 65 Wylie1985, 95. 66 Wylie (1985, 95) hat ihr Ziel folgendermaßen formuliert: »At their strongest, relational comparisons involve a demonstration that there are similarities between source and subject with respect to the causal mechanisms, processes, or factors that determine the presence and interrelationships of […] their manifest properties.« 67 Im Gegensatz zu Wylie beschränkt Ascher (1961, 323) sich darauf, ein möglichst hohes Maß an Übereinstimmungen zwischen den einzelnen Elementen des archäolo‐ gischen und ethnographischen Befunds herauszuarbeiten, und zwar offensichtlich in der Hoffnung, damit auch die den spezifischen Erscheinungsformen zugrunde liegenden Kausalbeziehungen zu erfassen. Dass er jedoch weit weniger als Wylie mit der Möglichkeit einer eindeutigen Bestimmung von Kausalitäten rechnet, ergibt sich schon aus seinem Plädoyer, bei der Interpretation eines archäologischen Befunds von der gezielten Auswahl einer einzigen Analogie Abstand zu nehmen und stattdessen auch Alternativen in Betracht zu ziehen (ebd.). Auffüllung« entspreche, »bei der aus der teilweisen (äußeren) auf eine mehr oder minder vollständige (auch Elemente geistigen Gehaltes einschließende) Übereinstimmung geschlossen wird«. 63 Somit ergibt sich bereits aus dieser Basishypothese, dass das Analogische Deuten keinerlei ›Beweiskraft‹ bean‐ spruchen kann; sein erklärendes Potenzial folgt nicht zwangsläufig aus der ›Wahrheit‹ und Adäquatheit der Ausgangsbedingungen und der logischen Stringenz des zugrunde gelegten Schlussverfahrens. Sowohl Clark als auch Robert Ascher (1931-2014) 64 und schließlich Alison Wylie 65 haben nach einem Ausweg aus dieser recht unverbindlichen erkenntnistheoretischen Situation gesucht. Sie strebten danach, sowohl auf der ethnographischen als auch auf der archäologischen Seite des analogischen Vergleichs kausale Relationen herauszuarbeiten, 66 wobei Clark im Gegensatz vor allem zu Wylie letztlich nicht an ein positives Ergebnis geglaubt hat. 67 Es besteht meines Erachtens wenig Hoffnung, die ethnographische Rea‐ lität mit dem archäologischen Befund im Sinne von Ascher und Wylie über das Medium von Kausalbeziehungen zu verbinden. Das Spektrum möglicher kausaler Einflüsse erscheint doch dermaßen groß, dass wir auch in einer ethnographischen Situation häufig äußerste Schwierigkeiten 438 14 Archäologie und Kulturwissenschaften: Das Problem der Interpretation <?page no="439"?> 68 Peter Ucko (1969, 262 f.) hat diesen Tatbestand vor mehr als 40 Jahren recht prägnant formuliert: »The primary use of ethnographic parallels […] is simple. It is to widen the horizons of the interpreter […] It is true to say that the careful use of ethnographic data has served to do one major thing - to present the possibility of varied and heterogeneous reasons or causes for a practice. As far as I am concerned, the use of ethnographic parallels can only in very exceptional cases suggest a one-to-one correlation between the acts of tribe A and the remains of culture B, but what they can do is to suggest the sorts of possible procedures which may result in the traits characterizing culture B.« Unmittelbar darauf verweist Ucko auf die bekannte Äußerung von Christopher Hawkes (1954, 162), dass man ethnographische Daten benutzen könne, um seine »Vorstellungskraft zu stimulieren«, dass damit aber kein Beweis zu führen sei. 69 Hierzu ausführlich Eggert 1998c/ 2011; ders. 1999/ 2023; ders. 2003a/ 2023. 70 Smolla 1964. haben werden, zu wesentlich mehr als möglichen oder wahrscheinlichen Erklärungen konkreter Befunde zu kommen. Derartige Ergebnisse werden in aller Regel kaum mehr sein können als Plausibilitäten, die etwa folgender Formulierung entsprechen: ›Die gewählte Lösung erscheint unter den ge‐ gebenen Umständen bei Abwägung aller Möglichkeiten am plausibelsten.‹ So betrachtet, können historische und ethnographische Analogien natürlich keine Erklärungen für archäologische Phänomene bereitstellen. Als solche verfügen sie aber bereits, ohne in den systematischen Prozess der konkreten Befunddeutung eingebunden zu sein, über ein beträchtliches Potenzial, das die interpretatorische Phantasie der Archäologin und des Archäologen anregen und auf Phänomene zu richten vermag, die die Grenzen der archäologischen Welt und Erfahrung überschreiten. 