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Recht im Gesundheitswesen

für Jurist:innen und Nichtjurist:innen

1114
2022
978-3-8385-5990-2
978-3-8252-5990-7
UTB 
Sandra Hobusch
10.36198/9783838559902

Die Regeldichte im Gesundheitswesen ist hoch. Schließlich geht es um den Schutz der Bevölkerung. Gesetzliche Vorgaben zu kennen, ist deswegen für die Akteur:innen im Gesundheitswesen unumgänglich. Sandra Hobusch führt in die Querschnittmaterie ein und skizziert die Einsatzfelder - etwa in Krankenhäusern, Pflegeheimen oder pharmazeutischen Unternehmen. Auch auf Kranken- und Pflegekassen sowie private Versicherungsunternehmen geht das Buch ein. Die 2., überarbeitete und erweiterte Auflage berücksichtigt Neuerungen ebenso wie die aktuelle Rechtsprechung, u. a. den EU-Rechtsrahmen für Medizinprodukte sowie die pandemiebedingten Änderungen des Infektionsschutzgesetzes. Das Buch richtet sich an Jurist:innen, Mediziner:innen sowie Gesundheits-, Pflege- und Wirtschaftswissenschaftler:innen in Studium und Praxis.

<?page no="0"?> Sandra Hobusch Recht im Gesundheitswesen für Jurist: innen und Nichtjurist: innen 2. Auflage <?page no="1"?> utb 5082 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Brill | Schöningh - Fink · Paderborn Brill | Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen - Böhlau · Wien · Köln Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Narr Francke Attempto Verlag - expert verlag · Tübingen Psychiatrie Verlag · Köln Ernst Reinhardt Verlag · München transcript Verlag · Bielefeld Verlag Eugen Ulmer · Stuttgart UVK Verlag · München Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld Wochenschau Verlag · Frankfurt am Main <?page no="2"?> Prof. Dr. Sandra Hobusch lehrt im Studiengang „Manage‐ ment im Gesundheitswesen“ an der Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften (Standort Wolfsburg). <?page no="3"?> Sandra Hobusch Recht im Gesundheitswesen für Jurist: innen und Nichtjurist: innen 2., überarbeitete und erweiterte Auflage UVK Verlag · München <?page no="4"?> 2., überarbeitete und erweiterte Auflage 2022 1. Auflage 2019 DOI: https: / / doi.org/ 10.36198/ 9783838559902 © 2022 UVK Verlag ‒ ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikro‐ verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: siegel konzeption | gestaltung CPI books GmbH, Leck utb-Nr. 5082 ISBN 978-3-8252-5990-7 (Print) ISBN 978-3-8385-5990-2 (ePDF) ISBN 978-3-8463-5990-7 (ePub) Umschlagabbildung: © AndreyPopov · iStockphoto Autorinnenfoto: © privat Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 11 13 15 1 23 1.1 23 1.2 31 1.3 35 2 39 2.1 39 2.1.1 40 2.1.2 48 2.1.3 64 2.1.4 64 67 67 2.2 68 2.2.1 69 2.2.2 71 2.2.3 75 2.2.4 103 2.2.5 107 2.2.6 109 2.2.7 115 122 122 Inhalt Vorwort zur 2. Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorwort zur 1. Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Akteure, Leistungen und Finanzierung des deutschen Gesundheitswesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Recht im Gesundheitswesen als juristische Querschnittsmaterie . . . . Lern- und Studienhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtliche Rahmenbedingungen für die im Gesundheitswesen tätigen Anbieter von Dienstleistungen und Waren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Niedergelassene Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten und Heilpraktiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heilkundliches Berufsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vertrags(zahn-)ärztliche Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anforderungen aus weiteren gesundheitsrechtlichen Vorschriften . . Behandlungsvertrag mit dem Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ❋ Wichtige Schlagwörter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ✎ Wiederholungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Krankenhäuser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Notwendigkeit einer Gewerbeerlaubnis bei gewerbsmäßiger Tätigkeit Leistungserbringung im System der gesetzlichen Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Betrieb und Anwendung von Medizinprodukten . . . . . . . . . . . . . . . . . Pflichten des Krankenhauses und seiner Mitarbeiter aus weiteren gesundheitsrechtlichen Vorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtsverhältnis zwischen Krankenhausträger und Patient . . . . . . . . Arzthaftungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ❋ Wichtige Schlagwörter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ✎ Wiederholungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 2.3 125 2.3.1 125 2.3.2 128 2.3.3 136 138 138 2.4 139 2.4.1 139 2.4.2 148 2.4.3 160 2.4.4 164 2.4.5 166 168 168 2.5 168 2.5.1 169 2.5.2 179 2.5.3 197 2.5.4 199 2.5.5 202 206 206 2.6 207 2.6.1 207 2.6.2 208 2.6.3 209 2.6.4 219 2.6.5 220 2.6.6 220 221 221 2.7 222 2.7.1 222 2.7.2 223 Heilmittelerbringer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Berufsrecht und die Bedeutung des Heilpraktikergesetzes . . . . . . . . . Leistungserbringung im System der gesetzlichen Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtsverhältnis zum Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ❋ Wichtige Schlagwörter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ✎ Wiederholungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen, Rehabilitationsdienste und Erbringer ambulanter medizinischer Vorsorgeleistungen . . . . . . . Der Versichertenanspruch auf medizinische Vorsorge und medizinische Rehabilitation in der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtsstellung einer Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtung . . . . . Rechtsstellung eines Rehabilitationsdienstes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erbringer von ambulanten medizinischen Vorsorgeleistungen in der gesetzlichen Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Behandlungsvertrag mit dem Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ❋ Wichtige Schlagwörter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ✎ Wiederholungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Pflege-)Heime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heimrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leistungserbringung im System der sozialen Pflegeversicherung und gesetzlichen Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Öffentliche Investitionsförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leistungserbringung im System der Sozialhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heimvertrag zwischen (Pflege-)Heim und Bewohner . . . . . . . . . . . . . . ❋ Wichtige Schlagwörter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ✎ Wiederholungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pflegedienste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Berufsrecht und Gewerberecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leistungserbringung im System der sozialen Pflegeversicherung und gesetzlichen Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Öffentliche Investitionsförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leistungen des Pflegedienstes im System der Sozialhilfe . . . . . . . . . . . Rechtsverhältnis zum Pflegebedürftigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ❋ Wichtige Schlagwörter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ✎ Wiederholungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesundheitshandwerker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bedeutung des Gewerbe- und Handwerksrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> 2.7.3 229 2.7.4 230 2.7.5 234 2.7.6 241 242 243 2.8 244 2.8.1 244 2.8.2 245 2.8.3 249 2.8.4 251 2.8.5 254 2.8.6 255 2.8.7 257 2.8.8 258 2.8.9 262 2.8.10 262 2.8.11 267 269 269 2.9 270 2.9.1 270 2.9.2 271 2.9.3 275 2.9.4 280 2.9.5 282 2.9.6 289 2.9.7 291 2.9.8 293 2.9.9 294 2.9.10 298 2.9.11 300 2.9.12 302 2.9.13 308 Bedeutung des Heilpraktikergesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bedeutung des Medizinprodukterechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leistungserbringung im System der gesetzlichen Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtsverhältnis zum Kunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ❋ Wichtige Schlagwörter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ✎ Wiederholungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Industrielle Hersteller von Medizinprodukten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriff und Einteilung der Medizinprodukte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinische Bewertung und klinische Prüfung von Medizinprodukten . Konformitätsbewertungsverfahren und CE-Kennzeichnung . . . . . . . . Inverkehrbringen von Medizinprodukten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vertriebswege für Medizinprodukte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Staatliche Aufsicht über den Medizinproduktehersteller und Marktüberwachung durch staatliche Behörden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Produktüberwachung nach dem Inverkehrbringen und Vigilanz . . . . Haftung der Hersteller von Medizinprodukten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anspruch der Versicherten auf Medizinprodukte im System der gesetzlichen Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anspruch der Versicherten auf Medizinprodukte im System der sozialen Pflegeversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ❋ Wichtige Schlagwörter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ✎ Wiederholungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unternehmen der pharmazeutischen Industrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriff des Humanarzneimittels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinische Prüfung von Arzneimitteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inverkehrbringen eines Arzneimittels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nationale Zulassung eines Fertigarzneimittels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Europäisches zentralisiertes Verfahren zur Zulassung eines Arzneimittels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das europäisches Verfahren der gegenseitigen Anerkennung und das dezentralisierte Zulassungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zulassungsüberschreitender Einsatz von Arzneimitteln . . . . . . . . . . . Herstellung von Arzneimitteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Import von Arzneimitteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arzneimittelpreise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pharmakovigilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arzneimittelhaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 7 <?page no="8"?> 2.9.14 311 2.9.15 313 320 321 2.10 323 2.10.1 323 2.10.2 325 327 327 2.11 328 2.11.1 328 2.11.2 332 2.11.3 333 2.11.4 333 2.11.5 338 340 340 3 341 3.1 341 3.1.1 341 3.1.2 346 3.1.3 348 3.1.4 351 3.1.5 354 3.1.6 354 3.1.7 360 3.1.8 363 3.1.9 364 3.1.10 369 3.1.11 369 3.1.12 374 3.1.13 374 375 Bedeutung des Heilmittelwerbegesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arzneimittelversorgung der gesetzlich Versicherten und die Rechtsposition des pharmazeutischen Unternehmers in der gesetzlichen Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ❋ Wichtige Schlagwörter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ✎ Wiederholungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arzneimittelgroßhandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Großhandelserlaubnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tätigkeit als Arzneimittelgroßhändler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ❋ Wichtige Schlagwörter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ✎ Wiederholungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Apotheken und Arzneimitteleinzelhandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Betrieb einer öffentlichen Apotheke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Versandhandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verkauf von Arzneimitteln im Einzelhandelsgeschäft, das keine Apotheke ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtsposition des Apothekers in der gesetzlichen Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtsverhältnis zum Kunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ❋ Wichtige Schlagwörter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ✎ Wiederholungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtliche Rahmenbedingungen für die Kostenträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kranken- und Pflegekassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kranken- und Pflegekasse im Spannungsverhältnis zwischen Selbstverwaltung und Staatsaufsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verbände der Kranken- und Pflegekassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Errichtung und Organisationsveränderungen der Kranken- und Pflegekassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mitglieder und Versicherte der Krankenkasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mitglieder und Versicherte der Pflegekasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Finanzierung und Verwendung der Mittel einer Krankenkasse . . . . . . Finanzierung und Verwendung der Mittel einer Pflegekasse . . . . . . . . Nach außen gerichtete öffentlich-rechtliche Handlungsformen der Kranken- und Pflegekasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . . Leistungserbringungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung . . Leistungsrecht der sozialen Pflegeversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leistungserbringungsrecht der sozialen Pflegeversicherung . . . . . . . . Medizinische Dienst und Medizinischer Dienst Bund . . . . . . . . . . . . . . ❋ Wichtige Schlagwörter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt <?page no="9"?> 375 3.2 376 3.2.1 377 3.2.2 379 3.2.3 380 3.2.4 382 3.2.5 393 3.2.6 396 3.2.7 402 3.2.8 405 3.2.9 409 3.2.10 427 428 428 4 431 4.1 431 4.2 432 4.3 433 4.4 435 4.4.1 435 4.4.2 440 448 449 451 473 478 493 496 ✎ Wiederholungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Private Krankenversicherungsunternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zulässige Rechtsformen der Krankenversicherungsunternehmen . . . Aufnahme des Geschäftsbetriebes durch ein Krankenversicherungsunternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zustandekommen eines Versicherungsvertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . Versicherungsfall und Leistungsbegrenzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pflichten und Obliegenheiten der Vertragsparteien . . . . . . . . . . . . . . . Änderung des Versicherungsvertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beendigung des Versicherungsvertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechts- und Finanzaufsicht während des Geschäftsbetriebes des Krankenversicherers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Widerruf der Erlaubnis zum Geschäftsbetriebes des Krankenversicherers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ❋ Wichtige Schlagwörter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ✎ Wiederholungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Öffentlicher Gesundheitsdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Öffentlicher Gesundheitsdienst als zentraler Teil des öffentlichen Gesundheitswesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesetzgebungskompetenz für den öffentlichen Gesundheitsdienst . . Struktur des öffentlichen Gesundheitsdienstes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufgaben des öffentlichen Gesundheitsdienstes . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überblick über die Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahrnehmung der Aufgaben am Beispiel des Infektionsschutzes . . . ❋ Wichtige Schlagwörter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ✎ Wiederholungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 9 <?page no="11"?> Vorwort zur 2. Auflage Die Neuauflage des Werkes bringt die Ausführungen zum Recht im Gesundheitswesen auf den Stand der Gesetze und Rechtsprechung im Frühjahr 2022. Seit dem Erscheinen der ersten Auflage sind zahlreiche Gesetze in Kraft getreten, wie beispielsweise das Terminservice- und Versorgungsgesetz, Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung, MDK-Reformgesetz, Intensivpflege- und Rehabilitati‐ onsstärkungsgesetz, Gesundheitsversorgungs- und Pflegeverbesserungsgesetz, Digi‐ tale-Versorgung-und-Pflege-Modernisierungs-Gesetz sowie verschiedene durch die Pandemie bedingte Gesetze zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes. Immer wieder zeigt sich, dass das Recht im Gesundheitswesen ein sehr dynamisches Gebiet der Rechtswissenschaft ist. Für Neueinsteigerinnen und Neueinsteiger ist es angesichts der Menge an vorhandenen Gesetzen sowie der zahlreichen gesetzlichen Novellierungen nicht immer leicht, sich den einzelnen Themen zu nähern. Hinzu kommt die sich ständig weiterentwickelnde Rechtsprechung. Mit der vorliegenden zweiten Auflage verbinde ich die Hoffnung, dass sie erneut bei den Leserinnen und Lesern viel Zuspruch erfährt und ihnen eine hilfreiche Unterstützung gibt, sich die rechtlichen Rahmenbedingungen für die verschiedenen Berufsfelder im Gesundheits‐ wesen zu erschließen. Für Hinweise und Anregungen bin ich stets dankbar. Ihre Mail erreicht mich unter s.hobusch@ostfalia.de. Wolfsburg, August 2022 Sandra Hobusch Web-Service Zu den Aufgaben im Buch werden Lösungen angeboten. Sie finden diese unter: http: / / s.narr.digital/ 2i7tz <?page no="13"?> Vorwort zur 1. Auflage Das vorliegende Werk richtet sich an Studierende der nicht juristischen Bachelor- oder Masterstudiengänge, die eine berufliche Tätigkeit im Gesundheitswesen anstre‐ ben, und an Jurastudenten, die sich in ihrem Schwerpunktbereich mit dem Recht im Gesundheitswesen beschäftigen möchten. Für Personen, die bereits beruflich im Gesundheitswesen tätig sind, ist es gleichfalls geeignet, sich die rechtlichen Rahmen‐ bedingungen zu erschließen. Seinen Ursprung hat das Werk bereits in meiner Anfangszeit als Professorin. Auf der Suche nach passenden Lehrbüchern für die Studierenden der Studiengänge Kran‐ kenversicherungsmanagement, Management im Gesundheitswesen und Augenoptik wurde ich nicht fündig. Somit mussten sich „meine“ Studierenden mit einer langen Liste von Lehr- und Handbüchern, Gesetzeskommentaren und Zeitschriftenaufsätzen begnügen, von denen sie regelmäßig nur einen Bruchteil benötigten. In dieser Zeit reifte in mir der Gedanke, dass ich selbst ein Buch zum Recht im Gesundheitswesen schreiben müsste. Das war im Jahre 2001! Nach vielen Jahren, in denen es bei dem „Ich-müsste-Vorsatz“ geblieben war, erhielt ich eine Verlagsanfrage, die mir endlich den nötigen Ansporn gab, meinen Vorsatz in die Tat umzusetzen. Für diesen Ansporn und die gute Zusammenarbeit möchte ich dem Verlag danken. Zwischenzeitlich sind bereits einige Lehrbücher zum Medizin- und Gesundheits‐ recht sowie zu Teilbereichen, wie beispielsweise Pflege- und Pharmarecht, erschienen. Gleichwohl ist, wenn man die Fülle der vorhandenen Lehrbücher zu den traditionellen Rechtsgebieten, wie beispielsweise zum Bürgerlichen Recht, als Vergleichsmaßstab anlegt, keine Marktsättigung zu verzeichnen. Die Struktur des vorliegenden Werkes orientiert sich an den Berufsfeldern der verschiedenen Akteure des Gesundheitswesens, Krankenhäuser, Pflegeheime, Pharma‐ unternehmen, Krankenkassen usw. Es führt die Regelungen der verschiedenen Rechts‐ gebiete, die für den jeweiligen Akteur relevant sind, zusammen. All diese Regelungen werden im Kontext und aus der Perspektive des Akteurs erörtert. Dieses Vorgehen beruht auf der didaktischen Idee, den Leser mit dem spezifischen Rechtsrahmen der Tätigkeit in einem bestimmten Arbeitsumfeld (z. B. in der Krankenhausverwaltung) vertraut zu machen. Wolfsburg, Dezember 2018 Sandra Hobusch <?page no="15"?> Abkürzungsverzeichnis a. A. ǀ andere Ansicht a. a. O. ǀ am angegebenen Ort AbGrV ǀ Abgrenzungsverordnung ABl. ǀ Amtsblatt (der EU) Abs. ǀ Absatz Ärzte-ZV ǀ Zulassungsverordnung für Vertragsärzte AEUV ǀ Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union AG ǀ Amtsgericht, Aktiengesellschaft AGG ǀ Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz AIDS ǀ Acquired Immune Deficiency Syndrome AktG ǀ Aktiengesetz ALG ǀ Arbeitslosengeld AltPflG ǀ Altenpflegegesetz AMD ǀ altersbedingte Makuladegeneration AMG ǀ Arzneimittelgesetz AM-HandelsV ǀ Arzneimittelhandelsverordnung AMPreisV ǀ Arzneimittelpreisverordnung AMRabG ǀ Gesetz über Rabatte für Arzneimittel AM-RL ǀ Arzneimittel-Richtlinie AMSachKV ǀ Verordnung über den Nachweis der Sachkenntnis im Einzelhandel mit freiverkäuflichen Arzneimitteln AMVerkRV ǀ Verordnung über apothekenpflichtige und freiverkäufliche Arzneimittel AMVV ǀ Arzneimittelverschreibungsverordnung Anm. ǀ Anmerkung AO ǀ Abgabenordnung AOK ǀ Allgemeine Ortskrankenkasse AOP-Vertrag ǀ Vertrag Ambulantes Operieren und sonstige stationsersetzende Ein‐ griffe im Krankenhaus ApBetrO ǀ Apothekenbetriebsordnung ApoG ǀ Apothekengesetz ART ǀ Kommission Antiinfektiva, Resistenz und Therapie Art. ǀ Artikel AT ǀ Allgemeiner Teil AT BGB ǀ BGB 1. Buch Allgemeiner Teil A & R ǀ Arzneimittel und Recht (Zeitschrift) AVB/ BT ǀ Allgemeine Versicherungsbedingungen für den Basistarif AVB/ NLT ǀ Allgemeine Versicherungsbedingungen für den Notlagentarif BA ǀ Bundesagentur für Arbeit <?page no="16"?> BÄO ǀ Bundesärzteordnung BaFin ǀ Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht BAG ǀ Bundesarbeitsgericht BAnz ǀ Bundesanzeiger BApO ǀ Bundes-Apothekerordnung BAR ǀ Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation e. V. BAS ǀ Bundesamt für Soziale Sicherung BayVBl. ǀ Bayerische Verwaltungsblätter (Zeitschrift) BayVGH ǀ Bayerischer Verwaltungsgerichtshof BBK ǀ Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe Bd. ǀ Band BeckOK ǀ Beck´scher Online-Kommentar BeckRS ǀ Beck´sche Rechtsprechungssammlung Bek. ǀ Bekanntmachung Beschl. ǀ Beschluss Beschl-E ǀ Beschlussempfehlung BfArM ǀ Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte BfR ǀ Bundesinstitut für Risikobewertung BfS ǀ Bundesamt für Strahlenschutz BGB ǀ Bürgerliches Gesetzbuch BGBl. I, III ǀ Bundesgesetzblatt Teil I, Teil III BGH ǀ Bundesgerichtshof BGHZ ǀ Entscheidungssammlung des BGH in Zivilsachen BKK ǀ Betriebskrankenkasse, Die Betriebskrankenkasse (Zeitschrift) BLE ǀ Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung BMG ǀ Bundesministerium für Gesundheit BMGS ǀ Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung BMFSFJ ǀ Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend BMV-Ä ǀ Bundesmantelvertrag-Ärzte BMV-Z ǀ Bundesmantelvertrag-Zahnärzte BPflV ǀ Bundespflegesatzverordnung BRat-Drucks. ǀ Drucksachen des Bundesrates BRD ǀ Bundesrepublik Deutschland Breith ǀ Breithaupt Sammlungen von Entscheidungen aus dem Sozialrecht BReg ǀ Bundesregierung BSG ǀ Bundessozialgericht BSGE ǀ Entscheidungssammlung des Bundessozialgerichts BTag-Drucks. ǀ Drucksachen des Bundestages Buchst. ǀ Buchstabe BVerfG ǀ Bundesverfassungsgericht BVerwG ǀ Bundesverwaltungsgericht BVerwGE ǀ Entscheidungssammlung des Bundesverwaltungsgerichts 16 Abkürzungsverzeichnis <?page no="17"?> BVA ǀ Bundesversicherungsamt BVL ǀ Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit BZgA ǀ Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung CE ǀ Communauté Européenne CHMP ǀ Ausschuss für Humanarzneimittel (Committee for Human Medicinal Pro‐ ducts) CMDh ǀ Koordinierungsgruppe (Coordination Group for Mutual Recognition and Decentralised Procedures-Human) CMS ǀ betroffener Mitgliedstaat (concerned member state) CP ǀ Zentralisiertes Verfahren (Centralised Procedure) CT ǀ Computertomographie DAV ǀ Deutscher Apothekerverband e.-V. DCP ǀ Dezentralisiertes Verfahren (Decentralised Procedure) DeQS-RL ǀ Richtlinie zur datengestützten einrichtungsübergreifenden Qualitätssiche‐ rung DESTATIS ǀ Statistisches Bundesamt DiätAssG ǀ Diätassistentengesetz DIMDI ǀ Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information DIP ǀ Dokumentations- und Informationssystem DKG ǀ Deutsche Krankenhausgesellschaft DNQP ǀ Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege DÖV ǀ Die Öffentliche Verwaltung (Zeitschrift) DRG ǀ Diagnosis Related Groups DRK ǀ Deutsches Rotes Kreuz e. V. DRV ǀ Deutsche Rentenversicherung DRVKnBS ǀ Deutsche Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See EBM ǀ Einheitlicher Bewertungsmaßstab EG ǀ Europäische Gemeinschaften EGVVG ǀ Einführungsgesetz zum Versicherungsvertragsgesetz e. K. ǀ eingetragener Kaufmann EK ǀ Ersatzkasse EMA ǀ Europäische Arzneimittel-Agentur (European Medicines Agency) Epid Bull ǀ Epidemiologisches Bulletin Erg.-lfg. ǀ Ergänzungslieferung ErgthG ǀ Ergotherapeutengesetz Erl. ǀ Erläuterung(en) EU ǀ Europäische Union EuGH ǀ Europäischer Gerichtshof Eudamed ǀ Europäische Datenbank für Medizinprodukte EuZW ǀ Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht EWG ǀ Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWR ǀ Europäischer Wirtschaftsraum Abkürzungsverzeichnis 17 <?page no="18"?> Fn. ǀ Fußnote Frakt-E ǀ Fraktionsentwurf (eines Gesetzes) G ǀ Gesetz GBA ǀ Gemeinsamer Bundesausschuss GbR ǀ Gesellschaft bürgerlichen Rechts GG ǀ Grundgesetz GmbH ǀ Gesellschaft mit beschränkter Haftung GmbHG ǀ Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung GenDG ǀ Gendiagnostikgesetz GewArch ǀ Gewerbearchiv (Zeitschrift) GewO ǀ Gewerbeordnung GKV-FQWG ǀ Gesetz zur Weiterentwicklung der Finanzstruktur und der Qualität in der gesetzlichen Krankenversicherung GKV-IPReG ǀ Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz GKV-Spitzenverband ǀ Spitzenverband Bund der Krankenkassen Gliedergs-Nr. ǀ Gliederungsnummer GOÄ ǀ Gebührenordnung für Ärzte GOP ǀ Gebührenordnung für Psychologische Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten GOZ ǀ Gebührenordnung für Zahnärzte GRUR ǀ Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht (Zeitschrift) GVBl. ǀ Gesetz- und Verordnungsblatt GVOBl. ǀ Gesetz- und Verordnungsblatt GVWG ǀ Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz HeilM-RL ǀ Heilmittel-Richtlinie HeilprG ǀ Heilpraktikergesetz HeilprGDV ǀ Durchführungsverordnung zum Heilpraktikergesetz HeimG ǀ Heimgesetz HeimMindBauV ǀ Heimmindestbauverordnung HeimmwV ǀ Heimmitwirkungsverordnung HeimPersV ǀ Heimpersonalverordnung HeimsicherungsV ǀ Verordnung über die Pflichten der Träger von Altenheimen, Altenwohnheimen und Pflegeheimen für Volljährige im Falle der Entgegennahme von Leistungen zum Zweck der Unterbringung eines Bewohners oder Bewerbers HGB ǀ Handelsgesetzbuch HilfsM-RL ǀ Hilfsmittel-Richtlinie HIV ǀ Humanes Immundefizienz-Virus HKP-RL ǀ Häusliche Krankenpflege-Richtlinie Hrsg. ǀ Herausgeber Hs. ǀ Halbsatz HWG ǀ Heilmittelwerbegesetz HwO ǀ Handwerksordnung 18 Abkürzungsverzeichnis <?page no="19"?> ICD-10-GM ǀ Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwand‐ ter Gesundheitsprobleme, 10. Revision, German Modification i. d. F. d. Bek. ǀ in der Fassung der Bekanntmachung IfSG ǀ Infektionsschutzgesetz IKK ǀ Innungskrankenkasse InEK ǀ Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus InsO ǀ Insolvenzordnung i. S. d. ǀ im Sinne des/ der IVDR ǀ Verordnung (EU) über In-vitro-Diagnostika i. V. m. ǀ in Verbindung mit juris ǀ juris Das Rechtsportal KBV ǀ Kassenärztliche Bundesvereinigung KG ǀ Kammergericht (Berlin) KHEntgG ǀ Krankenhausentgeltgesetz KHG ǀ Krankenhausfinanzierungsgesetz KLVG ǀ Zweites Gesetz über die Krankenversicherung der Landwirte KRINKO ǀ Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention KrPflG ǀ Krankenpflegegesetz KVAV ǀ Krankenversicherungsaufsichtsverordnung KVHilfsmV ǀ Verordnung über Hilfsmittel von geringem Nutzen oder geringem Abgabepreis in der gesetzlichen Krankenversicherung KZBV ǀ Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung LG ǀ Landgericht LogopG ǀ Gesetz über den Beruf des Logopäden LSG ǀ Landessozialgericht m. H. a. ǀ mit Hinweis auf m. w. N. ǀ mit weiteren Nachweisen MBO ǀ Musterberufsordnung MB/ KK ǀ Musterbedingungen für die Krankheitskosten- und Krankenhaustagegeld‐ versicherung MB/ KT ǀ Musterbedingungen für die Krankentagegeldversicherung MB/ PPV ǀ Allgemeine Versicherungsbedingungen für die Private Pflegepflichtversi‐ cherung MD ǀ Medizinischer Dienst MD Bund ǀ Medizinischer Dienst Bund MDK ǀ Medizinischer Dienst der Krankenversicherung MD-QK-RL ǀ MD-Qualitätskontroll-Richtlinie MDR ǀ Verordnung (EU) über Medizinprodukte MDS ǀ Medizinischer Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen MedR ǀ Medizinrecht (Zeitschrift) MPAV ǀ Medizinprodukte-Abgabeverordnung MPBetreibV ǀ Medizinprodukte-Betreiberverordnung Abkürzungsverzeichnis 19 <?page no="20"?> MPG ǀ Medizinproduktegesetz MPhG ǀ Gesetz über die Berufe der Physiotherapie MPJ ǀ Medizinprodukte Journal (Zeitschrift) MPKPV ǀ Verordnung über klinische Prüfungen von Medizinprodukten MRP ǀ Verfahren der gegenseitigen Anerkennung (Mutual Recognition Procedure) MRSA ǀ Methicillin-resistenter Staphylococcus aureus MRT ǀ Magnetresonanztomographie MVZ ǀ Medizinisches Versorgungszentrum Nds. ǀ Niedersächsisch Nds. GVBl. ǀ Niedersächsisches Gesetze- und Verordnungsblatt Nds. KHG ǀ Niedersächsisches Krankenhausgesetz NiSG ǀ Gesetz zum Schutz vor nichtionisierender Strahlung bei der Anwendung am Menschen NiSV ǀ Verordnung zum Schutz vor schädlichen Wirkungen nichtionisierender Strah‐ lung bei der Anwendung am Menschen Nr. ǀ Nummer NuWG ǀ Niedersächsisches Gesetz über unterstützende Wohnformen NJOZ ǀ Neue Juristische Online-Zeitschrift NJW ǀ Neue Juristische Wochenschrift NJW-RR ǀ NJW-Rechtsprechungs-Report (Zeitschrift) NVwZ ǀ Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht NZS ǀ Neue Zeitschrift für Sozialrecht NZM ǀ Neue Zeitschrift für Miet- und Wohnungsrecht NuWG ǀ Niedersächsisches Gesetz über unterstützende Wohnformen OHG ǀ Offene Handelsgesellschaft OPS-301 ǀ Operationen- und Prozedurenschlüssel nach § 301 SGB V OLG ǀ Oberlandesgericht OVG ǀ Oberverwaltungsgericht PartG ǀ Partnerschaftsgesellschaft PatG ǀ Patentgesetz PEI ǀ Paul-Ehrlich-Institut PEPP ǀ Pauschalierendes Entgeltsystem für psychiatrische und psychosomatische Einrichtungen PflBG ǀ Pflegeberufegesetz PflR ǀ Pflegerecht (Zeitschrift) PharmR ǀ Pharmarecht (Zeitschrift) PKV ǀ Verband der Privaten Krankenversicherung e.V. PodG ǀ Podologengesetz PRAC ǀ Ausschuss für Risikobewertung im Bereich der Pharmakovigilanz (Pharmaco‐ vigilance Risk Assessment Committee) PSUR ǀ regelmäßiger aktualisierter Unbedenklichkeitsbericht (Periodic Safety Update Report) 20 Abkürzungsverzeichnis <?page no="21"?> PSUSA ǀ PSUR Single Assessment PsychThG ǀ Psychotherapeutengesetz Qb-R ǀ Regelungen zum Qualitätsbericht der Krankenhäuser QM-RL ǀ Qualitätsmanagement-Richtlinie Reha-RL ǀ Rehabilitations-Richtlinie RegE ǀ Regierungsentwurf (eines Gesetzes) RKI ǀ Robert Koch-Institut RL ǀ Richtlinie/ n RMS ǀ Referenzmitgliedstaat (reference member state) Rn. ǀ Randnummer/ n r+s ǀ Recht und Schaden (Zeitschrift) RVO ǀ Rechtsverordnung S. ǀ Satz, Seite SG ǀ Sozialgericht, Soldatengesetz SGB ǀ Sozialgesetzbuch (mit römischen Zahlen für die einzelnen Bücher) SPZ ǀ Sozialpsychiatrisches Zentrum StGB ǀ Strafgesetzbuch STIKO ǀ Ständige Impfkommission beim RKI StrlSchG ǀ Strahlenschutzgesetz StrlSchV ǀ Strahlenschutzverordnung SVLFG ǀ Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau UBA ǀ Umweltbundesamt Unterabs. ǀ Unterabsatz UWG ǀ Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb Urt. ǀ Urteil V ǀ (Rechts)Verordnung v. ǀ vom VAG ǀ Versicherungsaufsichtsgesetz veröff. bereinigte F. ǀ veröffentlichte bereinigte Fassung VersR ǀ Versicherungsrecht (Zeitschrift) VG ǀ Verwaltungsgericht VGH ǀ Verwaltungsgerichtshof VO ǀ (Rechts)Verordnung VVaG ǀ Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit VVG ǀ Versicherungsvertragsgesetz VwVG ǀ Verwaltungs-Vollstreckungsgesetz VVG-InfoV ǀ VVG-Informationspflichtenverordnung WBVG ǀ Gesetz zur Regelung von Verträgen über Wohnraum mit Pflege- und Betreu‐ ungsleistungen Zahnärzte-ZV ǀ Zulassungsverordnung für Vertragszahnärzte z. g. d. ǀ zuletzt geändert durch z. g. a. ǀ zuletzt geändert am Abkürzungsverzeichnis 21 <?page no="22"?> ZHG ǀ Gesetz über die Ausübung der Zahnheilkunde ZHR ǀ Zeitschrift für das gesamte Handels- und Wirtschaftsrecht ZuStVO-Wirtschaft ǀ Niedersächsische Verordnung über Zuständigkeiten auf dem Gebiet des Wirtschaftsrechts sowie in anderen Rechtsgebieten 22 Abkürzungsverzeichnis <?page no="23"?> 1 Einführung 1.1 Akteure, Leistungen und Finanzierung des deutschen Gesundheitswesens Das Gesundheitswesen ist der gesellschaftliche Bereich, der der Gesunderhaltung sowie der kurativen, medizinisch-rehabilitativen und pflegerischen Versorgung der Bevölkerung dient. Das deutsche Gesundheitswesen ist sehr komplex und heterogen. Es lässt sich am ehesten erfassen, wenn es anhand der beteiligten Akteure, der angebotenen Leistungen sowie der Finanzierung der gesundheitlichen Versorgung betrachtet wird. Erstens lässt sich das Gesundheitswesen durch die beteiligten Akteure strukturieren. Zu den Beteiligten gehören zum einen die Anbieter der Dienstleistungen und Waren. Das sind z. B. die niedergelassenen Ärzte und Krankenhäuser, Pflegedienste und Pflegeheime, pharmazeutischen Unternehmen und Apotheken (siehe Abschnitt 2). Die Anbieter befinden sich in unterschiedlicher Trägerschaft. Insoweit werden die öffentlichen, freigemeinnützigen und privaten Träger unterschieden. Als öffentliche Träger gelten juristische Personen des öffentlichen Rechts. Zu ihnen gehören die Bundesrepublik, die Bundesländer und Gemeinden sowie die Sozialversicherungsträ‐ ger, die Körperschaften des öffentlichen Rechts sind. Die Bundesrepublik ist Träger der Bundeswehrkrankenhäuser, die Länder sind Träger von Universitätskliniken und psychiatrischen Landeskrankenhäusern, die Gemeinden von kommunalen Kranken‐ häusern. Ferner betreiben z. B. die Rentenversicherungsträger Rehabilitationskliniken. Die freigemeinnützigen Dienste und Einrichtungen befinden sich in der Trägerschaft der kirchlichen Wohlfahrtspflege (z. B. Caritas, Diakonie), der freien Wohlfahrtspflege (z. B. Arbeiterwohlfahrt, DRK) oder gehören gemeinnützigen Stiftungen und Vereinen. Zur dritten Gruppe der privaten Träger zählen die berufs- oder gewerbsmäßig tätigen Einzelpersonen (z. B. niedergelassener Arzt), Personengesellschaften (z. B. Augenop‐ tiker in der Rechtsform der OHG) und juristische Personen des Privatrechts (z. B. Krankenhaus in der Rechtsform einer AG). Soweit die Anbieter von Waren und Dienstleistungen die Versicherten der gesetz‐ lichen Krankenversicherung und sozialen Pflegeversicherung versorgen, werden sie auch als Leistungserbringer bezeichnet. Sie schließen sich regelmäßig in Verbänden auf Landesund/ oder Bundesebene zusammen, die die beruflichen Interessen der Anbieter fördern und gegenüber anderen Akteuren vertreten. So sind beispielsweise die Krankenhäuser in Landeskrankenhausgesellschaften organisiert, die ihrerseits Mitglieder der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) sind. Zum anderen sind die Kostenträger, wie z. B. die Kranken- und Pflegekassen, Beteiligte des Gesundheitswesens (siehe Abschnitt 3). Sie finanzieren sich über Beiträge <?page no="24"?> 1 Sozialgesetzbuch (SGB) Fünftes Buch (V) v. 20.12.1988, BGBl. I S. 2477, z. g. d. G. v. 10.12.2021, BGBl. I S.-5162. 2 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union v.9.5.2008, ABl. C 115 S. 47, z. g. d. Beschl. v.-18.7.2019, ABl. L 196 S.-1. 3 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland v. 23.5.1949, i. d. i. BGBl. III, Gliedergs-Nr. 100-1 veröff. bereinigte F., z. g. d. G. v. 29.9.2020, BGBl. I S.-2048. der Mitglieder und Arbeitgeber und organisieren die Gesundheitsversorgung der Mitglieder und (Familien-)Versicherten. Die Kostenträger sind ebenfalls in Verbänden organisiert. Beispielsweise sind alle Kranken- und Pflegekassen Mitglied des Spitzen‐ verbandes Bund der Krankenkassen (GKV-Spitzenverband), der in der Pflegeversiche‐ rung als Spitzenverband Bund der Pflegekassen auftritt. In der gesetzlichen Krankenversicherung bilden vier Spitzenorganisationen - die KBV, KZBV, DKG und der GKV-Spitzenverband - den Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA). Dieser ist ein gemeinsames Selbstverwaltungsgremium mit umfassender Richt‐ linienkompetenz (zur Besetzung und Beschlussfassung vgl. § 91 SGB V 1 ). Der GBA beschließt gem. § 92 SGB V Richtlinien über die Gewährung für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der gesetzlich Versicherten, z. B. die Arzneimittel-Richtlinie, Qualitätsmanagement-Richtlinie, Zahnersatz-Richtlinie. Er wird bei seiner Arbeit von zwei fachlich unabhängigen, wissenschaftlichen Instituten unterstützt, dem Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswe‐ sen (vgl. § 137a SGB V) und dem Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (vgl. § 139a SGB V). Ferner prägen die Europäische Union, der Bund und die Bundesländer das Gesund‐ heitswesen mit ihrer Rechtssetzung. Die Tätigkeit der Europäischen Union ist gem. Art. 168 AEUV 2 u. a. auf die Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung, die Verhütung von Humankrankheiten, die Beseitigung von Ursachen für die Gefährdung der Ge‐ sundheit, Bekämpfung schwerwiegender grenzüberschreitender Gesundheitsgefahren gerichtet. In diesem Sinne hat die Europäische Union beispielsweise Qualitäts- und Sicherheitsstandards für Arzneimittel geregelt (vgl. dazu Abschnitte 2.9.3, 2.9.6 und 2.9.7). Für die Organisation des Gesundheitswesens, die medizinische Versorgung der Bevölkerung und die Sozialversicherungssysteme ist die Europäische Union dagegen nicht zuständig. Diese Bereiche bleiben kraft ausdrücklicher Regelung in Art. 168 Abs.-7-AEUV in der Verantwortung der Mitgliedstaaten. In der Bundesrepublik Deutschland gehört das Gesundheitswesen in vielerlei Hin‐ sicht zur konkurrierenden Gesetzgebung. Das gilt z.-B. für die Sozialversicherung, die Zulassung zu ärztlichen und anderen Heilberufen und zum Heilgewerbe sowie für das Recht des Apothekenwesens, der Arzneien, der Medizinprodukte, der Heilmittel, der Betäubungsmittel und Gifte (vgl. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12, 19 GG 3 ). Konkurrierende Gesetzgebung bedeutet gem. Art. 72 GG, dass die Länder die Befugnis zur Gesetzgebung haben, solange und soweit der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit nicht durch Gesetz Gebrauch gemacht hat. 24 1 Einführung <?page no="25"?> Abb. 1: Akteure des Gesundheitswesens Europäische Union, Bund, Bundesländer Gemeinsamer Bundesausschuss st aatli c he Auf si c ht Spitzenverband und Verbände auf Landesebene Bundes- und Landesverbände der Leistungserbringer Ärzte, Krankenhäuser, Pflegeheime und andere Leistungserbringer st aatli c he Auf si c ht Kranken- und Pflegekassen Sozialhilfeträger Verträge Mitgliedschaft Mitgliedschaft Verträge Verträge subsidiäre Leistungsgewährung Regulierung Regulierung Regulierung Verträge Anbieter von Waren und Dienstleistungen außerhalb der GKV und SPV Patient/ Heimbewohner/ Versicherter privates Versicherungsunternehmen Abbildung 1: Akteure des Gesundheitswesens 1.1 Akteure, Leistungen und Finanzierung des deutschen Gesundheitswesens 25 <?page no="26"?> Der Bund und die Länder wirken nicht nur legislatorisch, sondern auch exekutiv im Gesundheitswesen mit. Ihre Verwaltungsbehörden nehmen insbesondere die staatliche Auf‐ sicht über die Einrichtungen, Unternehmen und Sozialversicherungsträger wahr (vgl. z.-B. Abschnitte 2.9.5, 3.1.1 und 3.2.9). Bestimmte Aufgaben nehmen - je nach landesrechtlicher Ausgestaltung - die Landkreise, kreisfreien Städte, Gemeinden als untere Verwaltungsbe‐ hörden im übertragenden Wirkungskreis wahr. So ist beispielsweise das Gesundheitsamt ein wichtiger Akteur des öffentlichen Gesundheitsdienstes (vgl. Abschnitt 4). Die Gesamtheit der staatlichen Stellen des Bundes und der Bundesländer, der Gemeinden und Sozialversicherungsträger, die Aufgaben der gesundheitlichen Ver‐ sorgung der Bevölkerung wahrnehmen, wird auch als öffentliches Gesundheitswe‐ sen bezeichnet. Innerhalb des öffentlichen Gesundheitswesens spielt der öffentliche Gesundheitsdienst, dem bevölkerungsmedizinische Aufgaben zugewiesen sind, eine zentrale Rolle; vgl. dazu Abschnitt 4. Zweitens lässt sich das Gesundheitswesen anhand der angebotenen Leistungen verschiedenartig unterteilen. Die Leistungen können im Sinne des betriebswirtschaft‐ lichen Begriffs der Güter in Dienstleistungen sowie Waren unterschieden werden. Leistungen Dienstleistungen, wie z. B. ärztliche Behandlung nichtärztliche Behandlung, wie z. B. Physiotherapie Krankenhausbehandlung pflegerische Versorgung Waren, wie z. B. Arzneimittel Medizinprodukte Abb. 2: Unterscheidung der Gesundheitsleistungen in Dienstleistungen und Waren Abbildung 2: Unterscheidung der Gesundheitsleistungen in Dienstleistungen und Waren 26 1 Einführung <?page no="27"?> Ferner lassen sich die Leistungen danach differenzieren, mit welchem Ziel sie der gesundheitlichen Versorgung dienen. Diese Differenzierung führt zu einer Einteilung des Gesundheitswesens in verschiedene Versorgungsbereiche, nämlich (Primär-)Prä‐ vention, Kuration, Rehabilitation und Pflege. Wenn von Prävention gesprochen wird, ist häufig die Primärprävention gemeint. Sie umfasst die Leistungen, die auf die Verhinderung und Verminderung von Krankheitsrisiken sowie auf die Förderung eines gesundheitsorientierten Handelns gerichtet sind. Die kurativen Leistungen zielen auf die (Früh-)Erkennung und Behandlung von Krankheiten, insbesondere Heilung, Schmerzlinderung und Verzögerung des Krankheitsverlaufs, ab. Diese Ziele werden auch mit den Leistungen der Rehabilitation verfolgt. Die Rehabilitationsmaßnahmen sind aber zugleich darauf gerichtet, die Folgen der Krankheit, die die Teilhabe des Betroffenen an der Gesellschaft einschränken, zu beseitigen oder zu minimieren. Die pflegerischen Leistungen zielen darauf ab, Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten des Pflegebedürftigen zu beseitigen oder zu mindern und eine Verschlimmerung der Pflegebedürftigkeit zu verhindern. (Primär-)Prävention Pflege Kuration (medizinische) Rehabilitation Abbildung 3: Unterscheidung der Versorgungsbereiche Innerhalb dieser Versorgungsbereiche werden die (Dienst-)Leistungen in verschiede‐ nen Versorgungsformen - ambulant, teilstationär und vollstationär - erbracht. Eine ambulante Versorgung ist zeitlich begrenzt. Der Kontakt zwischen dem Leistungsemp‐ fänger (z. B. Patient) und dem Leistungserbringer (z. B. Arzt) besteht nur in der Zeit, in der die Leistung (z. B. Behandlung) erbracht wird. Dagegen bedeutet eine teilstationäre oder vollstationäre Versorgung, dass der Empfänger (z. B. Patient) in das betriebliche Organisationsgefüge des Leistungserbringers (z. B. Krankenhaus) integriert wird, und zwar entweder Tag und Nacht (= vollstationär) oder nur tagsüber oder nur nachts, aber wiederkehrend (= teilstationär). Weiterführende Erläuterungen zur Abgrenzung der ambulanten, teil- und vollstationären Krankenhausbehandlung finden Sie im Abschnitt 2.2.3.4. 1.1 Akteure, Leistungen und Finanzierung des deutschen Gesundheitswesens 27 <?page no="28"?> Abb. 4: Unterscheidung der Versorgungsformen ambulante Versorgung Beispiele: ■ Behandlung eines Patienten durch einen niedergelassenen Arzt ■ Physiotherapie ■ ambulante Operation im Krankenhaus ■ ambulante Rehabilitationsmaßnahme ■ Versorgung eines Pflegebedürftigen im häuslichen Bereich durch den Pflegedienst teilstationäre Versorgung Beispiele: ■ Behandlung im Krankenhaus (z. B. in der psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses) ■ Versorgung eines Pflegebedürftigen in einer Tagespflegeeinrichtung vollstationäre Versorgung Beispiele: ■ Behandlung eines Patienten im Krankenhaus ■ stationäre Rehabilitationsmaßnahme ■ Versorgung eines Pflegebedürftigen im Pflegeheim Abbildung 4: Unterscheidung der Versorgungsformen Wenn es um die rechtlichen Rahmenbedingungen der Leistungserbringer in den einzelnen Versorgungsbereichen und -formen geht, zeigt sich die Heterogenität des deutschen Gesundheitswesens besonders deutlich. So erbringen beispielsweise die meisten Pflegedienste sowohl die häusliche Krankenpflege als auch die häusliche Pflegehilfe. Während Letztere den Regeln der Pflegeversicherung unterliegt, wird die häusliche Krankenpflege als kurative Leistung im Rahmen der gesetzlichen Kranken‐ versicherung erbracht. In beiden Bereichen unterliegen sie sehr unterschiedlichen Regelungen, vgl. dazu Abschnitt 2.6. Selbst innerhalb eines Versorgungsbereichs sind sehr differenzierte Regeln anzutreffen, wie es z. B. bei der stationären und ambulanten Krankenhausbehandlung zu beobachten ist (vgl. im Einzelnen Abschnitte 2.2.3.5 bis 2.2.3.7). Drittens ist die Finanzierung der gesundheitlichen Versorgung im deutschen Gesund‐ heitswesen differenziert. 28 1 Einführung <?page no="29"?> Finanzierungsarten steuerfinanzierte staatliche Gesundheitsfürsorge beitragsfinanzierte Versicherung gesundheitliche Versorgung durch eigene Mittel des Betroffenen Sozialversicherung, z. B. Kranken- und Pflegeversicherung Private Kranken- und Pflegeversicherung Beispiele: ■ Beihilfe für Beamte ■ Heilfürsorge für Polizeibeamte, Justizvollzugsbeamte, Feuerwehrleute, Soldaten ■ Sozialhilfe für Bedürftige Beispiele: ■ Zuzahlungen im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung ■ eigenfinanzierte (zusätzliche) Leistungen Abbildung 5: Finanzierung der gesundheitlichen Versorgung Die Sozialversicherung dient der sozialen Sicherung gegen Krankheit, Arbeitsunfall, Berufskrankheit, Minderung der Erwerbsfähigkeit, Mutterschaft und Alter. Sie ist Ausdruck der in Art. 20 Abs. 1 GG verankerten Staatszielbestimmung, dass die Bundes‐ republik ein Sozialstaat ist, und hat die nachfolgenden charakteristischen Merkmale: ● Die Sozialversicherung ist staatlich organsiert. Die Aufgaben werden von Versiche‐ rungsträgern wahrgenommen, die rechtsfähige Körperschaften des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung sind (vgl. Näheres zu den Kranken- und Pflegekassen Abschnitt 3.1.2). ● Die Sozialversicherung dient vor allem der sozialen Sicherung der gegen Arbeits‐ entgelt beschäftigen Arbeitnehmer. Sie beruht im Grundsatz auf einer Pflichtmit‐ gliedschaft der Versicherten (vgl. zur Kranken- und Pflegeversicherung Abschnitt 3.1.4 und 3.1.5). ● Sie beruht auf dem Solidarprinzip. Die Mitglieder der Solidargemeinschaft gewäh‐ ren sich bei Eintritt des geschützten Risikos gegenseitig Unterstützung. ● Die finanziellen Mittel werden hauptsächlich durch die Beiträge der Versicherten und der Arbeitgeber aufgebracht (vgl. zur Kranken- und Pflegeversicherung Abschnitte 3.1.6 und 3.1.7). Da die Höhe der Beiträge nicht vom Alter und Gesundheitszustand, sondern vom Einkommen des Einzelnen abhängt, erfolgt eine Umverteilung innerhalb der Solidargemeinschaft, und zwar von Gesunden zu Kranken, von Älteren zu Jüngeren und von höher zu geringer Verdienenden. 1.1 Akteure, Leistungen und Finanzierung des deutschen Gesundheitswesens 29 <?page no="30"?> 4 Sozialgesetzbuch (SGB) Viertes Buch (IV) v. 3.12.1976, BGBl. I S. 3845, z. g. d. G. v. 10.12.2021, BGBl. I S.-5162. 5 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch v. 7.8.1996, BGBl. I S.-1254, z. g. d. G. v. 10.12.2021, BGBl. I S.-5162. 6 Sozialgesetzbuch (SGB) Sechstes Buch (VI) v. 18.12.1989, BGBl. I S. 2261, 1990 I S. 1337, z. g. d. G. v. 22.11.2021, BGBl. I S.-4906. ● Die Leistungen (wie z. B. ambulante, stationäre Krankenbehandlung oder Pflege, Arzneimittel, Heil- und Hilfsmittel) erhalten die Versicherten grundsätzlich als Sach- und Dienstleisung von den Sozialversicherungsträgern, die ihrerseits dazu Verträge mit den Leistungserbringern schließen und die Vergütung an die Leis‐ tungserbringer zahlen. Die Sozialversicherung gliedert sich in die gesetzliche Kranken-, Renten- und Unfall‐ versicherung, soziale Pflegeversicherung und Arbeitsförderung (inkl. Arbeitslosenver‐ sicherung). Letztere wird nach § 1 Abs. 1 SGB IV 4 nicht als Versicherungszweig der Sozialversicherung angesehen. Das Sozialgesetzbuch verwendet folglich einen engeren Sozialversicherungsbegriff. Gleichwohl finden verschiedene Vorschriften des SGB IV, das die allgemeinen Bestimmungen für die Sozialversicherung enthält, auf die Arbeitsförderung ebenfalls Anwendung (vgl. §-1 Abs. 1 SGB IV). Von allen Sozialversicherungszweigen sind die Kranken- und Pflegeversicherung von zentraler Bedeutung für das Gesundheitswesen. Ihr sachlicher Schutzbereich sind die Krankheit und Pflegebedürftigkeit (siehe Näheres dazu in den Abschnitten 3.1.10 und 3.1.11). In den anderen Sozialversicherungszweigen ist unter bestimm‐ ten Voraussetzungen ebenfalls eine gesundheitliche Versorgung der Versicherten bei Eintritt bestimmter Risiken vorgesehen. Für die Risiken Berufskrankheit und Arbeitsunfall sind die Unfallversicherungsträger zuständig. Zu den Aufgaben der Unfallversicherungsträger gehört es u. a. die Gesundheit und die Leistungsfähigkeit der Versicherten nach Eintritt von Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten mit allen geeigneten Mitteln wiederherzustellen (vgl. § 1 SGB VII 5 ). Dementsprechend gewähren die Unfallversicherungsträger Leistungen zur Heilbehandlung und Rehabilitation (vgl. §§ 26 ff. SGB VII). Für die Risiken der Minderung der Erwerbsfähigkeit und Alter sind die Rentenversicherungsträger zuständig, zu deren Leistungen u. a. Prävention und medizinische Rehabilitation gehören, um Krankheiten und Behinderungen zu begegnen und die Erwerbsfähigkeit zu erhalten (vgl. §§-9 ff. SGB VI 6 ). Neben der Sozialversicherung besteht der Bereich der privaten Kranken- und Pflegeversicherung (siehe Abschnitt 3.2). Die private Kranken- und Pflegeversicherung bietet für den Einzelnen ebenfalls die Möglichkeit, sich für den Fall der Krankheit und Pflegebedürftigkeit abzusichern. Sie ist wie die gesetzliche Kranken- und Pflegeversi‐ cherung beitragsfinanziert. Sie unterscheidet sich von der gesetzlichen Versicherung vor allem durch folgende charakteristischen Merkmale: ● Die Versicherung wird von privaten Unternehmen (Aktiengesellschaften, Versi‐ cherungsvereinen auf Gegenseitigkeit) angeboten, die der staatlichen Aufsicht unterliegen (Näheres in den Abschnitten 3.2.3 und 3.2.9). 30 1 Einführung <?page no="31"?> ● Die Versicherung beruht nicht auf einer gesetzlich vorgegebenen Pflichtmitglied‐ schaft, sondern auf dem Abschluss eines Vertrages. Allerdings besteht für die Personen mit Wohnsitz im Inland ein Kontrahierungszwang zum Abschluss eines Kranken- und Pflegeversicherungsvertrages, wenn sie keine andere Absicherung (z.-B. in der gesetzlichen Versicherung) haben (Näheres im Abschnitt 3.2.4). ● Die Kalkulation der Beiträge erfolgt nach dem Äquivalenzprinzip, nach dem die Summe der Beitragseinnahmen eines Tarifkollektivs äquivalent zu der Summe der für das Kollektiv anfallenden Versicherungsleistungen sein muss. Daraus folgt, dass die Höhe der Beiträge für den Einzelnen nicht von der Höhe des Einkommens, sondern von seinem Alter und Gesundheitszustand abhängig ist (Näheres im Abschnitt 3.2.9.3). ● Die private Versicherung ist vom Kostenerstattungsprinzip geprägt. Der Versi‐ cherte beschafft sich die Leistungen der Gesundheitsversorgung selbst und lässt sich seine Aufwendungen vom Versicherungsunternehmen erstatten (Näheres im Abschnitt 3.2.6.1). Neben dem Dualismus von gesetzlicher und privater Versicherung existiert die aus Steuermitteln finanzierte staatliche Gesundheitsfürsorge. Zu dieser gehört die Beihilfe der Dienstherren für Beamte. Im Rahmen der Beihilfe werden die finanziellen Aufwen‐ dungen des Beamten für seine Heilbehandlung zu einem bestimmten Prozentsatz, z. B. 50 %, erstattet. Für den nicht zu erstattenden Anteil muss der Beamte selbst vorsorgen, z. B. durch den Abschluss eines privaten Krankenversicherungsvertrages. Die beihilfefähigen Aufwendungen, die beihilfeberechtigten Personen, der Beihilfeum‐ fang und weitere Einzelheiten werden in der Bundesbeihilfeverordnung und den Beihilfevorschriften der Länder geregelt. Weitere staatliche Gesundheitsfürsorgesysteme sind die Heilfürsorge für Polizeibe‐ amte, Justizvollzugsbeamte, Feuerwehrleute und Soldaten, die Sozialhilfe für Bedürf‐ tige, die Kinder- und Jugendhilfe, die Kriegsopferfürsorge, die Asylbewerberleistungen, die Gesundheitsfürsorge im Straf- und Maßregelvollzug. 1.2 Recht im Gesundheitswesen als juristische Querschnittsmaterie Die Rechtsordnung, auch objektives Recht genannt, umfasst alle Gesetze, Rechtsverordnun‐ gen und untergesetzliche Vorschriften, wie z. B. Richtlinien des GBA oder Satzungen der Krankenkassen oder der Ärztekammern. Das objektive Recht kann in drei Säulen - Privatrecht, öffentliches Recht und Strafrecht - eingeteilt werden. Das Privatrecht regelt die Rechtsbeziehungen zwischen Privatrechtssubjekten, wie z. B. Unternehmen und Bürger. Die Beziehungen der Privatrechtssubjekte zum Staat sowie die Organisation innerhalb des Staatswesens sind Gegenstand des öffentlichen Rechts. Das Strafrecht regelt die Ahndung des straffälligen Verhaltens eines Rechtssubjektes durch den Staat. Es kann auch dem öffentlichen Recht zugeordnet werden, weil es ebenfalls um die Hoheitsgewalt des Staates gegenüber dem Einzelnen geht. Das Privatrecht und das öffentliche Recht lassen sich des Weiteren in verschiedene Teilgebiete untergliedern. 1.2 Recht im Gesundheitswesen als juristische Querschnittsmaterie 31 <?page no="32"?> Privatrecht Öffentliches Recht Teilgebiete z. B.: ● Bürgerliches Recht ● Wettbewerbsrecht ● Versicherungsvertragsrecht Teilgebiete z. B.: ● Recht der Europäischen Union ● Staats- und Verfassungsrecht ● Sozialversicherungsrecht ● Sozialhilferecht ● Gewerbe- und Handwerksrecht ● Arzneimittelrecht ● Medizinprodukterecht ● Infektionsschutzrecht ● Krankenhausrecht ● Versicherungsaufsichtsrecht Tabelle 1: Unterteilung des Privatrechts und des öffentlichen Rechts Das Recht im Gesundheitswesen ist eine Querschnittsmaterie, die sowohl das Privat‐ recht als auch das öffentliche Recht und Strafrecht berührt. Es umfasst alle Bestim‐ mungen zur Regelung ● der Erwerbstätigkeit der Anbieter von Waren und Dienstleistungen zur gesund‐ heitlichen Versorgung der Bevölkerung, ● der Geschäftstätigkeit der Kranken- und Pflegekassen sowie der anderen Träger der Sozialversicherung, soweit diese präventive, kurative, medizinisch-rehabilita‐ tive und pflegerische Leistungen erbringen, ● der Tätigkeit der Verbände, Zusammenschlüsse und Arbeitsgemeinschaften der genannten Sozialversicherungsträger sowie der Selbstverwaltungsgremien, die von den Sozialversicherungsträgern und Leistungserbringern gebildet werden, ● der Geschäftstätigkeit der Krankenversicherungsunternehmen und ihrer Ver‐ bände, ● der Rechtsstellung des Einzelnen als Nachfrager der gesundheitsbezogenen Waren und Dienstleistungen sowie als Mitglied oder Familienversicherter in der Sozial‐ versicherung oder als Versicherungsnehmer oder Versicherter in der privaten Kranken- und Pflegeversicherung oder als Empfänger von steuerfinanzierten Leistungen, ● der ehrenamtlichen Tätigkeit von Personen und Selbsthilfegruppen im Gesund‐ heitswesen, ● des Handelns des Bundes, der Länder, Landkreise und Gemeinden im Gesundheits‐ wesen in Form von Planung (z. B. Krankenhausplanung), Beaufsichtigung der beteiligten Akteure (z. B. Zulassung zum Beruf, Einschreiten bei Verstößen), Schutz der Bevölkerung (z. B. Infektionsschutz), Förderung (z. B. Investitionsförderung von Krankenhäusern) und Fürsorge (z. B. Hilfe bei Pflege bei Bedürftigkeit) und Ahndung straffälligen Verhaltens. Das Recht im Gesundheitswesen besteht aus einer Vielzahl von Rechtsvorschriften. Diese werden je nach Urheber dem Recht der Europäischen Union (Unionsrecht) 32 1 Einführung <?page no="33"?> und dem nationalen Recht, dieses wiederum unterteilt in Bundes- und Landesrecht, zugeordnet. Für den Fall, dass es Widersprüche zwischen den verschiedenen Rechtsvor‐ schriften gibt, besteht für die Vorschriften eine Rangordnung, auch Normenhierarchie genannt. Innerhalb dieser Hierarchie gehen die oberen den unteren Vorschriften vor. Abb. 6: Normenhierarchie Recht der Europäischen Union (Unionsrecht) Bundesrecht Landesrecht Abbildung 6: Normenhierarchie Das Unionsrecht wird in primäres und sekundäres Unionsrecht differenziert. Die Verträge, die die Mitgliedstaaten schließen, bilden das primäre Unionsrecht, das innerhalb des Unionsrechts den obersten Rang einnimmt. Zu den Verträgen gehört z. B. der im vorherigen Abschnitt 1.1 erwähnte AEUV. Das sekundäre Recht wird von den Organen der Europä‐ ischen Union gesetzt. Die beiden wichtigsten Rechtsquellen sind die Verordnungen und Richtlinien. Die Verordnungen gelten unmittelbar in jedem Mitgliedstaat (Art. 288 AEUV). Im Abschnitt 2.9.6 lernen Sie die VO 726/ 2004 kennen, die u. a. das zentralisierte Arznei‐ mittelzulassungsverfahren regelt. Dagegen ist eine Richtlinie nur für die Mitgliedstaaten hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, die Umsetzung der Vorgaben in das nationale Recht bleibt jedoch den Mitgliedstaaten überlassen (Art. 288 AEUV). Im Abschnitt 2.9.7 lernen Sie die Richtlinie 2001/ 83/ EG zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel und die Umsetzung in Deutschland kennen. Im deutschen Recht existieren angesichts der föderalen Struktur das Bundesrecht und das Recht der Bundesländer, Landesrecht genannt. Den obersten Rang des Bundes‐ rechts nimmt das Grundgesetz ein. Ihm nachgeordnet sind die Gesetze, die der Bundes‐ tag (unter Einbeziehung des Bundesrates) beschließt, sowie die Rechtsverordnungen, die gem. Art. 80 GG von der Exekutive erlassen werden und in der Rangordnung unter den Gesetzen stehen. ➤ Beispiel Gesetze: Sozialgesetzbücher I-XII, Krankenhausfinanzierungsgesetz, Arzneimit‐ telgesetz, Gewerbeordnung (= Gesetz, auch wenn es Gewerbeordnung heißt) Rechtsverordnungen: Zulassungsverordnung für Vertragsärzte (erlassen vom BMG mit Zustimmung des Bundesrates), Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Physiotherapeuten (erlassen vom BMG) 1.2 Recht im Gesundheitswesen als juristische Querschnittsmaterie 33 <?page no="34"?> 7 Sozialgesetzbuch (SGB)---Elftes Buch (XI) v. 26.5.1994, BGBl. I S.-1014, z. g. d. G v. 10.12.2021, BGBl. I S.-5162. 8 Vgl. zur Normsetzung durch Kollektivverträge sowie durch Richtlinien des GBA z. B. BSG, Urt. v. 20.3.1996, 6 RKa 62/ 94, BeckRS 1996, 30760740, Urt. v. 9.12.2004, B 6 KA 44/ 03 R, NJOZ 2005, 2476, Urt. v. 31.5.2006, B 6 KA 13/ 05 R, BeckRS 2006, 43912. 9 Ebd. Das Landesrecht hat eine ähnliche Hierarchie wie das Bundesrecht, die Landesverfas‐ sungen im obersten Rang, nachfolgend die vom Landtag (bzw. Bürgerschaft, Abgeord‐ netenhaus in den Stadtstaaten) beschlossenen Gesetze sowie weiter nachfolgend die Rechtsverordnungen der Exekutive. In den Abschnitten 2 bis 4 lernen Sie eine Vielzahl von bundesrechtlichen Vorschrif‐ ten sowie einige Landesgesetze kennen. In der gesetzlichen Krankenversicherung und sozialen Pflegeversicherung gibt es zudem eine Normsetzung durch die Kollektivverträge der an der Selbstverwaltung beteiligten Verbände (z. B. die KBV und der GKV-Spitzenverband). Diese Rechtssetzung beruht auf dem Naturalleistungsprinzip, das beide Sozialversicherungszweige prägt. Danach erhalten die Versicherten die Leistungen grundsätzlich als Sach- und Dienst‐ leistungen und nur in Ausnahmefällen in Form einer Kostenerstattung (vgl. § 2 Abs. 2 SGB V, § 4 Abs. 1 SGB XI 7 ). Um den Versichertenanspruch zu erfüllen, müssen die dafür erforderlichen Regeln zwischen den Kassen und den Leistungserbringern vereinbart werden. Dafür sehen die Gesetze entweder Einzelverträge oder von den Verbänden geschlossene Kollektivverträge vor. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass die an der Selbstverwaltung Beteiligten sachkundig sind und selbst am besten beurteilen können, wie sie ihre Beziehungen zueinander ausgestalten. Zu diesem gesetzlichen Regelungskonzept gehört, dass die Kollektivverträge der Verbände gegenüber den Leistungserbringern, Kranken- und Pflegekassen, Versicherten und Dritten bindende Wirkung haben, so dass sie auch als Normsetzungsverträge bezeichnet werden. 8 In der gesetzlichen Krankenversicherung ist ferner der GBA zur Normsetzung befugt. Seine Befugnis dient der Konkretisierung des Wirtschaftlichkeitsgebots gem. § 12 Abs. 1 SGB V. Dieses verlangt einerseits, dass die Versicherten ausreichend und zweckmäßig, also mit allen notwendigen und geeigneten Leistungen, versorgt werden. Andererseits bedeutet es, dass die Versicherten keine unnötigen oder unwirtschaftli‐ chen Leistungen beanspruchen können. Über die Gewährung einer ausreichenden, zweckmäßigen und wirtschaftlichen Versorgung der Versicherten beschließt der GBA gem. § 92 SGB V Richtlinien über die (zahn-)ärztliche Behandlung, über Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmittel, über die Krankenhausbehandlung u. v. m. Um die Funktionsfähigkeit der Versorgung der Versicherten mit Sach- und Dienstleistungen zu sichern, kommt den Richtlinien wie den Kollektivverträgen eine normative Wirkung gegenüber den Leistungserbringern, Krankenkassen, Versicherten und Dritten (z. B. pharmazeutische Unternehmen) zu. 9 Allerdings setzt Gültigkeit der Kollektivverträge und der Richtlinien voraus, dass sie inhaltlich mit dem höherrangigen Recht, also beispielsweise mit dem GG oder dem 34 1 Einführung <?page no="35"?> SGB V, vereinbar sind. Im Abschnitt 2 werden Ihnen verschiedene Kollektivverträge und Richtlinien begegnen. 1.3 Lern- und Studienhinweise Im Abschnitt 2 lernen Sie die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Erwerbstätigkeit verschiedener Anbieter von Waren und Dienstleistungen kennen. Dabei werden die Regelungen der verschiedenen Rechtsgebiete, die für den jeweiligen Anbieter relevant sind, zusammengeführt und im Kontext erörtert. Mit anderen Worten: Die rechtlichen Vorgaben werden aus der Perspektive des Anbieters erörtert. Dieses Vorgehen beruht auf der didaktischen Idee, Sie mit dem spezifischen Rechtsrahmen für eine Tätigkeit in einem bestimmten Arbeitsumfeld (z. B. in der Krankenhausverwaltung) vertraut zu machen. Auf der Grundlage dieser Kenntnisse sollen Sie Sachverhalte des Arbeits‐ umfeldes rechtlich einordnen und unter Berücksichtigung der rechtlichen Folgen steuern können. Die Erläuterungen zu den einzelnen Anbietern haben in der Regel folgende Struktur. Sie beginnen mit dem Gewerbe- oder Berufsrecht als Grundlage für den Berufszugang. Daran schließen sich die Erläuterungen zur Ausübung der Tätigkeit an. Die diesbezüglichen Vorgaben folgen aus dem Sozialversicherungs- und Privatrecht sowie aus weiteren Rechtsgebieten, wie z. B. dem Arzneimittel- oder Medizinprodukterecht. Im Abschnitt 3 lernen Sie zum einen die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Kranken- und Pflegekassen kennen, die aus der Perspektive der Kasse erörtert werden. Die Ausführungen beziehen sich insbesondere auf die Rechtsstellung der Kassen in der Staatsverwaltung, ihre Errichtung, Fusion und Schließung, ihre Mitglieder sowie die Finanzierung und die Mittelverwendung. Hinsichtlich der Leistungen der Kranken- und Pflegekassen sowie ihrer Rechtsbeziehungen zu den Leistungserbringern finden Sie überwiegend Querverweise in den Abschnitt 2, weil die relevanten Regelungen bei dem jeweiligen Anbieter der Leistungen erläutert werden. Zum anderen werden im Abschnitt 3 das für die Krankenversicherungsunternehmen maßgebliche Versicherungsvertragsrecht und Versicherungsaufsichtsrecht erläutert. Im Abschnitt 4 lernen Sie den öffentlichen Gesundheitsdienst kennen. Dieser hat eine Vielzahl von Aufgaben wahrzunehmen, von denen eine, und zwar der Schutz der Bevölkerungen vor übertragbaren Krankheiten, näher betrachtet wird. Das vorliegende Werk ist keine erschöpfende Darstellung des gesamten Rechts im Gesundheitswesen. Dafür ist die Materie zu umfangreich. Das Gesundheitswesen gehört zum Schutz der Bevölkerung zu den am stärksten regulierten Bereichen der Gesellschaft. Im Spannungsverhältnis des Umfangs möglicher Erläuterungen einerseits und einer vertretbaren Seitenzahl andererseits ist es unausweichlich, einige Fragestel‐ lungen unerörtert zu lassen. Deshalb wird auf Erläuterungen des Rechtsrahmens einiger Anbieter von Leistungen, z. B. Hebammen und Zahntechniker, sowie auf die steuerfinanzierten Fürsorgesysteme, wie z. B. Beihilfe oder Heilfürsorge, nicht 1.3 Lern- und Studienhinweise 35 <?page no="36"?> eingegangen. Ferner müssen einige spezifische Rechtsfragen unerörtert bleiben, wie z. B. die Bedeutung des Patentrechts für pharmazeutische Unternehmer, die Bedeutung der unionsrechtlichen Grundfreiheiten für die Anbieter von Waren und Dienstleis‐ tungen oder die Ausgestaltung des Sozialverwaltungsverfahrens der Kranken- und Pflegekassen. Die Erläuterungen in den Abschnitten 2 bis 4 werden Sie besser verstehen, wenn Sie die angegebenen Rechtsvorschriften parallel lesen. Den einzelnen Abschnitten ist eine Zusammenstellung der Gesetze vorangestellt, die im Wesentlichen benötigt werden. Wenn Sie den Umgang mit dem Gesetzestext trainieren und Erfahrungen sammeln, werden Sie feststellen, dass viele Fragen unmittelbar vom Gesetz beantwortet werden. Das Gesetz ist in der Prüfung sozusagen der legale Spickzettel! Aber so wie man den Spickzettel selbst schreiben muss, um ihn zu verstehen, muss man auch das Gesetz selbst lesen. Die für die Erläuterungen relevanten Rechtsvorschriften sind beim ersten Zitat mit der Quelle im Amtsblatt der EU, im Bundesgesetzblatt oder Gesetzblatt des Bundeslandes angegeben. Die Angabe der Verkündungsblätter (bitte beachten: nicht Verkündigung) entspricht dem Standard des Zitierens, den Sie beim Anfertigen von Haus-, Studien- und Abschlussarbeiten ebenfalls berücksichtigen sollten. Der Umgang mit den Verkündungsblättern ist jedoch schwierig. Bei der Änderung eines Gesetzes wird grundsätzlich nur die Änderung verkündet. Das hat zur Folge, dass sich die aktu‐ elle Fassung eines Gesetzes je nach Zahl der Änderungen aus mehreren Verkündungs‐ blättern ergibt. Deshalb wird bei der „alltäglichen Arbeit“ auf Gesetzessammlungen zu‐ rückgegriffen, die im Buchhandel oder im Internet (z. B. www.gesetze-im-internet.de) verfügbar sind. Hierbei müssen Sie jedoch beachten, dass diesen Gesetzessammlungen im Unterschied zu den amtlichen Quellen nicht die Vermutung der Richtigkeit des Textes innewohnt. Wenn dem Herausgeber einer Gesetzessammlung ein Fehler unter‐ läuft, den Sie nicht bemerken, geht das zu Ihren Lasten. Glücklicherweise kommen solche Fehler selten vor, aber ganz ausgeschlossen sind sie nicht. In einer im Buchhan‐ del verfügbaren Ausgabe der Sozialgesetzbücher hieß es in mehreren Auflagen in § 150 SGB V (alte Fassung), dass sich die Betriebskrankenkassen auf Beschluss ihrer Verwaltungssätze (statt Verwaltungsräte) zu einer gemeinsamen Betriebskrankenkasse vereinigen können. Die Richtlinien des GBA finden Sie „inoffiziell“ unter Link-Tipp [1] | www.g-ba.de sowie „offiziell“ im Bundesanzeiger, dem Verkün‐ dungsblatt der Bundesbehörden. Der Bundesanzeiger ist seit geraumer Zeit ebenfalls online - www.bundesanzeiger.de - verfügbar. Die bereits im Abschnitt 1.2 erwähnten Kollektivverträge finden Sie auf den Internet‐ seiten des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (Link-Tipp [2] | www.gkv-spit‐ zenverband.de), anderer Spitzenorganisationen oder der Krankenkassen. Soweit in den Abschnitten 2 und 3 Bezug auf die Kollektivverträge genommen wird, ist in der dazugehörigen Fußnote eine Veröffentlichungsquelle angegeben. 36 1 Einführung <?page no="37"?> 10 Gesetz über das Studium und den Beruf von Hebammen v. 22.11.2019, BGBl. I S. 1759, z. g. d. G v. 24.2.2021, BGBl. I S.-274. Die amtlichen Quellen für die Unterlagen bei Entstehung eines Bundesgesetzes - z. B. der Gesetzentwurf der Bundesregierung - sind die Bundestags- und Bundesratsd‐ rucksachen. Sie sind ebenfalls online verfügbar, und zwar im Dokumentations- und Informationssystem (DIP) auf den Internetseiten des Bundestages sowie unter der Rubrik Dokumente auf den Internetseiten des Bundesrates. Recht im Gesundheitswesen ist eine sehr komplexe und heterogene Materie. Das vorliegende Buch soll Ihnen helfen, sich in dieser Materie zurechtzufinden. Die Erläu‐ terungen in den Abschnitten 2 bis 4 sind mit Lernhinweisen, Aufgaben, Beispielen, Tabellen, Prüfungsschemas und Übersichten „aufgelockert“. Die Erfahrung zeigt, dass sich Gesetzesinhalte leichter erfassen lassen, wenn Grafiken zur Visualisierung und Beispiele zur Veranschaulichung verwendet werden. Mit den Aufgaben können Sie Ihren Lernfortschritt kontrollieren. Die Lösungen zu den Aufgaben finden Sie im ➤ -Web-Service (Link-Tipp [3] | http: / / s.narr.digital/ 2i7tz). Zur besseren Lesbarkeit des Textes wird nur die männliche Form der Personen- und Berufsbezeichnungen verwendet; gemeint sind gleichwohl alle Geschlechter. Abweichend davon wird die weibliche Berufsbezeichnung der Hebamme verwendet, weil diese gesetzlich für alle Berufsanghörigen gilt (vgl. § 3 Abs. 2 HebG 10 ). 1.3 Lern- und Studienhinweise 37 <?page no="39"?> 11 BGB i. d. F. d. Bek. v. 2.1.2002, BGBl. I S. 42, 2909; 2003 I S. 738, z. g. d. G v. 25.6.2021, BGBl. I S. 2114. 12 BÄO i. d. F. d. Bek. v. 16.4.1987, BGBl. I S.-1218, z. g. d. G v. 15.8.2019, BGBl. I S.-1307. 13 HeilprGDV 1, BGBl. III Gliedergs-Nr. 2122-2-1, z. g. d. G v. 23.12.2016, BGBl. I S.-3191. 14 ZHG i. d. F. d. Bek. v. 16.4.1987, BGBl. I S.-1225, z. g. d. G v. 19.5.2020, BGBl. I S.-1018. 15 PsychThG v. 15.11.2019, BGBl. I S.-1604, z. g. d. G v. 19.5.2020, BGBl. I S.-1018. 16 HeilprG, BGBl. III, Gliedergs-Nr. 2122-2 z. g. d. G v. 23.12.2016, BGBl. I S.-3191. 17 Bedarfsplanungs-Richtlinie v. 20.12.2012, BAnz AT 31.12.2012 B7, z. g. a. 15.7.2021, BAnz AT 29.09.2021 B2. 2 Rechtliche Rahmenbedingungen für die im Gesundheitswesen tätigen Anbieter von Dienstleistungen und Waren ➤ Lernziele Im Abschnitt 2 lernen Sie die rechtlichen Rahmenbedingungen für die verschiede‐ nen Leistungserbringer im Gesundheitswesen kennen. Diese Kenntnisse benötigen Sie für eine spätere Tätigkeit in der Verwaltung oder in den Wirtschafts-, Versor‐ gungs- und technischen Diensten eines solchen Unternehmens, damit Sie Ihr künftiges Handeln unter Beachtung der rechtlichen Anforderungen analysieren und steuern können. Gleiches gilt, wenn Sie sich selbständig machen wollen, z. B. als Inhaber eines Pflegedienstes. 2.1 Niedergelassene Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten und Heilpraktiker ➤ Lernhinweis Die nachfolgenden Erläuterungen werden Sie besser verstehen, wenn Sie die angegebenen Paragrafen der nachfolgenden Vorschriften parallel zum Lehrbuch lesen: Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) 11 , Bundesärzteordnung (BÄO) 12 , Erste Durchfüh‐ rungsverordnung zum Gesetz über die berufsmäßige Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung (HeilprGDV 1) 13 , Gesetz über die Ausübung der Zahnheilkunde (ZHG) 14 , Gesetz über den Beruf der Psychotherapeutin und des Psychotherapeu‐ ten (PsychThG) 15 , Heilpraktikergesetz (HeilprG) 16 , Richtlinie des GBA über die Bedarfsplanung sowie die Maßstäbe zur Feststellung von Überversorgung und Unterversorgung in der vertragsärztlichen Versorgung (Bedarfsplanungs-Richt‐ linie) 17 , Richtlinie des GBA über die Bedarfsplanung in der vertragszahnärztli‐ <?page no="40"?> 18 Bedarfsplanungs-Richtlinie Zahnärzte v. 14.8.2007, BAnz Nr. 185 v. 2.10.2007 S. 7673, z. g. a. 20.12.2018, BAnz AT 19.03.2019 B4. 19 Ärzte-ZV i. d. i. BGBl. III, Gliedergs-Nr. 8230-25 veröff. bereinigten F., z. g. d. G v. 11.7.2021, BGBl. I S.-2754. 20 Zahnärzte-ZV i. d. i. BGBl. Teil III, Gliedergs-Nr. 8230-26 veröff. bereinigten F. z. g. d. G v. 11.7.2021, BGBl. I S.-2754. 21 Vgl. Aichberger/ Kollos, Freie Berufe, Rechtswörterbuch. 22 Handelsgesetzbuch i. d. i. BGBl. III, Gliedergs-Nr. 4100-1 veröff. bereinigten F., z. g. d. G v. 22.12.2020, BGBl. I S.-3256. 23 Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung i. d. i. BGBl. III, Gliedergs-Nr. 4123-1 veröff. bereinigten F., z. g. d. G v. 4.5.2021, BGBl. I S.-882. chen Versorgung (Bedarfsplanungs-Richtlinie Zahnärzte) 18 , Sozialgesetzbuch 5. Buch (SGB V), Zulassungsverordnung für Vertragsärzte (Ärzte-ZV) 19 , Zulas‐ sungsverordnung für Vertragszahnärzte (Zahnärzte-ZV) 20 . 2.1.1 Heilkundliches Berufsrecht ➤ Lernhinweis Viele gesetzliche Regelungen sind für die Ärzte und Zahnärzte gleich, so dass im Kapitel 2.1.1 beide Berufsgruppen gemeinsam als „Ärzte“ bezeichnet werden. Soweit es Unterschiede zwischen den jeweiligen Berufsgruppen gibt, wird darauf hingewiesen. - 2.1.1.1 Allgemeines Ärztliche und andere Heilberufe, wie z. B. Psychotherapeuten, werden als freie Berufe ausgeübt. Freie Berufe sind dadurch gekennzeichnet, dass sie eine höhere Bildung (in der Regel eine akademische Bildung) erfordern und Dienstleistungen erbringen, bei denen der Betriebsinhaber persönlich mitwirkt. 21 Mit diesem Begriff erfolgt eine Abgrenzung zum Gewerbe. Freiberufler üben kein Gewerbe aus, so dass auf sie die Gewerbeordnung keine Anwendung findet (vgl. § 6 GewO). Etwas anderes gilt allerdings für das Betreiben einer Privatklinik. Dieses (nicht die ärztliche Tätigkeit selbst) gilt als Gewerbe, auf das die GewO Anwendung findet. Erläuterungen dazu finden Sie im Abschnitt 2.2.2. Ferner haben die freien Berufe keinen Gewerbebetrieb, so dass die Ärzte und Heilberufe kein (Ist-)Kaufmann im Sinne des § 1 HGB 22 sind. Wenn allerdings die Freiberufler eine GmbH gründen, so ist diese ein (Form-)Kaufmann gem. § 6 HGB i. V. m. § 13 GmbHG 23 , weil es in diesem Fall nicht auf den Zweck, sondern nur auf die Rechtsform der Gesellschaft ankommt. Der Begriffsbestandteil „frei“ ist jedoch nicht dahingehend zu verstehen, dass die Freiberufler keinen rechtlichen Vorgaben unterliegen. Gerade die Heilberufe unter‐ 40 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="41"?> 24 Vgl. BVerwG, Urt. v. 14.10.1958, I C 25/ 56, NJW 1959, 833 f. [834]. 25 Vgl. BVerwG, Urt. v. 20.1.1966, I C 73/ 64, NJW 1966, 1187 ff., BGH, Urt. v. 4.2.1972, I ZR 104/ 70, NJW 1972, 1132 f., BSG, Urt. v. 18.9.1973, 6 RKa 2/ 72, BSGE 36, 146 ff. 26 Das Psychotherapeutengesetz ist im Jahre 2020 geändert worden. Die Psychologische Psychothera‐ peuten sowie die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, die eine Approbation nach dem Psychotherapeutengesetz in der bis zum 31.8.2020 geltenden Fassung besitzen oder noch erwerben, können ihre jeweilige Berufsbezeichnung weiterhin führen und dürfen die Psychotherapie ausüben. Die Berechtigung der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten erstreckt sich auf die Behandlung von Patienten, die das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet haben. 27 Vgl. BayVGH, Urt. v. 15.2.2000, 21 B 96.1637, BeckRS 2000, 24054; VG Regensburg, Urt. v. 28.4.2016, RN 5 K 15.1137, MedR 2017, 64 ff. [65]. liegen zum Schutze der Patienten vielfach besonderen Anforderungen. So ist die Ausübung der Heilkunde in Deutschland erlaubnispflichtig. ❋ Wissen-│ Heilkunde Unter Heilkunde wird jede berufs- oder gewerbsmäßig vorgenommene Tätigkeit zur Feststellung, Heilung oder Linderung von Krankheiten, Leiden oder Körper‐ schäden bei Menschen verstanden, auch wenn sie im Dienste von anderen aus‐ geübt wird (§ 1 Abs. 2 HeilprG). Dieser recht weite Begriff ist angesichts der grundrechtlich geschützten Berufsfreiheit durch die Rechtsprechung dahingehend eingeschränkt worden, dass er nur die Tätigkeiten erfasst, die eine ärztliche Fachkenntnis voraussetzen und eine gesundheitliche Schädigung verursachen können. 24 Dadurch stellen handwerklich-technisch geprägte Tätigkeiten, wie z. B. die Sehschärfenbestimmung durch den Augenoptiker, keine erlaubnispflichtige Heilkunde dar. 25 - 2.1.1.2 Ärzte, Zahnärzte und Psychotherapeuten Die Heilkunde bezieht sich sowohl auf somatische als auch psychische Krankheiten. Die psychotherapeutische Behandlung hat die Besonderheit, dass sie sowohl von Ärz‐ ten (Fachärzten für Psychiatrie und Psychotherapie) als auch von Psychotherapeuten 26 erbracht werden kann. Für die Tätigkeit als Arzt oder Psychotherapeut wird eine Erlaubnis benötigt, die als Approbation bezeichnet wird (§-2 BÄO, §-1 ZHG, §-1 PsychThG). Die Erteilung der Approbation ist an folgende Voraussetzungen geknüpft: ● Der Antragsteller darf sich nicht eines Verhaltens schuldig gemacht haben, aus dem sich seine Unzuverlässigkeit oder Unwürdigkeit zur Ausübung des Berufs ergibt. Der Antragsteller ist unzuverlässig, wenn er nicht willens oder fähig ist, seine Tätigkeit unter Beachtung der rechtlichen Anforderungen ordnungsgemäß auszuüben. Insoweit ist anhand von Tatsachen aus der Zeit vor der Antragstellung eine Prognoseentscheidung zu treffen, ob der Arzt bzw. Psychotherapeut die berufsspezifischen Vorschriften einhalten wird. 27 Unwürdigkeit bedeutet, dass der 2.1 Niedergelassene Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten und Heilpraktiker 41 <?page no="42"?> 28 Vgl. BVerwG, Beschl. v. 14.4.1998, 3 B 95-97, NJW, 1999, 3425 ff. [3426]; BVerwG, Beschl. v. 2.11.1992, 3 B 87/ 92, NJW 1993, 806 [806]. 29 Approbationsordnung für Ärzte v. 27.6.2002, BGBl. I S. 2405, z. g. d. G v. 16.3.2020, BGBl. I S. 497; Approbationsordnung für Zahnärzte v. 26.1.1955, BGBl. III, Gliederungsnummer 2123-2 z. g. d. G v. 19.5.2020, BGBl. I S. 1018; Approbationsordnung für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten v. 4.3.2020, BGBl. I S.-448, z. g. d. VO v. 22.9.2021, BGBl. I S.-4335. 30 Beispielsweise ist in Niedersachsen der Niedersächsische Zweckverband zur Approbationserteilung zuständig, den die Zahnärzte, Ärzte- und Psychotherapeutenkammer gegründet haben; vgl. § 1 VO zur Übertragung von staatlichen Aufgaben auf die Kammern für Heilberufe v. 25.11.2004, Nds. GVBl. S. 516, z. g. d. VO v. 18.2.2021, Nds. GVBl. S. 66, i. V. m. § 9 Abs. 4 Kammergesetz für Heilberufe v. 8.12.2000, Nds. GVBl. S.-301, z. g. d. G. v. 23.3.2022, Nds. GVBl. S.-218. Antragsteller wegen eines schwerwiegenden Fehlverhaltens nicht das Ansehen und Vertrauen besitzt, das für die Ausübung seines Berufs unabdingbar nötig ist. In diesem Zusammenhang ist nicht nur das berufsspezifische Handeln relevant. Die Unwürdigkeit kann sich auch aus Verhaltensweisen (z. B. Straftaten) ergeben, die nicht im unmittelbaren Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit stehen. 28 ● Ebenso wenig darf der Antragsteller nicht in gesundheitlicher Hinsicht (z. B. wegen einer Alkohol- oder Drogensucht) zur Ausübung des Berufs ungeeignet sein. ● Ferner muss er über die für die Ausübung der Berufstätigkeit erforderlichen Kenntnisse der deutschen Sprache verfügen. ● Die Approbation setzt voraus, dass der Antragsteller das gesetzlich vorgesehene Studium in Deutschland sowie die ärztliche oder staatliche Prüfung erfolgreich absolviert hat. Die Mindestanforderungen an das Studium regeln die jeweiligen Approbationsordnungen. 29 ● Anerkannte (zahn-)ärztliche Abschlüsse aus einem EU-/ EWR-Mitgliedstaat sind in der Anlage des ZHG sowie in der Anlage der BÄO aufgelistet. Andere Abschlüsse werden bei Gleichwertigkeit anerkannt. Hinsichtlich die Approbation nach dem PsychThG muss der Antragsteller eine Ausbildung abgeschlossen haben, die in dem jeweiligen EU-/ EWR-Mitgliedstaat für den unmittelbaren Zugang zu einem Beruf erforderlich ist, der dem deutschen Psychotherapeuten entspricht. ● (Zahn)ärztliche oder psychotherapeutische Ausbildungen aus Drittstaaten werden anerkannt, wenn ihre Gleichwertigkeit zur vorgesehenen deutschen Ausbildung nachgewiesen ist. Die Einzelheiten der vorgenannten Voraussetzungen regeln § 3 BÄO, § 2 ZHG, § 2 PsychThG. Wenn der Antragsteller alle Voraussetzungen erfüllt, hat er einen Rechts‐ anspruch auf die Erteilung der Approbation. Die Entscheidung trifft die zuständige Behörde des Bundeslandes, in dem der Antragsteller seine berufsbezogene Prüfung abgelegt hat (§ 12 BÄO, § 16 ZHG, § 22 PsychThG). 30 Durch die erteilte Approbation erlangt der Arzt bzw. Psychotherapeut Zugang zur Berufsausübung. Ferner darf er die jeweilige Berufszeichnung führen. Währenddessen der Zugang zum ärztlichen und zu anderen Heilberufen gem. Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz zwischen Bund und Ländern gehört und der Bund mit den vorgenannten Vorschriften von seiner 42 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="43"?> 31 Vgl. beispielsweise Niedersächsisches Kammergesetz für Heilberufe v. 8.12.2000, GVBl. 2000 S. 301, z.-g.-d.-G. v. 23.3.2022, Nds. GVBl. S.-218. 32 Vgl. z. B. Berufsordnung der Ärztekammer Niedersachsen i. d. F. d. Neubekanntmachung v. 1.6.2018, https: / / www.aekn.de/ aerzte/ medizin-und-recht (Abruf am 8.4.2022). 33 (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte i. d. F. d. Beschlüsse des 124. Deutschen Ärztetages v. 5.5.2021, https: / / www.bundesaerztekammer.de/ recht/ berufsrecht/ mus ter-berufsordnung-aerzte/ muster-berufsordnung/ (Abruf am 8.4.2022). 34 Musterberufsordnung der Zahnärztekammer v. 16.11.2019, https: / / www.bzaek.de/ recht/ berufsrecht .html (Abruf am 8.4.2022). 35 Musterberufsordnung der Psychologischen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten i. d. F. d. Beschlüsse 33. Deutschen Psychotherapeutentages am 17.11.2018, https: / / www.bptk.de/ wp -content/ uploads/ 2019/ 01/ Muster-Berufsordnung_der_BPtK.pdf (Abruf am 8.4.2022). Kompetenz Gebrauch gemacht hat, gehören das Standes- und Weiterbildungsrecht der Heilberufe zum Landesrecht. Dementsprechend gibt es dafür kein Bundesgesetz, sondern in jedem Bundesland eigene Vorschriften. Ärzte, Zahnärzte sowie Psychotherapeuten sind in Kammern organisiert, die in entsprechenden Landesgesetzen geregelt sind. 31 Die Ärzte-, Zahnärzte-, Psychothera‐ peutenkammern sind öffentlich-rechtliche Körperschaften. Ihnen gehören die appro‐ bierten Angehörigen des jeweiligen Heilberufs als Pflichtmitglied an, die im Kammer‐ bezirk als Selbständige, Beamte oder Angestellte den Beruf ausüben. Die Kammern sind zum einen die Interessenvertretung ihrer Mitglieder, zum anderen aber auch die berufsrechtliche Aufsichtsbehörde gegenüber ihren Mitgliedern. Ihnen ist kraft (Landes-)Gesetzes eine Satzungsbefugnis eingeräumt, aufgrund derer sie für ihre Mitglieder verbindliches Recht (in Form von Satzungen) setzen können. So regeln die Kammern das berufsrechtliche Verhalten ihrer Mitglieder durch Berufsordnungen 32 , die sich üblicherweise an den Musterberufsordnungen der Bundesärztekammer 33 , der Bundeszahnärztekammer 34 und Bundespsychotherapeutenkammer 35 orientieren. In den Berufsordnungen der Kammern werden insbesondere folgende Pflichten der Ärzte und Psychotherapeuten statuiert: ● persönliche Ausübung des Berufs unter Berücksichtigung des fachliche Standards, ● Beachtung der für die Berufsausübung geltenden Vorschriften, ● berufliche Fortbildung, ● qualitätsgerechte Berufsausübung und Teilnahme an den Maßnahmen der Quali‐ tätssicherung, die die Kammer einführt, ● Meldung von unerwünschten (Neben-)Wirkungen von Arzneimitteln und Medi‐ zinprodukten, ● Verschwiegenheit über Behandlungsverhältnisse und über das, was ihnen im Zu‐ sammenhang mit der Behandlung des Patienten anvertraut und bekannt geworden ist, ● Teilnahme am Notfall- und Bereitschaftsdienst, ● Abschluss einer ausreichenden Haftpflichtversicherung für ihre berufliche Tätig‐ keit. 2.1 Niedergelassene Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten und Heilpraktiker 43 <?page no="44"?> Ferner regeln die Berufsordnungen verschiedene Ge- und Verbote. Beispielsweise ist es nicht gestattet, für das Zuweisen von Patienten Vergünstigungen zu verlangen oder zu gewähren. Ebenso wenig ist es erlaubt, sich derartige Vergünstigung versprechen oder gewähren zu lassen. Die Werbung für die berufliche Tätigkeit ist ebenfalls regle‐ mentiert. Sie muss sachlich und berufsbezogen sein. Eine anpreisende, irreführende, vergleichende oder auf andere Weise berufswidrige Werbung ist verboten. Für Ärzte sowie Psychotherapeuten bestehen nach der erteilten Approbation Weiter‐ bildungsmöglichkeiten. Die Einzelheiten regeln ebenfalls die Satzungen der Kammern auf Landesebene, wobei sie sich an den Musterweiterbildungsordnungen der Kammern auf Bundesebene orientieren. Für Ärzte und Psychotherapeuten ist die Weiterbildung zum Erwerb eines Abschlusses als Facharzt oder Fachpsychotherapeut letztlich unum‐ gänglich, weil sie nur mit einer abgeschlossenen Ausbildung an der vertragsärztlichen Versorgung der gesetzlichen Krankenversicherung teilnehmen können. Im Allgemei‐ nen werden folgende Facharztrichtungen unterschieden: Facharzt für … • Allgemeinmedizin • Mikrobiologie, Virologie und Infektions‐ epidemiologie • Anästhesiologie • Mund-Kiefer-Chirurgie • Anatomie • Neurochirurgie • Arbeitsmedizin • Nuklearmedizin • Augenheilkunde • Öffentliches Gesundheitswesen • Biochemie • Pathologie • Chirurgie • Pharmakologie • Frauenheilkunde und Geburtshilfe • Physikalische und Rehabilitative Medizin • Haut- und Geschlechtskrankheiten • Physiologie • Humangenetik • Psychiatrie und Psychotherapie • Hygiene und Umweltmedizin • Psychosomatische Medizin und Psycho‐ therapie • Innere Medizin • Radiologie • Kinder- und Jugendmedizin • Rechtsmedizin • Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psy‐ chotherapie • Strahlentherapie • Laboratoriummedizin • Urologie Abbildung 7: Facharztrichtungen 44 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="45"?> 36 Vgl. § 4 Musterweiterbildungsordnung Psychotherapeut*innen i. d. F. d. Beschlüsse des 38. und 39. Deutschen Psychotherapeutentages, https: / / www.bptk.de/ recht/ satzungen-ordnungen/ (Abruf am 10.4.2022). Nach der Musterweiterbildungsordnung der Psychotherapeuten 36 sind Weiterbildun‐ gen für die Gebiete „Psychotherapie für Kinder und Jugendliche“, „Psychotherapie für Erwachsene“ und „Neuropsychologische Psychotherapie“ vorgesehen. Anders verhält es sich bei den Zahnärzten. Diese können nach erfolgter Weiter‐ bildung den Abschluss als Fachzahnarzt für Oralchirurgie und Fachzahnarzt für Kieferorthopädie erwerben. Diese Weiterbildungen sind jedoch keine Voraussetzung für die Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung, vgl. Abschnitt 2.1.2.3. Verstöße gegen die berufsrechtlichen Bestimmungen können geahndet werden. Die Kammer- und Heilberufegesetze der Bundesländer sehen zum einen berufsgerichtliche Maßnahmen vor, wie z. B.: ● Verweis, ● Geldbuße, ● Aberkennen des passiven und aktiven Wahlrechts für die Kammerorgane, ● Feststellung der Unwürdigkeit, den Heilberuf auszuüben. Für die Verhängung der vorgenannten Maßnahmen ist ein spezifisches gerichtliches Verfahren vor einem Berufsgericht vorgesehen. Zum anderen ist im Allgemeinen eine Rüge durch die Kammer geregelt, wenn die Schuld gering ist und der Antrag auf Einleitung eines berufsgerichtlichen Verfahrens nicht erforderlich erscheint. Die Aufhebung der Approbation ist als berufsgerichtliche Maßnahme nicht vorgese‐ hen. Gleichwohl kann der Verstoß gegen die berufsrechtlichen Bestimmungen ebenso wie anderes Fehlverhalten zu einer Aufhebung der Approbation führen. ✎ Aufgabe Die in eigener Praxis niedergelassene Fachärztin für Allgemeinmedizin A erschlich sich Versicherungsleistungen aus einer privaten Krankentagegeldversicherung. Sie hatte über drei Jahre hinweg eine Arbeitsunfähigkeit für 22 Zeiträume angezeigt, obwohl sie in ihrer Praxis oder als Schiffsärztin tätig war. Das Versicherungsun‐ ternehmen zahlte für diese gemeldeten Zeiträume Krankengelder in Höhe von insgesamt 70.000,- Euro. Nach Bekanntwerden der Straftaten wurde die Fachärztin A rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten verur‐ teilt. Die Freiheitsstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Erörtern Sie, ob ein Grund für den Widerruf der Approbation der Fachärztin A vorliegt. ➤ Lösungen im Web-Service. Die Aufhebung knüpft daran an, dass eine Voraussetzung für die Approbation noch nie vorgelegen hat (dann Rücknahme) oder nicht mehr vorliegt (dann Widerruf). Je nach Bedeutung der fehlenden Voraussetzung besteht entweder eine Pflicht oder 2.1 Niedergelassene Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten und Heilpraktiker 45 <?page no="46"?> ein Ermessen der Behörde, die Approbation aufzuheben (vgl. § 5 BÄO, § 4 ZHK, § 5 PsychThG). Über die Aufhebung der Approbation entscheidet die nach dem Landesrecht zuständige Behörde des Bundeslandes, in dem der ärztliche Beruf ausgeübt wird oder zuletzt ausgeübt worden ist (§§ 12 BÄO, § 16 ZHG, § 22 PsychThG). Rücknahme einer Approbation Widerruf einer Approbation zwingend im Ermessen zwingend im Ermessen Arzt, Zahnarzt, Psy‐ chologe hat das in Deutschland vorgese‐ hene Studium nicht absolviert oder die ärztliche, zahnärztli‐ che oder staatliche Prüfung nicht bestan‐ den Unzuverlässigkeit, Unwürdigkeit oder fehlende gesundheit‐ liche Eignung war be‐ reits bei Erteilung der Approbation gegeben Unzuverlässigkeit oder Unwürdigkeit nach Erteilung der Approbation ein‐ getreten fehlende gesundheit‐ liche Eignung nach Erteilung der ärztli‐ chen oder zahnärzt‐ lichenApprobation eingetreten (bei den Psychotherapeuten zwingender Wider‐ rufsgrund) Arzt, Zahnarzt hat die aus EU-/ EWR-Mitglied‐ staat anerkannte Ausbildung nicht ab‐ geschlossen irrtümliche Feststel‐ lung der Gleichwer‐ tigkeit des zahnärztli‐ chen oder ärztlichen Abschlusses aus dem EU-/ EWR-Mit‐ gliedstaat oder Dritt‐ staat - - Psychologe hat die aus EU-/ EWR-Mit‐ gliedstaat anerkannte Ausbildung nicht ab‐ geschlossen oder de‐ ren Gleichwertigkeit war nicht gegeben - - - Tabelle 2: Rücknahme und Widerruf einer Approbation Im Übrigen endet die Approbation durch Verzicht des Inhabers (§ 9 BÄO, § 7 ZHK, § 6 PsychThG). Der Verzicht und die Aufhebung der Approbation haben zur Folge, dass der Arzt, Zahnarzt bzw. Psychologe seine (angestellte oder selbständige) Tätigkeit beenden muss. - 2.1.1.3 Heilpraktiker Heilpraktiker setzen in der Patientenversorgung im Allgemeinen diagonistische und therapeutische Methoden ein, die zu Therapierichtungen außerhalb der Schulmedizin gehören, wie beispielsweise Naturheilkunde, Homöopathie, Anthroposophie, Traditio‐ nelle chinesische Medizin. Sie benötigen ebenfalls eine Erlaubnis zur Berufsausübung (vgl. § 1 HeilprG). Für diese Erlaubnis ist kein spezifisches Studium vorgesehen. Dennoch muss der Anwärter in einer Prüfung beim Gesundheitsamt ausreichende 46 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="47"?> 37 Bekanntmachung von Leitlinien zur Überprüfung von Heilpraktikeranwärterinnen und -anwärtern nach § 2 des Heilpraktikergesetzes i. V. m. § 2 Absatz 1 Buchstabe i der Ersten Durchführungsver‐ ordnung zum Heilpraktikergesetz v. 7.12.2017, BAnz AT 22.12.2017 B5. 38 Das sind beispielsweise in Niedersachsen die Landkreise, kreisfreie Städte und die Region Hannover gem. § 2 VO über die Zuständigkeiten auf den Gebieten des Gesundheits- und Sozialrechts v. 1.12.2004, Nds. GVBl. S.-526, z. g. d. VO v. 15.2.2022, Nds. GVBl. S.-86. 39 BVerwG, Urt. v. 25.2.2021, 3 C 17/ 19, NJW 2021, 2754 [2755]. 40 Vgl. BVerwG, Urt. v. 21.1.1993, 3 C 34/ 90, NJW 1993, 2395 ff. Kenntnisse und Fähigkeiten für die Ausübung der Heilkunde nachweisen. Die Einzel‐ heiten der Prüfung sind in den Heilpraktikerprüfungsleitlinien 37 verankert. Ferner muss er weitere Voraussetzungen erfüllen, die im Einzelnen in § 2 HeilprGDV 1 geregelt sind. Über die Erlaubnis entscheidet die untere Verwaltungsbehörde 38 , in deren Bezirk der Beruf ausgeübt werden soll, im Benehmen mit dem dortigen Gesundheitsamt (§ 3 Abs. 1 HeilprGDV 1). Der Inhaber der Erlaubnis darf die Berufsbezeichnung Heilpraktiker führen (§ 1 Abs. 3 HeilprG) und ist grundsätzlich berechtigt, ohne fachliche Einschränkung, die Heilkunde auszuüben, vgl. zum Heilkundebegriff Abschnitt 2.1.1.1. Nach der Rechtsprechung des BVerwG gibt es ebenfalls auf bestimmte Gebiete beschränkte Heilpraktikererlaubnisse, sog. sektorale Heilpraktikererlaubnisse. Voraussetzung da‐ für ist, dass die beabsichtigte heilkundliche Tätigkeit in einem ausdifferenzierten Fachgebiet ausgeübt werden soll, das die Abgrenzbarkeit des betroffenen Heilkunde‐ bereichs zulässt. Es muss sich bestimmen lassen, welche Behandlungsmaßnahmen zur angestrebten Tätigkeit gehören und welche nicht. Letztlich stellt das BVerwG bei der sektoralen Heilpraktikererlaubnis darauf ab, ob sich ein eigenständiges und abgrenz‐ bares Berufsbild herausgebildet hat. 39 Für das Fachgebiet der Psychotherapie hat das BverwG beispielsweise eine sektorale Heilpraktikererlaubnis für zulässig angesehen. 40 Eine solche Erlaubnis kommt zum Tragen, wenn ein Heilpraktikeranwärter zwar eine ausreichende Vorbildung für die psychotherapeutische Behandlung der Patienten hat (z. B. als Diplom-Pädagoge), dagegen nicht über allgemeine heilkundliche Kennt‐ nisse (inkl. Kenntnisse der Anatomie, Physiologie, Pathologie und Arzneimittelkunde) verfügt. Da heilkundliche Kenntnisse für die psychotherapeutische Tätigkeit nicht zwingend notwendig sind, würde es nach Ansicht des BVerwG eine unverhältnismä‐ ßige Einschränkung der grundrechtlich geschützten Berufsfreiheit sein, wenn dem Anwärter der Zugang zum Beruf des Heilpraktikers gänzlich verwehrt werden würde. Allerdings darf sich der Inhaber einer eingeschränkten Heilpraktikererlaubnis nicht als Psychotherapeut bezeichnen, weil diese Bezeichnung denjenigen vorbehalten ist, die eine Approbation nach dem PsychThG haben (vgl. § 1 Abs. 1 PsychThG). In der Regel wird für die Berufsausübung der Ausdruck Heilpraktiker beschränkt auf das Gebiet der Psychotherapie verwendet. Bestimmte Tätigkeiten unterliegen dem Arztvorbehalt und sind somit allen Heilprak‐ tikern gesetzlich verboten, wie beispielsweise: 2.1 Niedergelassene Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten und Heilpraktiker 47 <?page no="48"?> 41 Strafgesetzbuch i. d. F. d. Bek. v. 13.11.1998, BGBl. I S.-3322, z. g. d. G v. 22.11.202, BGBl. 1 S.-4906. 42 Strahlenschutzgesetz v. 27.6.2017, BGBl. I S.-1966, z. g. d. Bek. v. 3.1.2022, BGBl. I S.-15. 43 Vgl. https: / / www.heilpraktiker.org/ die-berufsordnung-fuer-heilpraktiker (Abruf am 8.4.2022). ● Zahnheilkunde (§ 6 HeilprG), ● Geburtshilfe (§ 4 Abs. 1 HebG, Vorbehalt für Ärzte und Hebammen), ● Schwangerschaftsabbruch (§§ 218, 218a StGB 41 ), ● Anwendung von Röntgenstrahlung am Menschen und Anwendung von radioak‐ tive Stoffe oder ionisierende Strahlung am Menschen (§-83 Abs. 3 StrlSchG 42 ), ● Verordnung von verschreibungspflichtigen Arzneimitteln (§ 48 Abs. 1 AMG). Für die Berufsausübung haben die großen Berufsverbände eine Berufsordnung 43 ver‐ einbart. Diese ist jedoch nicht für alle in Deutschland tätigen Heilpraktiker verbindlich, sondern als Vereinssatzung nur für die Mitglieder der Berufsverbände. Wenn nachträglich Tatsachen eintreten oder bekannt werden, die eine Versagung der Heilpraktikererlaubnis rechtfertigen würden, so kann die Erlaubnis aufgehoben werden (§ 7 HeilprGDV). 2.1.2 Vertrags(zahn-)ärztliche Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung ➤ Lernhinweis Die Regelungen, die für die vertragsärztliche (inkl. psychotherapeutische) und vertragszahnärztliche Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung gelten, sind weitestgehend gleich, so dass für beide Bereiche nachfolgend einheitliche Be‐ griffe wie „Vertragsärzte“ und „vertragsärztlicher Versorgung“ verwendet werden. Auf abweichende Rahmenbedingungen für Vertragszahnärzte wird hingewiesen. Gleiches gilt für die Organisationen der beiden Bereiche. Die Bezeichnung Kas‐ senärztliche Vereinigung erfasst auch die Kassenzahnärztliche Vereinigung, die Kassenärztliche Bundesvereinigung ebenso die Kassenzahnärztliche Bundesverei‐ nigung. Der Terminus des Landesausschusses der Ärzte und Krankenkassen gilt auch für den Landesausschuss der Zahnärzte und Krankenkassen. Die Psychotherapeuten sind in die vertragsärztliche Versorgung einbezogen, so dass die nachfolgenden Ausführungen zu den Vertragsärzten ebenfalls für sie als Vertragspsychotherapeuten gelten; auf Unterschiede wird hingewiesen. - 2.1.2.1 Die ärztliche und zahnärztliche Versorgung als Versichertenanspruch Das ambulante ärztliche Leistungsspektrum, das die gesetzlich Versicherten beanspru‐ chen können, ist sehr vielschichtig: 48 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="49"?