68 So intensiv das Problem der Analogie im Rahmen der archäologischen Interpretation erörtert worden ist, so wenig Aufmerksamkeit hat man der Frage gewidmet, wie sich denn archäologische Erkenntnis ohne Analogien vollziehen soll. Von dieser Problematik ausgehend, ist in den letzten Jahren mehrfach dargelegt worden, dass der Analogieschluss, und damit das Prinzip des Analogischen Deutens, eine grundlegende Erkenntnisvoraussetzung der Prähistorischen Archäologie bildet. 69 Diese These ist keineswegs neu; sie wurde bereits in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter anderem von Günter Smolla (1919-2006), 70 E. Sangmeister (1967) und K. J. Narr (z. B. 1990, 301 f.) vertreten. Allerdings haben diese Archäologen den größe‐ ren erkenntnistheoretischen Zusammenhang nicht oder nicht hinreichend erörtert. Der Stellenwert von Analogien in der Archäologie lässt sich dahin‐ gehend präzisieren, dass archäologisches Interpretieren und Analogisches Deuten letztlich synonym sind. Insofern überrascht es auf den ersten Blick, 14.7 Kulturwissenschaftliche Analogien und historisches Erkennen 439 <?page no="440"?> 71 Dieser »nur-archäologische Positivismus« wird von Narr (1974, 95) folgendermaßen charakterisiert: »Weil er [dieser Positivismus] sich nicht mehr mit diesen Dingen befaßt, erkennt er nicht, daß in Wirklichkeit ethnographische Analogien und Teile von ethno‐ logischen Theoriegebäuden nicht ausgeschlossen, sondern unreflektiert mitgeschleppt werden, weil sie bereits weitgehend in einen ›allgemeinen Bildungsschatz‹ eingegan‐ gen sind, und zwar meist in evolutionistischer Form und Sichtweise«; entsprechend ebd. 118. 72 Siehe Eggert 1994/ 2011, 237 f. 73 Dass dies eine Selbstverständlichkeit ist, habe ich Laufe dieses Unterkapitels deutlich zu machen versucht. Insofern demonstriert Fischers Beitrag, wie wenig er gewillt war, sich jenseits der traditionell deutschen Auffassung auf die erkenntnistheoretischen Fragen seines Themas einzulassen. Hierzu zuletzt Eggert 2020, 239 ff. dass hierzulande überaus große Vorbehalte gegen die Verwendung von Analogieschlüssen bestehen. Man muss wohl davon ausgehen, dass diese Vorbehalte, die allerdings nur selten explizit formuliert werden, auch und vor allem in einer besonderen Konzeption von historischen Quellen und damit letztlich von Geschichte gründen. Seit Torbrügges (1959b, 4) Paraphrasierung des berühmten Diktums von Kossinna hat sich an der Grundeinstellung der meisten Archäologen und Archäologinnen nur wenig verändert: Viele handeln immer noch so, als sei die Ur- und Frühgeschichtsforschung eine »hervorragend antiquarische Wissenschaft«. Diese Haltung läuft recht häufig auf einen ausgeprägten Positivismus oder, konkreter, Reduktionismus hinaus. Es ist sicher nicht un‐ angemessen, diesem Archäologieverständnis zu unterstellen, es operiere mit der Annahme, die ur- und frühgeschichtliche Realität könne auf der Basis ihrer materiellen Hinterlassenschaften historisch rekonstruiert werden. Vor diesem Hintergrund fühlt man sich in seinem Verzicht auf die Verwendung kulturanthropologisch gegründeter Analogien früheren Generationen von Archäologen weit überlegen. Für Narr (1974, 95) mündet diese Ablehnung der »komparativen Erhellung durch völkerkundliche Analogien« letztlich in eine Selbsttäuschung, einen »nur-archäologischen Positivismus«. 71 Zu dieser Grundhaltung gesellt sich ein Konzept des ›Historischen‹, das in seiner Betonung der Einmaligkeit historischer Realisierungen tief im 19. Jahrhundert wurzelt. 72 So wird die Auffassung von Ulrich Fischer (1987, 186) verständlich, nach der Analogieschlüsse keine Beweismittel seien und »mit Historie und Ethnographie keine Vorgeschichte« geschrie‐ ben werden könne. 73 Recht resignativ bezeichnet er den Analogieschluss zusammenfassend als »ein beschränktes Erkenntnismittel auf einem auch sonst beschränkten Felde« (ders. 1990, 325). Mit seiner Einschätzung, die 440 14 Archäologie und Kulturwissenschaften: Das Problem der Interpretation <?page no="441"?> 74 Demgegenüber hebt die analogische innere Deutung nach Fischer (1999, XXVI) »auf Vergleich innerhalb des Faches« ab, und zwar sowohl in synchroner wie in diachroner Perspektive. 