> ● Zu den Leistungen zur Verhütung von Krankheiten gehören z. B. die Zahnprophy‐ laxe gem. §§ 21, 22 SGB V und die ambulanten Vorsorgeleistungen gem. § 23 SGB V. ● Zur Früherkennung von Krankheiten sind Gesundheitsuntersuchungen sowohl für Kinder und Jugendliche (§ 26 SGB V) als auch für Erwachsende (§§ 25, 25a SGB V) vorgesehen. ● Die ärztliche Betreuung gehört ebenfalls zu den Leistungen bei Schwangerschaft (§§-24c ff. SGB V). ● Eine besonders große Bedeutung hat die ärztliche und zahnärztliche Tätigkeit zur Behandlung von Krankheiten (§§ 27a-29 SGB V). Der ausreichende und zweckmäßige Leistungsumfang ergibt sich aus der vorliegenden Erkrankung und dem jeweils aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft. ● Die ärztliche Behandlung schließt die psychotherapeutische Behandlung durch einen Psychotherapeuten ein (§ 28 Abs. 3 SGB V). Die psychotherapeutische Behandlung basiert ebenfalls auf wissenschaftlich geprüften und anerkannten Verfahren oder Methoden und dient der Feststellung, Heilung oder Linderung von Störungen mit Krankheitswert, bei denen Psychotherapie indiziert ist; Tätigkeiten, die nur die Aufarbeitung oder Überwindung sozialer Konflikte oder sonstige Zwecke außerhalb der Heilkunde zum Gegenstand haben, gehören nicht zur Ausübung der Psychotherapie (§ 1 Abs. 2 PsychThG). Dagegen gehört die Behandlung durch den Heilpraktiker nicht zum Leistungs‐ spektrum der gesetzlichen Krankenversicherung. Zur zahnärztlichen Behandlung gehört gem. § 28 Abs. 2, § 29 SGB V ebenfalls die kieferorthopädische Behandlung von Kiefer- und Zahnfehlstellungen. In der Regel haben nur Kinder und Jugendliche Anspruch auf eine kieferorthopädische Versorgung. Ab Vollendung des 18. Lebensjahres setzt die Versorgung zulasten der Krankenkasse schweren Kieferanomalien voraus, die kombinierte kieferchi‐ rurgische und kieferorthopädische Behandlungsmaßnahmen erforderlich machen. Ferner umfasst die zahnärztliche Behandlung die konservierend-chirurgischen Leistungen und Röntgenleistungen, die im Zusammenhang mit Zahnersatz ein‐ schließlich Zahnkronen und Suprakonstruktionen erbracht werden. Die übrige zahnärztliche Tätigkeit zur Versorgung mit einem Zahnersatz wird von dem Festzuschuss der Krankenkasse des Patienten gem. §§ 55, 56 SGB V erfasst. Die vertragsärztliche Versorgung der gesetzlich Versicherten und deren Übereinstim‐ mung mit den gesetzlichen und vertraglichen Bestimmungen haben die Kassenärztli‐ chen Vereinigungen und die Kassenärztlichen Bundesvereinigungen gegenüber den Krankenkassen und ihren Verbänden sicherzustellen (§ 75 Abs. 1 SGB V). Diesem sog. Sicherstellungsauftrag kommen die Kassenärztlichen Vereinigungen durch ihre in § 77 Abs. 3 SGB V genannten Mitglieder nach. Zu den Mitgliedern gehören nicht nur die zugelassenen Vertragsärzte, sondern auch die zugelassenen Psychotherapeuten. 2.1 Niedergelassene Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten und Heilpraktiker 49 <?page no="50"?> 44 Vgl. Frakt-E eines Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-WSG), BTag-Drucks. 16/ 3100, S.-135. 2.1.2.2 Bedarfsplanung Zur Sicherstellung der Versorgung hat die Kassenärztliche Vereinigung im Einverneh‐ men mit den Landesverbänden der Krankenkassen und den Ersatzkassen für ihren Bezirk einen Bedarfsplan aufzustellen und jeweils der Entwicklung anzupassen (§ 99 Abs. 1 S. 1 SGB V). Die Grundlage für den Bedarfsplan bildet die Bedarfsplanungs-Richt‐ linie für die Ärzte, inkl. Psychotherapeuten, bzw. die Bedarfsplanungs-Richtlinie Zahnärzte des GBA, die verschiedene Vorgaben für die Planung enthalten. Zwischen der Bedarfsplanung im vertragsärztlichen und vertragszahnärztlichen Bereich besteht ein wesentlicher Unterschied. Im Fall einer Überversorgung ist die Anordnung einer Beschränkung der Zulassung weiterer Zahnärzte nicht vorgesehen, weil Leistungsaus‐ weitungen und eine angebotsinduzierter Versorgung in der zahnärztlichen Versorgung eher nicht zu befürchten sind. 44 Die Bedarfsplanungs-Richtlinie legt vier Versorgungsebenen mit den dazugehörigen Arztgruppen fest. Dabei bilden die überwiegend oder ausschließlich psychotherapeu‐ tisch tätigen Ärzte und Psychotherapeuten eine Arztgruppe. Ferner bestimmt sie für jede Versorgungsebene den Zuschnitt der Planungsbereiche als räumliche Grundlage. Abb. 8: Versorgungsebenen, Arztgruppen und Planungsbereiche Versorgungsebenen hausärztliche Versorgung allgemeine fachärztliche Versorgung spezialisierte fachärztliche Versorgung gesonderte fachärztliche Versorgung z. B. Augen-, Frauen-, Kinderärzte, Orthopäden z. B. Radiologen, fachärztliche Internisten z. B. Laborärzte, Humangenetiker, Strahlentherapeuten Allgemeinmediziner, hausärztliche Internisten 883 Mittelbereiche Landkreise/ kreisfreie Städte (5 Typen) 96 Raumordnungsregionen KV-Bezirk Abbildung 8: Versorgungsebenen, Arztgruppen und Planungsbereiche 50 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="51"?> Ferner regelt die Richtlinie für jede Arztgruppe Allgemeine Verhältniszahlen, die das bedarfsgerechte Verhältnis zwischen Einwohnerzahl und Anzahl der Ärzte ausdrückt. Von den Allgemeinen Verhältniszahlen dürfen die Kassenärztlichen Vereinigungen aus demografischen Gründen abweichen. ➤ Beispiel │ allgemeine Verhältniszahlen in der vertragsärztlichen Ver‐ sorgung 1 Hausarzt auf 1.607 Einwohner 1 Augenarzt auf 12.426 Einwohner im Kreistyp 1 1 Augenarzt auf 19.164 Einwohner im Kreistyp 5 1 fachärztlicher Internist auf 14.433 Einwohner 1 Laborarzt auf 92.038 Einwohner Die Bedarfsplanungs-Richtlinie Zahnärzte bestimmt die Landkreise, kreisfreien Städte und Kreisregionen als regionalen Planungsbereich für die zahnärztliche und kieferor‐ thopädische Versorgung. Ferner enthält sie folgende allgemeine Verhältniszahlen: ● 1 Zahnarzt auf 1.280 Einwohner in den Städten, die in Anlage 6 der Bedarfspla‐ nungs-Richtlinie Zahnärzte genannt sind, ● 1 Zahnarzt auf 1.680 Einwohner in den anderen Planungsbereichen, ● 1 Kieferorthopäde auf 4.000 Einwohner, wobei hier nur auf die Bevölkerungs‐ gruppe der 0bis 18-Jährigen abgestellt wird. Im Bedarfsplan der Kassenärztlichen Vereinigung werden für jede Arztgruppe und jeden Planungsbereich der Bedarf (SOLL-Versorgung) sowie die vorhandenen Ärzte (IST-Versorgung) festgehalten. Dabei kann von den Allgemeinen Verhältniszahlen wegen regionaler Besonderheiten gem. § 2 Bedarfsplanungs-Richtlinie bzw. § 5 Abs. 1 Bedarfsplanungs-Richtlinie Zahnärzte abgewichen werden. Ferner ist in der vertrags‐ ärztlichen Versorgung vorgesehen, dass die Verhältniszahlen in den Planungsbereichen mit einem überdurchschnittlich hohen Anteil an Versicherten, die 65 Jahre und älter sind, durch einen Demografiefaktor gem. § 9 Bedarfsplanungs-Richtlinie angepasst werden. Je nach Versorgungsgrad ergibt die Bedarfsplanung schließlich eine Unter-, Nor‐ mal- oder Überversorgung. Eine Unterversorgung der Versicherten liegt vor, wenn in bestimmten Planungsbereichen Vertragsarztsitze, die im Bedarfsplan für eine be‐ darfsgerechte Versorgung vorgesehen sind, nicht nur vorübergehend nicht besetzt werden können und dadurch eine unzumutbare Erschwernis in der Inanspruchnahme vertragsärztlicher Leistungen eintritt (§ 28 Bedarfsplanungs-Richtlinie bzw. § 6 Abs. 1 Bedarfsplanungs-Richtlinie Zahnärzte). Dieser Fall liegt vor, wenn ● der Stand der hausärztlichen Versorgung den ausgewiesenen Bedarf um mehr als 25-% und ● der Stand der allgemeinen fachärztlichen, spezialisierten fachärztlichen oder ge‐ sonderten fachärztlichen Versorgung den ausgewiesenen Bedarf um mehr als 50 % 2.1 Niedergelassene Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten und Heilpraktiker 51 <?page no="52"?> unterschreitet (§-29 Bedarfsplanungs-Richtlinie). Im zahnärztlichen Bereich wird eine Unterversorgung vermutet, wenn der Bedarf den Stand der zahnärztlichen Versorgung um mehr als 100-% überschreitet (§-6 Bedarfsplanungs-Richtlinie Zahnärzte). Wenn Anhaltspunkte für eine drohende oder vorhandene Unterversorgung in einem Planungsbereich vorliegen, so müssen die Kassenärztliche Vereinigung, die Landesver‐ bände der Krankenkassen und die Ersatzkassen eine gemeinsame Prüfung des Standes der ärztlichen Versorgung vornehmen und den Landesausschuss der Ärzte und Kran‐ kenkassen über die Ergebnisse informieren (§ 30 Bedarfsplanungs-Richtlinie bzw. § 6 Abs. 2 Bedarfsplanungs-Richtlinie Zahnärzte). Wenn die Prüfung eine drohende oder vorhandene Unterversorgung ergibt, so ist diese vom Landesausschuss festzustellen. Damit verbunden ist eine Fristsetzung gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung zur Schließung der Versorgungslücke (§ 100 SGB V). Zu den zu ergreifenden Maß‐ nahmen der Kassenärztlichen Vereinigung gehören beispielsweise die Zahlung von Sicherstellungszuschlägen an die Vertragsärzte in den unterversorgten Gebieten oder das Betreiben von eigenen Einrichtungen (§ 105 SGB V). Wenn die Unterversorgung trotz solcher Maßnahmen fortbesteht, ist der Landesausschuss gem. § 100 Abs. 2 SGB V verpflichtet, in anderen Gebieten Zulassungsbeschränkungen anzuordnen. Diese Anordnung zielt darauf ab, die Zulassungswünsche der Bewerber einer Arztgruppe örtlich „umzuleiten“. In der vertragszahnärztlichen Versorgung sind Zulassungsbe‐ schränkungen wie eingangs erwähnt nicht vorgesehen, so dass eine solche Anordnung ausscheidet. Dadurch erübrigt sich zudem eine vorherige Fristsetzung zur Beseitigung oder Abwendung der Unterversorgung durch die Kassenzahnärztliche Vereinigung (§ 100 Abs. 4 SGB V). Gleichwohl kann die Kassenzahnärztliche Vereinigung die Fördermaßnahmen nach § 105 SGB V ergreifen, um die Versorgungslücke zu schließen. Wenn der allgemeine bedarfsgerechte Versorgungsgrad bzgl. einer Arztgruppe eines Planungsbereichs um 10 % überschritten ist (die IST-Versorgung übersteigt also die SOLL-Versorgung um 10-%), liegt eine Überversorgung vor (§-101 Abs. 1 S.-3 SGB V). Planungsbereich XYZ, Arztgruppe Hausärzte, Stand: 31.03.2022 Einwohner im Planungsbereich Verhältniszahl im Planungsbereich (lt. Bedarfsplanungs-Richtlinie) Verhältniszahl angepasst 50.250 1.607- 1.636 Zahl der Vertragsärzte Zahl der angestellten Ärzte Zahl der ermächtigten Ärzte Gesamtzahl Ärzte 30,00 4,75 0,00 34,75 Versorgungsgrad Planungsbereich gesperrt 113,1 % ja Tabelle 3: Beispiel einer Überversorgung 52 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="53"?> Bei Überversorgung ist der Landesausschuss der Ärzte und Krankenkassen verpflich‐ tet, eine Zulassungsbeschränkung anzuordnen (§ 103 Abs. 1-3 SGB V). Diese hat zur Folge, dass kein weiterer Vertragsarzt der betroffenen Arztgruppe an der Versorgung der Versicherten in dem betroffenen Planungsbereich teilnehmen kann, solange die Beschränkung besteht (§ 19 Abs. 1 S. 2 Ärzte-ZV). Ein solcher Planungsbereich wird auch als „gesperrter Bezirk“ bezeichnet. Hierbei ist wiederum zu beachten, dass zwar im vertragszahnärztlichen Bereich ebenfalls eine Überversorgung vorliegen kann. Gleichwohl sind die Feststellung der Überversorgung und Anordnung einer Zulassungsbeschränkung durch den Landes‐ ausschuss nicht vorgesehen (§-103 Abs. 8 SGB V). - 2.1.2.3 Zulassung und Ermächtigung als Zugangsvoraussetzung Wenn ein (Zahn-)Arzt oder Psychotherapeut gesetzlich versicherte Patienten behan‐ deln möchte, benötigt er eine entsprechende Zulassung zur vertragsärztlichen Versor‐ gung (§-95 Abs. 1 SGB V). ✎ Aufgabe Der in W wohnhafte 30-jährige Friedrich Fleißig ist Kinderarzt und im Arztregister eingetragen. Nunmehr beantragt er (unter Beifügung aller gem. § 18 Ärzte-ZV notwendigen Unterlagen) im Planungsbereich W eine Zulassung als Vertragsarzt. In W sind 10 Kinderärzte zugelassen. Für W gilt eine Sollzahl von 14 Ärzten, so dass eine Zulassungsbeschränkung nicht ausgesprochen ist. Aus dem Führungszeugnis des Friedrich Fleißig ergibt sich, dass er Anfang des Jahres rechtskräftig wegen Erwerbs kinderpornografischer Schriften in Tateinheit mit dem Besitz kinderpornografischer Schriften zu einer Geldstrafe in Höhe von 180 Tagessätzen verurteilt worden ist. Aus der Akte des Strafverfahrens ergibt sich, dass sich mindestens 850 kinderpornografische Bilddateien in den drei Jahren vor der Verurteilung auf dem häuslichen Computer von Fleißig befanden. Diese Dateien waren jeweils nach gezielter Suche über einschlägige Suchbegriffe von kinderpornografischen Internetseiten betrachtet und sodann heruntergeladen worden. Die Darstellungen geben vielfältige Formen von Missbrauch von Kindern unter 14 Jahren wieder, einschließlich von Darstellungen unter Einbeziehung von Hunden. Wird der Zulassungsausschuss den Fleißig als Vertragsarzt zulassen? Begründen Sie Ihre Entscheidung. ➤ Lösungen im Web-Service. Gem. §§ 96, 97 SGB V entscheiden über die Zulassungen und Ermächtigungen ein Zulassungs- und Berufungsausschuss. Der Zulassungsausschuss besteht aus Vertretern der Ärzte und der Krankenkassen in gleicher Zahl. In psychotherapeutischen Zulas‐ sungssachen müssen auf der Seite der Ärzte auch Psychotherapeuten mitwirken (vgl. § 95 Abs. 13 SGB V). Der Zulassungsausschuss beschließt mit einfacher Stimmenmehr‐ 2.1 Niedergelassene Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten und Heilpraktiker 53 <?page no="54"?> 45 Vgl. Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Durchführung der Psychotherapie (Psychotherapie-Richtlinie) v. 19.2.2009, BAnz Nr. 58 v. 17.4.2009, S. 1399 z. g. a. 20.11.2020, BAnz AT 17.2.2021 B1. 46 Vgl. BSG, Urt. v. 16.12.2015, B 6 KA 19/ 15 R, NZS 2016, 554 ff. heit, bei Stimmengleichheit gilt ein Antrag als abgelehnt. Gegen die Entscheidung des Zulassungsausschusses können die am Verfahren beteiligten Ärzte und Einrichtungen, die Kassenärztlichen Vereinigungen und die Landesverbände der Krankenkassen sowie die Ersatzkassen den Berufungsausschuss anrufen. Dieser besteht ebenfalls aus Vertre‐ tern der Ärzte (und ggf. Psychotherapeuten, siehe oben) und der Krankenkassen in gleicher Zahl sowie aus einem Juristen als unparteiischer Vorsitzender. Die Mitglieder der beiden Ausschüsse sind ehrenamtlich tätig und an Weisungen nicht gebunden. Ein (Zahn-)Arzt oder Psychotherapeut, der eine Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung begehrt, muss einen entsprechenden Antrag stellen und folgende Voraus‐ setzungen erfüllen: ● Er muss die in § 18 Ärzte-ZV bzw. § 18 Zahnärzte-ZV vorgesehenen Unterlagen einreichen. Dazu gehören z. B. der Lebenslauf und das polizeiliche Führungszeug‐ nis. ● Der Arzt muss in das von der Kassenärztlichen Vereinigung geführte Arztregister eingetragen sein (§§-95 Abs. 2 SGB V, §§-1-10 Ärzte-ZV, §§-1-10 Zahnärzte-ZV). ● Bei Ärzten setzt die Eintragung in das Arztregister die Approbation als Arzt sowie den erfolgreichen Abschluss einer fachärztlichen Weiterbildung, einen an‐ erkannten Ausbildungsnachweis eines EU-/ EWR-Mitgliedstaats oder den früheren Abschluss als „Praktischer Arzt“ voraus (§-95a SGB V). ● Die Eintragung eines Psychotherapeuten setzt die Approbation als Psychothera‐ peut und eine erfolgreich abgeschlossene Weiterbildung in einem vom GBA anerkannten Behandlungsverfahren (z. B. Verhaltenstherapie) 45 voraus (§ 95c Abs. 1 SGB V). Die Psychotherapeuten, die ihre Approbation nach § 2 PsychThG in der bis zum 31.8.2020 geltenden Fassung erworben haben bzw. erwerber, müssen den Fachkundenachweis über eine vertiefte Ausbildung in einem vom GBA anerkannten Behandlungsverfahren nachweisen (§-95c Abs.-2 SGB-V). ● Voraussetzungen für die Eintragung eines Zahnarztes sind die Approbation als Zahnarzt und die Ableistung einer mindestens zweijährigen Vorbereitungszeit (§-95 Abs. 2 S.-3 SGB V). ● Eine anderweitige Beschäftigung oder nicht ehrenamtliche Tätigkeit des Antrag‐ stellers darf nicht so umfangreich sein, dass er seinen Versorgungsauftrag gegen‐ über den gesetzlich Versicherten nicht erfüllen kann (§ 20 Abs. 1 Ärzte-ZV, § 20 Abs. 1 Zahnärzte-ZV). Nach der Rechtsprechung des BSG 46 steht eine andere Vollzeittätigkeit einer Zulassung als Vertragsarzt immer entgegen, auch wenn der Arzt nur einen hälftigen Versorgungsauftrag gem. § 19a Abs. 2 Ärzte-ZV bzw. § 19a Abs. 2 Zahnärzte-ZV begehrt. Wenn die andere Tätigkeit in einem geringeren Umfang als Vollzeit ausgeübt wird, so sind seit dem Inkrafttreten 54 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="55"?> 47 Gesetz zur Verbesserung der Versorgungstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung v. 22.12.2011, BGBl. I S.-2983. 48 Vgl. RegE des Gesetzes zur Verbesserung der Versorgungstrukturen in der gesetzlichen Krankenver‐ sicherung, BTag-Drucks 17/ 6906, S.-104. 49 Vgl. BSG, Urt. v. 30.1.2002, B 6 KA 20/ 01 R, NZS 2003, 270 ff., BSG, Urt. v. 13.10.2010, B 6 KA 40/ 09 R, MedR 2011, 605 ff. 50 Vgl. BSG, Urt. v. 16.12.2015, B 6 KA 19/ 15 R, NZS 2016, 554 ff. 51 Vgl. Scholz, Beck´scher Online-Kommentar Sozialrecht, Ärzte-ZV § 20 Rn. 17. 52 Vgl. BSG, Urt. v. 29.10.1986, 6 RKa 32/ 86, BeckRS 1986, 05838. des GKV-Versorgungsstrukturgesetzes 47 die Umstände des Einzelfalls maßgeblich. Mit diesem Gesetz wurden die vom BSG zuvor entwickelten starren Zeitgrenzen gelockert. 48 Zuvor hatte das BSG eine anderweitige Tätigkeit im Umfang von 13 Wochenstunden neben einem vollen Versorgungsauftrag und 26 Wochenstun‐ den neben einem hälftigen Versorgungsauftrag für zulässig erachtet. 49 Nunmehr kommt es vor allem darauf an, ob der Vertragsarzt (trotz seiner anderen Tätigkeit) Sprechstunden für die Patienten zu den in der vertragsärztlichen Versorgung üblichen Zeiten anbieten kann und in der Praxis zu den Zeiten präsent ist, in denen das ihm nachgeordnete Personal delegierte Aufgaben wahrnimmt, die der Vertragsarzt beaufsichtigen muss. 50 ● Zur Vermeidung von Interessen- und Pflichtenkollisionen darf der Vertragsarzt gem. § 20 Abs. 2 Ärzte-ZV bzw. § 20 Abs. 2 Zahnärzte-ZV keine andere ärztliche Tätigkeit ausüben, die ihrem Wesen nach mit der Tätigkeit des Vertragsarztes am Vertragsarztsitz nicht zu vereinbaren ist; die Tätigkeit in einem zugelassenen Krankenhaus oder einer zugelassenen Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtung ist hiervon ausgenommen. Dagegen wäre beispielsweise eine Tätigkeit als Arzt beim Medizinischen Dienst eine solche unzulässige Tätigkeit. 51 ● Der Antragsteller darf zudem nicht ungeeignet sein, seine vertragsärztliche Tätig‐ keit ordnungsgemäß auszuüben (§ 21 Ärzte-ZV bzw. § 21 Zahnärzte-ZV). Hierbei geht es nicht um die fachliche Eignung, sondern darum, ob der Arzt willens und fähig ist, an der Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung ordnungsgemäß mitzuwirken. 52 Die fehlende Eignung kann sich zum einen aus gesundheitlichen Einschränkungen ergeben, wie z. B. Drogen- oder Alkoholabhängigkeit innerhalb der letzten fünf Jahre vor seiner Antragstellung. Zum anderen können sonstige in der Person liegende schwerwiegende Gründe einer vertragsärztlichen Tätigkeit entgegenstehen. Zu diesen Gründen gehören z. B. einschlägige Straftaten oder Verletzungen von ärztlichen Berufspflichten, die ihn für das Versorgungssystem der gesetzlichen Krankenversicherung untragbar machen. ● Des Weiteren darf bei Antragstellung keine Zulassungsbeschränkung (siehe oben) für die Arztgruppe und den Planungsbereich, in dem sich der Vertragsarzt nieder‐ lassen möchte, bestehen (§ 19 Abs. 1 S. 2 Ärzte-ZV). Der Zulassungsausschuss ist an die Anordnung einer Zulassungsbeschränkung durch den Landesausschuss gebun‐ den. Diese Voraussetzung gilt nur für die Vertragsärzte. Die Vertragszahnärzte sind davon ausgenommen (§ 103 Abs. 8 SGB V). Wenn eine Zulassungsbeschränkung 2.1 Niedergelassene Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten und Heilpraktiker 55 <?page no="56"?> besteht, kommen nur noch Sonderbedarfszulassungen in Betracht, um einen zusätzlichen lokalen oder einen qualifikationsbezogenen Versorgungsbedarf in der Arztgruppe in dem Planungsbereich zu decken (Näheres dazu in § 100 Abs. 3, § 101 Abs. 1 Nr.-3, 3a SGB V, §§-36, 37 Bedarfsplanungs-Richtlinie). Neben einzelnen Ärzten bzw. Psychotherapeuten können medizinische Versorgungs‐ zentren zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen werden. ❋ Wissen │ medizinisches Versorgungszentrum Ein medizinisches Versorgungszentrum ist eine ärztlich geleitete Einrichtung, in der Ärzte, die in das Arztregister eingetragen sind, als Angestellte oder Vertrags‐ ärzte tätig sind (§ 95 Abs. 1 S. 2 SGB V). Es kann in verschiedenen Konstellationen in Erscheinung treten. Beispielsweise können sich mehrere Vertragsärzte als Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) zusammenschließen und jeweils als Ge‐ sellschafter die ärztliche Behandlung erbringen. Alternativ können die Ärzte eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) gründen, an der sie als Gesellschaf‐ ter beteiligt sind. Im Hinblick auf die zu erbringenden ärztlichen Dienstleistungen wären sie Angestellte der GmbH, da diese eine rechtlich selbständige juristische Person ist. Ebenso können Krankenhäuser oder Gemeinden eine GmbH gründen, bei der die Ärzte als Angestellte beschäftigt sind. Wenn ein medizinisches Versorgungszentrum eine Zulassung begehrt, muss es neben den vorgenannten sechs Voraussetzungen noch weitere spezifische Bedingungen erfül‐ len: ● Der ärztliche Leiter, der in medizinischen Fragen kraft Gesetzes weisungsfrei ist, muss in dem medizinischen Versorgungszentrum selbst als angestellter Arzt oder als Vertragsarzt tätig sein. Wenn verschiedene Berufsgruppen (z. B. Facharzt für Allgemeinmedizin und Zahnarzt) vertreten sind, kann die ärztliche Leitung aus mehreren Personen bestehen (§-95 Abs. 1 S.-3, 4 SGB V). ● Der Träger der Einrichtung muss zu dem gründungsberechtigten Personenkreis gem. § 95 Abs. 1a SGB V gehören. Das sind zugelassene Ärzte, zugelassene Kran‐ kenhäuser, Erbringer nichtärztlicher Dialyseleistungen nach § 126 Absatz 3 SGB V, gemeinnützige Träger, die aufgrund von Zulassung oder Ermächtigung an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmen und Kommunen (Gemeinden, Städte, Landkreise). Der gründungsberechtigte Personenkreis ist durch das GKV-Versor‐ gungsstrukturgesetz zum 01.01.2012 eingeschränkt worden. Die medizinischen Versorgungszentren, die zuvor von jetzt nicht mehr berechtigten Trägern gegrün‐ det worden waren, haben jedoch Bestandsschutz und können weiterhin an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmen. ● Ferner ist in § 95 Abs. 1a SGB V die zulässige Rechtsform vorgegeben. Das me‐ dizinische Versorgungszentrum darf nur als eingetragene Genossenschaft, Perso‐ 56 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="57"?> nengesellschaft (GbR, PartG), als GmbH oder in öffentlich rechtlicher Rechtsform (Eigenbetrieb, Regiebetrieb) betrieben werden. Wenn die GmbH als Rechtsform gewählt wird, setzt die Zulassung voraus, dass die Gesellschafter eine selbst‐ schuldnerische Bürgschaft der Gesellschafter oder andere Sicherheitsleistung gem. § 232 BGB abgegeben haben (§ 95 Abs. 2 S. 6 SGB V). Einrichtungen, die vor dem 01.01.2012 in einer anderen Rechtsform gegründet worden waren, haben wiederum Bestandsschutz. Wenn der (Zahn-)Arzt, Psychotherapeut oder das medizinische Versorgungszentrum alle Voraussetzungen erfüllt, so besteht ein Rechtsanspruch auf die Zulassung. Die Zulassung erfolgt für den Ort der Niederlassung (§ 95 Abs. 1 S. 5 SGB V). Sie hat folgende Wirkungen: ● Der Vertragsarzt wie auch das medizinische Versorgungszentrum sind im Rahmen ihres Versorgungsauftrages zur Versorgung der gesetzlich versicherten Patienten berechtigt und verpflichtet (§ 95 Abs. 3 S. 1, 2 SGB V). Eine volle Zulassung berechtigt und verpflichtet zur vollzeitigen Berufsausübung zur Versorgung der gesetzlich Versicherten (§ 19a Abs. 1 Ärzte-ZV, § 19a Abs. 1 Zahnärzte-ZV). Bei Beschränkung des Versorgungsauftrages auf die Hälfte oder drei Viertel reduziert sich der Umfang der Tätigkeit entsprechend (§ 19a Abs. 2 Ärzte-ZV, § 19a Abs. 2 Zahnärzte-ZV). ● Der Vertragsarzt und die beim medizinischen Versorgungszentraum angestellten Ärzte sind (kraft Gesetzes) Mitglied bei der für den Vertragsarztsitz zuständigen Kassenärztlichen Vereinigung (§ 95 Abs. 3 S.-1, 2 SGB V). ● Die vertraglichen Bestimmungen über die vertragsärztliche Versorgung sind für alle verbindlich (§ 95 Abs. 3 S.-3 SGB V). ● Der Vertragsarzt und das medizinische Versorgungszentrum sind berechtigt, an der Honorarverteilung durch die Kassenärztliche Vereinigung teilzunehmen (§ 85 Abs. 4 S.-1, § 87b Abs. 1 S.-1 SGB V). Neben den zugelassenen Leistungserbringern können ermächtigte Ärzte und ermäch‐ tigte Einrichtungen an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmen. Bei der Ermäch‐ tigung handelt es sich um eine eingeschränkte Form der Zulassung. Die Einschrän‐ kungen können in zeitlicher Hinsicht (z. B. zweijährige Befristung), in Bezug auf die abrechenbaren Leistungen der Diagnostik und Therapie oder in Bezug auf den zu versorgenden Personenkreis (z. B. nur geriatrische Patienten) bestehen. Nach dem SGB V sind folgende Ermächtigungen möglich: 2.1 Niedergelassene Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten und Heilpraktiker 57 <?page no="58"?> 53 Bundesmantelvertrag-Ärzte (BMV-Ä) unter https: / / www.gkv-spitzenverband.de/ krankenversicherung/ ae rztliche_versorgung/ bundesmantelvertrag/ bundesmantelvertrag.jsp (Abruf am 10.4.2022); Bundesmantel‐ vertrag-Zahnärzte (BMV-Z) unter https: / / www.gkv-spitzenverband.de/ krankenversicherung/ zahnaerztli che_versorgung/ bmv_z_ekv_z/ bmv_z.jsp (Abruf am 10.4.2022). Abb. 9: Ermächtigte Ärzte und Einrichtungen § 119 SGB V: sozialpädiatrische Zentren § 119a SGB V: Einrichtungen der Behindertenhilfe mit ärztlich geleiteter Abteilung § 119b SGB V: stationäre Pflegeeinrichtung mit angestellten Ärzten § 119c SGB V: medizinische Behandlungszentren § 116 SGB V: ermächtigte Krankenhausärzte § 116a SGB V: ermächtigte Krankenhäuser § 117 SGB V: Hochschulambulanzen § 118 SGB V: psychiatrische Institutsambulanzen § 118a SGB V: geriatrische Institutsambulanzen ermächtigte Ärzte und Einrichtungen Abbildung 9: Ermächtigte Ärzte und Einrichtungen Über die Ermächtigung entscheiden ebenfalls der Zulassungs- und Berufungsaus‐ schuss. Die Ärzte und Einrichtungen, die eine bestimmte Ermächtigung beantragen, müssen die jeweils spezifisch geltenden Zugangsvoraussetzungen erfüllen. - 2.1.2.4 Rechte und Pflichten der zugelassenen und ermächtigten Leistungserbringer Die Aufgaben, Rechte und Pflichten der Leistungserbringer ergeben sich nicht nur aus den gesetzlichen, sondern auch aus den untergesetzlichen Regelungen (vgl. zu den Kol‐ lektivverträgen und Richtlinien auch Abschnitt 1.2). So schließen die Kassenärztlichen Vereinigungen mit den für ihren Bezirk zuständigen Landesverbänden der Krankenkassen und den Ersatzkassen Gesamtverträge (§ 83 SGB V) über die Details der vertragsärztlichen Versorgung, insbesondere über Rechte und Pflichten der Beteiligten. Diese Verträge sind sowohl für die Vertragsärzte als auch für die Krankenkassen verbindlich (§ 95 Abs. 3 S.-3, § 83 S. 1 SGB V). Die auf der Bundesebene geschlossenen Bundesmantelverträge 53 sind 58 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="59"?> ebenfalls Bestandteil der Gesamtverträge und teilen deren Verbindlichkeit (§ 82 Abs. 1 SGB V). Weitere Einzelheiten der ärztlichen Versorgung regeln die Richtlinien des GBA. Diese Richtlinien gelten gem. § 92 Abs. 8 SGB V als Bestandteil der Bundesmantelverträge und damit letztlich ebenfalls als Teil der Gesamtverträge. Um den Versichertenanspruch zu erfüllen, haben die Vertragsärzte und die medizin‐ ischen Versorgungszentren gem. §-73 Abs.-2 SGB V folgende Aufgaben : ● ärztliche Behandlung, zahnärztliche Behandlung und kieferorthopädische Behand‐ lung, Versorgung mit Zahnersatz einschließlich Zahnkronen und Suprakonstruk‐ tionen, ● Maßnahmen zur Früherkennung von Krankheiten, ● ärztliche Betreuung bei Schwangerschaft und Mutterschaft, ● ärztliche Beratung zur Empfängnisverhütung, medizinische Maßnahmen zur Her‐ beiführung einer Schwangerschaft, ● ärztliche Maßnahmen zum Schwangerschaftsabbruch und zur Sterilisation, ● Anordnung der Hilfeleistung anderer Personen, ● Verordnung von Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln, ● Verordnung von Krankentransporten, ● Verordnung von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, ● Verordnung von Krankenhausbehandlung oder Behandlung in Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen, ● Verordnung häuslicher Krankenpflege und außerklinischer Intensivpflege, ● Verordnung von Soziotherapie, ● Verordnung von spezialisierter ambulanter Palliativversorgung, ● Abgabe einer ärztlichen Zweitmeinung zu einem planbaren Eingriff, ● Ausstellung von Bescheinigungen und Erstellung von Berichten, die die Kran‐ kenkassen oder der Medizinische Dienst zur Durchführung ihrer gesetzlichen Aufgaben benötigen, ● Ausstellung von Bescheinigungen, die die Versicherten für den Anspruch auf Fortzahlung des Arbeitsentgelts benötigen. Der Leistungserbringer hat die vertragsärztliche Tätigkeit persönlich in freier Praxis auszuüben (§ 32 Abs. 1 S. 1 Ärzte-ZV bzw. § 32 Abs. 1 S. 1 Zahnärzte-ZV). Die Anstellung eines Arztes bedarf der Genehmigung des Zulassungsausschusses (§ 95 Abs. 9-9b SGB V, § 95 Abs. 2 S. 7 SGB V). Der Vertragsarzt mit vollem Versorgungsauftrag muss mindestens 25 Stunden wöchentlich Sprechstunden für die Patienten anbieten (§ 19a Abs. 1 S. 1 Ärzte-ZV). Ferner müssen die Vertragsarztgruppen der grundversorgenden und wohnortnahen Patientenversorgung (z. B. Augen- und Frauenärzte) mit vollem Versorgungsauftrag mindestens fünf Stunden wöchentlich als offene Sprechstunden ohne vorherige Terminvereinbarung anbieten (§ 19a Abs. 1 S. 3 Ärzte-ZV). Bei beschränktem Versorgungsauftrag reduzieren sich die genannten Zeitvorgaben ent‐ sprechend anteilig. Im zahnärztlichen Bereich sind keine festen Stundenzahlen für die Sprechstunden vorgegeben. 2.1 Niedergelassene Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten und Heilpraktiker 59 <?page no="60"?> 54 Vgl. Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses zu Untersuchungs- und Behandlungsmethoden der vertragsärztlichen Versorgung vom 17.1.2006, BAnz Nr. 48, S. 1523, z. g. a. 15.07.2021, BAnz AT 4.10.2021 B5. 55 Vgl. BSG, Urt. v. 19.2.2002, B 1 KR 16/ 00 R, NZS 2003, 206 ff. [208]. 56 Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über grundsätzliche Anforderungen an ein einrich‐ tungsinternes Qualitätsmanagement für Vertragsärztinnen und Vertragsärzte, Vertragspsychothera‐ peutinnen und Vertragspsychotherapeuten, medizinische Versorgungszentren, Vertragszahnärztin‐ nen und Vertragszahnärzte sowie zugelassene Krankenhäuser (QM-RL) vom 17.12.2015, BAnz AT 15.11.2016 B2, z. g. a. 17.9.2020, BAnz AT 8.12.2020 B2. 57 Qualitätsbeurteilungs-Richtlinie Kernspintomographie (QBK-RL) v. 17.10.2019, BAnz AT 30.01.2020 B3. 58 Vgl. Aufstellung der Beschlüsse und Richtlinien unter https: / / www.g-ba.de/ richtlinien/ (Abruf am 14.4.2022). Dem vertragsärztlichen Leistungserbringer steht bei der Versorgung der Patienten eine sog. Therapiefreiheit zu, nach der es primär Sache des Arztes ist, die zu ergreifende diagnostische und therapeutische Maßnahme unter Berücksichtigung des ärztlichen Standards auszuwählen. Diese Freiheit ist jedoch nicht grenzenlos. Wenn es meh‐ rere geeignete Methoden gibt, die sich hinsichtlich der Risiken und Erfolgschancen unterscheiden, muss er den Patienten darüber aufklären und diesem die Auswahl überlassen. Allerdings verhindert die Therapiefreiheit, dass der Arzt zur Vornahme einer bestimmten Behandlung gezwungen ist. Abgesehen von Notfällen kann der Vertragsarzt die vom Patienten gewünschte Methode auch ablehnen. Neue Untersu‐ chungs- und Behandlungsmethoden darf der Vertragsarzt zulasten der Krankenkassen erst erbringen, wenn der GBA die Methode gem. § 135 SGB V anerkannt hat. 54 Neu ist eine Methode, wenn sie sich von den bisherigen Methoden dergestalt unterscheidet, dass ihr ein eigenes theoretisch-wissenschaftliches Konzept zugrunde liegt, und sie nicht im Einheitlichen Bewertungsmaßstab (siehe unten) aufgeführt ist. 55 Gem. § 70 SGB V sind der Vertragsarzt und das medizinische Versorgungszentrum wie alle Leistungserbringer in der gesetzlichen Krankenversicherung verpflichtet, seine Leistungen in der fachlich gebotenen Qualität zu erbringen. Das schließt ein, dass sie ein einrichtungsinternes Qualitätsmanagement einführen und weiterentwickeln müssen (§ 135a Abs. 2 Nr. 2 SGB V). Das Qualitätsmanagement stellt ein systematisches Vorgehen dar, mit dem die Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität der Patientenver‐ sorgung gezielt beeinflusst werden soll. Einzelheiten des Qualitätsmanagementsystems sind in der gleichnamigen Richtlinie 56 des GBA geregelt. Des Weiteren sind die Richtli‐ nien des GBA, in denen Qualitätsbeurteilungskriterien für bestimmte Untersuchungen oder Behandlungen (beispielsweise für die Kernspintomographie 57 ) festgelegt sind 58 , von allen Leistungserbringern zu berücksichtigen. Ferner hat sich der Vertragsarzt an den Maßnahmen der Qualitätssicherung zu beteiligen. Die Einzelheiten der einrichtungsübergreifenden und ggf. sektorenüber‐ greifenden Qualitätssicherung sind in der Richtlinie des GBA zur datengestützten ein‐ 60 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="61"?> 59 Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses zur datengestützten einrichtungsübergreifenden Qualitätssicherung v. 19.7.2018, BAnz AT 18.12.2018 B3, z. g. a. 16.9.2021, BAnz AT 21.12.2021 B1. 60 Qualitätsprüfungs-Richtlinie vertragsärztliche Versorgung (QP-RL) v. 20.6.2019, BAnz AT 8.10.2019 B1, z. g. a. 17.10.2019, BAnz AT 13.1.2020 B6; Qualitätsprüfungs-Richtlinie vertragszahnärztliche Versorgung, (QP-RL-Z) v. 21.12.2017, BAnz AT 13.3.2018 B1 z. g. a. 3.12.2020, BAnz AT 3.2.2021 B2. richtungsübergreifenden Qualitätssicherung (DeQS-RL) 59 geregelt (vgl. auch Abschnitt 2.2.3.8). Die Qualität der in der vertragsärztlichen Versorgung erbrachten Leistungen wird von den Kassenärztlichen Vereinigungen durch Stichproben geprüft (§ 135b Abs. 2 SGB V). Dazu hat der GBA Qualitätsprüfungs-RL 60 erlassen. Die vertragsärztlichen Leistungserbringer sind nach § 95d SGB V ebenfalls verpflich‐ tet, sich regelmäßig fortzubilden, damit sie ihre Fachkenntnisse auf dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse erhalten oder weiterentwickeln. Aller fünf Jahre muss gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung der Nachweis über die Pflichter‐ füllung erbracht werden. Unterlässt der Vertragsarzt die Fortbildung, so drohen ihm Honorarkürzungen und im schlimmsten Fall die Entziehung der vertragsärztlichen Zulassung. Wie bereits erwähnt erlangen die Leistungserbringer mit der Zulassung das Recht, an der Honorarverteilung durch die Kassenärztliche Vereinigung teilzunehmen. Die Kassenärztliche Vereinigung erhält von den Krankenkassen für die gesamte vertrags‐ ärztliche Versorgung ihrer Mitglieder (inkl. der mitversicherten Familienangehörigen) mit Wohnort im Bezirk der Kassenärztlichen Vereinigung quartalsweise eine Gesamt‐ vergütung (§ 85 Abs. 1 SGB V). Die Gesamtvergütung ist das Ausgabenvolumen für die Gesamtheit der zu vergütenden vertragsärztlichen Leistungen und wird von der Kassenärztlichen Vereinigung mit den Landesverbänden der Krankenkassen und den Ersatzkassen jeweils für das Folgejahr vereinbart (§ 85 Abs. 2 SGB V). Mit der Zahlung der vereinbarten Gesamtvergütung sind alle Vergütungsansprüche der Kassenärztli‐ chen Vereinigung, die aus ihrem Sicherstellungsauftrag resultieren, abgegolten. Eine Nachforderung seitens der Kassenärztlichen Vereinigung ist somit grundsätzlich aus‐ geschlossen, es sei denn, sie ist nach den gesetzlichen Regelungen zugelassen. So regelt beispielsweise § 87a Abs. 3 S. 4 SGB V für die vertragsärztliche Versorgung (nicht aber für die vertragszahnärztliche Versorgung) eine Nachzahlungsverpflichtung der Krankenkassen für den Fall eines nicht vorhersehbaren Anstiegs des morbiditäts‐ bedingten Behandlungsbedarfs (z. B. durch eine Grippeepidemie). Die Verteilung der Gesamtvergütung an die Leistungserbringer, die die gesetzlich versicherten Patienten behandeln, erfolgt nach einem Honorarverteilungsmaßstab, den die Kassenärztliche Vereinigung im Benehmen mit den Landesverbänden der Krankenkassen und den Ersatzkassen festgesetzt hat (§ 85 Abs. 4, § 87b Abs. 1 S.-2 SGB V). 2.1 Niedergelassene Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten und Heilpraktiker 61 <?page no="62"?> 61 Ständige Rechtsprechung des BSG, vgl. z. B. BSG Urt. v. 21.3.2012, B 6 KA 22/ 11 R, MedR 2013, 66 ff. [67] m. w. N. Abb. 10: Gesamtvergütung und Honorarverteilung KV EK/ KK Vertragsarzt Vereinbarung der Gesamtvergütung Zahlung des Honorars EK und LV der KK Abbildung 10: Gesamtvergütung und Honorarverteilung Die Vertragsärzte werden hinsichtlich der Erfüllung ihrer Aufgaben und Pflichten von den Kassenärztlichen Vereinigungen beaufsichtigt. Verfehlungen können je nach der Schwere mit Verwarnung, Verweis, Geldbuße oder mit der Anordnung des Ruhens der Zulassung bis zu zwei Jahren geahndet werden (§-75 Abs. 2, §-81 Abs.-5 SGB V). - 2.1.2.5 Beendigung der vertragsärztlichen Tätigkeit Die vertragsärztliche Tätigkeit endet dadurch, dass die Zulassung entweder gem. § 95 Abs. 6 SGB durch den Zulassungsausschuss entzogen wird oder einer der in § 95 Abs. 7 SGB V genannten Tatbestände (vgl. Abb. 11) vorliegt. Die Zulassung ist zu entziehen, wenn die oben beschriebenen Zulassungsvorausset‐ zungen nicht oder nicht mehr vorliegen. Hinsichtlich einer Zulassungsbeschränkung ist dabei zu beachten, dass eine solche der Zulassung nur entgegensteht, wenn sie bereits bei Antragstellung durch den Arzt angeordnet war (§ 19 Abs. 1 S. 2 Ärzte-ZV). Somit führt die spätere Anordnung einer Zulassungsbeschränkung nicht dazu, dass die Voraussetzungen nicht mehr vorliegen. Ferner ist die Zulassung zu entziehen, wenn der Arzt seine vertragsärztliche Tätigkeit nicht aufnimmt oder ausübt oder seine vertragsärztlichen Pflichten gröblich verletzt. Eine gröbliche Verletzung vertragsärztlicher Pflichten, die ebenfalls zur Entziehung der Zulassung führt, liegt vor, wenn der Verstoß des Vertragsarztes bzw. Psychotherapeuten so schwer wiegt, dass das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Krankenkassen und Kassenärztlicher Vereinigung langfristig gestört ist und eine weitere Zusammenarbeit nicht mehr möglich erscheint. 61 62 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="63"?> 62 Vgl. BSG, Urt. v. 21.3.2012, B 6 KA 22/ 11 R, MedR 2013, 66 ff. ➤ Beispiel Ein medizinisches Versorgungszentrum rechnete 1.023 Gebührenordnungspositi‐ onen unter drei lebenslangen Arztnummern (LANR) ab, die bundesweit nicht vergeben waren. Ferner berechnete es Leistungen einer Ärztin, die erst später angestellt worden ist, sowie Leistungen einer Ärztin, die gar nicht dem medizin‐ ischen Versorgungszentrum angehörte. Darin sah das LSG Berlin-Brandenburg eine gröbliche Pflichtverletzung, da die peinlich genaue Abrechnung eine essen‐ zielle Grundlage des vertragsärztlichen Vergütungssystems ist. Die Revision beim BSG hatte keinen Erfolg. 62 Zulassungsvoraussetzungen liegen nicht (mehr) vor keine Aufnahme oder Ausübung der Tätigkeit gröbliche Verletzung vertragsärztlicher Pflichten Tod des Arztes/ Auflösung des MVZ Verzicht Wegzug aus dem Bezirk des Vertragsarztsitzes keine Aufnahme der Tätigkeit innerhalb von 3 Monaten in einem Planungsbereich mit Zulassungsbeschränkung Beendigung der vertragsärztlichen Tätigkeit Entziehung gem. § 95 Abs. 6 SGB V Ende gem. § 95 Abs. 7 SGB V Beendigung der vertragsärztlichen Tätigkeit Entziehung gem. § 95 Abs. 6 SGB V Abbildung 11: Beendigung der vertragsärztlichen Tätigkeit 2.1 Niedergelassene Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten und Heilpraktiker 63 <?page no="64"?> Wenn die Zulassung eines Vertragsarztes (gilt nicht für Vertragszahnärzte) in einem Planungsbereich, für den Zulassungsbeschränkungen angeordnet sind, durch Tod, Verzicht oder Entziehung endet und die Praxis von einem Nachfolger weitergeführt werden soll, entscheidet der Zulassungsausschuss auf Antrag des Vertragsarztes oder seiner Erben, ob ein sog. Nachbesetzungsverfahren für den Vertragsarztsitz durchge‐ führt werden soll. Die Einzelheiten dieses Verfahrens sind in § 103 Abs. 3a, 4 SGB V geregelt. 2.1.3 Anforderungen aus weiteren gesundheitsrechtlichen Vorschriften (Zahn-)Ärzte, Psychotherapeuten, Heilpraktiker haben eine Vielzahl weiterer Pflichten zu erfüllen, die aus verschiedenen Rechtsvorschriften folgen. Einige von denen sollen nachfolgend benannt werden: Wenn Medizinprodukte (z. B. EKG-Geräte, Blutdruckmessgerät, Spritzen, Tupfer) betrieben und angewendet werden, müssen die Anforderungen aus der MPBetreibV beachtet werden, vgl. dazu Abschnitt 2.2.4. Beim Einsatz von Geräten und Stoffen mit ionisierender Strahlung (z. B. Rönt‐ geneinrichtung) müssen das Strahlenschutzgesetz und die Strahlenschutzverordnung eingehalten werden, vgl. dazu Abschnitt 2.2.5. Für die Anwendung von nichtionisier‐ ender Strahlung, z. B. bei der Magnet-Resonanz-Tomographie (MRT), sind das Gesetz zum Schutz vor nichtionisierender Strahlung bei Anwendung am Menschen sowie die Verordnung zum Schutz vor schädlichen Wirkungen nichtionisierender Strahlung bei der Anwendung am Menschen einschlägig, vgl. dazu ebenfalls Abschnitt 2.2.5. Aus dem Infektionsschutzrecht ergeben sich zum einen Meldepflichten bzgl. ver‐ schiedener übertragbarer Krankheiten und Krankheitserreger sowie zum anderen Hygieneanforderungen zur Vermeidung von nosokomialen Infektionen, vgl. dazu Abschnitt 2.2.5. Die Werbung für die eigenen Dienstleistungen zur Krankenbehandlungen wird zum einen durch die Berufsordnungen reglementiert (vgl. Abschnitt 2.1.1.2). Zum anderen sind das Heilmittelwerbegesetz sowie das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb einschlägig. Die diesbezüglichen Erläuterungen im Abschnitt 2.9.14 (zur Arzneimittel‐ werbung) lassen sich weitestgehend auch auf die Werbung der Heilberufe für ihre therapeutischen Leistungen übertragen. 2.1.4 Behandlungsvertrag mit dem Patienten Die Patienten dürfen zwischen allen niedergelassenen Ärzten bzw. Psychotherapeuten frei wählen; das gilt nach § 76 SGB V auch für die gesetzlich Versicherten. Die Patienten können sich ebenso von einem Heilpraktiker behandeln lassen, auch wenn diese Behandlung nicht zu den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung gehört. Zwischen dem Leistungserbringer und dem Patienten besteht ein privatrechtlicher Vertrag, und zwar ein Behandlungsvertrag gem. § 603a ff. BGB. Das gilt sowohl für den 64 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="65"?> 63 Vgl. Wagner, Münchner Kommentar zum BGB, § 630a BGB Rn. 123, 130, 131. 64 Vgl. OLG Stuttgart, Urt. v. 21.4.1998, 14 U 25/ 97, VersR 1999, 1027 f. selbstzahlenden als auch für den gesetzlich versicherten Patienten. Der Vertrag wird in der Regel mündlich oder konkludent geschlossen; eine Schriftform ist gesetzlich nicht vorgegeben. Gem. § 630a BGB hat der Arzt, Psychotherapeut oder Heilpraktiker den Patienten nach dem allgemein anerkannten fachlichen Standard zu behandeln. Die Behand‐ lung zielt darauf ab, die körperliche und gesundheitliche Integrität des Patienten wiederherzustellen, Beschwerden zu lindern, den Krankheitsverlauf zu verzögern oder Verschlimmerungen vorzubeugen. Sie umfasst die Anamnese, Diagnose und Therapie sowie die notwendigen Verordnungen von Arzneimitteln oder anderen therapeuti‐ schen Leistungen. Weitere Pflichten der Behandler sind vor allem die Aufklärungs-, Dokumentationspflicht, Schweigepflicht, vgl. dazu Abschnitt 2.2.6.2. Wenn der Arzt bzw. Psychotherapeut eine Behandlungs- oder Aufklärungsfehler begeht, kommt sowohl die deliktische als auch vertragliche Haftungnach dem BGB in Betracht, vgl. dazu Abschnitt 2.2.7. Der Heilpraktiker haftet ebenfalls nach § 280 Abs. 1 BGB und § 823 Abs. 1 BGB für Aufklärungs- und Behandlungsfehler. Er ist zwar nicht an die allgemein anerkannten wissenschaftlichen Methoden gebunden und kann auch Außenseitermethoden einset‐ zen. Gleichwohl handelt er pflichtwidrig, wenn er nicht über die Kenntnisse und Befähigung verfügt, die für die angewendeten diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen notwendig sind. Ebenso begeht er eine Pflichtverletzung, wenn er eine Therapie wählt, die für die Behandlung des Patienten offensichtlich ungeeignet ist. 63 ➤ Beispiel Ein Heilpraktiker wendete eine Öl-Eiweiß-Therapie bei einer krebserkrankten Patientin an, der kurz zuvor der Übergangsbereich vom Dünnzum Dickdarm entfernt worden war. Zu der Therapie gehört u. a. die Verordnung einer Öl-Ei‐ weiß-Kost und von Obstsäften, die jedoch wegen der entzündlich veränderten Darmschleimhaut kontraindiziert war. Da der Heilpraktiker seiner therapeuti‐ schen Verantwortung nicht nachgekommen war, haftete er auf Schmerzensgeld und weiteren Schadenersatz. 64 Dem Patienten obliegt es, dem Behandler die notwendigen Informationen zu geben und den therapeutischen Anordnungen Folge zu leisten (§-630c Abs. 1 BGB). Ferner besteht für den Patienten die Pflicht, die Behandlung zu vergüten (§ 630a Abs. 1 BGB). Für die notwendigen Leistungen der Behandlung eines gesetzlich versi‐ cherten Patienten erhält der Arzt bzw. Psychotherapeut ein Honorar der Kassenärzt‐ lichen Vereinigung, der er angehört (vgl. auch Abschnitt 2.1.2.4). Für individuelle Gesundheitsleistungen (sog. IGeL-Leistungen), die nicht zum Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung gehören, muss der Patient selbst aufkommen. 2.1 Niedergelassene Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten und Heilpraktiker 65 <?page no="66"?> 65 Gebührenordnung für Ärzte i. d. F. d. Bek. v. 9.2.1996, BGBl. I S. 210, z. g. d. G v. 21.10.2019, BGBl. I S.-1470. 66 Gebührenordnung für Zahnärzte 22.10.1987, BGBl. I S.-2316, z. g. d. VO v. 5.12.2011, BGBl. I S.-2661. 67 Gebührenordnung für Psychologische Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychothe‐ rapeuten v. 8.6.2000, BGBl. I S.-818, z. g. d. VO v. 18.10.2001, BGBl. I S.-2721. 68 Vgl. https: / / www.heilpraktiker.org/ gebuehrenverzeichnis-fuer-heilpraktiker (Abruf am 14.4.2022). 69 Vgl. Rauscher, VersR 2016, 217 ff. [220]. 70 Vgl. BGH, Urt. v. 24.10.1989, X ZR 58/ 88, NJW-RR 1990, 349 f. [350]. 71 Vgl. Musterbedingungen 2009 für die Krankheitskosten- und Krankenhaustagegeldversicherung, h ttps: / / www.pkv.de/ fileadmin/ user_upload/ PKV/ b_Wissen/ PDF/ 2019-02_mb-kk-2009.pdf (Abruf am 14.4.2022). Gegenüber selbstzahlenden (privat versicherten) Patienten rechnet der Arzt nach der GOÄ 65 oder der GOZ 66 ab. Für die Vergütung des Psychotherapeuten ist die GOP 67 maßgeblich, deren Regelungsgehalt sich im Wesentlichen darauf beschränkt, die GOÄ für anwendbar zu erklären. Der privat versicherte Patient ist Schuldner der Vergütung und muss für die Erstattung der Aufwendungen durch seine Krankenversicherung selbst Sorge tragen. Wenn der Behandler weiß, dass eine Leistung nicht von der privaten Versicherung übernommen wird, muss er den Patienten darüber aufklären (§ 630c Abs. 3 BGB). Eine Besonderheit besteht bei einem Patienten, der eine private Krankenversicherung im Basistarif abgeschlossen hat. In diesem Fall hat der Arzt bzw. Psychotherapeut einen Direktanspruch gegenüber dem Versicherungsunternehmen, so dass dieses zusammen mit dem Patienten gesamtschuldnerisch haftet (vgl. § 192 Abs. 7 VVG). Für die Vergütung eines Heilpraktikers gilt § 612 BGB. Danach kann sich die Höhe der Vergütung aus einer entsprechenden Vereinbarung zwischen dem Heilpraktiker und dem Patienten ergeben. Beispielsweise kann die analoge Anwendung der GOÄ vereinbart werden. Es existiert zwar ein Gebührenverzeichnis für Heilpraktiker. 68 Dennoch handelt es sich dabei nicht um eine Gebührentaxe, sondern um eine Darstel‐ lung der durchschnittlichen Vergütungen, die auf einer Umfrage bei niedergelassenen Heilpraktikern beruht und deren Sätze seit 1985 nicht mehr aktualisiert worden sind. 69 Wenn eine Vergütungsvereinbarung zwischen dem Heilpraktiker und dem Patienten fehlt, ist die übliche Vergütung als vereinbart anzusehen. Die übliche Vergütung orientiert sich an der Vergütung, die für gleiche oder ähnliche Dienstleistungen an dem betreffenden Ort mit Rücksicht auf die persönlichen Verhältnisse gezahlt wird. Insoweit kommt es auf die Umstände des Einzelfalls an. 70 Für die Vergütung eines Heilpraktikers muss der gesetzlich versicherte Patient selbst aufkommen, da die Behandlung nicht zu den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung gehört. Anders kann es in der privaten Krankenversicherung sein. Hier kann in den Versicherungs- und Tarifbedingungen vorgesehen sein, dass die Kosten eines Heilpraktikers erstattet werden (vgl. z.-B. §-4 Abs. 2 MB/ KK 2009 71 ). 66 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="67"?> ❋ Wichtige Schlagwörter ❋ Approbation ❋ Bedarfsplanung ❋ Behandlungsvertrag ❋ Ermächtigung ❋ Heilkunde ❋ Medizinisches Versorgungszentrum ❋ Zulassung ✎ Wiederholungsaufgaben 1. Erläutern Sie den Begriff Heilkunde. 2. Ein Zahnarzt erhält eine Approbation nur, wenn er sich keines Verhaltens schuldig gemacht hat, aus dem sich seine Unzuverlässigkeit oder Unwürdigkeit zur Ausübung des Berufs ergibt. Erläutern Sie, was unter Unzuverlässigkeit und Unwürdigkeit in diesem Sinne zu verstehen ist. 3. Erläutern Sie die Unterscheidung zwischen einer Zulassung und einer Ermäch‐ tigung zur vertragsärztlichen Versorgung der gesetzlichen Krankenversiche‐ rung. 4. Erläutern Sie die Grundzüge des Entstehens einer Zulassungsbeschränkung in der vertragsärztlichen Versorgung der gesetzlichen Krankenversicherung. 5. Erläutern Sie, was unter einem medizinischen Versorgungszentrum zu verste‐ hen ist. 6. In der Kleinstadt K sind die beiden zuletzt noch tätigen Hausärzte in den Ruhestand gegangen. Nunmehr möchte die Gemeinde ein medizinisches Versorgungszentrum (MVZ), in dem zwei Fachärzte für Allgemeinmedizin tätig sein sollen, gründen und einen Antrag auf Zulassung des MVZ zur vertragsärztlichen Versorgung stellen. Erläutern Sie unter Einbeziehung dieses Beispiels die spezifischen Zulassungsvoraussetzungen für ein medizinisches Versorgungszentrum sowie die Rechtsfolgen, wenn die Zulassung für das MVZ erteilt wird. 7. Emma Emsig ist Fachärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe und Chef‐ ärztin der Klinik für Gynäkologie eines Krankenhauses, das zur Versorgung gesetzlicher versicherter Personen gem. § 108 Nr. 2, § 109 SGB V zugelassen ist. Ihre Arbeitszeit ist arbeitsvertraglich auf 13 Stunden pro Woche beschränkt. Sie beabsichtigt, im 3. Obergeschoss des Krankenhauses, abgetrennt von den Räumlichkeiten des Krankenhauses eine ärztliche Niederlassung zu eröffnen. Sie begehrt eine vertragsärztliche Zulassung als Frauenärztin. Steht § 20 Ärzte-ZV der Zulassung von Emma Emsig zur vertragsärztlichen Versorgung entgegen? Begründen Sie Ihre Entscheidung. 8. Der in W wohnhafte 45-jährige Friedrich Fleißig ist als Augenarzt zur vertrags‐ ärztlichen Versorgung der gesetzlichen Krankenversicherung zugelassen. Ihm ist durch die zuständige Behörde die Approbation entzogen worden, woraufhin ❋ Wichtige Schlagwörter 67 <?page no="68"?> er von der zuständigen Kassenärztlichen Vereinigung im Arztregister (gem. § 7 Buchst. c, § 3 Abs. 2 Buchst. a Ärzte-ZV) gelöscht worden ist. Grund für den Entzug der Approbation war, dass Fleißig zuvor wegen Steuerhinterziehung rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten verurteilt worden war. Fleißig hatte über fünf Jahre 1,5 Mill. Euro Steuern hinterzogen. Er hatte seine Einnahmen aus seiner Praxis nicht vollständig in der Steuererklärung angegeben und Betriebsausgaben fingiert. Ferner hatte er Einkünfte aus Kapitalvermögen, die er in der Schweiz erzielt hatte, nicht versteuert. Nachdem der zuständige Zulassungsausschuss von den Vorgängen Kenntnis erlangt hat, möchte er dem Friedrich Fleißig die Zulassung gem. § 95 Abs. 6 SGB V entziehen. Erörtern Sie, ob ein Grund für die Entziehung der Zulassung vorliegt. 9. Anton Arm suchte den niedergelassenen Radiologen Rudi Reich auf, um für eine weitere Diagnostik eine Röntgenkontrastuntersuchung des Darms vor‐ nehmen zu lassen. Bei einer solchen Untersuchung wird dem Darm zur Verbes‐ serung der röntgenologischen Darstellung ein Kontrastmittel zugeführt. Dabei kann, auch bei sorgsamster Ausführung, beispielsweise wegen vorhandener Geschwüre, die Gefahr einer Darmperforation (Darmdurchbruch) bestehen. Deshalb hat der untersuchende Arzt nach den Regeln der ärztlichen Kunst in einem derartigen Fall ein wasserlösliches Kontrastmittel zu verwenden, das bei Austritt in die Umgebung des Darms vom Körper abgebaut werden kann. Obwohl eine solche Perforationsgefahr bei Arm bestand, führte Reich kein wasserlösliches, sondern ein bariumhaltiges Kontrastmittel zu. Nachdem der Darm des Arm perforierte, drang das Kontrastmittel in die Bauchhöhle des Arm ein und verursachte Entzündungen und Nierenbeeinträchtigungen, die im Krankenhaus X stationär behandelt werden mussten. Erörtern Sie, ob ein Behandlungsfehler seitens Rudi Reich vorliegt. (Hinweis: Erläuterungen zur Arzthaftung finden Sie im Abschnitt 2.2.7). ➤ Lösungen im Web-Service. 2.2 Krankenhäuser ➤ Lernhinweis Die Erläuterungen im Abschnitt 2.2 werden Sie besser verstehen, wenn Sie die angegebenen Paragrafen der nachfolgenden Rechtsvorschriften parallel zum Lehrbuch lesen: 68 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="69"?> 72 AbGrV v. 12.12.1985, BGBl. I S.-2255, z. g. d. G. v. 21.7.2012, BGBl. I S.-1613. 73 AO v. 1.10.2002, BGBl. I S.-3866; 2003 I S.-61, z. g. d. G v. 5.10.2021, BGBl. I S.-4607. 74 BPflV v. 26.9.1994, BGBl. I S.-2750, z. g. d. G v. 23.10.2020, BGBl. I S.-2208. 75 GewO i. d. F. d. Bek. v. 22.2.1999, BGBl. I S.-202, z. g. d. G v. 10.8.2021, BGBl. I S.-3504. 76 KHEntgG v. 23.4.2002, BGBl. I S.-1412, 1422, z. g. d. G. v. 11.7.2021, BGBl. I S.-2754. 77 KHG i. d. F. d. Bek. v. 10.4.1991, BGBl. I S.-886, z. g. d. G. v. 11.7.2021, BGBl. I S.-2754. 78 MPDG v. 28.4.2020, BGBl. I S.-960, z. g. d. G. v. 12.5.2021, BGBl. I S.-1087. 79 MPBetreibV v. 29.6.1998 i. d. F. d. Bek. v. 21.8.2002, BGBl. I S. 3396, z. g. d. V. v. 21.4.2021, BGBl. I S.-833. 80 SGB I v. 11.12.1975, BGBl. I S.-3015, z. g. d. G. v. 20.8.2021, BGBl. I S.-3932. Abgrenzungsverordnung (AbGrV) 72 , Abgabenordnung (AO) 73 , Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), Bundespflegesatzverordnung (BPflV) 74 , Gewerbeordnung (GewO) 75 , Grundgesetz (GG), Krankenhausentgeltgesetz (KHEntgG) 76 , Kran‐ kenhausfinanzierungsgesetz (KHG) 77 , Medizinproduktedurchführungsgesetz (MPDG) 78 , Medizinprodukte-Betreiberverordnung (MPBetreibV) 79 , Sozialgesetz‐ buch 1. Buch (SGB I) 80 , 5. Buch (SGB V). 2.2.1 Einführung Im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung zwischen Bund und Ländern ist der Bund für die Sozialversicherung und die wirtschaftliche Sicherung der Krankenhäuser und die Regelung der Krankenhauspflegesätze zuständig (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12, 19a GG). Dies bedeutet für die Länder, dass sie die Befugnis zur Gesetzgebung nur solange und soweit haben, wie der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit nicht durch Gesetz Gebrauch gemacht hat (Art. 72 Abs. 1 GG). Von der Gesetzgebungskompetenz zur Ausgestaltung der gesetzlichen Krankenver‐ sicherung als Teil der Sozialversicherung hat der Bund vor allem durch Erlass des SGB V umfänglich Gebrauch gemacht. Die Krankenhausversorgung der gesetzlich versicherten Patienten wird insbesondere durch die §§ 39, 107 ff. SGB V geregelt. Im Hinblick auf die wirtschaftliche Sicherung der Krankenhäuser und das Pflege‐ satzrecht kann der Bund zum einen sein Gesetzgebungsrecht nur ausüben, wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich macht (Art. 72 Abs. 2 GG). Zum anderen folgt aus der Begrenzung auf die wirtschaftliche Förderung der Krankenhäuser, dass die Kompetenz zur gesetzlichen Regelung der Krankenhausplanung, -organisation, -aufsicht etc., soweit die wirtschaftliche Förderung nicht betroffen ist, nicht beim Bund, sondern bei den Ländern liegt. Deshalb gibt es neben den bundesrechtlichen Vorschriften - wie dem KHG, KHEntgG und der BPflV - Krankenhausgesetze der Länder. 2.2 Krankenhäuser 69 <?page no="70"?> 81 Gesetz zur Einführung des diagnose-orientierten Fallpauschalensystems für Krankenhäuser vom 23.4.2002, BGBl. I S.-1412. 82 Vgl. statt vieler: Schlichtner, Grundlagen des Medizinrechts, S. 136 f., Simon, Das Gesundheitssystem in Deutschland, S.-238. Krankenhäuser können unterschiedlich - nach ihrem Versorgungsgrad, ihrer Or‐ ganisationsstruktur und Trägerschaft sowie nach ihrem Zulassungsstatus in der gesetzlichen Krankenversicherung - klassifiziert werden: Versorgungsgrad Organisations‐ struktur Trägerschaft Zulassungsstatus in der gesetzli‐ chen Krankenver‐ sicherung Krankenhäuser der Grundversorgung - Krankenhäuser der Regelversorgung - Krankenhäuser der Schwerpunktver‐ sorgung - Krankenhäuser der Maximalversorgung Anstaltskranken‐ häuser - Belegkrankenhäuser - Praxiskliniken - Tageskliniken - Nachtkliniken private Kranken‐ häuser - freigemeinnützige Krankenhäuser - öffentliche Kranken‐ häuser Plankrankenhäuser - Hochschulkliniken - Vertragskranken‐ häuser Tabelle 4: Klassifizierung der Krankenhäuser Die Unterscheidung nach dem Versorgungsgrad geht auf § 23 Abs. 2 KHG zurück, der allerdings durch das Fallpauschalengesetz 81 aufgehoben worden ist. Die Kranken‐ häuser der Grundversorgung sind Orts- und Stadtkrankenhäuser, die der Versorgung der örtlichen Bevölkerung dienen und in der Regel über die Fachabteilungen der Inneren Medizin, Allgemeinchirurgie und Anästhesie verfügen. Darüber hinaus bieten (Kreis-)Krankenhäuser der Regelversorgung Leistungen der Gynäkologie und Geburts‐ hilfe, Hals-Nasen-Ohrenkunde, Augenheilkunde und Orthopädie an und dienen einer überörtlichen Versorgung. Die Krankenhäuser der Schwerpunktversorgung verfügen noch über weitere Fachabteilungen, wie z. B. Neurologie, Pädiatrie, und dienen der überregionalen Versorgung. Die Krankenhäuser der Maximalversorgung sind insbeson‐ dere die Hochschulkliniken. Sie bieten diagnostische und therapeutische Leistungen zahlreicher Fachrichtungen und sind in der Lage, schwere und seltene Erkrankungen zu behandeln. 82 Belegkrankenhäuser sind Einrichtungen, die niedergelassenen Vertragsärzten (sog. Belegärzten nach § 121 SGB V) ermöglichen, ihre Patienten teil- oder vollstationär zu behandeln. Sie stellen hierfür das nichtärztliche Personal, die Sachmittel, Unter‐ kunft und Verpflegung bereit. Dagegen verfügen Anstaltskrankenhäus er über eigenes ärztliches Personal für die Behandlung der Patienten. In der Praxis kommen in 70 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="71"?> 83 Vgl. statt vieler: Thomae/ Ratzel, Handbuch Medizinrecht, 31. Kapitel, Rn. 32 ff. der Regel Mischformen vor, und zwar in Form von Anstaltskrankenhäusern, die einzelne Belegabteilungen haben. Praxisklinik en sind Einrichtungen, die von mehreren Vertragsärzten (z. B. von einem Chirurgen, Internisten und Anästhesisten) betrieben werden und in denen die Patienten ambulant und stationär versorgt werden (§ 115 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 SGB V). Tages- und Nachtkliniken haben keine 24-stündigen Betriebszeiten. Die Patienten werden nur tagsüber oder nachts aufgenommen. Die Kliniken erbringen teilstationäre Leistungen, typischerweise in den Fachrichtungen der Geriatrie, Psychi‐ atrie und Schlafmedizin. 83 Private Krankenhäuser werden von natürlichen oder juristischen Personen oder Personengesellschaften getragen, die gewerbsmäßig tätig sind (vgl. Abschnitt 2.2.2). Öffentliche Trägerschaft bedeutet, dass die Krankenhäuser von einer juristischen Person des öffentlichen Rechts getragen werden. Dazu gehören die Krankenhäuser der Kommunen, Länder (z. B. Universitätskliniken) und des Bundes (z. B. Bundeswehr‐ krankenhäuser). Daneben gibt es Krankenhäuser anderer öffentlicher Träger, wie z. B. die berufsgenossenschaftlichen Unfallkrankenhäuser. Freigemeinnützige Kranken‐ häuser befinden sich in der Trägerschaft der kirchlichen und freien Wohlfahrtspflege, gemeinnützigen Stiftungen und Vereinen. Die Erläuterungen zu den Plankrankenhäusern, Hochschulkliniken und Vertragskran‐ kenhäuser n finden Sie im Abschnitt 2.2.3.2. 2.2.2 Notwendigkeit einer Gewerbeerlaubnis bei gewerbsmäßiger Tätigkeit Die Marktwirtschaft der Bundesrepublik wird u.-a. von der Gewerbefreiheit geprägt, die in § 1 GewO geregelt ist. Nach dieser Vorschrift darf grundsätzlich jeder gewerblich tätig sein. Dieser Grundsatz darf nur durch Gesetz oder auf der Basis einer gesetzlichen Grundlage eingeschränkt werden. Eine solche Einschränkung enthält § 30 GewO für bestimmte Krankenhäuser. § 30 GewO hat zwei Regelungsbereiche. § 30 Abs. 1 S. 1 GewO regelt, ob eine Erlaubnis notwendig ist. S. 2 regelt, ob die Erlaubnis erteilt wird. ✎ Aufgaben Der Facharzt Friedrich Fleißig und die Diplom-Kauffrau Kornelia Klug wollen ein Krankenhaus gründen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern und richtig reich zu werden. Sie gründen die Fleißig & Klug Klinik GmbH, die im Bereich der plastischen Chirurgie Operationen anbieten soll. Gutes Personal ist angeworben. Ein geeignetes Grundstück nebst Gebäude, in dem die Patienten nicht nur moderne Operationssäle und Behandlungsräume, sondern auch prächtige Krankenzimmer vorfinden, ist vorhanden. Für das leibliche Wohl 2.2 Krankenhäuser 71 <?page no="72"?> 84 Vgl. zu den Begriffen z. B. BVerwG, Urt. v. 18.10.1984, 1 C 36/ 83, NJW 1985, 1414; BayVGH, Urt. v. 8.11.2001, 22 B 01.1790, GewArch 2002, 74 ff.; Lässig, Beck´sches Wirtschaftsrechts-Handbuch, S. 685 f.; Marcks, Landmann/ Rohmer, GewO § 30 Rn. 6, 8-11. der Patienten soll eine hauseigene Küche sorgen. Benötigt die Fleißig & Klug Klinik GmbH eine Gewerbeerlaubnis? Begründen Sie Ihre Entscheidung. ➤ Lösungen im Web-Service. Eine Gewerbeerlaubnis ist notwendig, wenn die drei nachfolgend genannten Voraus‐ setzungen kumulativ vorliegen. Wenn dagegen eine Voraussetzung fehlt, ist die gewerbliche Tätigkeit nicht nach § 30 GewO zulassungspflichtig (ggf. aber nach einer anderen Vorschrift). ● Die Einrichtung ist als Privatkranken-, Privatentbindungsanstalt oder Privatnerven‐ klinik zu qualifizieren. Diese Begriffe entsprechen nicht mehr unserem heutigen Sprachgebrauch. Anstelle einer Privatkrankenanstalt sind heute die Begriffe der Privatklinik oder des privaten Krankenhauses gebräuchlich, die sowohl die soma‐ tischen als auch die psychiatrischen Fachrichtungen (also die Privatnervenklinik) einschließen. Die Privatentbindungsanstalt wird aktuell als Geburtshaus bezeich‐ net. Die gesetzlichen Begriffe erklären sich aus dem Alter der GewO, deren erste Fassung bereits im Jahre 1869 erlassen wurde. ● Es ist ein Unternehmer tätig. ● Es handelt sich um eine gewerbsmäßige Tätigkeit. Die drei genannten Voraussetzungen werden im Gesetzestext nicht erläutert. Sie werden von der Rechtsprechung und Literatur wie folgt verstanden: ❋ Wissen │ Privatkranken-, Privatentbindungsanstalt und Privatnerven‐ klinik 84 Die Privatkrankenanstalt erbringt ärztliche Dienstleistungen zur Behandlung einer Krankheit oder gesundheitlichen Schwächung oder zur kosmetischen Behandlung. Ferner ist sie durch eine stationäre Aufnahme der Patienten geprägt. Das bedeutet, dass die Versorgung der Patienten Unterbringungs- und Verpflegungsleistungen einschließt. Die Privatnervenklinik ist eine Form einer Privatkrankenanstalt, in der Patienten mit geistigen und seelischen Erkrankungen behandelt werden. Die Privatentbindungsanstalt erbringt Leistungen eines Entbindungspflegers oder Arztes zur Geburtshilfe. Sie ist darauf ausgerichtet, Schwangere bzw. Wöchne‐ rinnen stationär aufzunehmen, so dass sie ebenfalls über Unterbringungs- und Verpflegungsmöglichkeiten verfügen muss. 72 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="73"?> 85 Vgl. zum Begriff z.-B. Marcks, Landmann/ Rohmer, GewO § 30 Rn. 5. 86 Vgl. zum Begriff z.-B. Marcks, Landmann/ Rohmer, GewO § 14 Rn. 13. 87 Vgl. Marcks, Landmann/ Rohmer, Gewerbeordnung, GewO § 35 Rn. 29. Die stationäre Aufnahme von Personen ist für alle drei Einrichtungen wesentliches Merkmal, so dass ambulante Versorgungsformen nicht nach § 30 GewO erlaubnis‐ pflichtig sind. Aus dem Wortteil „Privat“ folgt, dass Einrichtungen in öffentlich-rechtlicher Trägerschaft der Gemeinden, Länder, Krankenkassen etc. von dem Begriff nicht erfasst werden. Im Übrigen fehlt diesen Trägern in der Regel ebenso die Gewin‐ nerzielungsabsicht, so dass auch das dritte Merkmal der gewerbsmäßigen Tätigkeit nicht erfüllt ist. ❋ Wissen │ Unternehmer 85 Als Unternehmer gilt derjenige, in dessen Namen und Verantwortung sowie auf dessen Rechnung die Klinik oder Anstalt am Wirtschaftsverkehr teilnimmt. Auf die Eigentumsverhältnisse am Gebäude und Grundstück oder an den Einrichtungs‐ genständen kommt es dabei nicht an. Vom Unternehmer zu unterscheiden sind die Angestellten, die nicht im eigenen Namen tätig werden, und somit keine Erlaubnis nach § 30 GewO einholen müssen. ❋ Wissen │ gewerbsmäßige Tätigkeit 86 Eine gewerbsmäßige Tätigkeit ist eine auf Dauer angelegte, selbständige Tätigkeit mit Gewinnerzielungsabsicht, die nicht sozial unwertig ist. Diese dritte Vorausset‐ zung ist dem Wortlaut des § 30 Abs. 1 GewO nicht zu entnehmen. Sie ist jedoch als ungeschriebenes Merkmal hineinzulesen, weil die GewO nur auf derartige Tätigkeiten Anwendung findet. Wenn insbesondere die Gewinnerzielungsabsicht fehlt - wie es bei den kirchlichen oder kommunalen Krankenhäusern der Fall ist - liegt keine gewerbsmäßige Tätigkeit vor, so dass es für den Betrieb der Anstalt oder Klinik keiner Gewerbeerlaubnis bedarf. Wenn die gewerbliche Tätigkeit erlaubnispflichtig ist, so ist die Gewerbeerlaubnis zu erteilen, wenn ihr weder § 35 noch § 30 Abs. 1 S.-2 GewO entgegenstehen. Nach § 35 Abs. 1 GewO ist der Betrieb eines privaten Krankenhauses zu untersagen, wenn der Unternehmer oder einer mit der Leitung des Krankenhauses beauftragte Person unzuverlässig ist und die Untersagung zum Schutz der Allgemeinheit (z. B. Leben und Gesundheit der Patienten) oder der im Betrieb Beschäftigten erforderlich ist. Unzuverlässig ist, wer nicht willens und nicht in der Lage ist, sein Gewerbe ordnungsgemäß nach Recht und Gesetz auszuüben. 87 Insoweit muss die zuständige Behörde eine Prognoseentscheidung anhand zurückliegender Tatsachen, wie z. B. ein‐ schlägige strafrechtliche Verurteilungen, vorenthaltene Sozialversicherungsabgaben oder Steuerschulden, treffen. Ferner darf kein Versagungsgrund gem. § 30 Abs. 1 S.-2 GewO vorliegen: 2.2 Krankenhäuser 73 <?page no="74"?> 88 In Niedersachsen sind die Landkreise, kreisfreien Städte, die großen selbständigen Städte sowie die selbständigen Gemeinden zuständig (vgl. § 1 i. V. m. Anlage 1 ZustVO-Wirtschaft v. 18.11.2004, Nds. GVBl. S.-482 z. g. d. G v. 26.1.2022, Nds. GVBl. S.-36. ● Es liegen Tatsachen dafür vor, dass der Unternehmer im Hinblick auf die Leitung und Verwaltung des Kranken- oder Geburtshauses unzuverlässig ist. (Hier ist der Begriff der Unzuverlässigkeit enger, er bezieht sich nur auf die Leitung und Verwaltung.) ● Es liegen Tatsachen vor, die eine ausreichende medizinische und pflegerische Versorgung der Patienten als nicht gewährleistet erscheinen lassen. ● Die baulichen und sonstigen technischen Einrichtungen des Kranken- oder Ge‐ burtshauses entsprechen nicht den gesundheitspolizeilichen Anforderungen. ● Das Kranken- oder Geburtshaus soll in einem Gebäude betrieben werden, in dem auch andere Personen wohnen, und diese Personen können erhebliche Nachteile oder Gefahren durch die Einrichtung erleiden. ● Das Krankenhaus, das für Patienten mit ansteckenden oder psychischen Krank‐ heiten bestimmt ist, kann durch seine Lage für die Eigentümer oder Bewohner der benachbarten Grundstücke zu erheblichen Nachteilen oder Gefahren führen. Für die Ablehnung der Gewerbeerlaubnis genügt es, dass einer dieser fünf Gründe zu bejahen ist. Wenn indes keiner dieser Versagungsgründe erfüllt ist und keine Anhaltspunkte für eine Unzuverlässigkeit des Unternehmers oder der Unternehmens‐ leitung vorhanden sind, muss die zuständige Behörde die Erlaubnis zum Betrieb des Krankenhauses oder des Geburtshauses erteilen. Sie hat in diesem Fall keinen Ermessensspielraum für eine ablehnende Entscheidung. Wer die zuständige Behörde ist, regelt § 30 GewO nicht. Die GewO gehört zu den Bundesgesetzen, die die Bundesländer ausführen, so dass diese jeweils für ihr Gebiet regeln, welche Behörde die Entscheidungen nach der GewO trifft. 88 Die Gewerbeerlaubnis gilt ● personenbezogen (d. h. für eine bestimmte natürliche, juristische Person oder rechtsfähige Personengesellschaft), ● raumbezogen (d.-h. für ein bestimmtes Gebäude und Grundstück) und ● betriebsartbezogen (d. h. für die Einrichtungsart als Krankenhaus einer bestimmten medizinischen Fachrichtung oder als Entbindungsanstalt). Wesentliche Änderungen - z. B. ein Rechtsformwechsel des Unternehmens oder ein Umzug in ein anderes Gebäude - führen zum Erlöschen der Erlaubnis, so dass diese neu beantragt werden muss. Ferner erlischt die Erlaubnis gem. § 49 GewO, wenn von ihr innerhalb eines Jahres kein Gebrauch gemacht worden ist. Die Jahresfrist kann seitens der zuständigen Behörde aus wichtigem Grund, beispielsweise unverschuldete Bauverzögerungen, verlängert werden (vgl. § 49 GewO). Wenn der Unternehmer sein Kranken- oder Geburtshaus ohne die erforderliche Gewerbeerlaubnis betreibt, weil 74 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="75"?> 89 Verwaltungsverfahrensgesetz i. d. F. d. Bek. v. 23.1.2003, BGBl. I S. 102, z. g. d. G. v. 4.5.2021, BGBl. I S.-882. ● er die Erlaubnis nicht beantragt hat oder sie ihm versagt worden ist, ● die Erlaubnis erloschen ist oder ● die Erlaubnis gem. §§ 48, 49 VwVfG 89 aufgehoben worden ist, muss er mit gewerberechtlichen und strafrechtlichen Konsequenzen rechnen. Die zuständige Behörde kann eine Verbots- und Schließungsverfügung gem. § 15 Abs. 2 GewO erlassen, die für den Unternehmer bedeutet, dass er seine Tätigkeit beenden und seine Einrichtung schließen muss. Wenn der Unternehmer nicht freiwillig der Verfügung nachkommt, kann diese behördlicherseits mit Vollstreckungsmaßnahmen durchgesetzt werden. ➤ Beispiel Wilhelm Wichtig ist Inhaber und Leiter einer Privatklinik. Als Arzt ist er eine internationale Koryphäe in der schonenden Schlüsselloch-Chirurgie. Seit einigen Jahren stellte er aus purem Gewinnstreben falsche Diagnosen und führte unnötige Operationen durch. Er ist rechtskräftig verurteilt, in 60 Fällen eine vorsätzliche Körperverletzung begangen zu haben. In weiteren fünf Fällen hatte die Körper‐ verletzung wegen eines ärztlichen „Kunstfehlers“ den Tod der Patienten zur Folge, so dass er wegen Körperverletzung mit Todesfolge verurteilt ist. Die zuständige Behörde widerruft gem. § 49 II VwVfG seine Gewerbeerlaubnis für den Betrieb der Privatklinik und erlässt zugleich eine Verbots- und Schließungs‐ verfügung nach § 15 Abs. 2 GewO. Wenn der Unternehmer das Kranken- oder Geburtshaus fahrlässig oder vorsätzlich ohne die erforderliche Gewerbeerlaubnis betreibt, so handelt es sich dabei um eine Ordnungswidrigkeit, die mit einer Geldbuße bis zu 5.000,- Euro geahndet werden kann (§ 144 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b, Abs. 4 2.Hs GewO). Die beharrliche Wiederholung der erlaubnislosen Tätigkeit stellt eine Straftat dar, die mit Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr gesetzlich sanktioniert ist (§ 148 Nr.-1 GewO). 2.2.3 Leistungserbringung im System der gesetzlichen Krankenversicherung - 2.2.3.1 Krankenhausbegriff § 107 Abs. 1 SGB V enthält eine Legaldefinition des Krankenhauses für die Anwendung des SGB V und damit für die Leistungserbringung im System der gesetzlichen Kran‐ kenversicherung. 2.2 Krankenhäuser 75 <?page no="76"?> 90 Vgl. BSG, Urt. v. 28.1.2009, B 6 KA 61/ 07 R, BeckRS 2009, 66418. ➤ Lernhinweis Lesen Sie die Definition in § 107 Abs. 1 SGB V! Der Krankenhausbegriff erfasst auch Tages- und Nachtkliniken, die ausschließlich teilstationäre Leistungen erbringen. Die jederzeitige Verfügbarkeit des Personals und die Unterbringung der Patienten werden insoweit nicht rund um die Uhr, sondern nur für die Betriebszeiten der Klinik verlangt. 90 Der Begriff in § 107 Abs. 1 SGB V hat mit dem der Privatkrankenanstalt gem. § 30 GewO sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede. Beiden gemein ist das stationäre Element, also die Unterbringungs- und Verpflegungsmöglichkeit des Patienten. Wesentlicher Unterschied ist zum einen, dass vom Krankenhausbegriff des SGB V nur Einrichtungen erfasst werden, die der Krankenbehandlung dienen. Dagegen können Privatkrankenanstalten auch kosmetische Operationen anbieten. Zum anderen verlangt § 107 Abs. 1 SGB V das Arbeiten nach wissenschaftlich anerkannten Methoden (sog. Schulmedizin), währenddessen für eine Privatkrankenanstalt gesetzlich kein bestimmtes Methodenspektrum vorgegeben ist. Die Bedeutung des Krankenhausbegriffs liegt vor allem darin, dass ein Krankenhaus zur Versorgung der gesetzlich Versicherten nur zugelassen werden kann, wenn es die in § 107 Abs. 1 SGB V normierten Merkmale erfüllt. - 2.2.3.2 Zulassung eines Krankenhauses zur Behandlung gesetzlich Versicherter Gem. § 108 SGB V muss die Krankenhausbehandlung der gesetzlich Versicherten in einer der drei zugelassenen Krankenhausarten erfolgen: zugelassene Krankenhäuser (§ 108 SGB V) Hochschulkliniken (§ 108 Nr. 1 SGB V) Vertragskrankenhäuser (§ 108 Nr. 3 SGB V) Plankrankenhäuser (§ 108 Nr. 2 SGB V) Abbildung 12: Zugelassene Krankenhäuser gem. § 108 SGB V 76 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="77"?> 91 Vgl. z. B. Krankenhausplan des Landes Niedersachsen, https: / / www.ms.niedersachsen.de/ startseite/ gesun dheit_pflege/ gesundheit/ krankenhauser/ krankenhausplanung/ krankenhausplanung-14156.html (Abruf am 12.5.2022). 92 Ständige Rechtsprechung des BVerwG, vgl. z. B. BVerwG, Urt. v. 25.7.1985, 3 C 25.84, BVerwGE 72, 38 ff. [46 ff.]. Die Zulassung als Plankrankenhaus setzt ● die Aufnahme des Krankenhauses in den Krankenhausplan des jeweiligen Bun‐ deslandes 91 und ● einen Feststellungsbescheid der zuständigen Behörde über die Aufnahme in den Krankenhausplan (§ 8 Abs. 1 S.-3 KHG) voraus. ❋ Wissen │ Krankenhausplan Bei dem Krankenhausplan handelt es sich um eine behördeninterne Analyse des zu versorgenden Bedarfs der Bevölkerung eines Bundeslandes mit Krankenhaus‐ leistungen. Es werden die Anzahl der (vollstationären) Betten und (teilstationären) Plätze je medizinischer Fachrichtung (z. B. Allgemeinmedizin, Orthopädie) geplant. Für die Einteilung der Fachrichtungen orientiert sich die Planungsbehörde in der Regel an der ärztlichen Weiterbildungsordnung des jeweiligen Bundeslandes. Sie ist an die Weiterbildungsordnung jedoch nicht gebunden und kann eine abweichende Klassifikation vornehmen. Die behördliche Zuständigkeit für die Aufstellung des Plans regeln die Bundesländer. Der Krankenhausplan wird jährlich fortgeschrieben. Nach der Rechtsprechung des BVerwG 92 hat die Aufstellung bzw. Fortschreibung des Krankenhausplans zweistufig zu erfolgen: 1. Stufe: Zunächst sind alle für die bedarfsgerechte Versorgung der Bevölkerung in Betracht kommenden leistungsfähigen und wirtschaftlichen Krankenhäuser (konkret deren Betten je Fachrichtung) zu ermitteln. Der Versorgungsbedarf wird anhand verschiedener Faktoren, wie z. B. Größe und Struktur der Bevölkerung, Kranken‐ haushäufigkeit, Verweildauer im Krankenhaus, Bettennutzungsgrad und ambulante Behandlungsmöglichkeiten, bestimmt. Die zu berücksichtigenden Krankenhäuser müssen leistungsfähig und wirtschaftlich sein. Insoweit wird von den Krankenhausträgern verlangt, dass sie mit ihren perso‐ nellen, räumlichen sowie medizinisch-technischen Ressourcen in der Lage sind, die Patienten dauerhaft nach dem anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu versorgen. Für die Beurteilung sind insbesondere die Bettenzahl der jeweiligen Fachabteilung sowie die dazu passende Zahl und Qualifikation des ärztlichen und nichtärztlichen Personals von Bedeutung. Das Merkmal der Wirtschaftlichkeit zielte vor der Einführung des DRG-Systems darauf ab, die Höhe der Pflegesätze der einzelnen Krankenhäuser bei der Planung zu berücksichtigen. Durch die einheitlichen Fallpau‐ schalen ist das wirtschaftliche Risiko stärker auf die Krankenhausträger verlagert 2.2 Krankenhäuser 77 <?page no="78"?> 93 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 4.3.2004, 1 BvR 88/ 00, NJW 2004, 1648 ff. [1649]. 94 Richtlinie zu planungsrelevanten Qualitätsindikatoren gemäß § 136 Abs. 1 SGB V i. V. m. § 136c Abs. 1 und Abs. 2 SGB V1 vom 5.12.2016, BAnz AT 23.03.2017 B2, z. g. a. 17.6.2021, BAnz AT 21.07.2021 B1. 95 Vgl. OVG Niedersachsen, Beschl. v. 28.4.2014, 13 ME 170/ 13, BeckRS 2014, 50821. 96 Vgl. Thüringer OVG, Urt. v. 25.9.2006, 2 KO 73/ 05, BeckRS 2007, 20557. 97 Vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 25.1.2011, 13 B 1712/ 10, MedR 2011, 674 ff. worden, so dass dem Kriterium der Wirtschaftlichkeit mittlerweile eine geringere Bedeutung zukommt. Es ermöglicht jedoch der Planungsbehörde, sparsam wirtschaf‐ tende Krankenhausträger, die sich neu um eine Planaufnahme bewerben, gegenüber vorhandenen teureren Planbetten vorzuziehen, um vorhandene Kostenstrukturen nicht zu zementieren. 93 Wenn der Krankenhausplan planungsrelevante Qualitätsindikatoren oder andere Qualitätsvorgaben für die Krankenhausbehandlung enthält, so müssen diese vom Krankenhaus erfüllt werden. Andernfalls kann das Krankenhaus nicht in den Kran‐ kenhausplan aufgenommen werden (§ 8 Abs. 1a KHG). Die planungsrelevanten Qualitätsindikatoren werden gemäß § 136c Absatz 1 SGB V vom GBA beschlossen. Bislang sind Qualitätsindikatoren für gynäkologische Operationen, Geburtshilfe und Mammachirurgie beschlossen worden. 94 Die Relevanz der Qualitätsindikatoren für die Krankenhausplanung ist jedoch von einer entsprechenden Entscheidung des Landesgesetzgebers gem. § 6 Abs. 1a KHG abhängig. 2. Stufe: Nach der Bestimmung des Versorgungsbedarfs und der vorhandenen Betten in den leistungsfähigen und wirtschaftlichen Krankenhäusern sind beide mit‐ einander zu vergleichen. Wenn die Gesamtbettenzahl in den Krankenhäusern die benötigte Bettenzahl nicht übersteigt, hat jedes Krankenhaus einen Anspruch auf die Aufnahme seiner Betten in den Krankenhausplan. Wenn dagegen die Gesamtbettenzahl die Zahl der benötigten Betten übersteigt, muss die Behörde eine Auswahlentscheidung im pflichtgemäßen Ermessen treffen. Die gesetzlichen Kriterien für diese Auswahl sind die öffentlichen Interessen und die Trägervielfalt, die jedoch unter dem Vorbehalt der gleichwertigen Qualität steht (§ 8 Abs. 2 S. 2 KHG). Zu den öffentlichen Interessen gehören beispielsweise die wohnort‐ nahe Versorgung der Bevölkerung 95 , Vermeidung von Fehlinvestitionen öffentlicher Fördergelder 96 , höhere Auslastung eines Krankenhauses 97 . Mit der geforderten Träger‐ vielfalt soll gewährleistet werden, dass für die Versorgung der Bevölkerung öffentliche (z. B. der Gemeinden), freigemeinnützige (z. B. der Träger der kirchlichen oder freien Wohlfahrtspflege) und private Krankenhäuser (mit gewerblicher Konzession gem. § 30 GewO) vorhanden sind. Die Auswahl kann zu verschiedenen Ergebnissen führen, z. B. zur Schließung einer Fachabteilung eines Krankenhauses oder zur Reduzierung einiger Betten in den Fachabteilungen aller Krankenhäuser. Da es sich bei dem Krankenhausplan um eine behördeninterne Analyse ohne unmittelbare Wirkung gegenüber den Krankenhäusern handelt, muss die Aufnahme oder Nichtaufnahme der Krankenhausbetten durch einen Bescheid festgestellt werden 78 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="79"?> (§ 8 Abs. 1 S. 3 KHG). Soweit dieser Bescheid die Aufnahme von Krankenhausbetten in den Krankenhausplan feststellt, hat er folgende Wirkungen: ● Der Feststellungsbescheid fingiert einen Versorgungsvertrag zwischen dem Plan‐ krankenhaus einerseits und den Landesverbänden der Krankenkassen und den Ersatzkassen andererseits (§ 109 Abs. 1 S.-2 SGB V). ● Gem. § 109 Abs. 1 S. 3 SGB V ist dieser nicht ausgehandelte, aber fingierte Versorgungsvertrag für alle Krankenkassen im gesamten Bundesgebiet (nicht nur für das Bundesland, für den der Krankenhausplan aufgestellt ist) verbindlich. ● Das Krankenhaus ist, solange der Feststellungsbescheid gilt, berechtigt, die gesetz‐ lich Versicherten zu behandeln (§ 109 Abs. 4 S.-1 SGB V). ● Gem. § 109 Abs. 4 S. 2 SGB V ist das Krankenhaus, solange der Feststellungsbe‐ scheid gilt, verpflichtet, die gesetzlich Versicherten im Rahmen des Versorgungs‐ auftrages zu behandeln (vgl. zum Versorgungsauftrag Abschnitt 2.2.3.6). ● Gem. § 109 Abs. 4 S. 3 SGB V sind die Krankenkassen verpflichtet, die regelkon‐ forme voll- oder teilstationäre Krankenhausbehandlung zu vergüten (vgl. dazu Abschnitt 2.2.3.6). Die Zulassung eines Krankenhauses als Hochschulklinik setzt eine entsprechende An‐ erkennung in landesrechtlichen Vorschriften, z. B. in einem Hochschulgesetz, voraus. Diese landesrechtliche Anerkennung entfaltet für die Hochschulklinik ebenfalls die Wirkungen des § 109 Abs. 1 S. 2, 3, Abs. 4 SGB V, die der Feststellungsbescheid für ein Plankrankenhaus hat (vgl. vorstehende Aufzählung). Die Hochschulkliniken werden regelmäßig auch im Krankenhausplan ausgewiesen, soweit sie der Versorgung der Bevölkerung mit Krankenhausleistungen dienen. Gleichwohl begründet nicht diese Planaufnahme, sondern die landesrechtliche Anerkennung den Zulassungsstatus einer Hochschulklinik. Die dritte Gruppe der zugelassenen Krankenhäuser sind die Vertragskrankenhäuser , die keinen fingierten, sondern einen ausgehandelten Versorgungsvertrag abgeschlos‐ sen haben. ❋ Wissen │ Versorgungsvertrag der Vertragskrankenhäuser Für den Versorgungsvertrag der Vertragskrankenhäuser gelten folgende Parame‐ ter: Vertragspartner: Krankenhausträger sowie Landesverbände der Krankenkassen und Ersatzkassen gemeinsam (§ 109 Abs. 1 S.-1 SGB V) Form: Schriftform (§ 109 Abs. 1 S.-1 SGB V) Voraussetzungen für den Vertragsschluss: Das Krankenhaus muss die in § 107 Abs. 1 SGB V gesetzlich vorgegebenen Merkmale eines Krankenhauses erfüllen (z. B. die ständige ärztliche Leitung). Gem. § 109 Abs. 3 SGB V darf der Versorgungs‐ vertrag nur abgeschlossen werden, wenn das Krankenhaus leistungsfähig und wirtschaftlich ist sowie die planungsrelevanten Qualitätsindikatoren erfüllt (vgl. 2.2 Krankenhäuser 79 <?page no="80"?> 98 Vgl. BSG, Urt. v. 24.1.2008, B 3 KR 17/ 07 R, BeckRS 2008, 52040. 99 Vgl. Gesetz zur wirtschaftlichen Sicherung der Krankenhäuser und zur Regelung der Krankenhaus‐ pflegesätze (KHG) v. 29.6.1972, BGBl. I S.-1009. 100 Bis zum Inkrafttreten des Krankenhaus-Neuordnungsgesetzes vom 20.12.1984, BGBl. I S. 1716 bestand eine Mischfinanzierung von Bund und Ländern. diesbezügliche Ausführungen zu den Plankrankenhäusern). Ferner muss ein Bedarf für die Leistungserbringung durch das Vertragskrankenhaus bestehen. Im Hinblick auf den Bedarf gilt es zu beachten, dass die Krankenhausplanung bereits auf eine bedarfsgerechte Versorgung der Bevölkerung mit Krankenhausleistungen abzielt (vgl. § 1 KHG). Daraus folgt, dass die Vertragskrankenhäuser das Angebot der Plankrankenhäuser lediglich ergänzen. Diesen Vorrang der Krankenhausplanung haben die Landesverbände der Krankenkassen und die Ersatzkassen zu beachten. Sie dürfen nicht unabhängig von der staatlichen Planung agieren. Wenn das Bettenangebot der zu berücksichtigenden Krankenhäuser, die sich um einen Versorgungsvertrag bewerben, den Bedarf nicht übersteigt, so haben alle Krankenhäuser Anspruch auf Abschluss eines Versorgungsvertrages. Wenn dagegen das Angebot den Bedarf übersteigt, haben die Landesverbände der Kran‐ kenkassen und die Ersatzkassen gemeinsam gem. § 109 Abs. 2 SGB V eine Auswahl‐ entscheidung im pflichtgemäßen Ermessen zu treffen. Die dafür vorgesehenen Kriterien sind die öffentlichen Interessen und die Trägervielfalt (vgl. diesbezügliche Erläuterungen zu den Plankrankenhäusern). Mindestinhalt des Vertrages: Der Vertrag muss mindestens den Versorgungs‐ auftrag, also die Bettenzahl der jeweiligen medizinischen Fachrichtung(en), bein‐ halten. 98 Zusätzliche Wirksamkeitsvoraussetzung: Der Vertrag wird erst durch die Genehmigung der Behörde, die den Krankenhausplan aufstellt, wirksam (§ 109 Abs. 3 S. 1 SGB V). Damit soll der Vorrang der Krankenhausplanung gewährleistet werden. Wirkungen des Vertrages: Der Vertragsschluss hat die bereits oben bei den Plan‐ krankenhäusern beschriebenen Wirkungen des § 109 Abs. 1 S.-3, Abs. 4 SGB V. Die Zulassung eines Krankenhauses zur Versorgung der gesetzlich Versicherten endet durch Kündigung des (fingierten oder ausgehandelten) Versorgungsvertrages sowie beim Plankrankenhaus durch Aufhebung des Feststellungsbescheides (§-110 SGB V). - 2.2.3.3 Investitionsförderung zugelassener Krankenhäuser 1972 erfolgte ein Wechsel von der monistischen zur dualen Finanzierungder Kranken‐ häuser. 99 Das bedeutet, dass die Investitionskosten im Wege der staatlichen Förderung durch die Bundesländer 100 und die laufenden Betriebskosten durch die von den Patien‐ ten bzw. Krankenkassen zu zahlenden Pflegesätze finanziert werden (§ 4 KHG). Die Grundsätze der Investitionsförderung enthält das Krankenhausfinanzierungsgesetz 80 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="81"?> 101 Niedersächsisches Krankenhausgesetz v. 19.1.2012, Nds. GVBl. S. 21065, z. g. d. G. v. 28.4.2021, Nds. GVBl. S.-244. (KHG), das vom Bund auf der Grundlage des Art. 74 Abs. 1 Nr. 19a GG erlassen worden ist. Die Ausgestaltung der Grundsätze erfolgt durch die Gesetze der einzelnen Bundesländer, z.-B. durch das Niedersächsische Krankenhausgesetz. 101 Für die Anwendung des KHG ist weder der Krankenhausbegriff der GewO noch der des SGB V maßgeblich. Für die wirtschaftliche Förderung stellt das KHG auf folgendes Begriffsverständnis ab: Als Krankenhäuser im Sinne des KHG gelten Einrichtungen, in denen durch ärztliche und pflegerische Hilfeleistung Krankheiten, Leiden oder Kör‐ perschäden festgestellt, geheilt oder gelindert werden sollen oder Geburtshilfe geleistet wird und in denen die zu versorgenden Personen untergebracht und verpflegt werden können (§ 2 Nr. 1 KHG). Dieser Krankenhausbegriff ist weiter als der nach § 107 Abs. 1 SGB V. Er schließt beispielsweise auch Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen ein, die nach dem SGB V keine Krankenhäuser sind. Der weite Krankenhausbegriff wird jedoch von einschränkenden Paragrafen begleitet, die bestimmte Krankenhäuser von der Investitionsförderung ausschließen, auch wenn sie ein Krankenhaus im Sinne des § 2 Nr. 1 KHG sind. So sind gem. § 5 KHG Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen, (Privat-)Kliniken, die mehr als 60 % selbstzahlende Patienten behandeln, und weitere Krankenhäuser von der Investitionsförderung kraft Gesetzes ausgeschlossen. Ferner gibt es Krankenhäuser, auf die das KHG - wie z. B. Polizeikrankenhäuser oder Krankenhäuser des Straf- und Maßregelvollzugs - keine Anwendung findet (vgl. § 3 KHG). Einen Anspruch auf Investitionsförderung hat ein Krankenhaus nur, soweit und solange es im Krankenhausplan oder bei einer geplanten Errichtung im Investitions‐ programm des Landes aufgenommen worden ist (§ 8 Abs. 1 KHG). Die Aufnahmeent‐ scheidung trifft die zuständige Landesbehörde im pflichtgemäßen Ermessen (§ 8 Abs. 2 KHG). Die Investitionskosten werden in § 2 Nr. 2, 3 KHG definiert. Die dortige Terminologie ist etwas ungenau, weil Wirtschafts-, Anlage- und Verbrauchsgüter vermengt werden. Aus dem Zusammenspiel mit den §§ 9, 17 Abs. 4, 4b KHG sowie der Abgrenzungsver‐ ordnung (zur Abgrenzung der Investitionskosten und der pflegesatzfähigen Kosten) lassen sich die Investitionskosten allgemein wie folgt beschreiben: ❋ Wissen │ Investitionskosten Investitionskosten umfassen: ● Kosten der Errichtung (Neubau, Umbau, Erweiterungsbau) von Krankenhäu‐ sern sowie der Erstausstattung mit den für den Krankenhausbetrieb notwen‐ digen Anlagegütern, inkl. Finanzierungs- und Kapitalkosten, 2.2 Krankenhäuser 81 <?page no="82"?> 102 Vgl. Stollmann, Quaas, Dietz, Krankenhausfinanzierungsgesetz, § 9 KHG Anm. III. 1. ● Kosten der Erstbeschaffung der zum Krankenhaus gehörenden Anlagegüter außerhalb der vorgenannten Errichtung, inkl. Finanzierungs- und Kapitalkos‐ ten sowie Nutzungsentgelten, ● Kosten der Wiederbeschaffung der Anlagegüter bei einer durchschnittlichen Nutzungsdauer von über drei Jahren (ohne abnutzbare bewegliche, selbständig nutzbare Anlagegüter mit Anschaffungs- oder Herstellungskosten bis zu 150,- Euro netto), inkl. Finanzierungs- und Kapitalkosten sowie Nutzungsentgelten, ● Kosten zur Erhaltung oder Wiederherstellung von Anlagegütern dergestalt, dass das Gut in seiner Substanz wesentlich ergänzt oder vermehrt, in seinem Wesen erheblich verändert, seine Nutzungsdauer wesentlich verlängert oder über seinen bisherigen Zustand hinaus deutlich verbessert wird. 102 Im Hinblick auf die Investitionskosten gehören die verbundenen Ausbildungsstät‐ ten gem. § 2 Nr. 1a KHG in der Trägerschaft des Krankenhauses (z. B. Kranken‐ pflegeschulen) ebenfalls zum Krankenhaus. Die Kosten (inkl. Finanzierungskosten) des Grundstücks, des Grundstückserwerbs und der Grundstückserschließung stellen keine Investitionskosten im Sinne des Gesetzes dar. Die Investitionsförderung gibt es in den Formen der Pauschal- und Einzelförderung. Mit jährlichen Pauschalbeträgen werden die Wiederbeschaffung kurzfristiger Anlage‐ güter und kleine bauliche Maßnahmen gefördert (§ 9 Abs. 3 KHG). Die Höhe der Pauschalen wird in landesrechtlichen Gesetzen oder Verordnungen geregelt. Dabei orientiert sich die Höhe beispielsweise an der Anzahl der Betten im Krankenhaus‐ plan oder an den Fallzahlen des Krankenhauses. Maßnahmen mit einem höheren finanziellen Aufwand, wie z. B. Neubau eines Krankenhauses oder die Sanierung der OP-Säle, werden im Wege der Einzelförderung vollständig oder teilweise durch die Bundesländer finanziert. Für eine solche Förderung stellen die Bundesländer Investi‐ tionsprogramme auf (§ 6 Abs. 1 KHG). Die Details der Einzel- oder Pauschalförderung, wie z. B. Fördervoraussetzungen und -höhe, Verfahrensfragen, werden in den Gesetzen der Bundesländer geregelt. - 2.2.3.4 Arten und Umfang der Krankenhausbehandlung Die Krankenhausbehandlung umfasst lt. § 39 Abs. 1 S. 3 SGB V alle Leistungen, die im Einzelfall nach Art und Schwere der Krankheit für die medizinische Versorgung der Versicherten im Krankenhaus notwendig sind, insbesondere ärztliche Behandlung, Krankenpflege, Versorgung mit Arznei-, Heil- und Hilfsmitteln, Unterkunft und Ver‐ pflegung. Sie wird in drei Arten eingeteilt: 82 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="83"?> 103 Vgl. BSG, Urt. v. 4.3.2004, B 3 KR 4/ 03 R, NZS 2005, 93 ff. [96]. 104 Vgl. BSG, Urt. v. 19.9.2013, B 3 KR 34/ 12 R, BeckRS 2014, 65251 Rn. 13. 105 Vgl. BSG, Urt. v. 19.9.2013, a.-a.-O. Rn 15. 106 Vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 31.1.2007, L 9 KR 1168/ 05, BeckRS 2007, 44159. Arten der Krankenhausbehandlung (§ 39 Abs. 1 S. 1 SGB V) ambulant teilstationär vollstationär Abbildung 13: Arten der Krankenhausbehandlung Die Arten der Krankenhausbehandlung lassen sich wie folgt voneinander abgrenzen: ❋ Wissen │ Behandlungen Die ambulante Behandlung ist zeitlich begrenzt und dadurch gekennzeichnet, dass der Patient die Nacht vor und nach dem Eingriff nicht im Krankenhaus verbringt. 103 Bei einer vollstationären Behandlung wird der Patient für mindestens einen Tag und eine Nacht in das spezifische Versorgungssystem des Krankenhauses einge‐ gliedert, das durch die ständige ärztliche Leitung, das jederzeit verfügbare Personal, die Möglichkeit der Unterbringung und Verpflegung sowie durch die apparative Mindestausstattung geprägt ist. 104 Wenn eine ambulant geplante Behandlung z. B. wegen Komplikationen über die Nacht hinaus verlängert wird, so wandelt sich die ambulante in eine vollstationäre Behandlung um. 105 Die teilstationäre Behandlung hat vor allem Bedeutung in der Geriatrie und Psychiatrie. Sie ist wie die vollstationäre Behandlung dadurch gekennzeichnet, dass der Einsatz der besonderen Mittel des Krankenhauses nötig ist. Mit einer ambulanten Leistung hat sie gemein, dass sie zeitlich begrenzt ist, entweder tagsüber oder nachts. Jedoch erfolgt die Behandlung nicht nur einmalig, sondern einem Behandlungsplan entsprechend über einen längeren Zeitraum in regelmä‐ ßigen Abständen, z. B. einmal wöchentlich. Im Unterschied zur vollstationären Behandlung ist wiederum keine ununterbrochene Anwesenheit des Patienten notwendig. 106 2.2 Krankenhäuser 83 <?page no="84"?> 107 Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses zu Untersuchungs- und Behandlungsmethoden im Krankenhaus i. d. F. v. 21.3.2006, BAnz 2006 S.-4466, z. g. a. 16.9.2021, BAnz AT 25.11.2021 B2. 2.2.3.5 Inhalt der voll- und teilstationäre Krankenhausleistungen Die voll- und teilstationären Krankenhausleistungen umfassen lt. § 2 Abs. 1 KHEntgG, § 2 Abs. 1 BPflV insbesondere die ärztliche Behandlung, Krankenpflege, Versorgung mit Arznei-, Heil- und Hilfsmitteln, Unterkunft und Verpflegung. Dabei dürfen neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, die sich aufgrund eines eigenen theo‐ retisch-wissenschaftlichen Konzepts von den bisherigen Methoden unterscheiden, nicht zulasten der Krankenkassen erbracht werden, wenn der GBA entsprechendes entschieden hat. ➤ Beispiel Die Hyperbare Sauerstofftherapie bei einem Schädelhirntrauma darf nicht zulas‐ ten der Krankenkassen erbracht werden (§ 4 Richtlinie Methoden Krankenhaus 107 ). Soweit und solange ein solches Verbot nicht vorliegt, dürfen neue Methoden im Krankenhaus angewendet werden, wenn sie das Potenzial einer erforderlichen Behand‐ lungsalternative bieten und ihre Anwendung nach den Regeln der ärztlichen Kunst erfolgt (§ 137c SGB V). Dies ist anders als in der vertragsärztlichen Versorgung, in der eine neue Methode vom Vertragsarzt erst nach einer Anerkennung durch den GBA anwenden darf (vgl. Abschnitt 2.1.2.4). Zu den voll- und teilstationären Krankenhausleistungen gehört ferner ein Ent‐ lassmanagement, in dessen Rahmen z. B. Arznei-, Heil- und Hilfsmittel, häusliche Krankenpflege verordnet werden können, um den Übergang des Patienten in andere kurative, in rehabilitative oder pflegerische Bereichen zu unterstützen (§ 39 Abs. 1a SGB V). Wenn im unmittelbaren Anschluss an eine Krankenhausbehandlung die erforderli‐ chen Leistungen der häuslichen Krankenpflege, der Kurzzeitpflege, Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder Pflegeleistungen nach dem SGB XI nicht oder nur unter erheblichem Aufwand erbracht werden können, gehört gem. § 39e SGB V eine Übergangspflegefür längstens zehn Tage zur Krankenhausbehandlung. Die Über‐ gangspflege erfolgt in dem behandelnden Krankenhaus und umfasst die Versorgung mit Arznei-, Heil- und Hilfsmitteln, die Aktivierung der Versicherten, die Grund- und Behandlungspflege, ein Entlassmanagement, Unterkunft und Verpflegung sowie die im Einzelfall erforderliche ärztliche Behandlung. Die voll- und teilstationären Leistungen werden wie folgt unterteilt: 84 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="85"?> 108 Vgl. z. B. Niedersächsischer Vertrag zu den Bereichen des § 112 Abs. 2 Ziff. 1, 2, 4 und 5 SGB V, http s: / / www.nkgev.info/ nkg_downloads.html (Abruf am 13.5.2022). Abb. 14: Voll- und teilstationäre Krankenhausleistungen voll- und teilstationäre Krankenhausleistungen allgemeine Krankenhausleistungen (§ 2 Abs. 2 KHEntgG, § 2 Abs. 2 BPflV) Wahlleistungen (§ 17 KHEntgG, § 16 BPflV) Abbildung 14: Voll- und teilstationäre Krankenhausleistungen Bei den allgemeinen Krankenhausleistungen handelt es sich um Leistungen, die für die Versorgung des Patienten notwendig sind. Sie werden als Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung erbracht. Die Leistungen, die nicht notwendig sind, aber vom Patienten gewünscht werden, werden als Wahlleistungen bezeichnet. Diese muss der Patient selbst bezahlen (vgl. Abschnitt 2.2.6.3). Die regulative Ausgestaltung der voll- und teilstationären Krankenhausbehandlung (in Form der allgemeinen Krankenhausleistungen) erfolgt auf Landesebene. Die Lan‐ desverbände der Krankenkassen und Ersatzkassen gemeinsam schließen mit der Landeskrankenhausgesellschaft (oder einer anderen Landesvereinigung der Kranken‐ hausträger) Verträge 108 , die für die Krankenhausträger und Krankenkassen im Land verbindlich sind (§ 112 Abs. 2 S. 2 SGB V). In diesen Verträgen werden beispielsweise geregelt (vgl. zum Vertragsinhalt § 112 Abs. 2 S.-1 SGB V): ● Bedingungen für die Aufnahme und Entlassung des Patienten, ● Zusammenarbeit bei der Durchführung eines ständig einsatzbereiten Notdienstes, ● Mitteilungspflichten des Krankenhauses gegenüber dem weiterbehandelnden (Haus-)Arzt und der Krankenkasse, ● Abrechnungsmodalitäten für das Krankenhaus, ● Zahlungsmodalitäten für die Krankenkasse (vgl. zum Vertragsinhalt § 112 Abs. 2 S.-1 SGB V). - 2.2.3.6 Vergütung der allgemeinen teil- und vollstationären Krankenhausleistungen durch Pflegesätze Für die erbrachten allgemeinen teil- und vollstationären Leistungen erhält ein Kran‐ kenhaus zur Finanzierung der laufenden Betriebskosten Pflegesätze. Bei diesen handelt es sich um die Entgelte, die die Patienten bzw. ihre Kostenträger für stationäre und teilstationäre Leistungen des Krankenhauses entrichten müssen (§ 2 Nr. 4 KHG). Von 2.2 Krankenhäuser 85 <?page no="86"?> 109 Vereinbarung über die pauschalierenden Entgelte für psychiatrische und psychosomatische Ein‐ richtungen 2022 (PEPPV 2022) zwischen dem GKV-Spitzenverband, dem Verband der Privaten Krankenversicherung und der Deutschen Krankenhausgesellschaft sowie der PEPP-Entgeltkatalog 2022 unter https: / / www.gkv-spitzenverband.de/ krankenversicherung/ krankenhaeuser/ psychiatrie/ pepp_entgeltsystem_2022/ pepp_2022.jsp (Abruf am 17.2.2022). den Pflegesätzen zu unterscheiden sind die Wahlleistungsentgelte, die die Patienten für zusätzliche Behandlungsleistungen gem. § 17 KHEntgG bzw. § 16 BPflV zahlen. Zu den pflegesatzfähigen Kosten gehören nach § 2 Nr. 5 KHG die Kosten des Krankenhauses, deren Berücksichtigung im Pflegesatz nicht nach dem KHG ausge‐ schlossen ist. Derartige gesetzliche Ausschlüsse bestehen z. B. für die Kosten der wissenschaftlichen Forschung und Lehre, die über den normalen Krankenhausbetrieb hinausgehen, oder für Investitionskosten, mit Ausnahme der Kosten der Wiederbe‐ schaffung von Wirtschaftsgütern mit einer durchschnittlichen Nutzungsdauer bis zu drei Jahren (vgl. § 17 Abs. 3, 4 KHG). Typische pflegesatzfähige Kosten sind die Instandhaltungskosten, die der Erhaltung oder Wiederherstellung von Anlagegütern dienen, ohne diese deutlich zu verbessern, zu vermehren, wesentlich zu verändern oder ihre Nutzungsdauer zu verlängern (vgl. §-17 Abs.-4b KHG, § 4 AbgrV). Die Pflegesätze der somatischen Krankenhäuser sind als (fall-)pauschalierte Pflege‐ sätze (§ 17b KHG) ausgestaltet und werden nachfolgend in Grundzügen erläutert. Dagegen sind die Pflegesätze der psychiatrischen und psychosomatischen Kran‐ kenhäuser als tagesgleiche Pflegesätze (§ 17d KHG) ausgestaltet. Sie unterlagen in den letzten Jahren einem Wandel. Seit dem 01.01.2018 ist das budgetbasierte System mit pauschalierten tagesbezogenen Entgelten - das Pauschalierende Entgeltsystem für psychiatrische und psychosomatische Einrichtungen (PEPP) für die voll- und teilstationären Leistungen der Krankenhäuser verbindlich. Die Einzelheiten der Ver‐ gütung der psychiatrischen und psychosomatischen Einrichtungen werden in § 17d KHG, der BPflV, der auf der Bundesebene getroffenen PEPP-Vereinbarung sowie dem PEPP-Entgeltkatalog 109 geregelt. Die pauschalierten Pflegesätze im somatischen Bereich setzen sich gem. § 7 KHEntgG wie folgt zusammen: 86 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="87"?> 110 Gesetz zur Einführung des diagnose-orientierten Fallpauschalensystems für Krankenhäuser (Fall‐ pauschalengesetz, FPG) v. 23.4.2002, BGBl. I S.-1412. 111 Vgl. z. B. Fallpauschalenvereinbarung 2022 unter https: / / www.g-drg.de/ aG-DRG-System_2022/ Fallp auschalen-Katalog (Abruf am 19.2.2022). Fallpauschalen Zusatzentgelte nach Entgeltkatalog für Ausnahmefälle (z. B. Arzneimittel, Dialyse, wenn Behandlung des Nierenversagens nicht die Hauptleistung ist) Zusatzentgelte für nicht sachgerecht vergütete Leistungen Zu- und Abschläge, z. B. zur Finanzierung von Ausbildungskosten Vergütung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden Pflegezuschlag Pflegesätze (Entgelte) für allgemeine Krankenhausleistungen (§ 7 KHEntG) Tagesbezogene Pflegeentgelte zur Finanzierung der Pflegepersonalkosten Abbildung 15: Pflegesätze (Entgelte) der somatischen Krankenhäuser Seit Einführung des diagnose-orientierten Fallpauschalensystems  110 (auch DRG-System genannt) im somatischen Bereich sind die Fallpauschalen von zentraler Bedeutung für die Vergütung eines Krankenhauses. Die Einzelheiten des Fallpauschalensystems werden jährlich von dem GKV-Spitzenverband und dem Verband der privaten Kran‐ kenversicherung gemeinsam mit der DKG vereinbart (§ 17b Abs. 2 KHG). Die Fallpau‐ schalenvereinbarung, inkl. Anlagen, 111 enthält insbesondere: ● Abrechnungsbestimmungen, Regelungen zur Verlegung und Wiederaufnahme, ● Fallpauschalenkatalog, inkl. DRG-Leistungsdefinition, Bewertungsrelation, un‐ tere, mittlere, obere Grenzverweildauer, ● Zusatzentgelte für Ausnahmefälle gem. § 17b Abs. 1 S. 13 KHG (z. B. für Arz‐ neimittel oder Dialyse, wenn die Behandlung des Nierenversagens nicht die Hauptleistung ist), ● Leistungen, deren Entgelte krankenhausindividuell zu vereinbaren sind (§ 6 Abs. 1 S.-1 KHEntgG). 2.2 Krankenhäuser 87 <?page no="88"?> 112 Vgl. z. B. Deutsche Kodierrichtlinien 2022 der DKG, dem GKV-Spitzenverband, PKV und der InEK GmbH, unter https: / / www.g-drg.de/ aG-DRG-System_2022/ Kodierrichtlinien/ Deutsche_Kodierricht linien_2022 (Abruf am 19.2.2022). Das Fallpauschalensystem funktioniert in seinen Grundzügen wie folgt: Jeder Behandlungsfall wird abhängig von der Hauptdiagnose einer Behandlungsfall‐ gruppe zugeordnet. Die Haupt- und behandlungsbedingten Nebendiagnosen werden nach einer Diagnose-Klassifikation, der ICD-10-GM, erfasst. Dazu wird die Diag‐ nose-Klassifikation (ICD-10), die international von der Weltgesundheitsorganisation herausgegeben wird, durch das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) für Deutschland modifiziert. Die am Patienten zu erbringenden Leistungen werden nach einem vom DIMDI herausgegebenen Operationen- und Pro‐ zedurenschlüssel, dem OPS-301, kodiert. Die Einzelheiten der Erfassung der Diagnosen, Operationen und Prozeduren regeln die Deutschen Kodierrichtlinien, die für jedes Jahr verabschiedet werden. 112 Auf dieser Basis wird jeder Behandlungsfall einer DRG zugeordnet. Eine DRG setzt sich aus einem vierstelligen Code zusammen, im dem die Hauptdiagnose, die Operationen und Prozeduren sowie der Ressourceneinsatz zum Ausdruck kommen. Hauptdiagnose-gruppe (Major Diagnostic Category, MDC) B = Krankheiten und Störungen des Nervensystems Partition Partition O 01-39 operative Fallpauschale Partition A 40-59 andere Fallpauschale Partition M 60-99 medizinische Fallpauschale der vom Schweregrad abhängige Ressourceneinsatz A = höchster Einsatz …Z = geringster Einsatz Implantation eines Neurostimulators zur Hirnstimulation, Mehrelektrodensystem, mit Sondenimplantation B 21 A B21A Abbildung 16: Aufbau einer DRG am Beispiel B21A Für jede DRG gibt es eine Bewertungsrelation, die den Behandlungsaufwand der Patienten der jeweiligen Gruppe widerspiegelt. Je höher die Bewertungsrelation ist, umso höher ist der Aufwand und daraus folgend schließlich die Vergütung. Die 88 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="89"?> 113 Siehe https: / / www.g-drg.de/ aG-DRG-System_2022/ Fallpauschalen-Katalog/ Fallpauschalen-Katalog _2022 (Abruf am 19.2.2022). 114 Landesbasisfallwerte: https: / / www.vdek.com/ vertragspartner/ Krankenhaeuser/ landesbasisfallwert e.html (Abruf am 20.3.2022). Bewertungsrelationen beruhen auf einer Kostenkalkulation und werden vom Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus (InEK) erstellt. DRG Bezeichnung Bewertungsrelation B21A Implantation eines Neurostimulators zur Hirnsti‐ mulation, Mehrelektrodensystem, mit Sondenim‐ plantation 8,520 B21B Implantation eines Neurostimulators zur Hirnsti‐ mulation, Mehrelektrodensystem, ohne Sonden‐ implantation 3,920 Tabelle 5: Beispiel zweier DRG mit Bewertungsrelation gem. Fallpauschalenkatalog 2022 113 Die Fallpauschale ergibt sich aus der Multiplikation der Bewertungsrelation der DRG mit dem Landesbasisfallwert. Dieser wird jährlich für das folgende Kalenderjahr zwi‐ schen der Landeskrankenhausgesellschaft, den Landesverbänden der Krankenkassen, den Ersatzkassen und dem Landesausschusses des Verbandes der privaten Krankenver‐ sicherung gem. § 10 KHEntgG vereinbart. Beispielsweise ist für 2022 für Niedersachsen ein (Zahlbetrags-)Landesbasisfallwert in Höhe von 3.834,04 Euro vereinbart worden. 114 ➤ Beispiel Der Erlös für die DRG B21A für eine zehntägige Behandlung eines Patienten in einem niedersächsischen Krankenhaus im Juni 2022 würde somit 32.666,02 Euro (3.834,04 Euro x 8,520) betragen. Die Fallpauschalen sind für eine mittlere Verweildauer des Patienten im Krankenhaus kalkuliert. Wenn die tatsächliche Liegezeit des Patienten kürzer als die sog. untere Grenzverweildauer ist, wird ein Abschlag berechnet. Für Langlieger erhält das Kran‐ kenhaus bei Überschreiten der oberen Grenzverweildauer einen Zuschlag. Somit nimmt die Verweildauer des Patienten im Krankenhaus bei einer bestimmten Kürze oder Länge ebenfalls Einfluss auf die Vergütung. DRG erster Tag mit Abschlag mittlere Ver‐ weildauer erster Tag des zusätzlichen Entgelts B21A 3 12,1 20 B21B 1 3,5 8 Tabelle 6: Verweildauer gem. Fallpauschalenkatalog 2022 2.2 Krankenhäuser 89 <?page no="90"?> 115 Gesetz zur Stärkung des Pflegepersonals vom 11.12.2018, BGBl. I S.-2394. Neben den Fallpauschalen beeinflussen weitere Größen, wie Zusatzentgelte, Zu- und Abschläge, die Höhe der Entgelte, die das Krankenhaus für seine stationären Leistungen erhält, vgl. dazu obige → Abbildung 15. Dazu gehören insbesondere tages‐ bezogene Pflegeentgelte zur Abzahlung des Pflegebudgets, das zwischen dem Kran‐ kenhausträger und den Pflegesatzparteien vereinbart wird. Durch das Pflegepersonals‐ tärkungsgesetz vom 11.12.2018 115 wurde eingeführt, dass die Pflegepersonalkosten der Krankenhäuser nicht mehr bei den DRG-Fallpauschalen berücksichtigt, sondern über ein krankenhausindividuelles Pflegebudget nach dem Selbstkostendeckungsprinzip finanziert werden. Dafür enthält der Fallpauschalenkatalog eine Spalte „Pflegeerlös Bewertungsrelation pro Tag“. DRG Pflegeerlös Bewertungsrelation pro Tag B21A 0,9611 B21B 1,0680 Tabelle 7: Pflegeerlös Bewertungsrelation pro Tag gem. Fallpauschalenkatalog 2022 Diese Bewertungsrelation wird mit dem krankenhausindividuellen Pflegentgeltwert und der Anzahl der Behandlungstage multipliziert. ➤ Beispiel Der Erlös für die DRG B21A für eine zehntägige Behandlung eines Patienten in einem niedersächsischen Krankenhaus im Juni 2022 würde 32.666,02 Euro betra‐ gen (siehe oben). Hinzu käme, wenn der Pflegeentgeltwert des Krankenhauses z. B. 165,00 Euro betragen würde, ein weiterer Betrag in Höhe von 1.585,81 Euro (165,00 Euro x 10 Tage x 0,9611 pro Tag) zur Finanzierung des Pflegepersonals. Zwischen dem Krankenhausträger und den Krankenkassen sowie anderen Sozialleis‐ tungsträgern wird eine Pflegesatzvereinbarung gem. § 18 KHG, § 11 KHEntgG bzw. § 11 BPflV geschlossen. Die Sozialleistungsträger sind jedoch nur Pflegesatzpartei, wenn auf sie jeweils im Jahr vor Beginn der Pflegesatzverhandlungen mehr als 5 % der Belegungs- und Berechnungstage des Krankenhauses entfallen. In der Vereinbarung werden prospektiv folgende Regelungen getroffen: ● Erlösbudget, in dem die Entgelte der voraussichtlich zu erbringenden Leistungen nach Art und Menge eingehen, sowie Mehr- und Mindererlösausgleiche (§ 4 und Anlage 1 des KHEntgG), ● Pflegebudget (§ 6a KHEntgG), ● Erlössumme für die krankenhausindividuellen Entgelte (§ 6 Abs. 3 KHEntgG), 90 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="91"?> 116 Ständige Rechtsprechung des BSG, vgl. z. B. BSG, Urt. v. 23.6.2015, B 1 KR 26/ 14 R, NZS 2015, 704 ff. [704]. ● Summe der Bewertungsrelationen (§ 6 KHEntgG), ● sonstige Entgelte (§ 6 KHEntgG), ● Zu- und Abschläge entsprechend der Fallpauschalenvereinbarung (§ 5 Abs. 1, § 9 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 KHEntgG) und krankenhausindividuelle Zu- und Abschläge (§ 7 Abs. 1 S.-1 Nr.-4 KHEntgG). Über die im konkreten Behandlungsfall berechnungsfähige Vergütung wird keine Ver‐ einbarung geschlossen. Sie ergibt sich letztlich aus den oben erläuterten gesetzlichen und vertraglichen Regelungen des DRG-Systems. Für den Vergütungsanspruch des Krankenhauses ist es auch nicht notwendig, dass die Krankenkasse des Patienten vorab eine Kostenübernahmeerklärung abgibt. Wenn eine solche erklärt wird, hat sie lediglich deklaratorischen Charakter. 116 Für Krankenhäuser, die zur Versorgung gesetzlich versicherter Patienten zugelassen sind, ohne dass sie eine öffentliche Investitionsförderung erhalten, ist ferner geregelt, dass sie von den Krankenkassen keine höhere Vergütung als geförderte Krankenhäuser verlangen dürfen (§ 17 Abs. 5, § 20 KHG). Somit sind diese Krankenhäuser ebenfalls dem DRG-System unterworfen. ➤ Beispiel Ein privates Krankenhaus mit Gewerbekonzession nach § 30 GewO, das Plan‐ krankenhaus ist und mehr als 60 % Privatpatienten behandelt, erhält keine Investitionsförderung (vgl. § 5 Abs. 1 Nr. 2 KHG i. V. m. § 67 AO). Gleichwohl kann es keine höhere Vergütung als geförderte Krankenhäuser gegenüber der Krankenkasse des Patienten abrechnen. ✎ Aufgaben Dr. Paul Prinz betreibt eine Privatklinik P im Bundesland N. Für diese Klinik weist der Krankenhausplan 2022 des Bundeslandes N 20 Betten Orthopädie, 20 Betten Chirurgie, 10 Betten Frauenheilkunde und Geburtshilfe sowie 10 Betten Kinder- und Jugendmedizin aus. Dementsprechend hat das zuständige Sozialministerium durch Bescheid vom 20.12.2021 die Aufnahme der genannten Betten in den Krankenhausplan festgestellt. Der Krankenhausplan orientiert sich bzgl. der Fachrichtungen an der ärztlichen Weiterbildungsordnung des Landes N und unterscheidet neben den oben genann‐ ten Fachrichtungen Augenheilkunde, Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Innere Medi‐ zin, Orthopädie und Urologie. In der Weiterbildungsordnung ist die Kinder- und Jugendmedizin wie folgt be‐ schrieben: „Das Gebiet der Kinder- und Jugendmedizin umfasst die Erkennung, Behandlung, Prävention, Rehabilitation und Nachsorge aller körperlichen, neuro‐ 2.2 Krankenhäuser 91 <?page no="92"?> logischen, psychischen und psychosomatischen Erkrankungen, Verhaltensauffäl‐ ligkeiten, Entwicklungsstörungen und Behinderungen des Säuglings, Kleinkindes, Kindes und Jugendlichen.“ Die Fachrichtung Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde umfasst nach der Weiterbildungs‐ ordnung „die Vorbeugung, Erkennung, konservative und operative Behandlung, Nachsorge und Rehabilitation von Erkrankungen, Verletzungen, Fehlbildungen, Formveränderungen und Tumoren des Ohres, der Nase, der Nasennebenhöhlen, der Mundhöhle, des Pharynx und Larynx und von Funktionsstörungen der Sinnes‐ organe dieser Regionen sowie von Stimm-, Sprach-, Sprech- und Hörstörungen.“ Der am 1. Juni 2002 geborene und im Bundesland N wohnhafte Student S, der bei der Krankenkasse K versichert ist, wurde wegen einer Mittelohrentzündung bereits 2009 und 2015 in der Klinik P behandelt. Vom 2. Juni (Aufnahmetag) bis 12. Juni 2022 (Entlassungstag) wurde S erneut wegen einer Mittelohrentzündung in der Privatklinik P vollstationär behandelt. Die Behandlung erfolgte nicht als Notfall. Gegenüber der Krankenkasse K rechnete die Klinik P die Fallpauschale D63A (Otitis media oder Infektionen der oberen Atemwege oder Blutung aus Nase und Rachen mit äußerst schweren CC) ab. Die Krankenkasse K lehnt die Begleichung der Rechnung ab. Erörtern Sie auf den Fall bezogen folgende Voraussetzungen des Vergütungsan‐ spruchs des Dr. Paul Prinz gegen die Krankenkasse K: a. Zulassung der Privatklinik des Dr. Paul Prinz zur Versorgung gesetzlich versicherter Patienten, b. § 8 Abs. 1 S.-3 Krankenhausentgeltgesetz (KHEntgG). ➤ Lösungen im Web-Service. Die Rechtsgrundlage für den Vergütungsanspruch des Krankenhausesgegenüber einer Krankenkasse für eine vorgenommene Behandlung bildet § 109 Abs. 4 S. 3 SGB V i. V. m. § 7 KHEntgG bzw. § 7 BPflV und die Pflegesatzvereinbarung zwischen dem Krankenhausträger und den Pflegesatzparteien gem. § 11 KHEntgG bzw. § 11 BPflV. Folgende zwölf Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit das behandelnde Krankenhaus einen Vergütungsanspruch gegenüber der Krankenkasse des Patienten hat: ● Das Krankenhaus muss zugelassen sein (vgl. Abschnitt 2.2.3.2) oder auf der Grundlage einer Satzungsregelung der Krankenkasse gem. § 11 Abs. 6 SGB V in Anspruch genommen worden sein (vgl. Abschnitt 3.1.9). ● Der Patient muss Versicherter der in Anspruch genommenen Krankenkasse sein. ● Die abgerechnete voll- oder teilstationäre Krankenhausleistung muss erbracht worden sein. ● Das Krankenhaus muss die Strukturmerkmale, die durch den Operationen- und Prozedurenschlüssel vorgegeben sind, einhalten (§ 275d SGB V). Den Nachweis 92 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="93"?> 117 Ständige Rechtsprechung des BSG, vgl. z. B. BSG, Urt. v. 13.5.2004, B 3 KR 18/ 03 R, NZS 2005, 366 [368], Urt. v. 19.09.2013, B 3 KR 34/ 12 R, BeckRS 2014, 65251 Rn. 13. 118 Vgl. Großer Senat des BSG, Beschl. v. 25.9.2007, GS 1/ 06, NZS 2008, 419 ff. [421]. 119 Vgl. Großer Senat des BSG, Beschl. v. 25.9.2007, a.-a.-O. [423]. 120 BSG, Urt. v. 21.4.2015, B 1 KR 6/ 15 R, NZS 2015, 615 ff. [616]. 121 Vgl. BSG, Urt. v. 10.3.2015, B 1 KR 2/ 15 R, MedR 2015, 984 ff. darüber erbringt das Krankenhaus durch eine entsprechende Bescheinigung des Medizinischen Dienstes, die dieser auf der Grundlage einer erfolgreichen Begut‐ achtung der personen- und einrichtungsbezogenen Daten des Krankenhauses prospektiv für einen bestimmten Zeitraum ausstellt. ● Der Patient muss krankenhausbehandlungsbedürftig gewesen sein. Die Kran‐ kenhausbehandlungsbedürftigkeit bezeichnet einen Krankheitszustand, dessen Behandlung den Einsatz der besonderen Mittel eines Krankenhauses erforderlich macht. Zu diesen Mitteln gehören die apparative Mindestausstattung, Möglichkeit der Unterbringung und Verpflegung, geschultes und jederzeit verfügbares Personal und ständige ärztliche Leitung gem. § 107 Abs. 1 SGB V. 117 Für die Beurteilung sind nur medizinische Erfordernisse maßgeblich. Andere Aspekte, wie z. B. das Fehlen alternativer Versorgungs- oder Unterbringungsmöglichkeiten, sind nicht zu berücksichtigen. 118 Ferner sind die voll- oder teilstationäre Leistungen nicht erforderlich, wenn das Behandlungsziel auf andere Weise, z. B. ambulant oder durch häusliche Krankenpflege, erreicht werden kann (§ 39 Abs. 1 S. 2 SGB V). Bei der Feststellung der Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit ist auf die anamneti‐ schen und diagnostischen Informationen abzustellen, die dem Krankenhausarzt zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Aufnahme oder Weiterbehandlung des Patienten vorliegen. 119 Erst später erlangte Kenntnisse bleiben unberücksichtigt. Im Übrigen ist der aufnehmende Krankenhausarzt nicht an eine Einweisung des Patienten durch einen Vertragsarzt gebunden. Er trifft eine eigenverantwortliche Entscheidung. ● Das Krankenhausbehandlung muss dem Wirtschaftlichkeitsgebot gem. § 12 Abs.-1-SGB-V entsprechen. „Das Wirtschaftlichkeitsgebot zwingt alle Leistungserbringer, auch Krankenhäu‐ ser, bei der Behandlungsplanung die Möglichkeit wirtschaftlichen Alternativver‐ haltens zu prüfen. Die Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots erfordert, dass bei Existenz verschiedener gleich zweckmäßiger, ausreichender und notwendiger Behandlungsmöglichkeiten die Kosten für den gleichen zu erwartenden Erfolg ge‐ ringer oder zumindest nicht höher sind.“ 120 Wenn beispielsweise ein Krankenhaus bei einer Herzklappenoperation Apheres-Thrombozytenkonzentrate von einem Einzelspender verabreicht, weil es Pool-Thrombozytenkonzentrate (gepoolt von 4 bis 6 Spendern) nicht vorrätig hat, diese aber ausreichend gewesen wären, hat es keinen Anspruch auf ein entsprechendes Zusatzentgelt für das teurere Konzentrat eines Einzelspenders. 121 2.2 Krankenhäuser 93 <?page no="94"?> 122 Vgl. BSG, Beschl. v. 12.7.2013, B 1 KR 74/ 12 B, MedR 2014, 157 f. 123 Vgl. BSG, Urt. v. 1.7.2014, B 1 KR 15/ 13 R, BeckRS 2014, 72767. 124 Zu den Einzelheiten der Erprobung vgl. § 137e SGB V. ● Die Behandlung muss entweder im Rahmen des Versorgungsauftrages des Kran‐ kenhauses oder als Notfall erfolgt sein (§ 8 Abs. 1 S. 3 KHEntgG bzw. § 8 Abs. 1 S.-3 BPflV). Die Ermittlung des Versorgungsauftrages einer Hochschulklinik, eines Plan- oder Vertragskrankenhauses ist in § 8 Abs. 1 S. 4 KHEntgG geregelt. Beispielsweise ergibt sich der Versorgungsauftrag eines Plankrankenhauses aus den Festlegungen des Krankenhausplans i. V. m. dem Feststellungsbescheid über die Aufnahme einer bestimmten Anzahl von Planbetten je medizinischer Fachrichtung sowie aus einer ggf. vorhandenen Ergänzungsvereinbarung nach § 109 Abs. 1 S. 4 SGB V. In diesem Sinne hat z. B. ein chirurgisches Plankrankenhaus ohne Planbetten für die Orthopädie keinen Vergütungsanspruch für die DRG-Fallpauschale I44B für endoprothetische Leistungen, die zur Orthopädie gehören, 122 es sei denn, es läge eine Notfallbehandlung eines Patienten vor. ● Die angewendete Untersuchungs- und Behandlungsmethode darf nicht durch eine Richtlinie des GBA gem. § 137c Abs. 1, 2 SGB V ausgeschlossen sein (siehe Abschnitt 2.2.3.5). Die Behandlung eines Patienten mit einer ausgeschlossenen Methode ist gegenüber einer Krankenkasse nicht abrechenbar. Wenn der Patient die Anwendung einer solchen Methode (als Wahlleistung) wünscht, muss er für die Vergütung selbst aufkommen. ● Die Krankenhausleistungen müssen dem Qualitätsgebot gem. § 2 Abs. 1 S. 3 SGB V entsprechen. Das bedeutet, dass das Krankenhaus keine Vergütung verlangen kann, wenn es eine Behandlung durchführt, für die es die personellen, fachlichen, medizinisch-technischen oder organisatorischen Anforderungen, die in einer Qua‐ litätssicherungsrichtlinie des GBA vorgegeben sind, nicht erfüllt. 123 Ferner hat das Krankenhaus grundsätzlich keinen Vergütungsanspruch für eine Behandlung, die nicht dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse ent‐ spricht. Kennzeichen dieses allgemein anerkannten Standes ist, dass es im Hinblick auf den Nutzen der angewandten Untersuchungs- und Behandlungsmethode(n) einen evidenzgestützten Konsenses der großen Mehrheit der einschlägigen Fach‐ leute gibt. Ausnahmsweise dürfen sog. Potenzialleistungen trotz einer fehlenden allgemeinen Anerkennung im Rahmen der Krankenhausbehandlung gem. § 137c Abs. 3 SGB V erbracht werden. Bei diesen Potenzialleistungen handelt es sich um Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, die das Potenzial einer erforderlichen Behandlungsalternative zur Standardtherapie haben und ihre Anwendung nach den Regeln der ärztlichen Kunst erfolgt, die Methode also insbesondere medizi‐ nisch indiziert und notwendig ist. Diese Ausnahme nach § 137c Abs. 3 SGB V erfasst sowohl die Methoden, für die beim GBA noch kein Antrag auf Erprobung nach § 137c Abs. 1 S. 1 gestellt worden ist, als auch die Methoden, deren Bewertung durch den GBA noch nicht abgeschlossen ist. 124 Insoweit schränkt § 137c Abs. 3 SGB V 94 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="95"?> 125 Vgl. BSG, Urt. v. 25.3.2021, B 1 KR 25/ 20 R, BeckRS 2021, 19333. 126 Vgl. Regelungen des Gemeinsamen Bundesausschusses gem. § 136b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB V für nach § 108 SGB V zugelassene Krankenhäuser (Mindestmengenregelungen) v. 20.12.2005, BAnz. 2006 S.-1373 z. g. a. 16.12.2021, BAnz AT 02.02.2022 B2, BAnz AT 11.02.2022 B3, BAnz AT 23.02.2022 B1. 127 Ellenberg, Bürgerliches Gesetzbuch, Überbl v § 194 Rn. 5. 128 RegE eines Gesetzes für bessere und unabhängigere Prüfungen (MDK-Reformgesetz), BTag-Drucks. 19/ 13397, S.-87. 129 Vereinbarung über das Nähere zum Prüfverfahren nach § 275c Absatz 1 SGB V (Prüfverfahrensvereinba‐ rung - PrüfvV) gemäß § 17c Absatz 2 KHG und über das einzelfallbezogene Erörterungsverfahren nach § 17c Absatz 2b Satz 1 KHG vom 22.06.2021, https: / / www.gkv-spitzenverband.de/ krankenversicherung / krankenhaeuser/ krankenhaeuser_abrechnung/ abrechnungspruefung/ abrechnungspruefung.jsp (Abruf am 17.2.2022). das Qualitätsgebot nach § 2 Abs. 1 S. 3 SGB V ein und eröffnet für den Versicherten einen Anspruch auf eine Behandlungsalternative, die das Krankenhaus zulasten der Krankenkasse des Versicherten erbringen kann. 125 ● Bei planbaren Operationen, für die eine Mindestmenge festgelegt ist, muss das Krankenhaus diese Mindestmenge voraussichtlich im Kalenderjahr erreichen (§-136b Abs. 5 SGB V). Der GBA ist lt. § 136b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB V befugt, für planbarer Leistungen, bei denen die Qualität des Behandlungsergebnisses von der Menge abhängt, Mindestmengen festzulegen; z. B. sind 25 Nierentransplantationen (inkl. Lebend‐ spende) pro Jahr und Krankenhaus vorgesehen. 126 Wenn das Krankenhaus die Mindestmenge voraussichtlich im Kalenderjahr nicht erreicht, darf es die Leistung nicht erbringen und gegenüber der Krankenkasse nicht abrechnen (§ 136b Abs. 5 S.-1, 2 SGB V). ● Der Vergütungsanspruch darf nicht verjährt sein. Bei der Verjährung handelt es sich um einen „Zeitablauf, der für den Schuldner das Recht begründet, die Leistung zu verweigern“ 127 . Die Verjährungsfrist beträgt gem. §109 Abs. 5 SGB V zwei Jahre und beginnt mit dem Ablauf des Kalenderjahrs, in dem der Vergütungsanspruch des Krankenhauses entstanden ist. ● Der Vergütungsanspruch darf nicht verwirkt sein. Die Frage der Verwirkung wird relevant, wenn das Krankenhaus seine (Schluss-)Rechnung korrigiert und gegenüber der Krankenkasse eine weitere Vergütung des Behandlungsfalls geltend macht. Gem. § 17c Abs. 2a KHG ist nach Übermittlung der Abrechnung an die Krankenkasse eine Korrektur dieser Abrechnung durch das Krankenhaus grundsätzlich ausgeschlossen. Hintergrund für diese mit dem MDK-Reformgesetz eingeführte Regelung war, dass die Kran‐ kenhäuser zuvor „während einer Prüfung durch den MD sowie teilweise noch nach Einleitung eines Gerichtsverfahrens ihre Rechnung, zum Teil mehrfach, korrigiert“ 128 hatten. Nach der Neuregelung ist eine Rechnungskorrektur nur noch für bestimmte Konstellationen vorgesehen. So ist eine Korrektur beispielsweise zulässig, wenn sie zur Umsetzung des Ergebnisses einer Abrechnungsprüfung durch den MD oder zur Umsetzung eines rechtskräftigen Urteils erforderlich ist (weitere Korrekturtatbestände in § 11 Prüfverfahrensvereinbarung 129 ). 2.2 Krankenhäuser 95 <?page no="96"?> 130 Vgl. BSG, Urt. v. 5.7.2016, B 1 KR 40/ 15 R, BeckRS 2016, 72355 Rn. 21. 131 Ständige Rechtsprechung des BSG, vgl. z. B. BSG, Urt. v. 21.4.2015, B 1 KR 10/ 15 R, NZS 2015, 578 ff. [578-f.]. 132 Vereinbarung über das Nähere zum Prüfverfahren nach § 275c Absatz 1 SGB V (Prüfverfahrensver‐ einbarung - PrüfvV) gemäß § 17c Absatz 2 KHG und über das einzelfallbezogene Erörterungsver‐ fahren nach § 17c Absatz 2b Satz 1 KHG vom 22.06.2021, a. a. O. Der Ausschluss einer Abrechnungskorrektur und Nachforderung durch das Kran‐ kenhaus kann sich auch aus § 242 BGB (Treu und Glauben) ergeben. Die Rechtsgedanken des § 242 BGB sind auf Krankenhausrechnungen anwendbar. Zu diesen Rechtsgedanken gehört die Verwirkung als Unterfall einer unzulässigen Rechtausübung, durch die ein zunächst Berechtigter seine Rechte verliert. Sie kommt zum Tragen, wenn ein Krankenhaus vorbehaltlos eine Schlussrechnung erteilt, die nicht offensichtlich unschlüssig ist (also z. B. keinen Schreibfehler oder Zahlendreher enthält). Wenn in einem solchen Fall das Krankenhaus weder im laufenden noch im nachfolgenden Haushaltsjahr eine Nachforderung gegenüber der Krankenkasse erhebt, schafft es ein Vertrauen der Krankenkasse darauf, dass mit weiteren Forderungen für die Behandlung des Versicherten nicht zu rechnen sei und haushaltsrelevante Vorkehrungen nicht getroffen werden müssen. 130 Das bedeutet vereinfacht ausgedrückt, dass das Krankenhaus nach Ablauf des Haus‐ haltsjahres, das auf die vorbehaltlose Schlussrechnung folgt, Nachforderungen verwirkt hat. Wenn alle genannten Voraussetzungen erfüllt sind, bestehen der Vergütungsanspruch des Krankenhauses und somit zugleich die Zahlungsverpflichtung der Krankenkasse für die Behandlung ihres Versicherten. Die Rechnung des Krankenhauses an die Krankenkasse muss mindestens die Angaben des § 301 Abs. 1 SGB V enthalten. Wenn sie unvollständig ist, ist die Vergütung nicht fällig. 131 Die Landesverträge nach § 112 SGB V können ggf. noch weitere Abrechnungsvorgaben enthalten. Die Krankenkassen können die Krankenhausleistung, insbesondere deren Notwen‐ digkeit, durch den MD gem. § 275c SGB V, § 17c KHG prüfen lassen. Die Einzelheiten der Prüfung sind in der Prüfverfahrensvereinbarung 132 geregelt, die der GKV-Spitzen‐ verband und die DKG abgeschlossen haben. Über Vergütungsstreitigkeiten zwischen dem Krankenhausträger und der Kranken‐ kasse entscheiden die Sozialgerichte (vgl. § 51 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGG). Zur Entlastung der Gerichte findet eine gerichtliche Überprüfung einer Krankenhausabrechnung jedoch nur statt, wenn zuvor die Rechtmäßigkeit der Abrechnung einzelfallbezogen zwischen Krankenkasse und Krankenhaus erörtert worden ist (§ 17c Abs. 2b KHG). 96 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="97"?> 2.2.3.7 Ambulante Krankenhausleistungen und ihre Vergütung Ein Krankenhausträger ist berechtigt, verschiedene ambulante Leistungen zu erbrin‐ gen. Einen Überblick darüber gibt die Abbildung 17. Einige der ambulanten Kranken‐ hausleistungen sollen nachfolgend erläutert werden. § 115b SGB V: ambulante Operationen § 115d SGB V: stationsäquivalente psychiatrische Behandlung § 95 Abs. 1, 1a SGB V: Krankenhausträger als Träger eines medizinischen Versorgungszentrums § 116b SGB V: ambulante spezialfachärztliche Versorgung § 119 SGB V: ambulante sozialpädiatrische Behandlung § 118a SGB V: geriatrische Institutsambulanzen § 118 SGB V: psychiatrische Institutsambulanzen § 117 SGB V: Hochschulambulanzen § 75 Abs. 1b, § 115 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 3, Abs. 3a SGB V: ambulante Notfallbehandlung ambulante Leistungen durch Krankenhausträger § 119c SGB V: medizinische Behandlungszentren §§ 140a SGB V: im Rahmen der integrierten Versorgung § 116a SGB V: bei Unterversorgung § 115a SGB V: vor- und nachstationäre Behandlung § 137f Abs. 7 SGB V: im Rahmen eines strukturierten Behandlungsprogramms Abbildung 17: Ambulante Leistungen eines Krankenhausträgers Die vorstationäre Behandlung setzt die Verordnung einer Krankenhausbehandlung durch einen Vertragsarzt voraus und zielt darauf ab, die Erforderlichkeit einer statio‐ nären Krankenhausbehandlung zu klären oder eine solche vorzubereiten (§ 115a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB V). Sie ist auf drei Behandlungstage innerhalb von fünf Tagen vor 2.2 Krankenhäuser 97 <?page no="98"?> 133 Vgl. Gemeinsame Empfehlung über die Vergütung für vor- und nachstationäre Behand‐ lung nach § 115a Abs. 3 SGB V vom 30.12.1996/ 24.5.2005, https: / / www.bwkg.de/ daten-fakte n/ downloads/ gesetze-vertraege-verordnungen/ file/ news/ verguetung-fuer-vor-und-nachstationaer e-behandlung-nach-115-a-abs-3-sgb-v/ ? tx_news_pi1%5Baction%5D=detail&; tx_news_pi1%5Bcont‐ roller%5D=News&cHash=8f663780352708bad4f4bdc8469f3962 (Abruf am 20.2.2022). 134 Ebd. 135 Katalog ambulant durchführbarer Operationen und stationsersetzender Eingriffe gemäß § 115b SGB V im Krankenhaus, https: / / www.gkv-spitzenverband.de/ krankenversicherung/ ambulant_stationaer e_versorgung/ ambulantes_operieren_115_b/ ambulantes_operieren_115_b.jsp (Abruf am 20.2.2022). der stationären Aufnahme des Patienten begrenzt (§ 115a Abs. 2 S. 1 SGB V). Die vorstationäre Behandlung ist mit der Fallpauschale für die anschließende vollstationäre Aufnahme grundsätzlich abgegolten (§ 8 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 KHEntgG). Sie ist jedoch gesondert abrechenbar, wenn es nicht zu einer vollstationären Behandlung kommt, weil diese z. B. nach den Ergebnissen der Voruntersuchungen nicht erforderlich ist. In diesem Fall richtet sich die Vergütung entweder nach einer Vereinbarung auf Landesebene gem. § 115a Abs. 3 S. 1 SGB V, wenn eine solche besteht, oder nach der Empfehlung über die Vergütung für vor- und nachstationäre Behandlung nach §-115a Abs. 3 SGB V, die zwischen der DKG und den Bundesverbänden der Krankenkassen vereinbart worden ist. 133 Die nachstationäre Behandlung erfolgt im Anschluss an eine vollstationäre Behand‐ lung, um diese zu sichern oder zu festigen (§ 115a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB V). Für sie ist eine Dauer von maximal 7 Behandlungstagen innerhalb eines Zeitfensters von grundsätzlich 14 Tagen bzw. 3 Monaten bei Organtransplantationen nach Beendigung des Krankenhausaufenthalts vorgesehen (§ 115a Abs. 2 S.-2 SGB V). ➤ Beispiel-│ nachstationäre Behandlung Vollstationäre Tumorentfernung und anschließende, innerhalb von 14 Tagen nach der Krankenhausentlassung stattfindende ambulante Operation zur Implantation eines Ports für die Applikation von Zytostatika im Rahmen der Chemotherapie Die nachstationäre Behandlung ist neben der Fallpauschale abrechenbar, soweit die stationären, vor- und nachstationären Behandlungstage die Grenzverweildauer der Fallpauschale übersteigen (§ 8 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 KHEntgG). Für die Vergütung ist die vorgenannte Empfehlung über die Vergütung für vor- und nachstationäre Behandlung nach § 115 a Abs. 3 SGB ebenfalls relevant. 134 Die zugelassenen Krankenhäuser sind im Rahmen ihres stationären Versorgungs‐ auftrages ferner berechtigt, die ambulanten Operationen des Kataloges, den der GKV-Spitzenverband, die DKG und die KBV vereinbart haben 135 , anzubieten (§ 115b Abs. 2 S. 1 SGB V). Für diese ambulanten Operationen bedürfen sie keiner gesonderten Zulassung. Sie müssen die Durchführung der ambulanten Operationen den Landesver‐ bänden der Krankenkassen, den Ersatzkassen, der Kassenärztlichen Vereinigung und dem Zulassungsausschuss lediglich anzeigen (§ 115b Abs. 2 S. 2 SGB V). Die Vergütung 98 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="99"?> 136 Vertrag nach § 115b Abs. 1 SGB V - Ambulantes Operieren und stationsersetzende Eingriffe im Krankenhaus - (AOP-Vertrag), https: / / www.gkv-spitzenverband.de/ krankenversicherung/ ambulant _stationaere_versorgung/ ambulantes_operieren_115_b/ ambulantes_operieren_115_b.jsp (Abruf am 20.2.2022). 137 Vgl. Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die ambulante spezialfachärztliche Ver‐ sorgung nach § 116b SGB V v. 21.3.2013, BAnz AT 19.07.2013 B1, z. l. g. a. 16.12.2021, BAnz AT 29.04.2022 B1. und weitere Einzelheiten sind in dem AOP-Vertrag 136 geregelt. Die Vergütung berechnet sich nach dem Einheitlichen Bewertungsmaßstab (§ 7 AOP-Vertrag). Sie gehört zum vereinbarten Krankenhausbudget und wird unmittelbar von der Krankenkasse an das Krankenhaus gezahlt (§ 115b Abs. 2 S. 4 SGB V, § 18 Abs. 4 AOP-Vertrag). Sie ist anders als bei den ambulant operierenden Vertragsärzten kein Bestandteil der vertragsärztlichen Gesamtvergütung, die die Krankenkassen an die Kassenärztliche Vereinigung zahlt (§ 7 Abs. 1 S.-1 AOP-Vertrag). Die zugelassenen Krankenhäuser sind neben Vertragsärzten, medizinischen Versor‐ gungszentren, ermächtigten Ärzten und Einrichtungen berechtigt, die Leistungen der ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung anzubieten (§ 116b Abs. 2 S. 1 SGB V). Diese Versorgungsform umfasst lt. § 116b Abs. 1 SGB V die Diagnostik und Therapie von Erkrankungen mit besonderen Krankheitsverläufen (z. B. onkologische Erkrankungen, HIV/ Aids, Multiple Sklerose) und seltene Erkrankungen (z. B. Tuber‐ kulose, Mukoviszidose) sowie hochspezialisierte Leistungen (z. B. CT/ MRT-gestützte interventionelle schmerztherapeutische Leistungen). Der Krankenhausträger muss die Teilnahme an der Versorgungsform lediglich anzeigen und nachweisen, dass er die erforderlichen Voraussetzungen erfüllt (vgl. § 116b Abs. 2 SGB V). Die Einzelheiten der ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung sind in der einschlägigen ASV-Richtli‐ nie 137 des GBA geregelt. Die erbrachten Leistungen des Krankenhauses werden gem. §-116b Abs. 6 SGB V unmittelbar durch die Krankenkasse vergütet. Die Krankenhäuser nehmen mit ihren Notfallambulanzen/ Notaufnahmen an der ambulanten Notfallversorgung teil. Diese ist von der notärztlichen Versorgung im Ret‐ tungsdienst und vom kassenärztlichen Notdienst abzugrenzen. Beim Rettungsdienst handelt es sich um eine Versorgung in medizinischen Notfällen (akute lebensbedroh‐ liche Erkrankungen oder Verletzungen) durch einen Notarzt und/ oder Notfallsanitä‐ ter/ Rettungsassistenten vor Ort und während des Transports in ein Krankenhaus. Der Rettungsdienst wird den Landesgesetzen der Bundesländer näher ausgestaltet. Der kassenärztliche Notdienst (auch Bereitschaftsdienst genannt) dient der ambulanten medizinischen Versorgung der Patienten in dringenden (Not-)Fällen außerhalb der üblichen Sprechzeiten der Vertragsärzte. Die Behandlung der Patienten erfolgt durch Vertragsärzte. Der Notdienst gehört zur vertragsärztlichen Versorgung, den die kas‐ senärztlichen Vereinigungen sicherstellen müssen (§ 75 Abs. 1, 1b SGB V). Die Krankenhäuser dürfen im Rahmen der ambulanten Notfallversorgung alle ärztlichen Maßnahmen erbringen, die zur Behandlung der Erkrankung oder Verletzung des Patienten notwendig und bis zur Weiterbehandlung durch einen Vertragsarzt oder stationären Krankenhausaufnahme unaufschiebbar sind. Die ambulante Not‐ 2.2 Krankenhäuser 99 <?page no="100"?> 138 Einführung des Kooperationsgebots durch das Gesetz zur Stärkung der Versorgung in der gesetzli‐ chen Krankenversicherung (GKV-VSG) v. 16.7.2015, BGBl. I S. 1211 sowie das Gesetz zur Reform der Strukturen der Krankenhausversorgung (KHSG) v. 10.12.2015, BGBl. I S.-2229. fallversorgung durch ein Krankenhaus beruht entweder auf einer entsprechenden Regelung im Landesvertrag nach § 112 SGB V (siehe Abschnitt 2.2.3.5) oder auf § 76 Abs. 1 S. 2 SGB V. Nach dieser Vorschrift dürfen die Versicherten in Notfällen andere Ärzte als Vertragsärzte aufsuchen. Die Behandlung eines Versicherten im Rahmen der ambulanten Notfallversorgung begründet einen Vergütungsanspruch des Krankenhauses gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung. Die Abrechnung erfolgt nach dem Einheitlichen Bewertungsmaßstab, der die berechnungsfähigen Leistungen der vertragsärztlichen Versorgung regelt. Innerhalb der heterogenen Strukturen der Patientenversorgung im Notfall ist bun‐ desweit festzustellen, dass Patienten die Notaufnahmen der Krankenhäuser anstelle des kassenärztlichen Notdienstes aufsuchen. Dieses Phänomen führt zu negativen Begleiterscheinungen, wie z. B. Überlastung der Mitarbeiter in Notaufnahmen und lange Wartezeiten für die Patienten. In den Jahren 2015/ 16 hat der Bundesgesetzgeber reagiert 138 und den Kassenärztlichen Vereinigungen aufgegeben, dass sie bei der Organisation des Notdienstes auch mit zugelassenen Krankenhäusern kooperieren sollen. Sie sollen entweder Notdienstpraxen in oder an Krankenhäusern einrichten oder Notfallambulanzen der Krankenhäuser unmittelbar in den Notdienst einbinden (§ 75 Abs. 1b SGB V). Dementsprechend werden die Strukturen der Notfallversorgung in den nächsten Jahren einem Wandel unterworfen sein. Sofern der Krankenhausträger gem. § 95 Abs. 1a S. 1 SGB V zugleich ein medizin‐ ischen Versorgungszentrum betreibt, unterliegt er den vertragsärztlichen Regelungen (vgl. dazu im Einzelnen Abschnitte 2.1.2.3 und 2.1.2.4). - 2.2.3.8 Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung Die §§ 135 ff. SGB V enthalten zahlreiche Regelungen zur Sicherung der Qualität der Leistungserbringung im System der gesetzlichen Krankenversicherung. So ist der Krankenhausträger wie andere Leistungserbringer verpflichtet, ein einrichtungs‐ internes Qualitätsmanagement - inkl. eines patientenorientierten Beschwerdemana‐ gements - einzuführen und weiterzuentwickeln (§ 135a Abs. 2 Nr. 2 SGB V). Ein Qualitätsmanagement umfasst alle Maßnahmen der Organisationsentwicklung, die darauf angelegt sind, die Krankenhausleistungen nicht dem Zufall zu überlassen. Es handelt sich um ein systematisches Vorgehen, um die ● Strukturqualität (personelle und sachliche Ausstattung, bauliche Gegebenheiten sowie Aufbauorganisation des Krankenhauses), ● Prozessqualität (Ablauforganisation, Art und Weise der Leistungserbringung), ● Ergebnisqualität (erreichte Behandlungsziele und Patientenzufriedenheit) 100 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="101"?> 139 Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über grundsätzliche Anforderungen an ein einrich‐ tungsinternes Qualitätsmanagement für Vertragsärztinnen und Vertragsärzte, Vertragspsychothera‐ peutinnen und Vertragspsychotherapeuten, medizinische Versorgungszentren, Vertragszahnärztin‐ nen und Vertragszahnärzte sowie zugelassene Krankenhäuser v. 17.12.2015, BAnz AT 15.11.2016 B2, z. g. a. 17.9.2020, BAnz AT 08.12.2020 B2. 140 Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses zur datengestützten einrichtungsübergreifenden Qualitätssicherung v. 19.7.2018, BAnz AT 18.12.2018 B3, z. g. a. 16.9.2021, BAnz AT 21.12.2021 B1. 141 Regelungen des Gemeinsamen Bundesausschusses gem. § 136b Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB V über Inhalt, Umfang und Datenformat eines strukturierten Qualitätsberichts für nach § 108 SGB V zugelassene Krankenhäuser v. 16.3.2013, BAnz AT 24.7.2013 B5, z. g. a. 16.12.2021, BAnz AT 14.02.2022 B2. der Krankenhausleistungen gezielt zu beeinflussen. Die diesbezüglichen Einzelheiten sind in der Qualitätsmanagement-Richtlinie des GBA 139 geregelt. Ferner muss der Krankenhausträger gem. § 135a Abs. 2 Nr. 1 SGB V an einer ein‐ richtungsübergreifenden Qualitätssicherung teilnehmen. Hierbei werden ausgewählte Leistungen der teilnehmenden Krankenhäuser bzgl. qualitätsrelevanter Messgrößen miteinander verglichen. Die Pseudonymisierung, Auswertung und Analyse der Daten erfolgt entweder durch eine Stelle auf Landesebene (z. B. bzgl. der Vermeidung von nosokomialen Infektionen) oder, wenn die Fallzahlen der Patienten oder die Anzahl der Leistungserbringer zu gering sind, auf Bundesebene (z. B. bzgl. Leber-, Lungen- oder Herztransplantationen). Die Ergebnisse der Analyse werden dem Krankenhausträger zur eigenen Beurteilung zur Verfügung gestellt. Bei statistischen Auffälligkeiten wird grundsätzlich ein sog. Strukturierter Dialog zwischen dem Krankenhausträger und der zuständigen Stelle auf Landes- oder Bundesebene durchgeführt, durch den geklärt wird, ob die Auffälligkeiten auf Qualitätsmängeln beruhen. Wenn das der Fall ist, werden Vereinbarungen und Maßnahmen zur Abhilfe getroffen. Die Qualitätssicherung kann nicht nur einrichtungsübergreifend und sektorspezi‐ fisch, sondern auch sektorenübergreifend erfolgen. Das bedeutet, dass die Leistungen in verschiedenen - z. B. ambulanten und stationären - Bereichen des Gesundheitswe‐ sens anhand von sektorenübergreifend abgestimmten Qualitätsanforderungen bewer‐ tet werden. Die Einzelheiten der einrichtungsübergreifenden und ggf. sektorenübergreifenden Qualitätssicherung sind in der Richtlinie des GBA zur datengestützten einrichtungs‐ übergreifenden Qualitätssicherung (DeQS-RL) 140 geregelt. Der Krankenhausträger ist ebenfalls verpflichtet, jährlich einen strukturierten Qua‐ litätsbericht zu veröffentlichen (§ 136b Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB V i. V. m. den Qb-R 141 ). Dieser Qualitätsbericht muss insbesondere ● die Struktur- und Leistungsdaten des Krankenhauses und der einzelnen Organisa‐ tionseinheiten und Fachabteilungen (z.-B. Anzahl der Betten, Fallzahlen), ● die Maßnahmen und den Stand der Qualitätssicherung und ● einen Berichtsteil mit speziellen Informationen für die Patienten (z. B. Risiko- und Fehlermanagement, Hygienestandard) 2.2 Krankenhäuser 101 <?page no="102"?> 142 Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses nach § 137 Absatz 3 SGB V zu Kontrollen des Medizinischen Dienstes nach § 275a SGB V v. 21.12.2017, BAnz AT 12.12.2018 B2 z. g. a. 2.12.2021, BAnz AT 22.12.2021 B5. 143 Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über eine Richtlinie zur Förderung der Qualität und zu Folgen der Nichteinhaltung sowie zur Durchsetzung von Qualitätsanforderungen des Gemeinsamen Bundesausschusses gemäß § 137 Absatz 1 SGB V v. 18.4.2019, BAnz AT 24.09.2019 B1. enthalten (vgl. § 136b Abs. 6 SGB V). Der Bericht ermöglicht es dem Krankenhaus‐ träger, seine Leistungen transparent zu machen. Zugleich dient er der Information des Patienten und der anderen Akteure des Gesundheitswesens, beispielsweise den Vertragsärzten für die Krankenhauseinweisung ihrer Patienten (vgl. §-1 Qb-R). Weitere Verpflichtungen des Krankenhausträgers im Qualitätsbereich betreffen ● den Hygienestandard (§ 136a Abs. 1 SGB V), ● die Personalausstattung von psychiatrischen und psychosomatischen Einrichtun‐ gen (§ 136a Abs. 2 SGB V), ● die Erfüllung der ärztlichen Fortbildungspflicht (§ 136b SGB V), ● die Mindestmengen planbarer Operationen, bei denen die Qualität des Behand‐ lungsergebnisses von der Menge der erbrachten Leistungen abhängt (§ 136b SGB-V), ● die Einhaltung von Qualitätsindikatoren zur Struktur-, Prozess- und Ergebnisqua‐ lität (§-136c SGB V). Wenn es Anhaltspunkte gibt, dass das Krankenhaus die aus dem Gesetz und aus den Richtlinien des GBA folgenden Qualitätsanforderungen nicht erfüllt, können die Krankenkassen oder die zuständigen Bundes- und Landesstellen der einrichtungsüber‐ greifende Qualitätssicherung den MD mit einer Qualitätsprüfung beauftragen. Diese Qualitätskontrollen können angemeldet oder unangemeldet vor Ort im Krankenhaus oder als schriftliches Verfahren stattfinden. Die Einzelheiten der Qualitätsprüfung sind in der MD-Qualitätskontroll-Richtlinie (MD-QK-RL) 142 geregelt. Für die Nichteinhaltung von Qualitätsanforderungen soll der GBA ein gestuftes Rechtsfolgensystem entwickeln, das dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gerecht wird. § 137 Abs. 1 S.-2, 3 SGB V zählt beispielhaft folgende Konsequenzen auf: ● Beratung und Unterstützung, ● vollständiger oder teilweiser Verlust der Vergütung, ● Information Dritter (z.-B. Krankenhausplanungsbehörden) über die Verstöße, ● einrichtungsbezogene Veröffentlichung von Informationen zur Nichteinhaltung von Qualitätsanforderungen. Zur Umsetzung des gesetzlichen Auftrages hat der GBA die Qualitätsförderungs- und Durchsetzungs-Richtlinie (QFD-RL) 143 erlassen. In ihr gibt er zum einen Maßnahmen zur Beratung und Unterstützung vor, wie beispielsweise den Abschluss von Zielver‐ einbarungen, Teilnahme an Fortbildungen und Fachgesprächen (vgl. § 4 QFD-RL). Zum andern regelt er Durchsetzungsmaßnahmen, wie beispielsweise Vergütungsabschläge 102 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="103"?> 144 Vgl. zum Betreiben und Anwenden von Medizinprodukten auch Hobusch, Handbuch Gesundheits‐ recht, S.-291 ff. [304 ff.]. (vgl. § 5 QFD-RL). Welche dieser Maßnahmen bei der Nichteinhaltung von Qualitäts‐ anforderungen konkret zur Anwendung kommen sollen, wird themenspezifisch in den jeweiligen Qualitätsrichtlinien des GBA festgelegt (§-2 Abs.-3, §-3 QFD-RL). 2.2.4 Betrieb und Anwendung von Medizinprodukten Im Krankenhaus kommen zahlreiche Medizinprodukte zu Einsatz: Operationstische, EKG-Geräte, Beatmungsgeräte, Dialyse-Einrichtungen, Wundauflagen, Tupfer u. v. m. (zum Begriff des Medizinprodukts vgl. Abschnitt 2.8.2). Die Medizinprodukte dürfen nur unter Berücksichtigung der MPBetreibV betrieben und angewendet werden (§ 11 MPDG, § 1 MPBetreibV). 144 Adressatenkreis dieser Verordnung sind der Betreiber und der Anwender der Medizinprodukte: ❋ Wissen │ Betreiber, Quasi-Betreiber und Anwender Nach der Definition in § 2 Abs. 2 MPBetreibV werden drei Betreiberarten unter‐ schieden. Betreiber eines Medizinproduktes ist jede natürliche oder juristische Person, die für den Betrieb der Gesundheitseinrichtung verantwortlich ist, in der das Medizinprodukt durch dessen Beschäftigte betrieben oder angewendet wird, also z.-B. der Krankenhausträger. Wenn ein Angehöriger der Heilberufe oder des Heilgewerbes ein eigenes Medizin‐ produkt zur Verwendung in eine Gesundheitseinrichtung mitbringt, so ist er selbst und nicht die Gesundheitseinrichtung Betreiber. Dies gilt z. B. für einen Belegarzt, der mit seinem eigens mitgebrachten Skalpell einen Patienten operiert. Als Betreiber gilt auch, wer außerhalb von Gesundheitseinrichtungen in seinem Betrieb oder seiner Einrichtung oder im öffentlichen Raum Medizinprodukte zur Anwendung bereithält. In diesem Sinne gelten beispielsweise Unternehmen, die auf ihrem Gelände einen Defibrillator aufhängen, als dessen Betreiber. Wenn ein Medizinprodukt vom Patienten (z.-B. ein persönliches Beatmungsgerät) in das Krankenhaus mitgebracht und von den Beschäftigten des Krankenhauses am Patienten angewendet wird, wird der Krankenhausträger für dieses Produkt zum Quasi-Betreiber (Umkehrschluss aus § 3 Abs. 2 S. 4 i. V. m. § 2 Abs. 2 S. 1 MPBetreibV). Anwender ist derjenige, der ein Medizinprodukt am Patienten einsetzt (§ 2 Abs. 3 MPBetreibV), also z. B. der im Krankenhaus angestellte Arzt oder Krankenpfleger. Von der Vielzahl der zu beachtenden Pflichten sollen nachfolgend einige aufgezeigt werden. § 4 Abs. 1 MPBetreibV gibt allgemeingültig vor, dass die 2.2 Krankenhäuser 103 <?page no="104"?> ● Zweckbestimmung des Medizinprodukts, ● die Vorschriften der MPBetreibV und ● die allgemein anerkannten Regeln der Technik beim Betreiben und Anwenden eines Medizinprodukts zu beachten sind. Zudem dürfen nur ausreichend qualifizierte Personen tätig und beauftragt werden (§ 4 Abs. 2, 5 MPBetreibV). Wenn das Medizinprodukt nicht selbsterklärend ist, muss das Personal in die Handhabung eingewiesen werden (§ 4 Abs. 3 MPBetreibV). Das Krankenhauspersonal, das ein Medizinprodukt anwendet, muss sich zuvor von dessen Funktionsfähigkeit und ordnungsgemäßem Zustand zu überzeugen. Zudem hat es die Gebrauchsanweisung und die sonstigen sicherheitsbezogenen Informationen zu beachten (§ 4 Abs. 6 MPBetreibV). Ferner dürfen Medizinprodukte nicht betrieben und angewendet werden, wenn ● sie Mängel aufweisen, durch die Patienten, Beschäftigte oder Dritte gefährdet werden können (§-11 S.-1 MPDG), ● der begründete Verdacht besteht, dass sie die Sicherheit und die Gesundheit der Patienten, der Anwender oder Dritter bei sachgemäßer Anwendung, Instandhal‐ tung und ihrer Zweckbestimmung entsprechender Verwendung über ein nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaften vertretbares Maß hinausgehend unmittelbar oder mittelbar gefährden (§ 12 Nr.-1 MPDG) oder ● das Datum abgelaufen ist, bis zu dem eine gefahrlose Anwendung nachweislich möglich ist (§ 12 Nr.-2 MPDG). Verstöße gegen diese drei Verbote werden zum einen als Ordnungswidrigkeit oder Straftat geahndet (vgl. im Einzelnen § 92 Abs. 1 Nr. 1, 2 sowie § 94 Abs. 2 Nr. 3 MPDG). Zum anderen können sie zu einer vertraglichen Haftung gem. §§ 280 ff. BGB und einer deliktischen Haftung gem. §§-823 ff. BGB führen (vgl. Abschnitt 2.2.7). ➤ Beispiel Ein im Krankenhaus angestellter Arzt setzt bei einem Patienten eine Injektion. Bei der Entnahme der Injektionskanüle aus der Verpackung hatte er auf das aufgedruckte Verfalldatum nicht geachtet. Deshalb war ihm entgangen, dass dieses bereits abgelaufen war. Wegen der nicht mehr gegebenen Sterilität der Kanüle erleidet der Patient einen Infekt sowie infolge der Behandlung des Infekts einen Verdienstausfall. Den Schaden müssen der Arzt als Handelnder und der Krankenhausträger, der für den Arzt als Erfüllungsgehilfen einstehen muss, ersetzen. Der Krankenhausträger muss für die nötige Instandhaltung der Medizinprodukte sorgen. Eine solche umfasst Instandhaltungs- und Instandsetzungsmaßnahmen: 104 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="105"?> Abb. 18: Instandhaltung von Medizinprodukten Instandhaltung umfasst alle Maßnahmen, die der Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung des Sollzustandes des Medizinprodukts dienen Instandhaltungsmaßnahmen Instandsetzung Inspektion Maßnahmen zur Prüfung des sicheren Zustandes Reparatur, Wiederherstellung Maßnahmen, mit denen verschlissene oder beschädigte Medizinprodukte wieder hergestellt werden Wartung Maßnahmen, die erforderlich sind, um Verschleiß- und Alterserscheinungen zu verhindern und die ursprüngliche Betriebsfähigkeit des Medizinprodukts zu erhalten Abbildung 18: Instandhaltung von Medizinprodukten Die durchzuführenden Maßnahmen ergeben sich aus den allgemein anerkannten Regeln der Technik und den Angaben des Herstellers (§ 7 Abs. 1 MPBetreibV). Die Personen, die der Krankenhausträger mit der Instandhaltung beauftragt (eigenes Personal oder Fremdunternehmen), müssen dafür ausreichend qualifiziert sein, hin‐ sichtlich der Instandhaltung weisungsfrei arbeiten können und über die erforderlichen Gerätschaften und Räume verfügen (§ 7 Abs. 2, § 5 MPBetreibV). Nach Abschluss der Instandhaltung sind die für die Sicherheit und Funktionstüchtigkeit wesentlichen konstruktiven und funktionellen Merkmale des Produkts zu prüfen, soweit sie durch die durchgeführten Maßnahmen beeinträchtigt worden sind oder sein können (§ 7 Abs.-3 MPBetreibV). Bestimmte Medizinprodukte dürfen nur eingesetzt werden, wenn sie keimarm oder steril sind. ➤ Beispiel Infusionsnadeln, Skalpelle, Wundhaken Der Prozess der Reinigung, Desinfektion und Sterilisation des Medizinprodukts, inkl. der damit zusammenhängenden Prüfung und (Wieder-)Herstellung der tech‐ nisch-funktionellen Sicherheit, wird als Aufbereitung bezeichnet (vgl. Art. 2 Nr. 39 MDR). Die Aufbereitung muss in einem validierten Verfahren erfolgen. Wenn die Aufbereitung entsprechend der Empfehlung zu den Anforderungen an die Hygiene 2.2 Krankenhäuser 105 <?page no="106"?> 145 Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention beim Robert Koch-Institut (RKI) und Bundesinstitutes für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), Anforderungen an die Hygiene bei der Aufbereitung von Medizinprodukten, Bundesgesundheitsblatt 2012, 1244 ff. i. d. F. d. Ergänzung zur Empfehlung „Anforderungen an die Hygiene bei der Aufbereitung von Medizinprodukten“, Epid Bull 2018, Nr.-6, S.-67-f. bei der Aufbereitung von Medizinprodukten 145 erfolgt, wird vermutet, dass sie ord‐ nungsgemäß ist (§ 8 Abs. 2 MPBetreibV). Wenn sich der Krankenhausträger nicht an diese Empfehlung hält, muss er gewährleisten und nachweisen können, dass sein Aufbereitungsprozess jederzeit die Keimarmut bzw. Sterilität des Medizinprodukts herbeiführt und somit Gefahren für Patienten, Anwender und Dritte ausgeschlossen sind. Die Personen, die der Krankenhausträger mit der Aufbereitung beauftragt (eigenes Personal oder Fremdunternehmen), müssen dafür ausreichend qualifiziert sein, hinsichtlich der Aufbereitung weisungsfrei arbeiten können und über die erfor‐ derlichen Gerätschaften und Räume verfügen (§ 8 Abs. 4, § 5 MPBetreibV). Für die Aufbereitung von Medizinprodukten „Kritisch C“ (z. B. ERCP-Katheter) muss der Krankenhausträger zudem ein zertifiziertes Qualitätsmanagementsystem vorweisen können (§ 8 Abs. 3 MPBetreibV). Gem. § 6 MPBetreibV hat der Krankenhausträger einen Beauftragten für Medizin‐ produktesicherheit zu bestellen. Dieser muss sachkundig sowie zuverlässig sein und über eine medizinische, naturwissenschaftliche, pflegerische, pharmazeutische oder technische Ausbildung verfügen. Der Beauftragte für Medizinproduktesicherheit ist die Kontaktperson für Behörden, Hersteller und Vertreiber im Zusammenhang mit Mel‐ dungen über Risiken von Medizinprodukten sowie bei der Umsetzung von Sicherheits‐ korrekturmaßnahmen im Feld (z. B. Rückruf von Medizinprodukten) und sonstigen notwendigen Korrekturmaßnahmen und hat die Umsetzung der Korrekturmaßnahmen im Krankenhaus zu koordinieren. Ferner hat er die krankenhausinternen Prozesse zur Erfüllung der Meldepflichten bzgl. schwerwiegender Vorkommnisse zu koordinieren. Das Krankenhauspersonal hat ein mutmaßliches schwerwiegendes Vorkommnis, wenn also z. B. ein Patient aufgrund der Anwendung eines Medizinproduktes stirbt oder schwerwiegende gesundheitliche Beeinträchtigungen erfährt, unverzüglich an das BfArM zu melden (§-3 MPAMIV, §§-71,-85 MPDG). Für alle aktiven nichtimplantierbaren Medizinprodukte (vgl. zum Begriff Abschnitt 2.8.2.) hat der Krankenhausträger ein Bestandsverzeichnis mit den in § 13 MPBetreibV vorgesehenen Angaben zu führen. Zu diesen gehören z. B. Bezeichnung, Anschaffungs‐ jahr, Standort des Medizinprodukts, Fristen für sicherheitstechnische Kontrollen. Weitere spezifische Pflichten bestehen für die in den Anlagen 1 und 2 der MPBetreibV genannten Medizinprodukte: 106 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="107"?> Medizinprodukt Pflichten In Anlage 1 sind z. B. • Defibrillatoren, • Säuglingsinkubatoren, • externe aktive Komponenten ak‐ tiver Implantate genannt. Der Krankenhausträger muss für • eine Funktionsprüfung vor Ort und eine spezifische Einweisung gem. § 10 MPBetreibV, • sicherheitstechnische Kontrollen gem. § 11 MPBet‐ reibV sowie • das Führen eines Medizinproduktebuchs gem. § 12 MPBetreibV sorgen. In Anlage 2 sind z. B. • Ton- und Sprachaudiometer, • Augentonometer genannt. Der Krankenhausträger muss für • das Führen eines Medizinproduktebuchs gem. § 12 MPBetreibV, • für messtechnische Kontrollen gem. § 14 MPBet‐ reibV und für die Einhaltung der Fehlergrenzen gem. § 4 Abs. 8 MPBetreibV sorgen. Tabelle 8: Spezifische Pflichten nach den §§ 4, 10, 11, 12, 14 MPBetreibV Wenn dem Patienten ein aktives implantierbares Medizinprodukt (z. B. Herzschrittma‐ cher), Herzklappen, nichtresorbierbare Gefäßprothesen oder -stützen, ein Gelenkersatz für Hüfte oder Knie, Wirbelkörperersatzsysteme oder Bandscheibenprothesen oder Brustimplantate eingesetzt wurden, ist ihm eine schriftliche Dokumentation mit den in § 15 MPBetreibV vorgesehenen Daten zu übergeben. Zu diesen gehören insbesondere Verhaltensanweisungen zur Sicherheit des Patienten, Maßnahmen, die im Fall einer Funktionsstörung zu treffen sind, sowie der Zeitpunkt der nachfolgenden Kontrollun‐ tersuchungen. Fahrlässige oder vorsätzliche Verstöße gegen die MPBetreibV können als Ordnungs‐ widrigkeit mit einer Geldbuße bis zu 30.000,- Euro geahndet werden (vgl. im Einzelnen § 17 MPBetreibV i. V. m. § 94 Abs. 2 Nr. 9, Abs. 3 MPDG). Dabei ist zu beachten, dass nicht nur Pflichtverletzungen des Krankenhausträgers als Betreiber, sondern auch die des Personals als Anwender bußgeldbewehrt sind. 2.2.5 Pflichten des Krankenhauses und seiner Mitarbeiter aus weiteren gesundheitsrechtlichen Vorschriften Die Krankenhäuser haben eine Vielzahl weiterer Pflichten zu erfüllen, die aus ver‐ schiedenen Rechtsvorschriften folgen. Einige von denen sollen nachfolgend benannt werden: Strahlenschutzgesetz und Strahlenschutzverordnung: Der Einsatz radioaktiver Stoffe mit ionisierender Strahlung ist ein nicht mehr wegzudenkender Bestandteil der heutigen Diagnostik und Therapie: Röntgenuntersuchung, Positronen-Emissions-To‐ mographie (PET), Single-Photon-Emissions-Computertomographie (SPECT), Strahlen‐ 2.2 Krankenhäuser 107 <?page no="108"?> 146 Strahlenschutzgesetz v. 27.6.2017, BGBl. I S.-1966, z. g. d. Bek. v. 3.1.2022, BGBl. I S.-15. 147 Strahlenschutzverordnung v. 29.11.2018, BGBl. I S. 2034, 2036; BGBl. 2021 I S. 5261, z. g. d. VO v. 8.10.2021, BGBl. I S.-4645. 148 Gesetz zum Schutz vor nichtionisierender Strahlung bei der Anwendung am Menschen v. 29.7.2009, BGBl. I S.-2433, z. g. d. G. v. 28.4.2020, BGBl. I S.-960. 149 Verordnung zum Schutz vor schädlichen Wirkungen nichtionisierender Strahlung bei der Anwen‐ dung am Menschen v. 29.11.2018, BGBl. I S.-2034, 2187. therapie bei Krebserkrankungen u. v. m. Der Betrieb dieser Anlagen ist gem. §§ 12, 19 Abs. 2 StrlSchG 146 ist genehmigungspflichtig. Während ihres Betriebes muss der Krankenhausträger als Strahlenschutzverantwortlicher die ihm gesetzlich zugewiese‐ nen Aufgaben wahrnehmen, insbesondere hat er unter Beachtung des Standes von Wissenschaft und Technik dafür zu sorgen, dass alle notwendigen Maßnahmen zum Schutz des Personals, der Patienten und der Umwelt ergriffen werden (vgl. § 72 StrlSchG). Ferner sind für die Leitung und Beaufsichtigung der strahlenschutzrelevanten Tätig‐ keiten Stralenschutzbeauftragte in der erforderlichen Anzahl unverzüglich schriftlich zu bestellen sowie die Aufgaben, die Befugnisse und der innerbetriebliche Entschei‐ dungsbereich der beauftragten Person(en) schriftlich festzulegen. Trotz der Bestel‐ lung von Strahlenschutzbeauftragten bleibt der Strahlenschutzverantwortliche für die Einhaltung der ihm durch Gesetz oder Rechtsverordnung auferlegten Pflichten verantwortlich (§ 70 StrlSchG). Die Anwendung radioaktiver Stoffe und ionisierender Strahlung zur Untersuchung oder Behandlung eines Patienten darf erst durchgeführt werden, nachdem ein Arzt mit der erforderlichen Fachkunde im Strahlenschutz entschieden hat, dass und auf welche Weise die Anwendung durchzuführen ist (rechtfertigende Indikation). Die rechtfertigende Indikation erfordert bei Anwendungen im Rahmen einer medizin‐ ischen Exposition die Feststellung, dass der gesundheitliche Nutzen der einzelnen Anwendung gegenüber dem Strahlenrisiko überwiegt (§ 83 Abs. 3 S. 1, 2 StrlSchG, § 119 StrlSchV 147 ). Gesetz zum Schutz vor nichtionisierender Strahlung bei Anwendung am Menschen: Der Einsatz von nichtionisierender Strahlung, z. B. bei der Magnet-Resonanz-Tomographie (MRT), hat zwar gegenüber der ionisierender Strahlung ein geringeres Gefährdungs‐ potenzial. Gleichwohl gibt es hierfür ebenfalls rechtliche Vorgaben, die der Kranken‐ hausträger beachten muss. Beispielsweise dürfen die Anlagen, die nichtionisierende Strahlung aussenden, ab einem bestimmten Referenzwert am Menschen nur angew‐ endet werden, wenn ein fachkundiger (Zahn-)Arzt eine rechtfertigende Indikation gestellt hat (§-2 Abs. 1, 2 NiSG 148 i. V. m. NiSV 149 ). Infektionsschutzgesetz: Dieses Gesetz regelt den Schutz der Bevölkerung vor über‐ tragbaren Erkrankungen. Dabei geht es zum einen um die Verhütung dieser Krankhei‐ ten und zum anderen um frühzeitige Erkennen einer Infektion und das Verhindern deren Verbreitung. Um Maßnahmen zur Bekämpfung von Infektionskrankheiten einleiten zu können, müssen die zuständigen staatlichen Behörden verlässliche In‐ formationen über relevante Vorkommnisse erhalten. Deshalb statuiert das Gesetz 108 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="109"?> 150 Ausführlicher zum Hygiene- und Infektionsschutzrecht: Hobusch, Sandra, Handbuch Gesundheits‐ recht, S.-291 ff. [319-321]. 151 Vgl. statt vieler: Brox, Walker, Besonderes Schuldrecht, S.-360 ff. Meldepflichten für Ärzte, Krankenpfleger und Laborleiter, wenn sie bestimmte Infek‐ tionskrankheiten und Krankheitserreger feststellen; vgl. dazu Abschnitt 4.4.2. Ferner müssen im Krankenhaus gem. § 23 IfSG alle erforderlichen Maßnahmen getroffen werden, um nosokomiale Infektionen zu verhüten und die Weiterverbreitung von Krankheitserregern, insbesondere solcher mit Resistenzen, zu vermeiden. Dabei sind die veröffentlichten Empfehlungen der beim RKI bestehenden Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention (KRINKO) und der Kommission Anti‐ infektiva, Resistenz und Therapie (ART) zu beachten. Nosokomiale Infektionen sind Infektionen mit lokalen oder systemischen Infektionszeichen als Reaktion auf das Vorhandensein von Erregern oder ihrer Toxine, die im zeitlichen Zusammenhang mit einer stationären oder einer ambulanten medizinischen Maßnahme stehen, soweit die Infektion nicht bereits vorher vorhanden war (§ 2 Nr. 8 IfSG). Eine der wichtigsten Maßnahmen zur Verhütung dieser Infektionen ist eine regelmäßige Händedesinfek‐ tion. 150 Heilmittelwerbegesetz und Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb: Wenn das Kran‐ kenhaus für seine Dienstleistungen zur Krankenbehandlungen werben möchte, muss es die Grenzen beachten, die aus den beiden genannten Gesetzen resultieren. Die Er‐ läuterungen im Abschnitt 2.9.14 (zur Arzneimittelwerbung) lassen sich weitestgehend hierauf übertragen. 2.2.6 Rechtsverhältnis zwischen Krankenhausträger und Patient - 2.2.6.1 Allgemeines Der Krankenhausträger geht nicht nur mit den selbstzahlenden Patienten, sondern mit allen Patienten eine vertragliche Beziehung ein, und zwar einen Behandlungsvertrag nach §§ 630a ff. BGB. Diese Vorschriften gelten sowohl für die ambulante als auch stationäre Behandlung. Für den Behandlungsvertrag ist grundsätzlich keine Form vorgeschrieben, so dass er konkludent, mündlich oder schriftlich geschlossen werden kann. Eine Ausnahme davon besteht, wenn der Patient im Rahmen einer stationären Behandlung eine Wahlleistung, z. B. die sog. Chefarztbehandlung, wünscht. Eine solche Wahlleistungsvereinbarung muss schriftlich abgeschlossen werden (§ 17 Abs. 2 KHEntgG, § 16 BPflV). Wenn der Krankenhausträger keine ambulanten, sondern voll- oder teilstationäre Krankenhausleistungen erbringt (siehe oben Abschnitt 2.2.3.5), wird der Behandlungs‐ vertrag als Krankenhausaufnahmevertrag bezeichnet. Dieser wird in drei verschiedene Arten unterteilt: 151 2.2 Krankenhäuser 109 <?page no="110"?> ❋ Wissen-│ totaler Krankenhausaufnahmevertrag Die Vertragspartner sind der Patient und der Krankenhausträger. Das Personal des Krankenhausträgers ist Erfüllungsgehilfe gem. § 278 BGB. Der Krankenhausträger schuldet alle Krankenhausleistungen, also sowohl die allgemeinen als auch die ggf. vereinbarten Wahlleistungen. ❋ Wissen-│ gespaltener Krankenhausaufnahmevertrag Der Hauptanwendungsfall dieses Vertragstyps ist Krankenhausbehandlung eines Patienten durch einen niedergelassenen Arzt als Belegarzt (vgl. § 121 SGB V). Der Patient geht einen Vertrag zum Belegarzt ein, der die ärztliche Behandlung schuldet. Des Weiteren schließt er einen Vertrag mit dem Krankenhausträger, der die Unterkunft, Verpflegung, Krankenpflege und nichtärztliche Therapie erbringt. ❋ Wissen-│ totaler Krankenhausaufnahmevertrag mit Arztzusatzvertrag Der Hauptanwendungsfall ist sog. Chefarztbehandlung als Wahlleistung, die der Patient wünscht. Der Patient hat zwei vertragliche Beziehungen, und zwar zum Krankenhausträger sowie zum liquidationsberechtigten (Chef-)Arzt. Der Arzt ver‐ pflichtet sich zur persönlichen Erbringung der ärztlichen Leistung. Der Kranken‐ hausträger schuldet alle Krankenhausleistungen, inkl. der ärztlichen Behandlung. Somit hat der Patient zwei Schuldner für die ärztliche Leistung, die jedoch wegen der Zweckidentität nur einmal (entweder vom Arzt oder vom Krankenhausträger) zu erbringen ist. - 2.2.6.2 Pflichten des Krankenhausträgers Im Mittelpunkt des Behandlungsvertrages steht die medizinische Behandlung des Patienten gegen Entgelt. Die Rechte und Pflichten der Vertragspartner ergeben sich aus den gesetzlichen und vertraglichen Regelungen. Die wichtigsten Pflichten des Krankenhausträgers sind: ● Behandlungspflicht gem. § 630a BGB Die (ambulante oder stationäre) Behandlung des Patienten zielt darauf ab, dessen körperliche und gesundheitliche Integrität wiederherzustellen. Sie umfasst die Anamnese, Diagnose und Therapie. Die Leistungspflicht des Krankenhausträgers erstreckt sich auf die ärztlichen Maßnahmen, nichtärztlichen therapeutischen Leistungen, Krankenpflege, Einsatz von Arznei-, Verbands-, Heil und Hilfsmitteln. Der Umfang der Leistungspflicht ergibt sich aus der Art der Erkrankung und aus dem Stand der medizinischen Erkenntnisse. Bei den voll- und teilstationären Behandlungen werden diese Leistungen, soweit sie notwendig sind, als allgemeine Krankenhausleistungen bezeichnet (vgl. § 2 Abs. 2 KHEntgG bzw. § 2 Abs. 2 BPflV). Ferner schuldet der Krankenhausträger die Krankenhausleistungen als vom Patienten gewünschte Wahlleistungen, wenn 110 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="111"?> diese vor der Erbringung schriftlich und unter Berücksichtigung des § 17 KHEntgG bzw. § 16 BPflV vereinbart worden sind. Wahlleistungen können beispielsweise die sog. Chefarztbehandlung, d. h. die Behandlung durch einen bestimmten Arzt des Krankenhauses, oder medizinische Wahlleistungen sein, z. B. zusätzliche diagnostische Maßnahmen oder eine kosmetische Operation im Zusammenhang mit einem notwendigen Eingriff oder die Anwendung einer Behandlungsmethode, die vom GBA für die gesetzliche Krankenversicherung ausgeschlossen worden ist. ● Aufklärungspflicht Der Krankenhausträger bzw. behandelnde Arzt ist zur Eingriffsbzw. Selbstbestim‐ mungsaufklärung verpflichtet. Der Patient muss über den ärztlichen Befund, die Art und Schwere, Heilungs- und Besserungschancen der Behandlung, Folgen einer Nichtbehandlung, über bestehende Behandlungsalternativen sowie über Risiken und Nebenwirkungen der Behandlung aufgeklärt werden (§ 630e Abs. 1 BGB), damit er selbstbestimmt in die medizinische Behandlung einwilligen kann. Ohne die Einwilligung des Patienten ist die Behandlung rechtswidrig und kann zur Haftung des Krankenhausträgers führen. Die Eingriffsbzw. Selbstbestimmungs‐ aufklärung hat so rechtzeitig zu erfolgen, dass der Patient seine Entscheidung über die Einwilligung wohlüberlegt treffen kann (§ 630e Abs. 2 BGB), bei stationären Eingriffen z.-B. am Vortag. Ferner besteht die Verpflichtung zur Sicherungsaufklärung (§ 241 Abs. 2, § 630c Abs. 2 S. 1 BGB). Das bedeutet, dass der Patient darüber informiert werden muss, wie er sich zur Sicherung des Heilerfolges zu verhalten hat (z. B. Änderung der Lebensführung, Aufsuchen eines Arztes zur Nachbehandlung). Wenn der Krankenhausträger weiß, dass die Kosten der Behandlung durch einen Dritten, z. B. private Krankenversicherung, nicht oder nicht vollständig übernom‐ men werden, muss er den Patienten darüber gem. § 630c Abs. 3 BGB aufklären (sog. wirtschaftliche Aufklärung). ● Dokumentationspflicht Der Krankenhausträger muss Maßnahmen und Ergebnisse, die aus fachlicher Sicht für die derzeitige und künftige Behandlung notwendig sind, insbesondere die Anamnese, Diagnosen, Untersuchungen, Untersuchungsergebnisse, Befunde, Therapien und ihre Wirkungen, Eingriffe und ihre Wirkungen, Einwilligungen und Aufklärungen aufzeichnen (§ 630 f BGB). Diese Aufzeichnungen darf der Patient gem. § 630 g BGB einsehen. Die Krankenkasse des Patienten hat kein eigenes Einsichtsrecht. Sie muss sich gem. § 275c SGB V des MD bedienen. ● Schweigepflicht Nach § 203 StGB wird derjenige, der unbefugt ein fremdes Geheimnis offenbart, das ihm als Arzt, Zahnarzt, Berufspsychologe oder Angehörigen eines anderen Heilberufs, der für die Berufsausübung oder die Führung der Berufsbezeichnung eine staatlich geregelte Ausbildung erfordert, anvertraut worden oder sonst be‐ kanntgeworden ist, mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. Gleiches gilt für diejenigen, die den Arzt bzw. die anderen genannten 2.2 Krankenhäuser 111 <?page no="112"?> Berufsgruppen unterstützen, also z. B. Krankenpfleger. Daraus resultiert für die genannten Personen eine Schweigepflicht über die zur Individualsphäre des Patienten gehörenden und geheimen Informationen, die sie im Rahmen des Behandlungsverhältnisses erfahren haben. ● Erbringung der sog. Hotelleistungen beim Krankenhausaufnahmevertrag. Bei einer voll- oder teilstationären Behandlung muss der Krankenhausträger für die Verpflegung und Unterkunft (sog. Hotelleistungen) sorgen. Diese gehören zu den allgemeinen Krankenhausleistungen. Zudem können in diesem Bereich auch gem. § 17 KHEntgG bzw. § 16 BPflV Wahlleistungen vereinbart werden, wie z. B. Einzelzimmer, Balkon, Fernseher, Videogerät, besondere Verpflegung. - 2.2.6.3 Pflichten des Patienten Dem Patienten obliegt es, im eigenen Interesse den Erfolg der Behandlung zu ermög‐ lichen. Das bedeutet, dass er dem behandelnden Arzt die nötigen Informationen geben und die ärztlichen Anordnungen befolgen soll (§ 630c Abs. 1 BGB). Ferner schuldet der Patient die Vergütung der Behandlung, soweit nicht ein Dritter dafür aufkommen muss (§ 630a Abs. 1 BGB). Für die teil- und vollstationäre Behandlung im Rahmen der gesetzlichen Krankenver‐ sicherung zahlt die Krankenkasse des Patienten die im Abschnitt 2.2.3.6 erläuterte Vergütung. Der gesetzlich versicherte volljährige Patient muss eine Zuzahlung in Höhe von 10 Euro pro Kalendertag, begrenzt auf max. 28 Tage pro Kalenderjahr zahlen (§ 39 Abs. 4 SGB V). Im Unterschied zur gesetzlichen Krankenversicherung ist der privat versicherte Patient gegenüber dem Krankenhaus selbst Schuldner der Vergütung, und zwar unabhängig davon, welche Aufwendungen er von seinem privaten Krankenversicherer erstattet bekommt. Eine Besonderheit besteht jedoch bei einem Patienten, der eine private Krankenversicherung im Basistarif abgeschlossen hat. In diesem Fall hat der Krankenhausträger einen Direktanspruch gegenüber dem Versicherungsunternehmen, so dass dieses zusammen mit dem Patienten gesamtschuldnerisch haftet (vgl. § 192 Abs. 7 VVG). Ferner gibt es ein sog. Klinik-Card-Verfahren. Bei diesem handelt es sich um ein Direktabrechnungsverfahren, das auf Verträgen beruht, die der Verband der Privaten Krankenversicherung im Namen der beteiligten Versicherungsunternehmen mit ein‐ zelnen Krankenhäusern schließt. Im Rahmen dieses Verfahrens erhält der Patient von seinem Versicherungsunternehmen eine sog. Klinik-Card, die er im Krankenhaus vorlegen kann. Durch Vorlage der Karte wird dem Krankenhaus zugesichert, dass die Vergütung für eine medizinisch notwendige Behandlung dem aufgedruckten Versicherungstarif gemäß erstattet wird. Dadurch entfällt die in § 8 Abs. 7 KHEntgG bzw. § 8 Abs. 4 BPflV vorgesehene Vorleistungspflicht des Patienten. Ferner kann der 112 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="113"?> 152 Vgl. Patt, Wilde, Krankenhausrecht, § 8 Rn. 46. 153 Vgl. BSG, Urt. v. 11.9.2012, B 1 KR 3/ 12 R, BeckRS 2012, 76104 Rn. 38 ff. 154 Vgl. BGH, Urt. v. 12.3.2003, IV ZR 278/ 01, NJW 2003, 1596 ff. Krankenhausträger unmittelbar gegenüber dem Versicherungsunternehmen, bei dem der Patient versichert ist, abrechnen. 152 Die Vergütung einer teil- und vollstationären Behandlung muss ein Krankenhaus‐ träger im Anwendungsbereich des KHG gegenüber allen Patienten (also auch gegenüber den privat Versicherten) einheitlich bemessen (§ 17 Abs. 1 KHG, § 8 Abs. 1 S. 1 KHEntgG, § 8 Abs. 1 S.-1 BPflV). ➤ Beispiel Eine private Klinik, die jeweils zur Hälfte gesetzlich versicherte und selbstzah‐ lende Patienten behandelt und als Plankrankenhaus eine Investitionsförderung nach dem KHG erhält, muss gegenüber allen Patienten nach dem KHEntgG bzw. BPflV abrechnen (vgl. § 5 Abs. 1 Nr.-2 KHG i. V. m. § 67 AO). Wenn das Krankenhaus gem. § 5 Abs. 1 Nr. 2 KHG nicht gefördert wird, muss der Krankenhausträger gegenüber dem selbstzahlenden Patienten nicht nach den DRG-Re‐ geln abrechnen (beachten: gilt nicht gegenüber der Krankenkasse, vgl. Abschnitt 2.2.3.6). Ebenso wenig muss er die GOÄ bzw. GOZ anwenden, weil sie nur für die beruflichen Leistungen der (Zahn-)Ärzte gilt (§ 1 Abs. 1 GOÄ, § 1 Abs. 1 GOZ). Dagegen finden diese Gebührenordnungen keine Anwendung für die Vergütung der Leistungen eines Krankenhausträgers im Rahmen des Krankenhausaufnahmevertrages. 153 Der Krankenhausträger schuldet nicht nur ärztliche, sondern alle weiteren medizinisch erforderlichen Leistungen, wie z. B. nichtärztliche therapeutische, pflegerische Leis‐ tungen sowie die Unterbringung und Verpflegung. Der Krankenhausträger kann deshalb die Höhe der Vergütung (unter Beachtung des Wucherverbots nach § 138 BGB 154 ) selbst bestimmen und seine Leistungen z. B. nach eigenen Fallpauschalen abrechnen (vgl. § 20 KHG). Davon ausgenommen ist jedoch der Fall, dass das nicht geförderte Krankenhaus in räumlicher Nähe zu einem geförderten Krankenhaus liegt und mit diesem organisatorisch verbunden ist und Krankenhausleistungen erbringt, die dem Versorgungsauftrag des geförderten Krankenhauses entsprechen (§ 17 Abs. 1 S. 5, 6 KHG). In diesem Fall muss nach den DRG-Regeln abgerechnet werden. Damit soll verhindert werden, dass Kliniken ausgegliedert werden, um die Bestimmungen des KHG zu umgehen und höhere Entgelte zu erzielen. Wenn der Krankenhausträger Wahlleistungen erbracht hat, können diese sowohl dem gesetzlich versicherten als auch selbstzahlenden Patienten in Rechnung gestellt werden. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass die Wahlleistungsvereinbarung den Anforderungen des § 17 KHEntgG gerecht wird; andernfalls schuldet der Patient die Vergütung nicht. Die Wahlleistungen müssen schriftlich und vor der Erbringung vereinbart werden. Vor dem Abschluss der Vereinbarung muss der Patient zudem 2.2 Krankenhäuser 113 <?page no="114"?> 155 Vgl. Gemeinsame Empfehlung des PKV und der DKG gemäß § 22 Absatz 1 BPflV/ § 17 Absatz 1 KHEntgG zur Bemessung der Entgelte für eine Wahlleistung Unterkunft, https: / / www.pkv.de/ filead min/ user_upload/ PKV/ b_Wissen/ PDF/ 2002_Gemeinsame_Empfehlung_zur_Bemessung_der_Entge lte_fuer_Wahlleistung_Unterkunft.pdf; Preisanpassungen zu finden unter https: / / www.dkgev.de/ th emen/ versorgung-struktur/ wahlleistungen/ (Abruf am 13.5.2022). schriftlich über die Entgelte der Wahlleistungen und deren Inhalt im Einzelnen unterrichtet werden. Für die Abrechnung der (zahn-)ärztlichen Wahlleistungen des liquidationsberechti‐ gen (Zahn-)Arztes gilt die GOÄ bzw. GOZ. Für die Bemessung der nichtärztlichen Wahlleistungen (z. B. Einzelzimmer) haben die DKG und der Verband der privaten Krankenversicherung eine gemeinsame Empfehlung vereinbart. 155 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass für die Höhe der Vergütung für teil- und vollstationären Leistungen verschiedene Bemessungsgrundlagen relevant sind: Bemessungsgrundlage der Vergütung allgemeine Krankenhausleistungen Wahlleistungen KHG, KHEntgG bzw. BPflV gegenüber der Krankenkasse des gesetzlich versicherten Patienten GOÄ bzw. GOZ für Leistungen des liquidationsberechtigten Arztes und im Übrigen krankenhauseigene Pauschalen gegenüber dem Patienten Anwendung des KHG keine Förderung des Krankenhauses nach KHG krankenhauseigene Pauschalen gegenüber dem selbstzahlenden Patienten (außer bei Ausgliederung) KHG, KHEntgG bzw. BPflV gegenüber der Krankenkasse des gesetzlich versicherten Patienten Abbildung 19: Bemessungsgrundlagen der Vergütung für teil- und vollstationären Krankenhausleistungen 114 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="115"?> 156 Vgl. https: / / www.dkg-nt-online.de/ (Abruf am 13.5.2022) oder Deutsche Krankenhausgesellschaft (Hrsg.), DKG-NT Band I/ BG-T, 36. Auflage, Stuttgart 2017. Die Vergütung für die ambulanten Leistungen bemisst sich in der gesetzlichen Kran‐ kenversicherung nach den vertraglichen Regelungen der Selbstverwaltungspartner, z. B. dem einheitlichen Bewertungsmaßstab gem. § 87 SGB V oder bei ambulanten Operationen nach dem AOP-Vertrag gem. § 115b SGB V (vgl. Abschnitt 2.2.3.7). Gegenüber den selbstzahlenden (privatversicherten) Patienten richtet sich die Höhe der Vergütung für die ambulanten Leistungen nach den vertraglichen Absprachen zwischen dem Krankenhausträger und dem Patienten. Für Bestimmung der Vergü‐ tungshöhe muss sich der Krankenhausträger nicht an der GOÄ bzw. GOZ orientie‐ ren, weil der üblicherweise als juristische Person agierende Krankenhausträger vom Anwendungsbereich der Gebührenordnungen nicht erfasst ist. Die Anwendung der Gebührenordnungen ist, wie bereits bei den stationären Leistungen erwähnt, auf den Arzt als Vertragspartner und Erbringer der Leistungen beschränkt. Deshalb kann der Krankenhausträger einen eigenen Haustarif für ambulante Behandlungen entwickeln, der sich z. B. am Tarifwerk der Deutschen Krankenhausgesellschaft, dem DKG-NT Band I 156 , oder der GOÄ bzw. GOZ orientiert. 2.2.7 Arzthaftungsrecht Für die Haftung eines Krankenhausträgers und/ oder des Arztes gegenüber dem Pati‐ enten sind die Vorschriften des BGB heranzuziehen. Das BGB unterscheidet zwischen einer vertraglichen Haftung gem. §§ 280 ff. BGB und einer deliktischen Haftung gem. §§ 823 ff. BGB, für die das Vorhandensein eines Vertrages nicht notwendig ist. ✎ Aufgaben Bei der Patientin P trat in der linken Brust ein Abszess auf, der im Krankenhaus K gespalten wurde. Nach der Operation wurde die Wunde täglich mit Octenisept gespült. An einem Tag spülte der Arzt A die Wunde versehentlich mit dem Flächendesinfektionsmittels Terralin Liquid (bestehend aus Ethanol und Propanol), das ebenfalls auf dem Wagen mit den Verbandsmaterialien und Desinfektionsmit‐ teln zur Behandlung der Patienten stand. Octenisept und Terralin Liquid waren jeweils mit einem Etikett gekennzeichnet und vom Hersteller in gleichartigen Flaschen abgefüllt. Obwohl die Wunde sofort und an den nachfolgenden Tagen mit einer Kochsalzlösung gespült wurde, verzögerte sich die Wundheilung, weil es zu oberflächlichen Verätzungen des Gewebes gekommen war. Ferner litt die Patientin über längere Zeit an Schmerzen in der äußerst berührungsempfindlichen linken Brust. Erörtern Sie, ob (1) der Arzt A und (2) der Krankenhausträger K gegenüber der Patientin P zum Schadenersatz verpflichtet sind. ➤ Lösungen im Web-Service. 2.2 Krankenhäuser 115 <?page no="116"?> 157 Vgl. Müssig, Wirtschaftsprivatrecht, S.-321; Sprau, Bürgerliches Gesetzbuch, § 823 Rn. 4. 158 Vgl. Sprau, Bürgerliches Gesetzbuch, § 823 Rn. 150, 152. Im Mittelpunkt der deliktischen Arzthaftung steht § 823 Abs. 1 BGB. Nach dieser Regelung müssen sieben Voraussetzungen bejaht werden, damit der Arzt als Schädiger zum Schadenersatz verpflichtet ist: Abb. 20: Schadensersatzpflicht nach § 823 Abs. 1 BGB (4) schuldhaftes Handeln (1) geschütztes Rechtsgut (5) widerrechtliches Handeln (2) Verletzungshandlung und (3) haftungsbegründende Kausalität (6) Schaden (7) haftungsausfüllende Kausalität § 823 Abs. 1 BGB: Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem anderen zum Ersatz des daraus entstandenen Schadens verpflichtet. Abbildung 20: Schadenersatzpflicht nach § 823 Abs. 1 BGB Es muss (1) ein geschütztes Rechtsgut, wie z. B. Leben, Gesundheit, Körper, verletzt sein. Die Beeinträchtigung des Lebens bedeutet den Tod eines Menschen. Als Kör‐ perverletzung gilt die Verletzung der körperlichen Unversehrtheit. Die Störung der inneren Funktionen oder die Beeinträchtigung des körperlichen und psychischen Wohlbefindens gelten als Verletzung der Gesundheit. 157 Die Rechtsgutverletzung wird zur Abgrenzung des unter (6) zu prüfenden Schadens auch als Primärschaden des Patienten bezeichnet. Es muss (2) eine Verletzungshandlung vorliegen. Dafür ist nicht nur aktives Handeln, also ein Tun, relevant. Ein Unterlassen kann ebenso eine Verletzungshandlung darstel‐ len, wenn eine Pflicht zum Handeln bestand. Im ärztlichen Bereich tritt die Verletzungs‐ handlung in der Regel entweder in Form eines Aufklärungs- oder Behandlungsfehlers zutage. Ein Aufklärungsfehler, im Konkreten ein Fehler bei der Selbstbestimmungs‐ aufklärung, bedeutet, dass der Arzt den Patienten nicht hinreichend aufgeklärt hat, so dass die mit der Behandlung verbundene Körper- oder Gesundheitsverletzung wegen der fehlenden Einwilligung des Patienten rechtswidrig und vom Arzt zu vertreten ist. 158 116 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="117"?> 159 Vgl. BGH, Urt. v. 10.3.1987, VI ZR 88/ 86, NJW 1987, 2291 [2292]; Sprau, Bürgerliches Gesetzbuch, §-823 Rn. 150, 151. 160 Vgl. BGH, Urt. v. 21.12.2010, VI ZR 284/ 09, NJW 2011, 1672 [1672]. 161 Vgl. BGH, Urt. v. 8.7.2003, VI ZR 304/ 02, NJW 2003, 2827 ff. [2827 f.]. 162 Vgl. BGH, Urt. v. 6.5.2003, VI ZR 259/ 02, NJW 2003, 2311 ff. [2313]. 163 Vgl. BGH, Urt. v. 17.11.2015, VI ZR 476/ 14, NJW 2016, 563 f. [564]. 164 Vgl. BGH, Urt. v. 12.7.1994, VI ZR 299/ 93, NJW 1994, 3008 ff. [3008]. 165 Vgl. BGH, Urt. v. 15.6.1993, VI ZR 175/ 92, NJW 1993, 2989 ff. [2990]; BGH, Urt. v. 20.3.2007, VI ZR 158/ 06, r+s 2007, 519 f. [519]. Ein Behandlungsfehler liegt vor, wenn der Arzt nicht die ärztliche Maßnahme ergreift, die in der konkreten Situation nach den Kenntnissen und Erfahrungen, die den jeweils gültigen medizinischen Standard seines Fachgebiets bilden, geboten ist. 159 Er umfasst insbesondere folgende Fehlertypen: ● Befunderhebungsfehler: Der Arzt unterlässt die Erhebung medizinisch gebotener Befunde. 160 ● Diagnosefehler: Der Arzt interpretiert die erhobenen Befunde falsch und erkennt eine erkennbare Krankheit und die Symptome, die die Krankheit kennzeichnen, nicht. Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Symptome bei den Patienten unterschiedlich ausgeprägt sind, so dass nicht jede unerkannte Krankheit einen Diagnosefehler bedeutet. 161 ● Therapiefehler: Die therapeutische Maßnahme des Arztes weicht von der Vorge‐ hensweise ab, die nach dem maßgeblichen Standard eines Fachgebietes medizi‐ nisch geboten ist. 162 ● Fehlende oder fehlerhafte Sicherungsaufklärung: Der Arzt unterlässt es, den Patienten nicht über die Dringlichkeit einer (weiter angeratenen) diagnostischen oder therapeutischen Maßnahmen oder darüber aufzuklären, wie sich der Patient zur Sicherung des Heilerfolges zu verhalten hat. 163 ● Übernahmeverschulden: Der Arzt übernimmt die Behandlung, obwohl er - für ihn erkennbar - nicht über ausreichende Kenntnisse und Erfahrungen oder über die notwendige Medizintechnik verfügt und die Gefährdung des Patienten hätte voraussehen müssen. 164 ● Organisationsfehler: Der Arzt bzw. der Krankenhausträger schafft nicht die nö‐ tigen Voraussetzungen für eine angemessene und gefahrlose Behandlung des Patienten. Ein solcher Fehler kann sich beispielsweise darin äußern, dass die Geräte nicht funktionstüchtig, sauber oder steril sind oder, dass die Operation einem dafür nicht ausreichend qualifizierten Arzt übertragen wird. 165 (3) Die Verletzungshandlung muss ursächlich für die Rechtsgutverletzung sein (sog. haftungsbegründende Kausalität). Insoweit wird verlangt, dass nicht die vom Arzt behandelte Erkrankung des Patienten, sondern der Fehler des Arztes zum Tod oder zur Verletzung der Gesundheit oder des Körpers geführt hat. Den Einstieg in die Prüfung der Kausalität erfolgt mit der Äquivalenztheorie, nach der jede Bedingung ursächlich 2.2 Krankenhäuser 117 <?page no="118"?> 166 Vgl. BGH, Urt. v. 11.5.1951, I ZR 106/ 50, NJW 1951, 711 f. [711]. 167 Vgl. BGH, Urt. v. 11. 1. 2005, X ZR 163/ 02, NJW 2005, 1420 ff. [1421]. 168 Vgl. BGH, Urt. vom 22.5.2012, VI ZR 157/ 11, NJW 2012, 2024 [2025] m. w. N. ist, die nicht hinweg gedacht werden kann, ohne dass der (negative) Erfolg entfiele, 166 zur Veranschaulichung: Abb. 21: Äquivalenztheorie B1 B2 B3 E Wegfall B2 und E, somit ist B2 ursächlich für E B1 B2 B3 E Wegfall B2, E bleibt, somit B2 nicht ursächlich für E Abbildung 21: Äquivalenztheorie Da die Äquivalenztheorie sehr weitgehend ist und zu einer fast endlosen Kausalkette führen kann, muss die Kausalität durch weitere Kriterien begrenzt werden. Nach der Adäquanztheorie ist die Rechtsgutverletzung nur zurechenbar, wenn die von der Handlung gesetzte Bedingung im Allgemeinen und nicht nur unter ganz besonderen, eigenartigen, ganz unwahrscheinlichen Umständen zur Herbeiführung der Verletzung geeignet war. 167 Des Weiteren erfolgt eine Begrenzung durch die Lehre vom Schutz‐ zweck der Norm. Danach müssen die äquivalenten und adäquaten Schadensfolgen aus dem Bereich der Gefahren stammen, zu deren Abwendung die verletzte Norm erlassen wurde; dies muss durch eine wertende Betrachtung ermittelt werden. 168 ➤ Beispiel Eine Patientin unterzog sich in einem Krankenhaus einem arthroskopischen Ein‐ riff am Knie. Nach der Operation kam es zu Einblutungen im Knie mit Fieber und Krämpfen. Wegen einer bekannten Blutgerinnungsstörung der Patientin hatten der Chirurg und Anästhesist, die die Operation durchführten, zuvor besprochen, dass Minirin, ein die Blutungszeit verkürzendes Arzneimittel, gegeben werden solle. Jedoch verabreichte keiner der beiden Ärzte das Medikament, weil sich jeder auf die Medikamentengabe durch den anderen Arzt verließ. Das OLG Koblenz bejahte einen groben Behandlungsfehler beider Ärzte. Aller‐ dings haftete nur der Chirurg, nicht der Anästhesist. Dessen Haftung scheiterte daran, dass sein Behandlungsfehler im Sinne der Lehre vom Schutzzweck der Norm nicht kausal für den Gesundheitsschaden der Patientin war. Die Gabe 118 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="119"?> 169 Vgl. OLG Koblenz, Urt. v. 21.10.2015, Az. 5 U 263/ 15, MedR 2016, 277 ff. 170 Vgl. Grüneberg, Bürgerliches Gesetzbuch, § 276 Rn. 10. 171 Vgl. Wagner, Münchner Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, § 630a Rn. 117-m. w. N. 172 BGH, Urt. v. 25.10.2011, VI ZR 139/ 10, r+s 2012, 150 f. [150] m. w. N. 173 Vgl. Grüneberg, Bürgerliches Gesetzbuch, Vorb v § 249 Rn. 9; Müssig, Wirtschaftsprivatrecht, S. 184. 174 Ebd. des genannten Arzneimittels durch den Anästhesisten soll Narkoserisiken, wie z. B. blutungsbedingte Schädigungen von Rückenmark und Nerven, verhindern. Derartige Schäden waren jedoch durch die Operation nicht eingetreten, die Anästhesie verlief ohne Zwischenfälle. 169 Der Arzt muss (4) schuldhaft gehandelt haben. § 823 Abs. 1 BGB unterscheidet zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit. Die Annahme eines Vorsatzes setzt das Wissen und Wollen der Verletzung des geschützten Rechtsgutes voraus. 170 Da ein solches Wissen und Wollen eines Arztes bei der Behandlung eines Patienten in der Regel nicht vorkommt, ist die Frage nach einem fahrlässigen Handeln in der Praxis von größerer Bedeutung. Fahrlässigkeit ist gem. § 276 Abs. 2 BGB das Außer-Acht-Lassen der gebotenen Sorgfalt. Die von einem Arzt zu beachtende Sorgfalt bestimmt sich nach dem medizinischen Standard seines Fachgebiets, auch als Facharztstandard bezeichnet. Zu diesem gehören alle Kenntnisse und Erfahrungen, die dem gesicherten Stand der medizinischen Wissenschaft entsprechen und in der medizinischen Praxis zur Behandlung der jeweiligen Erkrankung anerkannt sind. 171 Wenn die gebotene Sorgfalt in besonders schwerem Maße außer Acht gelassen wird, wird eine grobe Fahrlässigkeit angenommen. Das ist der Fall, wenn „der Arzt eindeutig gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoßen und einen Fehler begangen hat, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er dem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf.“ 172 Des Weiteren muss das Handeln des Arztes (5) rechtswidrig sein. Eine Verletzungs‐ handlung ist grundsätzlich rechtswidrig, weil die Verletzung eines fremden Rechtsgu‐ tes regelmäßig der Rechtsordnung widerspricht. Die Rechtswidrigkeit entfällt nur ausnahmsweise, wenn ein Rechtfertigungsgrund vorliegt, wie z. B. Notwehr, Notstand und Selbsthilfe gem. §§ 227-231 BGB. Bei der Einwilligung des Verletzten in die Schädigung (denken Sie z. B. an einen Boxkampf) handelt es sich ebenfalls um einen Rechtfertigungsgrund. Damit gemeint ist jedoch nicht die Einwilligung des Patienten in die Behandlung. Die Einwilligung des Patienten bezieht sich nur auf die regelgerechte Versorgung, nicht aber auf eine Schädigung durch einen Aufklärungs- oder Behandlungsfehler. Es muss (6) ein (Sekundär-)Schaden eingetreten sein, der in zwei verschiedene Arten unterteilt wird: Der materielle Schaden wird als unfreiwilliges Vermögensopfer, das jemand infolge eines bestimmten Ereignisses erleidet, definiert. 173 Hierzu gehören z. B. der Verdienstausfall oder Heilbehandlungskosten. Der immaterielle Schaden bedeutet ein unfreiwilliges Opfer in sonstigen rechtlich geschützten Gütern, 174 wie z. B. die 2.2 Krankenhäuser 119 <?page no="120"?> mit der o. g. Rechtsgutverletzung verbundenen Beschwerden, Verschlimmerung der Erkrankung, Verzögerung des Heilungsverlaufs, Folgeerkrankungen, Entstellungen etc. (7) Der Aufklärungs- oder Behandlungsfehler muss auch für den Sekundärschaden ur‐ sächlich sein (sog. haftungsausfüllende Kausalität). Für die Ermittlung dieser Kausalität sind die o. g. Äquivalenz-, Adäquanztheorie und die Lehre vom Schutzzweck der Norm ebenfalls maßgeblich. Wenn alle Voraussetzungen erfüllt sind, schuldet der schädigende Arzt dem Patien‐ ten ● den Ersatz des materiellen Schadens gem. §§ 249-252, §§ 842-844 BGB: Dieser Schadenersatz erstreckt sich zum einen auf die Vermögensnachteile des Patienten, z. B. auf die zusätzlich anfallenden Heilbehandlungskosten, Verdienst‐ ausfall, dauernde Nachteile infolge verminderter Erwerbsfähigkeit, vermehrte Aufwendungen für dauerhaft einzunehmende Medikamente. Zum anderen können Ansprüche Dritter entstehen, wie z. B. Unterhaltszahlungen an Kinder oder Beerdigungskosten. ● ein sog. Schmerzensgeld für den immateriellen Schaden gem. § 253 BGB: Die Höhe des Schmerzensgeld wird durch verschiedene Faktoren beeinflusst, vor allem durch die Schwere und Dauer der Schmerzen und Leiden, das Ausmaß der Entstellungen, Dauer der stationären Behandlung, Dauer der Arbeitsunfähigkeit, Trennung von der Familie, Fraglichkeit der Heilung, chronische Folgen, Grad des Verschuldens des Schädigers und Verhalten des Schädigers nach der Schädigung. Wenn ein Mitverschulden des Patienten vorliegt, weil er sich z. B. nicht an ärztliche Weisungen gehalten hat, reduziert sich der Schadenersatz gem. § 254 BGB entspre‐ chend. Als Schadenersatzverpflichteter kommt nicht nur der behandelnde Arzt, sondern auch der Krankenhausträger in Betracht. Nach § 831 Abs. 1 S. 1 BGB haftet jemand, der einen anderen zu einer Verrichtung bestellt, für den Schaden, den der andere in Ausführung der Verrichtung einem Dritten widerrechtlich zufügt. Die Bedeutung dieser deliktischen Haftung ist im Arzthaftungsrecht jedoch gering, weil sich der Krankenhausträger regelmäßig auf eine sorgfältige Auswahl seines Personals berufen kann und sich somit gem. § 831 Abs. 1 S. 2 BGB exkulpieren kann. Eine derartige Exkulpationsmöglichkeit fehlt im vertraglichen Haftungsrecht, so dass diesem im Verhältnis zwischen dem Krankenhausträger und dem Patienten eine größere Bedeu‐ tung zukommt. Der geschädigte Patient kann seinen Schadenersatzanspruch auf verschiedene Rechtsgrundlagen stützen: 120 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="121"?> 175 Ständige Rechtsprechung des BGH, vgl. z. B. BGH, Urt. v. 9.10.1986, I ZR 138/ 84, BGHZ 98, 330 ff. [334]. Abb. 22: Rechtsgrundlagen des Schadenersatzanspruchs des Patienten Patient Arzt Krankenhausträger Abbildung 22: Rechtsgrundlagen des Schadenersatzanspruchs des Patienten Der Krankenhausträgers ist gegenüber dem Patienten gem. § 280 Abs. 1 BGB zum Ersatz des materiellen und/ oder immateriellen Schadens verpflichtet, wenn alle nach‐ folgenden Voraussetzungen erfüllt sind. Diese Voraussetzungen ähneln denen des § 823 Abs. 1 BGB, so dass an verschiedenen Stellen auf die obigen Ausführungen verwiesen wird. ➤ Lernhinweis Lesen Sie § 280 Abs. 1 BGB und arbeiten Sie zunächst die Voraussetzungen des Schadenersatzes aus dem Gesetz heraus, bevor Sie weiterlesen. (1) Zwischen dem Patienten und dem Krankenhausträger muss ein Schuldverhältnis bestehen. Bei einem solchen handelt es sich um ein Rechtsverhältnis, in dem sich mindestens zwei Personen dergestalt gegenübersehen, dass sie einander zu mindestens einer Leistung berechtigt und verpflichtet sind (vgl. § 241 Abs. 1 BGB). Durch den Behandlungsvertrag bzw. Krankenhausaufnahmevertrag kommt typischerweise ein Schuldverhältnis zustande. (2) Des Weiteren stellt § 280 Abs. 1 BGB darauf ab, dass eine schuldhafte Pflichtver‐ letzung des Schuldners vorliegt. Allerdings handelt der Schuldner im arbeitsteiligen Wirtschaftsleben häufig nicht selbst, sondern bedient sich seiner Mitarbeiter, um seine Verbindlichkeiten zu erfüllen. Dies trifft regelmäßig auch für einen Krankenhausträger zu. Die Arbeitsteilung ändert jedoch nichts daran, dass der Krankenhausträger Schuld‐ ner der medizinischen Behandlung des Patienten ist. Deshalb muss er für Personen, derer er sich zur Erfüllung seiner Verbindlichkeiten bedient (sog. Erfüllungsgehilfen) gem. §-278 BGB einstehen. Erfüllungsgehilfe ist derjenige, der nach den tatsächlichen Gegebenheiten des Falls mit dem Willen des Schuldners bei der Erfüllung einer diesem obliegenden Verbindlichkeit als seine Hilfsperson tätig wird. 175 Die Zurechnung setzt voraus, dass das Fehlverhalten des Gehilfen in Erfüllung der übertragenden Aufgaben erfolgte. Wenn der Gehilfe nur eine passende Gelegenheit nutzt, um einen anderen (vorsätzlich) zu schädigen, muss der Schuldner dafür nicht einstehen. Ferner muss der 2.2 Krankenhäuser 121 <?page no="122"?> Erfüllungsgehilfe schuldhaft gehandelt haben, vgl. insoweit obige Ausführungen zur Fahrlässigkeit und zum Vorsatz unter (4). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Krankenhausträger nach § 278 BGB für einen Arzt, dem im Rahmen seiner Tätigkeit schuldhaft ein Aufklärungs- oder Behandlungsfehler unterläuft, einstehen muss, und zwar in gleichem Umfang als habe er selbst schuldhaft gehandelt. (3) Die Pflichtverletzung des Krankenhausträgers bzw. das ihm zugerechnete ärztli‐ che Handeln muss ebenfalls rechtswidrig sein. Da eine Pflichtverletzung einem Vertrag und/ oder einem Gesetz widerspricht, indiziert sie eine Rechtswidrigkeit. Sie ist nur dann nicht rechtswidrig, wenn ein Rechtfertigungsgrund vorliegt; vgl. dazu die obigen Erläuterungen zu (5). (4) Der Patient muss einen Schaden erlitten haben, siehe obige Erläuterungen zur Voraussetzung (6) (Sekundär-)Schaden. (5) Die Pflichtverletzung bzw. das dem Krankenhausträger zugerechnete Handeln des Arztes muss ursächlich für den Schaden sein. Die Ursächlichkeit beurteilt sich nach der Äquivalenz-, Adäquanztheorie und Lehre vom Schutzzweck der Norm; siehe oben unter (3) und (7). Der Umfang des geschuldeten Schadenersatzes ergibt sich schließlich aus den §§-249-254 BGB. ❋ Wichtige Schlagwörter ❋ Allgemeine Krankenhausleistungen ❋ Ambulante Krankenhausbehandlung ❋ Aufklärungsfehler ❋ Behandlungsfehler ❋ Behandlungsvertrag ❋ Hochschul‐ klinik ❋ Krankenhaus ❋ Krankenhausaufnahmevertrag ❋ Krankenhausbehand‐ lungsbedürftigkeit ❋ Krankenhausplanung ❋ Pflegesätze ❋ Plankrankenhaus ❋ Privatkrankenanstalt ❋ Privatentbindungsanstalt ❋ Privatnervenklinik ❋ Teilstationäre Krankenhausbehandlung ❋ Versorgungsauftrag ❋ Versorgungs‐ vertrag ❋ Vertragskrankenhaus ❋ Vollstationäre Krankenhausbehandlung ❋ Wahlleistungen ❋ Wirtschaftlichkeitsgebot ✎ Wiederholungsaufgaben 1. Das Medizinische Versorgungszentrum (siehe Abschnitt 2.1.2.3) möchte eine Dialysestation einrichten, in der sich die Patienten während der Dialyse mehrere Stunden aufhalten und Getränke erhalten. Die Geschäftsführerin bittet Sie als Mitarbeiter/ in zu prüfen, ob dafür eine Gewerbeerlaubnis nach §-30-GewO benötigt wird. Nehmen Sie eine entsprechende Erörterung vor. 122 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="123"?