75 Fischer 1999, XXVII; entsprechend ebd. XXIII, XXV. »antiquarische Realität« sei so erdrückend, dass daraus eine »topogra‐ phische und museale Grundstimmung« des Fachs resultiere, vertritt er schließlich eine ungewöhnlich pessimistische Position (ebd. 1987, 195). Dennoch darf - oder zumindest durfte - er sich mit seiner pointierten Gegenüberstellung von ›historischen‹ archäologischen Quellen und ›ahis‐ torischen‹ Analogieschlüssen breiter Zustimmung sicher sein. Betrachtet man diese Gegenüberstellung aus forschungsgeschichtlichem Blickwinkel, drängt sich der Eindruck auf, dass sie auf einem historistischen Verständnis der ur- und frühgeschichtlichen Vergangenheit basiert: Als historisches Phänomen einmalig und also nur mit sich selbst identisch, vermag man der einstigen Wirklichkeit nicht mit Analogischem Deuten beizukommen; sie kann folglich nur aus sich selbst heraus ›verstanden‹ werden. In einer Arbeit, die seiner bekannten Abhandlung von 1987 vorausging, aber erst erheblich später veröffentlicht wurde, hat Fischer (1999) im Zusammenhang mit der archäologischen Interpretation von innerer und äußererDeutung gesprochen. Während im Rahmen der inneren Deutung »die Vorgeschichte eine Wissenschaft zu eigenem Recht, die unmittelbar aus der Erfahrung schöpft«, werde, bedürften die archäologischen Fakten im zweiten Falle einer von außen kommenden Deutung mit Hilfe ethnogra‐ phischer und historischer Analogien (ebd. XXI f.). Diese äußere Deutung sei daher immer analogisch und diachron, während die innere Deutung sowohl in einer direkten als auch in einer analogischen Variante praktiziert werden könne (ebd. XXVI). Die direkte innere Deutung stelle den »Grundpfeiler der Interpretation« dar, indem sie versuche, »stumme Fakten mit geschärfter Beobachtung, mit Analyse und Experiment, im Rahmen ihres Kontextes zum Sprechen zu bringen« (ebd. XXVII). 74 Fischer betont auch hier die erkenntnistheoretisch marginale Rolle der »äußeren Analogien«, die zwar den Horizont des Interpreten erweiterten, aber »keinen Ersatz für Archäo‐ logie« bildeten. 75 Eine nähere Betrachtung seiner vermeintlich autarken inneren Deutung, die er in exemplarischer Form in der archäologischen Siedlungsforschung verkörpert sieht (ebd. XXV), würde jedoch zeigen, dass auch sie nur dann zu Ergebnissen führt, wenn sie vor dem Hintergrund eines Kanons analogisch gewonnener Annahmen und Voraussetzungen 14.7 Kulturwissenschaftliche Analogien und historisches Erkennen 441 <?page no="442"?> 76 Fischer (1999, XXIf.) bezieht sich hier unter anderem auf den zweiten Band von Müllers Nordischer Altertumskunde (1898, 292 ff.). 77 Für eine knappe Erörterung des in diesem Kontext angesiedelten hermeneutischen Deutens siehe Eggert 1998c/ 2011, 78 ff.; hierzu vor allem Angeli 1999. 78 In diesem Sinne auch Angeli 1997, 30 f. operiert. Wenn Fischer daher meint, dass die von Sophus Müller gegen Ende des 19. Jahrhunderts begründete innere Deutung 76 »seitdem mit der Vermehrung des Materials und der Verbesserung der Methodik immer mehr in den Vordergrund gerückt« sei (ebd. XXVIII), umschreibt er damit sowohl einen Tatbestand als auch eine Aufgabe zukünftiger Forschung: Die Prähistorische Archäologie muss danach trachten, die engen Grenzen innerer Deutung zu überwinden und das interpretative Instrumentarium einer genuin kulturvergleichenden äußeren Deutung zu entwickeln. Die hier am Beispiel einiger Überlegungen von Fischer dargelegte Auf‐ fassung lässt sich als letztes Glied einer Traditionskette begreifen, die im al‐ tertumskundlich-philologisch geprägten Teil der Genese der deutschen Ur- und Frühgeschichtswissenschaft beginnt. Das in dieser Tradition wurzelnde Anliegen einer archäologischen Rekonstruktion historistisch konzeptuali‐ sierter ›einmaliger Realisierungen‹ halte ich für ein Erkenntnisanliegen, das weder erstrebenswert noch mit archäologischen Mitteln erreichbar ist. 77 Zwar sind die archäologischen Quellen in ihrer Handgreiflichkeit trotz aller sekundären Beeinträchtigungen ein genuiner Teil der Vergangenheit, aber sie scheint in ihnen nur höchst partiell auf. Man mag die Quellen mit der Spitze eines Eisbergs vergleichen, über dessen wahre Dimension und Struktur das Eis oberhalb der Wasserlinie keinerlei Aufschluss bietet. Um das zu erfassen, was unter der Wasseroberfläche liegt, bedarf es vielmehr eines speziellen Instrumentariums. Diesem Bilde entsprechend muss es der Archäologie darum gehen, für ihre inhaltlich weitgehend amorphen Quellen ein systematisches, methodologisch begründetes Erkenntnisverfahren zu entwickeln, mit dessen Hilfe das Materielle transzendiert werden kann. Es erscheint unabweisbar, dass ein solches Erkenntnisverfahren nur auf der Grundlage des Analogieschlusses zu realisieren is