> 2. Nennen Sie zwei Versagungsgründe für die Erteilung einer Erlaubnis zum Betrieb einer Privatkrankenanstalt. 3. Erläutern sie die Rechtsfolgen, wenn ein Unternehmer eine Privatklinik ohne die erforderliche Gewerbeerlaubnis betreibt. 4. Erläutern Sie, was unter einem Krankenhausplan zu verstehen ist. 5. Die Aufnahme eines Krankenhauses in den Krankenhausplan eines Landes und die Bekanntgabe eines entsprechenden Feststellungsbescheides fingieren für das Krankenhaus einen Versorgungsvertrag nach § 109 SGB V. Erläutern Sie das Vorgehen der zuständigen Landesbehörde beim Aufstellen des Kran‐ kenhausplanes und die Kriterien, nach denen die Behörde über die Aufnahme der Krankenhäuser in den Plan entscheidet. 6. Erläutern Sie die Vertragsparteien sowie die Voraussetzungen für den Ab‐ schluss eines ausgehandelten Versorgungsvertrages, durch den ein Kranken‐ haus zur Versorgung der gesetzlich versicherten Personen zugelassen wird. 7. Die Patientin P wurde am 31. März um 20.38 Uhr notfallmäßig in das Kran‐ kenhaus K eingeliefert. Zunächst war geplant, sie nach wenigen Stunden zu entlassen, was jedoch wegen einer akuten hypertonen Kreislaufdisregulation (plötzlich auftretende Fehlregulation des Blutkreislaufes, verbunden mit ho‐ hem Blutdruck) verschoben wurde. Stattdessen wurde die Patientin P auf die innere Station aufgenommen. Die Aufnahme erfolgte mit der Hauptdiagnose A09.0 (sonstige und nicht näher bezeichnete Gastroenteritis und Kolitis infek‐ tiösen Ursprungs) und Nebendiagnose E86 (Volumenmangel, Dehydration). In der Krankenakte wurde vom aufnehmenden Arzt vermerkt, dass die Entlas‐ sung für den 2. April geplant sei. Nachdem sich der Zustand der P stabilisiert hatte, wurde sie schließlich am 1. April um 12.28 Uhr entlassen. Mitte April rechnete das Krankenhaus K gegenüber der Krankenkasse der Patientin P die DRG G67D (Ösophagitis, Gastroenteritis und verschiedene Erkrankungen der Verdauungsorgane) mit einem Abschlag für das Unterschreiten der unteren Grenzverweildauer ab. Erörtern Sie, ob eine ambulante oder vollstationäre Krankenhausbehandlung vorliegt. 8. Nennen Sie die Anspruchsvoraussetzungen für die Vergütung einer vollstati‐ onären Krankenhausbehandlung sowie die dazugehörigen Rechtsvorschriften soweit vorhanden. 9. K ist ein im Land L ansässiges Krankenhaus mit verschiedenen Fachabteilun‐ gen. Dem Krankenhausplan des Landes L entsprechend stellte das zuständige Sozialministerium mit bestandskräftigem Bescheid die Aufnahme von 120 Betten des Krankenhauses K für das Fachgebiet der Chirurgie sowie bestimmte Bettenzahlen für die Fachrichtungen Innere Medizin, Urologie, Augenheil‐ kunde und Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde fest. Der Krankenhausplan orien‐ tiert sich bzgl. der Fachrichtungen an der ärztlichen Weiterbildungsordnung des Landes L. Diese Weiterbildungsordnung unterscheidet zum einen das ✎ Wiederholungsaufgaben 123 <?page no="124"?> Fachgebiet der Chirurgie mit den Schwerpunkten Gefäß-, Thorax-, Unfall- und Visceralchirurgie. Zum anderen regelt die Weiterbildungsordnung die Herzchirurgie, die die Erkennung, operative und postoperative Behandlung von chirurgischen Erkrankungen, Verletzungen und Fehlbildungen des Her‐ zens, der herznahen Gefäße und des angrenzenden Mediastinums sowie der Lunge im Zusammenhang mit herzchirurgischen Eingriffen einschließlich der Voruntersuchungen und der Nachsorge umfasst. Das Krankenhaus K legte der Patientin P, die bei der Krankenkasse X versichert ist, im Rahmen eines planmäßigen Eingriffs zwei Bypässe. Durch die Bypässe wurden die stark verengten Herzkranzgefäße überbrückt, um eine ausreichende Blutversorgung des Herzmuskels zu sichern. Die Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit der Patientin P für diesen Eingriff lag vor. Für die Operation rechnete K gegenüber der Krankenkasse X die DRG-Fallpauschale F32Z (Koronare Bypass-Operation ohne invasive Diagnostik, ohne komplizierte Prozeduren, ohne Karotiseingriff, ohne interoperative Ablation) in Höhe von 9.786,72 Euro ab. Die Krankenkasse X lehnt die Bezahlung der Rechnung ab. Erörtern Sie auf den Fall bezogen folgende zwei Voraussetzungen eines Anspruchs des Krankenhauses K auf Vergütung der vollstationären Leistung gegen die Krankenkasse K: a. Zulassung des Krankenhauses K zur Versorgung gesetzlicher Versicher‐ ter sowie b. Behandlung der Patientin im Rahmen des Versorgungsauftrages des Krankenhauses K. 10. Benennen Sie die drei verschiedenen Typen des Krankenhausaufnahmevert‐ rages und nehmen Sie eine Abgrenzung vor. 11. Anton Arm begab sich zwecks Darmoperation ins Krankenhaus X. Er unter‐ schrieb bei Aufnahme den Vertrag zwischen ihm und der Krankenhaus X GmbH sowie, nachdem er untersucht und über die Operation ordnungsgemäß aufgeklärt worden war, die Einverständniserklärung zur Durchführung der Operation. Am nächsten Tag begann um 8.00 Uhr die Operation. Während dieser schloss der bei der Krankenhaus X GmbH angestellte Facharzt für Anästhesiologie Emil Emsig, der bis 3.00 Uhr seinen Geburtstag gefeiert hatte, unwillkürlich die Augen und nickte ein. So verpasste er, dass der Blutdruck des Anton Arm plötzlich abfiel. Nachdem die operierende Ärztin den Anästhe‐ sisten unsanft geweckt hatte, konnte zwar das Schlimmste noch verhindert werden. Gleichwohl kam es infolge des Blutdruckabfalls zu Durchblutungss‐ törungen des Gehirns und schließlich zu zerebralen Ausfällen (Kopfschmer‐ zen, Schwindelgefühl, Krämpfe etc.), die einen um drei Wochen längeren Krankenhausaufenthalt des Herrn Arm und eine anschließende dreiwöchige Rehabilitationsmaßnahme nötig machten. Den in diesem Zeitraum erlittenen Verdienstausfall in Höhe von 2.700,- Euro sowie ein Schmerzensgeld verlangt Arm von der X GmbH. 124 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="125"?> 176 HeilM-RL v. 19.5.2011, BAnz. Nr. 96 S. 2247, z. g. a. 21.9.2017, BAnz AT 23.11.2017 B1, z. g. a. 21.10.2021, BAnz AT 21.01.2022 B1. a. Liegt ein Behandlungsfehler des Anästhesisten vor? b. Wenn ja, muss dafür die Krankenhaus X GmbH gegenüber dem Patienten einstehen? Begründen Sie Ihre Antworten. ➤ Lösungen im Web-Service. 2.3 Heilmittelerbringer ➤ Lernhinweis Die nachfolgenden Erläuterungen werden Sie besser verstehen, wenn Sie die angegebenen Paragrafen der nachfolgenden Vorschriften parallel zum Lehrbuch lesen: Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), Diätassistentengesetz (DiätAssG), Ergotherapeu‐ tengesetz (ErgthG), Gesetz über den Beruf des Logopäden (LogopG) Gesetz über die Berufe in der Physiotherapie (MPhG), Richtlinie des GBA über die Verordnung von Heilmitteln in der vertragsärztlichen Versorgung (HeilM-RL) 176 , Podologengesetz (PodG), Sozialgesetzbuch 5. Buch (SGB V). 2.3.1 Berufsrecht und die Bedeutung des Heilpraktikergesetzes Bei den Heilmitteln handelt es sich um nichtärztliche therapeutische Dienstleistungen, die von entsprechend ausgebildeten Personen erbracht werden. Zu ihnen gehören insbesondere die ● Physiotherapie: Physiotherapie umfasst die physiotherapeutischen Verfahren der Bewegungstherapie sowie die physikalische Therapie. Sie nutzt sowohl die aktive selbständig ausgeführte, die assistive, therapeutisch unterstützte, als auch die passive, beispielsweise durch die Therapeutin oder den Therapeuten geführte, Bewegung des Menschen, bei Bedarf ergänzt durch den Einsatz physikalischer Therapien wie Massage-, Hydro-, Thermo- oder Elektrotherapie (§ 17 Abs. 1 HeilM-RL). ● Podologische Therapie: Die Behandlung umfasst das fachgerechte Entfernen von krankhaften Hornhautverdickungen, das Schneiden, Schleifen und Fräsen von krankhaft verdickten Zehennägeln sowie die Behandlung von Zehennägeln mit 2.3 Heilmittelerbringer 125 <?page no="126"?> Tendenz zum Einwachsen sowie von eingewachsenen Zehennägeln im Stadium 1 (§-28 Abs. 1 HeilM-RL). ● Stimm-, Sprech- und Sprachtherapie (Logopädie): Die Therapie zielt darauf ab, die Kommunikationsfähigkeit, die Stimmgebung, das Sprechen, die Sprache und den Schluckakt bei krankheitsbedingten Störungen wiederherzustellen, zu verbessern oder eine Verschlimmerung zu vermeiden (§-30 Abs. 1 HeilM-RL). ● Ergotherapie: Die ergotherapeutischen Maßnahmen dienen der Wiederherstel‐ lung, Entwicklung, Verbesserung, Erhaltung oder Kompensation der krankheits‐ bedingt gestörten motorischen, sensorischen, psychischen und kognitiven Funk‐ tionen und Fähigkeiten (§-35 Abs. 1 HeilM-RL). ● Ernährungstherapie: Ernährungstherapie ist eine ernährungstherapeutische Be‐ handlung von Erkrankungen (nicht zu verwechseln mit der Ernährungsberatung für Gesunde). Sie ist Teil eines ärztlichen Behandlungsplans und umfasst insbe‐ sondere die Beratung zur Auswahl und Zubereitung natürlicher Nahrungsmittel und zu krankheitsspezifischen Diäten sowie die Erstellung und Ergänzung eines Ernährungsplans. Seit 1.1.2018 gehört die Ernährungstherapie zu den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung, allerdings nur, wenn sie der Behandlung seltener angeborener Stoffwechselerkrankungen oder Mukoviszidose (Cystische Fibrose) dient und sie als medizinische Maßnahme (gegebenenfalls in Kombination mit anderen Maßnahmen) zwingend erforderlich ist, da ansonsten schwere geistige oder körperliche Beeinträchtigungen oder Tod drohen (§-42 Abs. 1 HeilM-RL). Das jeweils einschlägige Berufsrecht der in der Heilmittelversorgung tätigen Dienst‐ leister ist in verschiedenen Gesetzen enthalten: Berufsbezeichnungen Gesetze und Verordnungen Masseur, medizinischer Bade‐ meister, Physiotherapeut Gesetz über die Berufe in der Physiotherapie (MPhG) v. 26.5.1994, BGBl. I S.-1084, z. g. d. Gesetz v. 24.2.2021, BGBl. I S.-274 Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für den Physiothe‐ rapeuten (PhysTh-APrV) v. 6.12.1994, BGBl. I S.-3786, z. g. d. Gesetz v. 15.8.2019, BGBl. I S.-1307 Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Masseure und medizinische Bademeister (MB-APrV) v. 6.12.1994, BGBl. I S.-3770, z. g. d. Gesetz v. 15.8.2019, BGBl. I S.-1307 Podologe Podologengesetz (PodG) v. 4.12.2001, BGBl. I S. 3320, z. g. d. Gesetz v. 24.2.2021, BGBl. I S.-274 Ausbildungs- und Prüfungsverordnung (PodAPrV) v. 18.12.2001, BGBl. I 2002 S.-12, z. g. d. Gesetz v. 15.8.2019, BGBl. I S.-1307 Logopäde Gesetz über den Beruf des Logopäden (LogopG) v. 25.11.2003, BGBl. I 529, z. g. d. Gesetz v. 24.2.2021, BGBl. I S.-274 126 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="127"?> 177 Vgl. BVerwG, Urt. v. 26.8.2009, 3 C 19/ 08, NVwZ-RR 2010, 111 ff. für die Physiotherapeuten. Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Logopäden (Lo‐ gAPrO) v. 1.10.1980, BGBl. I 1892, z. g. d. Gesetz v. 15.8.2019, BGBl. I S.-1307 Ergotherapeut Ergotherapeutengesetz (ErgthG) v. 25.5.1976, BGBl. I 1246, z. g. d. Gesetz v. 24.2.2021, BGBl. I S.-274 Ergotherapeuten-Ausbildungs- und Prüfungsordnung (ErgthAPrV) v. 2.8.1999, BGBl. I S.-1731, z. g. d. Gesetz v. 15.8.2019, BGBl. I S.-1307 Diätassistent Hochschulstudium der Ökot‐ rophologie, Ernährungswissen‐ schaft oder Ernährungsmedizin oder eine andere einschlägige Aus- und Weiterbildung der Er‐ nährungstherapie Diätassistentengesetz (DiätAssG) v. 8.3.1994, BGBl. I S. 446, z. g. d. Gesetz v. 24.2.2021, BGBl. I S.-274 Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Diätassistentin‐ nen und Diätassistenten (DiätAss-APrV) v. 1.8.1994, BGBl. I S.-2088, z. g. d. Gesetz v. 15.8.2019, BGBl. I S.-1307 Die Studiengänge, Aus- und Weiterbildungsangebote ver‐ schiedener Einrichtungen unterliegen keiner einheitlichen Ausbildungsregulierung. Tabelle 9: Berufsrechtliche Regelungen der Heilmittelerbringer Die in der Tabelle genannten Berufsgesetze sehen jeweils in § 1 vor, dass die Tätigkeit unter der Berufsbezeichnung erlaubnispflichtig ist. Die Erlaubnis knüpft wiederum an verschiedene Voraussetzungen an (vgl. § 2 MPhG, § 2 PodG, § 2 LogopG, § 2 ErgThG, §-2 DiätAssG): ● Der Heilmittelerbringer muss die vorgeschriebene Ausbildung abgeleistet und die staatliche Prüfung bestanden haben. ● Er darf nicht unzuverlässig und in gesundheitlicher Hinsicht nicht ungeeignet zur Ausübung des Berufs sein. ● Ferner muss er über die für die Ausübung der Berufstätigkeit erforderlichen Kenntnisse der deutschen Sprache verfügen. Die Erlaubnis zum Führen der Berufsbezeichnung berechtigt den Heilmittelerbringer sowohl zur angestellten als auch zur selbständigen beruflichen Tätigkeit. Sie berechtigt allerdings nicht zur Krankenbehandlung ohne ärztliche Verordnung. Grund dafür ist, dass die jeweilige Ausbildung nicht zur selbständigen Erstdiagnose befähigt. 177 Eine eigenverantwortliche Krankenbehandlung des Patienten (ohne ärztliche Verordnung des Heilmittels) setzt eine auf das Berufsfeld beschränkte Heilpraktikererlaubnis voraus. Die Möglichkeit, eine solche Erlaubnis zu erlangen, ist in den letzten Jahren von der 2.3 Heilmittelerbringer 127 <?page no="128"?> 178 Vgl. BVerwG, Urt. v. 26.8.2009, 3 C 19/ 08, NVwZ-RR 2010, 111 ff.; OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 21.11.2006, 6 A 10271/ 06, BeckRS 2006, 27339; OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 13.6.2012, 13 A 668/ 09, BeckRS 2012, 52419 und nachgehend BVerwG, Beschl. v. 11.7.2013, 3 B 64/ 12, BeckRS 2013, 53603. 179 Vgl. BVerwG, Urt. v. 10.10.2019, 3 C 8/ 17, MedR 2021, 61 ff. sowie als Vorinstanz VGH Baden-Würt‐ temberg, Urt. v. 23.3.2017, 9 S 1899/ 16, juris. 180 Vgl. Sächsisches OVG, Urt. v. 14.3.2017, 4 A 703/ 16, juris. 181 Vgl. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 23.3.2017, 9 S 1034/ 15, juris. 182 Vgl. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 19.3.2009, 9 S 2518/ 08, BeckRS 2009, 32779 und nachgehend BVerwG, Beschl. v. 28.10.2009, 3 B 39/ 09, BeckRS 2009, 41579. Rechtsprechung für die Physiotherapeuten 178 , Logopäden 179 , Podologen 180 und Ergo‐ therapeuten 181 bejaht worden. Die Erteilung der beschränkten Heilpraktikererlaubnis setzt jedoch gem. § 2 HeilprGDV 1 voraus, dass die Überprüfung der Kenntnisse und Fähigkeiten des Antragstellers durch das Gesundheitsamt ergibt, dass die Ausübung der Heilkunde durch den Antragsteller keine Gefahr für die Volksgesundheit bedeuten würde (zur sektoralen Heilpraktikererlaubnis siehe auch Abschnitt 2.1.1.3). Etwas anders ist die Situation für die Masseure und medizinischen Bademeister. Sie können keine Heilpraktikerlaubnis erlangen, weil ihre Tätigkeit keine Heilkunde i. S. d. HeilprG darstellt. Heilkunde in diesem Sinne knüpft daran an, dass die betreffende Behandlung ärztliche (oder heilkundliche) Fachkenntnisse erfordert und die Behandlung gesund‐ heitliche Schäden verursachen kann. An Letzterem fehlt es bei den Behandlungen der Masseure und medizinischen Bademeister. Ihren Behandlungen wohnen keine nennenswerten Gesundheitsgefahren inne. 182 Bei Aufhebung der Erlaubnis zur Berufsausübung (gem. § 3 LogopG, § 3 ErgThG oder VwVfG des jeweiligen Bundeslandes) muss der Betroffene seine Tätigkeit einstellen. Eine Berufsausübung ohne Erlaubnis stellt eine Ordnungswidrigkeit dar (vgl. § 15 MPhG, §-9 PodG, §-7 ErgThG, §-7 LogopG, §-10 DiätAssG). 2.3.2 Leistungserbringung im System der gesetzlichen Krankenversicherung - 2.3.2.1 Heilmittelanspruch des Versicherten Nach § 32 SGB V hat der Versicherte Anspruch auf die Versorgung mit Heilmittel. Die Ausgestaltung einer ausreichenden, zweckmäßigen und wirtschaftlichen Heilmit‐ telversorgung der Versicherten überlässt der Gesetzgeber dem GBA, der auf der Grundlage des § 92 SGB V die HeilM-RL erlassen hat. In dieser werden Heilmittel wie folgt definiert: 128 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="129"?> 183 Die HeilM-RL besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil umfasst Paragraphen und drei Anlagen. Der zweite Teil enthält eine Zuordnung der Heilmittel zu Indikationen. ❋ Wissen │-Heilmittel Heilmittel sind persönlich zu erbringende medizinische Leistungen. Sie umfassen Maßnahmen der physikalischen Therapie, podologischen Therapie, der Stimm-, Sprech- und Sprachtherapie und der Ergotherapie (§ 2 Abs. 1 HeilM-RL). Die Leistungspflicht der Krankenkasse setzt gem. § 3 HeilM-RL voraus, dass das Heilmittel ärztlich verordnet worden ist und es einem der folgenden Leistungszwecke dient: ● Heilung einer Krankheit, Verhütung ihrer Verschlimmerung oder Linderung von Krankheitsbeschwerden, ● Beseitigung einer gesundheitlichen Schwächung, die in absehbarer Zeit voraus‐ sichtlich zu einer Krankheit führen würde, ● Entgegenwirken einer Gefährdung der gesundheitlichen Entwicklung eines Kin‐ des, ● Vermeidung oder Minderung einer Pflegebedürftigkeit. Welches Heilmittel mit welcher Häufigkeit verordnet wird, hängt von der Indikation, der Ausprägung und Schwere der Erkrankung sowie den daraus resultierenden funk‐ tionellen oder strukturellen Schädigungen, den Beeinträchtigungen der Aktivitäten und den angestrebten Therapiezielen ab (§-12 HeilM-RL). Der Zweite Teil 183 der HeilM-RL enthält einen indikationsbezogenen Katalog verord‐ nungsfähiger Heilmittel, den sog. Heilmittelkatalog. Neue Heilmittel oder zugelassene Heilmittel für Indikationen, die nicht im Heilmittelkatalog genannt sind, dürfen nur verordnet oder gewährt werden, wenn der GBA zuvor in der HeilM-RL den therapeutischen Nutzen anerkannt und Empfehlungen für die Sicherung der Qualität bei der Leistungserbringung abgegeben hat (§-138 SGB-V, §-4 Abs. 4 HeilM-RL). Im Heilmittelkatalog ist zudem die zulässige Höchstmenge an Behandlungseinhei‐ ten je Verordnung festgelegt (z. B. sechsmal Krankengymnastik pro Verordnung bei einer Wirbelsäulenblockierung). Von den vorgesehenen Höchstmengen pro Ver‐ ordnung kann bei (chronisch kranken) Versicherten mit einem langfristigen Heil‐ mittelbedarfabgesehen und das notwendige Heilmittel für eine Behandlungsdauer von bis zu 12 Wochen vom Vertragsarzt wiederholt verordnet werden, ohne dass es einer Genehmigung der Krankenkasse bedarf (§ 7 Abs. 6, § 8 Abs. 1, 2 HeilM-RL). Die Diagnosen, bei denen von einem langfristigen Heilmittelbedarf auszugehen ist, listet Anlage 2 des Ersten Teils der HeilM-RL auf. Wenn der Ver‐ sicherte an einer schweren dauerhaften Erkrankung leidet, die nicht in Anlage 2 gelistet, aber mit den dort Gelisteten vergleichbar ist, entscheidet die Kranken‐ kasse auf Antrag des Versicherten, ob ein langfristiger Heilmittelbedarf vorliegt 2.3 Heilmittelerbringer 129 <?page no="130"?> 184 BSG, Urt. v. 18.122018, B 1 KR 34/ 17 R, BeckRS 2018, 40930 Rn. 26. und das notwendige Heilmittel langfristig genehmigt werden kann (§ 8 Abs. 3-6 HeilM-RL). Die Genehmigung der Krankenkasse kann unbefristet erfolgen. Wenn sie befristet werden soll, darf ein Jahr nicht unterschreiten werden (§ 8 Abs. 7 HeilM-RL). Bei geringfügigen Erkrankungen - wie z. B. Erkältungen - dürfen Heilmittel nicht als Ersatz für die in diesen Fällen ausgeschlossenen Arzneimitteln verordnet werden; also beispielsweise keine physikalische Therapie anstelle eines Erkältungsmittels (§ 6 Abs. 1 HeilM-RL). Maßnahmen der Krankenbehandlung, die Vertragsärzten vorbehalten sind, können nicht als Heilmittel verordnet und von Heilmittelerbringern als eigene Leistung erbracht werden. So ist beispielsweise die Behandlung von Hautdefekten und Entzün‐ dungen der Stadien 1-5 der Wagner-Klassifizierung des diabetischen Fußsyndroms sowie von eingewachsenen Zehennägeln im Stadium 2 und 3 den Vertragsärzten vorbehalten (§ 27 Abs. 3 S. 2 HeilM-RL). Dieser Vorbehalt gilt auch gegenüber einem Heilmittelerbringer (z. B. Podologe), der über eine sektorale Heilpraktikerleistung verfügt, weil die Behandlung durch einen Heilpraktiker nicht zu den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung gehört. 184 Ferner enthält Anlage 1 des Ersten Teils der HeilM-RL einen (Negativ-)Katalog von Heilmittel, wie z. B. Fußreflexzonenmassage, Ganzkörpermassage, die nicht zulasten der Krankenkassen verordnet und erbracht werden dürfen. Im Übrigen gilt für die Heilmittelversorgung wie für alle anderen Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung das Wirtschaftlichkeitsgebot gem. § 12 Abs. 1 SGB V, so dass die Verordnung von Heilmittel beispielsweise ausscheidet, wenn das Behandlungsziel durch eigenverantwortliche Maßnahmen des Patienten erreicht werden kann (§-9 HeilM-RL). - 2.3.2.2 Zulassung des Heilmittelerbringers zur Versorgung gesetzlich Versicherter Um Heilmittel zulasten der Krankenkassen abgeben zu können, muss der Heilmittelerbringer zugelassen sein. Nach § 124 Abs. 1 SGB V ist die Zulassung an folgende Voraussetzungen geknüpft: ● Der Leistungserbringer verfügt über die erforderliche Qualifikation. Darunter fal‐ len üblicherweise die Ausbildung sowie die zur Führung der Berufsbezeichnung be‐ rechtigende Erlaubnis (siehe Abschnitt 2.3.1) oder andere einschlägige Abschlüsse, wie z. B. ein abgeschlossenes Hochschulstudium der Ernährungswissenschaften für die Ernährungstherapie. Die Einzelheiten sind in den nachfolgend genannten Verträgen auf Bundesebene geregelt. ● Die Ausstattung der Praxis gewährleistet eine zweckmäßige und wirtschaftliche Leistungserbringung. Die Anforderungen an die Praxis (z. B. Mindestgröße) und an die Geräte und Einrichtungsgegenstände sind ebenfalls in den Verträgen auf Bundesebene ausgestaltet. 130 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="131"?> 185 Vgl. BSG, Urt. v. 13.12.2001, B 3 KR 19/ 00 R, NZS 2002, 535 ff. bzgl. eines alkoholabhängigen Krankengymnasten, der die Erlaubnis zur Führung der Berufsbezeichnung Krankengymnast besaß, aber unter Betreuung stand. 186 Veröffentlichung der Verträge unter: https: / / www.gkv-spitzenverband.de/ krankenversicherung/ am bulante_leistungen/ heilmittel/ heilmittel.jsp (Abruf am 15.4.2022). 187 Aufstellung der Arbeitsgemeinschaften unter: https: / / www.zulassung-heilmittel.de (Abruf am 15.4.2022). ● Ferner muss der Heilmittelerbringer persönlich die Gewähr für eine bedarfsge‐ rechte, zweckmäßige, wirtschaftliche und qualitätsgerechte Versorgung der Ver‐ sicherten mit Heilmitteln bieten. Dabei handelt es sich um eine ungeschriebene Tatbestandsvoraussetzung, die das BSG aufgestellt hat. 185 Das BSG verweist da‐ rauf, dass die Zuverlässigkeit des Heilmittelerbringers zwar bereits bei Erteilung der berufsrechtlichen Erlaubnis geprüft werde (vgl. Abschnitt 2.3.1). Gleichwohl würden die §§ 2 Abs. 4, 12 Abs. 1, 70 Abs. 1 SGB V spezifische Anforderungen an die Heilmittelversorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung aufstellen, so dass den Krankenkassen ein eigenständiges Prüfungsrecht zukomme, ob die persönliche Eignung und Zuverlässigkeit des Antragstellers im Hinblick auf diese Anforderungen gegeben seien. ● Der Leistungserbringer erkennt die für die Versorgung der Versicherten geltenden Vereinbarungen an. Das sind zum einen die Verträge, die der GKV-Spitzenverband mit den Verbänden der Heilmittelerbringer auf Bundesebene (z. B. Deutschen Verband der Ergotherapeuten e. V., VDB-Physiotherapieverband e. V., Verband Deutscher Podologen e. V., Deutscher Bundesverband für Logopädie e. V.) gem. §-125 und §-125a SGB V 186 vereinbart. ● Für eine Praxis, die mehrere Heilmittelarten (z.-B. Physiotherapie, Logopädie und Ergotherapie) anbietet, muss der Leistungserbringer die Voraussetzungen für alle Arten erfüllen. Wenn er über die verschiedenen notwendigen Berufsabschlüsse nicht selbst verfügt, muss er eine oder mehrere andere Personen mit den Abschlüs‐ sen beschäftigen. Zum Nachweis der Voraussetzungen muss der Heilmittelerbringer verschiedene Un‐ terlagen, wie z. B. Zeugnisse, polizeiliches Führungszeugnis, Mietvertrag, vorlegen. Ferner hat er zur Überprüfung der räumlichen, sachlichen und personellen Vorausset‐ zungen der Arbeitsgemeinschaft, die über seinen Antrag entscheidet, Zutritt zu seiner Praxis zu den üblichen Praxiszeiten zu gewähren (§ 124 Abs. 3 SGB V). Wenn alle Voraussetzungen erfüllt sind, hat der Heilmittelerbringer einen Rechtsanspruch auf Erteilung der Zulassung. Die Zulassung erfolgt anders als in der Hilfsmittelversorgung nicht als Vertrag. Die Entscheidung über sie ergeht einseitig als Verwaltungsakt gem. § 31 SGB X, und zwar durch eine kassenseitig auf Landesebene gebildete Arbeitsge‐ meinschaft 187 (§ 124 Abs. 2 SGB V). Die Entscheidung der Arbeitsgemeinschaft gilt für alle Krankenkassen im gesamten Bundesgebiet. Die Zulassung ist an die Person des Zulassungsinhabers und an eine bestimmte Betriebsstätte gebunden, da die Zulassungsvoraussetzungen personen- und betriebs‐ 2.3 Heilmittelerbringer 131 <?page no="132"?> 188 Siehe auch BSG Urt. v. 23.1.2003, B 3 KR 7/ 02 R, NZS 2004, 38 ff. [41]. 189 Vgl. BSG, Urt. v. 29.11.1995, 3 RK 33/ 94, BeckRS 1995, 30758303. 190 Veröffentlichung der Verträge unter: https: / / www.gkv-spitzenverband.de/ krankenversicherung/ am bulante_leistungen/ heilmittel/ heilmittel.jsp (Abruf am 15.4.2022). stättenbezogen geprüft werden. 188 Diesbezügliche Änderungen (z. B. Umzug in andere Räumlichkeiten) führen zur Notwendigkeit, eine neue Zulassung einzuholen. Wenn der Heilmittelerbringer die Voraussetzungen der Zulassung nicht mehr erfüllt, kann die Zulassung entzogen werden (§ 124 Abs. 2 S. 2 SGB V), so dass er keine gesetzlich Versicherten mehr behandeln kann. ➤ Beispiel Der Physiotherapeut P ist seit einigen Jahren für die Versorgung der Versicherten zugelassen. Er ist von Geldsorgen geplagt und zieht zur Kostensenkung in preis‐ wertere und kleinere Praxisräume um, die eine Nutzfläche von 30 m 2 haben; davon entfallen 20 m 2 auf die Therapiefläche. Nach dem einschlägigen Vertrag zwischen dem GKV-Spitzenverband und den Spitzenverbänden der Leistungserbringer benötigt eine physiotherapeutische Praxis insgesamt eine Therapiefläche von mindestens 23 m², davon muss ein Behandlungsbereich mindestens 15 m² und ein Behandlungsbereich mindestens 8 m² umfassen. Als die für die Heilmittelzulassung zuständige Arbeitsgemeinschaft davon erfährt, teilt sie dem P mit, dass seine neuen Räume nicht die notwendige Mindestgröße aufweisen. Da P die Anmietung größerer Räume ablehnt, widerruft die Arbeits‐ gemeinschaft die Zulassung, weil P nicht über eine Praxisausstattung verfügt, die eine zweckmäßige und wirtschaftliche Leistungserbringung gewährleistet (= Zulassungsvoraussetzung gem. §-124 Abs. 1 Nr.-2 SGB V). - 2.3.2.3 Anforderungen an die Leistungserbringung Der zugelassene Heilmittelerbringer ist nicht zur persönlichen Leistungserbringung verpflichtet. Die Leistungen gegenüber dem Kunden können auch angestellte oder freie Mitarbeiter erbringen, die ebenfalls über eine einschlägige Berufsausübungserlaubnis verfügen. Nichtsdestotrotz bleibt der Zulassungsinhaber für die Heilmittelversorgung verantwortlich. 189 Die Modalitäten der Leistungserbringung werden in den Verträgen festgelegt, die der GKV-Spitzenverband mit den Verbänden der Heilmittelerbringer auf Bundesebene (z. B. Deutschen Verband der Ergotherapeuten e. V., VDB-Physiotherapieverband e. V., Verband Deutscher Podologen e. V., Deutscher Bundesverband für Logopädie e. V.) vereinbart. 190 Diese Verträge sollen gem. § 125 Abs. 2, 2a SGB V insbesondere folgende Modalitäten regeln: 132 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="133"?> 191 Vgl. BSG, Urt. v. 13.9.2011, B 1 KR 23/ 10 R, NZS 2012, 296 ff. [297] zu den früheren Rahmenverträgen zwischen den Landesverbänden der Krankenkassen/ Ersatzkassen und den Leistungserbringern bzw. deren Verbänden. 192 Vgl. BSG, Urt. v. 16.3.2017, B 3 KR 14/ 16 R, BeckRS 2017, 121765 sowie B 3 KR 15/ 16 R, BeckRS 2017, 121856. Verträge auf Bundesebene  Preise der Leistungen und Abrechnungsregelungen  Beschreibung der Leistungen  Personelle, sachliche und räumliche Anforderungen an die Leistungserbringung  Fortbildungspflichten der Heilmittelerbringer  Qualitätssicherung  Vorgaben für die notwendigen Angaben auf der Heilmittelverordnung  Wirtschaftlichkeitsprüfung Abbildung 23: Inhalt der Verträge nach § 125 SGB V Der Leistungserbringer muss die für seine Berufstätigkeit maßgeblichen vertraglichen Regelungen kennen und bei der Behandlung der gesetzlich Versicherten beachten. Sie gelten für ihn, auch wenn er kein Mitglied der vertragsschließenden Berufsverbände ist, da er nur zur Versorgung der Versicherten zugelassen wird, wenn er sie anerkennt (vgl. Abschnitt 2.3.2.2). In den Verträgen können auch Sanktionen für die Nichterfüllung von Pflichten, z.-B. Vertragsstrafen, geregelt sein. Für die Erfüllung der öffentlich-rechtlichen Leistungspflicht erlangt der Heilmit‐ telerbringer einen Vergütungsanspruch gegen die Krankenkasse des Versicherten. Die Rechtsgrundlage für den Vergütungsanspruch bildet § 125 SGB V i. V. m. dem jeweils einschlägigen auf Bundesebene geschlossenen Normsetzungsvertrag. 191 Der Vergütungsanspruch ist an mehrere Voraussetzungen geknüpft: Erste Voraussetzung: Der Leistungserbringer ist zur Heilmittelversorgung der ge‐ setzlich Versicherten zugelassen (vgl. Abschnitt 2.3.2.2) sowie berechtigt, das konkrete Heilmittel abzugeben 192 . 2.3 Heilmittelerbringer 133 <?page no="134"?> 193 Vertrag nach § 125 Abs. 1 SGB V zwischen dem GKV-Spitzenverband und dem Bundesverband selbstständiger Physiotherapeuten, dem Deutschen Verband für Physiotherapie, dem VDB-Physio‐ therapieverband und dem Verband Physikalische Therapie - Vereinigung für die Physiotherapeuti‐ schen Berufe über die Versorgung mit Leistungen der Physiotherapie und deren Vergütung i. d. F. v. 4.4.2022, unter https: / / www.gkv-spitzenverband.de/ krankenversicherung/ ambulante_leistungen/ heilmittel/ 125_physio/ 125_physiotherapie.jsp (Abruf am 18.4.2022). 194 Vgl. BSG, Urt. v. 22.7.2004, B 3 KR 12/ 04 R, BeckRS 2004, 41889, BSG, Urt. v. 12.8.2010, B 3 KR 9/ 09 R, BeckRS 2010, 75848. 195 Vgl. BSG, Urt. v. 16.3.2017, B 3 KR 14/ 16 R, BeckRS 2017, 121765 sowie B 3 KR 15/ 16 R, BeckRS 2017, 121856. 196 Vgl. BSG, Urt. v. 13.9.2011, B 1 KR 23/ 10 R, NZS 2012, 296 ff. [297]. 197 Vgl. BSG, Urt. v. 13.9.2011, B 1 KR 23/ 10 R, NZS 2012, 296 ff. [298]. ➤ Beispiel Nach § 17 Abs. 2 HeilM-RL dürfen bestimmte Maßnahmen der Physiotherapie nur erbracht werden, wenn spezielle Qualifikationen, die über die im Rahmen der Berufsausbildung erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten hinausgehen, erworben worden sind. In diesem Sinne ist beispielsweise für die manuelle Therapie vorgesehen, dass sie nur von Physiotherapeuten mit einem bestimmten Weiterbildungsabschluss abgerechnet werden kann (vgl. Abschnitt X1201 der Anlage 1 des Vertrages über die Versorgung mit Leistungen der Physiotherapie und deren Vergütung 193 ). Daraus folgt, dass weder zugelassene Physiotherapeuten ohne die vorgegebene Weiterbildung 194 noch zugelassene Masseure/ Bademeister, die die geforderte Weiterbildung erfolgreich absolviert haben, 195 die manuelle Therapie gegenüber den Krankenkassen abrechnen dürfen. Zweite Voraussetzung: Die erbrachte Heilmittelversorgung muss von einem Ver‐ tragsarzt verordnet worden sein (§ 15 Abs. 1 S. 2 SGB V). Mit der Verordnung übernimmt der Vertragsarzt gegenüber der Krankenkasse und dem Heilmittelerbringer die Verantwortung dafür, dass die Voraussetzungen für den Anspruch des Versicherten auf das verordnete Heilmittel erfüllt sind 196 (zu den Voraussetzungen siehe Abschnitt 2.3.2.1). Allerdings darf der Heilmittelerbringer nicht blindlings darauf vertrauen, dass die ärztliche Verordnung gültig ist. Da er gem. § 2 Abs. 4 SGB V ebenfalls darauf zu achten hat, dass die Leistungen wirksam und wirtschaftlich erbracht und nur im notwendigen Umfang in Anspruch genommen werden, hat er die Vollständigkeit und Plausibilität der Verordnung zu prüfen und zu bejahen, bevor er die Behandlung durch‐ führt. 197 Erweist sich die Verordnung erkennbar als falsch, muss der Heilmittelerbringer auf eine Berichtigung hinwirken. Ansonsten verliert er seinen Vergütungsanspruch teilweise oder vollständig. ➤ Beispiel Ein Vertragsarzt verordnete zehn krankengymnastische Behandlungen mit dem Indikationsschlüssel EX3a, für die im Regelfall jedoch nur sechs Behandlungen vorgesehen sind (siehe Heilmittelkatalog). Eine Genehmigung der Krankenkasse für die Abweichung vom Regelfall lag nicht vor. Der Physiotherapeut erbrachte 134 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="135"?> 198 Vgl. BSG, Urt. v. 13.9.2011, B 1 KR 23/ 10 R, NZS 2012, 296 ff. 199 Vgl. Informationen unter: https: / / www.gkv-spitzenverband.de/ krankenversicherung/ ambulante_lei stungen/ heilmittel/ heilmittel.jsp (Abruf 18.4.2022). 200 Ellenberger, Bürgerliches Gesetzbuch, Überbl v § 194 Rn. 5. 201 Ständige Rechtsprechung des BSG, vgl. z. B. BSG, Urt. v. 23.6.2015, B 1 KR 26/ 14 R, NZS 2015, 704 ff. [706]. zehn Behandlungen, die er gegenüber der Krankenkasse abrechnete. Diese beglich jedoch nur die Rechnung für sechs Behandlungen. Eine weitergehende Vergütung verneinte auch das BSG. 198 § 125a SGB V eröffnet den Weg einer sog. Blankoverordnung, in der der Vertragsarzt die Diagnose und die Indikation für eine Heilmittelbehandlung feststellt und es dem Heilmittelerbringer überlässt, das konkrete Heilmittel, die Dauer der Therapie sowie die Frequenz der Behandlungseinheiten zu bestimmen. Darüber soll der GKV-Spit‐ zenverband mit den Spitzenorganisationen der jeweiligen Heilmittelerbringer auf Bundesebene Verträge über eine Heilmittelversorgung mit erweiterter Versorgungs‐ verantwortung schließen (§ 125a SGB V). Die Verträge sollten bis zum 30.9.2021 geschlossen worden sein. Bislang (Stand: April 2022) sind in den verschiedenen Versorgungsbereichen entweder noch keine Verträge oder nur Verträge veröffentlicht, die den Vertragsschluss aufschieben (Podologie bis 31.5.2022, Ernährungstherapie bis 31.12.2024). 199 Dritte Voraussetzung: Der Heilmittelerbringer hat seine Leistung ordnungsgemäß erbracht. Das bedeutet, dass er den einschlägigen auf Bundesebene geschlossenen Ver‐ trag nach §-125 SGB V und die HeilM-RL beachtet hat. Die Verträge, insbesondere die Vertragsanlagen, gestalten die Leistungserbringung dergestalt aus, dass sie beispiels‐ weise den Leistungsumfang, das Aufstellen eines individuellen Behandlungsplans, die Behandlungsdurchführung und Dokumentationspflichten regeln. Die HeilM-RL regelt nicht nur Vorgaben für die Verordnung von Heilmittel, die von den Vertragsärzten zu beachten sind, sondern auch unmittelbar an die Heilmittelerbringer gerichtete Anforderungen an die Durchführung der Heilmittelbehandlung (insbes. §§ 15, 16 HeilM-RL). Vierte Voraussetzung: Der Vergütungsanspruch darf nicht verjährt sein. Bei der Verjährung handelt es sich um einen „Zeitablauf, der für den Schuldner das Recht begründet, die Leistung zu verweigern.“ 200 Die Verjährungsfrist beträgt analog § 45 SGB I vier Jahre und beginnt mit dem Ablauf des Kalenderjahrs, in dem der Vergütungsanspruch des Heilmittelerbringers entstanden ist. 201 Wenn der Heilmittelerbringer alle Voraussetzungen erfüllt, hat er gegenüber der Krankenkasse des Versicherten einen durchsetzbaren Vergütungsanspruch. Die Ab‐ rechnung der Vergütung hat nach den Vorgaben des § 302 SGB V i. V. m. dem einschlägigen auf Bundesebene geschlossenen Vertrag zu erfolgen. 2.3 Heilmittelerbringer 135 <?page no="136"?> 202 Anlage 2 zum Vertrag nach § 125 Absatz 1 SGB V über die Versorgung mit Leistungen der Physiotherapie und deren Vergütung, unter: https: / / www.gkv-spitzenverband.de/ krankenversicher ung/ ambulante_leistungen/ heilmittel/ 125_physio/ 125_physiotherapie.jsp (Abruf am 18.4.2022). 203 Vgl. auch Beschl-E zum Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG), BTag-Drucks. 19/ 8351, S. 199. 204 Terminservice- und Versorgungsgesetz v. 6.5.2019, BGBl. I. S.-646. 205 RegE eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten, BTag-Drucks. 17/ 10488, S.-17. Für die von den Krankenkassen zu zahlenden Vergütungen gibt es keine Festbeträge wie in der Hilfsmittelversorgung. Die Preise werden in den o. g. auf Bundesebene geschlossenen Verträgen nach §-125 SGB V geregelt. ➤ Beispiel 202 X0106 Klassische Massagetherapie = 19,51 Euro X0201 Manuelle Lymphdrainage, 45 min = 48,67 Euro X1201 Manuelle Therapie, Einzelbehandlung = 32,11 Euro Für die Preisverhandlungen haben der GKV-Spitzenverband und die Spitzenorganisa‐ tionen der Leistungserbrigner zu beachten, dass die auszuhandelnden Preise eine leistungsgerechte und wirtschaftliche Versorgung der gesetzlich Versicherten ermög‐ lichen. Insoweit sollen sie insbesondere die Entwicklung der Personal- und Sachkosten sowie die durchschnittlichen laufenden Kosten einer Heilmittelpraxis berücksichtigen (§ 125 Abs. 3 S. 1, 2 SGB V). Dagegen muss der Grundsatz der Beitragsstabilität im Un‐ terschied zu anderen Leistungsbereichen (wie z. B. der vertragsärztlichen Versorgung) nicht beachtet werden (§ 125 Abs. 3 S. 3 SGB V). Dieser Grundsatz verlangt, dass Vergütungsvereinbarungen nicht zu Beitragserhöhungen für die Versicherten führen. Deshalb orientieren sich die Krankenkassen bei Preis- und Vergütungsverhandlungen an der sog. Grundlohnrate, die die Veränderungsrate der beitragspflichtigen Einnah‐ men aller Mitglieder der Krankenkasse gegenüber dem Vorjahr abbildet (vgl. § 71 Abs. 3 SGB V). D. h. die prozentuale Preissteigerung entspricht dem prozentualen Wert der geänderten Einnahmen der Krankenkassenmitglieder. Allerdings steht die Verän‐ derungsrate in der Kritik, dass sie die Entwicklung der Sach- und Personalkosten der Leistungserbringer nicht abbildet und deshalb für Preisverhandlungen nicht geeignet ist 203 , so dass sie der Gesetzgeber für den Heilmittelbereich im Jahre 2019 außer Kraft gesetzt hat 204 . 2.3.3 Rechtsverhältnis zum Patienten Gegenstand des in den §§ 630a ff. BGB geregelten Behandlungsvertrages ist die medizi‐ nische Behandlung eines Menschen. Eine solche Behandlung umfasst alle „Maßnahmen und Eingriffe am Körper eines Menschen, um Krankheiten, Leiden, Körperschäden, körperliche Beschwerden oder seelische Störungen nicht krankhafter Natur zu verhü‐ ten, zu erkennen, zu heilen oder zu lindern.“ 205 Relevant ist nicht nur die ärztliche, sondern auch die nichtärztliche Heilbehandlung durch z. B. Masseure und medizini‐ 136 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="137"?> 206 Vgl. RegE eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten, BTag-Drucks. 17/ 10488, S.-18. 207 Vgl. OLG Zweibrücken, Urt. v. 2.11.1999, 5 U 12/ 99, BeckRS 2000, 03574 Rn.27; OLG Jena, Urt. v. 18.5.2005, 4 U 641/ 04, NJOZ 2005, 4626 ff. [4631]. 208 Vgl. OLG Zweibrücken, Urt. v. 2.11.1999, 5 U 12/ 99, BeckRS 2000, 03574 Rn.28; OLG Jena, Urt. v. 18.5.2005, 4 U 641/ 04, NJOZ 2005, 4626 ff. [4631]. 209 Vgl. OLG Jena, Urt. v. 18.5.2005, 4 U 641/ 04, NJOZ 2005, 4626 ff. sche Bademeister, Ergotherapeuten, Logopäden, Physiotherapeuten. 206 Folglich besteht zwischen dem Heilmittelerbringer und dem Patienten ein Behandlungsvertrag. Das gilt sowohl für den Selbstzahler als auch für den gesetzlich Versicherten. Der Vertrag wird in der Regel mündlich oder konkludent geschlossen; eine Schriftform ist gesetzlich nicht vorgegeben. Die Rechte und Pflichten der Vertragspartner ergeben sich aus den gesetzlichen und vertraglichen Regelungen. Eine zentrale Bedeutung hat die Behandlungspflicht des Heilmittelerbringers gem. § 630a BGB. Der Heilmittelerbringer muss den Patien‐ ten nach dem allgemein anerkannten fachlichen Standard seiner Therapierichtung behandeln. Dagegen muss er keine Anamnese vornehmen und keinen Befund erheben, die über seinen in der ärztlichen Verordnung ausgewiesenen Therapieauftrag hinaus‐ gehen. Er kann sich darauf verlassen, dass der überweisende Arzt die Indikation auf der Basis der nötigen Abklärung der Krankengeschichte und Befunde getroffen hat. 207 Ähnlich verhält es sich mit der Pflicht zur Eingriffsbzw. Selbstbestimmungsauf‐ klärung (§ 630e BGB). Diese gehört vorrangig zu den Aufgaben des behandelnden Arztes, der das Heilmittel verordnet hat. Nur der Arzt hat aufgrund der Anamnese und Diagnostik die nötigen Informationen über den Patienten und seine Erkrankung, um ihn im erforderlichen Umfang aufzuklären. Den Heilmittelerbringer trifft eine Aufklärungspflicht allenfalls, wenn er im Rahmen der verordneten Behandlung eine Auswahl zwischen mehreren risikobehafteten Maßnahmen trifft. In Unkenntnis der Auswahlentscheidung kann der verordnende Arzt den Patienten darüber nicht vorab aufklären. Im Übrigen muss sich der Heilmittelerbringer lediglich vergewissern, dass eine Aufklärung durch den Arzt, sofern sie erforderlich ist, durchgeführt wurde. Wenn er Anzeichen für eine unzureichende Eingriffsbzw. Selbstbestimmungsaufklärung hat, muss er denen nachgehen. 208 ➤ Beispiel Ein Patient begehrte von einem Physiotherapeuten Schadenersatz wegen eines Hirnstamminfarkts, der 24 Stunden nach einer Mobilisationsbehandlung der Halswirbelsäule nach Sachse/ Schildt-Rudloff eingetreten war. Das OLG Jena 209 konnte weder einen Behandlungsnoch einen Aufklärungsfehler feststellen. Hin‐ sichtlich der Aufklärungspflicht ließ es offen, ob es notwendig sei, den Patienten über die Mobilisationsbehandlung nach Sachse/ Schildt-Rudloff aufzuklären. Zum einen haften der verordneten Mobilisierung keine Risiken an, die über Alltags‐ risiken des Patienten hinausgehen würden. Zum anderen sei eine Aufklärung 2.3 Heilmittelerbringer 137 <?page no="138"?> 210 Vgl. BGH, Urt. v. 24.10.1989, X ZR 58/ 88, NJW-RR 1990, 349 f. [350]. vor dieser Behandlung weltweit nicht üblich. Jedenfalls, so das OLG, treffe die Aufklärungspflicht nicht den arbeitsteilig hinzugezogenen Physiotherapeuten. Eine Aufklärung sei vorrangig Aufgabe des Arztes, weil er die notwendigen Informationen habe, um den Patienten in geeigneter Weise aufzuklären. Des Weiteren bestehen seitens des Heilmittelerbringers die Pflicht zur Sicherungsauf‐ klärung und zur wirtschaftlichen Aufklärung sowie Schweige- und Dokumentations‐ pflichten; insoweit wird auf die Erläuterungen im Abschnitt 2.2.6.2 verwiesen. Dem Patienten obliegt es, dem Heilmittelerbringer die notwendigen Informationen zu geben und den therapeutischen Anordnungen Folge zu leisten (§ 630c Abs. 1 BGB). Ferner besteht für den Patienten die Pflicht, die Behandlung zu vergüten (§ 630a Abs. 1 BGB). Damit die Vergütungspflicht seiner Krankenkasse entsteht, muss er die ärztliche Verordnung vorlegen. Für die Behandlung im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung zahlt die Krankenkasse des Patienten die Vergütung an den Leistungserbringer (vgl. Abschnitt 2.3.2.3). Der gesetzlich versicherte volljährige Pati‐ ent muss eine Zuzahlung in Höhe von 10 % der Kosten sowie 10 Euro je Verordnung leisten (§-32 Abs. 3, §-61 S.-3 SGB-V). Für die Vergütung, die ein (privat versicherter) Selbstzahler leisten muss, gilt § 612 BGB. Danach ergibt sich die Höhe der Vergütung aus der Vereinbarung zwischen dem Heilmittelerbringer und dem Patienten. Wenn eine solche Vereinbarung nicht besteht, ist die übliche Vergütung als vereinbart anzusehen. Die übliche Vergütung orientiert sich an der Vergütung, die für gleiche oder ähnliche Dienstleistungen an dem betreffenden Ort mit Rücksicht auf die persönlichen Verhältnisse gezahlt wird. Insoweit kommt es auf die Umstände des Einzelfalls an. 210 Die Erstattung der Aufwendungen des Selbstzahlers durch seine Krankenversicherung richtet sich schließlich nach den vertraglichen Versicherungs- und Tarifbedingungen. ❋ Wichtige Schlagwörter ❋ Behandlungsvertrag ❋ Heilmittel ❋ Heilmittelkatalog ❋ Zulassung ✎ Wiederholungsaufgaben 1. Die Tätigkeit unter der Bezeichnung Logopäde ist erlaubnispflichtig. Erläutern Sie, welche Voraussetzungen der Berufsanwärter erfüllen muss, damit er die Erlaubnis bekommt. 138 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="139"?> 211 SGB IX v. 23.12.2016, BGBl. I S.-3234, z. g. d. G v. 27.9.2021, BGBl. I S.-4530. 212 SGB X i. d. F. d. Bek. v. 18.1.2001, BGBl. I S.-130, z. g. d. G v. 20.8.2021, BGBl. I S.-3932. 2. Lesen Sie den Vertrag (inkl. Anlagen), den der GKV-Spitzenverband mit dem Bundesverband für Ergotherapeuten in Deutschland e. V. und dem Deutschen Verband Ergotherapie e. V. über die Versorgung mit Leistungen der Ergotherapie und deren Vergütung geschlossen hat (unter https: / / www.gkv-s pitzenverband.de/ krankenversicherung/ ambulante_leistungen/ heilmittel/ heil mittel.jsp. Arbeiten Sie heraus, welche Praxisausstattung ein Ergotherapeut zur Heilmittelversorgung der gesetzlich Versicherten mindestens vorhalten muss. 3. Erläutern Sie die Bedeutung des Vertrages, den der GKV-Spitzenverband mit dem Bundesverband für Ergotherapeuten in Deutschland e. V. und dem Deutschen Verband Ergotherapie e.-V. über die Versorgung mit Leistungen der Ergotherapie und deren Vergütung geschlossen hat, für einen Ergotherapeuten. 4. Erläutern Sie die Aufklärungs- und Behandlungspflichten eines Physiothera‐ peuten gegenüber dem Patienten. ➤ Lösungen im Web-Service. 2.4 Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen, Rehabilitationsdienste und Erbringer ambulanter medizinischer Vorsorgeleistungen ➤ Lernhinweis Die nachfolgenden Erläuterungen werden Sie besser verstehen, wenn Sie die ange‐ gebenen Paragrafen der nachfolgenden Rechtsvorschriften parallel zum Lehrbuch lesen: Sozialgesetzbuch 5. Buch (SGB V), 6. Buch (SGB VI), 9. Buch (SGB IX) 211 , 10. Buch (SGB X) 212 . 2.4.1 Der Versichertenanspruch auf medizinische Vorsorge und medizinische Rehabilitation in der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung - 2.4.1.1 Begriffsverständnis Im Mittelpunkt des Abschnittes 2.4 stehen die medizinische Vorsorge und medizinische Rehabilitation. Diese beiden Begriffe stehen in einer Reihe mit anderen Begriffen, wie 2.4 Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen 139 <?page no="140"?> 213 RV Fit Rahmenkonzept für Leistungen zur Prävention, Stand Dezember 2020, https: / / www.deutscherentenversicherung.de/ SharedDocs/ Downloads/ DE/ Experten/ infos_reha_einrichtungen/ konzepte_ systemfragen/ konzepte/ rahmenkonzept_Med_Leistungen_Praevention.html (Abruf am 28.4.2022). Prävention, Gesundheitsförderung und Prophylaxe, so dass zunächst eine definitori‐ sche Klärung und Abgrenzung angezeigt ist. Die Prävention wird international in Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention eingeteilt. Die Primärprävention bezweckt, die Neuerkrankungsrate von Krankheiten zu senken. Als primärpräventive Leistungen bieten die Krankenkassen gem. §§ 20 ff. SGB V Leistungen zur Verhinderung und Verminderung von Krankheitsrisiken (z. B. Schutzimpfungen, Gruppen- und Individualprophylaxe zur Verhütung von Zahner‐ krankungen) sowie Leistungen zur Förderung des selbstbestimmten gesundheitsori‐ entierten Handelns der Versicherten (Gesundheitsförderung) an. Die Rentenversiche‐ rungsträger erbringen medizinische Leistungen zur Prävention 213 und zur Sicherung der Erwerbsfähigkeit an Versicherte, die erste gesundheitliche Beeinträchtigungen aufweisen, die aber noch keinen Krankheitswert haben (vgl. § 14 SGB VI). Die Sekundärprävention zielt darauf ab, die Krankenbestandsrate zu senken. Zu ihr gehören Leistungen zur Früherkennung von bevölkerungsmedizinisch bedeutsamen Krankheiten gem. §§ 25 ff. SGB V und zur frühzeitigen Behandlung von Krankheiten, um den Krankheitsverlauf abzukürzen oder umzukehren. Die medizinische Vorsorge, die Gegenstand des Abschnittes 2.4 ist, gehört je nach Zielrichtung zur primären oder sekundären Prävention. Die medizinische Rehabilitation gehört dagegen in der Regel zur Tertiärprävention, die darauf abzielt, die Schwere einer vorhandenen Krankheit zu minimieren und die Verschlimmerung der Krankheit zu verhindern, um letztlich die Teilhabe des Erkrank‐ ten am Leben in der Gesellschaft wiederherzustellen oder zu erhalten. In Betracht kommt gleichwohl auch ein sekundärpräventiver Ansatz, wenn die Rehabilitation zugleich dazu dient, eine andere Krankheit zu verhindern. - 2.4.1.2 Leistungen der medizinischen Vorsorge in der gesetzlichen Krankenversicherung Die Leistungen der medizinischen Vorsorge - so der gesetzliche Sprachgebrauch - sind in der Alltagssprache besser als Kuren bekannt. Typische Bereiche der Vorsorgeleistun‐ gen sind Herz-Kreislauf-Störungen, Beschwerden am Bewegungs- und Stützapparat, Atemwegsbeschwerden oder Erschöpfungszustände. Mit der medizinischen Vorsorge werden gem. § 23 Abs. 1 SGB die nachstehenden Ziele verfolgt: ● Schwächung der Gesundheit beseitigen, die in absehbarer Zeit voraussichtlich zu einer Krankheit führen würde, ● Krankheiten verhüten oder deren Verschlimmerung vermeiden, ● Gefährdung der gesundheitlichen Entwicklung eines Kindes oder Jugendlichen entgegenwirken oder ● Pflegebedürftigkeit vermeiden. 140 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="141"?> Die medizinische Vorsorge knüpft somit zum einen primärpräventiv an eine Schwä‐ chung der Gesundheit an, ohne dass diese bereits eine Krankheit bedeutet. Eine solche Schwächung kann sowohl aus dem eigenen Verhalten des Versicherten als auch aus Umweltfaktoren resultieren. Zum anderen kommt die Vorsorge sekundärpräventiv zum Tragen, wenn es darum geht, die Krankheit - z. B. bei einem rezidivierenden bzw. progredienten Verlauf - aufzuhalten. Das bedeutet, dass die medizinische Vorsorge im Unterschied zu den Leistungen der Krankenbehandlung nicht in jedem Fall das Vorhandensein einer Krankheit voraussetzt. Gem. §§ 23, 24 SGB V hat die medizinische Vorsorge folgende Kennzeichen: - ambulante Leistung am Wohnort - ambulante Leis‐ tung in anerkann‐ tem Kurort - stationäre Vor‐ sorgeleistung - stationäre Mutter/ Vater-Kind- Maßnahme - Leis‐ tungs‐ inhalt - komplexe Leistung (je nach Notwendigkeit) aus: • ärztliche Behandlung • Arznei- und Verbandmittel • Hilfsmittel • Heilmittel Unter‐ kunft und Ver‐ pfle‐ gung? - Unterkunft und Ver‐ pflegung in der Eigenverantwortung des Versicherten, ggf. Zuschuss durch Krankenkasse Übernahme der Kosten für Unterkunft und Verpflegung; Zuzahlung des Versi‐ cherten - Leis‐ tungs‐ erbrin‐ ger - verschiedene Leistungser‐ bringer, z.-B. Ärzte, Physio‐ therapeuten - verschiedene Leis‐ tungserbringer, wie z.-B. Kurärzte, orts‐ spezifische Heilmit‐ telerbringer, Vorsor‐ geeinrichtungen mit ambulanten Thera‐ piezentren Leistungserbringer sind zugelassene Vorsorgeeinrich‐ tungen - zugelassene Ein‐ richtungen des Müttergenesungs‐ werks oder gleich‐ artige Einrichtun‐ gen - Pflicht oder Ermes‐ sens‐ leis‐ tung? - Pflichtleistung der Krankenkasse, aber Auswahlermessen bzgl. Dauer, Umfang und Durchführung der Leistung - Tabelle 10: Medizinische Vorsorgeleistungen gem. §§ 23, 24 SGB V 2.4 Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen 141 <?page no="142"?> 214 Vgl. Gerlach, Sozialgesetzbuch - Gesamtkommentar, SGB V 23 Rn. 32. 215 Vgl. Frakt-E eines Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Krankenversicherung ab dem Jahr 2000 (GKV-Gesundheitsreform 2000), BTag-Drucks. 14/ 1245, S.-61. Die ambulanten Leistungen am Wohnort haben eine eher geringere praktische Be‐ deutung, da die Einzelleistungen (ärztliche Behandlung, Heilmittel etc.) auch als Leistungen der Krankenbehandlung erbracht und vergütet werden. 214 - 2.4.1.3 Leistungen der medizinischen Rehabilitation in der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung Die medizinische Rehabilitation verfolgt als Teil der Krankenbehandlung deren Zwe‐ cke, wie Heilung, Linderung etc. Darüber hinaus zielt sie (kumulativ) darauf ab - und insoweit unterscheidet sie sich von den anderen Leistungen der Krankenbehandlung -, die Folgen der Krankheit in Form von Fähigkeitseinschränkungen und daraus resultierenden Benachteiligungen zu minimieren oder zu beseitigen 215 oder drohende Einschränkungen und Benachteiligungen abzuwenden. Sie soll m. a. W. die Teilhabe des Betroffenen am familiären, beruflichen und gesellschaftlichen Leben sicherstellen. Erst durch diese zweite Zielsetzung wird eine Maßnahme zur Rehabilitationsleistung. Die medizinische Rehabilitation gehört damit zu den Teilhabeleistungen, die im SGB IX geregelt sind: Leistungen der Teilhabe medizinische Rehabilitation Teilhabe am Arbeitsleben (berufliche Rehabilitation) Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft (soziale Rehabilitation) ergänzende Leistungen Teilhabe an Bildung Abbildung 24: Leistungen der Teilhabe Neben den Krankenkassen und den Rentenversicherungsträgern sind weitere in § 6 SGB IX aufgezählte Rehabilitationsträger (z. B. Träger der Eingliederungshilfe, Träger der öffentlichen Jugendhilfe) für die medizinische Rehabilitation zuständig. Nachfol‐ gend wird jedoch nur die medizinische Rehabilitation der beiden insoweit größten Rehabilitationsträger - den Krankenkassen und Rentenversicherungsträgern - aufge‐ griffen. Die medizinische Rehabilitation stellt in beiden Sozialversicherungszweigen allgemein eine Komplexleistung dar, die je nach Notwendigkeit aus Einzelleistungen wie z.-B. 142 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="143"?> 216 Vgl. Kater, Kasseler Kommentar, SGB VI § 15 Rn. 15. ● Behandlung durch Ärzte und Zahnärzte, ● Psychotherapie als ärztliche und psychotherapeutische Behandlung, ● Arznei- und Verbandmittel, ● Heilmitteln, ● Hilfsmitteln, ● Belastungserprobung und Arbeitstherapie, ● Vermittlung von Kontakten zu örtlichen Selbsthilfe- und Beratungsmöglichkeiten, ● Training lebenspraktischer Fähigkeiten besteht (vgl. im Einzelnen § 42 SGB IX). Die Leistungen der medizinischen Rehabilita‐ tion werden unter Beachtung des SGB IX erbracht, soweit für die Krankenkassen im SGB V und für die Rentenversicherungsträger im SGB VI nichts anderes bestimmt ist (§ 11 Abs. 2 S.-3 SGB V, § 7 SGB IX). Die Verteilung der Zuständigkeit der einzelnen Rehabilitationsträger bestimmt sich gem. § 7 Abs. 1 S. 2 SGB IX nach den jeweiligen Leistungsgesetzen, also nach dem SGB V für die Krankenkassen und dem SGB VI für die Rentenversicherungsträger. Für die Leistungsgewährung sehen die §§ 14, 15 SGB IX eine zügige Zuständigkeitsklärung vor. Der erstangegangene Rehabilitationsträger muss innerhalb von zwei Wochen klären, ob er nach dem für ihn geltenden Leistungsgesetz für die beantragte Leistung zustän‐ dig ist, oder den Antrag des Versicherten an den zuständigen Rehabilitationsträger weiterleiten. Die Krankenkassen erbringen die Leistungen mit dem Ziel, eine Behinderung oder Pflegebedürftigkeit abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, auszugleichen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mildern (§ 11 Abs. 2 SGB V). Gem. § 40 Abs. 4 SGB V sind sie jedoch grundsätzlich nur dann leistungspflichtig, wenn die Rehabilitation nach den für andere Sozialversicherungsträger geltenden Vorschriften nicht erbracht werden kann. Damit wird eine Nachrangigkeit der Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung gegenüber anderen Sozialversicherungszweigen - u.-a. gegenüber der Rentenversicherung - begründet. Die Leistungen der medizinische Rehabilitation der Rentenversicherungsträger zielen auf die Erhaltung und Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit sowie auf die Verminderung der gesundheitlichen oder behinderungsbedingten Einschränkung der Erwerbsfähigkeit ab (§ 9 Abs. 1 S. 1, § 10 Abs. 1 SGB VI). Das gilt auch für Kinder, wenn durch die Rehabilitation eine Gesundheitsbeeinträchtigung vermieden wird, die Einfluss auf die spätere Erwerbstätigkeit haben kann (§ 15a SGB VI). Somit sind die Krankenkassen nicht zuständig, wenn es bei der Rehabilitation um den Erhalt der Erwerbsfähigkeit geht. Dies führt beispielsweise im Fall einer Suchterkrankung zu folgender Zuständigkeitsverteilung: 216 2.4 Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen 143 <?page no="144"?> 217 Beispiel in Anlehnung an: Blatt, Hohmann, Ahlrichs, Die Ersatzkasse 2005, 422 ff. [424]. Suchterkrankung Zuständigkeit der Krankenkasse für die me‐ dizinische Entzugsbehandlung Zuständigkeit des Rentenversicherers für die Entwöhnungsbehandlung, die die Abkehr von der Sucht bezweckt Tabelle 11: Zuständigkeit der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung bei Behandlung einer Suchterkrankung Umgekehrt stellt § 13 Abs. 2 SGB VI zum einen klar, dass der Rentenversicherungsträger grundsätzlich nicht für eine akute Krankenbehandlung zuständig ist. Ausgenommen ist davon nur der Fall, dass die Behandlungsbedürftigkeit während der Ausführung von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation eintritt. Zum anderen darf die medizini‐ sche Rehabilitation nicht anstelle einer sonst erforderlichen Krankenhausbehandlung erbracht werden. Von der vorgenannten Nachrangigkeit der Rehabilitationsleistungen der Kranken‐ versicherung sind jedoch gem. § 40 Abs. 4 SGB V die Kinderrehabilitation gem. § 15a SGB VI sowie die Nachsorge gem. § 17 und § 31 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI ausgenommen, so dass die Krankenkasse und der Rentenversicherungsträger nebeneinander zuständig sind. Sowohl die ambulante als auch die stationäre Rehabilitation ist eine Pflichtleistung der Krankenkasse bzw. des Rentenversicherungsträgers. Die Entscheidung über Art, Umfang und Durchführung, Beginn und Dauer der Leistungen sowie über den Reha‐ bilitationsdienst oder die Rehabilitationseinrichtung, der/ die die Leistung erbringen soll, liegt jedoch im pflichtgemäßen Ermessen der Krankenkasse bzw. des Rentenver‐ sicherungsträgers (§ 40 Abs. 3 SGB V, § 13 Abs. 1 SGB VI). Berechtigte Wünsche des Versicherten, die z. B. aus der persönliche Lebenssituation, dem Alter oder aus religiösen Bedürfnissen resultieren, und die Belange der Angehörigen, die den Versicherten pflegen, sind bei der Ermessensausübung zur berücksichtigen (§ 8 Abs. 1 SGB IX). ➤ Beispiel-│-stationäre neurologische Rehabilitation Eine dialysepflichtige Versicherte mit einer schweren Sehbeeinträchtigung benö‐ tigt eine stationäre neurologische Rehabilitation. Bei der Ermessensausübung wird neben der zur Indikation passende Rehabilitationsmaßnahme auch ermittelt, welche neurologische Einrichtung dialysepflichtige Patienten aufnehmen kann und für Sehbehinderte geeignet ist. 217 Für die Inanspruchnahme der medizinischen Rehabilitation muss der Versicherte bestimmte persönliche und versicherungsrechtliche Voraussetzungen erfüllen. Diese ergeben sich nicht aus dem SGB IX, sondern gem. § 7 Abs. 1 S. 2 SGB IX aus den 144 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="145"?> 218 Richtlinie des GBA über Leistungen zur medizinischen Rehabilitation v. 16.3.2004, BAnz Nr. 63 (S.-6769) v. 31.3.2004, z. g. a. 19.12.2019, BAnz AT 17.03.2020 B3. 219 Vgl. Egen, Christoph, Busche, Thilo, Gutenbrunner, Christoph, das Krankenhaus 2021, 109 ff. [110]. 220 Vgl. BSG, Urt. v. 5.7.2000, B 3 KR 12/ 99 R, NZS 2001, 357 ff. [359]. konkreten leistungsrechtlichen Regelungen. Für die gesetzliche Krankenversicherung sieht die Rehabilitations-Richtlinie des GBA 218 beispielsweise vor, dass eine Rehabilia‐ tionsbedürftigkeit und -fähigkeit des Versicherten gegeben ist. Lt. § 8 Reha-RL besteht eine Rehabilitationsbedürftigkeit, wenn aufgrund einer körperlichen, geistigen oder seelischen Schädigung ● voraussichtlich nicht nur vorübergehende alltagsrelevante Beeinträchtigungen der Aktivität vorliegen, durch die in absehbarer Zeit eine Beeinträchtigung der Teilhabe droht oder ● Beeinträchtigungen der Teilhabe bereits bestehen und ● über die kurative Versorgung hinaus der mehrdimensionale und interdisziplinäre Ansatz der medizinischen Rehabilitation erforderlich ist. Rehabilitationsfähig sind Versicherte, wenn sie aufgrund ihrer somatischen und psy‐ chischen Verfassung die für die Durchführung und Mitwirkung bei der Leistung zur medizinischen Rehabilitation notwendige Belastbarkeit besitzen (§ 9 Reha-RL). Ferner bedarf es einer positiven Rehabilitationsprognose. Dabei handelt es sich um eine medizinisch begründete Wahrscheinlichkeitsaussage, dass die mit den Leistungen angestrebten Verbesserungen in der angesetzten Zeit erreichbar sind 219 (§ 10 Reha-RL). Für die Rentenversicherung regeln die §§ 10, 11 SGB VI spezifische persönliche und versicherungsrechtliche Voraussetzungen, die der der Versicherte erfüllen muss, um Leistungen der Rehabilitation in Anspruch nehmen zu können. Die Rehabilitation ist wegen des Grundsatzes der Wirtschaftlichkeit vorrangig in ambulanter Form zu erbringen. Wenn diese aus medizinischen Gründen für die Versorgung des Versicherten nicht ausreichend ist, so wird die Rehabilitation stationär durchgeführt. Die teilstationäre Versorgung gilt ebenfalls als ambulant. Das ist anders als im Krankenhausbereich, in dem die teil- und vollstationären Behandlungen ver‐ gleichbaren Regelungen unterworfen sind. Grund dafür ist, dass es sich bei einer Reha‐ bilitation nicht um eine Einzelleistung (wie z. B. zehnmal Krankengymnastik), sondern um eine Komplexleistung handelt. Angesichts dieser Charakteristik unterscheiden sich ambulante/ teilstationäre Maßnahmen von einer vollstationären Rehabilitation im Kern nur dadurch, dass keine Unterkunft und Verpflegung gewährt werden. 220 ➤ Beispiel-│-ambulante medizinische Rehabilitationsleistung Eine ambulante orthopädische-traumatologische Rehabilitation (AOTR) ist eine besondere Kombination aus Krankengymnastik, physikalischer Therapie und medizinischer Trainingstherapie unter ständiger ärztlicher Verantwortung zur Behandlung von Erkrankungen des Bewegungsapparates. 2.4 Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen 145 <?page no="146"?> 221 Vgl. Krauskopf, Soziale Krankenversicherung Pflegeversicherung Kommentar, § 111c SGB V Rn. 4.; Abschnitt 2.4 der RPK-Empfehlungsvereinbarung und Handlungsempfehlungen für die praktische Umsetzung, Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (Hrsg.), https: / / www.bar-frankfurt.de/ se rvice/ publikationen/ produktdetails/ produkt/ 60.html (Abruf am 28.4.2022). 222 Vgl. zu dem Beispiel: BSG, Urt. v. 23.7.2002, B 3 KR 63/ 01 R, BeckRS 2002, 30274189. Die ambulante Rehabilitation wird wohnortnah entweder durch einen Rehabilitations‐ dienst oder durch eine (stationäre) Rehabilitationseinrichtung erbracht (§ 40 Abs. 1 SGB V, § 28 Abs. 1 SGB IX). Wohnortnah bedeutet, dass die Fahrzeit des Versicherten mit öffentlichen Verkehrsmitteln insgesamt für An- und Abfahrt eine Stunde beträgt; eine ausnahmsweise Abweichung ist allerdings möglich. 221 Für die ambulante Rehabilitation im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung sind grundsätzlich bis zu 20 Be‐ handlungstage vorgesehen; eine Verlängerung ist aus medizinischen Gründen möglich (§ 40 Abs. 3 S. 13, 14 SGB V). Für die Rentenversicherung ist die Behandlungsdauer der ambulanten Rehabilitation nicht gesetzlich beziffert. Sie wird abhängig von der jeweiligen Indikation vom Rentenversicherungsträger im Rahmen seines Ermessens bestimmt. Wenn eine ambulante Rehabilitation nicht ausreichend ist, erbringt die Kranken‐ kasse gem. § 40 Abs. 2, 3 SGB V bzw. der Rentenversicherungsträger gem. § 15 Abs. 2 SGB VI eine stationäre Rehabilitation (also inkl. Unterkunft und Verpflegung). Für diese ist grundsätzlich eine Maximaldauer von 21 Tagen vorgesehen; eine Verlängerung aus medizinischen Gründen ist möglich (§ 40 Abs. 3 S.-2 SGB V, § 15 Abs. 3 SGB VI). ➤ Beispiel-│-stationäre medizinische Rehabilitationsleistung Eine vollstationäre Einrichtung mit 42 Betten erbringt Leistungen der geriatri‐ schen Rehabilitation für Patienten, die an Funktionsverlusten mit psychosozialer Beeinträchtigung, an chronisch rezidivierenden Erkrankungen mit akuter Ver‐ schlimmerung, an akuten oder therapieresistenten und chronischen Schmerzer‐ krankungen oder an unheilbaren Erkrankungen leiden. Ein Arzt erstellt nach einer Untersuchung des Patienten einen Behandlungsplan, der verschiedene heiltherapeutische Maßnahmen, wie z. B. Krankengymnastik in Einzel- und Gruppentherapie, Behandlung nach Bobath bzw. nach Brügger, medizinische Trainingseinheiten, ergotherapeutische Behandlung und Massagen umfasst. Je nach Indikation werden ca. 10 bis 15 Behandlungen pro Patient und Woche durch ein multiprofessionelles Team erbracht. Die jeweilige Koordination obliegt einem Arzt. 222 Die Abgrenzung zwischen einer stationären Krankenhausbehandlung und einer stati‐ onären Rehabilitation ist nicht immer einfach. Zur Krankenhausbehandlung gehören sowohl die Akutbehandlung als auch die Frührehabilitation gem. § 39 Abs. 1 S.-3 SGB V, die innerhalb der erforderlichen Verweildauer der Akutbehandlung ebenfalls zu erbringen ist. Durch die Frührehabilitation sollen die Basisfähigkeiten des Patienten (Mobilität, einfache Aktivitäten des täglichen Lebens, Kommunikation, Orientierung 146 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="147"?> 223 Vgl. Frakt-E eines Sozialgesetzbuchs Neuntes Buch, BTag-Drucks. 14/ 5074 S.-117. 224 Vgl. BSG, Urt. v. 20.1.2005, B 3 KR 9/ 03 R, BSGE 94, 139 ff. [142 f.]. in der Umwelt) wiederhergestellt werden. 223 Da sie zur Krankenbehandlung gehört, ist sie keine Leistung der gesetzlichen Rentenversicherung. Dagegen gehört die Anschlussrehabilitation (auch als Anschlussheilbehandlung bekannt), die sich bei schweren Krankheiten, wie z. B. Schlaganfall, Herzoperationen, unmittelbar an den Krankenhausaufenthalt anschließt, zur medizinischen Rehabilitation. Durch sie sollen die verloren gegangenen Fähigkeiten des Patienten wiederhergestellt werden, damit er nach Möglichkeit in sein gewohntes alltägliches, familiäres und berufliches Umfeld zurückkehren kann. Die Unterscheidung zwischen Krankenhausbehandlung und sta‐ tionärer Rehabilitation erfolgt im Wesentlichen nach der Art der Einrichtung, den Behandlungsinhalten und -methoden sowie dem Hauptziel der Behandlung und unter Berücksichtigung der Definitionen in § 107 SGB V. 224 Abb. 25: Abgrenzung zwischen stationärer Krankenhausbehandlung und stationärer Rehabilitationsmaßnahme Heilung, Linderung der Beschwerden, Verzögerung des Krankheitsverlaufs Art der Einrichtung? zugelassene Rehabilitationseinrichtungen Hauptziel der Behandlung? zugelassenes Krankenhaus ärztliche Tätigkeit im Mittelpunkt Minimierung der Fähigkeitseinschränkungen Heilmittel im Mittelpunkt stationäre Krankenhausbehandlung stationäre Rehabilitationsbehandlung Behandlungsinhalte und -methoden? Abbildung 25: Abgrenzung stationäre Krankenhausbehandlung und Rehabilitationsmaßnahme Die Leistungen der medizinischen Rehabilitation werden gem. § 11 Abs. 2 S. 1 SGB V bzw. § 15 Abs. 1 SGB VI von unterhaltssichernden und anderen ergänzenden Leistungen flankiert. Dazu gehören beispielweise das Krankengeld gem. §§ 44 ff. SGB V oder Übergangsgeld gem. §§ 20 f. SGB VI bei Teilnahme an einer stationären Rehabilitations‐ maßnahme. Ferner werden zur Sicherung des Erfolgs der medizinischen Rehabilitation Nachsorgeleistungen gem. §-43 Abs. 2 SGB V oder §-17 SGB VI angeboten. 2.4 Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen 147 <?page no="148"?> 225 Vgl. BVerwG, Urt. v. 9.2.1967, I C 128/ 64, GewArch 1967, 164 ff. [165 f.]; Landesberufsgericht für Heilberufe Münster, Urt. v. 27.9.1989, ZA 1/ 88, GewArch 1990, 210 ff. [210]; a. A.: Neft, BayVBl. 1996, 40 ff. [41]. 2.4.2 Rechtsstellung einer Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtung - 2.4.2.1 Notwendigkeit einer Gewerbeerlaubnis Anstelle der gesetzlichen Begriffe der Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen werden in der Praxis auch die Bezeichnungen als Kurklinik, Rehabilitationsklinik oder Fachklinik verwendet. In einer solchen Einrichtung werden üblicherweise ärztliche und nichtärztliche therapeutische Leistungen, wie z. B. Massagen, Krankengymnastik, erbracht sowie Unterkunft und Verpflegung für die Patienten bereitgehalten, so dass es sich um eine Privatkrankenanstalt im Sinne des § 30 GewO handelt. Das gilt auch für eine Einrichtung, die unter ärztlicher Leitung ausschließlich Vorsorgeleistungen erbringt, um eine Schwächung der Gesundheit des Patienten zu behandeln, die noch keine Krankheit ist, aber in absehbarer Zeit voraussichtlich zu einer Krankheit führen würde. Für den Begriff der Privatkrankenanstalt kommt es nicht darauf an, dass die Patienten krank oder bettlägerig sind. Prägend für den Begriff ist, dass die Unter‐ kunft und Verpflegung mit einer ärztlichen oder ärztlich angewiesenen Behandlung verbunden sind. Die in § 30 GewO vorgesehene Erlaubnispflicht soll die Allgemeinheit vor Gefahren schützen, die mit der Eingliederung des Patienten in das betriebliche Organisationsgefüge und der Abhängigkeit von der ärztlichen Leitung verbunden sind, so dass es auf den Zustand der Krankheit nicht ankommt. 225 Wenn der (private) Träger zudem gewerbsmäßig tätig ist, benötigt er eine entspre‐ chende Gewerbeerlaubnis. Anders verhält es sich bei den Eigeneinrichtungen der Rehabilitationsträger, insbesondere der Rentenversicherer. Ihnen fehlen angesichts der öffentlich-rechtlichen Trägerschaft die Eigenschaft als Privatkrankenanstalt und die Gewerbsmäßigkeit, so dass sie keine Gewerbeerlaubnis benötigen. Nähere Erläuterun‐ gen zu § 30 GewO finden Sie im Abschnitt 2.2.2. - 2.4.2.2 Die Leistungserbringung als Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtung in der gesetzlichen Krankenversicherung Angesichts des Naturalleistungsprinzips schließen die Krankenkassen bzw. ihre Ver‐ bände mit den Leistungserbringern Verträge zur Versorgung der Versicherten (§ 2 Abs. 2 SGB V). Von einem solchen Vertragsschluss sind die Eigeneinrichtungen der Krankenkassen ausgenommen. Kasseneigene Kliniken gibt es in der Praxis jedoch nur noch, wenn sie bereits am 1. Januar 1989 bestanden; eine Neugründung ist gem. § 140 SGB V grundsätzlich nicht mehr erlaubt. Für Einrichtungen, die die medizinische Vorsorge und medizinische Rehabilitation in vollstationärer Form zulasten der Krankenkassen erbringen möchten, ist der Abschluss eines Versorgungsvertrages gem. § 111 SGB V vorgesehen. 148 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="149"?> 226 Vgl. BSG, Urt. v. 23.7.2002, B 3 KR 63/ 01 R, BeckRS 2002, 32074189. 227 Vgl. Vereinbarung der Rehabilitationsträger zum internen Qualitätsmanagement nach § 20 Abs. 2a SGB IX, https: / / www.bar-frankfurt.de/ themen/ qualitaetsmanagement/ zertifizierung.html (Abruf am 30.4.2022). ❋ Wissen │ Versorgungsvertrag der Vorsorge- und Rehabilitationseinrich‐ tung Für diesen Versorgungsvertrag der Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtung über vollstationäre Leistungen gelten gem. § 111 SGB V folgende Parameter: Vertragspartner: Träger der Einrichtung sowie Landesverbände der Krankenkas‐ sen und Ersatzkassen gemeinsam (§ 111 Abs. 2 S.-1 SGB V) Form: Schriftform (§ 111 Abs. 2 S.-2 i. V. m. 109 Abs. 1 S.-1 SGB V) Voraussetzungen für den Vertragsschluss: Die Einrichtung muss die in § 107 Abs. 2 SGB V gesetzlich vorgegebenen Merkmale einer Vorsorge- und Rehabilitati‐ onseinrichtung erfüllen (z. B. die ständige ärztliche Verantwortung der Behandlung der Versicherten). Wenn die Einrichtung zusammen mit einem zugelassenen Kran‐ kenhaus betrieben wird, muss sie wirtschaftlich und organisatorisch selbständig sein; eine juristische Selbständigkeit wird dagegen nicht verlangt (§ 111 Abs. 6 SGB V). Gem. § 111 Abs. 2 S. 1 SGB V darf der Versorgungsvertrag nur abgeschlossen wer‐ den, wenn die Einrichtung leistungsfähig und wirtschaftlich ist. Leistungsfähigkeit bedeutet, dass die Einrichtung über ausreichende personelle, sachliche und räumli‐ che Mittel verfügt, um ihr vollstationäres Leistungsangebot zu erbringen und dieses dem allgemein anerkannten Stand der medizinisch-pflegerischen Erkenntnisse entspricht. 226 Bei der Wirtschaftlichkeit geht es einerseits um die Frage, ob die Einrichtung mit der voraussichtlich zu erzielenden Vergütung in der Lage ist, ihre Investitions-, Personal- und Sachkosten zu decken. Ferner ist eine Gewinnerzielung nicht ausgeschlossen. Andererseits dürfen keine Anhaltspunkte gegeben sein, dass den Patienten aus wirtschaftlichen Gründen notwendige Leistungen vorenthalten werden. Insoweit muss die Einrichtung ein plausibles Konzept haben. Dagegen kommt es für den Vertragsschluss nicht auf die konkrete Höhe des kalkulierten Tagessatzes an, weil dieser erst in der nachgelagerten Vergütungsvereinbarung festgelegt wird (vgl. § 111 Abs. 5 SGB V). Für das Erbringen von Rehabilitationsleistungen muss die Einrichtung über ein zertifiziertes einrichtungsinternes Qualitätsmanagementsystem gem. § 40 Abs. 2 S.-1 SGB V i. V. m. § 37 Abs. 2 SGB IX verfügen. 227 Ferner muss ein Bedarf für die Leistungserbringung durch die Einrichtung beste‐ hen. Dieses Kriterium ist anders als im Krankenhaussektor nicht als Höchst-, sondern als Mindestbedarfs zu sehen. Die Krankenkassen müssen gem. § 36 Abs. 1 SGB IX dafür sorgen, dass die fachlich und regional erforderlichen Rehabilitati‐ onseinrichtungen in ausreichender Zahl und Qualität zur Verfügung stehen. Da sie über die dem Versicherten im Einzelfall zu gewährenden medizinischen Vorsorge- 2.4 Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen 149 <?page no="150"?> 228 Vgl. BSG, Urt. v. 23.7.2002, B 3 KR 63/ 01 R, BeckRS 2002, 32074189. 229 BSG, Urt. v. 5.7.2000, B 3 KR 12/ 99 R, NZS 2001, 357 ff. [358]. 230 Vgl. Knittel, Soziale Krankenversicherung Pflegeversicherung Kommentar, § 111 SGB V Rn. 3c. und Rehabilitationsmaßnahme entscheiden, trägt die Einrichtung das Belegungs‐ risiko. Deshalb ist es unter Berücksichtigung der grundrechtlich geschützten Berufsfreiheit der Einrichtung nicht gerechtfertigt, leistungsfähige, wirtschaftliche und zertifizierte Einrichtungen von der Versorgung vollständig auszuschließen. 228 Beteiligung der für die Krankenhausplanung zuständigen Landesbehörde: Die Wirksamkeit des Versorgungsvertrages ist (anders als bei den Krankenhäusern) nicht von der Genehmigung der Planungsbehörde abhängig. Ihr Einvernehmen ist gem. § 111 Abs. 4 S. 3 SGB V nur anzustreben. Das bedeutet, dass die Planungsbe‐ hörde lediglich ein „verfahrensrechtliches Beteiligungsrecht“ 229 hat. Der Vertrag kommt auch ohne ihr Einvernehmen zustande. Mindestinhalt des Vertrages: Der Vertrag muss mindestens die Art, den Inhalt und Umfang der Leistungen festlegen, die die Einrichtung für die Versicherten erbringen muss. 230 Wirkungen des Vertrages: Der Vertragsschluss bewirkt, dass die Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtung für die Dauer des Vertrages zur Versorgung der Versicherten mit stationären medizinischen Leistungen zur Vorsorge oder Rehabi‐ litation berechtigt und im Rahmen ihrer Kapazität verpflichtet ist (§ 111 Abs. 4 S. 1 SGB V). Der Vertrag ist für die vertragsschließenden Krankenkassen und die Mitgliedskassen der vertragsschließenden Landesverbände verbindlich (§ 111 Abs. 2 S. 1 SGB V). Andere Landesverbände der Krankenkassen oder Ersatzkassen können dem Vertrag beitreten (§ 111 Abs. 2 S. 3 SGB V). Allerdings bewirkt der Vertrag keine Verpflichtung der Krankenkassen, die Leistungen der Einrichtung in Anspruch zu nehmen. Über die Belegung entscheidet die Krankenkasse im pflichtgemäßen Ermessen nach den medizinischen Erfordernissen des Einzelfalls. Ferner erwirbt die Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtung einen Anspruch darauf, dass die vertragsschließenden Krankenkassen und die Mitgliedskassen der Landesverbände mit ihr eine Vereinbarung über die Vergütung schließen (§ 111 Abs. 5 SGB V). Kündigungsmöglichkeit: Der Vertrag kann von den Landesverbänden der Kran‐ kenkassen und Ersatzkassen gemeinsam mit einer Frist von einem Jahr gekündigt werden, wenn die o. g. Voraussetzungen nicht mehr vorliegen (§ 111 Abs. 4 S. 2 SGB V). Bzgl. der Kündigung ist wie für den Vertragsschluss das Einvernehmen mit der Planungsbehörde anzustreben (§ 111 Abs. 4 S. 3 SGB V). Für den Einrichtungsträger ist keine Kündigungsmöglichkeit in § 111 SGB V geregelt. Eine solche ergibt sich indes aus § 59 SGB X, der für alle öffentlich-rechtlichen Verträge gilt. Im Übrigen kann die Kündigungsmöglichkeit für beide Seiten vertraglich geregelt werden. 150 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="151"?> 231 Anforderungsprofil für stationäre Rehabilitationseinrichtungen nach § 111a SGB V sowie Anforde‐ rungsprofil für stationäre Vorsorgeeinrichtungen nach § 111 a SGB V, https: / / www.vdek.com/ vertr agspartner/ vorsorge-rehabilitation/ mvk.html (Abruf am 30.4.2022). 232 Vgl. Frakt-E eines Gesetzes zur Strukturreform im Gesundheitswesen, BTag-Drucks 11/ 2237, S. 199. 233 Vgl. auch Stellungnahme des BRates zum RegE eines Gesetzes zur Änderung des Infektionsschutz‐ gesetzes und weiterer Gesetze, BTag-Drucks. 17/ 5708, S.-13. 234 Vgl. Hess, Kasseler Kommentar, SGB V § 111 Rn. 6. Für die Versorgungsverträge mit einer Einrichtung des Müttergenesungswerks oder ei‐ ner gleichartigen Einrichtung hinsichtlich der Mutter/ Vater-Kind-Maßnahmen gelten die vorgenannten Parameter - mit Ausnahme der Notwendigkeit eines zertifizierten Qualitätsmanagements und der Beteiligung der Planungsbehörde - ebenfalls (vgl. § 24 Abs. 1 S. 3, § 41 Abs. 1 S. 3, 4, § 111a SGB V). Die (bundeseinheitlichen) Anforderungen an die Einrichtungen haben die Bundesverbände der Krankenkassen, die Elly-Heuss-Knapp-Stiftung „Deutsches Müttergenesungswerk“ und der Bundes‐ verband Deutscher Privatkrankenanstalten e.-V. vereinbart. 231 Die Vereinbarung über die Vergütung schließt der Einrichtungsträger im Unterschied zum Versorgungsvertrag nicht mit den Krankenkassenverbänden, sondern mit den einzelnen Krankenkassen (§ 111 Abs. 5 SGB V). Für die Vergütungshöhe gelten folgende Grundsätze: ● Die Preisgestaltung orientiert sich nicht am Selbstkostendeckungsprinzip, sondern an den im Versorgungsvertrag vereinbarten Leistungen der Einrichtung. 232 Diese sind nach den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit, insbesondere zu angemessenen Vergütungssätzen, auszuführen (§ 36 Abs. 2 S. 3 i. V. m. § 51 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 SGB IX). Folglich muss die Vergütung so bemessen sein, dass die Einrichtung bei wirtschaftlicher Betriebsführung ihren vereinbarten Versorgungsauftrag erfüllen kann. 233 In diesem Sinne muss sie ihre notwendigen Aufwendungen für Personalkosten, für Sachkosten, wie z. B. Energie, medizini‐ sche Geräte, finanzieren sowie einen Gewinn erzielen können. Hinsichtlich der Personalkosten ist gesetzlich klargestellt, dass die Zahlung von tarifvertraglich vereinbarten Arbeitsentgelten nicht unwirtschaftlich ist und sie bei der Bemessung der Vergütung der Einrichtung zu berücksichtigen ist (§ 111 Abs. 5 S. 3 SGB V, § 38 Abs. 2 SGB IX). Allerdings hat die Einrichtung, da das Selbstkostendeckungsprinzip nicht gilt, keinen Anspruch darauf, dass alle Betriebskosten refinanziert werden. Eine unwirtschaftliche Betriebsführung kann zu nicht gedeckten Kosten und somit letztlich zu einem unternehmerischen Verlust führen. ● Bei der Vergütung müssen ferner die notwendigen Investitionskosten berück‐ sichtigt werden, weil es für Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen keine Investitionsförderung wie für Krankenhäuser gibt. 234 ● Dagegen muss der Grundsatz der Beitragsstabilität im Unterschied zu anderen Leistungsbereichen (wie z. B. der vertragsärztlichen Versorgung) nicht beachtet werden (§ 111 Abs. 5 S. 2 SGB V). Dieser Grundsatz verlangt, dass Vergütungsver‐ einbarungen nicht zu Beitragserhöhungen für die Versicherten führen. Deshalb 2.4 Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen 151 <?page no="152"?> 235 Gesetz zur Stärkung von intensivpflegerischer Versorgung und medizinischer Rehabilitation in der gesetzlichen Krankenversicherung (Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz, GKV-IPReG) v. 23.10.2020, BGBl. I S.-2220. 236 Vgl. RegE des Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetzes, BTag-Drucks. 19/ 19368, S.-35. 237 Vgl. BSG, Urt. v. 23.7.2002, B 3 KR 63/ 01 R, BeckRS 2002, 30274189. 238 Vgl. BSG, Urt. v. 7.5.2013, B 1 KR 12/ 12 R, BSGE 113, 231 ff. orientieren sich die Krankenkassen bei Preis- und Vergütungsverhandlungen an der sog. Grundlohnrate, die die Veränderungsrate der beitragspflichtigen Einnahmen aller Mitglieder der Krankenkasse gegenüber dem Vorjahr abbildet (vgl. § 71 Abs. 3 SGB V). Die Begrenzung hat der Gesetzgeber jedoch mit dem GKV-IPReG 235 im Jahre 2020 aufgehoben, so dass die Vergütung einer Einrichtung die jährliche Grundlohnsummensteigerung überschreiten kann. Dadurch können Mehrausgaben der Einrichtungen, die durch Einführung von Tariflöhnen oder Tariferhöhungen entstehen, refinanziert werden 236 , so dass damit letztlich ein Anreiz für eine Tarifbindung der Einrichtungen gesetzt worden ist. ● Da der Einrichtungsträger die Vergütung mit jeder Kasse gesondert verhandelt, können die von den Kassen zu zahlenden Vergütungen voneinander abweichen. Das ist anders als bei anderen Leistungserbringern, wie z. B. Pflegeheimen, bei denen die Pflegesätze nicht nach den Kostenträgern differenziert werden dürfen (vgl. Abschnitt 2.5.2.4). Dagegen sind die Krankenkassen nach der Rechtsprechung des BSG gehalten, die Vergleichbarkeit der Preise der Vorsorge- und Rehabilitati‐ onseinrichtungen, mit denen sie vertraglich verbunden sind, zu gewährleisten. 237 Wenn sich die Vertragsparteien nicht einigen können, so wird die Vergütung von der Landesschiedsstelle gem. §-111b SGB V festgesetzt. Ein Verhandlungserfolg des Einrichtungsträgers in Form einer hohen Vergütung ist letztlich allerdings ein Pyrrhussieg für ihn, da er trotz Versorgungs- und Vergütungs‐ vertrag keine Sicherheit hat, tatsächlich belegt zu werden. Die Entscheidung über Art, Dauer, Umfang, Beginn und Durchführung der Leistungen und somit über die Belegung einer Einrichtung liegt im pflichtgemäßen Ermessen der Krankenkasse (siehe auch Abschnitt 2.4.1). Die Auswahl zwischen den Einrichtungen erfolgt zwar vor allem danach, welche Einrichtung die Leistung in der am besten geeigneten Form ausführen kann (§ 36 Abs. 2 SGB IX). Jedoch ist die Krankenkasse bei ihrer Entscheidung auch dem Wirtschaftlichkeitsgebot verpflichtet. Daraus folgt für Einrichtungen mit höheren Ver‐ gütungssätzen, dass sie erst belegt werden, wenn die preisgünstigeren Einrichtungen mit einem vergleichbaren Leistungsangebot keine Kapazitäten mehr haben. 238 Dieser Zusammenhang führt für den Einrichtungsträger zu einer „Gratwanderung“ zwischen Vergütungshöhe und Auslastung seiner Einrichtung. Die Regelung der Einzelheiten zur Durchführung der Vorsorge- und Rehabilita‐ tionsleistungen überlässt der Gesetzgeber den Krankenkassen und den Rentenver‐ sicherungsträgern. Die Rehabilitationsträger haben sich zu einer Bundesarbeitsge‐ meinschaft für Rehabilitation e. V. zusammengeschlossen und gem. § 26 SGB IX Empfehlungen zur Rehabilitation abgegeben, wie beispielsweise Rahmenempfehlun‐ 152 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="153"?> 239 Vgl. Verschiedene Empfehlungen unter https: / / www.bar-frankfurt.de/ service/ publikationen/ reha-v ereinbarungen.html (Abruf am 30.4.2022). 240 Veröffentlichung der Verträge unter: https: / / www.gkv-spitzenverband.de/ krankenversicherung/ am bulante_leistungen/ heilmittel/ heilmittel.jsp (Abruf am 15.4.2022). gen ambulante und stationäre medizinische Rehabilitation (Allgemeiner Teil), eine Empfehlungsvereinbarung und Handlungsempfehlungen für die Rehabilitation psy‐ chisch kranker Menschen oder ein Gemeinsames Rahmenkonzept der Gesetzlichen Krankenkassen und der Gesetzlichen Rentenversicherung für die Durchführung sta‐ tionärer medizinischer Leistungen der Vorsorge und Rehabilitation für Kinder und Jugendliche. 239 In derartigen Empfehlungen sind die Anforderungen an die ärztliche Leitung und die Qualifikation der anderen Fachkräfte, an den für den Patienten aufzustellenden Rehabilitationsplan, an die räumliche und apparative Ausstattung sowie die Vorgaben für die Inhalte der einzelnen Leistungen zu entnehmen. Wenn Physiotherapie, Logopädie oder andere Heilmittel von der Rehabiltiations‐ einrichtung erbracht werden, bedarf es keiner gesonderten Zulassung zur Heilmittel‐ versorgung der gesetzlich Versicherten. Jedoch gilt gem. § 124 Abs. 5 SGB V, dass die Personen, die die Dienstleistungen erbringen, über die erforderliche Ausbildung sowie die zur Führung der Berufsbezeichnung berechtigende Erlaubnis verfügen (siehe Abschnitt 2.3.1) und die Räume, Geräte und Einrichtungsgegenstände für die Leistungserbringung geeignet sein müssen. Ferner gelten die Verträge, die der GKV-Spitzenverband mit den Verbänden der Heilmittelerbringer auf Bundesebene vereinbart, 240 kraft Gesetz auch für die Rehabilitationseinrichtungen, die Heilmittel abgeben (vgl. zu den Verträgen Abschnitte 2.3.2.2 und 2.3.2.3). Nach der Rehabilitations-Richtlinie des GBA, die nicht nur die Verordnung der Rehabiliation durch den Vertragsarzt, sondern auch die Zusammenarbeit zwischen der Rehabilitationseinrichtung und dem Vertragsarzt regelt, muss die Rehabilitations‐ einrichtung zu Beginn der Leistungserbringung mit dem Versicherten einen Rehabi‐ litationsplan aufstellen und dem Vertragsarzt auf Anfrage übermitteln (§ 13 Abs. 1 Reha-RL). Nach Beendigung der Rehabilitationleistungen erhält der Vertragsarzt einen Entlassungsbericht (§-13 Abs. 4 Reha-RL). Ferner können die Leistungen der medizinischen Vorsorge und Rehabilitation, zu denen sich die Einrichtung verpflichtet, in dem o. g. Versorgungsvertrag näher ausgestaltet werden. Wenn die Einrichtung ebenfalls ambulante (inkl. teilstationäre) Rehabilitationsleis‐ tungen zulasten der Krankenkassen erbringen möchte, benötigt sie einen weiteren Versorgungsvertrag, und zwar nach § 111c SGB V. Für diesen gelten im Wesentlichen die Parameter des o. g. Versorgungsvertrages ebenfalls. Die Einzelheiten des Vertrages nach § 111c SGB V finden Sie im Abschnitt 2.4.3.2. Für das Erbringen von ambulanten Vorsorgeleistungen ist gesetzlich kein weiterer Vertrag vorgesehen. Insoweit wird die Einrichtung auf kurärztliche Veranlassung tätig, vgl. dazu Abschnitt 2.4.4. 2.4 Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen 153 <?page no="154"?> 241 Rentenversicherungsträger sind: Deutsche Rentenversicherung Bund, Knappschaft-Bahn-See, Re‐ gionalträger der Deutschen Rentenversicherung, wie z. B. Deutsche Rentenversicherung Braun‐ schweig-Hannover, vgl. § 125 SGB VI. 242 Vgl. BeschlE zum Entwurf eines Gesetzes zur Strukturreform im Gesundheitswesen (GRG), BTag-Drucks. 11/ 3480 S.-60. 243 Vgl. Vereinbarung der Rehabilitationsträger zum internen Qualitätsmanagement nach § 20 Abs. 2a SGB IX, , https: / / www.bar-frankfurt.de/ themen/ qualitaetsmanagement/ zertifizierung.html (Abruf am 30.4.2022). 244 Vgl. Meyer-Hofmann, Bördner, Kruse, NZS 2018, 473 ff. m. H. a. Bundesvorstandsentscheidung der DRV v. 16.3.2017. 2.4.2.3 Die Leistungserbringung als Rehabilitationseinrichtung in der gesetzlichen Rentenversicherung Nach § 28 Abs. 1 SGB IX liegt es in der Verantwortung der Rentenversicherungsträger, ob die medizinische Rehabilitation durch trägereigene Einrichtungen oder durch Dritte erbracht wird, mit denen ein Belegungsvertrag nach § 38 SGB IX besteht (Vertragsein‐ richtungen). ❋ Wissen │ Belegungsvertrag Für den Belegungsvertrag der Vertragseinrichtung gelten nach § 38 SGB IX folgende Parameter: Vertragspartner: Träger der Einrichtung und der Rentenversicherungsträger 241 Voraussetzungen für den Vertragsschluss: Dem Rentenversicherungsträger ist ein Ermessen eingeräumt, ob er die medizinische Rehabilitation durch eigene Einrichtungen erbringt oder dafür freigemeinnützige oder private Einrichtungen in Anspruch nimmt (§ 28 Abs. 1 S. 1 SGB IX). Kriterien für die Ermessensausübung sind gem. § 28 Abs. 1 S. 3 SGB IX die Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit der Leistungserbringung. Ferner muss der Rentenversicherungsträger beachten, dass er dafür Sorge zu tragen hat, dass fachlich und regional erforderliche Rehabilitati‐ onseinrichtungen in ausreichender Zahl und Qualität zur Verfügung stehen (§ 36 Abs. 1 SGB IX). Wenn sich der Rentenversicherungsträger für eine vertragliche Bindung einer fremden Einrichtung entscheidet, muss diese verschiedene Voraus‐ setzungen erfüllen. Die Behandlung der Versicherten muss unter ständiger ärztlicher Verantwortung stehen, es sei denn, die Art der Behandlung erfordert es nicht (§ 15 Abs. 2 SGB VI). Der Leiter der Einrichtung muss dagegen kein Arzt sein. 242 Ferner muss die Einrichtung über ausreichend geschultes Personal (§ 15 Abs. 2 SGB VI) und über ein zertifiziertes einrichtungsinternes Qualitätsmanagementsystem gem. § 37 Abs. 2, 3 SGB IX verfügen. 243 In der Praxis der Rentenversicherungsträger haben alle Rehabilitationseinrichtungen, die ihre Eignung für die Leistungserbringung nachweisen, einen Anspruch auf Abschluss des Vertrages. 244 Inhalt des Vertrages: Die Einrichtungen erbringen die Leistungen der medizini‐ sche Rehabilitation überwiegend stationär. Gleichzeitig können auch ambulante 154 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="155"?> 245 Basisvertrag abrufbar unter: https: / / www.deutsche-rentenversicherung.de/ DRV/ DE/ Experten/ Infos-fuer-Reha-Anbieter/ Abschluss-eines-Vertrages/ abschluss_vertrag_index.html (Abruf am 30.4.2022). Leistungen vereinbart werden. Nach dem Gesetz soll der Vertrag insbesondere Regelungen über 1. Qualitätsanforderungen an die Ausführung der Leistungen, das beteiligte Personal und die begleitenden Fachdienste, 2. die Übernahme von Grundsätzen der Rehabilitationsträger zur Vereinbarung von Vergütungen, 3. Rechte und Pflichten der Teilnehmer an der Rehabilitationsmaßnahme, 4. angemessene Mitwirkungsmöglichkeiten der Teilnehmer an der Ausführung der Leistungen, 5. die Geheimhaltung personenbezogener Daten sowie 6. die Beschäftigung eines angemessenen Anteils behinderter, insbesondere schwerbehinderter Frauen, enthalten (§ 38 Abs. 1 SGB IX). Die Aufzählung ist nur beispielhaft, so dass die Vertragspartner einen weitergehenden Gestaltungsspielraum für den abzu‐ schließenden Vertrag haben. Die Deutsche Rentenversicherung verwendet einen einheitlichen Basisvertrag. 245 Wirkungen des Vertrages: Der Vertragsschluss bewirkt, dass die Rehabilitati‐ onseinrichtung für die Dauer des Vertrages zur Versorgung der Versicherten mit vereinbarten (stationären und ambulanten) medizinischen Leistungen zur Rehabilitation berechtigt und im Rahmen ihrer Kapazität verpflichtet ist (§ 28 Abs.-1 S.-1 SGB IX). Allerdings bewirkt der Vertrag keine Verpflichtung des Rentenversicherungsträ‐ gers, die Leistungen der Einrichtung in Anspruch zu nehmen. Er entscheidet über die konkrete Belegung im pflichtgemäßen Ermessen, welche Einrichtung die Leistung am besten ausführen wird (§ 36 Abs. 2 SGB IX). Die Einrichtung erlangt durch den Belegungsvertrag folglich nur ein Recht darauf, bei der Entscheidung des Rentenversicherungsträgers über Leistung des Versicherten berücksichtigt zu werden. Mit der Inanspruchnahme im konkreten Einzelfall entsteht schließlich der Anspruch der Einrichtung auf Zahlung der vereinbarten Vergütung. Kündigung des Vertrages: Öffentlich-rechtliche Verträge können gem. § 59 SGB X gekündigt werden. Im Übrigen kann die Kündigungsmöglichkeit für beide Seiten vertraglich geregelt werden. Als Vergütung vereinbaren die Vertragseinrichtung und der Rentenversicherungsträger in der Regel einrichtungsspezifische pauschalierte Tagessätze. Im Hinblick auf die Vergütungshöhe müssen sie folgende gesetzlichen Grundsätze beachten: 2.4 Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen 155 <?page no="156"?> 246 Vgl. Seiter, Hubert, DRV Baden-Württemberg, 18.2.2011, zitiert nach Wilke, NZS 2012, 444 ff. [446]. ● Die Vergütungssätze müssen angemessen sein (§ 36 Abs. 2 S. 3, § 51 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 SGB IX). Das bedeutet, dass die Vergütungshöhe die Einrichtung in die Lage versetzen muss, ihre Leistungen, zu denen sie sich verpflichtet, finanzieren zu können. Das angemessene Verhältnis zwischen der Leistung und der Vergütung als Gegenleistung beurteilt sich nach den Umständen des Einzelfalls. Dazu gehören insbesondere die gemeinsam definierten Ziele, die vereinbarten Therapiekonzepte und -standards sowie Maßnahmen und Ergebnisse der Qualitätssicherung. 246 ● Die Forderung nach der Angemessenheit der Vergütung ist jedoch nicht damit gleichzusetzen, dass die Vergütung alle Kosten der Einrichtung deckt. Es gelten die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit (§ 36 Abs. 2 S. 3, § 51 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 SGB IX). In diesem Sinne muss die Einrichtung ihre notwendigen Auf‐ wendungen für Personalkosten, für Sachkosten, wie z. B. Energie, für medizinische Geräte sowie für Investition finanzieren sowie einen Gewinn erzielen können. Hinsichtlich der Personalkosten ist gesetzlich klargestellt, dass bei Zahlung von tarifvertraglich vereinbarten Arbeitsentgelten diese bei der Bemessung der Vergü‐ tung zu berücksichtigen sind (§ 38 Abs. 2 SGB IX). Allerdings hat die Einrichtung keinen Anspruch darauf, dass alle Betriebs- und Investitionskosten refinanziert werden. Eine unwirtschaftliche Betriebsführung kann zu nicht gedeckten Kosten und somit letztlich zu einem unternehmerischen Verlust führen. ● Ferner müssen die Rentenversicherungsträger die gesetzlich vorgegebene Steige‐ rungsrate der Ausgaben für die Leistungen der Teilhabe, zu denen die medizinische Rehabilitation gehört, beachten. Gem. § 220 Abs. 1 S. 1 SGB VI dürfen die jährlichen Ausgaben für die Leistungen der Teilhabe nur entsprechend der voraussichtlichen Entwicklung der Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer multipliziert mit der Demografiekomponente gem. §-287b Abs. 3 SGB VI festgesetzt werden. Für die Eigeneinrichtungen des Rentenversicherungsträgers gelten die Bestimmungen des Belegungsvertrages bzgl. ● der Qualitätsanforderungen an die Ausführung der Leistungen, das beteiligte Personal und die begleitenden Fachdienste, ● der Rechte, Pflichten und Mitwirkungsmöglichkeiten der Rehabilitanden, ● der Geheimhaltung personenbezogener Daten sowie ● der Beschäftigung von behinderten Frauen, die der Rentenversicherungsträger mit Vertragseinrichtungen vereinbart, gem. § 38 Abs. 4 SGB IX ebenfalls. Insoweit müssen die trägereigenen Einrichtungen folglich die gleichen Anforderungen wie die Vertragseinrichtungen erfüllen. Die trägereigenen Einrichtungen werden aus den Einnahmen des Rentenversiche‐ rungsträgers (Beitragseinnahmen, Zuschüsse etc.) finanziert. Die Ausgaben für die Einrichtungen kann der Rentenversicherungsträger eigenständig unter Beachtung der Vorgaben in §§ 219-221 SGB VI verwalten. Insbesondere dürfen Mittel für die 156 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="157"?> 247 Vgl. Verschiedene Empfehlungen unter https: / / www.bar-frankfurt.de/ service/ publikationen/ reha-v ereinbarungen.html (Abruf am 30.4.2022). Errichtung, die Erweiterung und den Umbau von Gebäuden der Eigeneinrichtungen nur aufgewendet werden, wenn diese Vorhaben auch unter Berücksichtigung des Gesamtbedarfs aller Träger der Rentenversicherung erforderlich sind. Die konkrete Belegungsentscheidung, welche Rehabilitationseinrichtung die medizi‐ nische Rehabilitation für den einzelnen Versicherten erbringt, muss der Rentenversi‐ cherungsträger nach pflichtgemäßem Ermessen treffen (§ 13 Abs. 1 S. 1 SGB VI). Bei der Ermessensausübung hat er gem. § 36 Abs. 2 SGB IX folgende Kriterien zu beachten: Welche Einrichtung führt die Rehabilitationsmaßnahme am besten aus? Eignung der Einrichtung Einrichtung mit angemessenem und wirtschaftlichem Vergütungssatz Beachtung der Selbstständigkeit, des Selbstverständnisses und der Unabhängigkeit der Einrichtungsträger Wahrung der Vielfalt der Einrichtungsträger Berücksichtigung freigemeinnütziger Träger Abbildung 26: Gesetzliche Kriterien der Ermessensausübung (§ 36 Abs. 2 SGB IX) Die Regelung der Einzelheiten zur Durchführung der Rehabilitationsleistungen überlässt der Gesetzgeber den Rehabilitationsträgern. Diese haben sich zu einer Bundesarbeits‐ gemeinschaft für Rehabilitation e. V. zusammengeschlossen und gem. § 26 SGB IX Empfehlungen zur Rehabilitation abgegeben, wie beispielsweise Rahmenempfehlun‐ gen ambulante und stationäre medizinische Rehabilitation (Allgemeiner Teil), eine Empfehlungsvereinbarung und Handlungsempfehlungen für die Rehabilitation psy‐ chisch kranker Menschen oder ein Gemeinsames Rahmenkonzept der Gesetzlichen Krankenkassen und der Gesetzlichen Rentenversicherung für die Durchführung sta‐ tionärer medizinischer Leistungen der Vorsorge und Rehabilitation für Kinder und Jugendliche. 247 In derartigen Empfehlungen sind die Anforderungen an die ärztliche Leitung und die Qualifikation der anderen Fachkräfte, an den für den Patienten aufzustellenden Rehabilitationsplan, an die räumliche und apparative Ausstattung sowie die Vorgaben für die Inhalte der einzelnen Leistungen zu entnehmen. 2.4 Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen 157 <?page no="158"?> 248 Vgl. https: / / www.bar-frankfurt.de/ service/ publikationen/ reha-vereinbarungen.html (Abruf am 30.4.2022). 249 Vgl. https: / / www.gkv-spitzenverband.de/ krankenversicherung/ rehabilitation/ rehabilitation_qualita etsmanagement/ rehabilitation_qualitaetsmanagement.jsp (Abruf am 30.4.2022). 250 Ebd. Ferner können die Rehabilitationsleistungen, zu denen sich die Einrichtung ver‐ pflichtet, in dem o.-g. Belegungsvertrag näher ausgestaltet werden. - 2.4.2.4 Anforderungen an das Qualitätsmanagement und die Qualitätssicherung in der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung Die Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen sind gem. § 135a Abs. 2 SGB V und § 37 Abs. 2 SGB IX verpflichtet, ein einrichtungsinternes Qualitätsmanagement zu betreiben. Ein Qualitätsmanagement umfasst alle zielgerichteten und systematischen Verfahren und Maßnahmen, durch die die Qualität der Versorgung gewährleistet und kontinuierlich verbessert wird (vgl. § 37 Abs. 2 S. 1 SGB IX). Es handelt sich um ein systematisches Vorgehen, um die ● Strukturqualität (personelle und sachliche Ausstattung, bauliche Gegebenheiten sowie Aufbauorganisation der Einrichtung), ● Prozessqualität (Ablauforganisation, Art und Weise der Leistungserbringung), ● Ergebnisqualität (erreichte Behandlungsziele und Patientenzufriedenheit) der Patientenversorgung gezielt zu beeinflussen. Die nähere Ausgestaltung der gesetzlichen Vorgaben zum Qualitätsmanagement überlässt der Gesetzgeber den Spitzenverbänden der Beteiligten. Insoweit hat die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation e. V. beispielsweise eine Vereinbarung der Rehabilitationsträger zum internen Qualitätsmanagement nach § 20 Abs. 2a SGB IX 248 getroffen. Ergänzend dazu gilt in der gesetzlichen Krankenversicherung die Vereinbarung zur externen Qualitätssicherung und zum einrichtungsinternen Quali‐ tätsmanagement in der stationären und ambulanten Rehabilitation und der stationären Vorsorge nach §-137d Absätze 1, 2 und 4 SGB V (Vereinbarung nach §-137d SGB V 249 ). Die Rehabilitationseinrichtungen sind zudem verpflichtet, ihr einrichtungsinternes Qualitätsmanagementsystem zertifizieren zu lassen, weil der Abschluss und die Auf‐ rechterhaltung des Versorgungsvertrages eine solche Zertifizierung voraussetzt (§ 40 Abs. 2 S. 1 SGB V i. V. m. § 37 Abs. 2, 3 SGB IX). Für den Belegungsvertrag zwischen der Rehabilitationseinrichtung und dem Rentenversicherungsträger gilt das ebenfalls (§-37 Abs. 2, 3 SGB IX). Anders verhält es sich bei Einrichtungen, die keine Rehabilitation, sondern aus‐ schließlich Vorsorgeleistungen in gesetzlichen Krankenversicherungen erbringen. Die Vorsorgeeinrichtungen müssen ihr Qualitätsmanagement aller drei Jahre einer Selbstbewertung unterziehen und dokumentieren (§§ 4b, 4c der Vereinbarung nach §-137d-SGB-V 250 ). 158 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="159"?> 251 Vgl. https: / / www.bar-frankfurt.de/ service/ publikationen/ reha-vereinbarungen.html (Abruf am 30.4.2022). 252 Vgl. Ziffern 7, 8 der Vereinbarung des GKV-Spitzenverbandes und der Träger der Deutschen Rentenversicherung über die weitere Zusammenarbeit in der Qualitätssicherung der medizinischen Rehabilitation vom Oktober 2013, https: / / www.gkv-spitzenverband.de/ krankenversicherung/ rehab ilitation/ rehabilitation_qualitaetsmanagement/ rehabilitation_qualitaetsmanagement.jsp (Abruf am 30.4.2022). 253 Nähere Informationen unter: https: / / www.qs-reha.de/ startseite/ startseite.jsp (Abruf am 30.4.2022). 254 Vgl. Farin-Glattacker, Jäckel, Rehabilitation in Orthopädie und Unfallchirurgie, S. 372 ff. sowie https: / / www.deutsche-rentenversicherung.de/ DRV/ DE/ Experten/ Infos-fuer-Reha-Einrichtungen/ Grundla gen-und-Anforderungen/ Reha-Qualitaetssicherung/ reha-qualitaetssicherung_node.html (Abruf am 30.4.2022). Des Weiteren sind alle Erbringer von stationären Vorsorge- oder Rehabilitations‐ maßnahmen verpflichtet, sich an der externen Qualitätssicherung zu beteiligen. Das folgt für die Vorsorge- und Rehabilitationskliniken in der gesetzlichen Krankenversi‐ cherung aus § 135a Abs. 2 SGB V und für die Rehabilitationskliniken in der gesetzlichen Rentenversicherung aus § 37 Abs. 1 SGB IX. Zur Ausgestaltung der externen Qualitäts‐ sicherung hat die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation e. V. trägerübergrei‐ fend eine Gemeinsame Empfehlung der Rehabilitationsträger zur Qualitätssicherung nach § 37 Abs. 1 SGB IX 251 abgegeben. Gleichwohl existiert sowohl in der gesetzlichen Krankenals auch Rentenversicherung ein eigenes Qualitätssicherungsverfahren. Die Rehabilitationseinrichtungen bzw. ihre einzelnen Fachabteilungen müssen allerdings nicht an beiden, sondern nur jeweils an einem Qualitätssicherungsverfahren teilneh‐ men, und zwar an dem ihres Hauptbelegers. 252 Das Qualitätssicherungsprogramm der gesetzlichen Krankenversicherung wird als QS-Reha®-Verfahren 253 bezeichnet. Im Rahmen des Programms werden bestimmte Daten der Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität sowie der Patientenzufriedenheit durch Erhebungsbögen, die die Einrichtung und der Patient ausfüllen, und durch ggf. stattfindenden Visitationen erfasst. Auf der Grundlage der Daten werden die Einrichtungen miteinander verglichen. Die Ergebnisse der Qualitätssicherung erhalten sowohl die Einrichtung als auch die Krankenkassen. Bei Auffälligkeiten findet ein Qualitätsdialog zwischen der Einrichtung und den Kassenverbänden statt, in dem der Verbesserungsbedarf mit Hinweisen, Mitteilungen, Gesprächen oder einer Zielverein‐ barung herausgearbeitet wird (vgl. §§ 5 ff. der Vereinbarung nach § 137d SGB V). Das „Reha-Qualitätssicherung der Rentenversicherung“ erfasst sowohl die eigenen Einrichtungen der Rentenversicherungsträger als auch die vertraglich gebundenen Einrichtungen, für die die Rentenversicherungsträger die Hauptbeleger sind. Bei diesem Qualitätssicherungsprogramm geht es ebenfalls um eine Analyse der Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität sowie der Patientenzufriedenheit und eine entspre‐ chende Rückmeldung an die Einrichtung. Dafür werden wie in der gesetzlichen Kran‐ kenversicherung Erhebungs- und Fragebögen zu den Einrichtungsmerkmalen, Thera‐ piekonzepten und Behandlungsverläufen verwendet. Darüber hinaus kommen weitere Instrumente zum Einsatz: 254 So werden zum Qualitätsvergleich Peer-Review-Verfahren durchgeführt, in deren Rahmen Therapiepläne und Entlassungsberichte begutachtet 2.4 Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen 159 <?page no="160"?> 255 Vgl. zu den personellen Anforderungen die BAR-Rahmenempfehlung zur ambulanten und stationä‐ ren medizinischen Rehabilitation (Allgemeiner Teil), Abschnitte 8.5 und 8.6, https: / / www.bar-frank furt.de/ service/ publikationen/ reha-vereinbarungen.html (Abruf am 30.4.2022). werden. Als Teil der Qualitätssicherung werden Therapiestandards für definierte Patientenklassen eines Indikationsbereichs entwickelt, die Empfehlungen für die Behandlung spezifischer Patientenklassen geben und somit einer zielorientierten und wissenschaftlichen Rehabilitation dienen. Ferner werden die Leistungen, die ein Rehabilitand erhält, in eine Klassifikation therapeutischer Leistungen eingeordnet, so dass das therapeutische Leistungsspektrum der Einrichtung sowohl für sie selbst als auch für den Rentenversicherungsträger transparent ist. 2.4.3 Rechtsstellung eines Rehabilitationsdienstes - 2.4.3.1 Begriff des Rehabilitationsdienstes Der Leistungserbringer einer ambulanten (inkl. teilstationären) Rehabilitationsmaß‐ nahme wird im Rehabilitationsrecht als Rehabilitationsdienst bezeichnet (siehe z. B. § 36 SGB IX). In der Praxis ist auch der Begriff des Rehabilitationszentrums anzutreffen. Im SGB V ist die Begrifflichkeit ungenau, weil sowohl die ambulanten als auch die stationären Leistungserbringer als Rehabilitationseinrichtung bezeichnet werden. Die gesetzliche Definition einer Rehabilitationseinrichtung in § 107 Abs. 2 SGB V schließt jedoch ein, dass „Patienten untergebracht und verpflegt werden können“. Genau darin unterscheiden sich jedoch die (voll-)stationären und ambulanten Leistungen. Deshalb wird nachfolgend der aus dem SGB IX folgende Begriff des Rehabilitationsdienstes verwendet. Das Team eines Rehabilitationsdienstes setzt sich entsprechend den indikationsspe‐ zifischen Anforderungen interdisziplinär zusammen. Die Leitung und Verantwortung der Rehabilitation muss in den Händen eines Arztes mit der Gebietsbezeichnung der Hauptindikation des Rehabilitationsdienstes liegen. Ferner wirken nichtärztliche Fach‐ kräfte, wie z. B. Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Logopäden, Sozialpädagogen, Diätassistenten und Sporttherapeuten, an der Rehabilitation mit. 255 - 2.4.3.2 Versorgungsberechtigung und Vergütung in der gesetzlichen Krankenversicherung Der Rehabilitationsdienst erlangt seine Berechtigung, gesetzlich Versicherte zu versor‐ gen, durch einen Versorgungsvertrag nach § 111c SGB V. Die nachfolgenden Parameter des Vertrages gelten für eine (stationäre) Rehabilitationseinrichtung, die ambulante Leistungen anbieten möchte, ebenfalls. 160 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="161"?> 256 Vgl. BSG, Urt. v. 5.7.2000, B 3 KR 12/ 99 R, NZS 2001, 357 ff. [360], BSG, Urt. v. 1.9.2005, B 3 KR 3/ 04 R, NZS 2006, 485 ff. [487]. 257 Vgl. BSG, Urt. v. 23.7.2002, B 3 KR 63/ 01 R, BeckRS 2002, 32074189; BAR-Rahmenempfehlung zur ambulanten und stationären medizinischen Rehabilitation (Allgemeiner Teil), https: / / www.bar-fran kfurt.de/ service/ publikationen/ reha-vereinbarungen.html (Abruf am 30.4.2022). ❋ Wissen │ Versorgungsvertrag mit dem Rehabilitationsdienst Für den Versorgungsvertrag mit dem Rehabilitationsdienst über ambulante Reha‐ bilitationsleistungen gelten gem. § 111c SGB V folgende Parameter: Vertragspartner: Die Landesverbände der Krankenkassen und die Ersatzkassen gemeinsam schließen den Vertrag mit einem Rehabilitationsdienst (§ 111c Abs. 1 S.-1 SGB V). Form: Schriftform (§ 111c Abs. 2 S.-2 i. V. m. 109 Abs. 1 S.-1 SGB V) Voraussetzungen für den Vertragsschluss: Der Vertrag mit einer Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtung über ambulante Rehabilitationsleistungen setzt voraus, dass mit dieser bereits ein Versorgungsvertrag nach § 111 SGB V über die statio‐ nären Leistungen abgeschlossen wurde (siehe Abschnitt 2.4.2.2). Das Vorliegen eines solchen Versorgungsvertrages wird dagegen für den Rehabilitationsdienst, der wohnortnahe Rehabilitationsleistungen für die Versicherten erbringt, nicht verlangt (§ 111c Abs. 1 S.-2 SGB V). Gem. § 111c Abs. 1 S. 1 SGB V darf der Versorgungsvertrag nur abgeschlossen werden, wenn der Dienst leistungsfähig und wirtschaftlich ist. Leistungsfähigkeit bedeutet zum einen, dass der Dienst die Voraussetzungen des § 107 Abs. 2 Nr. 2 SGB V (z. B. die ständige ärztliche Verantwortung, vorwiegende Anwendung von Heil‐ mitteln, Vorgehen nach Behandlungsplan) erfüllt. 256 Zum anderen muss der Dienst über ausreichende personelle, sachliche und räumliche Mittel verfügen, um sein ambulantes Leistungsangebot zu erbringen und dieses muss den dem allgemein anerkannten Stand der medizinisch-pflegerischen Erkenntnisse entsprechen. 257 Bei der Wirtschaftlichkeit geht es um die Frage, ob der Rehabilitationsdienst mit der voraussichtlich zu erzielenden Vergütung in der Lage ist, seine Investitions-, Personal- und Sachkosten zu decken. Ferner ist eine Gewinnerzielung nicht ausgeschlossen. Andererseits dürfen keine Anhaltspunkte gegeben sein, dass den Patienten aus wirtschaftlichen Gründen not‐ wendige Leistungen vorenthalten werden. Insoweit muss der Dienst ein plausibles Konzept haben. Dagegen kommt es für den Vertragsschluss nicht auf die konkrete Höhe des kalkulierten Tagessatzes an, weil dieser erst in der nachgelagerten Vergütungsvereinbarung festgelegt wird (vgl. §-111c Abs. 3 SGB V). Ferner muss ein Bedarf für die ambulante Leistungserbringung durch den Dienst bestehen. Dieses Kriterium ist nicht als Höchst-, sondern als Mindestbedarf zu sehen. Die Krankenkassen müssen gem. § 36 Abs. 1 SGB IX dafür sorgen, dass die fachlich und regional erforderlichen Rehabilitationseinrichtungen und -dienste in ausreichender Zahl und Qualität zur Verfügung stehen. Da sie über die dem 2.4 Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen 161 <?page no="162"?> 258 Vgl. BSG, Urt. v. 23.7.2002, B 3 KR 63/ 01 R, BeckRS 2002, 32074189. 259 BSG, Urt. v. 5.7.2000, B 3 KR 12/ 99 R, NZS 2001, 357 ff. [358]. 260 Vgl. Krauskopf, Soziale Krankenversicherung Pflegeversicherung Kommentar, § 111c SGB V Rn. 3. Versicherten im Einzelfalls zu gewährende Rehabilitationsmaßnahme entscheiden, trägt der Leistungserbringer das Belegungsrisiko. Deshalb ist es unter Berücksich‐ tigung der grundrechtlich geschützten Berufsfreiheit der Leistungserbringer nicht gerechtfertigt, leistungsfähige und wirtschaftliche Dienste von der Versorgung vollständig auszuschließen. 258 Beteiligung der für die Krankenhausplanung zuständigen Landesbehörde: Die Wirksamkeit des Versorgungsvertrages ist (anders als bei den Krankenhäusern) nicht von der Genehmigung der Planungsbehörde abhängig. Ihr Einvernehmen ist gem. § 111c Abs. 2 S. 5 SGB V nur anzustreben. Das bedeutet, dass die Planungsbehörde lediglich ein „verfahrensrechtliches Beteiligungsrecht“ 259 hat. Der Vertrag kommt auch ohne ihr Einvernehmen zustande. Mindestinhalt des Vertrages: Der Vertrag muss mindestens die Art, den Inhalt und Umfang der Leistungen festlegen, die der Rehabilitationsdienst für die Versi‐ cherten erbringen muss. 260 Wirkungen des Vertrages: Der Vertragsschluss bewirkt, dass der Rehabilitati‐ onsdienst für die Dauer des Vertrages zur Versorgung der Versicherten mit ambu‐ lanten Leistungen zur Rehabilitation berechtigt und im Rahmen seiner Kapazität auch verpflichtet ist (§ 111c Abs. 2 S. 3 SGB V). Der Vertrag ist für die vertrags‐ schließenden Krankenkassen und die Mitgliedskassen der vertragsschließenden Landesverbände verbindlich (§ 111c Abs. 1 S. 1 SGB V). Andere Landesverbände der Krankenkassen oder Ersatzkassen können dem Vertrag beitreten (§ 111c Abs. 2 S. 2 SGB V). Allerdings bewirkt der Vertrag keine Verpflichtung der Krankenkassen, die Leistungen der Einrichtung in Anspruch zu nehmen. Über die Belegung entscheidet die Krankenkasse im pflichtgemäßen Ermessen nach den medizinischen Erfordernissen des Einzelfalls. Mit Abschluss des Versorgungsvertrages erwirbt die Vorsorge- und Rehabilitati‐ onseinrichtung einen Anspruch darauf, dass die vertragsschließenden Kranken‐ kassen und die Mitgliedskassen der Landesverbände mit ihr über die Vergütung (bei Belegung) eine Vereinbarung schließen (§ 111c Abs. 3 SGB V). Kündigungsmöglichkeit: Der Vertrag kann von den Landesverbänden der Kran‐ kenkassen und Ersatzkassen gemeinsam mit einer Frist von einem Jahr gekündigt werden, wenn die o. g. Voraussetzungen nicht mehr vorliegen (§ 111c Abs. 2 S. 4 SGB V). Bzgl. der Kündigung ist wie bei Vertragsschluss das Einvernehmen mit der Planungsbehörde anzustreben (§ 111c Abs. 2 S.-5 SGB V). Für den Dienst ist keine Kündigungsmöglichkeit in § 111c SGB V geregelt. Eine solche ergibt sich indes aus § 59 SGB X, der für alle öffentlich-rechtlichen Verträge gilt. 162 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="163"?> Die Vereinbarung über die Vergütung schließt der Träger des Rehabilitationsdienstes im Unterschied zum Versorgungsvertrag nicht mit den Krankenkassenverbänden, sondern mit den einzelnen Krankenkassen (§ 111c Abs. 3 SGB V). Für die Bemessung der Vergütungshöhe gelten die im Abschnitt 2.4.2.2 genannten Grundsätze ebenfalls. Wenn sich die Vertragsparteien nicht einigen können, so wird die Vergütung von der Landesschiedsstelle gem. §-111b SGB V festgesetzt. - 2.4.3.3 Versorgungsberechtigung und Vergütung in der gesetzlichen Rentenversicherung Anders als bei den Rehabilitationseinrichtungen betreiben die Rentenversicherungs‐ träger keine eigenen Rehabilitationsdienste. Ein Rehabilitationsdienst muss mit dem Rentenversicherungsträger einen Belegungsvertrag nach § 38 SGB IX abschließen, um ambulante Rehabilitationsleistungen für die Versicherten anbieten zu können. Die im Abschnitt 2.4.2.3 erläuterten Parameter für den Belegungsvertrag gelten mit einer Ausnahme für den Rehabilitationsdienst ebenfalls. Im Unterschied zur Rehabilitationseinrichtung muss der Rehabilitationsdienst sein einrichtungsinternes Qualitätsmanagement nicht zertifizieren lassen (Umkehrschluss aus § 37 Abs. 2 S. 2 SGB IX). Die im Abschnitt 2.4.2.3 erläuterten Grundsätze für die Bemessung der Vergütung der Vertragseinrichtungen gelten für den Rehabilitationsdienst ebenfalls. - 2.4.3.4 Leistungserbringung in der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung Die Entscheidung über Art, Dauer, Umfang, Beginn und Durchführung der Rehabilita‐ tionsleistungen liegt im pflichtgemäßen Ermessen der Krankenkasse bzw. des Renten‐ versicherungsträgers (siehe Abschnitt 2.4.1.3). Deshalb hat der Rehabilitationsdienst trotz seiner Versorgungsberechtigung keine Sicherheit, dass er Leistungen für die Versicherten erbringen kann. Das Risiko einer zu geringen Auslastung trägt er. Die nähere Ausgestaltung der Rehabilitationsleistungen überlässt der Gesetzgeber den Rehabilitationsträgern (§ 26 SGB IX). Diese haben sich zu einer Bundesarbeitsge‐ meinschaft für Rehabilitation e. V. zusammengeschlossen. Die Bundesarbeitsgemein‐ schaft hat Rahmenempfehlungen zur ambulanten und stationären medizinischen Rehabilitation beschlossen, und zwar einen allgemeinen Teil, der für alle Indikationen gilt, sowie indikationsspezifische Empfehlungen zu ● muskuloskeletalen Erkrankungen, ● neurologischen Erkrankungen, ● kardiologischen Erkrankungen, ● psychischen und psychosomatischen Erkrankungen, ● onkologischen Erkrankungen, ● dermatologischen Erkrankungen, 2.4 Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen 163 <?page no="164"?> 261 Rahmenempfehlungen zur ambulanten und stationären medizinischen Rehabilitation (Allgemeiner Teil) und die indikationsspezifischen Rahmenempfehlungen unter https: / / www.bar-frankfurt.de/ se rvice/ publikationen/ reha-vereinbarungen.html (Abruf am 30.4.2022). 262 Veröffentlichung der Verträge unter: https: / / www.gkv-spitzenverband.de/ krankenversicherung/ am bulante_leistungen/ heilmittel/ heilmittel.jsp (Abruf am 15.4.2022). 263 Vgl. Vereinbarung zur externen Qualitätssicherung und zum einrichtungsinternen Qualitätsmanage‐ ment in der stationären und ambulanten Rehabilitation und der stationären Vorsorge nach § 137d Absätze 1, 2 und 4 SGB V, . https: / / www.gkv-spitzenverband.de/ krankenversicherung/ rehab ilitation/ rehabilitation_qualitaetsmanagement/ rehabilitation_qualitaetsmanagement.jsp (Abruf am 30.4.2022). ● pneumologischen Erkrankungen. 261 Diesen Empfehlungen sind die Anforderungen an die ärztliche Leitung und die Qualifikation der anderen Fachkräfte, an den für den Patienten aufzustellenden Reha‐ bilitationsplan, an die räumliche und apparative Ausstattung sowie an die Vorgaben für die Inhalte der einzelnen Leistungen zu entnehmen. Zudem ist im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung § 124 Abs. 5 SGB V zu beachten, wenn Physiotherapie, Logopädie oder andere Heilmittel vom Rehabilita‐ tionsdienst erbracht werden. Die Personen, die die Dienstleistungen erbringen, müssen über die erforderliche Ausbildung sowie die zur Führung der Berufsbezeichnung berechtigende Erlaubnis verfügen (siehe Abschnitt 2.3.1) und die Räume, Geräte und Einrichtungsgegenstände müssen für die Leistungserbringung geeignet sein. Ferner gelten die Verträge, die der GKV-Spitzenverband mit den Verbänden der Heilmitteler‐ bringer auf Bundesebene vereinbart, 262 kraft Gesetz auch für die Rehabilitationsdienste, die Heilmittel abgeben (vgl. zu den Verträgen Abschnitte 2.3.2.2 und 2.3.2.3). Der Rehabilitationsdienst ist gem. § 135a Abs. 2 SGB V und § 37 Abs. 2 SGB IX verpflichtet, ein einrichtungsinternes Qualitätsmanagement zu betreiben, das er aller drei Jahre einer Selbstbewertung unterziehen und dokumentieren muss (§§ 4b, 4c der Vereinbarung nach § 137d SGB V 263 ). Ferner ist er nach § 135a Abs. 2 SGB V und § 37 Abs. 1 SGB IX verpflichtet, sich an der externen Qualitätssicherung in gesetzlichen Kranken- oder Rentenversicherungen zu beteiligen. Die Erläuterungen für die Rehabilitationseinrichtung im Abschnitt 2.4.2.4 gelten für den Rehabilitationsdienst ebenfalls. 2.4.4 Erbringer von ambulanten medizinischen Vorsorgeleistungen in der gesetzlichen Krankenversicherung Die ambulante medizinische Vorsorge am Wohnort wird in der Regel in Verbindung mit der ärztlichen Behandlung erbracht, indem der Vertragsarzt weitere notwendige Maßnahmen - wie z. B. Physiotherapie - verschreibt. Damit verliert sie den in § 23 Abs. 1 SGB V beschriebenen Charakter einer Komplexleistung und ist letztlich eine aus Einzelleistungen bestehende sekundärpräventive Behandlung. Die Einzelleistungen werden von den zugelassenen Vertragsärzten (vgl. Abschnitt 2.1), Heilmittelerbringern 164 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="165"?> 264 Vertrag über die kurärztliche Behandlung zwischen der KBV und dem Spitzenverband Bund der Krankenkassen v. 1.7.2013 i. d. F. v. 1.1.2015, https: / / www.kbv.de/ media/ sp/ 25_Kurarztvertrag.pdf (Abruf am 30.4.2022). (vgl. Abschnitt 2.3), Hilfsmittelerbringern (vgl. Abschnitt 2.7) und Apotheken (vgl. Abschnitt 2.11) erbracht. Die ambulante medizinische Vorsorge am Kurort gem. § 23 Abs. 2 SGB V wird in der Verantwortung von sog. Kurärzten erbracht. An der kurärztlichen Behandlung können Ärzte teilnehmen, die durch eine Weiterbildung die Zusatzbezeichnung Kur- oder Badearzt oder Physikalische Therapie und Balneologie erworben haben. Diese und weitere Voraussetzungen sind in § 9 Abs. 1 Kurarztvertrag (Anlage 25 des BMV-Ä 264 ) geregelt. Über die Teilnahme an der kurärztlichen Tätigkeit entscheidet die für den Kurort zuständige Kassenärztliche Vereinigung (§-9 Abs.-2 Kurarztvertrag). Die Tätigkeit des Kurarztes umfasst gem. § 3 Kurarztvertrag folgende Tätigkeiten: ● Anamneseerhebung und Untersuchung des Patienten, Beratung und Motivierung zu ggf. notwendigen verhaltenspräventiven Maßnahmen (z. B. Raucherentwöh‐ nung, Ernährungsberatung), ● Aufstellen eines individuellen Vorsorgeplans, ● Verordnung der notwendigen (kurortspezifischen) Heilmittel, z. B. Maßnahmen der physikalischen Therapie, Physiotherapie, ● Überwachung und Kontrolluntersuchungen, ● Abschlussuntersuchung mit Beurteilung der Ergebnisse der Maßnahmen, ● Abschlussbericht über die durchgeführten Maßnahmen sowie deren Ergebnisse und Abgabe von spezifischen Empfehlungen für weitere Maßnahmen am Wohnort. Die Anforderungen an die Kurarztbehandlung sowie deren Vergütung sind ebenfalls im Kurarztvertrag geregelt. Die vom Kurarzt veranlassten (kurortspezifischen) Heilmittel werden entweder ● von selbständigen Physiotherapeuten, Masseuren, Ergotherapeuten und anderen Heilmittelerbringern oder ● von ambulanten Therapiezentren, die entsprechendes Personal für die Heilmitte‐ lanwendungen beschäftigen, oder ● als ambulante Leistung von Vorsorgeeinrichtungen erbracht. Über Einzelheiten der kurortspezifischen Heilmittel können die Landesverbände der Krankenkassen und die Ersatzkassen mit den Leistungserbringern, deren Verbänden oder sonstigen Zusammenschlüssen Verträge gem. § 125 Abs. 7 SGB V schließen. Die Vertragsärzte und anderen Leistungserbringer der medizinischen Vorsorge sind gem. § 135a Abs. 2 SGB V verpflichtet, ein einrichtungsinternes Qualitätsmanagement zu betreiben. Zu den Anforderungen an das Qualitätsmanagement hat der GKV-Spitzen‐ 2.4 Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen 165 <?page no="166"?> 265 Vereinbarung nach § 137d Abs. 3 SGB V zu den grundsätzlichen Anforderungen an ein (einrichtungs-) internes Qualitätsmanagement für die Erbringung von ambulanten Vorsorgeleistungen nach § 23 Abs. 2 SGB V, unter http: / / www.kbv.de/ media/ sp/ Anforderungen_internes_QM.pdf. (Abruf am 30.4.2022). 266 RegE eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten, BTag-Drucks. 17/ 10488, S.-17. 267 Vgl. RegE eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten, BTag-Drucks. 17/ 10488, S.-18. 268 Vgl. BSG, Urt. v. 20.1.2005, B 3 KR 9/ 03 R, BSGE 94, 139 ff. [142 f.]. verband mit der KBV und den maßgeblichen Bundesverbänden der Leistungserbringer gem. § 137d Abs. 3 SGB V eine Vereinbarung 265 geschlossen. 2.4.5 Behandlungsvertrag mit dem Patienten Gegenstand des in den §§ 630a ff. BGB geregelten Behandlungsvertrages ist die medizinische Behandlung eines Menschen. Eine solche Behandlung umfasst alle „Maßnahmen und Eingriffe am Körper eines Menschen, um Krankheiten, Leiden, Körperschäden, körperliche Beschwerden oder seelische Störungen nicht krankhafter Natur zu verhüten, zu erkennen, zu heilen oder zu lindern“. 266 Relevant ist nicht nur die ärztliche, sondern auch die nichtärztliche Heilbehandlung durch z. B. Masseure und medizinische Bademeister, Ergotherapeuten, Logopäden, Physiotherapeuten. 267 Da sowohl die medizinische Vorsorge als auch medizinische Rehabilitation Komplexleis‐ tungen sind, die vor allem eine ärztliche Behandlung und Heilmittel einschließen, ist der Vertrag zwischen dem Leistungserbringer und dem Patienten als Behandlungsver‐ trag zu qualifizieren. Zudem besteht der Vertrag zu allen Patienten, nicht nur zum Selbstzahler. Eine besondere Form ist für den Behandlungsvertrag nicht vorgesehen, so dass er auch konkludent zustande kommen kann. Die Rechte und Pflichten der Vertragspartner ergeben sich aus den gesetzlichen und vertraglichen Regelungen. Eine zentrale Bedeutung hat die Behandlungspflicht der Einrichtung oder des Dienstes gem. § 630a BGB. Bei der medizinische Vorsorge und Rehabilitation handelt es sich um Komplexleistungen, mit denen der Gesundheitszu‐ stand des Patienten auf der Grundlage eines ärztlichen Behandlungsplans vorwiegend durch Anwendung von Heilmitteln einschließlich Krankengymnastik, Bewegungs-, Sprach-, Arbeits- und Beschäftigungstherapie sowie durch andere geeignete Hilfen verbessern und dem Patienten bei der Entwicklung eigener Abwehr- und Heilungs‐ kräfte helfen sollen (vgl. § 107 Abs. 2 Nr. 2 SGB V). Angesichts dieser Zielrichtung haben die nichtärztlichen therapeutischen Leistungen im Rahmen einer Vorsorge- oder Rehabilitationsmaßnahme ein stärkeres Gewicht als bei einer Krankenbehandlung, in deren Mittelpunkt die ärztliche Behandlung steht. Zudem spielt - vor allem bei der Vorsorge und Rehabilitation im psychiatrischen und psychosomatischen Bereich - der krankenhausspezifische apparative Einsatz eine geringere Bedeutung. 268 Letztlich ergibt sich der Umfang der Behandlungspflicht aus der Art der Erkrankung und den 166 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="167"?> 269 Vgl. Musterbedingungen 2009 für die Krankheitskosten- und Krankenhaustagegeldversicherung, un‐ ter https: / / www.pkv.de/ fileadmin/ user_upload/ PKV/ b_Wissen/ PDF/ 2019-02_mb-kk-2009.pdf (Ab‐ ruf am 14.4.2022). 270 Vgl. Allgemeine Versicherungsbedingungen für den Basistarif, unter https: / / www.pkv.de/ wissen/ pr ivate-krankenversicherung/ brancheneinheitliche-tarife/ #c711 (Abruf am 30.4.2022). Fähigkeitseinschränkungen des Patienten sowie aus der standardgerechten Behand‐ lungsmethode. Des Weiteren bestehen seitens der Leistungserbringer Aufklärungs-, Schweige- und Dokumentationspflichten; insoweit wird auf die Erläuterungen in den Abschnitten 2.1.4 und 2.3.3 verwiesen. Für die Behandlung im Rahmen der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung zahlt die Krankenkasse bzw. der Rentenversicherungsträger des Patienten die Vergü‐ tung an den Leistungserbringer (vgl. Abschnitte 2.4.2.2, 2.4.2.3, 2.4.3.2 und 2.4.3.3). Der gesetzlich versicherte volljährige Patient muss eine Zuzahlung leisten. Diese fällt nicht für jede Einzelleistung, sondern für die Behandlungstage an, da die Vorsorgebzw. Rehabilitationsmaßnahme Komplexleistungen darstellen. Die Zuzahlung beträgt 10-Euro pro Kalendertag ● einer stationären medizinischen Vorsorge zulasten der Krankenkasse gem. § 23 Abs. 6, § 24 Abs. 3 SGB V, ● einer ambulanten oder stationären Rehabilitation zulasten der Krankenkasse gem. § 40 Abs. 5, 6, § 41 Abs. 3 SGB V und ● einer stationären Rehabilitation zulasten des Rentenversicherers gem. § 32 SGB VI. Für eine Anschlussrehabilitation, die sich unmittelbar an eine Krankenhausbehandlung anschließt, ist die Zuzahlung gem. § 32 Abs. 1 S. 2 SGB VI auf 14 Tage bzw. gem. § 40 Abs. 6 SGB V auf 28 Tage abzüglich der Krankenhaustage begrenzt. Im Unterschied zur gesetzlichen Krankenversicherung ist der privat krankenversi‐ cherte Patient selbst Schuldner der Vergütung, und zwar unabhängig davon, welche Aufwendungen er von seinem privaten Krankenversicherer erstattet bekommt. Die Erstattungsfähigkeit richtet sich nach den Versicherungs- und Tarifbedingungen des Versicherungsvertrages (vgl. z. B. § 5 Abs. 1 Buchst. d MB/ KK 2009 269 ). Eine Besonderheit besteht jedoch bei einem Patienten, der eine private Krankenversiche‐ rung im Basistarif abgeschlossen hat. In diesem Fall hat die Einrichtung bzw. der Dienst einen Direktanspruch gegenüber dem Versicherungsunternehmen, so dass dieses zusammen mit dem Patienten gesamtschuldnerisch haftet (vgl. § 192 Abs. 7 VVG). Die Erstattungsfähigkeit kann auch von einer vorherigen Leistungszusage des Versicherungsunternehmens abhängig sein (vgl. z. B. Teil II A. Nr. 10 und 11 AVB/ BT 2009 270 ). 2.4 Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen 167 <?page no="168"?> 271 Heimgesetz i. d. F. d. Bek. v. 5.11.2001, BGBl. I S.-2970, z. g. d. G v. 29.07.2009, BGBl. I S.-2319. 272 HeimPersV v. 19.7.1993, BGBl. I S.-1205, z. g. d. VO v. 22.06.1998, BGBl. I S.-1506. 273 HeimMindBauV v. 27.1.1978, BGBl. I S.-189, z. g. d. VO v. 25.11.2003, BGBl. I S.-2346. 274 HeimmwV i. d. F. d. Bek. v. 25.7.2002, BGBl. I S.-2896. ❋ Wichtige Schlagwörter ❋ Belegungsvertrag ❋ Medizinische Rehabilitation ❋ Medizinische Vorsorge ❋ Rehabilitationsdienst ❋ Versorgungsvertrag ❋ Vorsorge- und Rehabilitationsein‐ richtung ✎ Wiederholungsaufgaben 1. Erläutern Sie die wesentlichen Merkmale der medizinischen Vorsorge gem. §-23 SGB V. 2. Erläutern Sie die allgemeine Zielrichtung der medizinischen Rehabilitation. 3. Nehmen Sie eine Abgrenzung zwischen der Zuständigkeit der Krankenkassen und der Rentenversicherungsträger für die medizinische Rehabilitation vor. 4. Erläutern Sie die Vertragsparteien sowie die Voraussetzungen für den Ab‐ schluss eines Versorgungsvertrages, durch den eine Vorsorge- und Rehabilita‐ tionseinrichtung zur stationären Versorgung der gesetzlich krankenversicher‐ ten Personen zugelassen wird. 5. Erläutern Sie den Inhalt und die Wirkungen eines Belegungsvertrages zwi‐ schen einem Rentenversicherungsträger und einer Vorsorge- und Rehabilita‐ tionseinrichtung. ➤ Lösungen im Web-Service. 2.5 (Pflege-)Heime ➤ Lernhinweis Die nachfolgenden Erläuterungen werden Sie besser verstehen, wenn Sie die ange‐ gebenen Paragrafen der nachfolgenden Rechtsvorschriften parallel zum Lehrbuch lesen: Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), Heimgesetz des Bundes ((Bundes-) HeimG) 271 , Heimpersonalverordnung (HeimPersV) 272 , Heimmindestbauverordnung (Heim‐ MindBauV) 273 , Heimmitwirkungsverordnung (HeimmwV) 274 , Niedersächsischen 168 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="169"?> 275 NuWG v. 29.6.2011, Nds. GVBl. S.-196, z. g. d. G v. 15.7.2020, Nds. GVBl. S.-244. 276 SGB XII v. 27.12.2003, BGBl. I S.-3022, z. g. d. G v. 10.12.2021, BGBl. I S.-5162. 277 HeimsicherungsV v. 24.4.1978, BGBl. I S.-553, z. g. d. G v. 27.12.2003, BGBl. I S.-3022. 278 WBVG v. 29.7.2009, BGBl. I S.-2319, z. g. d. G v. 30.11.2019, BGBl. I S.-1948. 279 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 22, 23, 33, 52, 72, 73, 74, 74a, 75, 84, 85, 87c, 91a, 91b, 93, 98, 104a, 104b, 105, 107, 109, 125a, 125b, 125c, 143c) v. 28.8.2006, BGBl. I S.-2034. Gesetzes über unterstützende Wohnformen (NuWG) 275 , Sozialgesetzbuch 1. Buch (SGB I), 5. Buch (SGB V), 11. Buch (SGB XI), 12. Buch (SGB XII) 276 , Verordnung über die Pflichten der Träger von Altenheimen, Altenwohnheimen und Pflegehei‐ men für Volljährige im Falle der Entgegennahme von Leistungen zum Zweck der Unterbringung eines Bewohners oder Bewerbers (HeimsicherungsV) 277 , Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz (WBVG) 278 . 2.5.1 Heimrecht - 2.5.1.1 Einführung Das Heimrecht ist eine spezielle Materie des Gewerberechts, das die Anforderungen an die Träger von Heimen und deren Überwachung zum Schutze der Bewohner des Heims regelt. Bis zum Jahre 2006 gehörte das Heimrecht gem. Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG zur konkurrierenden Gesetzgebung zwischen Bund und Ländern. Der Bund hatte von seiner Befugnis zur Gesetzgebung durch Erlass eines Heimgesetzes Gebrauch gemacht. Mit der Föderalismusreform 2006 279 ging die Gesetzgebungszuständigkeit auf die Bundesländer über, die mittlerweile eigene Heimgesetze erlassen haben: Bundesland Heimgesetz Baden-Württemberg Wohn-, Teilhabe- und Pflegegesetz (WTPG) vom 31.05.2014, GBI. 2014, S.-241 Bayern Pflege- und Wohnqualitätsgesetzes (PfleWoqG) vom 08.07.2008, GVBl. 2008, S.-346 Berlin Wohnteilhabegesetz (WTG) vom 04.05.2021, GVBl. 2021, S.-417 Brandenburg Brandenburgisches Pflege- und Betreuungswohngesetz (BbgPBWoG) vom 08.07.2009, GVBl. 2009, Teil I, S.-298 Bremen Bremisches Wohn- und Betreuungsgesetz (BremWoBeG) vom 12.12.2017, Brem. GBl. 2017, S.-730 Hamburg Hamburgisches Wohn- und Betreuungsqualitätsgesetz (HmbWBG) vom 15.12.2009, HmbGVBl. 2009, S.-494 Hessen Hessisches Gesetz über Betreuungs- und Pflegeleistungen (HGBP) vom 07.03.2012, GVBl. 2012 S.-34 2.5 (Pflege-)Heime 169 <?page no="170"?> Mecklenburg- Vorpommern Einrichtungenqualitätsgesetz (EQG M-V) vom 17.05.2010, GVOBl. M-V 2010, S.-241 Niedersachsen Niedersächsisches Gesetz über unterstützende Wohnformen (NuWG) vom 29.06.2011, Nds. GVBl. 2011, S.-196 Nordrhein-Westfalen Wohn- und Teilhabegesetz (WTG) vom 02.10.2014, GV. NRW. S.-625 Rheinland-Pfalz Landesgesetz über Wohnformen und Teilhabe (LWTG) vom 22.12.2009, GVBl. 2009, S.-399 Saarland Saarländisches Wohn-, Betreuungs- und Pflegequalitätsgesetz (HeimG SL) vom 06.05.2009, Amtsblatt 2009, S.-906 Sachsen Sächsisches Betreuungs- und Wohnqualitätsgesetz (SächsBeWoG) vom 12.07.2012, SächsGVBl. 2012, S.-397 Sachsen-Anhalt Wohn- und Teilhabegesetz des Landes Sachsen-Anhalt (WTG LSA) vom 17.02.2011, GVBl. LSA 2011, S.-136 Schleswig-Holstein Selbstbestimmungsstärkungsgesetz (SbStG) vom 17.07.2009, GVOBl. 2009, S.-402 Thüringen Thüringer Wohn- und Teilhabegesetz (ThürWTG) vom 10.06.2014, GVBl. 2014, S.-161 Tabelle 12: Heimgesetze der Bundesländer - 2.5.1.2 Heimbegriff und Anwendungsbereich des NuWG Der Anwendungsbereich der Heimgesetze der Länder knüpft zunächst an den traditionellen Heimbegriff an. Darüber hinaus werden weitere heimähnliche Wohnformen, die sich in den letzten Jahrzehnten herausgebildet haben, dem Heim gleichgestellt und der Anwendung des Heimrechts unterworfen. Die nachfolgenden Erläuterungen beziehen sich auf die Regelungen des Niedersächsischen Gesetzes über unterstützende Wohnformen (NuWG). Viele von ihnen finden sich jedoch ebenso in anderen Landesgesetzen wieder. ✎ Aufgabe Der Altenpfleger und Diplom-Kaufmann Emil Emsig möchte in Wolfsburg eine Einrich‐ tung gründen, in der er pflegebedürftige Volljährige gegen Entgelt betreuen und pflegen möchte. Er will mit dieser Tätigkeit seinen Lebensunterhalt sichern und richtig reich werden. Emsig hat bereits gutes Personal angeworben und ein geeignetes Grundstück nebst Gebäude erworben, in dem die Bewohner der Einrichtung gut ausgestattete Zimmer und Gemeinschaftsräume vorfinden. Für das leibliche Wohl der Bewohner soll eine hauseigene Küche sorgen. Benötigt Emsig eine staatliche Erlaubnis für den Betrieb dieser Einrichtung? Begründen Sie Ihre Entscheidung. ➤ Lösungen im Web-Service. 170 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="171"?> Nach § 2 Abs. 2 NuWG wird das Heim wie folgt definiert: ❋ Wissen-│-Heime Heime sind Einrichtungen für Volljährige, die in ihrem Bestand unabhängig von Wechsel und Zahl ihrer Bewohnerinnen und Bewohner dem Zweck dienen, gegen Entgelt 1. ältere, pflegebedürftige oder Menschen mit Behinderungen aufzunehmen, 2. ihnen Wohnraum zu überlassen und 3. für sie Pflege- oder Betreuungsleistungen zur Verfügung zu stellen und vorzu‐ halten. Um zu vermeiden, dass die gesetzlichen Vorschriften mit bestimmten Vertragskon‐ struktionen umgangen werden, werden ambulant betreute Wohngemeinschaften und Formen des betreuten Wohnens, bei denen die Bewohner zur Abnahme bestimmter Leistungen verpflichtet sind, ebenfalls als Heim angesehen: ❋ Wissen-│ ambulant betreute Wohngemeinschaften Ambulant betreute Wohngemeinschaften, in denen volljährigen Personen Wohn‐ raum zum Zweck des Lebens in einer Haushaltsgemeinschaft überlassen wird und in der sie von Dienstleistern aufgrund einer mit dem Mietverhältnis verbundenen vertraglichen Verpflichtung entgeltliche ambulante Pflege- oder Betreuungsleis‐ tungen in Anspruch nehmen, gelten ebenfalls als Heim (§ 2 Abs. 3 NuWG). Sie sind nur dann kein Heim, wenn die Wohngemeinschaften maximal zwölf Personen umfasst und die Bewohner spätestens ein Jahr nach der Gründung der Wohngemeinschaft die Dienstleister für die Pflege- und Betreuungsleistungen frei wählen können (§ 2 Abs. 5 S.-1 NuWG). ❋ Wissen-│ Formen des betreuten Wohnens Formen des betreuten Wohnens, in denen volljährigen Personen Wohnraum überlassen wird, gelten als Heim, wenn die Bewohner von Dienstleistern aufgrund einer mit dem Mietverhältnis verbundenen vertraglichen Verpflichtung Leistun‐ gen in Anspruch nehmen, die über allgemeine Unterstützungsleistungen wie Notrufdienste, Informations- und Beratungsleistungen oder die Vermittlung von Leistungen der hauswirtschaftlichen Versorgung, Pflege- oder Betreuungsleistun‐ gen hinausgehen (§ 2 Abs. 4 NuWG). Wenn die Bewohner allerdings spätestens ein Jahr nach ihrem Einzug die Dienstleister für die hinausgehenden Leistungen frei wählen können, gelten die Wohnformen nicht als Heim (§ 2 Abs. 5 S.-2 NuWG). Für die ambulant betreuten Wohngemeinschaften und für die Formen des betreuten Wohnens, die als Heim gelten, findet das NuWG Anwendung. Abweichungen vom 2.5 (Pflege-)Heime 171 <?page no="172"?> 280 Zweites Gesetz zur Änderung des Heimgesetzes v. 3.2.1997, BGBl. I S.-158. NuWG sind lediglich für einige bauliche, personelle Anforderungen und für die Mitwirkung der Bewohner vorgesehen (vgl. dazu § 17 Abs. 3 NuWG). Ferner findet das NuWG auf Kurzzeitheime, in denen die Bewohner nur bis zu drei Monate aufgenommen werden, sowie auf (teilstationäre) Einrichtungen der Tagespflege weitestgehend Anwendung; zu den Ausnahmen vgl. § 2 Abs. 7 NuWG sowie die nachfolgenden Abschnitte 2.5.1.3 und 2.5.1.4. Dagegen sind Krankenhäuser, Hospize, Einrichtungen der Nachtpflege sowie Inter‐ nate, Berufsbildungs- und Berufsförderungswerke von der Anwendung des NuWG ausgenommen (vgl. § 2 Abs. 8 NuWG). - 2.5.1.3 Anforderungen an ein Heim Für den Betrieb eines Heimes gilt die Gewerbefreiheit (vgl. zum Begriff Abschnitt 2.2.2). Folglich bedürfen Einschränkungen dieser unternehmerischen Tätigkeit - wie z. B. die Notwendigkeit einer Erlaubnis - eines Gesetzes. Die für die privaten Träger eines Heimes geregelte Erlaubnispflicht ist 1997, also noch während der Geltung des Bundesgesetzes, abgeschafft worden 280 , so dass die Eröffnung eines Heimes seitdem nur anzeigepflichtig war. Das NuWG sieht ebenso keine Erlaubnispflicht, sondern nur eine Anzeigepflicht vor. Gem. § 7 Abs. 1 NuWG muss der Inhaber der zuständigen Behörde spätestens drei Monate vor der Inbetriebnahme insbesondere Folgendes mitteilen: ● Name und Anschrift des Heimbetreibers, ● Name, Anschrift und die Nutzungsart des Heims, ● Zahl, Größe und Lage der Räume des Heims, geplante Belegung der Wohnräume, ● Name, Ausbildung und beruflicher Werdegang der Heimleitung sowie bei Pflege‐ heimen der Pflegedienstleitung ● geplante personelle Ausstattung des Heims. Die geplanten Verträge mit den Heimbewohnern sind als Muster vorzulegen (§ 7 Abs. 1 S.-4-NuWG). Der Betreiber eines Heims muss sowohl bei Eröffnung als auch während des Betriebs verschiedene Anforderungen erfüllen. Wenn er die Anforderungen nicht erfüllt, kommt eine Untersagung des Heims - auch bereits vor der Inbetriebnahme - in Betracht; Näheres dazu im Abschnitt 2.5.1.5. 172 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="173"?> 281 Vgl. Marcks, Landmann/ Rohmer, GewO § 35 Rn. 29. 282 Verordnung über personelle Anforderungen für unterstützende Einrichtungen nach dem Nieder‐ sächsischen Gesetz über unterstützende Wohnformen (NuWGPersVO) v. 25.10.2018, Nds. GVBl. S.-228. Abb. 28: Anforderungen an den Betrieb eines Heims in Niedersachsen  HeimMindBauV  NuWGPersVO  HeimmwV § 5 NuWG § 17 NuWG § 14 (Bundes-)HeimG  HeimversicherungsV Abbildung 27: Anforderungen an den Betrieb eines Heims Insbesondere muss der Betreiber des Heims die erforderliche Zuverlässigkeit besitzen (§ 5 Abs. 3 Nr. 1 NuWG). Zuverlässigkeit bedeutet, dass der Betreiber willens und fähig ist, das Heim ordnungsgemäß nach den geltenden Gesetzen und anderen Rechtsvor‐ schriften zu betreiben. 281 Ferner muss der Betreiber sicherstellen, dass die Zahl der Beschäftigten und deren persönliche und fachliche Eignung für die zu leistende Tätigkeit ausreicht (§ 5 Abs. 3 Nr. 2 NuWG). Die Zahl der Beschäftigten hängt von der Größe und vom Betreuungs‐ bedarf der Bewohner ab. Personalrichtwerte für das Verhältnis von Pflegekräften zu Bewohnern werden beispielsweise in den Versorgungsverträgen des Heimträgers und den Landesverbänden der Pflegekassen (siehe Abschnitt 2.5.2.3) oder in den Landesrahmenverträgen zwischen den Landesverbände der Pflegekassen und den Vereinigungen der Einrichtungsträger (siehe Abschnitt 2.5.2.2) vereinbart. Im Hinblick auf die Beschäftigtenzahl hat der Heimbetreiber auch die sog. Fachkraft‐ quote zu berücksichtigen, die dazu führt, dass mindestens die Hälfte der Beschäftigten in den Bereichen Pflege, Therapie, soziale Betreuung sowie sozialpädagogische und psychosoziale Betreuung, heilpädagogische Förderung und Therapie von Menschen mit Behinderungen einen einschlägigen Berufsabschluss haben muss. Die Fachkraft‐ quote ergibt sich aus § 4 Abs. 1 NuWGPersVO 282 (zuvor aus § 5 Abs. 1 HeimPersV). Ferner muss mindestens eine Fachkraft ständig anwesend sein. Im Übrigen regelt die NuWGPersVO die Eignung der Heimleitung, Pflegedienstlei‐ tung sowie der Beschäftigten. 2.5 (Pflege-)Heime 173 <?page no="174"?> ✎ Aufgaben Lesen Sie die NuWGPersVO und beantworten Sie folgende Fragen: 1. Der Heimleiter muss persönlich und fachlich geeignet sein. Welche Umstände schließen eine persönliche Eignung aus? 2. Welche Berufsabschlüsse gelten als Fachkraftabschlüsse in der Pflege? ➤ Lösungen im Web-Service. Ferner muss der Heimbetreiber die in Niedersachsen gem. § 17 Abs. 2 Nr. 1 NuWG fortgeltende HeimMindBauV beachten, in der bauliche Anforderungen an die Räume, Flure, Treppen, Aufzüge, Heizung seiner Gebäude etc. geregelt sind. ✎ Aufgaben Lesen Sie die HeimMindBauV und beantworten Sie folgende Fragen: 1. Welche Mindestgröße ist für einen Gemeinschaftsraum im Pflegeheim vorge‐ sehen? 2. Welche Mindestgröße müssen Wohnschlafräume im Altenheim haben? 3. Welche Mindestgröße müssen Wohnschlafräume im Pflegeheim haben? ➤ Lösungen im Web-Service. Wenn sich der Betreiber des Heims Geld oder geldwerte Leistungen zum Bau, Erwerb und Betrieb sowie zur Instandsetzung und Ausstattung der Einrichtung von den Bewohnern gewähren lässt, die über das laufende Heimentgelt hinausgehen, so muss er § 14 (Bundes-)HeimG und die dazu erlassende HeimsicherungsV beachten. Davon ausgenommen sind lediglich die Einrichtungen der Tagespflege und Kurzzeitheime (§ 2 Abs.-7 NuWG). ✎ Aufgaben Lesen Sie § 14 (Bundes-)HeimG sowie die HeimsicherungsV und beantworten Sie folgende Fragen: 1. Wie hoch muss der Eigenanteil des Heimbetreibers an den Kosten der zu finanzierenden Maßnahme sein? 2. Wie hoch darf der Anteil der Leistungen der Bewohner an den Kosten der zu finanzierenden Maßnahme sein? 3. Welche Pflichten hat der Heimbetreiber gegenüber dem Bewohner, der das Geld oder die geldwerte Leistung gewährt? ➤ Lösungen im Web-Service. 174 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="175"?> 283 Vgl. BGH, Beschl. v. 26.10.2011, IV ZB 33/ 10, NJW 2012, 155 f. m. w. N. Neben den vorgenannten Leistungen zum Bau, Erwerb und Betrieb sowie zur Instand‐ setzung und Ausstattung der Einrichtung ist es dem Heimbetreiber grundsätzlich untersagt, sich andere Leistungen als das Heimentgelt versprechen oder gewähren zu lassen. Gleiches gilt für den Leiter und die Mitarbeiter des Heims. Ausgenommen sind lediglich geringwertige Aufmerksamkeiten oder Leistungen, die die zuständige Behörde im Einzelfall ausnahmsweise genehmigt. Diese Verbote folgen aus dem in Niedersachsen weiterhin geltenden § 14 (Bundes-)HeimG. Sie sollen den Heimfrieden schützen, weil Zuwendungen dazu führen können, dass der Zuwendende gegenüber anderen Bewohnern bevorzugt wird. Eine besondere Bedeutung in der Praxis erlangen diese Verbote, wenn der Betreiber eines Heims oder ein Beschäftigter durch das Testament eines Bewohners als Erbe eingesetzt wird. Die Wirksamkeit einer solchen Erbeinsetzung setzt voraus, dass der Begünstigte von ihr bis zum Eintritt des Erbfalls keine Kenntnis hatte (sog. stilles Testament). Dies leitet die Rechtsprechung daraus ab, dass es verboten ist, sich eine Leistung versprechen oder gewähren zu lassen. Sich etwas versprechen oder gewähren zu lassen, setzt eine Annahmeerklärung des Begünstigten voraus. Eine solche Erklärung fehlt jedoch, wenn der Begünstigte keine Kenntnis von der Erbeinsetzung hatte. 283 ➤ Lernhinweis Weitere Anforderungen an den Betreiber eines Heims finden Sie in § 5 Abs. 1, 2, 3 Nr.-3 NuWG. Bitte lesen! - 2.5.1.4 Mitwirkung der Bewohner Die Bewohner eines Heims können eine Bewohnervertretung bilden, die an der Gestal‐ tung der Lebensverhältnisse im Heim mitwirkt (§ 4 NuWG). Die Bewohnervertretung hat beispielsweise folgende Aufgaben: ● Maßnahmen, die den Bewohnern des Heims dienen, bei der Leitung oder dem Betreiber des Heims zu beantragen (§ 29 HeimmwV), ● Anregungen und Beschwerden von Bewohnern entgegennehmen und ggf. durch Verhandlungen mit der Leitung auf ihre Erledigung hinwirken (§-29 HeimmwV), ● zur Information der Bewohner mindestens einmal jährlich eine Versammlung durchführen (§ 4 Abs. 1 S.-4 NuWG), ● Mitwirkung bei der Änderung der Heimverträge, bei der Änderung der Heiment‐ gelte, bei der Planung und Durchführung von Veranstaltungen, bei Maßnahmen zur Verbesserung der Betreuung (§ 30 HeimmwV). 2.5 (Pflege-)Heime 175 <?page no="176"?> Weitere Aufgaben und die Einzelheiten zur Größe, Wahl, Amtszeit der Bewohnerver‐ tretung etc. regelt die HeimmwV, die in Niedersachsen gem. § 17 Abs. 2 Nr. 3 NuWG weiterhin gilt. In der Praxis zeigt sich u. a. wegen der wachsenden Zahl der gerontopsychiatrisch erkrankten Heimbewohner allerdings die Schwierigkeit, Heimbewohner für ein Enga‐ gement in der Bewohnervertretung zu gewinnen. Für den Fall, dass eine Vertretung nicht gebildet werden kann, ist die Bestellung eines ehrenamtlichen Heimfürsprechers vorgesehen, der die Aufgaben der Heimvertretung wahrnimmt. Die Einsetzung erfolgt durch die Heimaufsichtsbehörde im Benehmen mit der Heimleitung (§ 4 Abs. 4 NuWG). Die Bestellung eines Heimfürsprechers ist auch für Einrichtungen der Tagespflege und Kurzzeitheime vorgesehen, die in der Regel mindestens sechs Personen aufneh‐ men; ansonsten sind diese beiden Einrichtungen von der Notwendigkeit einer Heim‐ vertretung freigestellt (§ 2 Abs. 7 NuWG). - 2.5.1.5 Zuständige Aufsichtsbehörde und deren Befugnisse Die Zuständigkeit der Heimaufsichtsbehörde ist jeweils landesrechtlich geregelt. So bestimmt beispielsweise § 19 NuWG die Zuständigkeit des Landesamtes für Soziales, Jugend und Familie sowie der Landkreise und kreisfreien Städte für die verschiedenen Heime in Niedersachsen. Zur Feststellung, ob die an das Heim zu stellenden Anforderungen erfüllt werden (siehe oben Abschnitt 2.5.1.3), führt die Heimaufsichtsbehörde grundsätzlich einmal jährlich oder bei besonderen Anlässen eine Prüfung des Heims gem. §-9 NuWG durch. Die Prüfung kann angemeldet und unangemeldet stattfinden. Eine nächtliche Prüfung ist ebenfalls zulässig, wenn das Prüfungsziel tagsüber nicht erreicht werden kann. Das ist beispielsweise für die Feststellung notwendig, ob genügend Personal in der Nacht eingesetzt ist. Während der Prüfung hat die Behörde verschiedene Rechte, die der Heimbetreiber dulden muss (vgl. § 9 NuWG): ● Besichtigung der Einrichtung, ● Einsicht in die Unterlagen, die das Heim vorhalten muss, wie z. B. die Pflegedoku‐ mentation, ● Befragung der Heimleitung, Pflegedienstleitung sowie der Beschäftigten, ● Kontaktieren der Bewohner und der Bewohnervertretung, ● Inaugenscheinnahme des Pflegezustandes der Bewohner mit deren Einverständ‐ nis. Wenn bei der Prüfung Mängel zutage treten, stehen der Behörde vier verschiedene Reaktionsmöglichkeiten zur Verfügung: 176 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="177"?> 284 Der aus dem Grundgesetz abgeleitete Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verlangt, dass eine staatliche Maßnahme einen legitimen Zweck verfolgt sowie geeignet, erforderlich und angemessen ist, um diesen Zweck zu erreichen. 285 Vgl. VG Göttingen, Urt. v. 8.1.2009, 2 A 3/ 08, PflR 2009, 256 ff. Abb. 29: Befugnisse der Heimaufsichtsbehörde zur Behebung festgestellter Mängel Befugnisse Beratung Anordnung Beschäftigungsverbot Untersagung des Betriebs Abbildung 28: Befugnisse der Heimaufsichtsbehörde zur Behebung festgestellter Mängel Bei der Beratung gem. § 10 NuWG handelt es sich um die mildeste Maßnahme, die darauf gerichtet ist, dass der Heimbetreiber den Mangel freiwillig behebt. Wenn sie Erfolg verspricht, hat sie wegen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes 284 Vorrang vor allen anderen Maßnahmen. Wenn der Betreiber den Mangel nicht selbst abstellt, so kann die Behörde die erforderlichen Maßnahmen anordnen (§ 11 NuWG). Eine solche Anordnung muss der Betreiber befolgen, es sei denn, er erreicht im Wege des Rechtsschutzes eine Änderung oder Aufhebung der Anordnung. ➤ Beispiel │ Anordnung Anordnung der Heimaufsichtsbehörde gegenüber dem Heimbetreiber, ● das Duschen und Baden der Bewohner (mindestens einmal wöchentlich) sowie ● die Ablehnung des Duschens oder Badens durch die Bewohner zu dokumen‐ tieren. 285 Wenn der Mangel seine Ursache in der fehlenden Eignung des Heimleiters oder eines anderen Beschäftigten hat, so hat die Heimaufsichtsbehörde die Befugnis, dem Heimbetreiber die Weiterbeschäftigung dieser Person zu untersagen (§-12 NuWG). ➤ Beispiel │ Weiterbeschäftigungsverbot Die Heimaufsichtsbehörde sprach ein Weiterbeschäftigungsverbot für einen Heimleiter vor allem aus folgenden Gründen aus: Die Überprüfung der Dienst‐ pläne ergab, dass eine Pflegefachkraft nicht durchgängig anwesend war. 40 % der Arzneimittel hatten ein abgelaufenes Haltbarkeitsdatum. Es lagen Mängel in der pflegerischen Betreuung der Bewohner vor. Beispielsweise erfolgten das Waschen 2.5 (Pflege-)Heime 177 <?page no="178"?> 286 Vgl. VG Dresden, Urt. v. 3.6.2005, 13 K 1670/ 03, BeckRS 2005, 34848. 287 Vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 12.3.2002, 1 B 23/ 02, NJW 2002, 3119 ff. und die Mundpflege von einem Drittel der Bewohner nachts. Das VG Dresden sah das Beschäftigungsverbot als rechtmäßig an. 286 Wenn eine Anordnung nach § 11 NuWG oder ein Weiterbeschäftigungsverbot nach § 12 NuWG zur Mängelbeseitigung nicht ausreichen, ist der Heimbetrieb gem. § 13 Abs.-1 NuWG zu untersagen. ➤ Beispiel │ Untersagung X betrieb ein privates Altenheim mit 18 Betten. In dem Altenheim waren zuletzt X als Leiterin sowie ihr Ehemann, eine Altenpflegerin sowie drei bis vier Hilfskräfte als Teilzeitbeschäftigte tätig. Bei den Bewohnern handelte es sich überwiegend um chronisch alkoholkranke Personen. Die Bewohnerin H zog im November 1982 in das Altenheim. Zum 31.12.1995 hatte ihr bei der Sparkasse eingerichtetes Wertpapierdepot einen Gesamt-Kurswert von 218.686,06 DM. Das Geld wurde bei Fälligkeit jeweils auf das Girokonto von H gezahlt. Für dieses Konto hatte der Ehemann der X Kontovollmacht. 2001 hatte die Bewohnerin H noch ein Bankguthaben von etwas über 2.000 DM. Recherchen ergaben, dass der Ehemann der X in der Zeit von 1996 bis 1998 insgesamt 168.500 DM auf das Konto der X überwiesen hat, ohne dass diese Überweisungen einen Rechtsgrund im Heimvertrag hatten. 5.500 DM hatte sich der Ehemann bar auszahlen lassen. Für einen weiteren Betrag von 20.200 DM legte der Ehemann 9 Quittungen über Auszahlungen an H vor, die von H unter‐ schrieben waren. H konnte sich nicht daran erinnern, Quittungen unterschrieben zu haben. Es wurde überdies festgestellt, dass H sehr stark sehbehindert war. Bei einem durchgeführten Test konnte sie weder Zahlen noch Buchstaben auf einem Quittungsblock erkennen. Die Aufsichtsbehörde untersagte der X den Betrieb des Altenheimes. Das OVG Bremen sah die Untersagung als rechtens an. 287 ➤ Lernhinweis Die Frage, ob eine Untersagung des Heimbetriebs gem. § 13 Abs. 1 NuWG zulässig ist, wird gemäß dem nachfolgenden Schema geprüft. Einen Fall zum Üben finden Sie in den Wiederholungsaufgaben. Tatbestandsvoraussetzungen: 1. Das NuWG ist für die in Rede stehende Einrichtung gem. § 2 NuWG anwendbar. 2. Das Heim erfüllt die Anforderungen, die sich aus § 5 NuWG oder aus den gem. §-17 NuWG geltenden Verordnungen ergeben, nicht. 178 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="179"?> 3. Eine Anordnung nach § 11 NuWG oder ein Weiterbeschäftigungsverbot nach § 12 NuWG reichen nicht aus, um sicherzustellen, dass das Heim die genannten Anforderungen erfüllt. Wenn der Sachverhalt die Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt, tritt die gesetzlich vorgesehene Rechtsfolge ein: Die Behörde ist verpflichtet, den Heimbetrieb zu untersagen. Daneben gibt es nach § 13 Abs. 2 NuWG eine Untersagungsmöglichkeit, die im Ermessen der Heimaufsichtsbehörde steht. Wenn der Heimbetreiber ● seiner Anzeigepflicht nach § 7 Abs. 1 NuWG nicht oder nicht vollständig nach‐ kommt, ● eine Anordnung nach §-11 NuWG nicht rechtzeitig erfüllt oder ● eine Person trotz Weiterbeschäftigungsverbot nach §-12 NuWG weiterhin für ihn tätig ist, kann die Heimaufsichtsbehörde den Heimbetrieb untersagen. Es liegt jedoch in ihrem Ermessen, eine andere Entscheidung zu treffen. Beispielsweise kann sie im Fall der nicht rechtzeitigen Erfüllung einer Anordnung anstelle der Untersagung eine Nachfrist setzen. 2.5.2 Leistungserbringung im System der sozialen Pflegeversicherung und gesetzlichen Krankenversicherung - 2.5.2.1 Einführung und Begriff des Pflegeheims Wenn in dem Heim nicht nur ältere Personen, sondern auch gesetzlich versicherte Pfle‐ gebedürftige aufgenommen werden, so kommt neben dem landesrechtlichen Heimge‐ setz das SGB XI zur Anwendung; zum Begriff der Pflegebedürftigkeit siehe Abschnitt 3.1.11. Wenn ein Heimträger Leistungen für gesetzlich versicherte Pflegebedürftige erbringen möchte, muss er die Merkmale der im SGB XI enthaltenen Definition eines Pflegeheims erfüllen und durch einen Versorgungsvertrag zur Leistungserbringung zugelassen sein. 2.5 (Pflege-)Heime 179 <?page no="180"?> 288 Vgl. Neumann, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd.-4, § 20 Rn. 12. Für die soziale Pflegeversicherung gilt gem. § 71 Abs. 2 SGB XI folgender Pflege‐ heimbegriff: ❋ Wissen-│ Pflegeheim Eine stationäre Pflegeeinrichtung (Pflegeheim) ist eine selbständig wirtschaftende Einrichtung, in der Pflegebedürftige 1. unter ständiger Verantwortung einer ausgebildeten Pflegefachkraft gepflegt werden und 2. ganztägig (vollstationär) oder tagsüber oder nachts (teilstationär) unterge‐ bracht und verpflegt werden können. Die Definition stellt nicht auf eine juristische, sondern „nur“ auf eine wirtschaftliche Selbständigkeit ab. Deshalb kann ein Träger ein Pflegeheim zusammen mit anderen Einrichtungen, z. B. einer Rehabilitationsklinik, betreiben, sofern die wirtschaftliche und finanzielle Eigenverantwortung des Pflegeheims gewahrt ist. 288 Ferner wird verlangt, dass der Pflegebereich (nicht das Heim insgesamt) von einer ausgebildeten Pflegefachkraft geleitet wird. Die Pflegefachkraft muss eine abgeschlos‐ sene pflegerische Ausbildung, mindestens eine zweijährige Berufserfahrung und eine abgeschlossene Weiterbildung zur Pflegedienstleitung mit mindestens 460 Stunden vorweisen können (vgl. zu den Details §-71 Abs.-3 SGB XI). Zu den Pflegeheimen gehören die ● Einrichtungen der Tages- oder Nachtpflege (§ 41 SGB XI), ● Einrichtungen, die die vollstationäre Kurzzeitpflege gem. § 42 SGB XI erbringen, ● Einrichtungen, die die vollstationäre Dauerpflege gem. § 43 SGB XI erbringen. Dagegen gehören Krankenhäuser, Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen sowie stationäre Einrichtungen der Eingliederungshilfe nicht zu den Pflegeheimen (§ 71 Abs.-4 SGB XI). - 2.5.2.2 Inhalt der teil- und vollstationären Leistungen einer Pflegeeinrichtung Gem. § 41 SGB XI erfolgt die teilstationäre Pflege des Pflegebedürftigen in einer Einrichtung der Tages- oder Nachtpflege. Sie ist entweder eine Ergänzung der häuslichen Pflege, weil bestimmte Verrichtungen vom pflegenden Angehörigen nicht erbracht werden können, oder ein Ersatz der häuslichen Pflege, weil diese während der Aufenthaltszeit, z.-B. wegen der Berufstätigkeit des pflegenden Ange‐ hörigen nicht erbracht werden kann. Die teilstationäre Pflege umfasst ebenfalls die Beförderung des Pflegebedürftigen zwischen Wohnort und Einrichtung (§ 41 180 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="181"?> 289 Wenn sie in einer vollstationären Pflegeeinrichtung nach § 43 SGB XI erbracht wird, umfasst der Anspruch des Versicherten die Aufwendungen für Pflege, Betreuung, medizinischen Behand‐ lungspflege, für die betriebsnotwendigen Investitionskosten sowie die Entgelte für Unterkunft und Verpflegung; die Leistungen nach § 43 SGB XI angerechnet. Der Versichertenanspruch nach § 37c SGB V ist somit umfangreicher als der nach § 43 SGB XI, da die Leistungen der gesetzlichen Kran‐ kenversicherung nicht vom Teilleistungsprinzip geprägt sind. Zudem sollen keine Negativanreize für eine Entscheidung gegen eine Intensivpflege in einem Pflegeheim gesetzt werden. Die dortige Intensivpflege ist kostengünstiger als die 24-stündige Versorgung eines einzelnen Versicherten im häuslichen Umfeld.; vgl. auch RegE eines Gesetzes zur Stärkung von intensivpflegerischer Ver‐ sorgung und medizinischer Rehabilitation in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-IPReG), BTag-Drucks. 19/ 19368, S.-30. Abs. 1 SGB XI). Die Beförderung muss von der Einrichtung organisiert und erbracht werden. Ihre Vergütung erfolgt entsprechend der Pflegesatzvereinbarung. Die vollstationäre Pflege wird in die bis zu acht Wochen dauernde Kurzzeitpflege (§ 42 SGB XI oder § 39c SGB V) und in die Dauerpflege (§ 43 SGB XI) unterschieden. Die vollstationäre Dauerpflege ist gegenüber den anderen Leistungen der Pflegeversiche‐ rung nachrangig. Sie kommt erst zum Tragen, wenn die häusliche und teilstationäre Pflege ausscheiden. Die Kurzzeitpflegewird entweder im Anschluss an eine stationäre Krankenhausbehandlung erbracht, weil z. B. ein Dauerpflegeplatz noch nicht vorhan‐ den ist, oder in einer vorübergehenden Krisensituation, in der eine häusliche oder teilstationäre Pflege nicht ausreicht oder möglich ist. Ferner ist seit 1.1.2016 eine Kurzzeitpflege als Leistung der gesetzlichen Krankenver‐ sicherung vorgesehen, die nicht an eine vorliegende Pflegebedürftigkeit, sondern an eine schwere Krankheit oder eine akute Verschlimmerung einer Krankheit anknüpft, bei der die häusliche Krankenpflege für die Versorgung des Betroffenen nicht mehr genügt. Diese Kurzzeitpflege nach § 39c SGB V entspricht im Wesentlichen der nach § 42 SGB XI. Gem. § 37c SGB V haben Versicherte mit einem besonders hohen Bedarf an medizin‐ ischer Behandlungspflege einen Anspruch auf eine außerklinische Intensivpflege, die zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung erforderlich ist. Ein besonders hoher Bedarf an medizinischer Behandlungspflege liegt vor, wenn die ständige Anwesenheit einer geeigneten Pflegefachkraft zur individuellen Kontrolle und Einsatzbereitschaft oder ein vergleichbar intensiver Einsatz einer Pflegefachkraft erforderlich ist. Die außerklinische Intensivpflege kommt beispielsweise bei Beatmungspatienten zur An‐ wendung und wird nicht nur von Pflegediensten, sondern auch von vollstationären Pflegeeinrichtungen erbracht. Sie wird als Leistung der gesetzlichen Krankenversiche‐ rung von der Krankenkasse des Versicherten finanziert. 289 Die teil- und vollstationären Pflegeeinrichtungen erbringen (im Einzelfall abhängig vom Hilfebedarf des Pflegebedürftigen) insbesondere folgende Leistungen: 2.5 (Pflege-)Heime 181 <?page no="182"?> Leistungen der teil- und vollstationären Pflegeeinrichtungen Betreuungs- und Pflegeleistungen zusätzliche Betreuung und Aktivierung, § 43b SGB XI Sterbebegleitung, § 28 Abs. 4 SGB XI Unterkunft und Verpflegung im Bereich der Mobilität im Bereich der Selbstversorgung im Bereich der kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten im Bereich der Verhaltensweisen und psychischen Problemlagen im Bereich der Alltagsgestaltung  Positionswechsel im Bett  Halten einer stabilen Sitzposition  Umsetzen  Fortbewegen innerhalb des Wohnbereichs  Treppensteigen  Waschen, Duschen, Baden  Körperpflege  An- und Auskleider  Zubereitung der Nahrung  Essen und Trinken  Blasen- und Darmentleerung  Personelle, örtliche und zeitliche Orientierung  Erinnerungshilfe  Gestaltung des Alltags (Alltagshandeln, Treffen von Entscheidungen, Informationsverständnis, Erlernen von Risiken und Gefahren etc.)  Hilfe bei motorisch geprägte Verhaltensauffälligkeiten  Hilfe bei auto- und fremdaggressiven Verhalten  Hilfe bei Ängsten und Antriebslosigkeit u.a. psychischen Störungen  Gestaltung eines Tagesablaufs  Interaktion zu anderen Personen  Zukunftsorientierte Planung im Bereich der krankheits- und therapiebedingten Anforderungen  Verabreichen von Medikamenten Verbandswechsel, Injektionen und andere Leistungen zur Unterstützung der ärztlichen Behandlung  Hilfe beim An- und Ablegen von Körperersatzstücken  Organisation, Planung und Begleitung von Arztbesuchen Abb. 30: xx Abbildung 29: Leistungen der teil- und vollstationären Pflegeeinrichtungen 182 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="183"?> 290 Übersicht über die Landesrahmenverträge auf der Internetseite des BIVA-Pflegeschutzbundes: https: / / www.biva.de/ service/ gesetze/ landesrahmenvertraege-nach-%C2%A775-sgb-xi/ (Abruf am 26.3.2022). Neben den im Einzelfall notwendigen Leistungen können die Pflegeheime Zusatzleis‐ tungen gem. § 88 SGB XI erbringen, für die der Pflegebedürftige finanziell selbst aufkommen muss (siehe auch Abschnitt 2.5.5). Zusatzleistungen können zum einen Komfortleistungen bei Unterkunft und Verpflegung sein, beispielsweise ein Einzel‐ zimmer, wenn ansonsten Doppel- oder Mehrbettzimmer den Standard des Heims bilden. Zum anderen können zusätzliche pflegerisch-betreuende Leistungen, z. B. eine zusätzliche Maniküre, angeboten werden. Die voll- und teilstationären Pflegeleistungen werden auf Landesebene durch einen Rahmenvertrag im Detail ausgestaltet. Gem. § 75 SGB XI schließen die Landesverbände der Pflegekassen (gemeinsam) mit den Vereinigungen der Einrichtungsträger im Land (gemeinsam) unter Beteiligung des Verbandes der privaten Krankenversicherung und des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung einen Rahmenvertrag. 290 Dieser Vertrag bestimmt beispielsweise den Inhalt der allgemeinen Pflegeleistungen, der Unterkunft und Verpflegung sowie der Zusatzleistungen, die Personalrichtwerte (Verhältnis zwischen Pflegepersonal und Bewohnerzahl), die Anforderungen an die Pflegedokumentation und Abrechnungs- und Zahlungsmodalitäten. Der Rahmenver‐ trag ist die für die Pflegeheime und die Pflegekassen im Inland verbindlich (§ 75 Abs. 1 S.-4 SGB XI). - 2.5.2.3 Zulassung zur Versorgung gesetzlich Versicherter Um die vorgenannten Leistungen zulasten der Kranken- und Pflegekassen erbringen zu können, muss der Träger eines Heimes als Leistungserbringer zugelassen sein. Diese Zulassung erlangt er in der sozialen Pflegeversicherung durch einen Versorgungsver‐ trag nach §§ 72, 73 SGB XI. Für die gesetzliche Krankenversicherung benötigt er einen Versorgungsver‐ trag als Kurzzeitpflegeeinrichtung gem. § 132h SGB V (dazu am Ende des Abschnitts). ❋ Wissen │ Versorgungsvertrag Für den Versorgungsvertrag nach den §§ 72, 73 SGB XI gelten folgende Parameter: Vertragspartner: Heimträger oder eine Vereinigung, der er angehört, auf der einen Seite und die Landesverbände der Pflegekassen auf der anderen Seite (§ 72 Abs. 2 S.-1 SGB XI) Form: Schriftform (§ 73 Abs. 1 SGB XI) 2.5 (Pflege-)Heime 183 <?page no="184"?> 291 LSG Bayern, Urt. v. 11.11.2015, L 2 P 14/ 13, BeckRS 2016, 65227 sieht die positive Prognose, dass der Einrichtungsträger seine Verpflichtungen gegenüber den Pflegebedürftigen und den Kostenträgern erfüllen wird, als weitere ungeschriebene Voraussetzung für den Abschluss eines Vertrages an. Dem ist jedoch entgegenzutreten, da die Zuverlässigkeit des Trägers eine heimrechtliche Anforderung ist und somit der Prüfung der Heimaufsichtsbehörde unterliegt. Eine Unzuverlässigkeit des Trägers führt zur Untersagung des Heimbetriebs, ggf. auch bereits vor der Eröffnung des Heims. Siehe zur Zuverlässigkeit Abschnitt 2.5.1.3. 292 Vgl. Neumann, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd.-4, § 21 Rn. 15 f. 293 Vgl. BSG, Urt. v. 28.6.2001, B 3 P 9/ 00 R, BSGE 88, 215 ff. [221]. 294 Vgl. Vierte Verordnung über zwingende Arbeitsbedingungen für die Pflegebranche (4. PflegeArbbV) v. 22.4.2020, BAnz AT v. 28.4.2020, V2. Voraussetzungen für den Vertragsschluss: 291 Gem. § 72 Abs. 3 SGB XI darf der Versorgungsvertrag nur abgeschlossen werden, wenn die Pflegeeinrichtung den im Abschnitt 2.5.2.1 erläuterten Begriff erfüllt, sie also eine Pflegeeinrichtung im Sinne des Gesetzes ist. Ferner muss die Einrichtung leistungsfähig und wirtschaftlich sein. Damit wird verlangt, dass eine humane und aktivierende Pflege unter Achtung der Men‐ schenwürde erbracht wird, das Leistungsangebot der Einrichtung dem allgemein anerkannten Stand der medizinisch-pflegerischen Erkenntnisse entspricht und für dieses Angebot ausreichende personelle und sachliche Mittel vorgehalten werden. Zudem muss die Einrichtung so aufgestellt sein, dass sie mit der voraus‐ sichtlichen Vergütung ihre Aufwendungen finanzieren und die Leistungen für die Pflegebedürftigen erbringen kann. Eine Gewinnerzielung ist nicht ausgeschlossen. Andererseits dürfen keine Anhaltspunkte gegeben sein, dass den Pflegebedürftigen aus wirtschaftlichen Gründen notwendige Leistungen vorenthalten werden. 292 Im Unterschied zum Krankenhaussektor findet vor der Zulassung eines Pflege‐ heims keine Bedarfsprüfung statt. Der Wortlaut des § 72 Abs. 3 S. 2 SGB XI lässt zwar etwas anderes vermuten, weil dort von einer notwendigen Auswahl gesprochen wird. Eine bedarfsabhängige Zugangsbeschränkung ist jedoch für eine wirtschaftliche Leistungserbringung nicht erforderlich, so dass sie unter Berück‐ sichtigung der grundgesetzlich geschützten Berufsfreiheit der Einrichtungsträger nicht zulässig ist. Angesichts des Teilleistungsprinzips der Pflegeversicherung besteht bei der Versorgung der Bevölkerung mit pflegerischen Leistungen (anders als bei den Krankenhausleistungen) keine Gefahr einer unnötigen Leistungsaus‐ weitung. Zur Sicherung einer wirtschaftlichen Leistungserbringung genügen die marktwirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten. 293 Der Versorgungsvertrag setzt zudem voraus, dass den Beschäftigten in der Pflege die Mindestentgeltsätze 294 und den anderen Beschäftigten (z.-B. in der Küche oder Wäscherei) die ortsübliche Arbeitsvergütung gezahlt wird. Zudem dürfen ab dem 1.9.2022 Versorgungsverträge nur noch mit Pflegeeinrichtungen abgeschlossen werden, die ihre Beschäftigen in den Bereichen der Pflege und Betreuung von 184 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="185"?> 295 Vgl. Neumann, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd.-4, § 21 Rn. 28. Pflegebedürftigen nach Tarifvertrag oder in Anlehnung an einen Tarifvertrag entlohnen (§-73 Abs. 3a, 3b SGB XI). Die Pflegeeinrichtung muss sich verpflichten, ein einrichtungsinternes Qualitäts‐ management gem. § 113 SGB XI einzuführen und weiterzuentwickeln sowie alle Expertenstandards gem. § 113a SGB XI anzuwenden; Näheres dazu in Abschnitt 2.5.2.5. Ferner muss sich die Einrichtung verpflichten, die ordnungsgemäße Durch‐ führung von Qualitätsprüfungen zu ermöglichen. Wenn die Pflegeeinrichtung alle Voraussetzungen erfüllt, hat sie einen Rechtsan‐ spruch auf Abschluss eines Versorgungsvertrages. Mindestinhalt des Vertrages: Der Vertrag muss mindestens den Versorgungsauf‐ trag regeln. Darunter werden Art, Inhalt und Umfang der allgemeinen Pflegeleis‐ tungen verstanden, die die Einrichtungen während der Vertragsdauer zu erbringen hat (§ 72 Abs. 1 S. 2 SGB XI). In diesem Sinne werden die Zahl der Pflegeplätze, die Einrichtungsart - teil- oder vollstationär und/ oder Kurzzeit- oder Dauerpflege - sowie die Pflegegrade der aufzunehmenden Bewohner festgelegt. 295 Die Vergütung des Pflegeheims wird dagegen im Versorgungsvertrag nicht gere‐ gelt. Sie ist Gegenstand der Pflegesatzvereinbarung. Zusätzliche Wirksamkeitsvoraussetzung: Der Vertrag ist nur wirksam, wenn der zuständige Sozialhilfeträger sein Einvernehmen erteilt hat (§ 72 Abs. 2 S. 1 SGB XI). Wirkungen des Vertrages: Der Versorgungsvertrag ist für die Pflegeeinrichtung und alle Pflegekassen in der Bunderepublik, nicht nur für die Kassen der vertrags‐ schließenden Landesverbände, verbindlich (§ 72 Abs. 2 S. 2 SGB XI). Mit Abschluss des Vertrages ist die Pflegeeinrichtung berechtigt, die gesetzlich Versicherten pflegerisch zu versorgen. Im Rahmen des Versorgungsauftrages ist sie auch zur Versorgung verpflichtet. Ferner hat die Pflegeeinrichtung einen Anspruch auf Vergütung (§-72 Abs. 4 SGB XI). Die Zulassung einer Pflegeeinrichtung zur Versorgung der gesetzlich Versicherten endet durch Kündigung des Versorgungsvertrages gem. § 74 SGB XI. Ein Kündigungs‐ grund ist insbesondere gegeben, wenn die Einrichtung nicht nur vorübergehend eine der oben genannten Voraussetzungen für den Abschluss des Vertrages nicht mehr erfüllt. Des Weiteren benötigt der Heimträger einen Versorgungsvertrag nach §-132h SGB V, wenn er zulasten der Krankenkassen die Kurzzeitpflege nach § 39c SGB V erbringen möchte. § 132h SGB V macht nur wenige Vorgaben für den Abschluss des Vertrages. Als Vertragspartner des Einrichtungsträgers benennt er die Krankenkassen oder deren Landesverbände. Ferner setzt der Abschluss des Vertrages voraus, dass die Einrichtung geeignet ist. Diese Eignung ist bei Einrichtungen, die einen Versorgungsvertrag mit 2.5 (Pflege-)Heime 185 <?page no="186"?> 296 Vgl. Landesvereinbarung im Freistaats Sachsen zur Kurzzeitpflege nach § 132h i. V. m. § 39c SGB V für vollstationäre Pflegeinrichtungen mit Zulassung nach § 72 SGB XI, https: / / www.aok.de/ gp/ filead min/ user_upload/ Pflege/ Stationaere_Pflege/ Kurzzeitpflege/ sac_stat_landesvereinbarung_zur_kurz zeitpflege.pdf (Abruf am 25.3.2022). den Landesverbänden der Pflegekassen abgeschlossen haben, zu bejahen. Hingegen ist offen, nach welchen Kriterien sich die Eignung der Einrichtungen beurteilt, die ausschließlich die Kurzzeitpflege nach § 39c SGB V erbringen. Allerdings ist das Klärungsbedürfnis der Frage gering, weil es derartige Einrichtungen kaum geben wird. ➤ Beispiel Die Landesverbände der Krankenkassen und die Ersatzkassen haben mit den Vereinigungen der Träger eine Landesvereinbarung für den Freistaat Sachsen über die Kurzzeitpflege (Leistungsgrundlagen, Vergütung und deren Abrechnung) geschlossen, der alle vollstationären Einrichtungen mit einer Zulassung nach § 72 SGB XI beitreten können. 296 Der Abschluss des Versorgungsvertrages nach § 132h SGB V (oder der Beitritt zum Vertrag wie im vorgenannten Beispiel) bewirkt, dass der Heimträger die gesetzlich Versicherten mit der Kurzzeitpflege wegen schwerer oder akut verschlimmerter Krankheit versorgen darf; zum Vergütungsanspruch siehe Abschnitt 2.5.2.4. Wenn die außerklinische Intensivpflege erbracht werden soll, benötigt der Heim‐ träger zudem einen Versorgungsvertrag nach § 132l SGB V mit den Landesverbänden der Krankenkassen und den Ersatzkassen gemeinsam. In diesem Vertrag sind neben der Leistungsberechtigung und -erbringung die Vergütung und deren Abrechnung zu regeln. - 2.5.2.4 Heimentgelte und Pflegesatzvereinbarung Neben den steuerfinanzierten Fördergeldern für Investitionsaufwendungen (siehe Abschnitt 2.5.3) vereinnahmt eine teil- oder vollstationäre Pflegeeinrichtung ein Gesamtheimentgelt, ggf. ein Entgelt für Zusatzleistungen sowie sonstige Einnahmen. Das Gesamtheimentgelt setzt sich wie folgt zusammen: 186 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="187"?> Gesamtheimentgelt (§ 87a Abs.1 S.1 SGB XI) Pflegesatz (= Pflegeentgelt) § 82 Abs.1 S.1,3 § 84 Abs.1 S.1 Entgelt für Unterkunft und Verpflegung § 87 SGB XI Entgelt für berechenbare Investitionsaufwendungen § 82 Abs.3, 4 SGB XI Entgelt für allgemeine Pflegeleistungen, inkl. Betreuung, sowie medizinische Behandlungspflege, soweit diese nicht Krankenpflege nach § 37 SGB V* oder außerklinische Intensivpflege nach § 37c SGB V ist Zuschlag für zusätzliche Betreuung § 84 Abs. 8 SGB XI Entgelt für Ausbildungsvergütung, § 82a SGB XI *Anspruch auf medizinische Behandlungspflege wegen besonders hohen Bedarfs zulasten der Krankenkasse entfällt ab 31.10.2023 gem. Art. 2, 5 GKV-IPRegG, BGBl. I 2020, S. 2220 Abbildung 30: Gesamtheimentgelt (§ 87a Abs. 1 S.-1 SGB XI) Die Pflegesätze werden vom Träger des Heims und folgenden Kostenträgern ● Pflegekassen oder ihre gebildeten Arbeitsgemeinschaften, ● sonstige Sozialversicherungsträger (z. B. Berufsgenossenschaft) oder ihren gebil‐ deten Arbeitsgemeinschaften und ● die Sozialhilfeträger, die für die Bewohner des Heims zuständig sind, oder deren Arbeitsgemeinschaften vereinbart. Die Kostenträger sind jedoch nur dann Vertragspartei, wenn auf sie im Jahr vor der Pflegesatzverhandlung 5 % der Berechnungstage entfallen (§ 85 Abs. 1, 2 SGB XI). Damit soll eine zu große Anzahl der Verhandlungspartner vermieden werden. Der Vertragsschluss setzt aufseiten der Kostenträger keine Einigkeit, sondern eine mehrheitliche Entscheidung voraus (§ 85 Abs. 4 S.-1 SGB XI). Die Vereinigungen der Pflegeheime im Land, die Landesverbände der Pflegekassen und der Verband der privaten Krankenversicherung können sich an den Verhandlun‐ gen beteiligen, ohne dass sie Vertragspartner werden (§ 85 Abs. 2 S.-3 SGB XI). Die Pflegesätze werden für jedes Pflegeheim gesondert sowie schriftlich vereinbart (§ 85 Abs. 2 S. 2, Abs. 4 S. 2 SGB XI). Die Vertragspartner haben für die Festlegung der Höhe der Pflegesätze folgende Bemessungsgrundsätze zu berücksichtigen: 2.5 (Pflege-)Heime 187 <?page no="188"?> 297 Grundlegend zum externen Vergleich: BSG, Urt. v. 29.01.2009, B 3 P 7/ 08 R, NZS 2010, 35 ff.; BSG, Urt. v. 16.5.2013, B 3 P 2/ 12 R, BeckRS 2013, 71713. ● Die Pflegesätze, auch Pflegevergütung genannt, sind gem. § 84 Abs. 1 SGB XI ein Entgelt für die teil- und vollstationären Pflegeleistungen, für die Betreuung sowie für die medizinische Behandlungspflege, soweit diese nicht von Krankenpflege nach § 37 SGB V erfasst wird. Mit ihnen werden weder die Investitionsaufwen‐ dungen der Einrichtung noch die Unterkunft und Verpflegung vergütet. ● Die Pflegesätze müssen leistungsgerecht sein (§ 84 Abs. 2 S. 1 SGB XI). In diesem Sinne werden die Leistungs- und Qualitätsmerkmale der Einrichtung, also die zu erbringenden Pflege- und Betreuungsleistungen, der zu versorgende Personenkreis sowie das vorzuhaltende Personal, vereinbart (§ 84 Abs. 5 SGB XI). Da der Versorgungsaufwand für jeden Pflegebedürftigen von seinem Pflegegrad abhängig ist, werden die Pflegesätze den fünf Graden entsprechend festgelegt. ● Die Pflegesätze müssen lt. § 84 Abs. 2 SGB XI so bemessen sein, dass die Ein‐ richtung bei wirtschaftlicher Betriebsführung ihren Versorgungsauftrag erfüllen, ihre Aufwendungen für Personalkosten, inkl. Ausbildungsvergütung gem. § 82a SGB XI, für Sachkosten, wie z. B. Energie, medizinische Geräte, Lebensmittel, finanzieren sowie einen Gewinn erzielen kann. Es besteht jedoch kein Selbstkos‐ tendeckungsprinzip. Das Heim hat keinen Anspruch darauf, dass alle Betriebskos‐ ten refinanziert werden. Eine unwirtschaftliche Betriebsführung kann zu nicht gedeckten Kosten und somit letztlich zu einem unternehmerischen Verlust führen. Die Wirtschaftlichkeit der Betriebsführung wird im Vergleich mit den anderen zugelassenen gleichartigen Pflegeeinrichtungen ermittelt. Dieser sog. externe Vergleich 297 bedeutet, dass die von der Einrichtung verlangten Pflegesätze den vereinbarten Pflegevergütungen gleichartiger Einrichtungen gegenüber gestellt werden, die vor Ort - in der Regel auf den Landkreis oder die kreisfreie Stadt bezogen - zugelassen sind. Die verlangten Pflegesätze sind ohne weitere Prüfung wirtschaftlich, wenn sie im unteren Drittel der Pflegesätze aller vergleichbaren Einrichtungen liegen. Oberhalb des unteren Drittels sind sie wirtschaftlich, wenn es dafür berechtigte Gründe gibt. Gründe für ein höheres Entgelt sind insbesondere ein besonderer Versorgungsauftrag (z. B. Pflege von Wachkomapatienten) oder Lage, Größe und Zuschnitt der Einrichtung. ● Da die Pflegeversicherung nicht die gesamten Kosten der teil- und vollstationären Pflege übernimmt, müssen sich die Pflegebedürftigen an den Pflegesätzen beteili‐ gen. Der Eigenanteil ergibt sich aus der Differenz zwischen dem für den jeweiligen Pflegegrad vereinbarten Pflegesatz und den Leistungen, die die Pflegekasse gem. §§ 41-43 SGB XI erbringt. Für die vollstationäre Dauerpflege besteht seit dem 1.1.2017 die Besonderheit, das für alle Bewohner des Heims einrichtungseinheitli‐ che Eigenanteile zu regeln sind (§ 84 Abs. 2 S. 3 SGB XI). Zuvor waren die Eigen‐ anteile abhängig von der Pflegestufe unterschiedlich hoch. Da der Eigenanteil mit zunehmender Pflegebedürftigkeit stieg, erwies er sich als Hemmnis für einen 188 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="189"?> Antrag des Pflegebedürftigen auf Zuerkennung einer höheren Pflegestufe. Seit der Neuregelung wird nunmehr bezogen auf das Pflegeheim für die Pflegegrade 2 bis 5 ein einheitlicher Eigenanteil vereinbart, der letztlich eine Quersubvention der Bewohner mit einem niedrigeren Pflegegrad zu denen mit höheren Pflegegrade bedeutet. Für die Bewohner mit dem Pflegegrad 1 ist eine solche Vereinbarung nicht vorgesehen und nicht notwendig, weil diese Bewohner gem. § 28a Abs. 3 SGB XI ohnehin nur einen Anspruch auf einen monatlichen Zuschuss von 125,- Euro haben und den darüber hinaus gehenden Betrag allein zahlen müssen. Zur Begrenzung der finanziellen Belastung der Pflegebedürftigen der Pflegegrade 2 bis 5 in vollstationären Einrichtungen durch den aufzubringenden Eigenanteil gibt es seit 1.1.2022 einen Leistungszuschlag gem. § 43c SGB XI; siehe dazu die untenstehenden Erläuterung. ● Ferner dürfen die Pflegesätze nicht nach den Kostenträgern differenziert werden (§ 84 Abs. 3 SGB XI). Das bedeutet, dass die verhandelten Pflegesätze auch für die Pflegebedürftigen gelten, die privat versichert sind und das Entgelt selbst zahlen. ● Gem. §§ 70, 84 Abs. 2 S. 7 SGB XI müssen die Pflegekassen bei der Bemessung der Pflegesätze beachten, dass ihre Leistungsausgaben die Beitragseinnahmen nicht übersteigen (sog. Grundsatz der Beitragsstabilität). Dieser Grundsatz gilt für alle Vergütungsvereinbarungen, die die Pflegekassen abschließen. Wenn eine bestehende Pflegesatzvereinbarung neu verhandelt wird, orientieren sich die Pflegekassen zur Einhaltung des Grundsatzes der Beitragsstabilität an der sog. Grundlohnrate. Diese bildet die Veränderungsrate der beitragspflichtigen Einnah‐ men aller Mitglieder der Krankenkasse ab und wird jährlich aktualisiert (vgl. § 71 Abs. 3 SGB V). ● Wenn die Pflegeeinrichtung zusätzliche Leistungen zur Betreuung und Aktivie‐ rung der Pflegebedürftigen gem. § 43b SGB XI erbringt, werden Vergütungszu‐ schläge vereinbart, die von der Pflegekasse ohne Beteiligung des Pflegebedürftigen zu zahlen sind (§ 84 Abs. 8, § 85 Abs. 8 SGB XI). Gleiches gilt für den Krankenver‐ sicherer, wenn der Pflegebedürftige privat versichert ist. Darüber hinaus vereinbaren die o. g. Pflegesatzparteien gem. § 87 SGB XI die (ge‐ trennten) Entgelte für Unterkunft und Verpflegung, die der Pflegebedürftige oder bei fehlender Leistungsfähigkeit der für ihn zuständige Sozialhilfeträger bezahlen muss. Für diese Entgelte kommen die Pflegekassen nicht auf, es sei denn, es liegt der (seltene) Ausnahmefall des § 43 Abs. 2 S. 3 SGB XI vor. Nach dieser Vorschrift übernimmt die Pflegekasse auch die Aufwendungen für Unterkunft und Verpflegung, soweit die von der Pflegekasse zu zahlende Vergütung für Pflege, Betreuung und medizinische Behandlungspflege geringer als der jeweilige Leistungsbetrag ist, den der Versicherte nach § 43 SGB XI beanspruchen kann. Angesichts der Identität der Vertragsparteien werden die Entgelte für Unterkunft und Verpflegung üblicherweise zusammen mit den Pflegesätzen verhandelt. Allerdings finden nicht alle der zuvor beschriebenen Bemessungsgrundsätze, die für die Pflege‐ sätze relevant sind, auf diese Entgelte Anwendung. Das ergibt sich insbesondere 2.5 (Pflege-)Heime 189 <?page no="190"?> 298 BSG, Urt. v. 26.9.2019, B 3 P 1/ 18 R, BeckRS 2019, 36393, Rn. 45. 299 Ebd. 300 Grundlegend zur Vorlagepflicht eines Pflegeheims: BSG, Urt. v. 29.01.2009, B 3 P 7/ 08 R, NZS 2010, 35 ff. daraus, dass § 87 SGB XI, der die Entgelte für Unterkunft und Verpflegung regelt, nicht auf § 84 Abs. 2 SGB XI verweist. Angesichts des fehlenden Verweises kommt der Grundsatz der Beitragsstabilität nicht zum Tragen. Dieser Grundsatz bezweckt, dass die Leistungsausgaben nicht die Beitragseinnahmen der Pflegekassen übersteigen. Für die Anwendung dieses Grundsatzes besteht jedoch kein Bedürfnis, weil für die Kosten der Unterkunft und Verpflegung die Pflegebedürftigen selbst aufkommen müssen; die Pflegekassen beteiligen sich hieran nicht. 298 Des Weiteren finden wegen des fehlenden Verweises auf § 84 Abs. 2 SGB XI die Bemessungsgrundsätze, nach denen Überschüsse und Verluste beim Pflegeheim verbleiben sowie ein externer Vergleich mit anderen Pflegeinrichtungen durchzuführen ist, keine Anwendung. Da der Vergleich mit anderen Einrichtungen auch der Ermittlung durchschnittlicher Marktpreise dient, hat das letztlich zur Konsequenz, dass sich die Höhe der Entgelte für Unterkunft und Verpflegung weniger an den Marktpreisen, sondern im Wesentlichen an den dies‐ bezüglichen, zu refinanzierenden prognostischen Gestehungskosten der Einrichtung orientieren. 299 Insgesamt gilt, dass die Entgelte für Unterkunft und Verpflegung in einem angemessenen Verhältnis zu den Leistungen stehen müssen (§ 82 Abs. 1 S. 1, §-87 S.-2 SGB XI). Die Pflegesätze sowie die Entgelte für Unterkunft und Verpflegung werden im Voraus, also vor der jeweiligen Wirtschaftsperiode vereinbart (§ 85 Abs. 3 S. 1 SGB XI). Für die Verhandlungen muss die Pflegeeinrichtung zum einen die Pflegedokumentation und die Stellungnahme der Interessenvertretung der Bewohner zu den verlangten Pflegesätzen vorlegen. Zum anderen muss sie ihre Kalkulation und ggf. notwendige Er‐ läuterungen der Personalkosten den Kostenträgern zukommen lassen, und zwar nicht nur für die Beschäftigten in der Pflege, sondern auch für das Leitungs-, Verwaltungs- und technische Personal. Die Kalkulation der Sachkosten, wie z. B. Wasser, Energie und Lebensmittel, ist ebenfalls mit geeigneten Unterlagen darzulegen. Die voraussichtlich entstehenden Kosten müssen für die Vertragspartner plausibel und nachvollziehbar sein. 300 Wenn das nicht der Fall ist, können die Kostenträger für die Prüfung der Wirtschaftlichkeit und Leistungsfähigkeit weitere Unterlagen und Auskünfte, z. B. zur tatsächlichen Stellenbesetzung und tariflichen Eingruppierung des Personals (§ 85 Abs.-3 S.-3, 4 SGB XI) verlangen. Wenn sich die Pflegesatzparteien innerhalb von sechs Wochen nicht einigen können, hat jede Partei die Möglichkeit, die im Bundesland errichtete Schiedsstelle anzurufen (§-85 Abs.-5, §-76 SGB XI). Auf den Pflegesatz zahlt die Pflegekasse die Leistung, die ihrem Versicherten gem. §§ 41 bis 43 SGB XI zusteht, unmittelbar an die Einrichtung (§ 87a Abs. 3 SGB XI). Den Differenzbetrag zum vereinbarten Pflegesatz plus Entgelt für Unterkunft und Verpflegung zahlt der Pflegebedürftige oder bei dessen fehlender Leistungsfähigkeit 190 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="191"?> 301 Art. 2 Nr. 8 Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz (GVWG) v. 11.7.2021, BGBl. I S. 2754. 302 Vgl. § 3 Landesvereinbarung im Freistaats Sachsen zur Kurzzeitpflege nach § 132h i. V. m. § 39c SGB V für vollstationäre Pflegeinrichtungen mit Zulassung nach § 72 SGB XI, https: / / www.aok.de/ gp/ filead min/ user_upload/ Pflege/ Stationaere_Pflege/ Kurzzeitpflege/ sac_stat_landesvereinbarung_zur_kurz zeitpflege.pdf (Abruf am 25.3.2022). der zuständige Sozialhilfeträger (siehe auch Abschnitte 2.5.4. und 2.5.5). Der vom Pflegebedürftigen zu entrichtende Differenzbetrag ist Ausdruck des die Pflegeversi‐ cherung prägenden Teilleistungsprinzips. Dieses führt bei höheren Pflegesätzen wegen steigender (Personal-)Kosten der Pflegeeinrichtungen zwangsläufig zu einem höheren Eigenanteil der Pflegebedürftigen. Damit geht eine steigende finanzielle Belastung der Pflegebedürften einher. Um dieser Belastung entgegenzuwirken, sah sich der Gesetzgeber veranlasst, ab 1.1.2022 einen Leistungszuschlag für die Pflegebedürftigen der Pflegegrade 2 bis 5 in vollstationären Einrichtungen einzuführen. 301 Der Zuschlag orientiert sich an der Dauer des Aufenhalts des Pflegebedürftigen im Pflegeheim. Der Leistungszuschlag beträgt gem. § 43c SGB XI: ● in den ersten zwölf Monaten 5-%, ● nach zwölf Monaten 25-%, ● nach 24 Monaten 25-%, ● nach 36 Monaten 70-% des jeweils zu zahlenden Eigenanteils. Das Pflegeheim erhält den Leistungszuschlag unmittelbar von der Pflegekasse des Bewohners. Den nach Abzug des Leistungszu‐ schlags verbleibenden Eigenanteil muss der Bewohner aufbringen. Neben dem Gesamtheimentgelt vereinnahmt die Pflegeeinrichtung wie bereits eingangs erwähnt gem. § 88 SGB XI ein Entgelt für Zusatzleistungen, wenn sie solche anbietet (siehe Abschnitt 2.5.2.2). Das Entgelt für diese Zusatzleistungen zahlt nicht die Pflegekasse, sondern der Pflegebedürftige selbst (siehe auch Abschnitt 2.5.5). Zu den sonstigen Einnahmen zählen beispielsweise die Anerkennungsprämie gem. § 87a Abs. 4 SGB XI für eine vollstationäre Einrichtung, wenn ein Bewohner in einen geringeren Pflegegrad zurückgestuft wird, oder Betriebskostenzuschüsse gem. § 82 Abs. 5 SGB XI. Die Vergütung für die Kurzzeitpflege nach § 39c SGB V muss der Einrichtungsträger mit den Krankenkassen oder deren Landesverbänden vereinbaren. Die im Abschnitt 2.5.2.3 erwähnte Landesvereinbarung für den Freistaat Sachsen sieht beispielsweise eine Vergütung vor, die der jeweils nach § 85 SGB XI vereinbarten Vergütung des Pflegegrades 3 entspricht. 302 Die Vergütung für die außerklinische Intensivpflegeunterliegt gem. § 132l SGB V ebenfalls der Verhandlung mit den Landesverbänden der Krankenkassen und den Ersatzkassen. 2.5 (Pflege-)Heime 191 <?page no="192"?> 303 Siehe https: / / www.dnqp.de/ de/ expertenstandards-und-auditinstrumente/ (Abruf am 26.3.2022). 304 Siehe Theuerkauf, MedR 2011, 72 ff. [72]. 305 Gesetz zur strukturellen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung v. 28.5.2008, BGBl. I S.-874. 306 Vgl. Vereinbarung nach § 113a Abs. 2 Satz 2 SGB XI über die Verfahrensordnung zur Entwicklung von Expertenstandards zur Sicherung und Weiterentwicklung in der Pflege vom 30.3.2009, https: / / w ww.gkv-spitzenverband.de/ pflegeversicherung/ qualitaet_in_der_pflege/ expertenstandards/ experte nstandards.jsp (Abruf am 26.3.2022). 307 Expertenstandard nach § 113a SGB XI Erhaltung und Förderung der Mobilität in der Pflege, https: / / www.gkv-spitzenverband.de/ pflegeversicherung/ qualitaet_in_der_pflege/ expertenstandard s/ expertenstandards.jsp (Abruf am 26.3.2022). 2.5.2.5 Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung Der Träger der Pflegeeinrichtung ist für die Pflegequalität verantwortlich. Er muss für eine ausreichende Ergebnisqualität (Wirksamkeit der Pflege- und Betreuungsmaß‐ nahmen), Prozessqualität (Organisation, Durchführung und Evaluation der Pflege- und Betreuungsmaßnahmen) sowie Strukturqualität (personelle und sachliche Aus‐ stattung, bauliche Gegebenheiten sowie Aufbauorganisation der Einrichtung) sorgen. Die wesentlichen Leistungs- und Qualitätsmerkmale der Einrichtung werden in der Pflegesatzvereinbarung festgehalten. Die Pflegeleistungen sind unter Beachtung des medizinisch-pflegerischen Standards zu erbringen. Für die Dekubitus- und Sturzprophylaxe, das Schmerz-, Ernährungs- und Entlassungsmanagement, die Förderung der Harnkontinenz, Versorgung chroni‐ scher Wunden sowie für weitere Themenbereiche der pflegerischen Qualität hat das Deutsche Netzwerk für Qualitätssicherung in der Pflege (DNQP) Expertenstandards entwickelt. 303 Diese geben den allgemein anerkannten Stand der medizinisch-pflegeri‐ schen Erkenntnisse wieder und haben folgende charakteristischen Merkmale: 304 ● Sie zeigen den Beitrag der Pflege für die gesundheitliche Versorgung der Patienten und Bewohner auf. ● Sie stellen ein professionell abgestimmtes Leistungsniveau dar, das an den Bedarf und die Bedürfnisse der Patienten und Bewohner angepasst ist. ● Sie enthalten auch Kriterien zur Erfolgskontrolle der Pflege. ● Sie sind evidenzbasiert und mono- oder multidisziplinär. Seit dem Inkrafttreten des Pflege-Weiterentwicklungsgesetz 305 im Jahre 2008 ist vorge‐ sehen, dass der Spitzenverband Bund der Pflegekassen, die Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe, die Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände und die Vereinigungen der Träger der Pflegeeinrichtungen auf Bun‐ desebene die Expertenstandards vereinbaren (vgl. § 113a SGB XI). Dazu haben sie eine Verfahrensordnung für die Entwicklung der Expertenstandards verabschiedet. 306 Seit 2014 liegt der Entwurf eines Expertenstandards zur Erhaltung und Förderung der Mobilität vor. Der Entwurf ist vom DNQP vom Mai 2019 bis November 2020 aktualisiert und dem Qualitätsausschuss Pflege vorgelegt worden. Der Qualitätsausschuss Pflege empfahl den Pflegeeinrichtungen, den Expertenstandard freiwillig bis zur verbindli‐ chen Inkraftsetzung umzusetzen. 307 192 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="193"?> 308 Vgl. Maßstäbe und Grundsätze für die Qualität, die Qualitätssicherung und -darstellung sowie für die Entwicklung eines einrichtungsinternen Qualitätsmanagements nach § 113 SGB XI in der vollstationären Pflege vom 23.11.2018, https: / / www.gkv-spitzenverband.de/ pflegeversicherung/ rich tlinien_vereinbarungen_formulare/ richtlinien_vereinbarungen_formulare.jsp (Abruf am 26.3.2022). 309 Vgl. Maßstäbe und Grundsätze für die Qualität und die Qualitätssicherung sowie für die Entwicklung eines einrichtungsinternen Qualitätsmanagements nach § 113 SGB XI in der teilstationären Pflege (Tagespflege) vom 18.02.2020, https: / / www.gkv-spitzenverband.de/ pflegeversicherung/ richtlinien_ vereinbarungen_formulare/ richtlinien_vereinbarungen_formulare.jsp (Abruf am 26.3.2022). Wenn die Expertenstandards von den genannten Akteuren auf der Bundesebene verabschiedet werden, sind diese für die Pflegeinrichtung wie auch für die Pflegekas‐ sen und deren Landesverbände verbindlich (§ 113a Abs. 3 SGB XI). Zudem ist die Einhaltung der Standards eine Voraussetzung sowohl für den Abschluss als auch für die Aufrechterhaltung des Versorgungsvertrages (§ 72 Abs. 3, § 74 Abs. 1 S. 1 SGB XI). Im Übrigen kann die Missachtung der Expertenstandards zur Schadenersatzpflicht des Heimträgers gegenüber dem Bewohner führen. Die Haftungstatbestände der § 280 Abs.-1, §-823 Abs.-1 BGB (vgl. Abschnitt 2.2.7) gelten auch für Pflegeeinrichtungen. Um die Qualität der Leistungen zu sichern, muss der Einrichtungsträger jederzeit (auch z. B. bei krankheitsbedingten Engpässen) das vereinbarte und notwendige Personal sicherstellen (§ 84 Abs. 5, 6 SGB XI). Ferner muss er ein Qualitätsmanagement betreiben (§ 112 Abs. 2, § 113 SGB XI). Ein Qualitätsmanagement umfasst alle Maß‐ nahmen der Organisationsentwicklung, die darauf angelegt sind, die Leistungen der Pflegeeinrichtung nicht dem Zufall zu überlassen. Es handelt sich um ein systemati‐ sches Vorgehen, um Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität der Leistungen gezielt zu beeinflussen. Ebenso muss sich die Einrichtung an den Maßnahmen der internen und externen Qualitätssicherung beteiligen. Die Einzelheiten des Qualitätsmanagements und der Qualitätssicherung sind in den auf Bundesebene vereinbarten Maßstäben und Grundsätzen gem. § 113 SGB XI in der vollstationären Pflege 308 und in der teilstationären Pflege 309 geregelt. In diesen Maßstäben und Grundsätzen ist für die interne Qualitätssicherung ein indikatorenge‐ stütztes Verfahren zur vergleichenden Messung und Darstellung von Ergebnisqualität im vollstationären Bereich vorgesehen. Im Rahmen dieses Verfahrens erfasst das Pflegeheim die qualitätsbezogenen Daten seiner Pflege selbst und wird durch die Einbeziehung einer Datenauswertungsstelle in die Lage versetzt, seine Versorgungs‐ qualität im Vergleich zum Bundesdurchschnitt selbst beurteilen zu können. Die Pflegeeinrichtung muss Daten zu den zuvor pseudonymisierten Bewohnern zu bestimmten Qualitätsindikatoren im halbjährlichen Abstand elektronisch an die Datenauswertungsstelle unaufgefordert übermitteln. Zum Einsatz kommt ein standar‐ disierter Erhebungsbogen, auf dem die Pflegeeinrichtung bewohnerbezogen Angaben zum Erhalt und zur Förderung von Selbständigkeit, zum Schutz vor gesundheitlichen Schädigungen und Belastungen (z. B. Dekubitus) und zu spezifischen Bedarfslagen (z. B. Schmerzzuständen) machen muss. Auf der Grundlage dieser Indikatorendaten erstellt die Datenauswertungsstelle die Ergebnisse zu den zehn folgenden Ergebnisin‐ dikatoren: 2.5 (Pflege-)Heime 193 <?page no="194"?> 310 Prüfdienst des Verbandes der privaten Krankenversicherung ist die MEDICPROOF GmbH, siehe auch www.medicproof.de (Abruf 26.3.2022). ● Qualitätsbereich 1: Erhalt und Förderung von Selbständigkeit 1. Erhaltene Mobilität 2. Erhaltene Selbständigkeit bei alltäglichen Verrichtungen 3. Erhaltene Selbständigkeit bei der Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte ● Qualitätsbereich 2: Schutz vor gesundheitlichen Schädigungen und Belastungen 4. Dekubitusentstehung 5. Schwerwiegende Sturzfolgen 6. Unbeabsichtigter Gewichtsverlust ● Qualitätsbereich 3: Unterstützung bei spezifischen Bedarfslagen 7. Durchführung eines Integrationsgesprächs 8. Anwendung von Gurten 9. Anwendung von Bettseitenteilen 10. Aktualität der Schmerzeinschätzung. Die Ergebnisse werden für jeden Qualitätsindikator jeweils fünfstufig im Vergleich zum Bundesdurchschnitt dargestellt, und zwar von „Ergebnisqualität liegt weit über dem Durchschnitt“ bis „Ergebnisqualität liegt weit unter dem Durchschnitt“. Die Ergebnisse übermittelt die Datenauswertungsstelle der Pflegeinrichtung, damit diese ihre Qualität analysieren und ggf. Verbesserungsmaßnahmen ergreifen kann. Ferner übermittelt die Datenauswertungsstelle die Ergebnisse den Landesverbänden der Pflegekassen und den von ihnen beauftragten Prüfinstitutionen und Sachverstän‐ digen, und zwar zum Zweck der externen Qualitätsprüfung der Pflegeeinrichtungen sowie der Qualitätsdarstellung (§ 113 Abs. 1b SGB XI). Die Pflegeeinrichtung muss an den gesetzlich vorgesehenen externen Qualitäts‐ prüfungen mitwirken (§ 112 Abs. 2, §§ 114-114c SGB XI). Geprüft wird, ob die Pflegeeinrichtung die gesetzlichen und vertraglichen Qualitätsanforderungen erfüllt. Die Prüfungen werden vom Medizinischen Dienst sowie im Umfang von 10 % vom Prüfdienst des Verbandes der privaten Krankenversicherung 310 grundsätzlich mit einer eintägigen Vorankündigung durchgeführt (§ 114a Abs. 1 SGB XI). Sie erfolgen als Regel-, Anlass- oder Wiederholungsprüfung (§-114 Abs. 1 S.-3 SGB XI). 194 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="195"?> 311 Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes (als Spitzenverband Bund der Pflegekassen) über die Durch‐ führung der Prüfung der in Pflegeeinrichtungen erbrachten Leistungen und deren Qualität nach § 114 SGB XI für die vollstationäre Pflege v. 17.12.2018 (QPR vollstationär), https: / / www.gkv-spitzen verband.de/ pflegeversicherung/ richtlinien_vereinbarungen_formulare/ richtlinien_vereinbarungen _formulare.jsp (Abruf am 26.3.2022). Qualitätsprüfungen Regelprüfung § 114 Abs. 2, 3 SGB XI  in jährlichem Abstand  Prüfungsschwerpunkt Ergebnisqualität, aber auch Struktur- und Prozessqualität Anlassprüfung § 114 Abs. 4 S. 1-3 SGB XI  anlassbezogener Zeitpunkt  Prüfungsschwerpunkt Ergebnisqualität Wiederholungsprüfung § 114 Abs. 4 S. 2, 4 SGB XI  nach vorheriger Regel- oder Anlassprüfung  Prüfung, ob zuvor festgestellte Mängel beseitigt worden sind Abbildung 31: Qualitätsprüfungen Die Regelprüfung erfasst insbesondere wesentliche Aspekte des Pflegezustandes und die Wirksamkeit der Pflege- und Betreuungsmaßnahmen (Ergebnisqualität). Sie kann auch auf den Ablauf, die Durchführung und die Evaluation der Leistungserbringung (Prozessqualität) sowie die unmittelbaren Rahmenbedingungen der Leistungserbrin‐ gung (Strukturqualität) erstreckt werden (§ 114 Abs. 2 S. 5, 6 SGB XI). Die näheren Einzelheiten zur Durchführung der Qualitätsprüfungen sind in den Qualitätsprü‐ fungs-Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes 311 verankert. Die Prüfung untergliedert sich in sechs Qualtiätsbereiche: ● Qualitätsbereich 1: Unterstützung bei der Mobilität und Selbstversorgung, ● Qualitätsbereich 2: Unterstützung bei der Bewältigung von krankheits- und the‐ rapiebedingten Anforderungen und Belastungen, ● Qualitätsbereich 3: Unterstützung bei der Gestaltung des Alltagslebens und der sozialen Kontakte, ● Qualitätsbereich 4: Unterstützung in besonderen Bedarfs- und Versorgungssitua‐ tionen, ● Qualitätsbereich 5: Bedarfsübergreifende fachliche Anforderungen, ● Qualitätsbereich 6: Organisationsaspekte und internes Qualitätsmanagement. 2.5 (Pflege-)Heime 195 <?page no="196"?> 312 Vereinbarung des GKV-Spitzenverbandes (als Spitzenverband Bund der Pflegekassen), der Verein‐ igungen der Träger der Pflegeeinrichtungen auf Bundesebene, der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe sowie der Kommunalen Spitzenverbände auf Bundesebene nach § 115 Abs. 1a SGB XI über die Darstellung und Bewertung der Qualitätsindikatoren gemäß § 113 Absatz 1a SGB XI und der Ergebnisse aus Qualitätsprüfungen nach §§ 114 f. SGB XI v. 19.3.2019, https : / / www.gkv-spitzenverband.de/ pflegeversicherung/ richtlinien_vereinbarungen_formulare/ richtlini en_vereinbarungen_formulare.jsp (Abruf am 26.3.2022). Jeder Qualitätsbereich wird wiederum in mehrere Qualitätsaspekte untergliedert; insgesamt bestehen 24 Aspekte. Der Qualitätsbereich 1 wird beispielsweise in vier Qualitätsaspekte unterteilt: ● Unterstützung der Mobilität, ● Unterstützung bei der Ernährung und Flüssigkeitsversorgung ● Unterstützung bei Inkontinenz und Kontinenzförderung, ● Unterstützung der Körperpflege. Darüber hinaus werden in die Qualitätsprüfung die im Rahmen der internen Qua‐ litätssicherung gewonnenen Ergebnisse zu den Qualitätsindikatoren (siehe oben) einbezogen. Stichprobenhaft beurteilt der Medizinische Dienst bzw. der Prüfdienst des PKV, ob die Ergebnisse zum Zustand des Pflegebedürftigen passen. Damit sollen Datenmanipulationen seitens der Einrichtung verhindert werden. Die Qualitätsprüfung endet mit einem Abschlussgespräch, in dem die Pflegeeinrich‐ tung über zentrale vorläufige Ergebnisse der Prüfung in Kenntnis gesetzt wird. Über die Ergebnisse der Prüfungen werden die Landesverbände der Pflegekassen, der zuständige Sozialhilfeträger sowie die Heimaufsichtsbehörde informiert (§ 115 Abs. 1 SGB XI). Die Landesverbände der Pflegekassen veranlassen zur Information der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen die Veröffentlichung der von der Pfle‐ geeinrichtung erbrachten Leistungen und deren Qualität (§ 115 Abs. 1a SGB XI). Die diesbezüglichen Einzelheiten enthält die Qualitätsdarstellungsvereinbarung für die stationäre Pflege. 312 Die Veröffentlichung umfasst drei Säulen: ● Informationen über das Pflegeheim, ● Ergebnisse der Einrichtung zu den oben genannten zehn Qualitätsindikatoren, ● Ergebnisse der externen Qualitätsprüfung. Wenn bei einer Qualitätsprüfung mangelhafte Leistungen der Pflegeeinrichtung zutage treten, so sieht das Gesetz verschiedene Rechtsfolgen vor: 196 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="197"?> Abb. 32: Rechtsfolgen mangelhafter Leistungen SCR SCR Der Pflegebedürftige kann bei schwerwiegenden, kurzfristig nicht behebbaren Mängel gem. § 115 Abs. 4, 6 SGB XI die Vermittlung einer anderen Pflegeeinrichtung verlangen. Die Landesverbände der Pflegekassen erlassen gem. § 115 Abs. 2 SGB XI Anordnungen zur Beseitigung der Mängel. Kommt die Einrichtung der angeordneten Mängelbeseitigung nicht nach, so können die Landesverbände den Versorgungsvertrag gem. § 115 Abs. 2 S. 2, § 74 SGB XI kündigen. Die Pflegeeinrichtung macht sich ggf. gegenüber dem Pflegebedürftigen schadenersatzpflichtig (§ 115 Abs. 3 S. 7 SGB XI, § 280 Abs. 1, § 823 BGB). Die Pflegevergütung kann gem. § 115 Abs. 3 SGB XI gekürzt werden. Rechtsfolgen mangelhafter Leistungen Abbildung 32: Rechtsfolgen mangelhafter Leistungen Aber auch ohne mangelhafte Leistungen kann ein fehlendes Engagement eines Pfle‐ geheims im Qualitätsbereich zur Kündigung des Versorgungsvertrages führen. Die Anwendung der Expertenstandards, das Betreiben eines Qualitätsmanagements und die Ermöglichung der externen Qualitätsprüfungen sind nicht nur Voraussetzung für den Abschluss des Versorgungsvertrages, sondern auch für dessen Aufrechterhaltung (§ 72 Abs. 3, § 74 Abs. 1 S. 1 SGB XI). Das bedeutet, dass bei fehlendem Engagement der Einrichtung im Qualitätsbereich die Landesverbände der Pflegekassen den Vertrag kündigen können und die Einrichtung damit ihre Zulassung zur Versorgung gesetzlich Versicherter verlieren würde. 2.5.3 Öffentliche Investitionsförderung Die Bundesländer sind im Rahmen der Daseinsvorsorge für ihre Bürger für das Vorhandensein ausreichender Pflegeeinrichtungen verantwortlich, so dass die Planung und Förderung der Einrichtungen zu ihren Aufgaben gehören (Art. 30, 70 Abs. 1 GG, § 9 SGB XI). Die Einführung der Pflegeversicherung bedeutet eine finanzielle Entlastung der Länder im Bereich der Sozialhilfe. Diese Einsparungen sollen die Länder für die finanzielle Förderung der Pflegeeinrichtungen einsetzen. Jedoch gibt es nicht in allen Bundesländern eine Investitionsförderung. In den Jahren 2017 bis 2019 bezuschussten dreizehn von sechzehn Ländern die Investitionsaufwendungen der 2.5 (Pflege-)Heime 197 <?page no="198"?> 313 Vgl. Siebter Bericht der Bundesregierung über die Entwicklung der Pflegeversicherung und den Stand der pflegerischen Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland, S. 62-64, https: / / www.bun desgesundheitsministerium.de/ fileadmin/ Dateien/ 3_Downloads/ P/ Pflegebericht/ Siebter_Pflegeberi cht_barrierefrei.pdf (Abruf am 13.5.2022). teil- und vollstationären Einrichtungen. 313 Die Investitionsförderung wird durch das Recht des jeweiligen Bundeslandes geregelt. Die Förderung bedeutet insbesondere eine finanzielle Unterstützung im Hinblick auf die Investitionskosten, währenddessen für die Vergütung der Pflegeleistungen die Pflegekassen und die Versicherten aufkommen. In diesem Sinne werden die Pflegeeinrichtungen (ähnlich wie die Krankenhäuser) dual finanziert. Dabei sind folgende Arten der Investitionsförderung zu unterscheiden: Abb. 34: Investitionsförderung Investitionsförderung Objektförderung Subjektförderung = Unterstützung der Pflegeeinrichtung bei der Tragung der betriebsnotwendigen Investitionsaufwendungen = einkommens- und vermögensabhängige Unterstützung des Pflegebedürftigen bei der Tragung der ihm von der Pflegeeinrichtung berechneten betriebsnotwendigen Investitionsaufwendungen Subjektbezogene Objektförderung = Unterstützung des Pflegeeinrichtung durch Zahlung pro belegten Heimplatz unabhängig vom Einkommen und Vermögen des Pflegebedürftigen Abbildung 33: Investitionsförderung Der öffentlichen Investitionsförderung unterliegen - je nach landesrechtlicher Rege‐ lung - Aufwendungen der Pflegeeinrichtung für: ● Herstellung, Anschaffung, Wiederbeschaffung, Ergänzung, Instandhaltung oder Instandsetzung der für den Betrieb notwendigen Gebäude und sonstigen abschrei‐ bungsfähigen Anlagegüter (z.-B. Fahrzeuge), ● Erwerb und Erschließung von Grundstücken, ● Miete, Pacht, Erbbauzins, Nutzung oder Mitbenutzung von Grundstücken, Gebäu‐ den oder sonstigen Anlagegütern, ● den Anlauf oder die innerbetriebliche Umstellung von Pflegeeinrichtungen, ● die Schließung von Pflegeeinrichtungen oder ihre Umstellung auf andere Aufga‐ ben. 198 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="199"?> Dagegen sind die zum Verbrauch bestimmten Güter nicht förderfähig. Sie werden mit den Pflegesätzen vergütet (vgl. § 82 Abs. 2 Nr.-1 SGB XI und Abschnitt 2.5.2.4). ➤ Beispiel Die Aufwendungen für den Bau eines Wohngebäudes (= Aufwendungen für die Herstellung) und für die Reparatur der Heizungsanlage (= Aufwendungen für Instandsetzung) sind bei entsprechender landesrechtlicher Regelung förderfähig. Dagegen sind die Zahlungen der Pflegeeinrichtung an den Energieversorger für Strom und Fernwärme nicht förderfähig, sie gehen in die Kalkulation der Pflegesätze ein. Soweit das Heim keine öffentliche Investitionsförderung erhält, kann es dem Pflege‐ bedürftigen seine betriebsnotwendigen Investitionsaufwendungen gem. § 82 Abs. 3, 4 SGB XI in Rechnung stellen. Näheres dazu finden Sie im Abschnitt 2.5.5. Weitere Aspekte der Investitionsförderung, wie z. B. behördliche Zuständigkeit, Verfahrensablauf, Förderhöhe, sind ebenfalls in den landesrechtlichen Regelungen enthalten. 2.5.4 Leistungserbringung im System der Sozialhilfe Soweit die Pflegeversicherung oder ein anderer Sozialleistungsträger für das vom Bewohner zu zahlende Gesamtheimentgelt nicht aufkommen und der Heimbewohner (einschließlich seiner einstandspflichtigen Angehörigen) selbst kein ausreichendes Einkommen oder Vermögen hat, um das Entgelt zu zahlen, entsteht die Leistungsver‐ pflichtung für den Sozialhilfeträger gem. SGB XII. Zum Gesamtheimentgelt hören beispielsweise die Kosten der Unterkunft und Verpflegung, die keine Leistung der Pflegeversicherung, sondern vom Bewohner selbst zu tragen sind (vgl. § 82 Abs. 1 S. 4 SGB XI). Ferner übersteigen die an das Heim zu zahlenden Pflegesätze im Allgemeinen die gesetzlich vorgesehenen Leistungen der Pflegeversicherung an den Versicherten. Zur Erfüllung seiner Aufgaben soll der Sozialhilfeträger keine eigenen Einrich‐ tungen schaffen, sondern mit vorhandenen geeigneten Einrichtungen Verträge zur Leistungserbringung schließen (§ 75 Abs. 1, 2 SGB XII). Zwischen den Beteiligten entsteht somit folgendes sozialhilferechtliches Dreiecksverhältnis: 2.5 (Pflege-)Heime 199 <?page no="200"?> Abb. 35: Sozialhilferechtliches Dreiecksverhältnis Leistungsbewilligung Heimvertrag Vereinbarung über Leistung und Vergütung Sozialhilfeträger Einrichtungsträger Sozialhilfeempfänger Abbildung 34: Sozialhilferechtliches Dreiecksverhältnis Die sachliche Zuständigkeit für den Abschluss des Vertrages bzw. der Verträge mit dem Einrichtungsträger liegt je nach Regelung im Landesrecht beim örtlichen oder überörtlichen Sozialhilfeträger (vgl. § 97 SGB XII). Die örtliche Zuständigkeit wird durch den Sitz der Einrichtung bestimmt (§ 75 Abs. 1 S.-1 SGB XII). ❋ Wissen-│ Leistungs- und Vergütungsvereinbarung Die Vereinbarung zwischen dem Sozialhilfeträger und Einrichtungsträger wird prospektiv geschlossen und muss den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit, Spar‐ samkeit und Leistungsfähigkeit entsprechen (§ 75 Abs. 1 S. 4 SGB XII). Die Vereinbarung ist für alle übrigen Träger der Sozialhilfe bindend (§ 75 Abs. 1 S. 3 SGB XII). Sie soll folgende Bereiche regeln: Leistungsvereinbarung (§ 76 Abs. 1, 2 SGB XII) Der Inhalt, Umfang und die Qualität der Leistungen sind mindestens mit folgenden Leistungsmerkmale festzulegen: betriebsnotwendige Anlagen der Einrichtung, zu betreuender Personenkreis, Art, Ziel und Qualität der Leistung, Qualifikation des Personals sowie die erforderliche sächliche und personelle Ausstattung. Vergütungsvereinbarung (§ 76 Abs. 1, 3 SGB XII) Die Vergütung wird in Form von Pauschalen vereinbart, und zwar als Grund‐ pauschale für die Unterkunft und Verpflegung, als Maßnahmepauschale für die Hilfeleistungen sowie als Investitionsbetrag für die betriebsnotwendigen Anlagen einschließlich ihrer Ausstattung, also z. B. Kosten für die Herstellung oder den Erwerb von Gebäuden und sonstigen abschreibungsfähigen Anlagegütern (z. B. Fahrzeuge), Miet- oder Pachtzahlungen für Grundstücke oder Gebäude. Wenn das Heim Mittel aus der öffentlichen Investitionsförderung erhält, sind diese zu berücksichtigen. 200 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="201"?> 314 Vgl. BSG, Urt. v. 22.3.2012, B 8 SO 1/ 11 R, BeckRS 2012, 71072 Rn. 18 m. w. N., Schellhorn, Kommentar zum SGB XII - Sozialhilfe, § 75 SGB XII Rn. 63-m. w. N. Wenn eine schriftliche Vereinbarung über die Leistung und Vergütung besteht, ist der Leistungserbringer im Rahmen des vereinbarten Leistungsangebotes verpflichtet, Leistungsberechtigte aufzunehmen und zu betreuen (§ 75 Abs. 4 SGB XII). Für die Vereinbarungen mit einer Pflegeeinrichtung, die zur Versorgung der gesetzlich Versicherten zugelassen ist, bestehen gem. § 76a Abs. 1 SGB XII zwei Besonderheiten: Die erste Besonderheit betrifft die pflegerischen Leistungen, Unterkunft und Verpfle‐ gung sowie Zusatzleistungen. Deren Inhalt, Umfang sowie Vergütung richten sich nach der Pflegesatzvereinbarung, die mit den Pflegekassen gem. §§ 82 ff. SGB XI getroffen worden ist. Dies gilt allerdings nicht, wenn die Pflegesatzvereinbarung nicht im Einvernehmen mit dem Sozialhilfeträger geschlossen worden ist. Ein solcher Fall tritt ein, wenn der Sozialhilfeträger entweder bei den Pflegesatzverhandlungen von den Pflegekassen überstimmt worden ist, oder er an den Verhandlungen nicht beteiligt war, weil er die fünfprozentige Belegung der Einrichtung gem. §§ 85 Abs. 2 SGB XI nicht erreicht hat. Für den ersten Fall, dass der Sozialhilfeträger überstimmt worden ist, gibt es eine gesetzliche Konfliktregelung: Der Sozialhilfeträger hat die Möglichkeit, die Pflegesatzvereinbarung durch die Schiedsstelle für die Pflegeversicherung (in der Besetzung ohne Vertreter der Pflegekassen und Pflegeeinrichtungen) gem. § 85 Abs. 5 SGB XI und ggf. in einem anschließenden Gerichtsverfahren überprüfen zu lassen. Wählt er diesen Weg nicht, gilt die Vereinbarung auch für ihn. Für den zweiten Fall, dass der Sozialhilfeträger an den Pflegesatzverhandlungen nicht beteiligt war, gibt es keine derartige Regelung, jedenfalls nicht nach dem Wortlaut des § 85 Abs. 5 SGB XI. Die Frage, ob § 85 Abs. 5 SGB XI trotzdem anzuwenden ist, ist umstritten und vom BSG bislang offen gelassen worden. 314 Für die analoge Anwendung dieser Vorschrift spricht, dass die Pflegesätze für alle Bewohner eines Pflegeheimes nach einheitlichen Grundsätzen zu bemessen sind und eine Differenzierung nach Kosten‐ trägern unzulässig ist (vgl. § 84 Abs. 3 SGB XI). Deshalb wird der Sozialhilfeträger, der an der Pflegesatzverhandlung nicht beteiligt war, auch die Schiedsstelle zur Prüfung der Pflegesätze anrufen können bzw. müssen, wenn er die vereinbarten Pflegesätze nicht gegen sich gelten lassen will. Im Übrigen gilt die mit den Pflegekassen getroffene Pflegesatzvereinbarung nicht, soweit der Sozialhilfeträger Hilfeleistungen zur Pflege (§§ 61 ff. SGB XII) erbringen muss, die weiter gehen als die der Pflegeversicherung. In diesem Fall verbleibt die Regelungskompetenz beim Sozialhilfeträger und Einrichtungsträger. Die zweite Besonderheit betrifft die Investitionsförderung. Pflegeeinrichtungen, die nicht nach Landesrecht gefördert werden, können ihre betriebsnotwendigen Inves‐ titionsaufwendungen gegenüber dem Pflegebedürftigen gem. § 82 Abs. 4 SGB XI ohne Zustimmung der zuständigen Landesbehörde gesondert berechnen (vgl. dazu Abschnitt 2.5.5). Die gesonderte Berechnung muss nur bei der Behörde angezeigt werden. In diesem Fall liegt somit - anders als bei einer geförderten Einrichtung - keine 2.5 (Pflege-)Heime 201 <?page no="202"?> 315 Vgl. BSG, Urt. v. 28.10.2008, B 8 SO 22/ 07 R, NJOZ 2009, 2324 ff. [2330]. behördliche Zustimmung zur gesonderten Berechnung gegenüber dem Pflegebedürf‐ tigen vor. Mangels behördlicher Entscheidung ist der Sozialhilfeträger zur Übernahme der Aufwendungen nur verpflichtet, wenn zwischen ihm und der nicht geförderten Pflegeeinrichtung eine entsprechende Vereinbarung besteht (§ 76a Abs. 3 SGB XII). Wenn die Vereinbarung nach § 76 SGB XII zwischen dem Sozialhilfeträger und dem Einrichtungsträger nicht innerhalb von drei Monaten nach schriftlicher Aufforderung zur Vertragsverhandlung zustande kommt, hat jede Vertragspartei die Möglichkeit, die im Bundesland errichtete Schiedsstelle anzurufen (§ 77 Abs. 2, § 81 SGB XII). ➤ Lernhinweis Die Schiedsstelle gem. § 81 SGB XII darf nicht mit der oben genannten Schiedsstelle für die Pflegeversicherung gem. § 76 SGB XI verwechselt werden. Durch den Abschluss der Vereinbarung erwirbt der Einrichtungsträger noch keinen Vergütungsanspruch gegen den Sozialhilfeträger. Erst die Bewilligung der Leistungen an den Sozialhilfeempfänger bewirkt einen sog. Schuldbeitritt des Sozialhilfeträgers, durch den die Einrichtung einen unmittelbaren Zahlungsanspruch gegen den Sozial‐ hilfeträger erlangt (§ 75 Abs. 6 SGB XII). 315 Eine Einrichtung ohne die vorgenannten Vereinbarungen kann nur im Ausnahmefall Leistungserbringer im System der Sozialhilfe sein. Nach § 75 Abs. 5 SGB XII darf der Sozialhilfeträger seine Leistungen durch eine solche Einrichtung nur erbringen, wenn dies nach der Besonderheit des Einzelfalls geboten ist. ➤ Beispiel │ Ausnahmefall Ein Sozialhilfeempfänger wohnt bereits seit vielen Jahren in einem vertraglosen Heim, dessen Entgelte er zuvor selbst bezahlt hat. Wegen seines hohen Alters ist ihm ein Umzug in eine vertragliche Einrichtung nicht zumutbar. Die Höhe der Vergütung der vertraglosen Einrichtung richtet sich nach der der anderen Einrichtungen, die in der Umgebung vergleichbare Leistungen anbieten (§ 75 Abs. 5 SGB XII). 2.5.5 Heimvertrag zwischen (Pflege-)Heim und Bewohner Der Heimvertrag ist ein privatrechtlicher Vertrag zwischen dem Bewohner und dem Betreiber der Einrichtung. Er ist im Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz (WBVG) geregelt. Im Übrigen finden das BGB sowie in dem Fall, dass der Bewohner Leistungen nach dem SGB XI oder SGB XII bezieht, auch diese Gesetze auf ihn Anwendung (§ 15 WBVG). 202 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="203"?> 316 Vgl. Allgemeine Versicherungsbedingungen für die Private Pflegepflichtversicherung, unter https: / / www.pkv.de/ fileadmin/ user_upload/ PKV/ b_Wissen/ PDF/ avb-ppv.pdf (Abruf am 31.3.2022). 317 Vgl. BSG, Urt. v. 24.7.2003, B 3 P 1/ 03 R, NZS 2004, 313 ff. [315]. Vor Vertragsschluss muss der Heimbetreiber den Bewohner über die Leistungen, die dieser in Anspruch nehmen kann, informieren. Dazu gehören z. B. Informationen über die Ausstattung des Heims, über den Wohnraum sowie über die Pflege- und Betreu‐ ungsleistungen (§ 3 WBVG). Zudem kann ein Pflegebedürftiger von seiner Pflegekasse gem. § 7 Abs. 3 SGB XI bzw. von seinem privaten Versicherungsunternehmen gem. § 4 Abs. 18 MB/ PPV 2019 316 eine Vergleichsliste über die Preise und Leistungen der zugelassenen Einrichtungen verlangen. Der Heimvertrag ist schriftlich abzuschließen (§ 6 Abs. 1 S. 1 WBVG). Ein Form‐ verstoß führt nicht zur Unwirksamkeit des gesamten Vertrages, sondern nur der Vereinbarungen, die zuungunsten des Bewohners von den gesetzlichen Regelungen abweichen (§ 6 Abs. 2 S. 1 WBVG). Ferner kann der Bewohner den Vertrag fristlos kündigen (§ 6 Abs. 2 S.-2 WBVG). Für den Vertrag ist in § 6 Abs. 3 WBVG gesetzlich ein Mindestinhalt vorgesehen. Dazu gehören insbesondere die konkreten Beschreibungen der einzelnen Leistungen des Heimbetreibers - Wohnraum, Verpflegung, Pflege und Betreuung - sowie die jeweils dafür anfallenden Entgelte. Ferner sind die Investitionskosten aufzuschlüsseln, wenn für diese der Bewohner aufkommen soll. Gem. § 82 Abs. 3, 4 SGB XI können dem Bewohner ● Aufwendungen, inkl. Kapitalkosten, für die Herstellung, Anschaffung, Wiederbe‐ schaffung, Instandhaltung und Instandsetzung der notwendigen Gebäude und sonstigen abschreibungsfähigen Anlagegüter sowie ● Zahlungen für Miete, Pacht, Erbbauzins, Nutzung oder Mitbenutzung von Grund‐ stücken, Gebäuden oder sonstigen Anlagegütern in Rechnung gestellt werden, soweit die Aufwendungen nicht durch die öffentliche Förderung gedeckt sind (zur Investitionsförderung siehe Abschnitt 2.5.3). Wenn das Pflegeheim auch Mittel der öffentlichen Investitionsförderung erhält, bedarf die ge‐ sonderte Berechnung der Aufwendungen gegenüber dem Bewohner der Zustimmung der zuständigen Landesbehörde (§ 82 Abs. 3 SGB XI), um zu verhindern, dass dem Bewohner Aufwendungen in Rechnung gestellt werden, die bereits über öffentliche Zuschüsse gedeckt sind. 317 Anders verhält es sich bei nicht geförderten Heimen. Diese müssen die gesonderte Berechnung von Investitionsaufwendungen gegenüber dem pflegebedürftigen Heimbewohner der zuständigen Behörde zu Informationszwecken lediglich anzeigen (§ 82 Abs. 4 SGB XI). Mit dem Heimvertrag werden auf beiden Seiten Leistungspflichten begründet. Der Heimbetreiber muss den Wohnraum in einem zum vertragsgemäßen Gebrauch geeig‐ neten Zustand überlassen und diesen Zustand während der Vertragsdauer aufrechter‐ halten. Ferner muss er die Pflege- und Betreuungsleistungen dem fachlichen Standard entsprechend erbringen (§ 7 Abs. 1 WBVG). Wenn sich der Pflege- und Betreuungs‐ 2.5 (Pflege-)Heime 203 <?page no="204"?> bedarf des Bewohners während der Vertragslaufzeit erhöht, hat der Betreiber ihm entsprechend angepasste Leistungen anzubieten (§ 8 WBVG). Wenn der Träger des Heims seine vertraglichen Leistungen nicht oder nicht ord‐ nungsgemäß erfüllt, kann der Heimbewohner zum einen gem. § 10 WBVG eine Kürzung des vereinbarten Entgelts verlangen. Zum anderen kann der Bewohner, der z. B. durch eine mangelhafte Pflege, geschädigt wird, Schadenersatz verlangen, wenn die Voraussetzungen der § 280 Abs. 1 oder § 823 Abs. 1 BGB erfüllt sind (vgl. zu den Haftungstatbeständen Abschnitt 2.2.7). Der Bewohner muss das vereinbarte Entgelt entrichten (§ 7 Abs. 2-5 WBVG). Wenn der Bewohner Leistungen der sozialen Pflegeversicherung in Anspruch nimmt, ergibt sich die Höhe der Entgelte für Pflege, Betreuung, Unterkunft und Verpflegung aus der Vereinbarung des Heimbetreibers mit den anderen Pflegesatzparteien (siehe Abschnitt 2.5.2.4). Gleiches gilt, wenn der Betreiber Vereinbarungen mit dem zuständigen Sozi‐ alhilfeträger nach den §§ 75 ff. SGB XII getroffen hat (siehe Abschnitt 2.5.4). Die auf der Grundlage des SGB XI und SGB XII vereinbarten Entgelte gelten als angemessen und wirken sich letztlich auch auf die privat versicherten Heimbewohner aus, wenn in dem Heim gesetzlich Versicherte mit oder ohne Sozialhilfeanspruch leben, da der Heimbetreiber die Entgelte für alle Bewohner nach einheitlichen Grundsätzen zu bemessen hat (§ 7 Abs. 3 S. 1 WBVG). Eine Differenzierung der Entgelte ist gem. § 7 Abs. 3 S. 2, 3 WBVG nur in Abhängigkeit einer unterschiedlichen öffentlichen Investitionsförderung möglich. Auf die Entgelte für Pflege und Betreuung zahlt die Pflegekasse die Leistungen, die der Bewohner nach den §§ 41-43c SGB XI beanspruchen kann. Die Zahlung der Pflegekasse erfolgt gem. § 87a Abs. 3 SGB XI unmittelbar an das Pflegeheim. Den Differenzbetrag muss der Bewohner zahlen. Wenn das Einkommen und Vermögen des Bewohners (bzw. seiner Angehörigen) nicht ausreichend sind, muss der für den Bewohner zuständige Sozialhilfeträger den Differenzbetrag übernehmen. Die Entgelte für Unterkunft und Verpflegung muss der Bewohner oder der für ihn zuständige Sozialhilfeträger vollständig zahlen; die Pflegekassen kommen dafür (abgesehen von dem Fall des § 43 Abs. 2 S.-3 SGB XI) nicht auf. Wenn der Bewohner und der Heimbetreiber sog. Zusatzleistungen (vgl. § 88 SGB XI) vereinbart haben, so kommen dafür weder die Pflegekasse noch der Sozialhilfeträger auf. Bei den Zusatzleistungen handelt es sich beispielswiese um besondere Komfort‐ leistungen bei der Unterkunft und Verpflegung oder zusätzliche (nicht notwendige) pflegerisch-betreuende Leistungen, wie z. B. Fußpflege. Die dafür anfallenden Entgelte muss der Bewohner selbst bezahlen. Der privatversicherte Bewohner erhält die Leistungen seines Versicherers gem. § 6 Abs. 5 MB/ PPV 2019 selbst und muss für die Entrichtung des Heimentgelts selbst sorgen. Wenn sich die Berechnungsgrundlagen der Entgelte, z. B. durch Lohnerhöhungen für die Beschäftigten, ändern, so kann der Heimbetreiber die anderen Pflegesatzparteien zur Neuverhandlung der Pflegesätze auffordern (§ 86 SGB XI). Gegenüber dem 204 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="205"?> 318 Vgl. BGH, Urt. v. 4.10.2018, III ZR 292/ 17, NZM 2018, 956 ff. [959]. Bewohner kann er das Erhöhungsverlangen ebenfalls geltend machen. Insoweit muss er die Veränderungen bzgl. der Berechnungsgrundlagen konkret darlegen. Wenn sein Erhöhungsverlangen nebst Begründung den Anforderungen des § 9 WBVG entspricht, schuldet der Bewohner das erhöhte Entgelt frühestens nach Ablauf von vier Wochen nach Zugang des hinreichend begründeten Erhöhungsverlangens. Wenn sich die Pflegebedürftigkeit des Bewohners erhöht, muss ihm der Heimbetrei‐ ber eine Anpassung der Leistungen anbieten. Wenn der Bewohner die Anpassung vollständig oder teilweise annimmt, verändert sich das diesbezügliche Leistungsentgelt gem. § 8 WBVG. Ferner kann der Heimbetreiber verlangen, dass der gesetzlich versi‐ cherte Bewohner bei seiner Pflegekasse eine Einstufung in einen höheren Pflegegrad beantragt (§ 87a Abs. 2 SGB XI). Der Heimvertrag kann von beiden Seiten gekündigt werden. Wenn der Bewohner bis zum dritten Werktag eines Monats kündigt, so wirkt seine Kündigung zum Ende desselben Monats (§ 11 Abs. 1 S. 1 WBVG). Die Kündigung muss schriftlich erfolgen, der Bewohner muss aber keinen Grund für seine Kündigung angeben. Wenn der Bewohner Leistungen der sozialen Pflegeversicherung erhält und vor Ablauf der Kündigungsfrist (z. B. wegen eines Umzugs in ein anderes Heim) auszieht, muss er nur bis zum Auszug das vereinbarte Entgelt entrichten. Das folgt aus § 87a Abs. 1 S. 2 SGB XI, wonach die Zahlungspflicht der Heimbewohner und seiner Pflegekasse mit dem Tag endet, an dem der Heimbewohner aus dem Heim entlassen wird oder verstirbt. Das in der der Vorschrift genannte „Entlassen“ erfaßt auch das endgütlige Verlassen der Einrichtung auf Initiative des Bewohners. Das folgt insbesondere aus § 87a Abs. 1 S. 3 SGB XI, der bestimmt, dass bei einem Umzug eines Pflegebedürftigen in ein anderes Heim, nur das aufnehmende Pflegeheim das Gesamtheimentgelt für den Verlegungstag berechnen darf. Würde dem bisherigen Heimträger der Vergütungsanspruch bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zustehen, hätte es zur Konsequenz, dass der Heimträger am Verlegungstag, an dem er in der Regel noch Teilleistungen erbringt, keine Vergütung erhält, aber an den Folgetagen, ohne dass er Leistungen erbringt, das volle Entgelt bekommen würde. Dies wäre eine sinnwidrige Auslegung, so dass § 87a Abs. 1 S. 2 SGB XI als Spezialregelung für Verträge mit Leistungsempfängern der Pflegeversicherung Vorrang vor den allgemeinen heimvertraglichen Vorschriften hat (vgl. § 15 WBVG). 318 Während der ersten zwei Wochen des Heimvertrages kann der Bewohner sogar fristlos kündigen (§ 11 Abs. 2 WBVG). Später ist eine fristlose Kündigung nur bei Vorliegen eines wichtigen Grundes möglich (§ 11 Abs. 3 WBVG). Der Heimbetreiber kann nur bei Vorliegen eines wichtigen Grundes kündigen. Die Kündigung muss schriftlich erfolgen und den Grund angeben (§ 12 Abs. 1 S. 1 WBVG). Wichtige Gründe sind z. B. die Schließung des Heims oder schuldhafte gröbliche Pflichtverletzung seitens des Bewohners (§ 12 Abs. 1 S. 2 WBVG). Bei der Schließung des Heims ist die Kündigung zum dritten Werktag eines Kalendermonats 2.5 (Pflege-)Heime 205 <?page no="206"?> zum Ablauf des nächsten Monats zulässig; aus anderen Gründen ist eine Kündigung ohne Einhaltung einer Frist möglich (§ 12 Abs. 4 WBVG). ❋ Wichtige Schlagwörter ❋ Fachkraftquote ❋ Gesamtheimentgelt ❋ Heim ❋ Heimvertrag ❋ Pflegeein‐ richtung ❋ Pflegeheim ❋ Pflegesätze ❋ Versorgungsvertrag ✎ Wiederholungsaufgaben 1. Unter welcher Voraussetzung ist die Prüfung eines niedersächsischen Heims durch die Heimaufsichtsbehörde in der Nacht zulässig? Welche Prüfungsbe‐ fugnisse hat die Heimaufsichtsbehörde? 2. Emil Emsig betreibt in Niedersachsen ein Pflegeheim mit 150 Betten, von denen durchschnittlich 146 belegt sind. Das Pflegeheim ist ein Heim im Sinne des Niedersächsischen Gesetzes über unterstützende Wohnformen (NuWG). Bei den Bewohnern handelt es sich um volljährige Pflegebedürftige der Pflegegrade 2 und 3. Emsig beschäftigt eine Pflegefachkraft als Pflegedienst‐ leitung sowie 17 Altenpfleger/ innen und 16 Altenpflegehelfer/ innen (alle in Vollzeit). Für Emsigs Einrichtung gilt folgender Personalschlüssel, der auch den Pflegesatzvereinbarungen zugrunde gelegt ist: ● eine Pflegefachkraft in Vollzeit als Pflegedienstleitung sowie ● weiteres Personal nach dem Richtwert 1 : 3,65 (bezogen auf Vollzeitstellen mit einer durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden). Nach diesem Personalschlüssel müsste Emsig neben der Pflegedienstleitung mindestens 40 Pflegekräfte beschäftigen. Deshalb ordnet die zuständige Heim‐ aufsichtsbehörde am 1.9. an, dass Emsig ab 1.11. neben der Pflegedienstleitung 40 Vollzeitstellen (oder Teilzeitstellen in entsprechend höherer Anzahl) zu besetzen habe. Mindestens die Hälfte davon müssen Fachkräfte sein. Gegen diese Anordnung legt Emsig keinen Widerspruch ein. Eine Prüfung durch die Heimaufsichtsbehörde im Dezember ergibt, dass Emsig nur eine Altenpflege‐ rin neu eingestellt hat. Zur Begründung der nicht besetzten Stellen verweist Emsig darauf, dass er in der Tageszeitung der Region eine Stellenanzeige habe veröffentlichen lassen. Auf diese hätten sich 20 Personen beworben, von den er aber nur die eingestellte Altenpflegerin für geeignet gehalten habe. Für weitere Initiativen einer Bewerbersuche habe er keine Zeit gehabt. Im Übrigen könne er sich mehr Personal finanziell nicht leisten. Liegt ein Untersagungsgrund nach § 13 Abs. 1 NuWG vor? Begründen Sie Ihre Antwort. 206 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="207"?> 319 Pflegeberufegesetz v. 17.7.2017, BGBl. I S.-2581, z. g. d. G. v. 24.2.2021, BGBl. I S.-274. 320 HKP-RL v. 17.9.2009, BAnz Nr.-21a v. 9.2.2010, z. g. a. 19.11.2021, BAnz AT 25.03.2022 B1. 3. Erläutern Sie a. die Vertragsparteien, b. die Voraussetzungen für den Abschluss sowie c. die Wirkungen des Versorgungsvertrages, durch den der Träger des Pflegeheims zur pflege‐ rischen Versorgung der gesetzlich Versicherten zugelassen wird. 4. Erläutern Sie die Grundsätze für die Bemessung der Pflegesätze eines Pflege‐ heims in der sozialen Pflegeversicherung. 5. Erläutern Sie die Rechtsfolgen für den Träger des Pflegeheims in Niedersachsen, a. wenn die Heimaufsichtsbehörde bei einer Prüfung Mängel feststellt, b. wenn der MD bei einer Qualitätsprüfung Mängel feststellt. 6. Erläutern Sie den gesetzlich vorgesehenen Inhalt der Vereinbarungen zwischen dem Träger des Pflegeheims und dem Sozialhilfeträger, der für verschiedene Bewohner des Heims Hilfeleistungen erbringt. 7. Erläutern Sie die gegenseitigen heimvertraglichen Leistungspflichten des Heimträgers und des Bewohners. ➤ Lösungen im Web-Service. 2.6 Pflegedienste ➤ Lernhinweis Die nachfolgenden Erläuterungen werden Sie besser verstehen, wenn Sie die ange‐ gebenen Paragrafen der nachfolgenden Rechtsvorschriften parallel zum Lehrbuch lesen: Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), Gewerbeordnung (GewO), Pflegeberufegesetz (PflBG) 319 , Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Verordnung von häuslicher Krankenpflege (HKP-RL) 320 , Sozialgesetzbuch 5. Buch (SGB V), 11. Buch (SGB XI), 12. Buch (SGB XII). 2.6.1 Einführung Pflegedienste sind Unternehmen, die im häuslichen Bereich ihres erkrankten oder pflegebedürftigen Kunden körperbezogene Pflegeleistungen, Betreuungsleistungen, Hilfen bei der Haushaltsführung und andere Dienstleistungen erbringen. Zum Einsatz 2.6 Pflegedienste 207 <?page no="208"?> 321 Vgl. Statistisches Bundesamt: 14.688 Pflegedienste (ink. Betreuungsdienste) zum Stichtag 15.12.2019, https: / / www.destatis.de/ DE/ Themen/ Gesellschaft-Umwelt/ Gesundheit/ Pflege/ Tabellen/ pflegeeinri chtungen-deutschland.html (Abruf am 1.4.2022). 322 Heilberufsgesetz v. 19.12.2014, GVBl. Rh.-Pf., 302, z. g. d. G v. 16.2.2016, GVBl. Rh.-Pf. S. 37, z. g. d. G. v. 18.11.2020, GVBl. Rh.-Pf. S.-605. 323 Gesetz zur Errichtung der Pflegekammer Nordrhein-Westfalen v. 30.6.2020, GV. NRW. S.-643. kommen sowohl ausgebildete Pfleger als auch Pflegehelfer. In der Praxis wird neben dem Begriff des Pflegedienstes auch der der Sozialstation benutzt. Ferner gibt es Betreu‐ ungsdienste, die für Pflegebedürftige pflegerische Betreuungsmaßnahmen und Hilfen bei der Haushaltsführung erbringen. Bundesweit gibt es über 14.000 Pflegedienste (inkl. Betreuungsdienste). 321 2.6.2 Berufsrecht und Gewerberecht Am 1.1.2020 trat das Pflegeberufegesetz (PflBG) in Kraft, das das Krankenpflegegesetz und das Altenpflegesetz abgelöste. Mit diesem Gesetz wurde eine generalisierte Ausbildung eingeführt, die nach erfolgreicher Prüfung zu der Berufsbezeichnung „Pflegefachmann“ führt (§§ 1, 2 PflBG). Alternativ können die Auszubildenden eine der Spezialisierungen „Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger“ oder „Altenpfleger“ wählen (§§ 58, 59 PflBG). Dazu muss das letzte Drittel der Ausbildung auf die Pflege von Kindern und Jugendlichen bzw. von alten Menschen ausgerichtet sein (§§ 60, 61 PflBG). Das Führen der drei Berufsbezeichnungen ist erlaubnispflichtig und die Erteilung der Erlaubnis ist wiederum an bestimmte Voraussetzungen geknüpft, wie z. B. das Absolvieren der vorgeschriebenen Ausbildung und Prüfung, (§ 2, § 58 PflBG). Die früheren Berufsbezeichnungen „Gesundheits- und Krankenpfleger“, „Gesund‐ heits- und Kinderkrankenpfleger“ und „Altenpfleger“, die nach dem Krankenpflegege‐ setz bzw. dem Altenpflegesetz erworben worden sind, bleiben weiterhin gültig (§ 64 PflBG). Ferner regeln die § 4, § 58 PflBG, dass folgende pflegerische Tätigkeiten den Personen mit der Erlaubnis vorbehalten sind: ● Erhebung und Feststellung des individuellen Pflegebedarfs, ● Organisation, Gestaltung und Steuerung des Pflegeprozesses, ● Analyse, Evaluation, Sicherung und Entwicklung der Qualität der Pflege. Das bedeutet, dass nicht nur Personen ohne Berufserlaubnis, sondern auch Angehörige anderer Heilberufe von diesen Tätigkeiten ausgeschlossen sind. Daraus folgt wiede‐ rum, dass der Betreiber eines Pflegedienstes, der keine Erlaubnis zur Führen einer der genannten Berufsbezeichnungen hat, (mindestens) eine Person mit einer solchen Erlaubnis beschäftigen muss. In den Bundesländern Rheinland-Pfalz 322 und Nordrhein-Westfalen 323 sind Pflege‐ kammern errichtet. Diese sind öffentlich-rechtliche Körperschaften. Ihnen gehören 208 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="209"?> die Gesundheits- und Krankenpfleger, Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger und Altenpfleger, Pflegefachmänner an, die ihren Beruf ausüben. Zur Ausübung des Berufs gehört jede Berufstätigkeit, bei der Kenntnisse und Fähigkeiten relevant sind, die Voraussetzung für die Erteilung der Berufserlaubnis waren. Die Kammern nehmen die ihnen gesetzlich zugewiesenen Aufgaben wahr. Zu ihren Aufgaben gehören beispiels‐ weise die Wahrnehmung der Interessen ihrer Mitglieder, Regelung der Berufspflichten und der Weiterbildung ihrer Mitglieder. Von den vorgenannten Pflegefachberufen sind die Pflegehelfer (Altenpflegehelfer, Krankenpflegehelfer) zu unterscheiden. Diese Berufsbilder unterliegen der jeweiligen Landesgesetzgebung. Die Gründung, der Betrieb sowie die Schließung eines Pflegedienstes müssen gem. § 14 GewO beim zuständigen Gewerbeamt angezeigt werden. Eine gewerbliche Erlaubnis muss der Unternehmer - wie auch der Inhaber eines Heims - nicht einholen. Allerdings ergeben sich weitere Anforderungen aus dem sozialrechtlichen Leis‐ tungserbringungsrecht. Da ca. 88 % der Bevölkerung gesetzlich versichert sind, kommt ein Pflegedienst regelmäßig allein aus ökonomischen Gründen nicht umhin, den Status eines Leistungserbringers in den Sozialversicherungssystemen anzustreben. Dementsprechend muss er Verträge mit den Kranken- und Pflegekassen sowie ggf. mit Sozialhilfeträgern abschließen; vgl. insoweit die nachfolgenden Abschnitte. 2.6.3 Leistungserbringung im System der sozialen Pflegeversicherung und gesetzlichen Krankenversicherung - 2.6.3.1 Begriff des Pflegedienstes Das SGB XI verwendet den Begriff der Pflegeeinrichtung als Oberbegriff für das Pflegeheim (stationäre Pflegeeinrichtung) und den Pflegedienst (ambulante Pflege‐ einrichtung). Der Pflegedienst ist gem. §-71 Abs. 1 SGB XI wie folgt definiert: ❋ Wissen │ Pflegedienst Eine ambulante Pflegeeinrichtung (Pflegedienst) ist eine selbständig wirtschaf‐ tende Einrichtung, in der die Angestellten unter ständiger Verantwortung einer ausgebildeten Pflegefachkraft Pflegebedürftige in ihrer Wohnung mit Leistungen der häuslichen Pflegehilfe i. S. d. § 36 SGB XI versorgen. Nähere Erläuterungen zu den Kriterien der wirtschaftlichen Selbständigkeit und der Pflegefachkraft finden Sie im Abschnitt 2.5.2.1. Ferner gibt es den ambulanten Betreuungsdienst, der als ambulante Betreuungsein‐ richtung verstanden wird, die für Pflegebedürftige dauerhaft pflegerische Betreuungs‐ maßnahmen und Hilfen bei der Haushaltsführung erbringt (§ 71 Abs. 1a SGB XI). Auf die Betreuungsdienste finden die Vorschriften des SGB XI, die für Pflegedienste gelten, 2.6 Pflegedienste 209 <?page no="210"?> entsprechend Anwendung, soweit keine davon abweichende Regelung bestimmt ist (Erläuterungen zu Abweichungen in den Abschnitten 2.6.3.4, 2.6.3.7 und 3.1.11). - 2.6.3.2 Inhalt der pflegerischen Versorgung nach dem SGB XI Die häusliche Pflegehilfe für den Versicherten umfasst die körperbezogenen Pflegemaß‐ nahmen, die pflegerische Betreuung sowie die Hilfen bei der Haushaltsführung gem. § 36 Abs. 1, 2 SGB XI sowie die Sterbebegleitung gem. § 28 Abs. 4 SGB XI: Inhalt der häuslichen Pflege körperbezogene Pflegemaßnahmen pflegerische Betreuungsmaßnahmen Hilfen bei der Haushaltsführung Sterbebegleitung  Waschen, Duschen, Baden  Zahnpflege  Kämmen  Darm- und Blasenentleerung  Gesichtspflege, Rasieren  Zubereitung der Nahrung  Unterstützung bei der Nahrungsaufnahme  Hygienemaßnahmen  Aufstehen, Zubettgehen, Betten, Lagern  An- und Auskleiden  Gehen, Stehen, Treppensteigen  Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung  Unterstützung bei der Gestaltung des Alltags (z. B. in finanziellen Angelegenheiten)  Unterstützung bei der Aufrechterhaltung sozialer Kontakte (z. B. Begleitung von Spaziergängen und Verwandtenbesuchen)  kognitive und kommunikative Aktivierung  Maßnahmen zur Bewältigung psychosozialer Probleme  Einkauf  Heizen der Wohnung  Aufräumen und Reinigen der Wohnung  Wäschepflege Abbildung 35: Inhalt der häuslichen Pflegehilfe Die nähere Ausgestaltung der ambulanten Pflegeleistungen erfolgt gem. § 75 SGB XI durch einen Rahmenvertrag, der zudem die personellen (Mindest-) Anforderungen, die Anforderungen an die Pflegedokumentation, die Abrechnungs- und Zahlungsmodali‐ täten sowie weitere Aspekte der Leistungserbringung regelt. Der Rahmenvertrag wird durch die Landesverbände der Pflegekassen (gemeinsam) mit den Vereinigungen der Einrichtungsträger im Land (gemeinsam) unter Beteiligung des Verbandes der privaten 210 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="211"?> 324 Übersicht über die Landesrahmenverträge auf der Internetseite des BIVA-Pflegeschutzbundes: https: / / www.biva.de/ service/ gesetze/ landesrahmenvertraege-nach-%C2%A775-sgb-xi/ (Abruf am 26.3.2022). Krankenversicherung und des Medizinischen Dienstes geschlossen. 324 Er ist für die Pflegedienste und die Pflegekassen im Inland verbindlich (§-75 Abs. 1 S.-4 SGB XI). - 2.6.3.3 Inhalt der häuslichen Krankenpflege nach dem SGB V Der Inhalt der häuslichen Krankenpflege wird durch § 37 SGB V und die Häusliche Krankenpflege-Richtlinie (HKP-RL) des GBA näher ausgestaltet. Die häusliche Kran‐ kenpflege setzt eine entsprechende ärztliche Verordnung voraus und wird in drei verschiedenen Formen erbracht: Formen Krankenhausvermei‐ dungspflege (§ 37 Abs. 1 SGB V) Überleitungspflege (§ 37 Abs. 1a SGB V) Sicherungspflege (§ 37 Abs. 2 SGB V) Ziel(e) Vermeidung oder Verkür‐ zung der Krankenhaus‐ behandlung oder die gebotene Krankenhaus‐ behandlung ist nicht aus‐ führbar Versorgung eines nicht pflegebedürftigen Versi‐ cherten bei schwerer Krankheit oder akuter Verschlimmerung der Er‐ krankung Pflege zur Sicherung der ärztlichen Behandlung Umfang Grund- und Behand‐ lungspflege, hauswirt‐ schaftliche Versorgung, Palliativversorgung Grundpflege und haus‐ wirtschaftliche Versor‐ gung Behandlungspflege, inkl. verrichtungsbezo‐ gene krankheitsspezifi‐ sche Pflegemaßnahmen, Palliativversorgung bei entsprechender Satzungsregelung der Krankenkasse auch Grundpflege und haus‐ wirtschaftliche Versor‐ gung (Satzungsregelung aber für Pflegebedürf‐ tige der Pflegegrade 2-5 nicht zulässig) Tabelle 13: Formen der häuslichen Krankenpflege Die Grundpflege bezieht sich auf Grundverrichtungen des täglichen Lebens. Zur Behandlungspflege gehören die Maßnahmen der ärztlichen Behandlung, die dazu dienen, Krankheiten zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbe‐ schwerden zu lindern und die an Pflegefachkräfte und Pflegekräfte delegiert werden können. Die Palliativversorgung umfasst Leistungen der Schmerzlinderung und des Einwirkens auf die Krankheitssymptome in der letzten Lebensphase. Unter hauswirt‐ schaftlicher Versorgung werden Maßnahmen verstanden, die zur Aufrechterhaltung der grundlegenden Anforderungen einer eigenständigen Haushaltsführung allgemein 2.6 Pflegedienste 211 <?page no="212"?> 325 Vgl. Knittel, Soziale Krankenversicherung Pflegeversicherung Kommentar, § 72 SGB XI Rn. 3. 326 Vgl. Knittel, Soziale Krankenversicherung Pflegeversicherung Kommentar, § 132a SGB V Rn. 8. notwendig sind. Die einzelnen Leistungen der häuslichen Krankenpflege sind in der Anlage der HKP-RL gelistet. Wenn Versicherte einen besonders hohen Bedarf an medizinischer Behandlungs‐ pflege haben, können sie gem. § 37c SGB V eine außerklinische Intensivpflege, die zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung erforderlich ist, beanspruchen. Ein be‐ sonders hoher Bedarf an medizinischer Behandlungspflege liegt vor, wenn die ständige Anwesenheit einer geeigneten Pflegefachkraft zur individuellen Kontrolle und Einsatz‐ bereitschaft oder ein vergleichbar intensiver Einsatz einer Pflegefachkraft erforderlich ist. Die außerklinische Intensivpflege kommt beispielsweise bei Beatmungspatienten zur Anwendung und wird nicht nur von vollstationären Pflegeeinrichtungen, sondern auch von Pflegediensten im häuslichen Umfeld des Versicherten oder in speziellen Wohneinheiten mit mindestens zwei Versicherten mit Intensivpflegebedarf erbracht. Sie wird als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung von der Krankenkasse des Versicherten finanziert. - 2.6.3.4 Zulassung des Pflegedienstes zur Versorgung gesetzlich Versicherter Der Pflegedienst kann die Versicherten der sozialen Pflegeversicherung nur versorgen, wenn er (oder eine Vereinigung, der er angehört) mit den Landesverbänden der Pflegekassen einen Versorgungsvertrag geschlossen hat (§ 72 Abs. 1 SGB XI). Das im Abschnitt 2.5.2.3 zum Versorgungsvertrag Gesagte gilt für ihn ebenfalls. Lediglich der Versorgungsauftrag, der als Mindestinhalt des Vertrages festzulegen ist, stellt sich etwas anders dar. Es werden die Zahl der voraussichtlich zu betreuenden Versicherten und deren Pflegegrade sowie gem. § 72 Abs. 3 S. 3 SGB XI der örtliche Einzugsbereich, in dem der Pflegedienst seine Leistungen zu erbringen hat, bestimmt. Die zur Erfüllung notwendige personelle und sachliche Ausstattung des Pflegedienstes wird ebenfalls geregelt, soweit der Rahmenvertrag nach § 75 SGB XI keine entsprechenden Bestim‐ mungen enthält. 325 Für die im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung zu erbringende häusli‐ che Krankenpflege (§ 37 SGB V) benötigt der Pflegedienst einen Vertrag mit der Krankenkasse gem. § 132a Abs. 4 SGB V. Voraussetzung für den Vertragsschluss ist, dass der Pflegedienst eine dem allgemeinen Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende sowie leistungsgerechte und wirtschaftliche Versorgung der Versicher‐ ten gewährleisten kann (vgl. § 70 Abs. 1 S. 1, § 132a Abs. 4 S. 6 SGB V). Dies ist bei einem Pflegedienst mit einem Versorgungsvertrag nach § 72 SGB XI in der Regel zu bejahen. 326 Die Gewährleistung der leistungsgerechten und wirtschaftlichen Versorgung schließt u. a. ein, dass die Leistungen der häuslichen Krankenpflege unter der ständigen Verantwortung einer Pflegefachkraft erbracht werden. Die Pflegefachkraft muss eine abgeschlossene pflegerische Ausbildung, mindestens eine zweijährige Berufserfahrung 212 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="213"?> 327 Rahmenempfehlungen nach § 132a Abs. 1 SGB V zur Versorgung mit Häuslicher Krankenpflege vom 10.12.2013 i. d. F. v. 28.10.2021, https: / / www.gkv-spitzenverband.de/ krankenversicherung/ ambulant e_leistungen/ haeusliche_krankenpflege/ haeusliche_krankenpflege_1.jsp (Abruf am 3.4.2022). 328 Bei Betreuungsdiensten kann anstelle der verantwortlichen Pflegefachkraft eine entsprechend qualifizierte, fachlich geeignete und zuverlässige Fachkraft mit praktischer Berufserfahrung im erlernten Beruf von zwei Jahren innerhalb der letzten acht Jahre (verantwortliche Fachkraft) eingesetzt werden (§ 71 Abs. 3 S.-3 SGB XI). 329 Vgl. BSG, Urt. v. 21.11.2002, B 3 KR 14/ 02 R, BeckRS 9999, 01522. 330 Vgl. Altmiks, Kasseler Kommentar, SGB V § 132a Rn. 28 f. 331 Vgl. BSG, Urt. v. 21.11.2002, B 3 KR 14/ 02 R, BeckRS 9999, 01522; Föllmer, Soziale Krankenversicherung Pflegeversicherung Kommentar, § 132a SGB V Rn. 28; Schaks, Handbuch des Krankenversicherungs‐ rechts, §-28 Rn. 34. 332 Vgl. BSG, Urt. v. 17.7.2008, B 3 KR 23/ 07 R, NJOZ 2009, 1895 ff. [1900]; BSG, Urt. v. 25.11.2010, B 3 KR 1/ 10 R, NJOZ 2011, 1659 ff. [1664]. und eine abgeschlossene Weiterbildung für leitende Funktionen mit mindestens 460 Stunden vorweisen können (vgl. zu den Details §-1 HKP-Rahmenempfehlung 327 ). 328 ➤ Gegenbeispiel Ein Rettungsassistent kann nicht als Pflegefachkraft tätig sein. Die Ausbildung gilt nicht als pflegerische Ausbildung, die für die häusliche Krankenpflege notwendig ist. Die spezifischen Fähigkeiten, wie z. B. Reanimation oder Aufrechterhalten von Vitalfunktionen, kommen in der häuslichen Krankenpflege eher selten zur Anwendung. 329 Innerhalb der gesetzlichen Vorgabe, dass der Pflegedienst eine leistungsgerechte und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten zu gewährleisten hat, darf die vertrags‐ schließende Krankenkasse weitere vom Pflegedienst zu erfüllenden qualitativen, per‐ sonellen und sachlichen Anforderungen definieren, weil sie den Sicherstellungsauftrag bzgl. der häuslichen Krankenpflege hat. 330 Dagegen darf die Krankenkasse den Ab‐ schluss des Vertrages nicht wegen eines fehlenden Bedarfs ablehnen, weil eine Bedarfs‐ prüfung gesetzlich nicht vorgesehen ist. 331 Der Vertrag über die häusliche Krankenpflege regelt die Berechtigung und Verpflich‐ tung des Pflegedienstes zur Versorgung der gesetzlich Versicherten sowie weitere Einzelheiten der Leistungserbringung, wie z. B. Anforderungen an das Qualitätsma‐ nagement, Fortbildungspflichten des Pflegedienstes, Datenschutz, Vergütung, Abrech‐ nungsmodalitäten. Alternativ zur Einzelvereinbarung zwischen Krankenkasse und Pflegedienst sind Vereinbarungen zwischen den Ersatzkassen, Landesverbänden der Krankenkassen und den Verbänden der Leistungserbringer weit verbreitet. Diese Kollektivvereinbarungen sind zwar im Gesetzeswortlaut nicht erwähnt. Dennoch sind sie nach der Rechtspre‐ chung des BSG aus Gründen der Praktikabilität und der Verwaltungsvereinfachung zulässig. 332 Die Kollektivverträge werden für die Krankenkassen und Pflegedienste durch Beitritt zum Vertrag oder durch eine entsprechende Verbandsmitgliedschaft verbindlich. 2.6 Pflegedienste 213 <?page no="214"?> Wenn die außerklinische Intensivpflege erbracht werden soll, benötigt der Pflege‐ dienst zudem einen Versorgungsvertrag nach § 132l SGB V mit den Landesverbänden der Krankenkassen und den Ersatzkassen gemeinsam. In diesem Vertrag sind neben der Leistungsberechtigung und -erbringung die Vergütung und deren Abrechnung zu regeln. - 2.6.3.5 Pflegesatz und Pflegesatzvereinbarung nach dem SGB XI Der Pflegedienst erhält für seine Pflegeleistungen, die er für den Pflegebedürftigen in dessen häuslichen Bereich erbringt, eine Pflegevergütung, auch als Pflegesätze bezeichnet. Die nach § 90 SGB XI mögliche Gebührenordnung ist bislang nicht erlassen worden. Somit muss die Pflegevergütung zwischen dem Träger des Pflegedienstes und den Kostenträgern, ● den Pflegekassen oder ihren gebildeten Arbeitsgemeinschaften, ● sonstigen Sozialversicherungsträgern (z. B. Berufsgenossenschaft) oder ihren gebildeten Arbeitsgemeinschaften und ● den Sozialhilfeträgern, die für die Pflegebedürftigen zuständig sind, oder deren Arbeitsgemeinschaften vereinbart werden. Die Kostenträger sind jedoch nur dann Vertragspartei, wenn auf sie im Jahr vor der Pflegesatzverhandlung 5 % der vom Pflegedienst betreuten Personen entfallen (§ 89 Abs. 2 S. 1 SGB XI). Damit soll eine zu große Anzahl der Verhandlungs‐ partner vermieden werden. Der Vertragsschluss setzt aufseiten der Kostenträger keine Einigkeit, sondern eine mehrheitliche Entscheidung voraus (§ 89 Abs. 3 S. 3, § 85 Abs. 4 S. 1 SGB XI). Die Pflegesätze können auch von einer Pflegesatzkommission festgelegt werden, die von den Landesverbänden der Pflegekassen, dem Verband der privaten Krankenversicherung e. V., dem zuständigen Träger der Sozialhilfe und der Vereinigungen der Pflegeheimträger im Land gebildet wird (§-86, § 89 Abs. 3 S.-3 SGB XI). Die Pflegesätze werden schriftlich und im Voraus, also vor der jeweiligen Wirtschafts‐ periode, vereinbart (§ 89 Abs. 3 S. 3, § 85 Abs. 3 S. 1, Abs. 4 S. 2 SGB XI). Sie gelten, wenn nichts anderes vereinbart wird, nur für den Einzugsbereich, für den der Pflegedienst einen Versorgungsauftrag hat (§ 89 Abs. 2 S. 2 SGB XI). Die Pflegesätze müssen lt. § 89 Abs. 1 S. 2, 3 SGB XI leistungsgerecht und so bemessen sein, dass der Pflegedienst bei wirtschaftlicher Betriebsführung seinen Versorgungsauftrag erfüllen, seine Aufwendungen für Personalkosten, inkl. Ausbildungsvergütung gem. § 82a SGB XI, für Sachkosten, wie z. B. medizinische Geräte, finanzieren sowie einen Gewinn erzielen kann. Es besteht jedoch kein Selbstkostendeckungsprinzip. Der Pflegedienst hat keinen Anspruch darauf, dass alle Betriebskosten refinanziert werden. Eine un‐ wirtschaftliche Betriebsführung kann zu nicht gedeckten Kosten und somit letztlich zu einem unternehmerischen Verlust führen. Wenn das Personal nach Tarifvertrag (inkl. der kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen) entlohnt wird, so gilt dies wie im stationären Bereich kraft Gesetzes als wirtschaftlich (vgl. im Übrigen Abschnitt 2.5.2.4 214 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="215"?> 333 Vgl. Übersicht über vereinbarte ambulante Leistungskomplexe in den Ländern (Stand: 1.7.2021) als Downloadmaterial zum 7. Bericht der Bundesregierung über die Entwicklung der Pflegeversicherung und den Stand der pflegerischen Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland: Berichtszeit‐ raum 2016-2019, https: / / www.bundesgesundheitsministerium.de/ fileadmin/ Dateien/ 3_Downloads / P/ Pflegebericht/ siebter_pflegebericht_anlage_7_ambulante_leistungskomplexe_bf.pdf (Abruf am 13.5.2022). zu den gesetzlichen Vorgaben der Bemessung der Vergütung). Das Gesetz lässt mehrere Vergütungsmodelle zu: Abb. 37: Gesetzlich zugelassene Vergütungsmodelle Vergütung für … als Einzelleistung als Komplexleistung (zusammengefasste Einzelleistungen) aufwandsabhängig Pauschale zeitunabhängig abhängig vom Zeitaufwand des Pflegeeinsatzes abhängig vom Zeitaufwand des Pflegeeinsatzes zeitunabhängig … Pflegleistung … Fahrtkosten, Behördengänge, hauswirtschaftliche Versorgung Abbildung 36: Gesetzlich zugelassene Vergütungsmodelle Für die häusliche Pflegehilfe haben sich die zeitunabhängigen Leistungskomplexe, bei denen Einzelleistungen zusammengefasst werden, bundesweit durchgesetzt. 333 ➤ Beispiel │ kleine und große Körperpflege Leistungskomplex „Große Körperpflege“ in Baden-Württemberg: Transfer aus dem Bett/ ins Bett; Aus-/ Ankleiden, Waschen (im Bett oder am Waschbecken)/ Duschen/ Baden (umfasst ggf. Haarwäsche), Mund- und Zahn‐ pflege, Zahnprothesenpflege einschließlich Parotitis- und Soorprophylaxe, Haut‐ pflege, Kämmen, Herrichten einer einfachen Tagesfrisur, Rasieren, Bett ma‐ chen/ richten 2.6 Pflegedienste 215 <?page no="216"?> 334 Siehe Anlage 1a des Rahmenvertrages über ambulante pflegerische Versorgung gem. § 75 Abs. 1 SGB XI für das Land Baden-Württemberg v. 9.12.2016, https: / / www.vdek.com/ LVen/ BAW/ Service/ Pflegeversich erung/ Ambulante_Pflege/ _jcr_content/ par/ download_8/ file.res/ 2017-02-0110%20Rahmenvertrag%20AP %20mit%20Unterschriftenhinweis.pdf (Abruf am 22.2.2018). 335 Vgl. BSG, Urt. v. 25.11.2010, B 3 KR 1/ 10 R, NJOZ 2011, 1659 ff. [1664]. 336 Vgl. BSG, Urt. v. 17.7.2008, B 3 KR 23/ 07 R, NJOZ 2009, 1895 ff. [1900]; BSG, Urt. v. 25.11.2010, B 3 KR 1/ 10 R, NJOZ 2011, 1659 ff. [1664]. Leistungskomplex „Kleine Körperpflege“ in Baden-Württemberg: Transfer aus dem Bett/ ins Bett, An-/ Auskleiden, Teilwäsche (im Bett oder am Waschbecken), Mund- und Zahnpflege, Zahnprothesenpflege einschließlich Pa‐ rotitis- und Soorprophylaxe, Hautpflege, Bett machen/ richten 334 Je nach Bundesland ist als Vergütung eines Leistungskomplexes entweder ein Eurobe‐ trag oder eine Punktzahl vorgesehen, die mit einem Punktwert in Euro zu multiplizie‐ ren ist (Beispiel: 300 Punkte x 4,3 Cent Punktwert = 1.290 Cent = 12,90 Euro). Daneben gibt es Leistungen, die pauschal vergütet werden, wie z.-B. die Wegepauschale. Wie im stationären Bereich besteht für den Fall, dass sich die Pflegesatzparteien nicht einigen, die Möglichkeit, die im Bundesland errichtete Schiedsstelle anzurufen (§-89 Abs.-3 S.-3, § 85 Abs. 5, § 76 SGB XI). Da die Pflegeversicherung nicht die gesamten Kosten der häuslichen Pflegehilfe übernimmt, müssen sich die Pflegebedürftigen an den Pflegesätzen beteiligen. Der Eigenanteil ergibt sich aus der Differenz zwischen dem für den jeweiligen Pflegegrad vereinbarten Pflegesatz und den Leistungen, die die Pflegekasse gem. §§ 36, 38a, 39 SGB XI erbringt. - 2.6.3.6 Vergütung der häuslichen Krankenpflege nach § 37 SGB V Nach dem Wortlaut des Gesetzes ist die Vergütung zwischen dem Pflegedienst und der Krankenkasse zu vereinbaren (§ 132a Abs. 2 S. 1 SGB V). Für derartige Einzelverträge gilt, dass die Vergütung so bemessen sein muss, dass die Leistungsfähigkeit des Pflegedienstes bei wirtschaftlicher Betriebsführung gesichert ist. Hierbei kommt wie bei den Pflegesätzen nach dem SGB XI das zweistufige Prüfschema zur Anwendung: Plausibilität der voraussichtlichen Kosten sowie anschließender externer Vergleich der Kostenansätze mit denen anderer Pflegedienste. 335 In der bundesweiten Praxis dominieren jedoch die Vergütungsvereinbarungen zwischen den Ersatzkassen, Landesverbänden der Krankenkassen und den Verbänden der Leistungserbringer. Diese Kollektivvereinbarungen sind zwar im Gesetzeswortlaut nicht erwähnt. Dennoch sind sie nach der Rechtsprechung des BSG aus Gründen der Praktikabilität und der Verwaltungsvereinfachung zulässig. 336 In diesen Vereinbarun‐ gen werden Vergütungen für Einzelleistungen (z. B. Injektion und Verbandwechsel) oder für Gruppen von Einzelleistungen sowie Wegepauschalen vereinbart. Hierbei gilt ebenfalls, dass die Vergütung die Leistungsfähigkeit der Pflegedienste bei wirtschaft‐ licher Betriebsführung gewährleisten muss und der Grundsatz der Beitragsstabilität 216 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="217"?> 337 Vgl. BSG, Urt. v. 23.6.2016, B 3 KR 25/ 15 R, BeckRS 2016, 73673 und B 3 KR 26/ 15 R, BeckRS 2016, 73373. 338 Vgl. Maßstäbe und Grundsätze für die Qualität und Qualitätssicherung sowie für die Entwicklung eines einrichtungsinternen Qualitätsmanagements nach § 113 SGB XI in der ambulanten Pflege v. 27.5.2011, https: / / www.gkv-spitzenverband.de/ pflegeversicherung/ richtlinien_vereinbarungen_for mulare/ richtlinien_vereinbarungen_formulare.jsp (Abruf am 4.4.2022). gem. § 71 Abs. 1 S. 1 SGB V zu beachten ist. Allerdings ist der externe Vergleich nicht gleichermaßen zu übertragen, weil für die kollektivvereinbarte Vergütung nicht der einzelne Pflegedienst maßgeblich sein kann. Vielmehr sollen die Vertragspar‐ teien wegen der Vielfalt der Pflegedienste (unterschiedliche Versorgungsbereiche, Betriebsgrößen, Personalstrukturen etc.) ihrer Vergütungsbemessung die Betriebs- und Kostenstruktur einer repräsentativen Anzahl von Pflegediensten zugrunde legen. 337 Diese Kollektivvereinbarungen werden für die Krankenkasse und den Pflegedienst entweder durch eine Mitgliedschaft des vertragsschließenden Verbandes oder durch eine Beitrittserklärung zur Vereinbarung verbindlich. Die Vergütung erhält der Pflegedienst von der Krankenkasse des gepflegten Versi‐ cherten. Wenn der Versicherte volljährig ist, muss er bis zu 28 Tage eine Zuzahlung in Höhe von 10 % der Kosten der Krankenkasse sowie 10,- Euro je Verordnung leisten (§-37 Abs.-5, §-61 S.-3 SGB V). Die Vergütung für die außerkliniche Intensivpflegeunterliegt gem. § 132l SGB V der Verhandlung mit den Landesverbänden der Krankenkassen und den Ersatzkassen. - 2.6.3.7 Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung Der Pflegedienst ist für die Qualität seiner Dienstleistungen in der Pflege, Betreuung und hauswirtschaftlichen Versorgung verantwortlich. Er muss für eine ausreichende Ergebnisqualität (Wirksamkeit der Pflege- und Betreuungsmaßnahmen und Zufrieden‐ heit des Pflegebedürftigen), Prozessqualität (Organisation, Durchführung und Doku‐ mentation der Pflege- und Betreuungsmaßnahmen) sowie Strukturqualität (personelle und sachliche Ausstattung sowie Aufbauorganisation des Dienstes) sorgen. Zur Steuerung der Qualität seiner Dienstleistungen hat er ein Qualitätsmanagement‐ system zu betreiben (§ 112 Abs. 2, § 113 SGB XI). Ein Qualitätsmanagement umfasst alle Maßnahmen der Organisationsentwicklung, die darauf angelegt sind, die Leistun‐ gen des Pflegedienstes zu sichern und weiterzuentwickeln. Es handelt sich um ein systematisches Vorgehen, um Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität der Leistungen gezielt zu beeinflussen. Näheres zur Pflegequalität und zu den Anforderungen an das Qualtitäsmanagement regeln die auf Bundesebene vereinbarten Maßstäben und Grundsätzen für die ambulante Pflege. 338 Ferner hat der Pflegedienst ebenso wie ein Pflegeheim bestehende Expertenstandards gem. § 113a SGB XI anzuwenden. Die diesbezüglichen Ausführungen des Abschnitts 2.5.2.5 gelten für ihn ebenfalls. Die Einhaltung der Leistungs- und Qualitätsmerkmale durch den Pflegedienst unterliegt der Qualitätsprüfung, an denen der Pflegedienst mitwirken muss (§ 112 2.6 Pflegedienste 217 <?page no="218"?> 339 Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes (als Spitzenverband Bund der Pflegekassen) über die Prüfung der in Pflegeeinrichtungen erbrachten Leistungen und deren Qualität nach § 114 SGB XI (Qualitäts‐ prüfungs-Richtlinien - QPR Ambulante Pflege) v. 18.12.2019, https: / / www.gkv-spitzenverband.de/ p flegeversicherung/ richtlinien_vereinbarungen_formulare/ richtlinien_vereinbarungen_formulare.js p (Abruf am 4.4.2022). 340 Vereinbarung nach § 115 Abs. 1a Satz 8 SGB XI über die Kriterien der Veröffentlichung sowie die Bewertungssystematik der Qualitätsprüfungen nach § 114 Abs. 1 SGB XI von ambulanten Pflegediensten v. 7.12.2015, https: / / www.gkv-spitzenverband.de/ pflegeversicherung/ richtlinien_ver einbarungen_formulare/ richtlinien_vereinbarungen_formulare.jsp (Abruf am 4.4.2022). Abs. 2 SGB XI). Die Prüfungen werden vom Medizinischen Dienst sowie im Umfang von 10 % vom Prüfdienst des Verbandes der privaten Krankenversicherung durchgeführt und erfolgen als Regel-, Anlass- oder Wiederholungsprüfung (vgl. insoweit Abschnitt 2.5.2.5). Die näheren Einzelheiten zur Durchführung der Qualitätsprüfungen sind in den Qualitätsprüfungs-Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes 339 verankert. Über die Ergebnisse der Prüfungen werden die Landesverbände der Pflegekassen, der zuständige Sozialhilfeträger sowie die Heimaufsichtsbehörde informiert (§ 115 Abs. 1 SGB XI). Die Landesverbände der Pflegekassen veranlassen zur Information der Pflege‐ bedürftigen und ihrer Angehörigen die Veröffentlichung der von der Pflegeeinrichtung erbrachten Leistungen in vier Qualitätsbereichen: ● pflegerische Leistungen, ● ärztliche verordnete pflegerische Leistungen, ● Dienstleistung und Organisation, ● Befragung der Pflegebedürftigen (vgl. § 115 Abs. 1a SGB XI, Pflege-Transparenzvereinbarung ambulant 340 ). Soweit bei den Prüfungen Qualitätsmängel festgestellt werden, erlassen die Landes‐ verbände der Pflegekassen gem. § 115 Abs. 2 SGB XI Anordnungen zur Beseitigung der Mängel und setzen eine Frist zur Mängelbeseitigung. Wenn der Pflegedienst der angeordneten Mängelbeseitigung nicht fristgerecht nachkommt, können die Landes‐ verbände den Versorgungsvertrag gem. § 115 Abs. 2 S. 2, § 74 SGB XI kündigen. Des Weiteren kommt eine Kürzung der Pflegevergütung gem. § 115 Abs. 3 SGB XI in Betracht. Bei schwerwiegenden Mängeln kann die zuständige Pflegekasse dem Pflegedienst vorläufig untersagen, den Pflegebedürftigen zu versorgen, und dem Pflegebedürftigen einen anderen Pflegedienst vermitteln (§ 115 Abs. 5, 6 SGB XI). Im Übrigen macht sich der Pflegedienst ggf. gegenüber dem Pflegebedürftigen gem. § 115 Abs. 3 S.-7 SGB XI, §-280 Abs. 1, § 823 BGB schadenersatzpflichtig. Aber auch ohne mangelhafte Leistungen kann ein fehlendes Engagement eines Pfle‐ gedienstes im Qualitätsbereich zur Kündigung des Versorgungsvertrages führen. Die Anwendung der Expertenstandards, das Betreiben eines Qualitätsmanagements und die Ermöglichung der externen Qualitätsprüfungen sind nicht nur Voraussetzung für den Abschluss des Versorgungsvertrages, sondern auch für dessen Aufrechterhaltung (§ 72 Abs. 3, § 74 Abs. 1 S. 1 SGB XI). Das bedeutet, dass bei fehlendem Engagement des Pflegedienstes im Qualitätsbereich die Landesverbände der Pflegekassen den 218 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="219"?> 341 Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes (als Spitzenverband Bund der Pflegekassen) über die Prüfung der in Pflegeeinrichtungen erbrachten Leistungen und deren Qualität nach § 114 SGB XI (Qualitäts‐ prüfungs-Richtlinien - QPR Ambulante Pflege) v. 18.12.2019, https: / / www.gkv-spitzenverband.de/ p flegeversicherung/ richtlinien_vereinbarungen_formulare/ richtlinien_vereinbarungen_formulare.js p (Abruf am 4.4.2022). 342 Richtlinie des GKV-Spitzenverbandes nach § 282 Abs. 2 Satz 3 SGB V über die Durchführung und den Umfang von Qualitäts- und Abrechnungsprüfungen gemäß § 275b SGB V von Leistungserbringern mit Verträgen nach § 132a Abs. 4 SGB V (Qualitätsprüfungs-Richtlinie häusliche Krankenpflege - QPR-HKP) v. 18.12.2019, https: / / www.gkv-spitzenverband.de/ krankenversicherung/ ambulante_leis tungen/ haeusliche_krankenpflege/ haeusliche_krankenpflege_1.jsp (Abruf am 4.4.2022). 343 Vgl. Siebter Bericht der Bundesregierung über die Entwicklung der Pflegeversicherung und den Stand der pflegerischen Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland, S.-63, https: / / www.bundesgesundheitsministerium.de/ fileadmin/ Dateien/ 3_Downloads/ P/ Pflegebericht/ S iebter_Pflegebericht_barrierefrei.pdf (Abruf am 13.5.2022). Vertrag kündigen können und der Pflegedienst damit seine Zulassung zur Versorgung gesetzlich Versicherter verlieren würde. Die für die Pflegedienste geltenden Regelungen zum Qualitätsmanagement und zur Qualitätsprüfung sind nach Maßgabe des § 112a SGB XI auf Betreuungsdienste ebenfalls anzuwenden. Die o. g. Qualitätsprüfungs-Richtlinien für die ambulante Pflege 341 enthalten einen Teil 1b, der die Prüfung der Qualität der Betreuungsdienste regelt. Von der Qualitätsberichterstattung sind die Betreuungsdienste jedoch vorerst ausgenommen. Wenn ein Pflegedienst ausschließlich Leistungen der häuslichen Krankenpflege nach § 37 SGB V oder außerklinische Intensivpflege nach § 37c SGB V erbringt, unterliegt er ebenfalls den Regel-, Anlass- und Wiederholungsprüfungen. Die Rechtsgrundlage dafür bilden § 275b SGB V, der im weiten Umfang auf die §§ 114, 114a SGB XI verweist, sowie die Qualitätsprüfungs-Richtlinie häusliche Krankenpflege. 342 . 2.6.4 Öffentliche Investitionsförderung Die Investitionsaufwendungen eines Pflegedienstes - wie z. B. für den Bau, den Erwerb oder das Mieten eines Betriebsgebäudes oder der Fahrzeuge - sind je nach landesrechtlicher Regelung durch öffentliche Mittel förderfähig. Die Bundesländer sind im Rahmen der Daseinsvorsorge für ihre Bürger für das Vorhandensein ausreichender Pflegedienste verantwortlich, so dass die Planung und Förderung der Einrichtungen zu ihren Aufgaben gehören (Art. 30, 70 Abs. 1 GG, § 9 SGB XI). Allerdings erfolgt die Förderung der Pflegedienste nur in wenigen Bundesländern. In 2017 und 2018 wurden in vier, in 2019 in drei Bundesländern die Investitionskosten in der ambulanten Pflege gefördert. 343 Die im Abschnitt 2.5.3 erläuterten Grundsätze für die öffentliche Förderung der Pflegeheime gelten für die Pflegedienste ebenfalls, so dass hier auf die Ausführungen in dem genannten Abschnitt verwiesen wird. 2.6 Pflegedienste 219 <?page no="220"?> 2.6.5 Leistungen des Pflegedienstes im System der Sozialhilfe Die Hilfe zur Pflege nach den §§ 61 ff. SGB XII umfasst auch Leistungen der häuslichen Pflege durch den Pflegedienst. Die Hilfeleistungen werden durch den Sozialhilfeträger erbracht, soweit kein anderer Leistungsträger - wie z. B. eine Pflegekasse oder ein privates Versicherungsunternehmen - für die Versorgung des Pflegebedürftigen aufkommt und dieser seine Versorgung nicht mit eigenen Mitteln sicherstellen kann. Zur Erfüllung seiner Aufgaben soll der Sozialhilfeträger keine eigenen Einrichtungen schaffen, sondern mit vorhandenen geeigneten Einrichtungen Verträge gem. den §§ 75-81 SGB XII schließen. Diese Paragraphen gelten gem. § 75 Abs. 1 S. 2 SGB XII grundsätzlich auch für Pflegedienste, so dass die im Abschnitt 2.5.4 gemachten Ausführungen für die Rechtsbeziehungen des Pflegedienstes zum Sozialhilfeträger ebenfalls gelten. 2.6.6 Rechtsverhältnis zum Pflegebedürftigen Die juristische Einordnung des Rechtsverhältnisses zum Pflegebedürftigen hängt davon ab, ob der Pflegedienst häusliche Pflegehilfe (dann Pflegevertrag) oder häusliche Krankenpflege (dann Behandlungsvertrag) erbringt. Hinsichtlich der häuslichen Pflegehilfe wird die rechtliche Beziehung zwischen dem Pflegedienst und dem Pflegebedürftigen als Pflegevertrag bezeichnet. Der Pflegevertrag ist in § 120 SGB XI geregelt. Die Vorschriften des BGB, insbesondere die §§ 611 ff. BGB, finden ergänzend Anwendung. Gegenstand des Vertrages ist die entgeltliche Pflege und hauswirtschaftliche Versorgung des Pflegebedürftigen (siehe Abschnitt 2.6.3.2). Die im Einzelfall geschuldeten Leistungen hängen von der Art und Schwere der Pflegebedürftigkeit des Kunden ab. Damit sich der Pflegebedürftige über die Leistungen und Preise der Pflegedienste informieren kann, hat die Pflegekasse ihm auf Anforderung eine Leistungs- und Preisvergleichsliste zu übermitteln (§ 7 Abs. 3 S.-1 SGB XI). Der Pflegevertrag kommt entweder gem. §§ 145 ff. BGB durch eine Vereinbarung vor Beginn der Pflege oder spätestens konkludent mit dem ersten Pflegeeinsatz zustande (vgl. auch § 120 Abs. 1 S. 1 SGB XI). Der Vertrag muss mindestens die Art, den Inhalt und Umfang der Leistungen einschließlich der dafür mit den Kostenträgern vereinbarten Vergütungen, und zwar gesondert für jede Leistung oder jeden Leistungskomplex, enthalten (§ 120 Abs. 2 S. 1, Abs. 3 S. 1 SGB XI). Die Pflegekasse kann die Vorlage einer Vertragsausfertigung verlangen (§ 120 Abs. 2 S. 1 SGB XI). Ebenso hat der Pflegedienst die Pflegekasse zu informieren, wenn sich die Pflegebedürftigkeit des Kunden wesentlich verschlechtert oder verbessert (§-120 Abs. 1 S.-2 SGB XI). Der Pflegedienst rechnet seine Leistungen unmittelbar gegenüber der Pflegekasse ab, bei der der Kunde versichert ist. Die Höhe der Vergütung ergibt sich aus der Pflegesatzvereinbarung, vgl. dazu Abschnitt 2.6.3.6. Für die Vergütung, die über die Leistungen der Pflegekasse nach dem SGB XI hinausgehen, muss der Kunde selbst aufkommen (§ 120 Abs. 4 S.-2 SGB XI). 220 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="221"?> 344 RegE des Gesetzes zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten, BTag-Drucks. 17/ 10488 S.-17. ➤ Beispiel Der Vergütungsanspruch des Pflegedienstes beläuft sich für die erbrachten Leis‐ tungen auf monatlich 1.000,- Euro. Der Kunde/ Versicherte ist ein Pflegebedürfti‐ ger des Pflegegrades 2. Die Pflegekasse zahlt monatlich 724,- Euro. Den darüber hinausgehenden Betrag von 276,- Euro muss der Kunde selbst zahlen. Die Kunden, die nicht gesetzlich versichert sind, bezahlen die gesamte Vergütung an den Pflegedienst und erhalten im Rahmen ihrer Pflegepflichtversicherung eine Erstattung ihres Versicherungsunternehmens, vgl. Abschnitt 3.2.6.1. Der Pflegebedürftige kann den Vertrag jederzeit ohne Einhaltung einer Frist kündi‐ gen (§ 120 Abs. 2 S. 2 SGB XI). Für den Pflegedienst gelten die Kündigungsfristen, die vertraglich vereinbart worden sind, oder die des § 621 BGB. Der Vertrag zwischen dem Pflegedienst und dem Kunden über die häusliche Kran‐ kenpflege stellt einen Behandlungsvertrag nach §§ 630a ff. BGB dar. Dieser Vertragstyp umfasst nicht nur die ärztliche Behandlung, sondern „sämtliche Maßnahmen und Eingriffe am Körper eines Menschen, um Krankheiten, Leiden, Körperschäden, kör‐ perliche Beschwerden oder seelische Störungen nicht krankhafter Natur zu verhüten, zu erkennen, zu heilen oder zu lindern“ 344 . Da die Leistungen der häuslichen Kranken‐ pflege - z. B. Injektion, Verbandwechsel, Stoma- oder Dekubitusbehandlung - auf den Krankheitsverlauf Einfluss nehmen, gehören sie zur medizinischen Behandlung i. S. d. § 630a Abs. 1 BGB. Näheres zum Behandlungsvertrag finden Sie in den Abschnitten 2.1.4 und 2.3.3. ❋ Wichtige Schlagwörter ❋ Häusliche Krankenpflege ❋ Häusliche Pflegehilfe ❋ Pflegedienst ❋ Pflege‐ sätze ❋ Pflegevertrag ✎ Wiederholungsaufgaben 1. Benennen Sie die pflegerischen Tätigkeiten, die nach dem PflBG dem Pflege‐ fachmann vorbehalten sind. 2. Erläutern Sie a. die Vertragsparteien, b. die Voraussetzungen für den Abschluss sowie ❋ Wichtige Schlagwörter 221 <?page no="222"?> 345 HwO i. d. F. d. Bek. v. 24.9.1998, BGBl. I S.-3074; 2006 I S.-2095, z. g. d. G v. 28.3.2021, BGBl. I S.-591. 346 HilfsM-RL v. 21.12.2011/ 15.3.2012, BAnz AT 10.04.2012, B2, z. g. a. 18.3.2021, BAnz AT 15.4.2021 B3. 347 Verordnung (EU) 2017/ 745 über Medizinprodukte, zur Änderung der Richtlinie 2001/ 83/ EG, der Verordnung (EG) 178/ 2002 und der Verordnung (EG) 1223/ 2009 und zur Aufhebung der Richtlinien 90/ 385/ EWG und 93/ 42/ EWG v. 5.4.2017, ABl. L 117 S.-1. 348 Medizinprodukterecht-Durchführungsgesetz v. 28.4.2020, BGBl. I S. 960, z. g. d. G. v. 12.5.2021, BGBl. I S.-1087. c. die Wirkungen des Versorgungsvertrages, durch den der Träger eines Pflegedienstes zur pflegerischen Versorgung der gesetzlich Versicherten zugelassen wird. 3. Erläutern Sie die Grundsätze für die Bemessung der Pflegesätze eines Pflege‐ dienstes in der sozialen Pflegeversicherung. 4. Erläutern Sie die Vertragsbeziehungen eines Pflegedienstes zum Pflegebedürf‐ tigen, wenn er a. häusliche Krankenpflege, b. häusliche Pflegehilfe erbringt. ➤ Lösungen im Web-Service. 2.7 Gesundheitshandwerker ➤ Lernhinweis Die nachfolgenden Erläuterungen werden Sie besser verstehen, wenn Sie die ange‐ gebenen Paragrafen der nachfolgenden Rechtsvorschriften parallel zum Lehrbuch lesen: Gewerbeordnung (GewO), Handwerksordnung (HwO) 345 , Heilpraktikergesetz (HeilprG), Richtlinie des GBA über die Verordnung von Hilfsmitteln in der vertragsärztlichen Versorgung (HilfsM-RL) 346 , Verordnung (EU) 2017/ 745 über Medizinprodukte (MDR) 347 , Medizinproduktedurchführungsgesetz (MPDG) 348 , So‐ zialgesetzbuch 5. Buch (SGB V), 11. Buch (SGB XI). 2.7.1 Einführung Zur Krankenbehandlung eines Patienten gehört auch die Versorgung mit Sachen wie Brillen, Hörgeräten, Prothesen, orthopädischem Schuhwerk, Rollstühlen, Pflegebetten, Dekubitusmatratzen, Inkontinenzhilfen etc. Diese werden versicherungsrechtlich un‐ ter dem Begriff der Hilfsmittel zusammengefasst (siehe Abschnitte 2.7.5.1, 2.8.10 und 2.8.11). In anderen Zusammenhängen - insbesondere im Hinblick auf die Herstellung, 222 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="223"?> das Inverkehrbringen und die Anwendung - werden sie als Medizinprodukte bezeich‐ net (siehe Abschnitte 2.7.4 und 2.8.). Beide Begriffe sind jedoch nicht deckungsgleich: Nicht jedes Hilfsmittel ist ein Medizinprodukt (ein Blindenhund z.-B. nicht) und nicht jedes Medizinprodukt ist ein Hilfsmittel. Näheres dazu werden Sie in den Abschnitten 2.8 (handwerklich hergestellte Medizinprodukte/ Hilfsmittel) und 2.9 (industriell her‐ gestellten Medizinprodukte/ Hilfsmittel) kennenlernen. 2.7.2 Bedeutung des Gewerbe- und Handwerksrechts - 2.7.2.1 Eintragung in die Handwerksrolle als Zugangsvoraussetzung Die Marktwirtschaft der Bundesrepublik wird u. a. von der Gewerbefreiheit geprägt, die in § 1 GewO geregelt ist. Nach dieser Vorschrift darf grundsätzlich jeder gewerblich tätig sein. Dieser Grundsatz darf nur durch Gesetz oder auf der Basis einer gesetzlichen Grundlage eingeschränkt werden. Derartige Einschränkungen finden sich zum einen in der GewO, wie z. B. für Krankenhäuser (vgl. Abschnitt 2.2.2). Zum andern stellt die HwO, die ein Spezialgesetz zur Gewerbeordnung ist, Anforderungen für die Berechtigung zur Ausübung eines Handwerks auf. So dürfen bestimmte Handwerke gem. § 1 Abs. 1 HwO nur ausgeübt werden können, wenn der Unternehmer in die Handwerksrolle eingetragen ist. ❋ Wissen │-Handwerksrolle Die Handwerksrolle wird von der jeweils örtlich zuständigen Handwerkskammer geführt. Sie ist ein Verzeichnis, in dem die Inhaber von Betrieben zulassungspflich‐ tiger Handwerke des Bezirks der Handwerkskammer eingetragen sind (§ 6 Abs. 1 HwO). Welche Daten des Inhabers und des Betriebs einzutragen sind, regelt der Abschnitt I der Anlage D der HwO. Die Frage, wer in die Handwerksrolle eingetragen werden kann, regeln die §§ 7 bis 8 HwO. ✎ Aufgaben Konrad Klug e. K. hat im Bereich Augenoptik die Gesellenprüfung erfolgreich abgelegt, jedoch sein Ingenieurstudium ohne Abschluss beendet. Um seinen Lebensunterhalt zu sichern und richtig reich zu werden, möchte er ab 01.04. in Wolfsburg unter seinem Namen einen Brilleneinschleifbetrieb eröffnen und betreiben, in dem er auf Bestellung anderer Augenoptiker Gläser einschleift und in Brillenfassungen einsetzt. Sein Leistungsspektrum soll insbesondere folgende Tätigkeiten umfassen: 2.7 Gesundheitshandwerker 223 <?page no="224"?> ● Beschaffung des Rohglases, ● Bestimmung des Rohglasdurchmessers und Prüfung des Rohglases auf Ober‐ flächenbeschaffenheit, Transparenz, Brechwert etc., ● Anzeichnen des Rohglases und Einschleifen der Gläser, ● Vorbereitung der Brillenfassungen zur Glasmontage, ● Einsetzen des Brillenglases in die Fassung und Richten der Brille, ● Prüfung auf spannungsfreien Sitz des Glases und Prüfung der hergestellten Brille nach den Zentrierdaten und DIN-Normen. Klug e. K. hat bereits Susi Schlau, die vor drei Jahren ihre Meisterprüfung im Augenoptikerhandwerk bestanden hat, als Betriebsleiterin gewonnen. Beide haben einen entsprechenden Arbeitsvertrag geschlossen; die Arbeitsaufnahme soll am 01.04. erfolgen. Darüber hinaus plant Klug e. K. die Beschäftigung eines Auszubild‐ enden. Zudem hat er bereits den Mietvertrag über die Räume unterschrieben sowie die nötige Betriebsausstattung, vor allem modernste Maschinen, erworben. Muss sich Klug e. K. in die Handwerksrolle eintragen lassen? Wenn ja, liegen die Voraussetzungen für seine Eintragung in die Handwerksrolle vor? Begründen Sie Ihre Antworten. ➤ Lösungen im Web-Service. Nach § 1 Abs. 1 HwO ist der selbständige Betrieb eines zulassungspflichtigen Hand‐ werks als stehendes Gewerbe nur den in der Handwerksrolle eingetragenen natürli‐ chen und juristischen Personen und Personengesellschaften gestattet. Daraus lässt sich ableiten, dass die Eintragung in die Handwerksrolle notwendig ist, wenn folgende drei Voraussetzungen erfüllt sind: 1. Voraussetzung: Die natürliche oder juristische Person oder Personengesellschaft ist selbständig tätig. Anhand dieses Merkmals erfolgt die Abgrenzung zum Arbeit‐ nehmer, der nicht in die Handwerksrolle eingetragen werden muss. Selbständig ist derjenige tätig, der das Handwerk in seinem Namen für eigene Rechnung und in eigener Verantwortung betreibt. 2. Voraussetzung: Es wird ein zulassungspflichtiges Handwerk betrieben. Diese Voraussetzung wird von zwei Aspekten geprägt, und zwar von der Handwerksfähigkeit und Handwerksmäßigkeit: ● Handwerksfähig sind die Gewerbe, die in der Anlage A der HwO aufgezählt sind. Dazu gehören u. a. Augenoptiker (Nr. 33 der Anlage A), Hörakustiker (Nr. 34), Orthopädietechniker (Nr. 35), Orthopädieschuhmacher (Nr. 36). Die gewerbliche Tätigkeit ist nur zulassungspflichtig, wenn die genannten Gewerbe entweder vollständig oder im Wesentlichen ausgeübt werden (§ 1 Abs. 2 HwO). Wesentliche Tätigkeiten sind solche, „die nicht nur fachlich zu dem betreffenden Handwerk gehören, sondern gerade den Kern dieses Handwerks ausmachen und ihm sein essenzielles Gepräge geben. Arbeitsvorgänge, die aus der Sicht des 224 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="225"?> 349 BVerwG, Urt. v. 30.3.1993, 1 C 2691, BeckRS 31228050-m. w. N. 350 Augenoptikermeisterverordnung v. 29.8.2005, BGBl. I S. 2610, z. g. d. VO v. 18.1.2022, BGBl. I S. 39; Hörakustikermeisterverordnung v. 17.2.2022, BGBl. I S. 207; Orthopädiemechaniker- und Bandagistenmeisterverordnung v. 26.4.1994, BGBl. I S. 904 z. g. d. VO v. 18.1.2022, BGBl. I S. 39; Orthopädieschuhmachermeisterverordnung v. 24.6.2008, BGBl. I S. 1096, z. g. d. VO v. 18.1.2022, BGBl. I S.-39. vollhandwerklich arbeitenden Betriebes als untergeordnet erscheinen, also ledig‐ lich einen Randbereich erfassen“ 349 , gehören nicht dazu. Anhaltspunkte, welche Tätigkeiten für das jeweilige Handwerk prägend sind, gibt die jeweils einschlägige Meisterprüfungsordnung 350 . Diese regelt die Anforderungen an die Prüfung, mit der der Meisteranwärter nachweisen muss, dass er die wesentlichen Tätigkeiten seines Handwerks meisterhaft verrichten kann. Wenn der Handwerker nur unwesentliche Tätigkeiten verrichten möchte, handelt es sich nicht um ein zulassungspflichtiges Handwerk, so dass er keine Eintragung in die Handwerksrolle benötigt. Unwesentlich sind z. B. Verrichtungen, die in einem Zeitraum von bis zu drei Monaten erlernt werden können, oder die zwar eine längere Anlernzeit verlangen, aber für das Gesamtbild des betreffenden zulassungspflichtigen Handwerks nebensächlich sind und deswegen nicht die Fertigkeiten und Kenntnisse erfordern, auf die die Ausbildung in diesem Handwerk hauptsächlich ausgerichtet ist (§ 1 Abs. 2 S.-2 HwO). ● Ferner muss das Gewerbe handwerksmäßig ausgeübt werden (§ 1 Abs. 2 S. 1 HwO). Bei diesem Merkmal erfolgt die Abgrenzung zur industriellen Fertigung. Maßgeblich für die Beurteilung ist das Gesamtbild des Betriebes, das vor allem anhand folgender Kennzeichen bewertet wird: Betriebsgröße, Zahl und Qualifika‐ tion der Mitarbeiter, persönliche Mitarbeit des Betriebsinhabers, geringer Grad der Arbeitsteilung, Umfang der Einzel- und Serienproduktion, Grad der Mechani‐ sierung und Handarbeit. 3. Voraussetzung: Das Handwerk wird als stehendes Gewerbe betrieben. Als stehendes Gewerbe wird die gewerbefähige und gewerbsmäßig betriebene Tätigkeit in einer gewerblichen Niederlassung bezeichnet. ● Nicht jede berufliche Tätigkeit ist zugleich ein Gewerbe. Bestimmte Tätigkeiten gelten als nicht gewerbefähig. Zu ihnen gehören die freien Berufe (siehe Abschnitt 2.1.1.1), Wissenschaftler, Künstler, Schriftsteller sowie die Urproduktion und die bloße Verwaltung eigenen Vermögens. Dagegen sind die Gesundheitshandwerker nicht ausgenommen, sie üben eine gewerbefähige Tätigkeit aus. ● Als gewebsmäßig wird eine auf Dauer angelegte, selbständige und nicht sozial unwertige Tätigkeit mit Gewinnerzielungsabsicht bezeichnet. ● Eine Niederlassung besteht, wenn eine selbständige gewerbsmäßige Tätigkeit auf unbestimmte Zeit und mittels einer festen Einrichtung von dieser aus tatsächlich ausgeübt wird (§ 4 Abs. 3 GewO). Das Gegenstück zum stehenden Gewerbe ist das Reisegewerbe, das ohne vorhergehende Bestellung außerhalb seiner gewerblichen 2.7 Gesundheitshandwerker 225 <?page no="226"?> 351 Vgl. Knörr, Handwerksordnung, HwO § 7 Rn. 5. 352 Vgl. BVerwG, Beschl. v. 1.6.1992, 1 B 65/ 92, NVwZ-RR 1992, 547. 353 Vgl. Marcks, Landmann/ Rohmer, GewO § 35 Rn. 29. Niederlassung oder ohne eine solche zu haben ausgeübt wird (§ 55 Abs. 1 GewO). Im Hinblick auf die Gesundheitshandwerker ist zu beachten, dass der Vertrieb von Bruchbändern, medizinischen Leibbinden, medizinischen Stützapparaten und Ban‐ dagen, orthopädischen Fußstützen, Brillen und Augengläsern (mit Ausnahme der Schutzbrillen und Fertiglesebrillen), elektromedizinischen Geräten einschließlich elektronischer Hörgeräte (mit Ausnahme der Geräte mit unmittelbarer Wärmeein‐ wirkung) im Reisegewerbe verboten ist (§ 56 Abs. 1 Nr.-1d, 1 f GewO). Wenn alle drei genannten Voraussetzungen auf die natürliche oder juristische Person oder die Personengesellschaft zutreffen, muss sie in der Handwerksrolle eintragen sein, damit sie als Gesundheitshandwerker am Wirtschaftsverkehr teilnehmen kann. Dafür muss sie jedoch auch gem. §§ 7 bis 8 HwO eintragungsfähig sein. Insoweit wird verlangt, dass der Betriebsleiter die fachlichen Eintragungsvoraussetzungen erfüllt (§ 7 Abs. 1 HwO). Der Betriebsleiter ist derjenige, der für die fachliche Ausgestaltung und den technischen Ablauf des Handwerksbetriebs verantwortlich ist. 351 Das kann der Betriebsinhaber selbst oder ein angestellter Mitarbeiter sein. Er muss einen der Abschlüsse, die in den §§ 7 bis 8 HwO vorgesehen sind, nachweisen. Das sind insbesondere eine bestandene Meisterprüfung gem. § 7 Abs. 1a HwO oder eine erfolg‐ reich abgelegte gleichwertige Prüfung gem. § 7 Abs. 2 HwO (z. B. ein einschlägiger Hochschulabschluss). Des Weiteren setzt die Eintragung in die Handwerksrolle voraus, dass der Betriebsinhaber oder die mit der Leitung des Handwerkbetriebs beauftragte Person nicht unzuverlässig gem. § 35 GewO ist. 352 Unzuverlässig ist, wer nicht willens und nicht in der Lage ist, sein Gewerbe ordnungsgemäß nach Recht und Gesetz auszuüben. 353 Der Gesundheitshandwerker, der ohne die erforderliche Eintragung in die Hand‐ werksrolle tätig ist, begeht eine Ordnungswidrigkeit, die mit einer Geldbuße bis zu 10.000 Euro geahndet werden kann (§ 117 HwO). Ferner muss er damit rechnen, dass ihm seine Tätigkeit untersagt wird, dazu vgl. Abschnitt 2.7.2.3. - 2.7.2.2 Ausübung des Handwerks Der Inhaber des Handwerksbetriebs ist Mitglied der örtlich zuständigen Handwerks‐ kammer (§ 90 Abs. 2 HwO) und unterliegt deren Aufsicht. Beispielweise hat er gegenüber der Kammer gem. § 17 Abs. 1 HwO sämtliche Auskünfte zu erteilen und Dokumente vorzulegen, die zur Prüfung des Handwerksrolleneintrags notwendig sind. Dazu gehören die Betriebsstätten, seine handwerklichen Prüfungen, die Zahl der im Betrieb beschäftigten gelernten und ungelernten Personen. Wenn der Inhaber nicht selbst die Funktion des Betriebsleiters wahrnimmt, muss er auch über die handwerk‐ lichen Prüfungen des Betriebsleiters, über seine Bestellung und Abberufung sowie über die vertragliche und praktische Ausgestaltung des Betriebsleiterverhältnisses 226 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="227"?> 354 Vgl. BGH, Urt. v. 17.7.2013, I ZR 222/ 11, GRUR 2013, 1056 ff. 355 Z. B. in Niedersachsen die Landkreise, kreisfreien Städte und die großen selbständigen Städte gem. § 1 Abs. 1 i. V. m. Ziffer 3.1.1.3 der Anlage der ZustVO-Wirtschaft v. 18.11.2004, Nds. GVBl. S. 482, z. g. d. G v. 26.1.2022, Nds. GVBl. S.-36. Auskunft erteilen (§ 16 Abs. 2, § 17 Abs. 1 HwO). Dadurch soll die Handwerkskammer in die Lage versetzt werden zu prüfen, ob der Betriebsleiter seiner fachlich-technischen Verantwortung nachkommen kann und kein Strohmann ist. Aus den §§ 1 Abs. 1, 7 Abs. 1, 1a HwO wird ein sog. Gebot der Meisterpräsenz abge‐ leitet. Dieses verlangt vom Gesundheitshandwerker wegen möglichen weitreichenden Folgen einer unzureichenden Handwerkstätigkeit, dass in jeder Betriebsstätte eine Person tätig ist, die die fachliche Eintragungsvoraussetzung gem. der §§ 7 bis 8 HwO erfüllt. Davon kann nur in engen Ausnahmefällen abgewichen werden. ➤ Beispiel Ein Hörakustik-Meister arbeitete in zwei Niederlassungen jeweils einen halben Arbeitstag. Zwischen beiden Niederlassungen bestand eine Entfernung von 26 Straßenkilometern. Während der Geschäftszeit, in der der Meister nicht anwesend war, wurden vom übrigen Personal Termine mit Kunden, die das Geschäft auf‐ suchten, vereinbart, Batterien, Ersatz- und Verschleißteile verkauft und ähnliche Leistungen erbracht. Unter der Maßgabe, dass während der Abwesenheit des Meisters nur Leistungen angeboten werden, bei denen eine Gefährdung der Gesundheit der Kunden ausgeschlossen sei, sah der BGH 354 in der Geschäftsorga‐ nisation keinen Verstoß gegen das Gebot der Meisterpräsenz. Er verwies u. a. darauf, dass eine Hörgeräteversorgung üblicherweise nach einer vorherigen Terminvereinbarung erfolge. Die Kunden würden nicht erwarten, dass die mit einer bestimmten Sorgfalt zu erbringende Dienstleistung sofort beim Aufsuchen eines Geschäfts erbracht werde, zumal der Hörverlust allmählich eintritt. Bei einem plötzlichen Hörverlust würde der Kunde keinen Hörakustiker, sondern einen Facharzt oder ein Krankenhaus aufsuchen. Das Gebot der Meisterpräsenz zielt darauf ab, dass der Betriebsleiter mit Meisterab‐ schluss durch sein Können und seine Einflussnahme auf die Arbeitsabläufe für die Einhaltung des Fachstandards in jeder Betriebsstätte sorgt. Es ist seine Aufgabe, die Abläufe zu beaufsichtigen, zu steuern, in fehlerhafte Prozesse einzugreifen, Fehler der Mitarbeiter zu korrigieren etc. - 2.7.2.3 Ende der handwerklichen Tätigkeit Ein Verstoß gegen die Handwerksordnung kann zur Folge haben, dass die Tätigkeit des Gesundheitshandwerkers gem. § 16 Abs. 3 HwO untersagt wird. Welche Behörde für diese Entscheidung zuständig ist, regelt das jeweilige Landesrecht. 355 2.7 Gesundheitshandwerker 227 <?page no="228"?> 356 Z. B. in Niedersachsen die Landkreise, kreisfreien Städte und die großen selbständigen Städte gem. § 1 Abs. 1 i. V. m. Ziffer 1 der Anlage der ZustVO-Wirtschaft, a. a. O. ❋ Wissen-│-Untersagung eines Handwerksbetriebs (Schema) Die Frage, ob eine Untersagung des Handwerkbetriebs gem. § 16 Abs. 3 HwO zulässig bzw. rechtmäßig ist, wird gem. dem nachfolgenden Schema geprüft. Einen Fall zum Üben finden Sie in den Wiederholungsaufgaben. Tatbestandsvoraussetzungen: 1. Selbständiger Betrieb (siehe Abschnitt 2.7.2.1) 2. Zulassungspflichtiges Handwerk (siehe Abschnitt 2.7.2.1) 3. Stehendes Gewerbe (siehe Abschnitt 2.7.2.1) 4. Verstoß gegen die HwO (z. B. gegen § 1 Abs. 1 HwO - siehe Abschnitt 2.7.2.1) 5. Gemeinsame Erklärung der Handwerkskammer und Industrie- und Handels‐ kammer, dass die Untersagungsvoraussetzungen vorliegen Rechtsfolge: Wenn der Sachverhalt die Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt, kann die zuständige Behörde die Fortsetzung des Handwerkbetriebs untersagen. Die Behörde ist nicht verpflichtet, die Untersagung auszusprechen. Sie hat für ihre Entscheidung ein pflichtgemäßes Ermessen, das sie entsprechend dem Zweck des Gesetzes unter Beachtung der gesetzlichen Grenzen des Ermessens ausüben muss. Für den Fall einer Unzuverlässigkeit des Betriebsinhabers oder einer mit der Leitung des Handwerksbetriebes beauftragten Person regelt § 35 Abs. 1 GewO eine Untersagungs‐ möglichkeit. Die dafür zuständige Behörde ergibt sich ebenfalls aus dem einschlägigen Landesrecht. 356 ✎ Aufgaben Emil Emsig e. K. betreibt einen augenoptischen Handwerksbetrieb, in dem er Bril‐ len und Kontaktlinsen aller Art anfertigt, anpasst und an seine Kunden verkauft. Er beschäftigt zwei Arbeitnehmer und ist in der Handwerksrolle eingetragen. Sein Geschäft läuft seit geraumer Zeit nicht allzu gut. Seine Kosten übersteigen bereits seit einem Jahr seine Umsätze, so dass er die zu zahlenden Vorschüsse auf die Einkommens- und Umsatzsteuer seit 6 Monaten nicht mehr bezahlt hat. Zudem hat er die festgesetzte Einkommenssteuer-Nachzahlung noch nicht beglichen. Insgesamt beläuft sich seine Steuerschuld gegenüber dem Finanzamt auf insgesamt 30.000 Euro. Ferner ist er in Höhe von 10.000 Euro mit der Abführung der Sozialversicherungsabgaben für seine beiden Arbeitnehmer im Rückstand. Eine Begleichung der Schulden ist ihm nicht möglich, da er während seiner geschäftlichen Tätigkeit keine Rücklagen gebildet hat und die ihm von seiner Hausbank eingeräumte Kreditlinie bereits erreicht hat. Als die zuständige Behörde 228 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="229"?> 357 Vgl. Marcks, Landmann/ Rohmer, GewO § 35 Rn. 29. 358 Vgl. Marcks, Landmann/ Rohmer, GewO § 35 Rn. 79-m. w. N. von den Steuerrückständen und den nicht gezahlten Sozialversicherungsabgaben des Emsig erfahren und die Handwerkskammer angehört hat, untersagt sie die Tätigkeit des Emsig. Zu Recht? Begründen Sie Ihre Entscheidung. ➤ Lösungen im Web-Service. Im Unterschied zu § 16 Abs. 3 HwO liegt die Untersagung nach § 35 Abs. 1 GewO nicht im behördlichen Ermessen. Vielmehr ist die zuständige Behörde verpflichtet, den Handwerksbetrieb zu untersagen, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind: ● Der Handwerksbetrieb stellt ein Gewerbe dar (siehe Abschnitt 2.7.2.1). ● Der Betriebsinhaber oder die mit der Leitung des Handwerksbetriebes beauftragten Person ist unzuverlässig. Unzuverlässig ist, wer nicht willens und nicht in der Lage ist, sein Gewerbe ordnungsgemäß nach Recht und Gesetz auszuüben. 357 Die insoweit notwendige Prognose für die Zukunft wird aus festgestellten Tatsachen hergeleitet. Typische Fallgruppen einer Unzuverlässigkeit sind Straftaten, die für die Tätigkeit relevant sind, Steuerrückstände sowie Verstöße gegen die sozialver‐ sicherungsrechtlichen Pflichten. ● Die Untersagung des Betriebs ist zum Schutze der Allgemeinheit oder der im Betrieb Beschäftigten erforderlich. In diesem Kriterium kommt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zum Ausdruck, der für das gesamte staatliche Handeln gilt. Die Untersagung ist das letzte Mittel und darf nicht ausgesprochen werden, wenn es andere Maßnahmen gibt, um die Gefährdung der Allgemeinheit oder der Beschäftigten zu beseitigen. 358 ● Die Handwerkskammer ist gem. § 35 Abs. 4 GewO angehört worden. Sowohl die Untersagung nach § 16 Abs. 3 HwO als auch die nach § 35 Abs. 1 GewO haben zur Folge, dass die Voraussetzungen für die Eintragung in die Handwerksrolle nicht mehr vorliegen. Dementsprechend wird der Eintrag gem. § 13 HwO gelöscht. 2.7.3 Bedeutung des Heilpraktikergesetzes Nach § 1 HeilprG bedarf jeder, der Heilkunde ausüben will, ohne Arzt zu sein, einer Erlaubnis; zum Begriff der Heilkunde vgl. Abschnitt 2.1.1.1. Wenn ein Gesundheits‐ handwerker eine Leistung anbieten würde, die den Tatbestand der Heilkunde erfüllt, würde er dafür eine Heilpraktikererlaubnis benötigen. In den zurückliegenden Jahr‐ zehnten bedurfte es gelegentlich einer gerichtlichen Klärung, ob es sich bei bestimmten Verrichtungen eines Augenoptikers um Heilkunde in diesem Sinne handelt: 2.7 Gesundheitshandwerker 229 <?page no="230"?> Verrichtungen Entscheidungen Refraktion durch den Augen‐ optiker keine Heilkunde gem. BVerwG, Urt. v. 20.1.1966, Az. I C 73.64, NJW 1966, 1187 ff.; BSG Urt. v. 18.9.1973, Az. 6 RKa 2/ 72, BSGE 36, 146 ff.; BGH, Urt. v. 4.2.1972, Az. I ZR 104/ 70, NJW 1972, 1132 f. prismatische Korrektion durch den Augenoptiker VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 17.2.2005, Az. 9 S 216/ 04, NVwZ-RR 2005, 725 f., bejahte die Befugnis des Augenopti‐ kers ohne zusätzliche Erlaubnis bei Beachtung bestimmter Aufklärungspflichten Tonometrie und automatische Perimetrie durch den Augen‐ optiker Nach wechselhaftem Ausgang der Gerichtsverfahren wurde letztlich Befugnis des Augenoptikers ohne zusätzliche Er‐ laubnis bei Beachtung bestimmter Aufklärungspflichten be‐ jaht; vgl. BGH, Urt. v. 10.12.1998, Az. I ZR 137/ 96, NJW 1999, 865 ff.; BVerfG, Kammerbeschluss v. 7.8.2000, Az. 1 BvR 254/ 99, NJW 2000, 2736 f.; BGH, Urt. v. 21.6.2001, Az. I ZR 197/ 00, NJW 2001, 3408 ff; OLG Koblenz, Urt. v. 2.7.2002, Az. 4 U 1214/ 01, juris; BGH, Urt. v. 21.4.2005, Az. I ZR 190/ 02, NJW 2005, 2707 f. Tabelle 14: Verrichtungen der Augenoptiker im Spannungsverhältnis zum HeilprG 2.7.4 Bedeutung des Medizinprodukterechts - 2.7.4.1 Herstellung und Inverkehrbringen von Medizinprodukten Zum Leistungsspektrum eines Gesundheitshandwerkers gehört zum einen das Anpas‐ sen von serienmäßig hergestellten Produkten an die in einer schriftlichen Verordnung festgelegten spezifischen Charakteristika und Bedürfnisse eines individuellen Kunden (sog. angepasste Produkte). Zu ihnen gehören beispielsweise Hörgeräte. Zum anderen stellen Gesundheitshandwerker individuelle Medizinprodukten für Kunden selbst her, wie z. B. Brillen mit Korrektionswirkung oder individuell angefertigte Prothesen. Diese für einen individuellen Kunden angefertigten Produkte werden rechtlich als Sonderanfertigung bezeichnet. ❋ Wissen-│-Sonderanfertigung Eine Sonderanfertigung bezeichnet ein Medizinprodukt, das nur für einen einzigen Patienten bestimmt ist, um ausschließlich dessen individuelle Zustand und dessen individuellen Bedürfnissen zu entsprechen; sie wird gemäß einer schriftlichen Verordnung einer dazu berechtigten Person (z. B. Arzt) angefertigt, die eigenver‐ antwortlich die genaue Auslegung und die Merkmale des Produkts festlegt (Art. 2 Nr.-3 MDR). 230 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="231"?> Die vom Gesundheitshandwerker zu beachtenden Regelungen des Medizinprodukte‐ rechts sind für die angepassten Produkte und die Sonderanfertigungen unterschiedlich. Hinsichtlich der angepassten Produkte muss das Vorgehen des Gesundheitshand‐ werkers dem aktuellen Stand der Technik sowie den Anpassdaten der vorgelegten Verordnung entsprechen. Ferner ist gem. § 9 MPDG eine Dokumentation mit folgenden Daten zu erstellen: ● die schriftliche Verordnung ● die Anpassungsdaten, soweit diese nicht bereits Bestandteil der schriftlichen Verordnung sind, ● die Angaben, die erforderlich sind, um den Kunden zu identifizieren, ● die Angaben, die erforderlich sind, um das angepasste Produkt zu identifizieren, und ● die Erklärung, dass das Produkt nach dem aktuellen Stand der Technik angepasst wurde. Eine Kopie der Dokumentation ist dem Kunden auszuhändigen, wobei die vorgenann‐ ten Angaben, die zur Kundenidentifikation erforderlich sind, freilich entbehrlich sind. Zudem ist die Dokumentation zehn Jahre aufzubewahren und auf Verlangen der zuständigen Behörde vorzulegen. Hinsichtlich einer Sonderanfertigung gilt der Gesundheitshandwerker als Hersteller im Sinne des Medizinprodukterechts (zum Begriff „Hersteller“ siehe auch Abschnitt 2.8.2). Nach Art. 2 Nr. 30 MDR ist nicht nur derjenige, der das Medizinprodukt herstellt und im eigenen Namen in den Verkehr bringt, Hersteller. Vielmehr gilt auch derjenige als Hersteller, der das Medizinprodukt herstellen lässt und die gelieferten Halbfertig‐ produkte montiert, um das Gesamtprodukt im eigenen Namen in den Verkehr zu bringen. ➤ Beispiel Der Augenoptiker, der aus einem Glasrohling die individuellen Gläser für einen Kunden schleift, die Korrektionsbrille (aus Gläsern und Fassung) anfertigt und im eigenen Namen an den Kunden abgibt, ist für diese Sonderanfertigung Hersteller. Gleiches gilt, wenn er die Gläser nicht selbst herstellt, sondern von einem Industrieunternehmen bezieht, das die Gläser entsprechend der vom Augenop‐ tiker vorgegebenen Bestelldaten (Korrektions-, Fassungs- und Zentrierdaten) hergestellt hat. Sobald der Gesundheitshandwerker die Sonderanfertigung im eigenen Namen an den Kunden abgibt, bringt er sie in Verkehr (Art. 2 Nr. 27, 28 MDR). Sonderanfertigungen dürfen zwar (anders als industriell hergestellte Medizinprodukte) ohne CE-Kennzeich‐ nung in den Verkehr gebracht werden (Art. 20 Abs. 1 MDR). Dennoch muss auch der Gesundheitshandwerker in einem Konformitätsbewertungsverfahren nachweisen, dass 2.7 Gesundheitshandwerker 231 <?page no="232"?> sein Produkt die sog. grundlegenden Sicherheits- und Leistungsanforderungen erfüllt (§-15 MPDG). Diese ergeben sich aus Anhang I der MDR. Das Konformitätsbewertungsverfahren führt der Gesundheitshandwerker gem. Art. 52 Abs. 8 MDR selbst durch. Dazu muss er die Dokumente nach Nr. 1 und 2 des Anhangs XIII der MDR erstellen und gewährleisten, dass sein hergestelltes Medizinprodukt mit der Dokumentation übereinstimmt. ❋ Wissen-│-Inhalt der Dokumente Inhalt des Dokuments nach Nr.-1 des Anhangs XIII der MDR: ● Name und Anschrift des Herstellers sowie aller Fertigungsstätten ● die zur Identifizierung des betreffenden Produkts notwendigen Daten ● Versicherung, dass das Produkt ausschließlich für einen bestimmten Patienten (Kunden) bestimmt ist, der durch seinen Namen, ein Akronym oder einen numerischen Code identifiziert wird ● Name des Arztes oder der hierzu befugten Person, der/ die das betreffende Produkt verordnet hat, und gegebenenfalls den Namen der betreffenden medizinischen Einrichtung ● spezifische Merkmale des Produkts, wie sie in der Verschreibung angegeben sind ● Versicherung, dass das betreffende Produkt den in Anhang I der MDR ge‐ nannten grundlegenden Anforderungen entspricht, und ggf. die Angabe der grundlegenden Anforderungen, die nicht vollständig eingehalten worden sind, mit Angabe der Gründe ● ggf. ein Hinweis, dass zu den Bestandteilen oder Inhaltsstoffen des Medizin‐ produkts ein Arzneimittel gehört Inhalt des Dokuments nach Nr.-2 des Anhangs XIII der MDR: ● Fertigungsstätte(n) ● Daten zur Herstellung und Leistungsdaten des Produkts, die für die Beurtei‐ lungen notwendig sind, ob die Anforderungen der MDR erfüllt sind Die vorgenannte Dokumentation ist mindestens zehn Jahre und im Falle von implan‐ tierbaren Produkten mindestens 15 Jahre aufzubewahren (Nr. 4 des Anhangs XIII der MDR). Eine Kopie der Erklärung nach Nr. 1 des Anhangs XIII der MDR ist der Sonderanfertigung beizufügen (Art. 21 Abs. 2 MDR). Der Gesundheitshandwerker muss für seine Sonderanfertigungen ein System zur Überwachung nach dem Inverkehrbringen einrichten und aktuell halten, durch das er Daten über jedes Produkt bzgl. Qualität, Leistung und Sicherheit proaktiv erhebt und überprüft, um einen etwaigen Bedarf an notwendigen Korrektur- oder Präventiv‐ maßnahmen festzustellen (Art. 83 Abs. 1, 2, Art. 2 Nr. 60 MDR). Die im Rahmen der 232 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="233"?> Überwachung gewonnenen Informationen, z. B. über schwerwiegende Vorkommnisse, die Ergebnisse von Analysen und ergriffenen Präventiv- und Korrekturmaßnahmen sind zu dokumentieren. Dafür muss der Gesundheitshandwerker für die Produkte der Risikoklasse I den in Art. 85 MDR vorgesehenen Bericht über die Überwachung nach dem Inverkehrbringen erstellen, bei Bedarf aktualisieren und der zuständigen Behörde auf Verlangen vorlegen. Für ein Produkt der Risikoklassen IIa, IIb und III muss er einen Sicherheitsberichterstellen, der die in Art. 85 MDR vorgesehenen Angaben, z. B. Schlussfolgerungen aus der Nutzen-Risiko-Abwägung, enthalten muss. Dieser Sicherheitsbericht ist in die oben genannte Dokumentation nach Nr. 2 des Anhangs XIII zu integrieren (Art. 86 Abs. 1 Unterabs. 4). Wenn eine Sonderanfertigung nicht den rechtlichen Anforderungen genügt, muss der Gesundheitshandwerker durch entsprechende Maßnahmen dafür sorgen, dass die Konformität des Produktes hergestellt wird oder das Produkt vom Markt genommen wird (Art.-10 Abs. 12, Art.-83 Abs. 4 MDR). Wenn ihm im Zusammenhang mit seinen Produkten ein schwerwiegendes Vor‐ kommnis bekannt wird, muss er dieses den zuständigen Behörden gem. Art. 87 MDR melden (vgl. zum Begriff schwerwiegendes Vorkommnis Abschnitt 2.8.8). Zur Beseitigung des von seinen Produkten ausgehenden Risikos muss er die betroffenen Kunden informieren (sog. Sicherheitsanweisung im Feld) und alle notwendigen Sicher‐ heitskorrekturmaßnahmen im Feldtreffen, z. B. Rücknahme des Produkts (vgl. zu den Begriffen Sicherheitsanweisung im Feld und Sicherheitskorrekturmaßnahme im Feld Abschnitt 2.8.8). Wenn der Gesundheitshandwerker von Sicherheitskorrekturmaßnahmen des Her‐ stellers der von ihm eingesetzten Materialien und Vorprodukten erfährt, muss er die zur Umsetzung der Korrekturmaßnahmen erforderlichen Schritte (z. B. Kundeninfor‐ mation) veranlassen und die zuständige Behörde informieren (Nr. 5 des Anhangs XIII der MDR). Hinsichtlich der Herstellung, des Inverkehrbringens und der Nachbeobachtung seiner Produkte am Markt unterliegt der Gesundheitshandwerker ebenso wie die industriellen Hersteller von Medizinprodukten der staatlichen Aufsicht, vgl. hierzu Abschnitt 2.8.7. - 2.7.4.2 Betreiben und Anwenden von Medizinprodukten Der Gesundheitshandwerker setzt während seiner Tätigkeit selbst zahlreiche Medizin‐ produkte ein, z. B. Ton- und Sprachaudiometer, Augentonometer. Gem. § 11 MPDG, § 1 MPBetreibV dürfen die Medizinprodukte nur unter Berücksichtigung der MPBetreibV betrieben und angewendet werden (vgl. dazu Erläuterungen im Abschnitt 2.2.4). 2.7 Gesundheitshandwerker 233 <?page no="234"?> 359 BSG, Urt. v. 25.6.2009, B 3 KR 2/ 08 R, BeckRS 2009, 73384 Rn. 18. 2.7.5 Leistungserbringung im System der gesetzlichen Krankenversicherung - 2.7.5.1 Anspruch des Versicherten auf Hilfsmittel Nach § 33 Abs. 1, 2 SGB V haben die gesetzlich Versicherten unter bestimmten Voraus‐ setzungen Anspruch auf eine Versorgung mit Hörhilfen, Sehhilfen, Körperersatzstü‐ cken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln. Im Konkreten sind das Hörgeräte, Brillen, Kontaktlinsen, Prothesen, Unterarmstützen, orthopädische Schuhe, Rollstühle u. v. m. Die Hilfsmittel lassen sich in Anlehnung an § 31 Abs. 1 S. 1 SGB VII und § 2 HilfsM-RL wie folgt definieren: ❋ Wissen-│-Hilfsmittel Hilfsmittel sind bewegliche Sachen, die den Erfolg der Heilbehandlung sichern oder die Folgen von Gesundheitsschäden mildern oder ausgleichen. Sie werden individuell gefertigt oder als serienmäßig hergestellte Ware in unverändertem Zustand oder als Basisprodukt mit entsprechender handwerklicher Zurichtung, Ergänzung bzw. Abänderung von den Leistungserbringern abgegeben. Zu den Hilfsmitteln zählen auch Zubehörteile, ohne die das Basisprodukt nicht oder nicht zweckentsprechend betrieben werden kann. Die Leistungserbringer (Augenoptiker, Hörakustiker etc.) müssen bei der Abgabe des Hilfsmittels zulasten der Krankenkasse die Voraussetzungen des Versichertenanspruchs berücksichtigten: 1. Voraussetzung: Das Hilfsmittel muss für einen der beiden Leistungszwecke erforderlich sein, die in § 33 Abs. 1 S. 1 SGB V genannt sind. Es muss entweder den Erfolg der Krankenbehandlung sichern; insoweit ist es unmittelbar Teil der Krankenbehandlung (wie z. B. Bandagen, Schienen zur Behandlung von Gelenkver‐ letzungen). Alternativ kann das Hilfsmittel dem Ausgleich einer Behinderung (inkl. der Vorbeugung einer solchen) dienen. Als Behinderung werden körperliche, geistige, seelische oder Sinnesbeeinträchtigungen angesehen, die von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und die in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren eine gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft voraus‐ sichtlich länger als sechs Monate beeinträchtigen (§ 2 Abs. 1 SGB IX). Der Einsatz eines Hilfsmittels (wie z. B. eine Prothese, Hörgerät), der auf die Wiederherstellung des fehlenden Körperteils oder den Ausgleich der beeinträchtigten Funktion abzielt, wird als unmittelbarer Behinderungsausgleich bezeichnet. Für diesen gilt das „Gebot eines möglichst weitgehenden Ausgleichs des Funktionsdefizits, und zwar unter Berücksich‐ tigung des aktuellen Stands des medizinischen und technischen Fortschritts“ 359 , weil 234 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="235"?> 360 Vgl. BSG, Urt. v. 12.8.2009, B 3 KR 11/ 08 R, SozR 4-2500 § 33 Nr.-25 m. w. N. 361 BSG, Urt. v. 7.5.2020, B 3 KR 7/ 19 R, BeckRS 2020, 17046 Rn. 27. 362 Vgl. BSG, Urt. v. 17.1.1996, 3 RK 39/ 94, NJW-RR 1997, 259 ff. [260 f.]. 363 Ebd. der Versicherte mit einer Behinderung möglichst mit gesunden Menschen gleichziehen soll. Anders verhält es sich beim mittelbaren Behinderungsausgleich. Dieser ist nicht auf die Wiederherstellung des Körperteils oder der Körperfunktion, sondern auf den Ausgleich der Folgen der Behinderung gerichtet. Hierbei geht es nicht um das Gleichziehen mit den schier unbegrenzten Möglichkeiten eines gesunden Menschen, sondern um die Kompensation der Behinderung, soweit sie sich auf das tägliche Leben auswirkt. Die gesetzliche Krankenversicherung steht nur für die medizinische, nicht aber für die berufliche oder soziale Rehabilitation ein, für die ggf. andere Sozialleistungsträger eintreten müssen. Deshalb wird ein Hilfsmittel (z. B. Rollstuhl) im Rahmen des mittelbaren Behinderungsausgleichs nur dann von der Krankenkasse gewährt, wenn ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betroffen ist. Als allgemeines Grundbedürfnis gelten Gehen, Stehen, Sitzen, Liegen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnahme, Ausscheiden, elementare Körperpflege, selbstständiges Wohnen sowie das Erschließen eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums. 360 „Für den Versorgungsumfang, insbesondere Qualität, Quantität und Diversität, kommt es entscheidend auf den Umfang der mit dem begehrten Hilfsmittel zu erreichenden Gebrauchsvorteile im Hinblick auf das zu befriedigende Grundbedürfnis an.“ 361 2. Voraussetzung: Das Hilfsmittel darf kein allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens sein (§ 33 Abs. 1 S. 1 SGB V). Derartige Gebrauchsgegenstände (z. B. Wärmflaschen, antiallergene Matratzenüberzüge 362 ) werden wie bei gesunden Menschen der Eigenverantwortung zugerechnet. Wenn diese Gegenstände jedoch für die speziellen Bedürfnisse von kranken Menschen hergestellt werden und überwiegend von diesen benutzt werden, dann wird die Hilfsmitteleigenschaft bejaht. Für die beiden (Misch-)Konstellationen, dass ein Produkt für kranke Personen entwickelt, aber überwiegend von der Allgemeinheit adaptiert wurde, oder ein Produkt nicht eigens für kranke Personen entwickelt, aber von diesen genutzt wird, muss anhand der Gesamtumstände eine Einordnung des Produkts als Hilfsmittel oder Alltagsgegenstand vorgenommen werden. 363 3. Voraussetzung: Die Versorgung mit dem Hilfsmittel muss dem Wirtschaftlich‐ keitsgebot gem. § 12 Abs. 1 SGB V entsprechen, ansonsten ist das Hilfsmittel ausge‐ schlossen. Das heißt, das Hilfsmittel muss ausreichend, zweckmäßig, wirtschaftlich sein und darf das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Die Erforderlichkeit des Hilfsmittels ist bereits im Rahmen der ersten Voraussetzung zu prüfen. Daneben kommt das Wirtschaftlichkeitsgebot vor allem zum Tragen, wenn mehrere funktionell gleich geeignete Hilfsmittel zur Verfügung stehen, die sich aber z. B. im Komfort oder in der Optik unterscheiden. In diesem Fall müssen die Gebrauchsvorteile des Hilfsmittels unter Berücksichtigung der Kosten beurteilt werden. Dabei erstreckt sich der Anspruch des Versicherten nur auf das kostengünstigere Produkt, wenn dieses 2.7 Gesundheitshandwerker 235 <?page no="236"?> 364 Vgl. z. B. BSG, Urt. v. 17.12.2009, B 3 KR 20/ 08 R, NJOZ 2010, 1842 ff. [1845]; BSG, Urt. v. 12.8.2009, B 3 KR 8/ 08 R, NJOZ 2010, 2186 [2188]. 365 Vgl. BSG, Urt. v. 28.9.1976, 3 RK 9/ 76, BeckRS 1976, 30703594; BSG, Urt. v. 17.1.1996, 3 RK 39/ 94, NJW-RR 1997, 259 ff. [261]. 366 Verordnung über Hilfsmittel von geringem therapeutischen Nutzen oder geringem Abgabepreis in der gesetzlichen Krankenversicherung (KVHilfsmV) v. 13.12.1989, BGBl. I S. 2237, z. g. d. VO v. 17.1.1995, BGBl. I S.-44. den angestrebten Nachteilsausgleich ebenfalls gewährleistet. Alternativ besteht für den Versicherten die Möglichkeit, die Mehrkosten und ggf. dadurch bedingte höhere Folgekosten selbst zu tragen, wenn er von den funktionell gleich geeigneten und wirtschaftlichen Hilfsmitteln das wählt, das über notwendige Maß hinausgeht (§ 33 Abs. 1 S.-6 SGB V). 364 Das Wirtschaftlichkeitsgebot äußert sich ferner darin, dass der Versicherte einen Eigenanteil in Höhe seiner ersparten Aufwendungen tragen muss, wenn das Hilfsmittel (z. B. orthopädisches Schuhwerk) einen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens (z.-B. Schuhe) ersetzt. 365 4. Voraussetzung: Darüber hinaus findet das Wirtschaftlichkeitsgebot seinen Ausdruck in verschiedenen spezifischen Regelungen und ist insoweit vom Gesund‐ heitshandwerker bei der Hilfsmittelversorgung ebenfalls zu beachten: ● Das Hilfsmittel darf nicht durch die Verordnung über Hilfsmittel mit geringem oder umstrittenen therapeutischen Nutzen oder mit geringem Abgabepreis 366 , die auf der Grundlage des § 34 Abs. 4 SGB V erlassen worden ist, ausgeschlossen sein. Danach sind z. B. Brillenetuis, Augen- und Ohrenklappen und die Energieversor‐ gung bei Hörgeräten für volljährige Versicherte ausgeschlossen. ● Der GBA kann gem. § 33 Abs. 1 S. 4, § 92 Abs. 1 SGB V die Hilfsmittelversor‐ gung einschränken, wenn nach allgemein anerkanntem Stand der medizinischen Erkenntnisse der diagnostische oder therapeutische Nutzen, die medizinische Notwendigkeit oder die Wirtschaftlichkeit der Hilfsmittel nicht nachgewiesen sind. Auf der Grundlage dieser Ermächtigung ist die Hilfsmittel-Richtlinie erlas‐ sen worden, die sowohl für die Krankenkassen, Vertragsärzte und zugelassenen Gesundheitshandwerker verbindlich ist (§ 1 Abs. 2 HilfsM-RL). In der Hilfsmit‐ tel-Richtlinie sind verschiedene Einschränkungen für die Versorgung mit Seh- und Hörhilfen geregelt. ● Weitere Anforderungen können sich aus dem Hilfsmittelverzeichnis ergeben. Dieses wird vom GKV-Spitzenverband aufgestellt und erfasst die Hilfsmittel, die der Leistungspflicht der Krankenkassen unterliegen (vgl. im Einzelnen Ab‐ schnitt 2.8.11). Zur Sicherung einer wirtschaftlichen Hilfsmittelversorgung kann der GKV-Spitzenverband Qualitätsanforderungen festlegen. Wenn das an den Versicherten abzugebende Hilfsmittel im Hilfsmittelverzeichnis gelistet oder von einer dortigen Produktgruppe erfasst ist, muss es die im Hilfsmittelverzeichnis festgelegten Anforderungen an die Qualität erfüllen (§ 33 Abs. 1 S.-2 SGB V). 236 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="237"?> 367 Vgl. Kapitel VII Gliederung H54 der Internationalen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision, German Modification Version 2022, https: / / www.dimdi.de/ dyn amic/ de/ klassifikationen/ icd/ icd-10-gm/ (Abruf am 7.5.2022). ● § 33 Abs. 3 SGB V regelt, dass Kontaktlinsen von den Krankenkassen nur in medizinisch zwingend erforderlichen Ausnahmefällen, die in § 15 Abs. 3 HilfsM-RL bestimmt sind, gewährt werden. Wenn der Versicherte in anderen Fällen Kontakt‐ linsen statt der erforderlichen Brille wählt, zahlt die Krankenkasse nur einen Zuschuss in Höhe des Betrages, der für eine Brille höchstens aufzuwenden wäre. ● Zur Brillenversorgung eines Versicherten gehören nur die Brillengläser; für das Brillengestell muss der Versicherte selbst aufkommen (§ 33 Abs. 2 S.-4 SGB V). 5. Voraussetzung: Grundsätzlich haben sowohl Minderjährige als auch Volljährige einen Anspruch auf Hilfsmittel. Der Anspruch auf Sehhilfen ist jedoch ab Vollendung des 18. Lebensjahres gem. § 33 Abs. 2 S. 2 SGB V eingeschränkt. Danach können nur die volljährigen Versicherten eine Sehhilfe zur Verbesserung der Sehschärfe beanspruchen, die aufgrund ihrer Sehbeeinträchtigung oder Blindheit bei bestmöglicher Brillenkor‐ rektur auf beiden Augen eine schwere Sehbeeinträchtigung mindestens der Stufe 1 nach der ICD 10-GM 367 aufweisen: Stufen Bezeichnung Sehschärfe mit bestmöglicher Korrektur (in Ferne) 1 mittelschwere Sehbeeinträchtigung Sehschärfe ≤ 0,3 bis > 0,1 2 schwere Sehbeeinträchtigung Sehschärfe ≤ 0,1 bis > 0,05 3 hochgradige Sehbeeinträchtigung Sehschärfe ≤ 0,05 bis > 0,02 4 Blindheit Sehschärfe ≤ 0,02 bis Lichtwahrnehmung 5 Blindheit keine Lichtwahrnehmung Tabelle 15: Stufen der Sehbeeinträchtigung nach ICD 10-GM 2022 Wenn die Sehschärfe bei bestmöglicher Korrektur größer als 0,3 ist, kann eine Sehhilfe zur Verbesserung der Sehschärfe nur beansprucht werden, wenn ein verordneter Fern-Korrekturausgleich für einen Refraktionsfehler von mehr als 6 Dioptrien bei Myopie oder Hyperopie oder mehr als 4 Dioptrien bei Astigmatismus besteht. Im Übrigen haben Volljährige einen Anspruch auf eine therapeutische Sehhilfe zur Behandlung einer Augenverletzung oder Augenerkrankung nach Maßgabe der in § 17 HilfsM-RL aufgestellten Anforderungen. 6. Voraussetzung: Nach § 33 Abs. 5a SGB V bedarf die erstmalige Hilfsmittelver‐ sorgung einer ärztlichen Verordnung. Wenn der Versicherte das Hilfsmittel dauerhaft benötigt, ist eine ärztliche Verordnung nur für eine geänderte Diagnose- oder Therapie‐ entscheidung gesetzlich vorgesehen. Die Notwendigkeit einer ärztlichen Verordnung ist in § 12 Abs. 3 HilfsM-RL für Sehhilfen und in § 27 Abs. 1 HilfsM-RL für Hörhilfen 2.7 Gesundheitshandwerker 237 <?page no="238"?> 368 Abschnitt 5.1 der Festlegung des GKV-Spitzenverbandes zum Verfahren zur unionsweiten Bekannt‐ machung der Vertragsschlussabsichten der Krankenkassen in der Hilfsmittelversorgung gemäß § 127 Absatz 1 Satz 6 SGB V, https: / / www.gkv-spitzenverband.de/ media/ dokumente/ krankenversicher ung_1/ hilfsmittel/ himi_empfehlungen__verlautbarungen/ 2020-09-30_Hilfsmittel_Verfahren_Union sweite_Bekanntmachung.pdf (Abruf am 8.3.2022). näher ausgestaltet. Ferner können die Krankenkassen in den Verträgen mit den Leistungserbringern Abweichungen von § 33 Abs. 5a SGB V vereinbaren. 7. Voraussetzung: Die Gewährung eines Hilfsmittels bedarf grundsätzlich der Genehmigung durch die Krankenkasse. Diese kann jedoch darauf verzichten und anstelle dessen eine ärztlich Verordnung des Hilfsmittels verlangen (§-33 Abs.-5a,-5b SGB V). Wenn die vorgenannten Voraussetzungen erfüllt sind, hat der Versicherte nicht nur Anspruch auf die Erstversorgung mit dem Hilfsmittel, sondern gem. § 33 Abs. 1 S. 4 SGB V auch auf ● die Ausbildung im Gebrauch des Hilfsmittels, ● die notwendige Änderung und Instandsetzung des Hilfsmittels, ● die Wartungen und technischen Kontrollen, die nach dem Stand der Technik zur Erhaltung der Funktionsfähigkeit und zum Schutz der Versicherten notwendig sind, sowie ● die Ersatzbeschaffung des Hilfsmittels (bei Sehhilfen jedoch erst ab einer Änderung der Sehfähigkeit um mindestens 0,5 Dioptrien, wenn der Versicherte das 14. Le‐ bensjahr vollendet hat, § 33 Abs. 4 SGB V). Zur Erfüllung seines Anspruchs kann sich der Versicherte gem. § 33 Abs. 6 SGB V an alle Leistungserbringer wenden, die Vertragspartner seiner Krankenkasse sind (vgl. nachfolgenden Abschnitt). Wenn die Verträge zu den Leistungserbringern gekündigt sind, kann der Versicherte einen anderen Gesundheitshandwerker wählen. Gleiches gilt, wenn der Versicherte ein berechtigtes Interesse an der Inanspruchnahme eines anderen hat. In diesem Fall muss er jedoch ggf. entstehende Mehrkosten selbst tragen. - 2.7.5.2 Zulassung des Gesundheitshandwerkers zur Versorgung der gesetzlich Versicherten An der Hilfsmittelversorgung der gesetzlich Versicherten können nur Gesundheits‐ handwerker teilnehmen, die Vertragspartner der Krankenkassen sind oder einem Zusammenschluss angehören, der Vertragspartner ist (§ 127 Abs. 1 SGB V). Dabei gilt für die Krankenkassen, ihre Landesverbände oder Arbeitsgemeinschaften, dass sie jedem Leistungserbringer oder Verband oder den sonstigen Zusammenschlüssen der Leistungserbringer Vertragsverhandlungen zu ermöglichen haben. Deshalb müssen sie ihre Absicht, über die Versorgung mit bestimmten Hilfsmitteln Verträge zu schließen, auf einem geeigneten Portal der Europäischen Union bekanntmachen. Dies ist nach den Festlegungen des GKV-Spitzenverbandes das Supplement S zum Amtsblatt der EU. 368 Wenn ein Vertrag nach § 127 Abs. 1 SGB V geschlossen worden ist, können andere, vertraglich noch nicht gebundene Gesundheitshandwerker (Leistungserbrin‐ 238 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="239"?> 369 Aufstellung der Präqualifizierungsstellen in der Datenbank der Deutsche Akkreditierungsstelle unter https: / / www.dakks.de/ de/ akkreditierte-stellen-suche.html (Abruf am 14.5.2022). 370 Empfehlungen des GKV-Spitzenverbandes gemäß § 126 Absatz 1 Satz 3 SGB V für eine einheitli‐ che Anwendung der Anforderungen zur ausreichenden, zweckmäßigen und funktionsgerechten Herstellung, Abgabe und Anpassung der Hilfsmittel (Stand 30.8.2021), https: / / www.gkv-spitzenve rband.de/ krankenversicherung/ hilfsmittel/ praequalifizierung/ eignungskriterien/ eignungskriterien. jsp (Abruf am 14.5.2022). ger) diesem Vertrag beitreten. Der Leistungserbringer wird durch seinen Beitritt Vertragspartner zu den gleichen Bedingungen und erwirbt so seine Berechtigung, gesetzlich Versicherte zu versorgen (§ 127-Abs. 2 SGB V). Ferner können die Krankenkassen gem. § 127 Abs. 3 SGB V Einzelverträge mit Ge‐ sundheitshandwerkern über ein einzelnes Hilfsmittel schließen, wenn keine Verträge nach § 127 Abs. 1 SGB V bestehen oder die notwendige Versorgung der Versicherten für die Vertragspartner nicht zumutbar ist. Diese Alternative kommt beispielsweise bei speziellen Einzelanfertigugnen zum Tragen. Somit sind nach § 127 Abs. 1 und 3 SGB V Vertragsabschlüsse mit unterschiedlichen Vertragspartnern möglich: Vertrag nach § 127 SGB V Vertrag nach § 127 SGB V Vertrag nach § 127 SGB V Mitgliedschaft Mitgliedschaft Leistungserbringer Krankenkasse Zusammenschluss der Leistungserbringer Landesverband oder Arbeitsgemeinschaft der Krankenkassen Abbildung 37: Vertragsmöglichkeiten nach § 127 SGB V Um Vertragspartner der Krankenkassen und ihrer Zusammenschlüsse zu werden, muss der Gesundheitshandwerker nachweisen, dass er Voraussetzungen für eine aus‐ reichende, zweckmäßige und funktionsgerechte Herstellung, Abgabe und Anpassung der Hilfsmittel erfüllt (§ 126 Abs. 1 SGB V). Diesen Nachweis erbringt er mit dem Zertifikat einer unabhängigen Präqualifizierungsstelle 369 . Die personellen, sachlichen, räumlichen und organisatorischen Anforderungen, die im Präqualifizierungsverfahren zu prüfen sind, werden durch Empfehlungen des GKV-Spitzenverbandes 370 näher ausgestaltet. Ein ausgestelltes Zertifikat ist max. fünf Jahre gültig (§ 126 Abs. 1a S. 5 SGB V) und muss anschließend erneuert werden. 2.7 Gesundheitshandwerker 239 <?page no="240"?> 371 Vgl. zur Durchführung der Prüfungen: Rahmenempfehlung des GKV-Spitzenverbandes zur Siche‐ rung der Qualität in der Hilfsmittelversorgung gem. § 127 Abs. 5b SGB V vom 26.6.2017, https: / / ww w.gkv-spitzenverband.de/ krankenversicherung/ hilfsmittel/ richtlinien_und_empfehlungen/ richtlini en_und_empfehlungen.jsp (Abruf am 14.5.2022). 2.7.5.3 Anforderungen an die Herstellung, Abgabe und Anpassung der Hilfsmittel durch die Gesundheitshandwerker Das SGB V enthält keine konkreten Regelungen zur Erfüllung des Hilfsmittelanspruchs durch den Gesundheitshandwerker. Der Gesetzgeber überlässt die Ausgestaltung der Hilfsmittelversorgung den Krankenkassen und Gesundheitshandwerkern in den Verträgen nach § 127 SGB V. In diesen werden die einzelnen Rechte und Pflichten der Vertragspartner, die Qualität der Hilfsmittel, die notwendige Ausstattung der Werkstatt und der Verkaufsräume, Abrechnungs- und Zahlungsmodalitäten etc. geregelt. Wenn sich die Vertragspartner über den Vertragsinhalt nicht einigen können, so wird der streitige Inhalt durch eine von den jeweiligen Vertragspartnern zu bestimmende unabhängige Schiedsperson festgelegt (§-127 Abs.-1a SGB V). Neben den vertraglichen Bestimmungen muss der Gesundheitshandwerker die Hilfsmittelrichtlinie des GBA beachten, die für ihn als Leistungserbringer gem. § 1 Abs. 2 HilfsM-RL unmittelbar verbindlich ist. Nach § 8 Abs. 2 HilfsM-RL muss beispielsweise innerhalb von 28 Tagen ab Verordnung des Hilfsmittels die Hilfsmittelversorgung begonnen oder der Leistungsantrag bei der Krankenkasse gestellt werden. Danach verliert die Verordnung ihre Gültigkeit. Die Krankenkassen überwachen die Einhaltung der vertraglichen und gesetzlichen Pflichten durch die Leistungserbringer und können zur Sicherung der Qualität in der Hilfsmittelversorgung Auffälligkeits- und Stichprobenprüfungen durchführen (§ 127 Abs. 7 SGB V). 371 Schwerwiegende Verstöße gegen vertragliche oder gesetzliche Bestimmungen können zum einen dazu führen, dass dem Gesundheitshandwerker die Bestätigung seiner Eignung, Vertragspartner der Krankenkassen zu sein, entzogen wird (vgl. § 126 Abs. 1a S. 6, § 127 Abs. 7 S. 7 SGB V) und er dadurch seine Lieferberechtigung verliert. Zum anderen können sie zu Sanktionen (wie z. B. Vertragsstrafen) führen, wenn diese in den Verträgen nach §-127 SGB V geregelt sind. - 2.7.5.4 Vergütung der abgegebenen Hilfsmittel Nach § 33 Abs. 7 SGB V übernimmt die Krankenkasse den für das Hilfsmittel vereinbarten Preis. Für bestimmte Hilfsmittel hat der GKV-Spitzenverband gem. § 36 SGB V Festbeträge festgelegt. Diese sind nach § 127 Abs. 4 SGB V die Obergrenze für die Preise, die zwischen Krankenkassen und Leistungserbringer vereinbart werden. Wenn der Abgabepreis des Gesundheitshandwerkers den mit den Krankenkassen vereinbarten Betrag übersteigt, muss der Versicherte die Differenz selbst tragen. Volljährige Versicherte müssen zudem auf den Betrag, den die Krankenkasse über‐ nimmt, eine Zuzahlung gem. § 33 Abs. 8, § 61 S. 1 SGB V leisten. Diese ist vom Gesundheitshandwerker einzuziehen. 240 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="241"?> 372 Vgl. Aufstellung unter https: / / www.gkv-spitzenverband.de/ krankenversicherung/ hilfsmittel/ festbet raege_3/ festbetraege.jsp (Abruf am 13.3.2022). 373 Vgl. BSG, Urt. v. 17.12.2009, B 3 KR 20/ 08 R, NJOZ 2010, 1842 ff. Gegenwärtig bestehen Festbeträge für folgende Hilfsmittel: 372 ● Einlagen, ● Hörhilfen, ● ableitende Inkontinenzhilfen, ● Hilfsmittel zur Kompressionstherapie, ● Sehhilfen. Bei der Festsetzung der Festbeträge handelt es sich um eine Allgemeinverfügung gem. § 31 S. 2 SGB X, gegen die die Gesundheitshandwerker, die von den Festbeträgen betroffen sind, Klage erheben können (§-36 Abs. 3 i. V. m. § 35 Abs. 7 SGB-V). Dagegen besteht für den Versicherten keine Rechtschutzmöglichkeit unmittelbar gegen den Festbetrag. Er kann allerdings, wenn die Hilfsmittelversorgung zum Fest‐ betrag für den Behinderungsausgleich einer Versichertengruppe (z. B. Versicherte mit einem beidseitigen Hörverlust von fast 100 % 373 ) objektiv nicht ausreicht, eine volle Kostenerstattung gegen seine Krankenkasse geltend machen. 2.7.6 Rechtsverhältnis zum Kunden Zwischen dem Gesundheitshandwerker und dem Kunden besteht ein privatrechtliches Rechtsverhältnis, das bei Abgabe zulasten der Kranken- und Pflegekasse durch die sozialrechtlichen Bestimmungen überlagert wird. Die Rechte und Pflichten des Ge‐ sundheitshandwerkers und des Kunden ergeben sich insbesondere aus dem BGB und sind davon abhängig, welcher Vertragstyp vorliegt. Die Bestimmung des Vertragstyps richtet sich nach der Leistung, die der Gesundheitshandwerker schuldet: Vertragstyp Kaufvertrag Lieferungs‐ kauf Werkliefe‐ rungskauf Werkvertrag Leistung des Gesundheits‐ handwerkers Verkauf einer beweglichen Sa‐ che ohne eigene Herstellung Lieferung einer herzustellenden vertretbaren beweglichen Sa‐ che (vgl. zur vertret‐ baren Sache § 91 BGB) Lieferung einer herzustellenden nicht vertretba‐ ren beweglichen Sache Veränderung ei‐ ner beweglichen Sache oder ein anderer durch Arbeit oder Dienstleistung herbeizuführen‐ der Erfolg einschlägige Paragraphen §§ 433 ff. BGB § 651 i. V. m. §§-433 ff., § 91 BGB § 651 i. V. m. §§-433 ff. und §§ 642, 643, 645, 649, 650 BGB §§ 631 ff. BGB 2.7 Gesundheitshandwerker 241 <?page no="242"?> Beispiele Augenoptiker verkauft Serien‐ produkte, wie z. B. Fertigbrillen oder Kontaktlin‐ sen, die er von ei‐ nem anderen Unternehmen erworben hat Orthopädie‐ schuhmacher stellt Bandagen in Serie her und verkauft sie Orthopädie‐ schuhmacher fertigt einen Maßschuh für ei‐ nen einzelnen Kunden an Reparatur eines Brillengestells oder Bestim‐ mung der Seh‐ schärfe (ohne Anfertigung ei‐ ner Brille) durch einen Augenop‐ tiker Tabelle 16: Abgrenzung der Rechtsverhältnisse zwischen dem Gesundheitshandwerker und Kunden ➤ Lernhinweis Repetieren Sie die Rechte und Pflichten der Vertragspartner der verschiedenen Vertragstypen mit Hilfe eines Lehrbuchs zum Bürgerlichen Recht. Wenn der Kunde gesetzlich versichert ist und das Hilfsmittel zulasten seiner Kranken‐ kasse abgegeben wird, wird der privatrechtliche Vertrag durch die sozialrechtlichen Bestimmungen überlagert: So sind die Zahlungsmodalitäten im SGB V geregelt. Die Krankenkasse leistet die im Abschnitt 2.7.5.4 beschriebene Vergütung. Wenn diese geringer als der Abgabepreis ist, muss die Differenz vom gesetzlich versicherten Kun‐ den übernommen werden. Zudem muss ein volljähriger Versicherter eine Zuzahlung leisten. Diese beträgt gem. § 33 Abs. 8, § 61 S. 1 SGB V 10 % der von der Krankenkasse zu zahlenden Vergütung, mindestens jedoch 5 Euro und höchstens 10 Euro; allerdings jeweils nicht mehr als die Kosten des Hilfsmittels. Bei Hilfsmitteln, die zum Verbrauch bestimmt sind, beträgt sie 10 % des insgesamt von der Krankenkasse zu übernehmenden Betrags, jedoch höchstens 10-Euro für den gesamten Monatsbedarf. Ferner bestimmt § 127 Abs. 5 SGB V, dass der Gesundheitshandwerker den Kunden vor Inanspruchnahme der Leistung zu beraten hat, welche Versorgung für ihn geeignet und notwendig ist. Ferner muss der Kunde, der zusätzliche Leistungen oder ein über das notwendige Maß hinausgehendes Hilfsmittel wählt, über die von ihm zu tragenden Mehrkosten informiert werden. Weitere Pflichten des Gesundheitshandwerkers gegenüber dem gesetzlich versicher‐ ten Kunden können sich aus den Verträgen ergeben, die zwischen des Kassen bzw. deren Verbänden und den Leistungserbringern bzw. deren Verbänden nach § 127 SGB V geschlossen werden. ❋ Wichtige Schlagwörter ❋ Betriebsleiter ❋ Festbetrag ❋ Gebot der Meisterpräsenz ❋ Handwerksrolle ❋ Hilfsmittel ❋ Sonderanfertigung ❋ Zulassungspflichtiges Handwerk 242 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="243"?> ✎ Wiederholungsaufgaben 1. Welche Voraussetzungen muss eine GmbH, die einen augenoptischen Hand‐ werksbetrieb betreiben möchte, erfüllen, um in die Handwerksrolle eingetra‐ gen werden zu können? 2. Für den Vertrieb von Korrektionsbrillen gilt das Reisegewerbeverbot. Erläutern Sie, unter welchen gewerberechtlichen Voraussetzungen gleichwohl ein Au‐ genoptiker außerhalb seiner Niederlassung (z. B. im Altenheim) tätig werden darf. 3. Erläutern Sie die Bedeutung des Gebots der Meisterpräsenz für Gesundheits‐ handwerker. 4. Erläutern Sie den gewerberechtlichen Begriff der Unzuverlässigkeit. 5. Die Emsig Augenoptik GmbH betreibt seit einigen Jahren in Wolfsburg ein Geschäft nebst Werkstatt, in dem sie Brillen und Kontaktlinsen aller Art anfertigt, anpasst und an ihre Kunden verkauft. Die GmbH ist in der Hand‐ werksrolle eingetragen. Alleingesellschafter und Geschäftsführer der GmbH ist Emil Emsig, der seine Ausbildung als Augenoptik-Geselle erfolgreich abge‐ schlossen hat. Da er sein Ingenieurstudium im Bereich Augenoptik vorzeitig aufgegeben hat, war von Beginn an Katrin Klug, die ihre Meisterprüfung im Augenoptiker-Handwerk erfolgreich bestanden hatte, als Betriebsleiterin der GmbH beschäftigt. Nach einem heftigen Streit beendet Katrin Klug das Arbeitsverhältnis. Nachdem die zuständige Behörde erfährt, dass Klug nicht mehr für die GmbH tätig ist, fordert sie die GmbH bzw. Emsig als Geschäfts‐ führer auf, unverzüglich einen Betriebsleiter mit Meisterabschluss oder einem gleichwertigen Abschluss einzustellen. Andernfalls droht die Behörde die Untersagung der Tätigkeit an. Von der Neueinstellung eines Betriebsleiters sieht Emsig jedoch ab, da er die diesbezüglichen Kosten vermeiden möchte und die Aufgaben des Betriebsleiters selbst wahrnimmt. Nach Emsigs Einschätzung können die Kunden durch seine Arbeit und die Tätigkeit der beiden bei der GmbH angestellten Gesellen bestens versorgt werden. Nach Anhörung der Handwerkskammer und der Industrie- und Handelskammer, die beide der Auffassung sind, dass die Voraussetzungen für eine Untersagung der Tätigkeit der GmbH vorliegen, möchte die zuständige Behörde entsprechendes veranlassen. Liegen die Voraussetzungen für eine Untersagungsverfügung vor? Begründen Sie Ihre Entscheidung. 6. Der Anspruch auf Hilfsmittel gegenüber der Krankenkasse setzt voraus, dass das Hilfsmittel zur Krankenbehandlung oder zum Behinderungsausgleich erforderlich ist. Erläutern Sie die Unterscheidung zwischen dem unmittelbaren und mittelbaren Behinderungsausgleich. 7. Erläutern Sie die Bedeutung des Präqualifizierungsverfahrens in der gesetzli‐ chen Krankenversicherung. ✎ Wiederholungsaufgaben 243 <?page no="244"?> 374 ApBetrO v. 26.9.1995, BGBl. I S.-1195, z. g. d. VO v. 12.4.2022, BGBl. I S.-681. 375 MPAV v. 25.7.2014, BGBl. I S.-1227, z. g. d. VO v. 25.6.2021, BGBl. I S.-2026. 376 MPAMIV v. 21.4.2021, BGBl. I S.-833, z. g. d. VO v. 21.4.2021, BGBl. I S.-833. 377 Verordnung (EU) 2017/ 745 über Medizinprodukte, zur Änderung der Richtlinie 2001/ 83/ EG, der Verordnung (EG) 178/ 2002 und der Verordnung (EG) 1223/ 2009 und zur Aufhebung der Richtlinien 90/ 385/ EWG und 93/ 42/ EWG v. 5.4.2017, ABl. L 117 S.-1. 378 Verordnung (EU) 2017/ 746 über In-vitro-Diagnostika und zur Aufhebung der Richtlinie 98/ 79/ EG und des Beschlusses 2010/ 227/ EU der Kommission v. 5.4.2017, ABl. L 117 S.-176. 8. Erläutern Sie die Zahlungsverpflichtungen eines gesetzlich versicherten Kun‐ den und dessen Krankenkasse gegenüber einem Augenoptiker für eine ange‐ passte Korrektionsbrille. 9. Erläutern Sie den Vertragsgegenstand eines Lieferungskaufs, Werklieferungs‐ kaufs und eines Werkvertrages und nehmen Sie eine Abgrenzung vor. ➤ Lösungen im Web-Service. 2.8 Industrielle Hersteller von Medizinprodukten ➤ Lernhinweis Die nachfolgenden Erläuterungen werden Sie besser verstehen, wenn Sie die ange‐ gebenen Paragrafen der nachfolgenden Rechtsvorschriften parallel zum Lehrbuch lesen: Apothekenbetriebsordnung (ApBetrO) 374 , Medizinproduktedurchführungsgesetz (MPDG), Medizinprodukte-Abgabeverordnung (MPAV) 375 , Medizinprodukte-An‐ wendermelde- und Informationsverordnung (MPAMIV) 376 , Medizinprodukte-Be‐ treiberverordnung (MPBetreibV), Sozialgesetzbuch 5. Buch (SGB V), Verordnung (EU) über Medizinprodukte (MDR) 377 . 2.8.1 Einführung Während sich der Abschnitt 2.7 auf die handwerklich hergestellten Medizinpro‐ dukte/ Hilfsmittel bezieht, stehen im Mittelpunkt des Abschnitts 2.8 die industriell hergestellten Medizinprodukte. Für die industriellen Hersteller von Medizinprodukten sind zwei Verordnungen der Europäischen Union von zentraler Bedeutung. 2017 sind auf europäischer Ebene die Verordnung über Medizinprodukte (MDR) und die Verord‐ nung über In-vitro-Diagnostika (IVDR) 378 verabschiedet und in Kraft getreten. Volle Gültigkeit erlangten die beiden Verordnungen jedoch erst nach einer Übergangszeit, die MDR am 26.5.2021 (vgl. Art. 120 MDR) sowie die IVDR am 26.5.2022 (vgl. Art. 133 IVDR). Ab den genannten Zeitpunkten gelten die beiden Verordnungen unmittelbar in 244 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="245"?> allen EU-Mitgliedstaaten. Die zuvor geltenden Richtlinien der EU für Medizinprodukte und In-Vitro-Diagnostika traten (abgesehen von einigen Ausnahmen) außer Kraft. Die beiden Verordnungen der EU enthalten an verschiedenen Stellen Öffnungsklau‐ seln, auf deren Grundlage die Mitgliedstaaten ergänzendes nationales Recht erlassen können. Dementsprechend hat die BRD das MPDG erlassen. Ferner können die Mitgliedstaaten nationale Rechtsvorschriften außerhalb des Regelungsbereichs der MDR und IVDR erlassen. Die Verordnungen regeln das Inver‐ kehrbringen, die Bereitstellung auf dem Markt und die Inbetriebnahme von Medi‐ zinprodukten bzw. In-vitro-Diagnostika. Für die klinische Bewertung und klinische Prüfung von Medizinprodukten bzw. für die Leistungsbewertung und Leistungsstudien der In-vitro-Diagnostika gelten sie ebenfalls. Dagegen regeln die MDR und IVDR das Betreiben und Anwenden der Produkte nicht, so dass insoweit in Deutschland die MPBetreibV zum Tragen kommt. Der Fokus der nachfolgenden Erläuterungen liegt auf den Medizinprodukten. Auf die In-vitro-Diagnostika wird nur begrifflich eingegangen, weil sie ebenfalls zu den Medizinprodukten gehören, für sie aber spezifische Regeln gelten. 2.8.2 Begriff und Einteilung der Medizinprodukte Art. 2 Nr.-1 MDR enthält für Medizinprodukte folgende Legaldefinition: ❋ Wissen-│-Medizinprodukte Medizinprodukt bezeichnet ein Instrument, einen Apparat, ein Gerät, eine Soft‐ ware, ein Implantat, ein Reagenz, ein Material oder einen anderen Gegenstand, das dem Hersteller zufolge für Menschen bestimmt ist und allein oder in Kombination einen oder mehrere der folgenden spezifischen meidzinischen Zwecke erfüllen soll ● Diagnose, Verhütung, Überwachung, Vorhersage, Prognose, Behandlung oder Linderung von Krankheiten, ● Diagnose, Überwachung, Behandlung, Linderung von oder Kompensierung von Verletzungen oder Behinderungen, ● Untersuchung, der Ersatz oder Veränderung der Anatomie oder eines physio‐ logischen oder pathologischen Vorgangs oder Zustands, ● Gewinnung von Informationen durch die In-vitro-Untersuchung von aus dem menschlichen Körper - auch aus Organ-, Blut- und Gewebespenden - stammenden Proben und dessen bestimmungsgemäße Hauptwirkung im oder am menschlichen Körper weder durch pharmakologisch oder immunologisch Mittel noch metabolisch er‐ reicht wird, dessen Wirkungsweise aber durch solche Mittel unterstützt werden kann. 2.8 Industrielle Hersteller von Medizinprodukten 245 <?page no="246"?> Anhand der bestimmungsgemäßen Hauptwirkung erfolgt Abgrenzung zwischen den Medizinprodukten und Arzneimitteln (vgl. Abschnitt 2.9.2). Medizinprodukte wirken physikalisch, Arzneimittel dagegen pharmakologisch, immunologisch oder metabolisch. ➤ Beispiel Silikonölhaltige Präparate zur Bekämpfung von Kopfläusen verschließen die Atemöffnungen der Läuse, so dass die Läuse ersticken. Somit wirken die Präparate physikalisch und stellen Medizinprodukte dar. Wenn der Betrieb des Medizinprodukts von einer Stromquelle oder einer anderen Energiequelle (mit Ausnahme der direkt vom menschlichen Körper oder durch die Schwerkraft erzeugten Energie) abhängig ist, wird es als aktives Medizinprodukt bezeichnet (Art. 2 Nr.-4 MDR). ➤ Beispiel Defibrillator, Heizkissen Wenn das Produkt dazu bestimmt ist, durch einen klinischen Eingriff ● ganz in den menschlichen Körper eingeführt zu werden oder ● eine Epitheloberfläche oder die Oberfläche des Auges zu ersetzen und nach dem Eingriff dort zu verbleiben, oder ● teilweise in den menschlichen Körper eingeführt zu werden und nach dem Eingriff mindestens 30 Tage dort zu verbleiben, handelt es sich um ein implantierbares Medizinprodukt (Art. 2 Nr. 5 MDR). Wenn es für den Betrieb eine Energiequelle benötigt, wird es als aktives implantierbares Medizinprodukt bezeichnet. ➤ Beispiel Brustimplantat, Hüftgelenk, Herzklappe = implantierbares Medizinprodukt Herzschrittmacher = aktives implantierbares Medizinprodukt Gegenstände, Stoffe sowie Zubereitungen aus Stoffen, die selbst keine Medizinpro‐ dukte sind, aber vom Hersteller dazu bestimmt sind, mit einem Medizinprodukt verwendet zu werden, damit dieses zweckbestimmt eingesetzt werden kann, wird als Zubehör bezeichnet (Art. 2 Nr.-2 MDR). ➤ Beispiel Pflegemittel für Kontaktlinsen Zubehör wird wie ein eigenständiges Medizinprodukt behandelt (Art. 1 Abs. 1, 4 MDR). 246 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="247"?> Die Medizinprodukte werden unter Berücksichtigung ihrer Zweckbestimmung und abhängig von ihrem Risikopotenzial in vier Risikoklassen eingeteilt. Unter der Zweck‐ bestimmung wird die Verwendung, für die das Produkt nach den Herstellerangaben bestimmt ist, verstanden (Art. 2 Nr. 12 MDR). Die Einzelheiten der Klassifizierung sind Art. 51 sowie im Anhang VIII der MDR geregelt. Abbildungsnummer: 39 Einteilung der Medizinprodukte in Risikoklassen besonders hohes Risiko Beispiele: Herzschrittmacher, künstliches Hüftgelenk erhöhtes Risiko Beispiele: Pflegemittel für Kontaktlinsen, Röntgengeräte mittleres Risiko Beispiele: Kontaktlinsen, Hörgeräte, Ultraschallgeräte geringes Risiko Beispiele: Fieberthermometer, Verbandmaterial Klasse III Klasse IIb Klasse IIa Klasse I Abbildung 38: Einteilung der Medizinprodukte in Risikoklassen Zu den Medizinprodukten gehören auch In-vitro-Diagnostika, die in Art. 2 Nr.-2 IVDR definiert sind: ❋ Wissen-│-In-vitro-Diagnostikum Ein In-vitro-Diagnostikum ist ein Medizinprodukt, das als Reagenz, Reagenzpro‐ dukt, Kalibrator, Kontrollmaterial, Kit, Instrument, Apparat, Gerät, Software oder System (einzeln oder in Verbindung miteinander) vom Hersteller zur In-vitro-Un‐ tersuchung von aus dem menschlichen Körper stammenden Proben, einschließlich Blut- und Gewebespenden, bestimmt ist und ausschließlich oder hauptsächlich dazu dient, Informationen zu liefern a. über physiologische oder pathologische Prozesse oder Zustände, b. über kongenitale körperliche oder geistige Be c. über die Prädisposition für einen bestimmten gesundheitlichen Zustand oder eine bestimmte Krankheit, d. zur Feststellung der Unbedenklichkeit und Verträglichkeit bei den potenziellen Empfängern, 2.8 Industrielle Hersteller von Medizinprodukten 247 <?page no="248"?> 379 Beispiele aus: Spitzenberger, MPJ 2017, 3 ff. [6]. e. über die voraussichtliche Wirkung einer Behandlung oder die voraussichtli‐ chen Reaktionen darauf oder f. zur Festlegung oder Überwachung therapeutischer Maßnahmen. Ein Probenbehältnis, das vom Hersteller speziell dafür gefertigt wurde, die aus dem menschlichen Körper stammende Probe unmittelbar nach ihrer Entnahme aufzunehmen und im Hinblick auf eine In-vitro-Untersuchung aufzubewahren, gilt ebenfalls als In-vitro-Diagnostikum. Dagegen gelten (allgemeine) Laborgeräte nicht als In-vitro-Diagnostika, es sei denn, sie sind nach der vom Hersteller festgelegten Zweckbestimmung speziell für In-vitro-Untersuchungen zu verwenden. Anders als die In-vitro-Diagnostika gehören In-vivo-Diagnostika, die einem Menschen verabreicht werden, um eine medizinische Diagnose zu ermitteln, gem. § 2 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b AMG zu den Arzneimitteln. ➤ Beispiel Blutzuckerteststreifen = In-vitro-Diagnostika = Medizinprodukt Kontrastmittel für eine Röntgenaufnahme = In-vivo-Diagnostika = Arzneimittel Die In-vitro-Diagnostika werden in vier Risikoklassen eingeteilt: Abb. 40: Einteilung der In-vitro-Diagnostika höchstes Risiko Beispiele: HIV-Screening Tests, AB0-Blutgruppenbestimmung hohes Risiko Beispiele: PSA Tests, HLA-Typisierung, therapiebegleitende Diagnostika, sofern nicht Klasse D mittleres Risiko Beispiele: Urinstreifen, Schwangerschaftstest geringes Risiko Beispiele: Analysesystem für Klinische Chemie, Mikrobiologische Nährmedien Klasse D Klasse C Klasse B Klasse A Abbildung 39: Einteilung der In-vitro-Diagnostika 379 248 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="249"?> 380 Vgl. List-Nörr, Kommentar zum Medizinrecht, MPG §-19 Rn. 2. Die Leistungsbewertung, die klinischen Leistungsstudien, das Inverkehrbringen, die Bereitstellung auf dem Markt und die Inbetriebnahme der In-vitro-Diagnostika sind nicht in der MDR, sondern in einer gesonderten EU-Verordnung, nämlich der IVDR, geregelt. Die nachfolgenden Erläuterungen beziehen sich auf die für die Medizinpro‐ dukte geltenden Rahmenbedingungen, ohne auf die spezifischen Regelungen für In-vitro-Diagnostika einzugehen. 2.8.3 Klinische Bewertung und klinische Prüfung von Medizinprodukten Medizinprodukte dürfen grundsätzlich nur mit einer CE-Kennzeichnung in den Verkehr gebracht werden. Diese Kennzeichnung erfordert den Nachweis in einem Konformitätsbewertungsverfahren, dass das Medizinprodukt die grundlegenden Sicher‐ heits- und Leistungsanforderungen erfüllt. Das Konformitätsbewertungsverfahren setzt wiederum eine klinische Bewertung oder klinische Prüfung des Medizinprodukts voraus, die in den Art. 61 ff. und Anhang XIV der MDR sowie §§ 24 MPDG näher geregelt sind. In der klinischen Bewertung geht es um die Erhebung und Bewertung der klinischen Daten zu dem jeweiligen Medizinprodukt mit dem Ziel, die Eignung, Sicherheit und Leistung des Medizinprodukts für den vom Hersteller vorgesehenen Verwendungs‐ zweck zu prüfen und zu belegen (vgl. Art. 2 Nr. 44 MDR). Die dafür notwendigen Sicherheits- und Leistungsdaten können - wenn für das Medizinprodukt keine klini‐ sche Prüfung notwendig ist - aus der Fachliteratur oder aus Berichten sonstiger klinischer Erfahrungen, wie z. B. aus Laboruntersuchungen, validierter Prüfungen, Computersimulationen, stammen. 380 Entsprechende Daten eines ähnlichen Produkts kann der Hersteller verwenden, wenn er die Gleichartigkeit beider Produkte nachwei‐ sen kann (Ziff. 3 des Anhangs XIV der MDR). Die Durchführung und Dokumentation der klinischen Bewertung richtet sich nach den Vorgaben des Anhangs XIV der MDR. Danach hat der Hersteller, u. a. einen Plan aufzustellen, die für sein Produkt relevanten und verfügbaren klinischen Daten, auch ungünstige Daten, zu ermitteln und für offente Fragen neue Daten zu erzeugen. Insgesamt muss der Hersteller die Bewertung gründlich und objektiv vornehmen. Eine klinische Prüfung ist grundsätzlich für implantierbare sowie für Medizinpro‐ dukte der Klasse III vorgesehen. Von einer klinischen Prüfung kann der Hersteller ausnahmsweise absehen, wenn es sich um die Änderung eines Produkts handelt, das er bereits in den Verkehr gebracht hat. Jedoch muss er anstelle der klinischen Prüfung zum einen nachweisen, dass das geänderte Produkt dem in Verkehr gebrachten Produkt gleichartig ist, und dieser Nachweis muss von der Benannten Stelle bestätigt worden sein. Zum anderen muss die klinische Bewertung des in Verkehr gebrachten Produkts ausreichen, um nachzuweisen, dass das geänderte Produkt die einschlägigen Sicher‐ heits- und Leistungsanforderungen erfüllt (Art. 61 Abs. 4 MDR). Weitere Ausnahmen 2.8 Industrielle Hersteller von Medizinprodukten 249 <?page no="250"?> von der Notwendigkeit einer klinischen Prüfung sind in Art. 61 Abs. 5, 6 MDR zu finden. Nach Art. 2 Nr. 45 MDR handelt es sich bei einer klinischen Prüfung um eine syste‐ matisiche Untersuchung, bei der ein oder mehrere menschliche Prüfungsteilnehmer einbezogen sind und zwecks Bewertung der Sicherheit oder Leistung eines Produkts durchgeführt wird. Das Produkt, das in der klinischen Prüfung bewertet wird, wird in diesem Zusammenhang Prüfprodukt genannt (Art. 2 Nr.-46 MDR). Das Unternehmen, das die Verantwortung für die Veranlassung, Organisation und Finanzierung einer klinischen Prüfung trägt, wird als Sponsor bezeichnet (Art. 2 Nr. 49 MDR). Der Sponsor muss für die Durchführung einer klinischen Prüfung die in den Art. 62 ff. und Anhang XV der MDR aufgestellten Voraussetzungen erfüllen, wie beispielsweise: ● Vorhandensein eines Prüfplans, der dem Stand der Technik entspricht, ● Nachweis einer geeigneten Einrichtung und eines qualifizierten Prüfers, ● Aufklärung und Einwilligung der Probanden, ● Bestehen einer Probandenversicherung für Schäden infolge einer Gesundheits- oder Körperverletzung oder Tod eines Menschen bei Durchführung der klinischen Prüfung. Ferner steht die klinische Prüfung unter einem Verbot mit Erlaubnisvorbehalt. Ihre Durchführung setzt eine Genehmigung der zuständigen Bundesoberbehörde (Art. 70 MDR, § 31 Abs. 2 MPDG) sowie eine zustimmende Bewertung der zuständigen Ethik-Kommission (Art. 62 Abs. 4 MDR, §§ 32 ff. MPDG) voraus. Die zuständige Bun‐ desoberbehörde ist gem. § 85 Abs. 2 MPDG das BfArM. Die Genehmigungspflicht be‐ steht dagegen nicht, wenn der Sponsor eine klinische Prüfung für ein Medizinprodukt mit geringem Sicherheitsrisiko, und zwar für Produkte der Risikoklasse I oder für nicht invasive Produkte der Klasse II, durchführen möchte. Mit einer solchen Prüfung kann er beginnen, wenn das BfArM nicht innerhalb einer bestimmten Frist widerspricht (§ 31 Abs. 1 MPDG). Die Notwendigkeit der Zustimmung der Ethik-Kommission gilt dagegen auch für die Medizinprodukte mit geringem Sicherheitsrisiko (§ 31 Abs. 1 MPDG). Für multinationale klinische Prüfung innerhalb der EU sieht Art. 78 MDR ein koordiniertes Bewertungsverfahren zwischen den beteiligten Mitgliedstaaten vor. Dazu reicht der Sponsor einen einzigen Antrag über das elektronische EU-Portal ein. Das Bewertungsverfahren wird von einem Mitgliedstaat geleitet. Dieser sog. koordinierende Mitgliedstaat erstellt einen Bewertungsbericht, den er mit den anderen betroffenen Staaten abstimmt und auf dessen Basis er entscheidet, ob die Durchführung der klinischen Prüfung vertretbar oder nicht vertretbar ist. Wenn er zu dem Ergebnis kommt, dass die klinische Prüfung vertretbar oder unter Auflagen vertretbar ist, dürfen die betroffenen Mitgliedstaaten unter bestimmten Voraussetzungen (z. B. wegen eines Verstoßes gegen nationale Rechtsvorschriften) von dem Ergebnis des koordinierenden Mitgliedstaates gleichwohl abweichen und die Genehmigung der Prüfung verweigern. 250 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="251"?> Dagegen ist für den Fall, dass sich der koordinierende Mitgliedstaat gegen eine Vertretbarkeit der klinischen Prüfung ausspricht, keine Abweichung der anderen Mitgliedstaaten vorgesehen. Die klinische Prüfung ist so zu konzipieren und durchzuführen, dass der Schutz der Prüfungsteilnehmer gewährleistet ist (Art. 62 Abs. 3 MDR). Die Durchführung der klinischen Prüfung muss dem genehmigten Prüfplan entsprechen (Art. 72 MDR). Ferner muss der Sponsor für Notfälle vorsorgen. Er muss ein Verfahren etablieren, durch das die eingesetzten Produkte unverzüglich identifiziert und ggf. aus dem Prüfungsverfahren entfernt werden können. Die Einhaltung der Rechtsvorschriften wird staatlicherseits gem. § 68 MPDG überwacht. Gem. § 63 MPDG muss der Prüfer oder der Hauptprüfer (verantwortlicher Leiter bei Vorhandensein mehrerer Prüfer) dem Sponsor jedes schwerwiegende unerwünschte Ereignis melden. Ein solches liegt vor, wenn der Tod, eine lebensbedrohliche Erkran‐ kung oder Verletzung, ein bleibender Körperschaden oder eine dauerhafte Beeinträch‐ tigung einer Körperfunktion, eine stationäre Behandlung oder Verlängerung der stationären Behandlung, eine medizinische oder chirurgische Intervention zur Verhin‐ derung einer lebensbedrohlichen Erkrankung oder Verletzung oder eines bleibenden Körperschadens oder einer dauerhaften Beeinträchtigung einer Körperfunktion oder eine chronische Erkrankung eines Prüfungsteilnehmers oder eine fötale Gefährdung, der Tod des Fötus oder kongenitale körperliche oder geistige Beeinträchtigungen oder Geburtsfehler eingetreten ist (Art. 2 Nr. 58 MDR). Der Sponsor wiederum muss das BfArM über dieses Ereignis informieren (§ 64 Abs. 1 MPDG). Das BfArM kann die Unterbrechung, den Abbruch oder die Änderung der klinischen Prüfung anordnen oder die Genehmigung für die klinische Prüfung widerrufen (Art. 76 MDR, § 69 MPDG). Zudem müssen der Sponsor sowie die Personen, die die klinische Prüfung durchführen, bei einer Gefährdung von Probanden, Anwendern oder Dritten unverzüglich alle erforderlichen Sicherheitsmaßnahmen ergreifen (§-66 MPDG). Die Beendigung der klinischen Prüfung ist innerhalb von 15 Tagen über das EU-Portal den beteiligten Mitgliedstaaten anzuzeigen; der Schlussbericht ist innerhalb eines Jahres einzureichen (Art.-77 Abs. 3-5 MDR). 2.8.4 Konformitätsbewertungsverfahren und CE-Kennzeichnung Medizinprodukte dürfen gem. Art. 20 Abs. 1 MDR grundsätzlich nur mit CE-Kenn‐ zeichnung in den Verkehr gebracht werden (zu den Ausnahmen vgl. Abschnitt 2.8.5). Die CE-Kennzeichnung bringt zum Ausdruck, dass das Produkt die einschlägigen Anforderungen erfüllt, die sich aus der MDR und anderen Rechtsvorschriften der EU für Medizinprodukte ergeben (vgl. Art. 2 Nr. 43 MDR). Dagegen steht sie nicht für Qualitätsparameter, die über die grundlegenden Sicherheits- und Leistungsanfor‐ derungen hinausgehen, auch wenn die Kennzeichnung im Wirtschaftsverkehr häufig als (umfassendes) Qualitätssymbol verstanden wird. Zur Verdeutlichung sei darauf hingewiesen, dass es bei einer Vielzahl von Medizinprodukten Ausführungen verschie‐ 2.8 Industrielle Hersteller von Medizinprodukten 251 <?page no="252"?> 381 Vgl. Schleert, Massing, BKK 1999, 178 ff. [184] für das Beispiel eines Blutdruckmessgeräts. dener Hersteller gibt, die zwar alle das CE-Zeichen tragen, sich dennoch in einzelnen Merkmalen, wie beispielsweise Praktikabilität der Handhabung, Lebensdauer und Preis, unterscheiden. 381 Die CE-Kennzeichnung setzt voraus, dass ein Konformitätsbewertungsverfahren gem. Art. 52 MDR durchgeführt worden ist. In diesem Verfahren muss der Hersteller nachweisen, dass sein Produkt die im Anhang I der MDR festgelegten grundlegenden Sicherheits- und Leistungsanforderungen erfüllt. Diese enthalten Vorgaben für die stofflichen Eigenschaften der Produkte, für ihre Konstruktion und Herstellung, für Vorrichtungen zum Schutz vor mechanischen, thermischen und anderen Gefahren sowie Vorgaben für die Kennzeichnung und bereitzustellenden Produktinformationen. Die Einhaltung der Anforderungen soll sicherstellen, dass weder der klinische Zustand und die Sicherheit der Patienten noch die Sicherheit und die Gesundheit der Anwender oder Dritter bei der bestimmungsgemäßen Anwendung des Medizinprodukts gefährdet sind. Etwaige Risiken, die von dem Medizinprodukt ausgehen, müssen medizinisch vertretbar sein und in einem angemessenen Verhältnis zum Nutzen stehen. Wenn das Produkt harmonisierten Normen, die im Amtsblatt der EU veröffentlicht sind, oder gemeinsamen Spezifikationen, die die Europäische Kommission erlassen hat, entspricht, so wird die Konformität angenommen (Art. 8, 9 MDR). Verantwortung für das Konformitätsbewertungsverfahren trägt der Hersteller. ❋ Wissen-│-Hersteller Hersteller ist gem. Art. 2 Nr. 30 MDR derjenige, der ein Produkt herstellt oder neu aufbereitet bzw. entwickeln, herstellen oder neu aufbereiten lässt und dieses Produkt im eigenen Namen oder mit eigener Marke vermarktet. Unter Neuaufbe‐ reitung wird die vollständige Rekonstruktion eines bereits in Verkehr gebrachten oder in Betrieb genommenen Produkts oder die Herstellung eines neuen Produkts aus gebrauchten Produkten mit dem Ziel, dass das Produkt den Anforderungen der MDR entspricht, verstanden (Art. 2 Nr.-31 MDR). Wer nur Einzelteile für ein noch fertigzustellendes Medizinprodukt herstellt und liefert, ist kein Hersteller. Gleiches gilt für denjenigen, der ein bereits in den Verkehr gebrachtes Medizinprodukt auf Grund eines Werkvertrages wartet oder instandsetzt und anschließend wieder an den Besteller abgibt. Derjenige, der ein in Verkehr gebrachtes Medizinprodukt ohne Änderung seiner Zweckbestimmung für einen bestimmten Patienten montiert oder anpasst, ist ebenfalls kein Hersteller (Art. 16 Abs. 1 Unterabs. 2 MDR). Das Konformitätsbewertungsverfahren wird je nach Produktart und -klasse in Form ei‐ ner Bewertung des Qualitätsmangementsystems und der technischen Dokumentation des Herstellers oder einer Baumusterprüfung und/ oder einer Produktkonformitätsprüfung 252 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="253"?> 382 Vgl. https: / / www.zlg.de/ medizinprodukte/ benennung-von-zertifizierungsstellen/ mdr-ivdr (Abruf am 21.11.2021). durchgeführt (vgl. im Einzelnen Anhänge IX bis XI der MDR). Das Verfahren führt der Hersteller unter Einschaltung einer sog. Benannten Stelle durch. Für Medizinprodukte der Klasse I kann der Hersteller die Konformität seines Produkts gem. Art. 52 Abs. 7 MDR selbt bewerten. Nur bei sterilen Medizinprodukten, Medizinprodukten mit Messfunkion und bei wiederverwendbaren chirurgischen Instrumenten muss er im Hinblick auf die Sterilität, die messtechnischen Anforderungen bzw. auf die Aspekte der Wiederverwendung (wie z. B. Reinigung, Desinfektion) eine Benannte Stelle einschalten. ❋ Wissen-│-Benannte Stelle Eine Benannte Stelle ist eine für die Durchführung von Prüfungen und die Erteilung von Bescheinigungen im Zusammenhang mit Konformitätsbewertungsverfahren tätige Stelle, die der Europäischen Kommission von den Mitgliedstaaten benannt worden ist (Art. 2 Nr.-42 MDR i. V. m. Art. 42 MDR). Für die Prüfung, ob die Benannte Stelle die für sie geltenden Anforderungen erfüllt, und für die Benennung sind nationale Behörden zuständig. In Deutschland nimmt die Zentralstelle der Länder für Gesundheitsschutz bei Arzneimitteln und Medizinprodukten (ZLG) 382 diese Aufgaben wahr. Der Hersteller kann die Benannte Stelle für die Durchführung der Konformitätsbewer‐ tung frei wählen (Art. 53 Abs. 1 MDR). Dabei kann er auch Benannte Stellen anderer Mitgliedsstaaten der EU beauftragen. Gem. Art. 53 Abs. 4 MDR kann die Benannte Stelle im Konformitätsbewertungsverfahren alle Informationen und Angaben fordern, die zur Durchführung der Überprüfungen und Bewertungen und zur Erteilung von Bescheinigungen erforderlich sind. Nach erfolgreichem Abschluss des Konformitätsbewertungsverfahrens darf das Medizinprodukt mit CE-Kennzeichnung in den Verkehr gebracht werden. Wenn die CE-Kennzeichnung auf einem Medizinprodukt unrechtmäßig angebracht worden ist, wirkt die zuständige Landesbehörde daraufhin, dass die notwendigen Vo‐ raussetzungen durch das Unternehmen erfüllt werden. Wenn dieses den behördlichen Weisungen nicht nachkommt, hat die Behörde das Inverkehrbringen des Medizinpro‐ duktes einzuschränken, z. B. zu veranlassen, dass das Medizinprodukt vom Markt genommen wird (§ 78 MPDG). Ferner ist das Anbringen einer CE-Kennzeichnung, ohne dass die Voraussetzungen erfüllt sind, strafbar (§-93 Abs. 3 MPDG). 2.8 Industrielle Hersteller von Medizinprodukten 253 <?page no="254"?> 2.8.5 Inverkehrbringen von Medizinprodukten Unter einem Inverkehrbringen wird die erstmalige Bereitstellung eines Medizinpro‐ dukts auf dem Markt der EU verstanden (Art. 2 Nr. 28 MDR). Die Bereitstellung auf dem Markt wiederum bezeichnet jede entgeltliche oder unentgeltliche Abgabe eines Produkts zum Vertrieb, zum Verbrauch oder zur Verwendung auf dem Unionsmarkt im Rahmen einer gewerblichen Tätigkeit (Art. 2 Nr.-27 MDR). ➤ Beispiel Ein Hersteller von OP-Textilien liefert seine Produkte an Krankenhäuser. Die erneute Abgabe eines Medizinprodukts nach seiner Inbetriebnahme an andere gilt als Bereitstellung auf dem Markt, aber nicht als Inverkehrbringen, es sei denn, dass das Medizinprodukt neu aufbereitet worden ist. ➤ Beispiel Wenn ein Krankenhaus seine gebrauchten OP-Textilien an eine Wäscherei ver‐ kauft und übergibt, ist zwar eine Abgabe, aber kein Inverkehrbringen gegeben. Wenn diese Wäscherei die aufgekauften OP-Textilien neu aufbereitet (siehe zum Begriff Art. 3 Nr. 31 MDR) und anschließend an andere Krankenhäuser abgibt, liegt ein Inverkehrbringen vor. Ferner liegt kein Inverkehrbringen vor, wenn ein Medizinprodukt für einen anderen aufbereitet und an diesen zurückgegeben wird. ➤ Beispiel Ein Krankenhaus gibt seine OP-Textilien zum Waschen, Desinfizieren, Trocknen und Sterilisieren einer externen Wäscherei und erhält sie zurück. Wenn der Hersteller eines Medizinprodukts nicht in einem der EU-Mitgliedstaaten niedergelassen ist, kann er sein Produkt nur in der Union in Verkehr bringen, wenn er einen einzigen Bevollmächtigten mit Sitz in der EU benennt, der den aus der MDR resultierenden Verpflichtungen nachkommt (Art. 2 Nr.-32, Art. 11 MDR). Das Inverkehrbringen eines Medizinprodukts setzt grundsätzlich eine CE-Kenn‐ zeichnung voraus. Ausgenommen davon sind gem. Art.-20 Abs. 1 MDR ● Sonderanfertigungen gem. Art.-2 Nr.-3 MDR (vgl. Abschnitt 2.7.4), ● Medizinprodukte, die im Rahmen einer klinischen Prüfung bewertet werden, sog. Prüfprodukte (Art. 2 Nr.-46 MDR), Das Inverkehrbringen eines Medizinprodukts ohne die erforderliche CE-Kennzeich‐ nung stellt eine Ordnungswidrigkeit dar und kann mit einer Geldbuße bis zu 30.000 Euro geahndet werden (§ 94 Abs. 3 Nr.-7, Abs. 4 MPDG). 254 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="255"?> 383 Arzneimittelverschreibungsverordnung v. 21.12.2005, BGBl. I S. 3632, z. g. d. G v. 3.6.2021, BGBl. I S.-1309. Gem. §§ 12, 13 MPDG dürfen Medizinprodukte - auch wenn sie eine CE-Kennzeich‐ nung tragen---nicht in den Verkehr gebracht werden, wenn ● der begründete Verdacht besteht, dass sie die Sicherheit und die Gesundheit der Patienten, der Anwender oder Dritter bei sachgemäßer Verwendung unvertretbar gefährden, oder ● das Datum abgelaufen ist, bis zu dem eine gefahrlose Anwendung nachweislich möglich ist, oder ● es sich um gefälschte Produkte handelt. Zuwiderhandlungen sind gem. § 94 Abs. 2 Nr. 3 MPDG bußgeldbewehrt bzw. nach § 92 Abs. 1 Nr.-2, 3 MPDG strafbewehrt. Wenn das Medizinprodukt ohne die erforderliche CE-Kennzeichnung oder zu Un‐ recht mit einer CE-Kennzeichnung in den Verkehr gebracht worden ist, kann die zuständige Landesbehörde zur Gefahrenabwehr das Inverkehrbringen eines Medizin‐ produkts einschränken oder untersagen, vgl. dazu Abschnitt 2.8.7. 2.8.6 Vertriebswege für Medizinprodukte Die Vertriebswege für Medizinprodukte sind in Deutschland sehr heterogen. Medizin‐ produkte sind grundsätzlich freiverkäuflich. Ausgenommen davon sind Medizinpro‐ dukte, die zur Anwendung durch den Laien bestimmt sind und der Verschreibungs- oder Apothekenpflicht unterliegen. Verschreibungspflicht bedeutet, dass die Medi‐ zinprodukte nur auf der Grundlage einer (zahn-)ärztlichen Verschreibung an den Endverbraucher abgegeben werden dürfen. Anders als bei den Arzneimitteln sind verschreibungspflichtige Medizinprodukte nicht in jedem Fall apothekenpflichtig. Neben den Apotheken gibt es andere Abgabestellen (z. B. Sanitätshäuser). Die Beliefe‐ rung der Abgabestellen durch den Hersteller oder durch Händler unterliegt nicht der Verschreibungspflicht (§ 1 Abs. 1 S. 2 MPAV). Die §§ 1, 2 MPAV sehen ein Apotheken- und Verschreibungspflicht für folgende Medizinprodukte vor: Medizinprodukte, die zur Anwendung durch den Laien bestimmt sind verschreibungspflichtig apotheken- und ver‐ schreibungspflichtig apothekenpflichtig Medizinprodukte, die in Anlage 1 der MPAV genannt sind (gegenwärtig genannt: oral zu applizierende Sätti‐ gungspräparate auf Cellulosebasis mit definiert vorgegebener Geometrie zur Behandlung des Übergewichts und zur Gewichtskontrolle) Medizinprodukte, die Stoffe oder Zubereitungen aus Stoffen enthalten, die nach der AMVV 383 ver‐ schreibungspflichtig sind Medizinprodukte, die in der Anlage 2 der MPAV genannt sind (ge‐ genwärtig: Hämodialyse‐ konzentrate) 2.8 Industrielle Hersteller von Medizinprodukten 255 <?page no="256"?> 384 Verordnung über apothekenpflichtige und freiverkäufliche Arzneimittel v. 24.11.1988, BGBl. I S. 2150, z.-g. d. VO v. 21.10.2020, BGBl. I S.-2260. Medizinprodukte, die zur Anwendung durch den Laien bestimmt sind verschreibungspflichtig apotheken- und ver‐ schreibungspflichtig apothekenpflichtig - Medizinprodukte, auf die Stoffe oder Zubereitun‐ gen aus Stoffen aufge‐ tragen sind, die nach der AMVV verschrei‐ bungspflichtig sind Medizinprodukte, die Stoffe oder Zubereitun‐ gen aus Stoffen enthal‐ ten, die zwar nicht nach der AMVV verschrei‐ bungspflichtig, aber apo‐ thekenpflichtig sind (vgl. zur Apothekenpflicht von Arzneimitteln §§ 43- 47 AMG und die AM‐ VerkRV 384 ) Tabelle 17: Apotheken- und verschreibungspflichtige Medizinprodukte, die zur Anwendung durch den Laien bestimmt sind Dementsprechend umfasst der Versorgungsauftrag der Apotheken nicht nur die Abgabe von Arzneimitteln, sondern auch von apothekenpflichtigen Medizinprodukten (§ 1 Abs. 1 ApBetrO). Die nicht apothekenpflichtigen Medizinprodukte können in Apotheken als apothekenübliche Waren (§ 1a Abs. 10 ApBetrO) sowie in anderen Abgabestellen (z.-B. Arztpraxen, Sanitätshäusern, Drogerien) vertrieben werden. Die Abgabestellen müssen die in § 3 MPAV vorgesehenen betrieblichen und perso‐ nellen Voraussetzungen hinsichtlich der Lagerung und Abgabe der Produkte sowie der Kundenberatung erfüllen. Für die Apotheken ergeben sich diese Anforderungen bereits aus der ApBetrO. Vertragsärzte müssen zudem § 128 SGB V beachten, der ihnen die Abgabe von Medizinprodukten, die zugleich Hilfsmittel sind, an Versicherte verbietet. Medizinprodukte, die nicht zur Anwendung durch Laien vorgesehen sind, dürfen gem. § 3 Abs. 1 S. 2 MPAV grundsätzlich nur an Angehörige der Heilberufe, an Gesundheitseinrichtungen oder andere Angehörige der Fachkreise abgegeben werden (zu den Fachkreisen vgl. § 3 Nr. 2 MPDG). Zu ihnen gehören z. B. Krankenhäuser, Ärzte und Zahnärzte, Pflegeheime und Pflegedienste. Die Belieferung mit Medizinprodukten erfolgt regelmäßig im Direktvertrieb durch den Hersteller oder ggf. unter Einschaltung von (Groß-)Handelsunternehmen. Bestimmte Medizinprodukte werden aber auch in diesem Bereich über Apotheken vertrieben, wie z. B. der Sprechstundenbedarf einer Arztpraxis. 256 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="257"?> 385 Die Länder führen das MPG gem. Art. 83 GG als eigene Angelegenheit aus, so dass sich die Zuständigkeit nach den jeweiligen Landesvorschriften richtet. 386 Vgl. Bay. VGH, Beschl. v. 15.11.2005, 25 C 05.2147, juris; Hobusch, Ochs, MedR 2009, 15 ff. [17]. 2.8.7 Staatliche Aufsicht über den Medizinproduktehersteller und Marktüberwachung durch staatliche Behörden Der Hersteller von Medizinprodukten unterliegt der staatlichen Aufsicht (Art. 93 MDR, § 77 MPG). Die behördliche Zuständigkeit folgt aus den Rechtsvorschriften der einzelnen Bundesländer. 385 Die zuständige Behörde prüft, ob die für die Medizinprodukte geltenden Vorschriften eingehalten werden. Dafür stehen ihr die in den § 79 MPDG genannten Befugnisse zur Verfügung, wie beispielsweise: ● Betreten und Besichtigen von Grundstücken, Geschäfts- und Betriebsräumen, ● Prüfung von Medizinprodukten und Entnahme von Proben, ● Verlangen von Auskünften, ● Einsicht in die Unterlagen über die Entwicklung, Herstellung, Prüfung, klinische Prüfung, Leistungsbewertungsprüfung oder Erwerb, Aufbereitung, Lagerung, Ver‐ packung, Inverkehrbringen und sonstigen Verbleib der Medizinprodukte, ● Anfertigen oder Verlangen von Kopien von den vorgenannten Unterlagen bzw. von den Datenträgern, auf denen sich die Unterlagen befinden. Wenn die Behörde Verstöße feststellt, trifft sie alle erforderlichen Maßnahmen zum Schutze der Patienten, Anwender und Dritten vor den Gefahren, die von dem betrof‐ fenen Medizinprodukt ausgehen. Sie kann z. B. eine Betriebsschließung verfügen, das Inverkehrbringen eines Medizinprodukts verbieten, einen Rückruf der bereits auf dem Markt befindlichen Produkte anordnen oder das Betreiben und Anwenden der Produkte verbieten (§ 78 Abs. 1 MPDG). ➤ Beispiel Der Bayerische VGH 386 bestätigte eine behördliche Entscheidung, mit der das Inverkehrbringen eines geraden Mundstücks als Applizierhilfe bei Asthmasprays untersagt worden war. Dieses Mundstück konnte anstelle des handelsüblichen Mundstücks in L-Form verwendet werden. Nach den Herstellerangaben konnte infolge der geänderten Form bei jedem Sprühstoß die bis zu doppelte Menge des Wirkstoffs in die Lunge appliziert werden. Eine damit einhergehende Über‐ dosierung konnte nicht ausgeschlossen werden. Der VGH wies darauf hin, dass sich die im Handel befindlichen Sprays aus Wirkstoff, Behälter und Mundstück zusammensetzen und somit ein Fertigarzneimittel bilden würden. Wenn die Mundstücke in L-Form durch die Geraden ausgewechselt werden würden, läge keine Zulassungskonformität des Arzneimittels mehr vor. Um diese Unsicherheit bei der Verwendung des Arzneimittels auszugleichen, müsste das gerade Mund‐ 2.8 Industrielle Hersteller von Medizinprodukten 257 <?page no="258"?> stück als selbstständiges Medizinprodukt zugelassen werden. Dafür fehlte jedoch bereits die klinische Bewertung der geraden Mundstücke. 2.8.8 Produktüberwachung nach dem Inverkehrbringen und Vigilanz Der Hersteller muss für jedes Medizinprodukt ein System zur Überwachung nach dem Inverkehrbringen einrichten und aktuell halten, durch das er Daten über sein Produkt bzgl. Qualität, Leistung und Sicherheit proaktiv erhebt und überprüft, um einen etwaigen Bedarf an notwendigen Korrektur- oder Präventivmaßnahmen festzustellen (Art. 83 Abs. 1, 2, Art. 2 Nr. 60 MDR). Die im Rahmen der Überwachung gewonnenen Informationen, z. B. über schwerwiegende Vorkommnisse, die Ergebnisse von Analy‐ sen und ergriffenen Präventiv- und Korrekturmaßnahmen sind zu dokumentieren. Dafür muss der Hersteller von Produkten der Risikoklasse I den in Art. 85 MDR vorgesehenen Bericht über die Überwachung nach dem Inverkehrbringen erstellen, bei Bedarf aktualisieren und der zuständigen Behörde auf Verlangen vorlegen. Für ein Produkt der Risikoklassen IIa, IIb und III muss er einen Sicherheitsbericht erstellen, der die in Art. 85 MDR vorgesehenen Angaben, z. B. Schlussfolgerungen aus der Nutzen-Risiko-Abwägung, enthalten muss. Dieser Sicherheitsbericht muss für Medi‐ zinprodukte der Klasse III und bei implantierbaren Produkten mindestens einmal jährlich der Benannten Stelle, die am Konformitätsbewertungsverfahren mitgewirkt hat, vorgelegt werden. Zusammen mit deren Bewertung wird der Sicherheitsbericht den zuständigen Behörden elektronisch über die Europäische Datenbank für Medizin‐ produkte (Eudamed) verfügbar gemacht. Für die anderen Produkte der Klassen IIa und IIb muss der Sicherheitsbericht bei Bedarf, mindestens aller zwei Jahre, der Benannten Stelle, die am Konformitätsbewertungsverfahren mitgewirkt hat, vorgelegt werden; die zuständigen Behörden erhalten den Bericht auf Verlangen. Wenn das in den Verkehr gebrachte Medizinprodukt nicht den rechtlichen Anforde‐ rungen genügt, muss der Hersteller (oder sein Bevollmächtigter) durch entsprechende Maßnahmen dafür sorgen, dass die Konformität des Produktes hergestellt wird oder das Produkt vom Markt genommen wird (Art.-10 Abs. 12, Art.-83 Abs. 4 MDR). Wenn dem Hersteller ein schwerwiegendes Vorkommnis bekannt werden, muss er dieses den zuständigen Behörden elektronisch über die Eudamed melden (Art. 87 MDR). ❋ Wissen-│-schwerwiegendes Vorkommnis Ein schwerwiegendes Vorkommnis bezeichnet eine Fehlfunktion oder Ver‐ schlechterung der Eigenschaften oder der Leistung eines Produktes, einschließlich Anwendungsfehlern aufgrund ergonomischer Merkmale, oder eine Unzulänglich‐ keit der vom Hersteller bereitgestellten Informationen oder eine unerwünschte Nebenwirkung, wodurch eine der nachstehenden Folgen eingetreten ist oder hätte eintreten können: 258 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="259"?> 1. Tod eines Patienten, Anwenders oder einer anderen Person, 2. vorübergehende oder dauerhafte schwerwiegende Verschlechterung des Ge‐ sundheitszustands eines Patienten, Anwenders oder einer anderen Person oder 3. eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Gesundheit (Art. 2, Nr.-64, 65 MDR). Die Meldung hat unverzüglich, nachdem der Hersteller einen Kausalzusammenhang zwischen seinem Produkt und dem schwerwiegenden Vorkommnis vermutet oder festgestellt hat, zu erfolgen. Sie ist je nach Schwere des Vorkommnisses spätestens ● nach 15 Tagen bzw. ● bei Tod oder unvorhergesehener schwerwiegender Verschlechterung des Gesund‐ heitszustandes einer Person nach zehn Tagen bzw. ● bei einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Gesundheit nach zwei Tagen ab Kenntnis vom Vorkommnis vorzunehmen. Zur Beseitigung des von einem Medi‐ zinprodukt ausgehenden Risikos muss der Hersteller alle notwendigen Sicherheitskor‐ rekturmaßnahmen im Feld treffen (Art. 83 Abs. 4, Art. 87 MDR). In Betracht kommt beispielsweise ein Rückruf des Medizinprodukts vom Markt. ❋ Wissen-│-Sicherheitskorrekturmaßnahme im Feld Eine Sicherheitskorrekturmaßnahme im Feld bezeichnet eine von einem Hersteller aus technischen oder medizinischen Gründen ergriffene Korrekturmaßnahme zur Verhinderung oder Verringerung des Risikos eines schwerwiegenden Vorkomm‐ nisses im Zusammenhang mit einem auf dem Markt bereitgestellten Produkt (Art. 2 Nr.-68 MDR). Des Weiteren muss er dafür sorgen, dass die Anwender des betroffenen Produkts von der getroffenen Maßnahme erfahren. Dazu muss er eine Sicherheitswanweisung im Feld veröffentlichen, die in allen EU-Mitgliedstaaten einheitlich sein muss (Art. 89 Abs. 8 MDR). Für das Gebiet der BRD ist festgelegt, dass die Sicherheitsanweisung in deutscher Sprache abgefasst sein muss (§-73 Abs. 1 MPDG). ❋ Wissen-│-Sicherheitswanweisung im Feld Eine Sicherheitsanweisung im Feld bezeichnet eine vom Hersteller im Zusammen‐ hang mit einer Sicherheitskorrekturmaßnahme im Feld an Anwender oder Kunden übermittelte Mitteilung (Art. 2 Nr.-69 MDR). 2.8 Industrielle Hersteller von Medizinprodukten 259 <?page no="260"?> Die infolge eines Vorkommnisses getroffenen Sicherheitskorrekturmaßnahmen muss der Hersteller gem. Art. 87 MDR ebenfalls elektronisch über die Eudamed melden. Anschließend muss er das schwerwiegende Vorkommnisses und die von ihm ergriffenen Maßnahmen analysieren und eine Risikobewertung z. B. bzgl. Wahrschein‐ lichkeit eines erneuten Auftretens des Problems, Häufigkeit der Produktverwendung, Wahrscheinlichkeit und Schwere von Schäden und den klinischen Nutzen des Produkts vornehmen (Art. 89 MDR). Des Weiteren muss der Hersteller gem. Art. 88 MDR Trends, d. h. einen signifikanten Anstieg der Häufigkeit oder des Schweregrades nicht schwerwiegender Vorkommnisse oder erwarteter unerwünschter Nebenwirkungen, die eine erhebliche Auswirkung auf das Nutzen-Risiko-Verhältnis des Produkts haben können und die zu inakzeptablen Risiken für die Gesundheit oder Sicherheit der Patienten, Anwender oder anderer Personen führen oder führen können, feststellen und über die Eudamed melden. Auf‐ grund der Meldung können die Behörden der Mitgliedstaaten die Trends bewerten und vom Hersteller verlangen, dass er geeignete Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit und der Patienten ergreift. Wenn das BfArM als zuständige Bundesoberbehörde über schwerwiegende Vor‐ kommnisse, Sicherheitskorrekturmaßnahmen im Feld oder Sicherheitsanweisungen im Feld in Kenntnis gesetzt wird, hat es eine Risikobewertung vorzunehmen (Art. 89 MDR, § 71 MPDG). Diese Kenntnis kann das BfArM durch Meldungen des Herstellers, Informationen von anderen EU-Mitgliedstaaten oder auch durch Meldungen von An‐ gehörigen von Gesundheitsberufen erlangen. § 3 MPAMIV stauiert Meldepflichten für verschiedene Personenkreise. So haben diejenigen, die Medizinprodukte gewerblich oder beruflich betreiben oder anwenden (z. B. Krankenhäuser, Ärzte) ein mutmaßliches schwerwiegendes Vorkommnis unverzüglich zu melden. Gleiches gilt für Ärzte und Zahnärzte, die in Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit von einem solchen Vorkomm‐ nis erfahren. Die Meldung hat an das BfArM zu erfolgen (§ 3 MPAMIV, §§ 71, 85 MPDG). Patienten oder deren Angehörige können dem BfArM ebenfalls mutmaßliche schwerwiegende Vorkommnisse melden (§-4-MPAMIV). ❋ Wissen-│-mutmaßliches schwerwiegendes Vorkommnis Unter einem mutmaßlichen schwerwiegenden Vorkommnis wird gem. § 2 MPAMIV ein Vorkommnis verstanden, bei dem nicht ausgeschlossen ist, dass es auf einer unerwünschten Nebenwirkung eines Produktes, auf einer Fehlfunktion, einer Verschlechterung der Eigenschaften oder der Leistung eines Produktes, einschließlich Anwendungsfehlern aufgrund ergonomischer Merkmale oder einer Unzulänglichkeit der vom Hersteller bereitgestellten Informationen beruht und das direkt oder indirekt eine der nachstehenden Folgen hatte oder hätte haben können: 1. den Tod eines Patienten, Anwenders oder einer anderen Person, 260 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="261"?> 2. die vorübergehende oder dauerhafte schwerwiegende Verschlechterung des Gesundheitszustands eines Patienten, Anwenders oder einer anderen Person oder 3. eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Gesundheit. Ziel und Inhalt der Risikobewertung durch das BfArM ist es, festzustellen, ob ein unvertretbares Risiko vorliegt und welche Sicherheitskorrekturmaßnahmen im Feld oder sonstigen Maßnahmen geboten sind (§ 71 Abs. 5 MPDG). Bei der Risikobewertung soll das BfArM mit dem Hersteller zusammenarbeiten (§ 72 Abs. 1 MPDG). Zur Wahrnehmung der Aufgabe sind dem BfArM verschiedene Befugnisse eingeräumt, wie beispielsweise: ● Durchführung von wissenschaftlichen Untersuchungen (§ 71 Abs. 2 MPDG), ● Produktprüfungen und Überprüfungen der Produktionsverfahren im Betrieb des Herstellers (§ 71 Abs. 3 MPDG), ● Einholen von erforderlichen Auskünften und Unterlagen beim Hersteller (§ 72 Abs. 4 MPDG). Kommt das BfArM nach Durchführung der Risikobewertung zu dem Schluss, dass von einem Produkt ein unvertretbares Risiko ausgeht, fordert es den Hersteller auf, alle Korrekturmaßnahmen zu ergreifen, die zum Schutz der Gesundheit oder Sicherheit von Patienten, Anwendern oder anderen Personen oder zum Schutz der öffentlichen Gesundheit vor Gefahren durch Produkte erforderlich sind, und teilt das Ergebnis der Risikobewertung der für den Hersteller zuständigen Landesbehörde mit (§ 74 Abs. 1 MPDG). Wenn der Hersteller keine angemessenen Korrekturmaßnahmen ergreift, ist die zuständige Landesbehörde befugt, alle Maßnahmen, die zum Schutz der Gesundheit oder Sicherheit von Patienten, Anwendern oder anderen Personen oder zum Schutz der öffentlichen Gesundheit vor Gefahren durch Produkte erforderlich sind, zu treffen (Art. 94, 95 MDR, § 74 MPDG). Sie kann z. B. das Inverkehrbringen der Medizinprodukte verbieten, einen Rückruf der bereits auf dem Markt befindlichen Produkte anordnen oder das Betreiben und Anwenden der Produkte verbieten (vgl. Abschnitt 2.8.7). Zudem muss die Landesbehörde der Kommission, den übrigen Mitgliedstaaten und der Benannten Stelle, die die Konformitätsbescheinigung ausgestellt hat, die ergriffene Maßnahme unverzüglich mitteilen (Art. 95 Abs. 4 MDR, § 74 Abs. 1 MPDG). Wenn ein anderer Mitgliedstaat mit der angeordneten Maßnahme nicht einverstanden ist, kann er seine Einwände bei der Europäischen Kommission geltend machen, die daraufhin die nationale Maßnahme bewertet darüber entscheidet, ob die Maßnahme gerechtfertigt ist (Art. 94 Abs. 6, Art. 96 MDR). Dieses Bewertungsverfahren bei der Europäischen Kommission findet ebenso Anwendung, wenn Deutschland mit einer Maßnahme eines anderen Mitgliedstaats gegenüber einem Hersteller eines Medizinprodukts nicht einverstanden ist. Die Entscheidung, ob Einwände gegen die Maßnahme eines anderen 2.8 Industrielle Hersteller von Medizinprodukten 261 <?page no="262"?> 387 Produkthaftungsgesetz v. 15.12.1989, BGBl. I S.-2198, z. g. d. G v. 17.7.2017, BGBl. I S.-2421. 388 Vgl. EuGH, Urt. v. 5.3.2015, C-503/ 13 und C-504/ 13, NJW 2015, 1163 ff.; BGH, Urt. v. 9.6.2015, VI ZR 284/ 12, NJW 2015, 3096 ff. Mitgliedstaates erhoben werden, trifft in dem Fall das BfArM als zuständige Bundes‐ oberbehörde im Einvernehmen mit der zuständigen Landesbehörde (§ 76 MPDG). 2.8.9 Haftung der Hersteller von Medizinprodukten Medizinprodukte sind bewegliche Sachen, so dass sie zugleich Produkte i. S. d. § 2 ProdHaftG 387 sind. Wenn sie fehlerhaft sind und dadurch jemand getötet oder verletzt wird, so ist der Hersteller, sofern die Haftungsvoraussetzungen gem. § 1 ProdHaftG gegeben sind, verpflichtet, dem Geschädigten den entstandenen Schaden zu ersetzen. Damit unterliegen die Medizinprodukte wie auch andere Produkte (z. B. Telefone oder Autos) einer Gefährdungshaftung , die nicht an das Verschulden des Herstellers anknüpft. Eine spezialgesetzliche Regelung der Gefährdungshaftung kennt das MPG - anders als §-84 AMG für die Arzneimittel - dagegen nicht. ➤ Beispiel Auf der Grundlage des Produkthaftungsgesetzes verpflichtete der BGH den Her‐ steller von Herzschrittmachern zur Erstattung der Kosten für den Austausch der Geräte (inkl. Operationskosten). Die Herzschrittmacher hatten wegen des Zerfalls von Dichtungsmaterialien eine Ausfallwahrscheinlichkeit, die 17-20 Mal höher als bei anderen Geräten lag. Zuvor hatte der EuGH entschieden, dass dieses höhere Ausfallrisiko genüge, um einen Produktfehler anzunehmen. Auf die Feststellung, dass der konkrete Herzschrittmacher, der einem Patienten implantiert worden war, fehlerhaft ist, komme es dabei nicht an. 388 Von der Gefährdungshaftung bleibt die Verschuldenshaftung unberührt. Wenn der Hersteller eines Medizinprodukts seine Pflichten bzgl. Konstruktion, Produktion und Instruktion schuldhaft verletzt, kommt eine Deliktshaftung nach den §§ 823 ff. BGB in Betracht. Ein erfolgreich durchgeführtes Konformitätsbewertungsverfahren lässt diese Haftung nicht entfallen (Art.-10 Abs. 16 MDR). 2.8.10 Anspruch der Versicherten auf Medizinprodukte im System der gesetzlichen Krankenversicherung Der Hersteller von Medizinprodukten kann im Rahmen der integrierten Versorgung nach § 140a SGB V Vertragspartner der Krankenkassen sein. Im Übrigen ist er ledig‐ lich mittelbar als Lieferant der Leistungserbringer (Krankenhäuser, Sanitätshäuser, Apotheken etc.) an der Versorgung der Versicherten mit Medizinprodukten beteiligt. Die Versorgung der Versicherten ist uneinheitlich geregelt. Sie ist von der Einordnung des Medizinprodukts in die Begriffswelt des SGB V abhängig: 262 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="263"?> Abbildungsnummer 41: Medizinprodukte in der Systematik des SGB V Medizinprodukte Medizinprodukt, das integraler Bestandteil einer Untersuchungs- und Behandlungsmethode ist Medizinprodukt, das ein Hilfsmittel ist Harn- und Blutteststreifen Verbandmittel andere (arzneimittel ähnliche) Medizinprodukte Abbildung 40: Medizinprodukte in der Systematik des SGB V Die Medizinprodukte, die integraler Bestandteil einer Untersuchungs- und Behandlungs‐ methode sind, teilen deren rechtliches Schicksal. Sie werden im Rahmen der Kran‐ kenhausbehandlung oder vertragsärztlichen Versorgung des Versicherten erbracht. Im Hinblick auf diese Medizinprodukte ist der Hersteller kein Leistungserbringer im System der gesetzlichen Krankenversicherung. Seine Kunden sind die Ärzte und Krankenhäuser, die die Medizinprodukte bei ihrer Behandlung verwenden. ➤ Beispiel Das Einsetzen eines Herzschrittmachers gehört zu den vollstationären Leistungen eines Krankenhauses und wird hinsichtlich der Vergütung von den DRG F12A bis F12I erfasst. Die ambulante Kataraktoperation eines Augenarztes, bei der eine Intraokularlinse eingesetzt wird, wird nach den Gebührenpositionen des Einheitlichen Bewer‐ tungsmaßstabes vergütet. Die Kosten für das Implantat, das im Körper des Patienten verbleibt, sind gem. Abschnitt 7.3 EBM in den Gebührenpositionen nicht enthalten. Sie werden gesondert erstattet. Wenn das Medizinprodukt integraler Bestandteil einer neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethode in der vertragsärztlichen Versorgung ist, darf es wie die Methode selbst erst zulasten der Krankenkassen erbracht werden, wenn der GBA die Methode anerkannt hat (vgl. § 27 Abs. 6 AM-RL sowie Abschnitt 2.1.2.4). ➤ Beispiel Der Einsatz eines Glukosemess-Systems (CGMS) in der Insulintherapie ist eine neue Behandlungsmethode. Bei dieser Methode erfolgt eine kontinuierliche Messung des Zuckergehalts im Unterhautfettgewebe, so dass sie sich im Hin‐ 2.8 Industrielle Hersteller von Medizinprodukten 263 <?page no="264"?> 389 Vgl. BSG, Urt. v. 8.7.2015, B 3 KR 5/ 14 R, BeckRS 2015, 72724. 390 Verordnung über die Voraussetzungen für die Bewertung neuer Untersuchungs- und Behandlungs‐ methoden mit Medizinprodukten hoher Risikoklasse nach § 137h des Fünften Buches Sozialgesetz‐ buch (MeMBV) v. 15.12.2015, BGBl. I S.-2340 z. g. d. VO v. 21.4.2021, BGBl. I S.-833. 391 Hilfsmittelverzeichnis unter https: / / hilfsmittel.gkv-spitzenverband.de/ home (Abruf am 14.5.2022). 392 Ständige Rechtsprechung des BSG, vgl. z. B. BSG, Urt. v. 24.1.2013, B 3 KR 22/ 11 R, BeckRS 2013, 70362 Rn. 13. blick auf die Vorgehensweise, Wirtschaftlichkeit und die Risiken erheblich von der herkömmlichen Blutzuckermessung unterscheidet. Solange der GBA die Insulintherapie unter Einbeziehung eines CGMS nicht anerkennt, können die Vertragsärzte die Leistung nicht zulasten der Krankenkassen erbringen. 389 Im teil- und vollstationären Krankenhausbereich verhält es sich mit neuen Untersu‐ chungs- und Behandlungsmethoden etwas anders. Diese bedürfen nicht in jedem Fall einer Anerkennung durch den GBA. Nach § 137h SGB V ist jedoch eine positive Nutzenbewertung durch den GBA erforderlich, wenn die neue Methode maßgeblich auf dem Einsatz eines Medizinprodukts der Risikoklassen IIb oder III oder eines aktiven implantierbaren Medizinprodukt beruht und die Fallpauschalen und Zusatzentgelte die neue Methode nicht sachgerecht vergüten. Auf Vorlage eines Krankenhauses nimmt der GBA eine Bewertung des Nutzens der Methode unter Anwendung des Medizinprodukts vor (vgl. im Einzelnen § 137h SGB V i. V. m. der Medizinproduktebe‐ wertungsverordnung 390 ). Das Krankenhaus hat sich, bevor es den GBA einschaltet, mit dem Hersteller des Medizinprodukts ins Benehmen zu setzen. Das bedeutet, dass das Krankenhaus die Stellungnahme des Herstellers einholen und bei seiner Entscheidung berücksichtigen muss, ohne dass es an die ablehnende oder befürwortende Auffassung des Herstellers gebunden ist. Ein Medizinprodukt, das zugleich ein Hilfsmitteli. S. d. § 33 SGB V ist, kann der Versi‐ cherte unter den Voraussetzungen beanspruchen, die im Abschnitt 2.7.5.1 beschrieben sind. ➤ Beispiel Rollstühle, Unterarmgehstützen, Knöchelbandagen Die Lieferberechtigung der Leistungserbringer (z. B. Gesundheitshandwerker, Sanitäts‐ häuser) folgt aus den Verträgen mit den Krankenkassen gem. § 127 SGB V, vgl. dazu Abschnitt 2.7.5.2). Für die Vergütung der Hilfsmittel gelten die §§ 33 Abs. 7, 127 Abs. 4 SGB V; vgl. dazu Abschnitt 2.7.5.4. Die Hilfsmittel, die der Leistungspflicht der Krankenkassen unterliegen, erfasst der GKV-Spitzenverband in einem Hilfsmittelverzeichnis 391 (§ 139 SGB V). Bei diesem handelt es sich zwar nicht um eine Positivliste, die den Versichertenanspruch auf die gelisteten Hilfsmittel begrenzt. Gleichwohl ist es eine, wenn auch unverbindliche, Orientierungshilfe für Ärzte, Krankenkassen, Versicherte, Gerichte u. a. 392 , so dass die Aufnahme eines Medizinprodukts in das Verzeichnis für den Absatz des Produkts 264 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="265"?> 393 Vgl. auch RegE eines Gesetzes zur Stärkung der Heil- und Hilfsmittelversorgung (HHVG), BTag-Drucks. 18/ 10186, S.-26. vorteilhaft ist. Die Aufnahme in das Hilfsmittelverzeichnis kann der Hersteller des Medizinprodukts beim GKV-Spitzenverband beantragen (§ 139 Abs. 3 S. 1 SGB V). Dabei muss er den Nachweis der Funktionstauglichkeit und Sicherheit seines Produkts erbringen, den er üblicherweise auf CE-Kennzeichnung stützen kann (§ 139 Abs. 4, 5 SGB V). Wenn das Hilfsmittelverzeichnis Qualitätsanforderungen enthält, die einer langen Nutzungsdauer oder dem mehrfachen Verwenden des Hilfsmittels bei verschie‐ denen Versicherten oder anderen Aspekten einer ausreichenden, zweckmäßigen und wirtschaftlichen Hilfsmittelversorgung dienen, muss das Medizinprodukt diese Anfor‐ derungen ebenfalls erfüllen (§ 139 Abs. 2, 4 SGB V). Über die Aufnahme entscheidet der GKV-Spitzenverband, der das Hilfsmittelverzeichnis regelmäßig fortschreibt und im Bundesanzeiger veröffentlicht (§ 139 Abs. 1 S. 2, Abs. 3 S. 2, Abs. 9 S. 1 SGB V). Wenn das Medizinprodukt geändert oder aus dem Verkehr genommen wird, ist dies dem GKV-Spitzenverband vom Hersteller anzuzeigen (§-139 Abs. 4 S.-3, 4 SGB V). Harn- und Blutteststreifen, die der Versicherte selbst anwendet, gehören gem. § 31 Abs. 1 S. 1 SGB V zum Leistungsanspruch des Versicherten. Ein Richtlinienvorbehalt zur näheren Ausgestaltung des Versichertenanspruchs ist nicht geregelt. Einschrän‐ kungen können sich gleichwohl aus dem Wirtschaftlichkeitsgebot ergeben. Eine Zuzahlungspflicht für volljährige Versicherte wie bei den Hilfsmitteln besteht nicht (§-31 Abs. 3 S.-2 SGB V). Des Weiteren umfasst die Versorgung des Versicherten gem. § 31 Abs. 1 S. 1, Abs. 1a SGB V Verbandmittel: ❋ Wissen-│-Verbandmittel Verbandmittel sind gem. § 31 Abs. 1a S. 1-3 SGB V Gegenstände, deren Hauptwir‐ kung darin besteht, oberflächengeschädigte Körperteile zu bedecken oder Körper‐ flüssigkeiten von oberflächengeschädigten Körperteilen aufzusaugen oder beides zu erfüllen. Produkte zur Fixierung von Verbandmitteln gehören ebenfalls dazu. Wenn der Gegenstand ergänzend weitere, der Wundheilung dienende Wirkungen hat, ohne dass diese pharmakologisch, immunologisch oder metabolisch sind, entfällt die Eigenschaft als Verbandmittel dadurch nicht. Derartige Wirkungen können beispielsweise darin bestehen, dass der Gegenstand eine Wunde feucht hält, reinigt oder geruchsbindend, antimikrobiell oder metallbeschichtet ist. 393 Ferner gelten (ggf. mehrfach verwendbare) Gegenstände als Verbandmittel, mit denen einmalige und individuelle Verbände an nicht oberflächengeschädigten Körperteilen erstellt werden, um Körperteile zu stabilisieren, zu immobilisieren oder zu komprimieren. 2.8 Industrielle Hersteller von Medizinprodukten 265 <?page no="266"?> Die Einzelheiten des Versichertenanspruchs auf Verbandmittel soll der GBA in der AM-RL regeln. Dementsprechend hat der GBA die Ergänzung der AM-RL durch die §§-52 ff. und die Anlage Va beschlossen. ➤ Beispiel │ aus der Anlage Va der AM-RL Gipsbinden, Mullbinden, Augenkompressen, Sprühpflaster, Verbandwatte, Ver‐ bandklammern, Hydrogele (zum Feuchthalten), aluminiumbedampfte Kompres‐ sen (zum Verhindern des Verklebens einer Wunde) Der Versichertenanspruch auf andere (arzneimittelähnliche) Medizinprodukte ist in § 31 Abs. 1 S. 2, 3 SGB V geregelt. Er steht unter dem Vorbehalt, dass das Medizinprodukt der Anlage V der AM-RL (Positivliste) enthalten ist. ➤ Beispiel │ aus Anlage V der AM-RL mosquito®med LäuseShampoo 10 für Kinder bis zum vollendeten 12. Lebensjahr und Jugendliche bis zum vollendeten 18. Lebensjahr mit Entwicklungsstörungen zur physikalischen Behandlung des Kopfhaares bei Kopflausbefall Die Aufnahme eines Medizinprodukts in die Anlage V kann der Hersteller beim GBA gem. § 31 Abs. 1 S. 2, § 34 Abs. 6 SGB V beantragen. Dazu muss er begründen und nachweisen, dass sein Produkt medizinisch notwendig ist. Dies setzt gem. § 29 AM-RL voraus, dass ● das Produkt entsprechend seiner Zweckbestimmung zur Krankenbehandlung geeignet ist, ● eine diagnostische oder therapeutische Interventionsbedürftigkeit besteht, ● der diagnostische oder therapeutische Nutzen des Medizinprodukts dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entspricht und ● eine andere, zweckmäßigere Behandlungsmöglichkeit nicht verfügbar ist. Von der Aufnahme in die Positivliste ausgeschlossen sind zum einen Medizinprodukte, die der Steigerung der Lebensqualität (z. B. Raucherentwöhnung oder Abmagerung) dienen (§ 31 Abs. 1 S. 2, § 34 Abs. 1 S. 7, 8 SGB V). Zum anderen können nicht verschrei‐ bungspflichtige Medizinprodukte nur für Kinder bis zum vollendeten 12. Lebensjahr und für Jugendliche bis zum vollendeten 18. Lebensjahr mit Entwicklungsstörungen aufgenommen werden (§ 31 Abs. 1 S. 2, § 34 Abs. 1. S. 6 SGB V). Gleiche Altersgrenzen gelten für die Aufnahme von (verschreibungspflichtigen und nicht verschreibungs‐ pflichtigen) Medizinprodukten zur Behandlung geringfügiger Erkrankungen (z. B. Erkältungen) gem. § 31 Abs. 1 S.-3 SGB V. Für die in der Anlage V der AM-RL aufgenommenen Medizinprodukte gilt § 35 SGB V ebenfalls, so dass für sie Festbeträge bestimmt werden können. In einem solchen Fall erstreckt sich die Leistungspflicht der Krankenkassen nur auf den Festbetrag. Die Differenz zum Abgabepreis muss der Versicherte selbst tragen. 266 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="267"?> 394 Arzneimittelversorgungsvertrag Bayern (AV-Bay) - Ergänzungsvereinbarung zum Rahmenvertrag über die Arzneimittelversorgung nach § 129 Absatz 2 SGB V und zur Vereinbarung über die Übermittlung von Daten im Rahmen der Arzneimittelabrechnung nach § 300 SGB V v. 14.06.2007 i. d. F. v. 1.7.2019, http: / / www.aok-gesundheitspartner.de/ by/ apotheke/ vertraege/ , (Abruf am 28.11.2021). Zudem erklärt § 31 Abs. 1 S. 2 SGB V die §§ 126 und 127 SGB V für entsprechend an‐ wendbar. Daraus folgt, dass die Abgabe eines gelisteten Medizinprodukts zulasten einer Krankenkasse eine Lieferberechtigung des abgebenden Unternehmens (z. B. Apotheke) voraussetzt. Die Lieferberechtigung folgt aus Verträgen, die die Abgabestelle selbst oder ein Verband, dem sie angehört, mit der Kassenseite geschlossen hat. ➤ Beispiel Der Arzneimittelversorgungsvertrag Bayern 394 regelt die Versorgung der Versi‐ cherten der Krankenkassen mit Verbandmitteln, Medizinprodukten, Blut- und Harnteststreifen durch Apotheken. 2.8.11 Anspruch der Versicherten auf Medizinprodukte im System der sozialen Pflegeversicherung Das SGB XI stellt nicht auf den Begriff des Medizinprodukts, sondern auf den des Pflegehilfsmittels ab. Gem. § 40 SGB XI haben Pflegebedürftige gegenüber der Pflegekasse einen Anspruch auf Versorgung mit technischen Pflegehilfsmitteln (z. B. Pflegebett) und zum Verbrauch bestimmte Pflegehilfsmittel (z. B. Bettschutzeinlagen). Die Pflegehilfsmittel bilden die Produktgruppen 50 bis 54 des Hilfsmittelverzeichnisses, das der GKV-Spitzenverband führt (vgl. § 78 Abs. 2 SGB XI sowie Abschnitt 2.8.11). In diesem Sinn erstreckt sich der Anspruch des Versicherten auf Medizinprodukte, wenn folgende Voraussetzungen der Hilfsmittelversorgung erfüllt sind: 1. Voraussetzung: Das Hilfsmittel muss für einen der gesetzlich genannten Leis‐ tungszwecke notwendig sein: ● Erleichterung der Pflege, ● Linderung der Beschwerden des Pflegebedürftigen oder ● Ermöglichung einer selbständigeren Lebensführung des Pflegebedürftigen. Der Medizinische Dienst oder der von der Pflegekasse beauftragte Gutachter hat in seinem Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit zugleich konkrete Emp‐ fehlungen zur Hilfsmittelversorgung abzugeben; diese Empfehlungen begründen die Vermutung der Notwendigkeit des jeweiligen Hilfsmittels (§ 18 Abs. 6a SGB XI). 2. Voraussetzung: Ein Anspruch auf ein Pflegehilfsmittel gegenüber der Pflege‐ kasse besteht nicht, soweit das Hilfsmittel von einem anderen Sozialleistungsträger - z. B. von der Krankenkasse - wegen Krankheit oder Behinderung zu übernehmen ist. Im Verhältnis zwischen Kranken- und Pflegeversicherung ist die Frage, ob das Hilfsmittel einem der obigen Leistungszwecke oder der in § 33 Abs. 1 SGB V genannten dient (vgl. Abschnitt 2.7.5.1), im Einzelfall nicht immer leicht zu beantworten. Für die 2.8 Industrielle Hersteller von Medizinprodukten 267 <?page no="268"?> 395 Vgl. BSG, Urt. v. 6.6.2002, B 3 KR 67/ 01 R, BeckRS 2003, 04169. 396 Siehe auch Frakt-E des Gesetzes zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit (Pflege-VG), BTag-Drucks. 12/ 5262, S.-113. 397 Vgl. BSG, Urt. v. 10.2.2000 B 3 KR 26/ 99, NZS 2000, 512 ff. [513]. Leistungspflicht der Pflegekasse ist entscheidend, ob die Erleichterung der Pflege im Vordergrund steht. Dagegen spricht der Zweck, die ärztliche Behandlung sicherzustel‐ len, für die Zuständigkeit der Krankenkasse. 395 3. Voraussetzung: Das Pflegehilfsmittel darf wie in der Krankenversicherung kein allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens sein, vgl. insoweit Abschnitt 2.7.5.1. 4. Voraussetzung: Eine ärztliche Verordnung des Hilfsmittels ist anders als in der gesetzlichen Krankenversicherung nicht vorgesehen. 396 5. Voraussetzung: Das Hilfsmittel muss wie in der Krankenversicherung wirksam und wirtschaftlich sein und darf das Maß des Notwendigen nicht übersteigen (§ 29 Abs. 1 SGB XI). Das Wirtschaftlichkeitsgebot kommt insbesondere dann zum Tragen, wenn sich der Versicherte für ein anderes als das empfohlene Hilfsmittel entscheidet. In diesem Fall gehen die Mehrkosten und die dadurch bedingten Folgekosten zu seinen Lasten. 6. Voraussetzung: Die Pflegehilfsmittel nach § 40 SGB XI gehören zu den Leistun‐ gen bei häuslicher Pflege. Wenn der Pflegebedürftige im Pflegeheim lebt, hat das Pflegeheim die für die Pflege notwendigen und über die Pflegesätze zu finanzierenden Hilfsmittel vorzuhalten. 397 Gleiches gilt für die Zeit, in der sich der Pflegebedürftige in einer teilstationären Einrichtung aufhält. Wenn alle Voraussetzungen erfüllt sind, erhält der Pflegebedürftige ● zum Verbrauch bestimmte Pflegehilfsmittel (z. B. Bettschutzeinlagen) bis zu einem Betrag von 40,- Euro pro Monat, entweder als Sachleistung oder im Wege der Kostenerstattung (§ 40 Abs. 2 SGB XI) und ● technische Pflegehilfsmittel übereignet oder in geeigneten Fällen leihweise über‐ lassen (§ 40 Abs. 3 SGB XI). Die Verleihung des Hilfsmittels kommt z. B. in Betracht, wenn es wenig dem Verschleiß unterliegt und teuer ist. Ferner umfasst der Anspruch des Versicherten die notwendige Änderung, Instandsetzung und Ersatzbeschaffung des Pflegehilfsmittels sowie die Ausbildung im Gebrauch. Zur Versorgung der Versicherten mit Pflegehilfsmitteln müssen die Leistungserbringer eine entsprechende Lieferberechtigung haben. Diese folgt aus Verträgen, die der Leistungserbringer oder ein Verband, dem er angehört, mit dem Spitzenverband Bund der Pflegekassen oder mit der Pflegekasse gem. § 78 SGB XI abgeschlossen haben. Für diese Verträge gelten die §§ 126, 127 SGB V entsprechend; vgl. hierzu Abschnitt 2.7.5.2. ➤ Beispiel Zwischen der AOK - Die Gesundheitskasse für Niedersachsen und den Innungen für Orthopädie-Technik Niedersachsen/ Bremen und Nord besteht ein Vertrag über 268 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="269"?> 398 Vertrag über die Versorgung der Pflegebedürftigen mit Pflegehilfsmitteln (Pflegebetten) zwischen der Pflegekasse der AOK - Die Gesundheitskasse für Niedersachsen und den Innungen für Ortho‐ pädie-Technik Niedersachsen/ Bremen und Nord v. 1.3.2003 sowie Formular der Beitrittserklärung, https: / / www.aok.de/ gp/ orthopaedie-rehatechnik/ vertraege/ pflegebetten (Abruf am 28.11.2021). die Versorgung der Pflegebedürftigen mit Pflegebetten, dem die Mitglieder der Innungen beitreten können. 398 Die Pflegekasse übernimmt den für das Hilfsmittel vertraglich vereinbarten Preis, höchstens den ggf. festgelegten Festbetrag (§ 40 Abs. 1 S. 4 i. V. m. § 33 Abs. 7 SGB V). Die Differenz zwischen dem Abgabepreis und vereinbarten Preis muss der Versicherte selbst tragen. Für den volljährigen Pflegebedürften kommt die Zuzahlung gem. § 40 Abs. 3 S. 4-6 SGB XI hinzu. Sie beträgt für technische Pflegehilfsmittel 10 %, höchstens jedoch 25 Euro je Mittel. Zur Vermeidung von Härten kann die Pflegekasse den Versicherten gem. § 40 Abs. 3 S.-5, 6 SGB XI von der Zuzahlung befreien. ❋ Wichtige Schlagwörter ❋ Benannte Stelle ❋ CE-Kennzeichnung ❋ Hersteller ❋ Hilfsmittelverzeichnis ❋ Inverkehrbringen ❋ In-vitro-Diagnostika ❋ Konformitätsbewertungsverfah‐ ren ❋ Medizinprodukt ✎ Wiederholungsaufgaben 1. Erläutern Sie die Bedeutung der CE-Kennzeichnung von Medizinprodukten. 2. Erläutern Sie den Begriff des Inverkehrbringens eines Medizinproduktes. 3. Was ist unter einem schwerwiegenden Vorkommnis zu verstehen? Wer hat ein schwerwiegendes Vorkommnis und ein mutmaßliches schwerwiegendes Vorkommnis zu melden? 4. Erläutern Sie die Aufsichtsmittel der Aufsichtsbehörde, wenn ein Medizinpro‐ dukt zu Unrecht eine CE-Kennzeichnung trägt. 5. Erläutern Sie, was unter dem Hilfsmittelverzeichnis zu verstehen ist. Wie kann der Hersteller eines Medizinprodukts erreichen, dass sein Produkt in das Verzeichnis aufgenommen wird? 6. Nehmen Sie eine Abgrenzung zwischen den Leistungszwecken der Hilfsmit‐ telversorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung und in der sozialen Pflegeversicherung vor. ➤ Lösungen im Web-Service. ❋ Wichtige Schlagwörter 269 <?page no="270"?> 399 AMWHV v. 3.11.2006, BGBl. I S.-2523, z. g. d. G. v. 9.8.2019, BGBl. I S.-1202. 400 AM-RL i. d. F. v. 18.12.2008/ 22.1.2009, BAnz 2009 Nr.-49a, z. g. a. 18.3.2022, BAnz AT 03.05.2022 B3. 401 AMG i. d. F. d. Bek. v. 12.12.2005, BGBl. I S.-3394, z. g. d. G v. 27.9.2021, BGBl. I S.-4530. 402 AMPreisV v. 4.11.1980, BGBl. I S.-2147, z. g. d. G v. 9.12.2020, BGBl. I S.-2870. 403 UWG i. d. F. d. Bek. v. 3.3.2010, BGBl. I S.-254, z. g. d. G v. 10.8.2021, BGBl. I S.-3504. 404 AMRabG v. 22.12.2010, BGBl. I S.-2262, 2275, z. g. d. G v. 9.12.2020, BGBl. I S.-2870. 405 HWG i. d. F. d. Bek. v. 19.10.1994, BGBl. I S.-3068, z. g. d. G v. 27.9.2021, BGBl. I S.-4530. 406 Richtlinie 2001/ 83/ EG des europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung eines Gemein‐ schaftskodexes für Humanarzneimittel v. 6.11.2001, ABl. L 311 S. 67, z. g. d. VO v. 20.6.2019, ABl. L 198 S.-241. 407 Verordnung (EG) Nr. 726/ 2004 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung von Ge‐ meinschaftsverfahren für die Genehmigung und Überwachung von Human- und Tierarzneimitteln und zur Errichtung einer Europäischen Arzneimittel-Agentur v. 31.3.2004, ABl. L 136 S. 1, z. g. d. VO v. 11.12.2018, ABl. L 4 S.-24. 408 Verordnung (EU) Nr. 536/ 2014 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 16.4.2014 über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/ 20/ EG, ABl. L 158 S. 1, berichtigt 17.11.2016, ABl. L 311 S.-25. 409 Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelrechts v. 24.8.1976, BGBl. I S.-2445. 2.9 Unternehmen der pharmazeutischen Industrie ➤ Lernhinweis Die nachfolgenden Erläuterungen werden Sie besser verstehen, wenn Sie die angegebenen Paragrafen parallel zum Lehrbuch lesen: nationale Vorschriften ● Apothekenbetriebsordnung (ApBetrO), Arzneimittel- und Wirkstoffherstel‐ lungsverordnung (AMWHV) 399 , Richtlinie des GBA über die Verordnung von Arzneimitteln in der vertragsärztlichen Versorgung (AM-RL) 400 , Arzneimittel‐ gesetz (AMG) 401 , Arzneimittelpreisverordnung (AMPreisV) 402 , Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) 403 , Gesetz über Rabatte für Arzneimittel (AMRabG) 404 , Heilmittelwerbegesetz (HWG) 405 , Sozialgesetzbuch 5.-Buch (SGB V) europäische Rechtsvorschriften ● Gemeinschaftskodex für Humanarzneimittel RL 2001/ 83/ EG 406 , VO (EG) 726/ 2004 über das Gemeinschaftsverfahren für die Genehmigung von Arznei‐ mitteln 407 , VO (EU) 536/ 2014 über klinische Prüfungen 408 2.9.1 Einführung Um eine ordnungsgemäße Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln zu gewähr‐ leisten, ist die pharmazeutische Industrie heute eine gesetzlich umfänglich regulierte Branche. Dies war nicht immer so. Vor dem Inkrafttreten des Arzneimittelgesetzes 1976 409 am 1.1.1978 bedurfte zwar die Herstellung von Arzneimittel einer Erlaubnis. 270 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="271"?> 410 Vgl. Arzneimittelgesetz vom 16.5.1961, BGBl. I S. 533, §§ 12 ff. (zur Herstellung) und §§ 20 ff. (zur Registrierung). 411 Richtlinie 65/ 65/ EWG zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über Arzneispezi‐ alitäten v. 26.1.1965, ABl. S.-369. Dagegen war für die Arzneimittel keine Genehmigungspflicht, sondern nur eine Registrierung vorgesehen. 410 Mit dem Arzneimittelgesetz 1976 wurde zur Verbesserung der Arzneimittelsicherheit u. a. ein Zulassungsverfahren eingeführt, in dem die Qua‐ lität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der Arzneimittel geprüft wird. Zugleich wurde mit diesem Gesetz die erste pharmazeutische EWG-Richtlinie 411 in nationales Recht umgesetzt. Innerhalb der Europäischen Gemeinschaften (heute EU) gab es bereits seinerzeit Bestrebungen zur Errichtung eines gemeinsamen europäischen Arzneimittelmarktes. Mittlerweile ist die unternehmerische Tätigkeit durch nationale und unionsrechtliche Vorschriften weitreichend kodifiziert. Zum einen bestehen in allen EU-Mitgliedstaaten unmittelbar geltende EU-Verordnungen, wie z. B. bzgl. der klinischen Prüfung (vgl. Abschnitt 2.9.3) oder der zentralen Arzneimittelzulassung (vgl. Abschnitt 2.9.6). Zum anderen sind verschiedene EU-Richtlinien erlassen worden, die von den Mitgliedstaaten umgesetzt werden mussten, um so eine Harmonisierung der nationalen Vorschriften in den Mitgliedstaaten zu erreichen (vgl. z. B. Abschnitt 2.9.7 zur gegenseitigen Anerkennung von Arzneimittelzulassungen). Die Arzneimittelversorgung von Tieren ist ebenfalls durch deutsche und europä‐ ische Vorschriften geregelt. Die Ausführungen des Abschnitts 2.9 beziehen sich jedoch ausschließlich auf Humanarzneimittel. 2.9.2 Begriff des Humanarzneimittels Humanarzneimittel bestehen aus chemischen oder biologischen Stoffen oder deren Zubereitungen gem. § 3 AMG. Sie werden wie folgt eingeteilt: 2.9 Unternehmen der pharmazeutischen Industrie 271 <?page no="272"?> 412 Vgl. BVerwG, Urt. v. 26.5.2009, 3 C 5/ 09, NVwZ 2009, 1038 ff. [1039]. 413 Vgl. EuGH, Urt. v. 10.7.2014, C-358/ 13 und C-181/ 14, MedR 2015, 184 ff. Abb. 42: Arzneimittelbegriff Humanarzneimittel Präsentationsarzneimittel § 2 Abs. 1 Nr. 1 AMG Funktionsarzneimittel § 2 Abs. 1 Nr. 2 AMG Fiktivarzneimittel § 2 Abs. 2 Nr. 1 AMG Arzneimittel kraft Entscheidung gem. § 2 Abs. 4 S. 1 AMG Buchst. a) zur Einwirkung auf physiolog. Funktionen Buchst. b) zur Erstellung einer medizinische Diagnose Abbildung 41: Einteilung der Humanarzneimittel Zu den Funktionsarzneimitteln gehören zwei Arten: ❋ Wissen-│-Funktionsarzneimittel Funktionsarzneimittel sind zum einen Mittel, die vom Menschen eingenommen oder im oder am Körper angewendet werden, um die physiologischen Funktionen durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung wie‐ derherzustellen oder zu beeinflussen (§ 2 Abs. 1 Nr. 2a AMG). Ein Erzeugnis ist aber nur dann ein Funktionsarzneimittel, wenn es die physiologischen Funktionen des Menschen nachweisbar und in nennenswerter Weise durch eine pharmakolo‐ gische, immunologische oder metabolische Wirkung wiederherstellen oder beein‐ flussen kann. Maßgeblich ist dabei die bestimmungsgemäße Anwendung. Wenn die physiologischen Funktionen des Menschen aufgrund der Zusammensetzung oder der Dosierung der Wirkstoffe nicht in diesem Maße beeinflusst werden, liegt kein Funktionsarzneimittel vor. 412 Nicht erfasst werden Stoffe, die zwar die physiologischen Funktionen beeinflussen, aber auf die menschliche Gesundheit nicht positiv wirken oder sogar gesundheitsschädlich sind (z. B. Stoffe, die Rausch‐ zustand herbeiführen). 413 272 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="273"?> 414 Vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 10.12.2014, 13 A 1202/ 14, PharmR 2015, 305 ff. 415 Vgl. BVerwG, Urt. v. 26.5.2009, 3 C 5/ 09, NVwZ 2009, 1038 ff. Zum anderen gelten Diagnostika, die einem Menschen verabreicht werden, um eine medizinische Diagnose zu ermitteln (In-vivo-Diagnostika), gem. § 2 Abs. 1 Nr.-2 Buchst. b AMG ebenfalls als Funktionsarzneimittel. ➤ Beispiel Eine Unternehmerin stellte Kapseln mit 0,5 mg, 1 mg, 1,5 mg, 2 mg, 2,5 mg und 5 mg Melatonin her. Die Kapseln dienten der Linderung des sog. Jetlags (Schlafstörungen und Müdigkeit am Tag infolge des schnellen Überschreitens der Zeitzonen). Das OVG Nordrhein-Westfalen stufte die Kapsel als Arzneimittel ein, da durch sie der Melatoninspiegel erhöht und der Schlaf-Wach-Zyklus der Zeitzone schneller angepasst werde. Der Einwand der Unternehmerin, dass Melatonin auch in Lebensmitteln vorhanden sei, griff nicht durch. Um 0,5 mg Melatonin aufzunehmen, müssten z. B. fünf Tonnen Gurken oder eine Tonne Bananen verzehrt werden. 414 ➤ -Gegenbeispiel Die „Red Rice 330 mg GPH Kapseln“ mit 1,33 mg des Wirkstoffs Monacolin mit der Verwendungsempfehlung von 3x täglich eine Kapsel sah das BVerwG nicht als Funktionsarzneimittel an. Zur Begründung verwies es darauf, dass erst eine tägliche Dosis von 10 bis 80 mg des Wirkstoffs die Senkung des Cholesterinspiegels bewirke. 415 Die Abgrenzung zwischen den (Funktions-)Arzneimitteln nach § 2 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a AMG und den Medizinprodukten (vgl. Abschnitt 2.8.2) erfolgt anhand der bestimmungsgemäßen Hauptwirkung. Die Arzneimittel wirken pharmakologisch, immunologisch oder metabolisch, die Medizinprodukte dagegen physikalisch. Dagegen gelten In-vivo-Diagnostika, auch wenn sie physikalisch wirken, als Arznei‐ mittel, währenddessen In-vitro-Diagnostika (Labordiagnostika) Medizinprodukt sind (siehe auch Abschnitt 2.8.2). ❋ Wissen-│-Präsentationsarzneimittel Ein Erzeugnis gilt als Präsentationsarzneimittel, wenn es durch seine stoffliche Zusammensetzung, Darreichungsform, Bezeichnung und Aufmachung entweder einem Arzneimittel genügend ähnelt oder bei einem durchschnittlichen Verbrau‐ cher den Eindruck erweckt, dass das Erzeugnis die (arzneiliche) Eigenschaft habe, menschliche Krankheiten zu verhüten oder zu heilen. Dies ist fallbezogen, z. B. 2.9 Unternehmen der pharmazeutischen Industrie 273 <?page no="274"?> 416 Vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 13.10.2010, 13 A 1187/ 10, PharmR 2010, 607 [609] m. w. N. 417 Vgl. LG Köln, Urt. v. 3.2.2006, 81 O 257/ 02, BeckRS 2006, 04475. anhand der Verpackung, des Beipackzettels, der Veröffentlichungen des Herstellers oder Vertriebsunternehmens oder öffentlicher Empfehlungen, zu beurteilen. 416 ➤ Beispiel Ein Getränk mit der Bezeichnung „D Gingko“ mit einer aufgedruckten Heilpflanze auf dem Etikett und einer Seriennummer zur Behandlung von Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen stufte das LG Köln als Präsentationsarzneimittel ein. 417 ❋ Wissen-│-Fiktivarzneimittel Ferner gelten Gegenstände, die ein Arzneimittel enthalten oder auf die ein Arznei‐ mittel aufgebracht ist und die dazu bestimmt sind, dauernd oder vorübergehend mit dem menschlichen Körper in Berührung gebracht zu werden als sog. Fiktivarznei‐ mittel. ➤ Beispiel Ein Pflaster für sich genommen ist ein Medizinprodukt. Wenn jedoch auf dem Pflaster ein Arzneimittelwirkstoff aufgetragen ist, der über die Haut auf den menschlichen Organismus einwirken soll, so handelt es sich bei diesem Produkt um ein Arzneimittel. Gem. § 43 AMG dürfen Arzneimittel grundsätzlich nur in Apotheken an die privaten Endverbraucher abgegeben werden. Ausnahmen davon bestimmt § 44 AMG, z. B. natürliche Heilwässer, sowie die VO über apothekenpflichtige und freiverkäufliche Arzneimittel, wie z.-B. Baldrianextrakt als Fertigarzneimittel. Die apothekenpflichtigen Arzneimittel werden ferner danach unterschieden, ob sie verschreibungspflichtig sind. Verschreibungspflichtige Arzneimittel dürfen an den Verbraucher nur bei Vorlage eines ärztlichen oder zahnärztlichen Rezeptes abgegeben werden. Näheres regelt § 48 AMG. 274 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="275"?> Arzneimittel freiverkäufliche Arzneimittel apothekenpflichtige Arzneimittel nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel (sog. OTC-Arzneimittel) verschreibungspflichtige Arzneimittel Abbildung 42: Einteilung der Humanarzneimittel nach dem Vertriebsweg 2.9.3 Klinische Prüfung von Arzneimitteln Die klinische Prüfung von Arzneimitteln zielt darauf ab, Erkenntnisse über die Wirk‐ samkeit und Sicherheit eines Arzneimittels zu erlangen, bevor es zugelassen und in den Verkehr gebracht wird. Sie war in Europa jahrzehntelang nationalstaatlich geregelt. Nunmehr wird die klinische Prüfung durch die VO (EU) 536/ 2014 geregelt. Diese Verordnung ist in allen EU-Mitgliedstaaten unmittelbar verbindlich. Durch die nationalen Rechtsvorschriften müssen die Zuständigkeiten und Strukturen der betei‐ ligten nationalen Behörden und Ethikkommission an die Vorgaben der Verordnung angepasst werden. Die VO (EU) 536/ 2014 ist am 31.01.2022 in Kraft getreten, nachdem die Europäische Kommission am 31.07.2021 erklärte, dass das für die Durchführung der Verordnung notwendige EU-Portal und die EU-Datenbank funktionieren. Das EU-Por‐ tal dient als zentrale Anlaufstelle für die Übermittlung von Daten und Informationen im Zusammenhang mit klinischen Prüfungen. Die Speicherung der übermittelten Daten und Informationen erfolgt in der EU-Datenbank (Art. 80 VO (EU) 536/ 2014). Der klinischen Erforschung bzw. Prüfung des Arzneimittels gehen die Wirkstofffin‐ dung und die präklinische Forschung, in der der gefundene Wirkstoff mit Reagenzien, in Zellkulturen und an Tieren getestet wird, voran. Abb. 44: Arzneimittelforschung Wirkstofffindung klinische Forschung präklinische Forschung Abbildung 43: Arzneimittelforschung 2.9 Unternehmen der pharmazeutischen Industrie 275 <?page no="276"?> 418 Vgl. Deutsch, Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 1692-1697. Die klinische Prüfung und klinische Studie werden gesetzlich wie folgt definiert: ❋ Wissen-│-klinische Prüfung Eine klinische Prüfung ist eine klinische Studie, die mindestens eine der folgenden Bedingungen erfüllt: a. der Prüfungsteilnehmer wird vorab einer bestimmten Behandlungsstrategie zugewiesen, die nicht der normalen klinischen Praxis des betroffenen Mit‐ gliedstaats entspricht; b. die Entscheidung, die Prüfpräparate zu verschreiben, wird zusammen mit der Entscheidung getroffen, den Prüfungsteilnehmer in die klinische Studie aufzunehmen, oder c. an den Prüfungsteilnehmern werden diagnostische oder Überwachungsver‐ fahren angewendet, die über die normale klinische Praxis hinausgehen. ❋ Wissen-│-klinische Studie Eine klinische Studie ist jede am Menschen durchgeführte Untersuchung, die dazu bestimmt ist, a. die klinischen, pharmakologischen oder sonstigen pharmakodynamischen Wirkungen eines oder mehrerer Arzneimittel zu erforschen oder zu bestätigen, b. jegliche Nebenwirkungen eines oder mehrerer Arzneimittel festzustellen oder c. die Absorption, die Verteilung, den Stoffwechsel oder die Ausscheidung eines oder mehrerer Arzneimittel zu untersuchen, mit dem Ziel, die Sicherheit und/ oder Wirksamkeit dieser Arzneimittel festzustel‐ len. (vgl. Art. 2 Abs. 2 Nr.-1, 2 VO (EU) 536/ 2014) Die klinische Prüfung erfolgt in vier Phasen, von denen die ersten drei vor der Zulassung des Arzneimittels (vgl. zur Zulassung Abschnitte 2.9.5 bis 2.9.7) stattfinden. Die einzelnen Phasen lassen sich wie folgt charakterisieren: 418 ❋ Wissen-│-klinischen Prüfung in vier Phasen Phase I ● erste Anwendung des Arzneimittels am Menschen ● Prüfung der Pharmakodynamik (Art und Ort der Wirkung des Wirkstoffs, dosisabhängige Effekte, Wirkmechanismus) und Pharmakokinetik (Aufnahme, 276 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="277"?> Verteilung, Abbau, Freisetzung und Ausscheidung des Wirkstoffs), der Ver‐ träglichkeit und Sicherheit der Substanz ● geringe Zahl gesunder Probanden (ausnahmsweise auch kranke Probanden) ● in der Regel keine Kontrollgruppe Phase II ● Prüfung der Wirkungen des Arzneimittels auf definierte Krankheitssymptome, der therapeutischen Wirksamkeit bei bestimmten Anwendungsbereichen, der Neben- und Wechselwirkungen sowie Begleiterscheinungen ● Unterscheidung: Phase IIa zur Überprüfung des Therapiekonzepts und Phase IIb zur Findung einer geeigneten Dosis ● mehrere hundert Probanden ● Bildung von Test- und Kontrollgruppen ● in der Regel sog. blinde oder doppelt blinde Studie Phase III ● Prüfung der Wirksamkeit, Beobachtung der Nebenwirkungen, Erhebung von Daten für die Arzneimittelsicherheit ● bis zu mehrere tausend Probanden ● häufig multizentrische, ggf. auch multinationale Prüfung ● randomisierte Doppelblindstudie mit Test- und Kontrollgruppen, aus ethischen Gründen ggf. offene Studie Phase IV ● Überwachung des Arzneimittels nach der Zulassung ● gezielte Beobachtung des Arzneimittels (Arzneimittelwirkungen, Dosierung, Darreichungsform, Vergleiche zu anderen Arzneimitteln, Sammeln von Lang‐ zeiterfahrungen etc.) ● Anwendungsbeobachtung gem. § 4 Abs. 23 S. 2, 3 AMG gehört nicht zu der klinischen Prüfung der Phase IV Die Durchführung einer klinischen Prüfung (in allen Phasen) ist genehmigungspflichtig (Art. 4 VO (EU) 536/ 2014). Das Genehmigungsverfahren beginnt mit einem Antrag des Sponsors. Das ist derjenige, der die Verantwortung für die Einleitung, das Management und die Aufstellung der Finanzierung einer klinischen Prüfung übernimmt (Art. 2 Abs. 2 Nr. 14 VO (EU) 536/ 2014). Gem. Art. 5 VO (EU) 536/ 2014 muss der Sponsor seinen Antrag dem betroffenen Mitgliedstaat über das EU-Portal übermitteln. Wenn die Prü‐ fung in mehreren Mitgliedstaaten stattfinden soll, muss er einen berichterstattenden Mitgliedstaat benennen. Seinem Antrag muss der Sponsor die in Anhang I der VO (EU) 536/ 2014 genannten Unterlagen beifügen. Dazu gehören z. B. der Prüfplan und die Daten zum Prüfpräparat. 2.9 Unternehmen der pharmazeutischen Industrie 277 <?page no="278"?> 419 Verordnung (EU) 2016/ 679 v. 27.4.2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/ 46/ EG (Datenschutz-Grundverordnung), ABl. L 119 S.-1, zuletzt berichtigt am 4.3.2021, ABl. L 74 S.-35. 420 Nach dem Wortlaut des Art. 7 Abs. 1 VO (EU) 536/ 2014 wird auf die Richtlinie 95/ 46/ EG verwiesen, die jedoch durch die Datenschutz-Grundverordnung aufgehoben worden ist. Der Verweis gilt seit dem 26.5.2018 als Verweis auf die Datenschutz-Grundverordnung, vgl. Art. 94 Abs. 2 Datenschutz-Grund‐ verordnung. Zunächst erfolgt gem. Art. 5 Abs. 3 VO (EU) 536/ 2014 die Validierung des Antrags durch den berichterstattenden Staat. Das heißt, der Antrag wird auf Vollständigkeit geprüft. Daran schließt sich die Bewertung des Antrages an, für die zwei Teile vorgese‐ hen sind. Beide Teile werden zeitlich parallel bewertet, wenn es der Sponsor gem. Art. 11 VO (EU) 536/ 2014 nicht anders beantragt. Der Teil I beinhaltet gem. Art. 6 Abs. 1 VO (EU) 536/ 2014 die Bewertung ● des therapeutischen Nutzens, des Nutzens für die Öffentlichkeit sowie des Nutzens, der Risiken und Nachteile für die Prüfungsteilnehmer, ● der Einhaltung der Schutzvorschriften für die Prüfungsteilnehmer (z. B. ausrei‐ chende Aufklärung), ● der Erfüllung der Anforderungen an Herstellung, Einfuhr und Etikettierung von Prüfpräparaten und Hilfspräparaten, ● der Vollständigkeit und Angemessenheit der klinischen und nichtklinischen Daten über die betreffenden Präparate, die die Prüfer, also die für die Durchführung der klinischen Prüfung verantwortlichen Personen, erhalten. Wenn die Prüfung in mehreren EU-Mitgliedstaaten durchgeführt werden soll, müssen alle Staaten ihre Bewertung miteinander - unter der Regie des berichterstattenden Mitgliedstaates - abstimmen (Art. 6 Abs. 5 VO (EU) 536/ 2014). Der Teil II beinhaltet die ethische Bewertung der klinischen Prüfung gem. Art. 7 Abs. 1 VO (EU) 536/ 2014, die jeder Mitgliedstaat für sein Hoheitsgebiet selbst vornimmt: ● Einhaltung der Voraussetzungen für die Einwilligung durch den Prüfungsteilneh‐ mer, ● Gewährleistung, dass eine Vergütung oder Aufwandsentschädigung die Prüfungs‐ teilnehmer nicht unzulässig beeinflusst, um sie zur Teilnahme an der Prüfung zu bewegen, ● Beachtung der Art. 28 bis 35 VO (EU) 536/ 2014 bei der Rekrutierung von Prüfungs‐ teilnehmern, ● Erfüllung der Datenschutz-Grundverordnung 419 (zuvor Richtlinie 95/ 46/ EG 420 ), ● Eignung der Prüfstellen und der Personen, die an der klinischen Prüfung mitwir‐ ken, ● Einhaltung der Regelungen zur Entschädigung der Prüfungsteilnehmer für Schä‐ den, die einem Prüfungsteilnehmer durch seine Teilnahme an einer klinischen Prüfung entstehen, 278 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="279"?> ● Einhaltung der Vorschriften zur Gewinnung, Lagerung und zukünftigen Nutzung der vom Prüfungsteilnehmer genommenen biologischen Proben. Die zu prüfenden Voraussetzungen dürfen die Mitgliedstaaten in bestimmten Grenzen ergänzen oder spezifisch ausgestalten. Davon hat Deutschland in den §§ 40a und 40b AMG Gebrauch gemacht. Beispielsweise räumt Art. 34 VO (EU) 536/ 2014 die Möglichkeit ein, bestimmte Personen von einer klinischen Prüfung auszunehmen. Demgemäß dürfen in Deutschland Personen, die aufgrund gerichtlicher oder behörd‐ licher Anordnung in einer Anstalt untergebracht sind, nicht in eine klinische Prüfung einbezogen werden (§ 40a S. 1 Nr. 2 AMG). Die Genehmigung einer klinischen Prüfung in Deutschland hängt also auch davon ab, dass die Anforderungen in den §§ 40a und 40b AMG ebenfalls erfüllt sind. Nach der Bewertung (beider Teile) teilt der betroffene Mitgliedstaat dem Sponsor über das EU-Portal mit, ob er die klinische Prüfung genehmigt, unter Auflagen genehmigt oder eine Genehmigung versagt (Art. 8 Abs. 1 VO (EU) 536/ 2014). Wenn mehrere Mitgliedstaaten beteiligt sind, besteht gem. Art. 8 Abs. 2, 3, 5 VO (EU) 536/ 2014 folgende Besonderheit im Hinblick auf die Bewertung des Teils I: Gelangt der berichterstattende Mitgliedstaat in Bezug auf Teil I der Bewertung zu dem Schluss, dass die klinische Prüfung nicht vertretbar ist, gilt diese Schlussfolgerung als die Schlussfolgerung aller betroffenen Mitgliedstaaten mit der Folge, dass die Genehmigung der klinischen Prüfung versagt wird. Gelangt der berichterstattende Mitgliedstaat in Bezug auf Teil I der Bewertung zu dem Schluss, dass die Durchführung der klinischen Prüfung vertretbar oder unter bestimmten Auflagen vertretbar ist, so gilt diese Schlussfolgerung als Schlussfolgerung jedes betroffenen Mitgliedstaats. Ein betroffener Mitgliedstaat darf diese Schlussfolge‐ rung nur ablehnen, wenn ● er der Auffassung ist, dass die Teilnahme an der klinischen Prüfung dazu führen würde, dass ein Prüfungsteilnehmer eine schlechtere Behandlung erhalten würde, als dies gemäß normaler klinischer Praxis im betroffenen Mitgliedstaat der Fall wäre, ● wenn die klinische Prüfung gegen eine nationale Rechtsvorschrift verstößt, die der Mitgliedstaat gem. Art. 90 VO (EU) 536/ 2014 der Kommission mitgeteilt hat, ● er Bedenken hinsichtlich der Sicherheit der Prüfungsteilnehmer sowie der Zuver‐ lässigkeit und Belastbarkeit der übermittelten Daten hat. In diesem Fall übermittelt der Mitgliedstaat seine Ablehnung mit Begründung über das EU-Portal der Kommission, sämtlichen Mitgliedstaaten und dem Sponsor. Gem. § 40 Abs. 1 S. 2, § 77 AMG ist für die Genehmigung einer klinischen Prüfung in Deutschland das BfArM bzw. das PEI zuständig. Die zuständige Genehmigungsbehörde übermittelt die Entscheidung über das EU-Portal dem Sponsor (§ 40 Abs. 8 AMG). Die Zuständigkeit für die ebenfalls erforderliche Bewertung der Ethik-Kommission richtet sich nach dem Geschäftsverteilungsplan, den die Ethikkommissionen gemeinsam aufstellen (§ 40 Abs. 3 S.-2, § 41b Abs. 2 AMG). 2.9 Unternehmen der pharmazeutischen Industrie 279 <?page no="280"?> 421 Vgl. RegE des Vierten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften, BTag-Drucks. 18/ 8034 S.-47. 422 Vgl. zu den Begriffen in der nachfolgenden Grafik: Rehmann, Arzneimittelgesetz Kommentar, § 4 Rn. 16-19. An die ethische Bewertung der klinischen Prüfung nach Art. 7 Abs. 1 VO (EU) 536/ 2014 (= Bewertung Teil II) sowie nach den dazugehörigen Spezifika lt. §§ 40a und 40b AMG durch die Ethikkommission ist das BfArM bzw. das PEI gebunden (§ 40 Abs. 5, 8 S. 2 AMG). Anders verhält es sich bzgl. der Bewertung Teil I und den deutschen Spezifika in §§ 40a und 40b AMG. Dem diesbezüglichen Votum der Ethikkommission hat die Genehmigungsbehörde zwar grundsätzlich zu folgen. Gleichwohl darf sie in begründeten Fällen gem. § 40 Abs. 4, § 41 Abs. 3 AMG davon abweichen, z. B. wenn die Bewertung der Kommission gegen wissenschaftliche Grundsätze verstößt. 421 Für die Durchführung der klinischen Prüfung gelten die Grundsätze der guten klini‐ schen Praxis (vgl. Art. 47 ff. VO (EU) 536/ 2014). Ferner hat der Sponsor verschiedene Informationspflichten, z. B. hinsichtlich des Beginns, einer vorübergehenden Unter‐ brechung, eines vorzeitigen Abbruchs oder des Endes der Prüfung sowie hinsichtlich unerwarteter schwerer Nebenwirkungen (vgl. Art. 36 ff. VO (EU) 536/ 2014). Für eine wesentliche Änderung der klinischen Prüfung (z. B. Änderung der Prüfstelle) muss der Sponsor erneut eine Genehmigung einholen (vgl. dazu Art. 15 ff. VO (EU) 536/ 2014). Innerhalb eines Jahres nach Beendigung der Prüfung in allen Mitgliedstaaten muss der Sponsor eine Zusammenfassung der (positiven wie negativen) Ergebnisse der klinischen Prüfung sowie eine für Laien verständliche Version der Zusammenfassung an die EU-Datenbank übermitteln (Art. 37 Abs. 4 sowie Anhänge IV, V der VO (EU) 536/ 2014). Die EU-Datenbank ist für die Öffentlichkeit mit Ausnahme der vertraulichen Daten und Informationen zugänglich (Art. 81 VO (EU) 536/ 2014). 2.9.4 Inverkehrbringen eines Arzneimittels Es dürfen nur national oder europäisch zugelassene, registrierte oder davon befreite Arzneimittel in den Verkehr in der Bundesrepublik gebracht werden. Das Inverkehr‐ bringen kann in vier Alternativen 422 erfolgen (vgl. § 4 Abs. 17 AMG): 280 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="281"?> Abb. 45: Inverkehrbringen eines Arzneimittels Inverkehrbringen eines Arzneimittels Vorrätighalten zum Verkauf oder zur sonstigen Abgabe Feilhalten (nach außen erkennbares Vorrätighalten zum Verkauf) Feilbieten (an potentielle Erwerber gerichtetes Hinweisen auf vorrätige Ware) Abgabe an andere (Einräumen der tatsächlichen Verfügungsgewalt über das Arzneimittel) Abbildung 44: Inverkehrbringen eines Arzneimittels Der Inhaber der Zulassung oder Registrierung oder derjenige, der das Arzneimittel in seinem Namen in den Verkehr bringt, wird als pharmazeutische Unternehmer bezeichnet (§ 4 Abs. 18 AMG). Der pharmazeutische Unternehmer muss seinen Sitz in der EU oder im EWR haben, um das Arzneimittel in der Bundesrepublik in den Verkehr zubringen (§ 9 Abs. 2 AMG). Zum EWR gehören neben den EU-Mitgliedstaaten die Länder Island, Liechtenstein und Norwegen. Folgende Arzneimittel dürfen, auch wenn sie zugelassen oder registriert sein sollten, nicht in den Verkehr gebracht werden: ● bedenkliche Arzneimittel, bei denen nach dem jeweiligen Stand der wissenschaft‐ lichen Erkenntnisse der begründete Verdacht besteht, dass sie bei bestimmungs‐ gemäßem Gebrauch schädliche Wirkungen haben, die über ein nach den Erkennt‐ nissen der medizinischen Wissenschaft vertretbares Maß hinausgehen (§ 5 AMG), ● Arzneimittel, die durch Abweichung von den anerkannten pharmazeutischen Regeln in ihrer Qualität nicht unerheblich gemindert sind (§ 8 Abs. 1 Nr. 1 AMG), ● Arzneimittel mit einer irreführenden Bezeichnung, Angabe oder Aufmachung (§ 8 Abs. 1 Nr.-2 AMG), ● gefälschte Arzneimittel (§ 8 Abs. 2 AMG), ● Arzneimittel, deren Verfalldatum abgelaufen ist (§ 8 Abs. 3 AMG). Beim Inverkehrbringen hat der pharmazeutische Unternehmer verschiedene Informati‐ onspflichten zu erfüllen. Er muss sein Arzneimittel auf dem Behältnis und der Umhül‐ lung gem. § 10 AMG kennzeichnen und eine Packungsbeilage, die die Anforderungen des § 11 AMG erfüllt, beifügen. Ferner muss er für Ärzte, Zahnärzte, Apotheker und 2.9 Unternehmen der pharmazeutischen Industrie 281 <?page no="282"?> 423 Fachinformationen abrufbar unter: https: / / portal.dimdi.de/ amguifree/ termsofuse.xhtml (Abruf am 22.2.2022). andere Personen der Heilkunde eine Fachinformation gem. § 11a AMG bereithalten. Mittlerweile sind die Fachinformationen für jedermann im Internet verfügbar. 423 2.9.5 Nationale Zulassung eines Fertigarzneimittels Wie im vorherigen Abschnitt erwähnt, setzt das Inverkehrbringen eines Arzneimittels eine Zulassung, Registrierung oder eine diesbezügliche Freistellung voraus. Insoweit sind verschiedene Tatbestände gesetzlich geregelt, die zunächst in einem Überblick veranschaulicht werden: Voraussetzung für das Inverkehrbringen eines Arzneimittels Zulassung Registrierung Freistellung von der Zulassungs- oder Registrierungspflicht (reguläre) Zulassung für Fertigarzneimittel, § 21 Abs. 1 AMG (Schnell-)Zulassung gem. § 28 Abs. 3 AMG Nachzulassung für (Alt)Arzneimittel, §§ 103, 105, 109a AMG vereinfachte Zulassung für Parallelimporte im EU-Binnenmarkt Genehmigung von nicht industriellen Gewebezubereitungen gem. § 21a AMG Genehmigung von individuellen Arzneimitteln der neuartigen Therapien § 4b AMG homöopathische Arzneimittel, §§ 38, 39 AMG traditionelle pflanzliche Arzneimittel, §§ 39a-39d AMG in einer Apotheke hergestellte Rezepturarzneimittel Arzneimittel mit Standardzulassung, § 36 AMG i. V. m. StandVZ Freistellung gem. § 21 Abs. 2 AMG, wie z. B.: Defekturarzneimittel § 21 Abs. 2 Nr. 1 AMG unverändert umgepackte oder abgefüllte Arzneimittel § 21 Abs. 2 Nr. 1b Buchst. b, c Abbildung 45: Überblick über die nationalen Zulassungen, Registrierungen und diesbezüglichen Frei‐ stellungen 282 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="283"?> 424 Vgl. EuGH, Urt. v. 16.7.2015, C-544/ 13 u. C-545/ 13, PharmR 2015, 436 ff. [442]. Die nachfolgenden Erläuterungen beziehen sich auf die (reguläre) Zulassung eines Fertigarzneimittels und die davon freigestellten Rezepturarzneimittel, Defekturarznei‐ mittel. ✎ Aufgaben Die Unternehmerin U erhält 13C-Harnstoffpulver von einem industriellen Herstel‐ ler. Aus diesem Pulver stellt sie in einem industriellen Verfahren eine Trinklösung her, die in Flaschen abgefüllt wird. Jede Flasche enthält 75-mg 13C-Harnstoff-Pul‐ ver. Die Produktionsmenge beträgt 500 Flaschen pro Tag. Die Lieferung erfolgt an Großhändler, Apotheken, Arztpraxen und Krankenhäuser. Nach Einnahme der Trinklösung kann ein Atemtest zur Feststellung einer Helico‐ bacter-pylori-Infektion des Magens durchgeführt werden. Bei den Flaschen mit der Trinklösung handelt es sich um ein Funktionsarzneimittel gem. § 2 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b AMG. Sind sie gem. § 21 Abs. 1 AMG zulassungspflichtig? ➤ Lösungen im Web-Service. Fertigarzneimittel bedürfen einer nationalen oder europäischen Zulassung, bevor sie in der Bundesrepublik in den Verkehr gebracht werden (§ 21 Abs. 1 AMG). Erläuterungen zu den drei europäischen Verfahren finden Sie in den beiden nachfolgenden Abschnit‐ ten. ❋ Wissen-│-Fertigarzneimittel Gem. § 4 Abs. 1 S. 1 AMG sind Fertigarzneimittel Arzneimittel, die entweder im Voraus hergestellt und in einer zur Abgabe an den Verbraucher bestimmten Packung in den Verkehr gebracht werden, oder andere zur Abgabe an Verbraucher bestimmte Arzneimittel, bei deren Zubereitung in sonstiger Weise ein industrielles Verfahren zur Anwendung kommt oder die, ausgenommen in Apotheken, gewerb‐ lich hergestellt werden. Die in der zweiten Alternative erwähnte industrielle oder gewerbliche Herstellung ist dadurch gekennzeichnet, dass große Mengen von Arzneimitteln (Chargen, Serienprodukte) in einem standardisierten, nach einheitlichen Vorschriften ablaufenden Verfahren auf Vorrat und für den Verkauf im Großhandel hergestellt werden. 424 Zwischenprodukte, die für eine weitere Verarbeitung durch einen Hersteller bestimmt sind, gehören nicht zu den Fertigarzneimitteln (§ 4 Abs. 1 S.-2 AMG). Vom Fertigarzneimittel ist sein Gegenstück - das Rezepturarzneimittel eines Apothe‐ kers - zu unterscheiden, das vor dem Inverkehrbringen keiner Zulassung bedarf. 2.9 Unternehmen der pharmazeutischen Industrie 283 <?page no="284"?> ❋ Wissen-│-Rezepturarzneimittel Ein Rezepturarzneimittel ist ein Arzneimittel, das in der Apotheke im Einzelfall aufgrund einer Verschreibung oder auf sonstige Anforderung einer einzelnen Person und nicht im Voraus hergestellt wird (§ 1a Abs. 8 ApBetrO). Wenn das Rezepturarzneimittel häufiger verordnet wird, darf es der Apotheker auch auf Vorrat, und zwar bis zu 100 abgabefertigte Packungen an einem Tag, herstellen, ohne eine Zulassung zu benötigen (vgl. § 21 Abs. 2 Nr. 1 AMG). Die Arzneimittel werden dann als „verlängerte Rezepturen“ oder Defekturarzneimittel bezeichnet. ❋ Wissen-│-Defekturarzneimittel Ein Defekturarzneimittel ist ein Arzneimittel, das im Rahmen des üblichen Apo‐ thekenbetriebs im Voraus an einem Tag in bis zu 100 abgabefertigen Packungen oder in einer diesen entsprechenden Menge hergestellt wird (§ 1a Abs. 9 ApBetrO). Für die Zulassung von Fertigarzneimitteln sind zwei verschiedene Bundesbehörden zuständig: Das PEI ist für die Arzneimittel, die in § 77 Abs. 2 AMG aufgezählt sind, zuständig. Diese lassen sich vereinfacht als biologische Arzneimittel zusammenfassen. Das BfArM ist für alle anderen, das sind im Wesentlichen die chemischen Wirkstoffe, zuständig (§ 77 Abs. 1 AMG). Das Zulassungsverfahren beginnt mit Eingang des Antrages und der nötigen Unter‐ lagen des pharmazeutischen Unternehmers bei der Zulassungsbehörde. Der Unterneh‐ mer muss insbesondere die Ergebnisse seiner Arzneimittelprüfung (vgl. Abschnitt 2.9.3) vorlegen. Die Details der einzureichenden Unterlagen für Humanarzneimittel ergeben sich aus den §§ 22, 24 AMG, § 1 Arzneimittelprüfrichtlinien-Verordnung i. V. m. Anhang I Teil I bis III der Richtlinie 2001/ 83/ EG. Der Antragsteller darf sich unter bestimmten Voraussetzungen auch auf die Unter‐ lagen eines anderen pharmazeutischen Unternehmers beziehen. Diese Möglichkeit ist für einen Unternehmer von Bedeutung, der ein Generikum oder eine Biosimilar auf den Markt bringen möchte. Durch die Bezugnahme auf präklinische und klinische Ergebnisse eines anderen hat er geringere Entwicklungskosten und kann so sein Produkt zu einem geringeren Preis anbieten. ❋ Wissen-│-Generikum und Biosimilar Ein Generikum ist ein Nachahmerprodukt, das die gleiche Zusammensetzung des Wirks‐ toffs nach Art und Menge und die gleiche Darreichungsform wie das (patentgeschützte) Originalarzneimittel aufweist. Unter einem Biosimilar versteht man ein Nachahmerpro‐ dukt zu einem biologischen Originalarzneimittel. Angesichts des biologischen Wirkstoffs und des biotechnologischen Herstellungsverfahrens ist es nicht gleich, sondern ähnlich. 284 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="285"?> 425 Patentgesetz i. d. F. d. Bek. v. 16.12.1980, BGBl. 1981 I S.-1, z. g. d. G v. 30.8.2021, BGBl. I S.-4074. Die Bezugnahme auf die Unterlagen zum Originalarzneimittel, das in diesem Zu‐ sammenhang als Referenzarzneimittel bezeichnet wird, ist gem. § 24a AMG mit Einverständnis des anderen pharmazeutischen Unternehmers möglich. Das kommt beispielsweise zum Tragen, wenn die beiden Unternehmer des Referenzarzneimittels und des Nachahmerprodukts Tochtergesellschaften desselben Konzerns sind. Ohne Einverständnis kann sich der Antragsteller, der eine Zulassung für sein Generikum oder Biosimilar begehrt, nur unter den Voraussetzungen des § 24b AMG auf folgende Unterlagen des Referenzarzneimittels beziehen: ● die Ergebnisse der pharmakologischen und toxikologischen Versuche (§ 22 Abs. 2 Satz 1 Nr.-2 AMG), ● die Ergebnisse der klinischen Prüfungen oder sonstigen ärztlichen oder zahnärzt‐ lichen Erprobung (§ 22 Abs. 2 Satz 1 Nr.-3 AMG) sowie ● Sachverständigengutachten zu den vorgenannten Versuchen und Prüfungen, in denen die wesentlichen Ergebnisse und Kontrollmethoden zusammengefasst und beurteilt werden (§ 24 Abs. 1 Satz 1, 2 Nr.-2, 3 AMG). Dies gilt für Biosimilar jedoch nur mit der Einschränkung, dass bei Abweichungen zum biologischen Referenzarzneimittel (z. B. wegen des Herstellungsverfahrens) die Ergebnisse geeigneter vorklinischer oder klinischer Versuche hinsichtlich dieser Ab‐ weichungen vorzulegen sind (§ 24b Abs. 5 AMG). Für die Bezugnahme auf die genannten Unterlagen muss der Antragsteller gem. § 24b Abs. 1 S. 1-3 AMG die „8+2+1“-Fristen des Unterlagenschutzes beachten: Das Referenzarzneimittel muss bei Antragstellung seit mindestens acht Jahren zugelassen sein. Das Generikum oder Biosimilar darf erst nach zehn Jahren seit der ersten Zulassung des Referenzarzneimittels in den Verkehr gebracht werden, auch wenn die Zulassung des Generikums oder Biosimilars von der Behörde bereits früher erteilt wird. Diese Zehnjahresfrist wird auf höchstens elf Jahre verlängert, wenn die Zulassung des Referenzarzneimittels innerhalb des Achtjahreszeitraums auf mindestens ein neues Anwendungsgebiet mit einem bedeutenden klinischen Nutzen erweitert wurde. In einem solchen Fall kann der Antragsteller sein Produkt erst nach elf Jahren in den Verkehr bringen. Diese Fristen des Unterlagenschutzes sind jedoch nur eine „Seite der Medaille“. Bei dem Referenzarzneimittel handelt es sich üblicherweise um ein patentgeschütztes Arzneimittel, so dass der Antragsteller die Patentlaufzeit des Referenzarz‐ neimittels ebenfalls zu beachten hat. Wenn er das Generikum oder Biosimilar vor Ablauf des Patentschutzes (ohne Lizenz vom Patentinhaber) in der Bundesrepublik herstellt oder in den Verkehr bringt, begeht er eine Patentverletzung (vgl. § 9 PatG 425 ). Während des Zulassungsverfahrens prüft die Zulassungsbehörde die Wirksamkeit, Qualität und Unbedenklichkeit des Arzneimittesl. Sie darf die Zulassung nur versagen, wenn einer der in § 25 Abs. 2, 3 AMG geregelten Gründe vorliegt. Wenn ein solcher Versagungsgrund nicht gegeben ist, hat der pharmazeutische Unternehmer einen Rechtsanspruch auf Erteilung der Zulassung. 2.9 Unternehmen der pharmazeutischen Industrie 285 <?page no="286"?> Abb. 47: Überblick über die Versagungsgründe Versagungsgründe, § 25 Abs. 2, 3 AMG unvollständige Unterlagen keine ausreichende Arzneimittelprüfung Unterlagen nach § 22 Abs. 3 AMG entsprechen nicht den wissenschaftlichen Erkenntnissen fehlende pharmazeutische Qualität fehlende therapeutische Wirksamkeit therapeutische Wirksamkeit unzureichend begründet ungünstiges Nutzen-Risiko-Verhältnis keine ausreichende Kombinationsbegründung Inverkehrbringen verstößt gegen Gesetze gleiche Bezeichnung wie anderes Arzneimittel Abbildung 46: Überblick über die Versagungsgründe Von den Versagungsgründen sollen hier drei dargestellt werden. Nach §-25 Abs.-2 S.-1 Nr. 4 AMG ist die Zulassung zu versagen, wenn dem Arzneimittel die vom Antragsteller angegebene therapeutische Wirksamkeit fehlt oder diese nach dem jeweils gesicherten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse vom Antragsteller unzureichend begründet ist. Die erste Alternative, das Fehlen der therapeutischen Wirksamkeit, bedeutet, dass das die Anwendung des Arzneimittels für den Heilungserfolg nicht ursächlich oder zumindest nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ursächlich ist. Der Nachweis, dass die angegebene therapeutische Wirksamkeit fehlt, erweist sich in der Praxis als schwierig. Zwar muss der Antragsteller mit seinen Unterlagen belegen, dass sich 286 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="287"?> 426 Vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 7.10.2009, 13 A 306/ 08, PharmR 2010, 75 ff. [77]. 427 Vgl. BVerwG, Urt. v. 14.10.1993, 3 C 46/ 91, PharmR 1994, 380. 428 Legaldefinition in § 4 Abs. 13 S. 1 AMG: Nebenwirkungen sind bei Arzneimitteln, die zur Anwendung bei Menschen bestimmt sind, schädliche und unbeabsichtigte Reaktionen auf das Arzneimittel. 429 Vgl. BVerwG, Urt. v. 1.12.2016, 3 C 14/ 15, BeckRS 2016, 116156. mit dem Arzneimittel therapeutische Ergebnisse erzielen lassen. Das Gegenteil zu belegen, obliegt gleichwohl der Zulassungsbehörde, weil sie für den Versagungsgrund nachweispflichtig ist. Dazu müsste die Behörde den eher schwierigen Nachweis der Spontanheilung oder der wirkstoffunabhängigen Effekte antreten. Deshalb hat die zweite Alternative der Nr. 4, dass die therapeutische Wirksamkeit vom Antragsteller unzureichend begründet ist, eine größere praktische Bedeutung. Die Beurteilung, ob die therapeutische Wirksamkeit ausreichend begründet worden ist, erfolgt anhand der vom pharmazeutischen Unternehmer eingereichten Unterla‐ gen. Die Zulassung wird versagt, wenn die eingereichten Unterlagen unter Berück‐ sichtigung des jeweils gesicherten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht den geforderten Schluss zulassen, dass die Anwendung des Arzneimittels zu einer größeren Zahl an therapeutischen Erfolgen führt als seine Nichtanwendung, oder wenn die Unterlagen inhaltlich unrichtig oder unvollständig sind, weil sie z. B. keine Stellungnahme zu bestimmten Forschungsergebnissen oder klinischen Studien von Forschungseinrichtungen oder anderen Unternehmen enthalten. 426 ➤ Beispiel │ unzureichende Begründung der therapeutischen Wirksam‐ keit Ein pharmazeutischer Unternehmer beantragte die Zulassung für ein Virostati‐ kum, das die Reproduktion von Herpes-Simplex-Viren hemmen sollte (Behand‐ lung der Haut zur Verhinderung des Ausbruchs und zur Abschwächung des Verlaufs). Er hatte keine mit Placebo vergleichende kontrollierte Studie durchge‐ führt. Die Zulassung wurde versagt, weil eine solche Studie wegen der Selbsthei‐ lungstendenz der Herpeserkrankung erforderlich sei. 427 Nach § 25 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 AMG ist die Zulassung des Arzneimittels zu versagen, wenn sein Nutzen-Risiko-Verhältnis ungünstig ist. Bei dem Nutzen-Risiko-Verhältnis geht es um die Bewertung der positiven therapeutischen Wirkungen des Arzneimittels im Verhältnis zu allen Risiken im Zusammenhang mit der Qualität, Sicherheit oder Wirksamkeit des Arzneimittels für die Gesundheit der Patienten oder die öffentliche Gesundheit (vgl. § 4 Abs. 27, 28 AMG). Risiken können z. B. Nebenwirkungen 428 oder die Gefahr sein, dass bei Anwendung eines Arzneimittels mit zweifelhafter therapeutischer Wirkung eine wirksame Behandlung unterbleibt. 429 Das Nutzen-Risiko-Verhältnis ist ungünstig, „wenn bei dem Arzneimittel der begründete Verdacht besteht, dass es bei bestimmungsgemäßen Gebrauch schädliche Wirkungen hat, die über ein nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft vertretbares Maß hinausgehen. […] Hierfür ist es nicht erforderlich, dass es zu dem fraglichen Präparat oder zu 2.9 Unternehmen der pharmazeutischen Industrie 287 <?page no="288"?> 430 OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 17.9.2009, 13 A 1428/ 08, PharmR 2010, 84 ff. [85]. 431 Vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 17.9.2009, 13 A 1428/ 08, PharmR 2010, 84 ff. vergleichbaren Arzneimittelzubereitungen verlässliche Daten zur Schädlichkeit gibt. Eines positiven Nachweises bedarf es nicht. Dies würde dem Gebot der Arzneimittel‐ sicherheit zuwiderlaufen. […] Stehen schwere Gesundheitsgefahren in Rede, sind an die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts keine allzu hohen Anforderungen zu stellen. In diesen Fällen ist ein begründeter Verdacht auch dann anzunehmen, wenn lediglich die entfernte Möglichkeit einer Risikoverwirklichung besteht.“ 430 ➤ Beispiel │ ungünstiges Nutzen-Risiko-Verhältnis Ein pharmazeutischer Unternehmer beantragte die Zulassung für Arzneimittel zur Heilung von Harnwegsentzündungen. Durch die bestimmungsgemäße Einträufe‐ lung des Arzneimittels in die Harnblase war, insbesondere für Patienten mit einer blutigen Blasenentzündung, eine systemische Resorption nicht auszuschließen. Diese bedeutete aber ein erhebliches Risiko ototoxischer Schäden (= Schädigung des Innenohrs und der dazugehörigen Hirnnerven) bis hin zum irreversiblen Hörverlust. Die Zulassung wurde versagt. 431 Wenn kein Versagungsgrund vorliegt, erteilt die Behörde die Zulassung (§ 25 Abs. 1 AMG). Diese ergeht schriftlich und enthält (abgeleitet aus § 22 Abs. 1 AMG) die Bezeich‐ nung des Arzneimittels, seine Bestandteile nach Art und Menge, die Darreichungsform, die Wirkungen, Anwendungsgebiete, Gegenanzeigen, Neben- und Wechselwirkungen sowie die Dosierung. Die erste Zulassung wird für fünf Jahre befristet erteilt (§ 31 Abs. 1 S. 1 Nr. 3a AMG). Die Verlängerung einer Zulassung wird grundsätzlich unbefristet ausgesprochen, es sei denn, dass aus Gründen der Arzneimittelsicherheit abermals eine Befristung notwendig ist (§ 31 Abs. 1a AMG). Die erteilte Zulassung bewirkt, dass das Fertigarzneimittel in den Verkehr gebracht werden darf (§ 21 Abs. 1 AMG). Sie ist produktgebunden für das jeweilige Arzneimittel. Eine Übertragung der Zulassung auf einen anderen pharmazeutischen Unternehmer ist möglich, dies muss lediglich der Zulassungsbehörde angezeigt werden (§ 29 Abs. 1 AMG). Die Zulassung eines Arzneimittels endet mit ihrer Aufhebung durch die Zulassungsbe‐ hörde, wenn einer der in § 30 AMG genannten Gründe vorliegt. Dabei wird zwischen der Rücknahme der Zulassung, wenn der Grund von Anfang an vorlag, sowie dem Widerruf, wenn der Grund nachträglich eingetreten ist, unterschieden. Gründe für eine Aufhebung können z. B. sein, dass das Arzneimittel nicht nach den anerkannten pharmazeutischen Regeln hergestellt wird oder nicht die angemessene Qualität aufweist. Des Weiteren kann die Zulassung gem. § 30 AMG erlöschen. Beispielsweise erlischt sie, wenn der pharmazeutische Unternehmer auf sie verzichtet oder das Arzneimittel innerhalb von drei Jahren nach Erteilung der Zulassung nicht in den Verkehr gebracht wird. 288 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="289"?> 2.9.6 Europäisches zentralisiertes Verfahren zur Zulassung eines Arzneimittels Die zentrale Rechtsvorschrift für das zentralisierte Verfahren ist die Verordnung (EG) 726/ 2004. In ihr sind die (reguläre) Zulassung der Arzneimittel sowie bestimmte Spezialfälle geregelt. Darüber hinaus gibt es weitere spezielle Verordnungen, z. B. hinsichtlich der Zulassung von Kinderarzneimitteln. zentralisierte Zulassung (reguläre) Zulassung regulatorische Spezialfälle bedingte Zulassung Art. 14a VO (EG) 726/ 2004 VO (EG) 507/ 2006 Zulassung in Ausnahmefällen Art. 14 Abs. 8 VO (EG) 726/ 2004 und RL 2001/ 83/ EG beschleunigtes Beurteilungsverfahren Art. 14 Abs. 9 VO (EG) 726/ 2004 Compassionate Use Art. 83 VO (EG) 726/ 2004 Zulassung von Kinderarzneimitteln VO (EG) 1901/ 2006 Zulassung von AM für neuartige Therapien VO (EG) 1394/ 2007 Anerkennung als Orphan Drug vor der Zulassung VO (EG) 141/ 2000 Abbildung 47: Überblick über die europäischen Regelungen Die nachfolgenden Erläuterungen geben einen Überblick über die Zulassung der Arzneimittel ohne die regulatorischen Spezialfälle. Gem. Art. 3 Abs. 1 VO (EG) 726/ 2004 ist die Zulassung im zentralisierten Verfahren für die Arzneimittel, die im Anhang der Verordnung aufgezählt sind, zwingend, so dass alle anderen Verfahren - insbesondere die nationalen Verfahren - ausgeschlossen sind. 2.9 Unternehmen der pharmazeutischen Industrie 289 <?page no="290"?> Im Anhang genannt sind beispielsweise Arzneimittel zur Behandlung von Krebs und Diabetes, wenn der (neue) Wirkstoff im Mai 2004, als die Verordnung in Kraft trat, noch nicht genehmigt war. Optional ist das zentralisierte Verfahren für ● Arzneimittel mit einem neuen Wirkstoff, wenn der pharmazeutische Unternehmer nachweist, dass das Arzneimittel eine bedeutende Innovation in therapeutischer, wissenschaftlicher oder technischer Hinsicht darstellt, oder dass die europaweite Zulassung im Interesse der Patienten ist (Art. 3 Abs. 2 VO (EG) 726/ 2004), oder ● ein Generikum oder Biosimilar, dessen Referenzarzneimittel zentral zugelassen worden ist (Art. 3 Abs. 3 VO (EG) 726/ 2004). Die Entscheidung über die Zulassung trifft die Kommission der EU (Art. 10 VO (EG) 726/ 2004). Sie wird vorbereitet durch die Europäische Arzneimittel-Agentur (European Medicines Agency, EMA). Bei dieser muss der pharmazeutische Unternehmer seinen Antrag auf Zulassung des Arzneimittels stellen (Art. 4 Abs. 1 VO (EG) 726/ 2004). Seinem Antrag muss der Unternehmer die in Art. 6 VO (EG) 726/ 2004 festgelegten Unterlagen der präklinischen und klinischen Erforschung des Wirkstoffs beifügen. Während des zentralisierten Verfahrens werden die Wirksamkeit, pharmazeutische Qualität und Unbedenklichkeit des Arzneimittels geprüft. Den Maßstab der Beurteilung bildet der jeweils aktuelle medizinische Standard, der von den maßgeblichen wissen‐ schaftlichen Gesellschaften und Ausschüssen der Fachrichtung, zu der das Arzneimittel gehört, bestimmt wird. Die Begutachtung, ob das Arzneimittel die Anforderung an Wirksamkeit, Qualität und Sicherheit erfüllt, obliegt dem Ausschuss für Humanarznei‐ mittel (Committee for Human Medicinal Products, CHMP), der Teil der Agentur ist. In diesem Ausschuss sind alle EU-Mitgliedstaaten sowie die EWR-Staaten Island, Liechtenstein, Norwegen durch ein Mitglied vertreten (Art. 61 VO (EG) 726/ 2004). In seinem Gutachten empfiehlt der Ausschuss die Erteilung oder Versagung der Zulassung. Die endgültige Entscheidung trifft die Kommission, die an die Empfehlung des Ausschusses für Humanarzneimittel nicht gebunden ist. Die Zulassung wird gem. Art. 12 VO (EG) 726/ 2004 versagt, wenn ● die Qualität, die Sicherheit oder die Wirksamkeit des Arzneimittels nicht angemes‐ sen oder ausreichend nachgewiesen ist, ● die vorgelegten Angaben und Unterlagen unrichtig sind, ● die vorgeschlagene Etikettierung und Packungsbeilage nicht den Art. 54-69 Richtlinie 2001/ 83/ EG entsprechen. Die im zentralisierten Verfahren erteilte Zulassung hat folgende Wirkungen: ● In der Bundesrepublik steht die Zulassung der nationalen Zulassung gleich (vgl. §-21 Abs.-1, § 37 Abs. 1 AMG). 290 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="291"?> 432 Zugelassene Arzneimittel unter: https: / / www.adrreports.eu/ de/ medicines_in_EU.html (Abruf am 15.5.2022). ● Das Arzneimittel kann in allen Mitgliedstaaten der EU und des EWR in den Verkehr gebracht werden (Art. 13 VO (EG) 726/ 2004). 432 Es ist eine produktbezogene Zulassung, so dass diese auf einen anderen Unternehmer übertragen werden kann. ● Die Zulassung ist grundsätzlich auf 5 Jahre befristet; die Verlängerung der Zulas‐ sung erfolgt grundsätzlich unbefristet (Art. 14 Abs. 1, 3 VO (EG) 726/ 2004). ● Das Arzneimittel ist in allen Mitgliedstaaten mit einer einheitlichen Bezeichnung in den Verkehr zu bringen (Art. 6 Abs. 1 S. 3, Art. 9 Abs. 4, Art. 10 Abs. 1, 2 VO (EG) 726/ 2004 i. V. m. Art. 54-69 RL 2001/ 83/ EG). ● Das Arzneimittel hat in allen Mitgliedstaaten einen einheitlichen Verschreibungs‐ status (Art. 9 Abs. 4, Art. 10 Abs. 1, 2 VO (EG) 726/ 2004 i. V. m. Art. 70-75 RL 2001/ 83/ EG). Wenn das genehmigte Arzneimittel nicht innerhalb von drei Jahren nach Erteilung der Genehmigung nicht in den Verkehr gebracht wird oder es sich in drei aufeinanderfol‐ genden Jahren nicht auf dem Markt befindet, wird die Genehmigung ungültig (Art.-14 Abs. 4, 5 VO (EG) 726/ 2004). Ferner kann die Zulassung unter bestimmten Umständen ausgesetzt oder aufgehoben werden, vgl. dazu Abschnitt 2.9.12. 2.9.7 Das europäisches Verfahren der gegenseitigen Anerkennung und das dezentralisierte Zulassungsverfahren Diese beiden Verfahren zielen darauf ab, dass der pharmazeutische Unternehmer in mehreren oder allen Mitgliedstaaten der EU und des EWR abgestimmte Genehmigun‐ gen zum Inverkehrbringen seines Arzneimittels bekommt. Zudem soll eine unnötige Doppelarbeit bei den Behörden der Mitgliedstaaten vermieden werden. Zentrale Rechtsvorschrift für diese beiden Verfahren ist die RL 2001/ 83/ EG. Das Verfahren der gegenseitigen Anerkennung (engl.: Mutual Recognition Procedure, MRP) knüpft daran an, dass der Unternehmer bereits in einem Mitgliedstaat über eine Zulassung seines Arzneimittels verfügt. Im Wege der Anerkennung sollen wei‐ tere Mitgliedstaaten diese Zulassung übernehmen, so dass der Unternehmer sein Arzneimittel in diesen Staaten ebenfalls in den Verkehr bringen kann. Das Wesen des dezentralisierten Verfahrens (engl.: Decentralised Procedure, DCP) besteht darin, dass der Unternehmer keine Zulassung in einem Mitgliedstaat der EU und des EWR innehat und eine solche in mehreren oder allen Mitgliedstaaten anstrebt. Die beiden Verfahren können allerdings nicht durchgeführt werden, wenn für das Arzneimittel das zentralisierte Verfahren zwingend vorgesehen ist (vgl. Abschnitt 2.9.6). Für die Durchführung der Verfahren muss der pharmazeutische Unternehmer seinen Sitz in einem der Mitgliedstaaten haben (Art. 8 Abs. 2 RL 2001/ 83/ EG). Die Antragstellung erfolgt bei allen Mitgliedstaaten, in denen eine Zulassung begehrt wird. Der Antrag sowie die nach Art. 8, 10, 10a, 10b, 10c und 11 RL 2001/ 83/ EG nötigen Unterlagen müssen überall inhaltlich 2.9 Unternehmen der pharmazeutischen Industrie 291 <?page no="292"?> 433 Einzelheiten bestimmt die Leitlinie zur Definition einer potenziellen schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Gesundheit im Sinne von Artikel 29 Absätze 1 und 2 der Richtlinie 2001/ 83/ EG, ABl. 2006 C 133 S.-5. identisch sein. Ferner muss der Unternehmer einen Referenzmitgliedstaat (engl.: reference member state, RMS) benennen, der den Beurteilungsbericht über das Arzneimittel erstellt und die Abstimmung mit den anderen Mitgliedstaaten, den sog. betroffenen Mitgliedstaaten (engl.: concerned member state, CMS), leitet. Im Verfahren der gegenseitigen Anerkennung ist der Mitgliedstaat Referenzmitgliedstaat, der die bereits bestehende Zulassung erteilt hat (vgl. Art. 28 Abs. 2 RL 2001/ 83/ EG). Im dezentralisierten Verfahren wählt der Antragsteller einen der beteiligten Staaten als Referenzmitgliedstaat aus (Art. 28 Abs. 3 RL 2001/ 83/ EG). Der Referenzmitgliedstaat erstellt bzw. aktualisiert einen bestehenden Beurteilungs‐ bericht und versendet diesen an die betroffenen Mitgliedstaaten. Über den Beur‐ teilungsbericht, die Zusammenfassung der Merkmale des Arzneimittels sowie die Etikettierung und die Packungsbeilage müssen sich alle beteiligten Staaten einigen. Kommt die Einigung zustande, wird das Verfahren abgeschlossen und der Antragsteller informiert (Art. 28 Abs. 4 RL 2001/ 83/ EG). Wenn ein betroffener Mitgliedstaat aus Gründen einer potenziellen schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Gesundheit der Zulassung des Arzneimittels nicht zustimmt, wird gem. Art. 29 RL 2001/ 83/ EG ein Einigungsverfahren in der Koordinierungsgruppe (engl.: Coordination Group for Mutual Recognition and Decentralised Procedures-Human, CMDh) eingeleitet. Eine „potenzielle schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Gesundheit“ bedeutet, dass die Verwendung des Arzneimittels sehr wahrscheinlich schwerwiegende Folgen, wie z. B. le‐ bensbedrohlicher Verlauf der Behandlung oder Gefahr einer schwerwiegenden Behinderung oder Invalidität oder eines Geburtsfehlers, hervorrufen kann. 433 In der Koordinierungsgruppe wirken alle Mitgliedstaaten durch einen Vertreter mit. Ziel des Einigungsverfahrens ist es, das Einvernehmen aller Mitgliedstaaten bzgl. des Zulassungsantrages herbeizuführen. Wenn Einigkeit hergestellt wird, so wird das Verfahren abgeschlossen und der Antragsteller informiert (Art. 29 Abs. 3 RL 2001/ 83/ EG). Wenn in der Koordinierungsgruppe keine Einigung erzielt werden kann, wird ein Schiedsverfahren vor dem Ausschuss für Humanarzneimittel durchgeführt (Art. 29 Abs. 4 RL 2001/ 83/ EG). Dieser Ausschuss, in dem ebenfalls alle Mitgliedstaaten vertreten sind, erstellt ein Gutachten bzgl. der Zulassung des Arzneimittels. Die dabei einzuhaltenden Verfahrensschritte, z. B. Fristen und Anhörung des Antragstellers, werden in Art. 32 RL 2001/ 83/ EG näher geregelt. Das Gutachten des Ausschusses wird der Kommission der EU übermittelt, die abschließend über die Erteilung oder Versagung der Zulassung entscheidet (Art. 33, 34 RL 2001/ 83/ EG). Das Verfahren der gegenseitigen Anerkennung und das dezentralisierte Verfahren führen nicht unmittelbar zu einer eigenständigen Zulassung, sondern zu abgestimmten nationalen Zulassungen in den einzelnen beteiligten Mitgliedstaaten. Die Umsetzung der zwischen den Mitgliedstaaten erzielten Einigung oder der Kommissionsentschei‐ dung erfolgt in einer nationalen Phase durch die Behörden der beteiligten Mitglied‐ staaten (Art. 28 Abs. 5 bzw. Art. 34 Abs. 3 RL 2001/ 83/ EG). Dazu mussten in der 292 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="293"?> 434 Vgl. OLG Köln, Urt. v. 30.05.1990, 27 U 169/ 89, NJW-RR 1991, 800 ff. Vergangenheit die nationalen Rechts- und Verwaltungsvorschriften in den Mitglied‐ staaten an die Vorgaben der RL 2001/ 83/ EG angepasst werden. In Deutschland erfolgt die Umsetzung der abgestimmten Zulassung bzw. Versagung gem. §§ 25b, 25c AMG. Im Ergebnis bekommt der pharmazeutische Unternehmer für sein Arzneimittel - anders als im zentralisierten Verfahren - nicht eine einheitliche Entscheidung, sondern eine Vielzahl nationaler Entscheidungen. 2.9.8 Zulassungsüberschreitender Einsatz von Arzneimitteln Der zulassungsüberschreitende Einsatz eines Arzneimittels (engl. Begriff off-label use) bedeutet, dass das Arzneimittel außerhalb des zugelassenen Anwendungsgebiets eingesetzt wird. ➤ Beispiel Das Arzneimittel Avastin ® mit dem Wirkstoff Bevacizumab ist für verschiedene Krebserkrankungen zugelassen und wird von Augenärzten zur Behandlung der feuchten altersbedingten Makuladegeneration (AMD) eingesetzt, ohne dass es dafür eine Zulassung besitzt. Dagegen ist das Arzneimittel Lucentis ® mit dem Wirkstoff Ranibizumab für das Anwendungsgebiet der feuchten AMD zugelassen; die Therapiekosten sind jedoch höher. Der zulassungsüberschreitende Einsatz entsteht durch die Weiterentwicklung der medizinischen Erkenntnisse. Ärzte gelangen auf der Suche nach weiteren Behand‐ lungsmöglichkeiten zu dem Schluss, dass bestimmte Medikamente für die Indikationen eingesetzt werden können, für die sie nicht zugelassen sind. Die Änderung der Indikation eines Arzneimittels bedarf zwar gem. § 29 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 AMG einer Neu‐ zulassung. Adressat dieser Regelung ist jedoch nicht der behandelnde Arzt, sondern der pharmazeutische Unternehmer. Der Arzt darf wegen seiner Therapiefreiheit ein Arzneimittel zulassungsüberschreitend einsetzen. In diesem Zusammenhang gilt sogar, dass das Unterlassen eines nach dem medizinischen Standard gebotenen zulassungs‐ überschreitenden Einsatzes einen Behandlungsfehler darstellen kann. ➤ Beispiel Krankenhausärzte setzten Arzneimittel mit dem Wirkstoff Aciclovir nicht recht‐ zeitig bei einem Kleinkind ein, bei dem der Verdacht einer durch Herpesviren vermittelten Gehirnentzündung bestand. Aciclovir war damals noch nicht für den Einsatz gegen Herpesviren zugelassen, aber gängige klinische Praxis. Ferner war die Wirksamkeit durch Studien belegt. Dem Kind, das eine Halbseitenlähmung davontrug, wurde Schadenersatz und Schmerzensgeld zugesprochen. 434 2.9 Unternehmen der pharmazeutischen Industrie 293 <?page no="294"?> Der pharmazeutische Unternehmer darf jedoch, selbst wenn der zulassungsüberschrei‐ tende Einsatz zum medizinischen Standard gehört, dafür nicht werben. Nach § 3a HWG ist die Werbung für ein zulassungspflichtiges Arzneimittel unzulässig, wenn sich die Werbung auf Anwendungsgebiete bezieht, die von der Zulassung nicht erfasst sind. Ferner hat der zulassungsüberschreitende Einsatz eines Arzneimittels für den pharma‐ zeutischen Unternehmer einen haftungsrechtlichen Aspekt. Wenn der Unternehmer einen solchen Einsatz durch sein Verhalten (z. B. durch eine entsprechende Erklärung, Beratung oder Duldung) als „bestimmungsgemäßen Gebrauch“ freigibt, unterliegt dieser Einsatz den Regelungen der Arzneimittelhaftung nach §§-84-ff. AMG (siehe Abschnitt 2.9.13). ➤ Beispiel Anlage VI der AM-RL des GBA, die die Verordnung von Arzneimitteln in der gesetzlichen Krankenversicherung regelt, enthält verschiedene Arzneimittel, die zur Behandlung bestimmter Erkrankungen zulassungsüberschreitend eingesetzt werden können. Die pharmazeutischen Unternehmer der Arzneimittel haben eine entsprechende Zustimmung erteilt und damit den zulassungsüberschreitenden Einsatz als bestimmungsgemäßen Gebrauch anerkannt. Unter bestimmten Voraussetzungen gehört der zulassungsüberschreitende Einsatz eines Arzneimittels zu den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung (vgl. Abschnitt 2.9.15.2). 2.9.9 Herstellung von Arzneimitteln Gem. § 4 Abs. 14 AMG wird das Gewinnen, Anfertigen, Zubereiten, das Be- oder Verarbeiten, das Umfüllen einschließlich Abfüllen, Abpacken, Kennzeichnen und die Freigabe als Herstellen von Arzneimitteln verstanden. Es genügt, eine einzelne dieser aufgezählten Tätigkeit auszuüben, um Hersteller zu sein. ✎ Aufgabe Der Großhändler G importiert von Tschechien nach Deutschland diverse Fertig‐ arzneimittel des Unternehmens U. Bei dem Import handelt es sich um einen sog. Reimport, bei dem in Deutschland zugelassene und exportierte Arzneimittel wieder nach Deutschland importiert werden. G versieht die Fertigarzneimittel mit deutschsprachigen Aufklebern und Packungsbeilagen (beides entsprechend den Anforderungen nach §§ 10, 11 AMG). Die Packungen haben eine Größe, die für die Abgabe an Endverbraucher handelsüblich ist. G hat jedoch vor, die Arzneimittel ausschließlich an Krankenhäuser zu verkaufen. Benötigt G eine Herstellungserlaubnis gem. § 13 AMG? Begründen Sie Ihre Entscheidung. ➤ Lösungen im Web-Service. 294 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="295"?> 435 Vgl. Rehmann, Arzneimittelgesetz Kommentar, § 13 Rn. 2. Neben der Notwendigkeit, das (Fertig-)Arzneimittel zuzulassen, um es in den Verkehr zu bringen, ist das Herstellen von Arzneimitteln unter bestimmten Voraussetzungen ebenfalls erlaubnispflichtig. Die Einzelheiten regelt § 13 AMG: ● Die unternehmerische Tätigkeit muss den o. g. Begriff des Herstellens von Arzneimitteln erfüllen. Ferner ist die Überführung eines Fertigarzneimittels in seine anwendungsfähige Form unmittelbar vor seiner Anwendung am Menschen (Rekonstitution) im Rahmen einer klinischen Prüfung eine erlaubnispflichtige Tätigkeit (Umkehrschluss aus § 13 Abs. 1a Nr.-4 AMG). ● Erlaubnispflichtig ist nicht nur das Herstellen von Arzneimitteln, sondern auch das Herstellen von Wirkstoffen, die tierischer oder mikrobieller Herkunft sind (z. B. Wirkstoffe aus dem Speichel von Blutegeln) oder von Wirkstoffen, die auf gentechnischem Wege hergestellt werden, und alle Stoffe (inkl. Wirkstoffe) menschlicher Herkunft, die zur Arzneimittelherstellung bestimmt sind, von der Erlaubnispflicht erfasst. Dagegen sind die Gewebeprodukte, die der Erlaubnis nach § 20b und § 20c AMG unterliegen, nicht erfasst. ● Die Herstellung muss gewerbsmäßig oder berufsmäßig erfolgen. Beide Merkmale bedeuten inhaltlich, dass die Tätigkeit entgeltlich zur Erzielung von dauerhaften Einkünften ausgeübt wird. Die Erwähnung der berufsmäßigen Herstellung trägt dem Umstand Rechnung, dass die freien Berufe wie Ärzte und Apotheker kein Gewerbe ausüben. 435 ● Der Inhaber einer Apotheke benötigt keine Erlaubnis nach § 13 AMG, wenn er im Rahmen des üblichen Apothekenbetriebs Arzneimittel herstellt, es sei denn, es handelt sich um die in § 13 Abs. 2a S. 1 AMG genannten Arzneimittel, z. B. Blutzubereitungen oder radioaktive Arzneimittel. Des Weiteren benötigt der Apotheker keine Erlaubnis für die Rekonstitution, das Umfüllen, Abpacken oder Kennzeichnen von Arzneimittel im Rahmen einer klinischen Studie, für die Herstellung von Testallergenen sowie für das patientenindividuelle Umfüllen in unveränderter Form, das Abpacken oder Kennzeichnen von zugelassenen Sera nicht menschlichen oder tierischen Ursprungs (vgl. zum Begriff Sera § 4 Abs. 3 AMG). ● Ebenso wenig benötigt der Großhändler eine Herstellungserlaubnis für das Um‐ füllen, Abpacken oder Kennzeichnen von Arzneimitteln in unveränderter Form, es sei denn, es handelt sich um Packungen, die für den Verbraucher bestimmt sind, oder es handelt sich um die in § 13 Abs. 2a AMG genannten Arzneimittel, z. B. Blutzubereitungen oder radioaktive Arzneimittel. Für das Umfüllen von flüssigem Sauerstoff in mobile Kleinbehältnisse für einzelne Patienten in Krankenhäusern oder bei Ärzten benötigt der Großhändler ebenfalls keine Herstellungserlaubnis. ● Weitere Unternehmen, wie z. B. eine Krankenhausapotheke, sind unter bestimmten Voraussetzungen ebenfalls von der Herstellungserlaubnis befreit; vgl. dazu § 13 Abs. 2, 2a, 2b AMG. 2.9 Unternehmen der pharmazeutischen Industrie 295 <?page no="296"?> 436 Vgl. Heßhaus, Kommentar zum Medizinrecht, AMG § 14 Rn. 6. 437 Vgl. Rehmann, Arzneimittelgesetz Kommentar, § 14 Rn. 10. Wenn ein Unternehmer für seine Herstellung keine Erlaubnis nach § 13 AMG benötigt, so muss er dennoch seine Tätigkeit bei der zuständigen Behörde gem. § 67 AMG anzei‐ gen. Die Behördenzuständigkeit ergibt sich aus dem Recht des jeweiligen Bundeslandes. Der Unternehmer hat auf die Erteilung der Herstellungserlaubnis einen Rechtsan‐ spruch, wenn keiner der in § 14 AMG geregelten Versagungsgründe vorliegt. Die Erlaubnis ist insbesondere wegen folgender Gründe zu versagen: ● Fehlen einer sachkundigen Person (§ 14 Abs. 1 Nr.-1 AMG), Die sachkundige Person ist gem. § 19 AMG dafür verantwortlich, dass alle Chargen des Arzneimittels ordnungsgemäß hergestellt und geprüft werden. Sie muss entweder eine Approbation als Apotheker oder einen einschlägigen Hoch‐ schulabschluss gem. § 15 AMG haben und mindestens zwei Jahre auf dem Gebiet der qualitativen und quantitativen Analyse sowie sonstiger Qualitätsprüfungen von Arzneimitteln praktisch tätig gewesen sein. Die sachkundige Person hat auch eine Präsenzpflicht (§ 14 Abs. 1 Nr. 4 AMG). Für Abwesenheitszeiten muss ein Vertreter bestellt werden, der ebenfalls die geforderte Qualifikation hat. ● Unzuverlässigkeit der sachkundigen Person oder des Antragstellers (§ 14 Abs. 1 Nr.-3 AMG), Unzuverlässig ist, wer nicht die Gewähr bietet, dass er seine Aufgaben und Verpflichtungen im Rahmen der Arzneimittelherstellung ordnungsgemäß wahr‐ nehmen wird. 436 Insoweit muss die zuständige Behörde eine Prognoseentscheidung treffen, die sie auf relevante Vorkommnisse in der Vergangenheit (z. B. Straftaten) oder auf in der Person liegende Gründe stützt. ● Fehlende Eignung des Antragstellers, die Herstellung der Arzneimittel nach dem Stand der Wissenschaft und Technik zu gewährleisten (§ 14 Abs. 1 Nr. 6 Buchst. a AMG), Der wissenschaftliche und technische Standard wird insbesondere durch die AMWHV, die GMP-Guidelines und die Arzneimittelprüfrichtlinien konkretisiert. Die Prüfung, ob der Standard eingehalten wird, erfolgt anhand der Herstellungs- und Kontrollmethoden, die der Antragsteller in seinen einzureichenden Unterla‐ gen beschreiben muss. 437 ● Fehlen geeigneter Betriebsräume und Einrichtungen (§ 14 Abs. 1 Nr.-6 AMG). Die Räume müssen nach Art, Größe, Zahl, Ausrüstung und Reinheit für die beabsichtigte Herstellung so hergerichtet sein, dass jeder Umstand, der die Qualität des Arzneimittels beeinträchtigen kann, vermieden wird (§ 5 AMWHV). Wenn mit der Herstellung ein anderes Unternehmen beauftragt wird, so müssen auch dessen Räume den gesetzlichen Anforderungen genügen (§ 14 Abs. 4 AMG). Eine solche fremde Betriebsstätte muss ebenfalls in die Erlaubnis einbezogen werden. 296 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="297"?> Vor der Erteilung der Erlaubnis führt die zuständige Behörde zur Prüfung der gesetz‐ lichen Anforderungen eine Abnahmeinspektion gem. § 64 Abs. 3a AMG durch. Die Herstellungserlaubnis wird dem Antragsteller nicht pauschal für das Herstellen jeglicher Arzneimittel, sondern für eine bestimmte Betriebsstätte sowie für bestimmte Arzneimittel und deren Darreichungsformen erteilt (§ 16 AMG). Bei diesbezüglichen Änderungen - z. B. das Herstellen anderer Arzneimittel - muss der Unternehmer erneut eine Herstellungserlaubnis beantragen. Wenn nachträglich bekannt wird, dass einer der Versagungsgründe bei Erlaubniser‐ teilung vorlag, oder wenn ein Versagungsgrund nachträglich eintritt, so muss die zuständige Behörde die Erlaubnis aufheben (§ 18 AMG). Die Anforderungen an den Herstellungsprozess von Arzneimitteln sowie die diesbezü‐ glichen Pflichten des Herstellers sind in der Arzneimittel- und Wirkstoffherstellungs‐ verordnung (AMWHV) bestimmt. Dazu gehören beispielsweise: ● Zur Gewährleistung der Guten Herstellungspraxis und der Qualität der Arznei‐ mittel muss der Unternehmer ein angemessenes Qualitätsmanagement betreiben (§ 3 AMWHV). ● Der Hersteller muss sachkundiges und angemessen qualifiziertes Personal in ausreichender Zahl beschäftigen und das Personal darf nur entsprechend seiner Ausbildung und seinen Kenntnissen eingesetzt werden (§ 4 AMWHV). ● Die Räume müssen nach Art, Größe, Zahl, Ausrüstung und Reinheit für die beabsichtigte Herstellung so hergerichtet sein, dass jeder Umstand, der die Qualität des Arzneimittels beeinträchtigen kann, vermieden wird (§ 5 AMWHV). ● Die Betriebsräume und ihre Ausrüstungen müssen regelmäßig gereinigt und ggf. desinfiziert oder sterilisiert werden. Die Einzelheiten sollen in einem schriftlichen Hygieneplan fixiert werden (§ 6 AMWHV). ● Es ist ein Dokumentationssystem für die jeweils durchgeführten Tätigkeiten zu unterhalten, um den Herstellungsprozess für jede Charge zurückverfolgen zu können (§ 10 AMWHV). Im Hinblick auf die Erfüllung seiner Pflichten unterliegt der pharmazeutische Unter‐ nehmer der staatlichen Aufsicht gem. §§ 64 ff. AMG. Die zuständige Behörde kann alle Maßnahmen treffen, die zur Beseitigung festgestellter Verstöße oder die zur Verhütung künftiger Verstöße notwendig sind (§ 69 AMG). ➤ Beispiel │ aufsichtsbehördliche Maßnahme Ein Pharmaunternehmen bezog Oxaliplatin in unsteriler Form von einem ande‐ ren Unternehmen. Oxaliplatin ist ein toxischer Wirkstoff aus der Gruppe der Zytostatika, der insbesondere zur Erstbehandlung von Dickdarm-/ Mastdarmkrebs verwendet wird. Das Pharmaunternehmen füllte den Wirkstoff (ohne entspre‐ chende Herstellungserlaubnis) in sterilisierte Durchstechflaschen ab und lieferte die Durchstechflaschen nach Kennzeichnung in passenden Umkartons an phar‐ mazeutische Händler und (Krankenhaus-)Apotheken. 2.9 Unternehmen der pharmazeutischen Industrie 297 <?page no="298"?> 438 Vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 8.12.2011, 5 N 20.08, BeckRS 2012, 46705. Wegen der fehlenden Herstellungserlaubnis untersagte die zuständige Behörde gem. § 69 Abs. 1. S. 1 Nr. 6 AMG dem Pharmaunternehmen die Herstellung und das Inverkehrbringen der Durchstechflaschen mit Oxaliplatin. Die Substanz musste zwar vor der Anwendung noch mit einer Glucoselösung gelöst und sterilisiert/ ste‐ rilfiltriert werden. Gleichwohl handelte es sich bereits bei dem vertriebenen Produkt um ein Funktionsarzneimittel, weil es pharmakologisch wirkte und in der Krebsbehandlung eingesetzt wurde. Zudem setzt der Arzneimittelbegriff nach § 2 Abs. 1 Nr. 2 AMG nicht voraus, dass die Herstellung bereits vollständig abgeschlossen ist. Die Untersagungsverfügung wurde von den Gerichten als rechtmäßig angesehen. 438 2.9.10 Import von Arzneimitteln Unternehmen, die ihre Arzneimittel in Deutschland herstellen, benötigen, wie im vorherigen Abschnitt aufgezeigt, eine Herstellungserlaubnis. Eine Vielzahl von Arz‐ neimitteln wird jedoch entweder in einem EU-/ EWR-Mitgliedstaat oder in einem Drittstaat hergestellt und nach Deutschland importiert. Nach § 73 AMG besteht ein grundsätzliches Verbringungsverbot, so dass der Import von Arzneimitteln nur unter bestimmten Voraussetzungen zulässig ist: 298 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="299"?> Import von zulassungs-, genehmigungs- oder registrierungspflichtigen Arzneimitteln, wenn … Belieferung eines pharmazeutischen Unternehmers, Großhändlers oder Apothekers aus EU-/ EWR-Staat (Vgl. im Einzelnen § 73 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AMG) Lieferung an Endverbraucher per Versandhandel aus EU-/ EWR-Staat, der dem deutschen Standard entspricht, (Vgl. im Einzelnen § 73 Abs. 1 S. 1 Nr. 1a AMG) Import aus Drittstaat, wenn Empfänger eine Einfuhrerlaubnis gem. § 72 AMG hat (Vgl. im Einzelnen § 73 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AMG) Ausnahme gem. § 73 Abs. 2 AMG (z. B. Arzneimittel gehört bei Einreise zum persönlichen Bedarf, § 73 Abs. 2 Nr. 6 AMG) alternatives Verhältnis zwischen den Tatbeständen Import von Fertigarzneimittel durch Apotheke im Einzelfall in geringer Menge zur Schließung einer Versorgungslücke gem. § 73 Abs. 3 AMG alternatives Verhältnis zwischen den Tatbeständen sie nicht zugelassen, genehmigt oder registriert und keine Fälschung sind, und … sie in BRD zugelassen, genehmigt, registriert sind oder davon freigestellt und keine Fälschung sind, und … Abbildung 48: Verbringungsverbot gem. § 73 AMG 2.9 Unternehmen der pharmazeutischen Industrie 299 <?page no="300"?> 439 Vgl. EuGH, Urt. v. 20.5.1976, Rs 104/ 75, NJW 1976, 1575 f., EuGH, Urt. v. 1.7.1993, Rs. C-207/ 91, PharmR 1993, 294 ff. Der Unternehmer, der sein in einem Drittstaat, z.-B. Indien, China, hergestelltes Arznei‐ mittel nach Deutschland importieren möchte, benötigt eine Einfuhrerlaubnis gem. §-73 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AMG. Die Regelungen hinsichtlich der Einfuhrerlaubnis (behördli‐ che Zuständigkeit, Versagungsgründe etc.) entsprechen in weiten Teilen denen der Herstellungserlaubnis, vgl. im Einzelnen § 72 AMG. Um eine Einfuhrerlaubnis zu erhalten, muss der Importeur ein Einfuhrzertifikat gem. § 72a AMG vorlegen, dass der europäische Standard bzgl. Herstellung und Qualität der Arzneimittel gewährleistet ist. Von der Einfuhrerlaubnis unberührt bleibt die ebenfalls notwendige Zulassung, um ein zulassungspflichtiges Arzneimittel in Deutschland in den Verkehr zu bringen (siehe auch → Abbildung 45). Auf eine in Deutschland geltende Zulassung, die ein anderer pharmazeutischer Unternehmer für das Arzneimittel innehat, kann er sich bei einem Arzneimittel aus einem Drittstaat nicht berufen. Dagegen ist eine Einfuhrerlaubnis für ein in einem EU-/ EWR-Mitgliedstaat produzier‐ ten oder erworbenen Arzneimittel bei der Belieferung eines anderen pharmazeutischen Unternehmers, Großhändlers, Apothekers nicht notwendig. Hintergrund dafür ist, dass die Rechts- und Verwaltungsvorschriften innerhalb der EU bzw. des EWR insoweit angeglichen sind und in den anderen Mitgliedstaaten ebenfalls eine Herstellungser‐ laubnis wie in Deutschland notwendig ist (vgl. Art. 40 ff. RL 2001/ 83/ EG). Ebenso wie bei einer Einfuhr aus einem Drittstaat gilt jedoch, dass der Importeur über eine arznei‐ mittelrechtliche Zulassung verfügen muss, um ein zulassungspflichtiges Arzneimittel in Deutschland in den Verkehr zu bringen. Wenn die Einfuhr des Arzneimittels als Parallelimport erfolgt, gibt es ein erleichtertes Zulassungsverfahren. Parallelimport bedeutet, dass ein (Handels-)Unternehmen ein Arzneimittel in einem anderen EU-/ EWR-Mitgliedstaat erwirbt und es neben - also parallel - zum Original eines anderen pharmazeutischen Unternehmers nach Deutschland einführt. Das Geschäftsmodell des Parallelimporteurs beruht auf der Situation, dass der pharmazeutische Unternehmer sein Arzneimittel in den einzelnen Mitgliedsstaaten mit unterschiedlichen Preisen in den Verkehr gebracht hat. Durch den Import des Arzneimittels in einen hochpreisigen Mitgliedstaat kann der Parallelimporteur einen Gewinn zu generieren. Für diesen Parallelimport aus einem EU-/ EWR-Mitgliedstaat genügt zur Erleichterung des euro‐ päischen Warenverkehrs die Durchführung eines vereinfachten Zulassungsverfahrens, in dem nur die stoffliche Identität des in Deutschland bereits zugelassenen und des importierten Arzneimittels geprüft wird 439 (vgl. auch → Abbildung 45). 2.9.11 Arzneimittelpreise Der Unternehmer, der ein Fertigarzneimittel in Deutschland in den Verkehr bringt, kann zwar den Preis für sein Produkt selbst bestimmen. Dennoch ist seine Preispolitik nicht unbegrenzt. Zum einen steht er in der Regel in einem Preiswettbewerb mit an‐ 300 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="301"?> deren pharmazeutischen Unternehmen. Zum anderen wird der Preis durch gesetzliche Vorgaben beeinflusst. Arzneimittelpreise Wettbewerb zwischen den Unternehmen Regulierung der Arzneimittelausgaben der Krankenkassen und Krankenversicherungen durch SGB V, § 78 AMG und AMRabG Preisregulierung durch § 78 AMG und AMPreisV Abbildung 49: Beeinflussung der Arzneimittelpreise § 78 AMG und die AMPreisV zielen auf einen einheitlichen Apothekenabgabepreis für verschreibungspflichtige Arzneimittel ab, damit der Preiswettbewerb zwischen den Apotheken, der einer hochwertigen Arzneimittelversorgung der Bevölkerung entgegenstehen könnte, vermieden wird. In diesem Sinne muss der Abgabepreis des pharmazeutischen Unternehmers für apothekenpflichtige Fertigarzneimittel, die verschreibungspflichtig sind, einheitlich sein (§ 78 Abs. 3 S. 1 AMG). Zu diesem Abgabepreis kommen die Großhandelsspanne gem. § 2 AMPreisV (vgl. Abschnitt 2.10.2) sowie die Einzelhandelsspanne gem. § 3 AMPreisV (vgl. Abschnitt 2.11.1) hinzu. Für apothekenpflichtige, nicht verschreibungspflichtige Fertigarzneimittel, die zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung abgegeben werden, hat der pharmazeutische Un‐ ternehmer zum Zwecke der Abrechnung der Apotheken mit den Krankenkassen einen einheitlichen Abgabepreis anzugeben, von dem jedoch bei der Abgabe im Einzelfall abgewichen werden kann (§ 78 Abs. 3 S. 1 AMG). Die Groß- und Einzelhandelsspanne für diese Fertigarzneimittel richten sich nach der AMPreisV in der bis 31.12.2003 gültigen Fassung (vgl. § 129 Abs. 5a SGB V). Anders verhält es sich mit den nicht verschreibungspflichtigen Arzneimitteln, für die der Patient selbst aufkommen muss. Die Vereinbarung der Preise für diese Arzneimittel zwischen den verschiedenen Handelsstufen sowie zwischen dem Apotheker und dem Patienten ist nicht der arzneimittelrechtlichen Preisregulierung unterworfen. Ferner hält das SGB V verschiedene Mechanismen bereit, um die Arzneimittelaus‐ gaben der Krankenkassen zu begrenzen. Diese Regelungen gelten teilweise gem. § 78 AMG i. V. m. dem AMRabG auch zugunsten der Unternehmen der privaten Krankenversicherungen. 2.9 Unternehmen der pharmazeutischen Industrie 301 <?page no="302"?> Wenn für ein Arzneimittel gem. § 35 SGB V ein Festbetrag festgesetzt ist, zahlen die Krankenkassen nur diesen Festbetrag, auch wenn der Abgabepreis höher ist (vgl. Abschnitt 2.9.15.3). Die Versicherten müssen die Differenz zwischen Abgabepreis und Festbetrag zahlen. Diese Differenzzahlung beeinflusst das Nachfrageverhalten der Ver‐ sicherten und somit den Absatz des betroffenen Arzneimittels. Deshalb beeinflussen die Festbeträge den (Preis-)Wettbewerb zwischen den Unternehmen und letztlich die Bestimmung der Abgabepreise durch die pharmazeutischen Unternehmer. Für Arzneimittel ohne Festbetrag regelt § 130a Abs. 3a SGB V ein sog. Preismo‐ ratorium. Wenn der pharmazeutische Unternehmer seinen Abgabepreis für ein Arz‐ neimittel erhöht, muss er den Krankenkassen und gem. § 1 AMRabG den privaten Krankenversicherern einen Abschlag in Höhe des Betrages der Preiserhöhung, ver‐ mindert um einen Inflationsausgleich, gewähren (vgl. Abschnitt 2.9.15.3). Für nicht festbetragsfähige Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen ist gesetzlich vor‐ gesehen, dass der pharmazeutische Unternehmer und der GKV-Spitzenverband einen Erstattungsbetrag vereinbaren. Bei diesem Erstattungsbetrag handelt es sich um den Abgabepreis des pharmazeutischen Unternehmers, den er ab dem 13. Monat nach dem Inverkehrbringen des Arzneimittels verlangen kann. Zuvor kann der pharmazeutische Unternehmer einen anderen (höheren) Abgabepreis festlegen, der allerdings wie eingangs erwähnt einheitlich sein muss. Dieser Erstattungsbetrag kommt sowohl in der gesetzlichen als auch in der privaten Krankenversicherung zum Tragen (vgl. Abschnitt 2.9.15.3). Ferner muss der pharmazeutische Unternehmer Abschläge für Fertigarzneimittel, Impfstoffe und Generika gewähren, und zwar zugunsten der gesetzlichen und privaten Krankenversicherung (Näheres im Abschnitt 2.9.15.3). Zwischen den Krankenkassen und pharmazeutischen Unternehmer können gem. § 130a Abs. 8 SGB V in sog. Rabattverträge weitere Rabatte vereinbart werden (vgl. Abschnitt 2.9.15.3). 2.9.12 Pharmakovigilanz Die Vorschriften zur Pharmakovigilanz zielen auf die Erfassung, Bewertung und Abwehr von Arzneimittelrisiken ab. Diese Risiken sind zwar bereits durch die klinische Prüfung vor der Zulassung des Arzneimittels erforscht worden. Gleichwohl dürfen die Grenzen der Studien - z. B. zeitliche Begrenzung, begrenzte Zahl der Probanden, definierte Probandengruppen anstelle der späteren „Durchschnittspatienten“ - nicht verkannt werden. Zudem treten durch die Weiterentwicklung der medizinischen Wissenschaft neue Erkenntnisse über die Arzneimittel zutage. Vor diesem Hintergrund ist es unerlässlich, die Arzneimittel auch nach ihrer Zulassung im Hinblick auf Wirksamkeit, Qualität und Sicherheit zu beobachten, zu bewerten und die notwendigen Maßnahmen zur Risikoreduzierung zu ergreifen. Für diese Aufgaben sind für die Unternehmen 302 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="303"?> 440 Ausführlicher in: Hobusch, Handbuch Gesundheitsrecht, S.-291-299. und staatlichen Behörden verschiedene Maßnahmen der Pharmakovigilanz gesetzlich statuiert, die in Grundzügen nachfolgend erläutert werden. 440 Für die im zentralisierten Verfahren der EU zugelassenen Arzneimittel gelten die Art. 21 ff. VO (EG) 726/ 2004. Für die Arzneimittel, die national oder im Wege des dezentralisierten Verfahrens oder des Verfahrens der gegenseitigen Anerkennung zugelassen worden sind, gelten weitestgehend die jeweiligen nationalen Vorschriften, die in der zurückliegenden Zeit an die Art. 101 ff. RL 2001/ 83/ EG anzupassen waren. Für Deutschland gelten die §§ 62 ff. AMG. Der Inhaber einer Arzneimittelzulassung ist zum Betreiben eines Pharmakovi‐ gilanz-Systems verpflichtet (Art. 21 Abs. 1 VO (EG) 726/ 2004, § 63b Abs. 1 AMG). Dieses System umfasst alle Tätigkeiten des pharmazeutischen Unternehmers, um die Sicherheit seiner Arzneimittel zu überwachen und seinen Pflichten im Gesamtsystem der Arzneimittelsicherheit nachzukommen. Dazu gehören beispielsweise die wissen‐ schaftliche Auswertung aller Informationen über die einzelnen Arzneimittel sowie das Prüfen und Ergreifen aller Maßnahmen zur Risikominimierung und -verhinderung. Für das Einrichten und Führen des Pharmakovigilanz-System muss eine verantwort‐ liche Person, ein Stufenplanbeauftragter (engl.: qualified person for pharmacovigilance) benannt werden. Der Stufenplanbeauftragte muss für die Aufgabe fachlich qualifiziert und zuverlässig sein (vgl. § 63a AMG, Art. 21 Abs. 1 VO (EG) 726/ 2004, Art. 104 Abs. 3 RL-2001/ 83/ EG). Eingebettet in das Pharmakovigilanz-System muss der pharmazeutische Unterneh‐ mer für jedes Arzneimittel ein Risikomanagementsystem betreiben. Mit diesem sollen arzneimittelbezogen potenzielle oder identifizierte Risiken gesammelt, dokumentiert und ausgewertet sowie notwendige Maßnahmen zur Risikoverhinderung und -mini‐ mierung geplant und ergriffen werden. Gem. Art. 28 Abs. 2 VO (EG) 726/ 2004 bzw. § 63d AMG hat der Inhaber der Arz‐ neimittelzulassung regelmäßige aktualisierte Unbedenklichkeitsberichte (engl.: Periodic Safety Update Reports, PSUR) zur Beurteilung des Nutzens und der Risiken eines Arzneimittels, zur wissenschaftlichen Bewertung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses sowie zum Umsatz- und Verschreibungsvolumen des Arzneimittels einzureichen. Die Intervalle für die Vorlage dieser Unbedenklichkeitsberichte werden in der Zulassung des Arzneimittels festgelegt. Wenn das Vorlageintervall in der Zulassung nicht ange‐ geben ist (beispweise bei Zulassungen, die vor dem 26.10.2012 erteilt worden sind), so müssen die Berichte nach Aufforderung übermittelt werden. Bei Arzneimitteln, die denselben Wirkstoff oder dieselbe Wirkstoffkombination enthalten, aber verschiedenen Genehmigungen unterliegen, können der Rhythmus und die Termine für die Vorlage der regelmäßigen aktualisierten Unbedenklichkeitsberichte harmonisiert werden (Art. 107c Abs. 4 RL 2001/ 83/ EG). Das ermöglicht eine einheitliche Bewertung derselben Wirkstoffe und Wirkstoffkombinationen, für die mehrere zu verschiedenen Zeiten erteilte Zulassungen existieren. Diese einheitliche Bewertung 2.9 Unternehmen der pharmazeutischen Industrie 303 <?page no="304"?> 441 List of European Union reference dates and frequency of submission of periodic safety update reports, https: / / www.ema.europa.eu/ en/ human-regulatory/ post-authorisation/ pharmacovigilance/ periodic-safety-update-reports-psurs (Abruf am 26.5.2022). 442 Unter https: / / esubmission.ema.europa.eu/ psur/ psur_repository.html (Abruf am 26.5.2022). wird PSUR Single Assessment, (PSUSA) genannt. Die vom PSUSA betroffenen Wirk‐ stoffe und Wirkstoffkombinationen und relevanten Vorlageintervalle sind in der sog. EURD-Liste 441 veröffentlicht. Die Unbedenklichkeitsberichte für Arzneimittel, die vor dem 26.10.2012 zugelassen wurden und bei denen die Vorlageintervalle und -termine nicht in der Zulassung fest‐ gelegt sind, sowie für die Arzneimittel, die nur in Deutschland zugelassen wurden und für die kein PSUSA gilt, hat der Zulassungsinhaber gem. § 63d Abs. 2 AMG elektronisch beim BfArM bzw. PEI einzureichen. Dieses prüft, ob sich das Nutzen-Risiko-Verhältnis des Arzneimittels verändert hat und entscheidet über notwendige Maßnahmen (§ 62 Abs. 5 Nr.-3, §-63d Abs.-5 AMG). Alle anderen Unbedenklichkeitsberichte sind an das von der EMA vorgehaltene Datenarchiv (PSUR Repository) 442 elektronisch zu übermitteln (Art. 25a VO (EG) 726/ 2004, Art.-107b RL 2001/ 83/ EG). Die übermittelten Berichte werden vom Ausschuss für Risikobewertung im Bereich der Pharmakovigilanz (engl.: Pharmacovigilance Risk Assessement Committee, PRAC) beurteilt, wenn mindestens ein im zentralisierten Verfahren zugelassenes Arzneimittel betroffen ist. Der Ausschuss für Risikobewertung im Bereich der Pharmakovigilanz ist ein bei der EMA angesiedeltes wissenschaftliches Beratungsgremium, in dem alle EU-Mitgliedstaaten sowie die EWR-Staaten Island, Liechtenstein, Norwegen durch ein Mitglied vertreten sind. Ferner gehören dem Ausschuss acht von der Kommis‐ sion nominierte Mitglieder an, und zwar sechs Mitglieder aus der Wissenschaft, ein Mitglied der Gesundheitsberufe sowie ein Patientenvertreter (Art. 61a Abs. 1-4 VO (EG) 726/ 2004). Die Aufgaben des Ausschusses erstrecken sich auf die Arznei‐ mittelsicherheit, er ist insbesondere für die Ermittlung, Bewertung, Minimierung und Kommunikation der Risiken von Nebenwirkungen von Arzneimitteln zuständig und gibt Empfehlungen gegenüber dem Ausschuss für Humanarzneimittel und der Koordinierungsgruppe ab (Art. 56 Abs. 1 Buchst. aa, Art. 61a Abs. 6 VO (EG) 726/ 2004). Wenn das Arzneimittel in mehreren oder allen EU-/ EWR-Mitgliedstaaten zugelassen ist, jedoch kein im zentralisierten Verfahren zugelassenes Arzneimittel betroffen ist, nimmt ein Mitgliedstaat, in der Regel der Referenzmitgliedstaat, die Beurteilung der Unbedenklichkeitsberichte vor. Wenn die Beurteilung des Ausschusses für Risikobewertung im Bereich der Phar‐ makovigilanz oder des Mitgliedstaates ergibt, dass die Arzneimittelzulassung(en) geändert, ausgesetzt oder widerrufen werden muss bzw. müssen, wird darüber in einem Risikobewertungsverfahren gem. Art. 28 VO (EG) 726/ 2004 und Art. 107d bis 107 g RL 2001/ 83/ EG entschieden, das weitestgehend dem nachfolgend beschriebenen Dringlichkeitsverfahren entspricht. 304 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="305"?> Neben seinen Berichtspflichten hat der Inhaber der Arzneimittelzulassung alle in der EU und in Drittländern auftretende Verdachtsfälle von Nebenwirkungen, von denen er Kenntnis erlangt, zu erfassen (Art. 28 VO (EG) 726/ 2004, §-63c Abs. 1, 3 AMG). Die Verdachtsfälle ● von schwerwiegenden Nebenwirkungen sind innerhalb nach 15 Tagen Nebenwirkungen gelten als schwerwiegend, wenn sie tödlich oder lebensbedro‐ hend sind, eine stationäre Behandlung oder Verlängerung einer stationären Be‐ handlung erforderlich machen, zu bleibender oder schwerwiegender Behinderung, Invalidität, kongenitalen Anomalien oder Geburtsfehlern führen (Art.-1 Nr.-12 RL 2001/ 83/ EG, §-4 Abs. 13 AMG). ● und von nicht schwerwiegenden Nebenwirkungen innerhalb von 90 Tagen nach Bekanntwerden elektronisch an die EudraVigilance-Datenbank zu melden (§ 63c Abs. 2 AMG, Art. 24 VO (EG) 726/ 2004). Die Datenbank ist für die nationalen Behörden, EMA, Kommission sowie für den Zulassungsinhaber sowie eingeschränkt zur Wahrung des Datenschutzes auch für die Öffentlichkeit zugänglich (Art. 24 Abs. 2 VO (EG) 726/ 2004). Wenn sich aus den Verdachtsmeldungen oder anderen Informationen des Zulas‐ sungsinhabers oder anderer Akteure, wie z. B. Ärzten, Apothekern, Anzeichen für veränderte Risiken des zugelassenen Arzneimittels ergeben, so bestehen - abhängig vom Zulassungsstatus des Arzneimittels - verschiedene Verfahren zur Risikoprüfung und zur Festlegung von risikominimierenden und -verhindernden Maßnahmen: Abb. 51: Verfahren zur Risikobewertung Stufenplanverfahren gemäß § 63 AMG Dringlichkeitsverfahren gemäß Art. 107i - 107k RL 2001/ 83/ EG oder Standardverfahren gem. Art. 31-34 RL 2001/ 83/ EG Verfahren gem. Art. 20 VO (EG) 726/ 2004 Zulassungsstatus ausschließlich in Deutschland zugelassenes Arzneimittel Zulassung des Arzneimittels im Wege des dezentralisierten Verfahrens oder des Verfahrens der gegenseitigen Anerkennung, ggf. inkl. zentralisierte Zulassung ausschließlich im zentralisierten Verfahren zugelassenes Arzneimittel Abbildung 50: Verfahren zur Risikobewertung 2.9 Unternehmen der pharmazeutischen Industrie 305 <?page no="306"?> 443 Siehe 3. Erwägungsgrund der RL 2012/ 26/ EU zur Änderung der RL 2001/ 83/ EG hinsichtlich der Pharmakovigilanz v. 25.10.2012, ABl. L 299 S.-1 Das Dringlichkeitsverfahren wird von einem Mitgliedstaat oder der Kommission gem. Art.-107i Abs. 1, 1a RL 2001/ 83/ EG eingeleitet, wenn ● erwogen wird, die Arzneimittelzulassung auszusetzen oder zu widerrufen, ihre Verlängerung zu versagen oder die Abgabe eines Arzneimittels zu untersagen, oder ● der Mitgliedstaat oder die Kommission vom Inhaber der Arzneimittelzulassung darüber informiert wurde, dass der Inhaber aus Sicherheitsbedenken das Inver‐ kehrbringen eines Arzneimittels unterbrochen hat oder beabsichtigt oder die Rücknahme der Zulassung veranlassen möchte oder keine Verlängerung der Genehmigung beantragt hat, oder ● es für notwendig befunden wird, eine neue Gegenanzeige aufzunehmen, die empfohlene Dosis zu verringern oder die Indikationen für ein Arzneimittel einzu‐ schränken und dringender Handlungsbedarf besteht. Zentraler Akteur der Verfahren ist der Ausschuss für Risikobewertung im Bereich der Pharmakovigilanz, der eine wissenschaftliche Bewertung des Arzneimittels vornimmt. Wenn ein zentralisiert zugelassenes Arzneimittel betroffen ist, gibt er eine begründete Empfehlung gegenüber dem Ausschuss für Humanarzneimittel ab. Dieser erstellt ein Gutachten darüber, ob und welche Maßnahme zu ergreifen ist. Die endgültige Entscheidung über die einzuleitende Maßnahme trifft anschließend die Europäische Kommission. Wenn kein zentralisiert zugelassenes Arzneimittel betroffen ist, erhält die Koordinierungsgruppe die Empfehlung des Ausschusses für Risikobewertung im Bereich der Pharmakovigilanz. Die Koordinierungsgruppe entscheidet, ob und ggf. welche Maßnahme erforderlich ist. Einigen sich die in der Koordinierungsgruppe vertretenen Mitgliedstaaten, so wird der Beschluss den Mitgliedstaaten übermittelt, die ihrerseits die zur Umsetzung notwendigen Maßnahmen ergreifen. Andernfalls wird der mehrheitliche Standpunkt der Koordinierungsgruppe der Europäischen Kommission zur abschließenden Entscheidung vorgelegt. Die von der Kommission getroffene Entscheidung wird schließlich den Mitgliedstaaten zur Umsetzung übermittelt. Je nach Entscheidung ist die Arzneimittelzulassung zu ändern, aufzuheben oder eine andere Maßnahme anzuordnen. Das Standardverfahren kommt in den Fällen zum Tragen, in denen die Qualität, Wirksamkeit und Sicherheit von Arzneimitteln sowie die Interessen der Union betrof‐ fen sind, 443 aber keine der Gründe für die Einleitung des Dringlichkeitsverfahrens gem. Art. 107i Abs. 1, 1a RL 2001/ 83/ EG vorliegen. Das Standardverfahren kann im Unterschied zum Dringlichkeitsverfahren auch vom Zulassungsinhaber eingeleitet werden (Art. 31 Abs. 1 RL 2001/ 83/ EG). Die Verfahrensbeteiligten und der -ablauf entsprechen weitestgehend dem Dringlichkeitsverfahren, vgl. im Einzelnen Art. 31-34 RL 2001/ 83/ EG. 306 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="307"?> 444 Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Beobachtung, Sammlung und Auswertung von Arzneimittel‐ risiken (Stufenplan) nach § 63 AMG v. 9.2.2005, http: / / www.verwaltungsvorschriften-im-internet.d e/ bsvwvbund_09022005_111436241.htm (Abruf am 26.5..2022). Wenn risikominimierende oder -verhindernde Maßnahmen hinsichtlich eines aus‐ schließlich zentral zugelassenen Arzneimittels notwendig erscheinen, kommt das Verfahren nach Art. 20 VO (EG) 726/ 2004 zum Tragen. Zur Einleitung entsprechender Maßnahmen unterrichtet der Mitgliedstaat den Ausschuss für Humanarzneimittel und die Kommission. Auf Anforderung der Kommission gibt der Ausschuss für Humanarzneimittel eine Stellungnahme unter Einbeziehung einer Empfehlung des Ausschusses für Risikobewertung im Bereich der Pharmakovigilanz ab. Über die zu treffenden Maßnahmen entscheidet die Kommission. Für die ausschließlich in Deutschland zugelassenen Arzneimittel wird über die notwendigen Maßnahmen infolge der Risikoveränderung im Rahmen des sog. Stu‐ fenplanverfahrens entschieden. Dieses Verfahren ist in § 63 AMG geregelt und in einer Verwaltungsvorschrift 444 konkretisiert. Wenn die über ein Arzneimittel vorlie‐ genden Informationen (z. B. Nebenwirkungen, mangelhafte Kennzeichnung) auf die Möglichkeit einer Gefährdung der Gesundheit von Menschen hinweisen, tritt die zuständige Bundesoberbehörde mit dem pharmazeutischen Unternehmer in einen Informationsaustausch ein (sog. Gefahrenstufe I). Dieser endet mit der Einstellung des Verfahrens, wenn eine Gefährdung nicht festgestellt werden kann oder der Unternehmer eigenverantwortlich ausreichende Maßnahmen ergriffen hat. Wenn indes der Informationsaustausch oder die vorliegenden Informationen nicht nur die Möglichkeit, sondern den Verdacht einer Gefährdung der Gesundheit von Menschen offenbaren und der pharmazeutische Unternehmer selbst keine ausreichen‐ den Maßnahmen ergriffen hat, wird das Verfahren der Gefahrenstufe II durchgeführt. Der Stufe II muss das Verfahren der Stufe I nicht vorangegangen sein. Wenn sich der Verdacht der Gesundheitsgefährdung erhärtet, werden die notwendigen Maßnahmen, beispielsweise ● Aufheben oder Ruhen der Zulassung gem. § 30 AMG durch Bundesoberbehörde oder ● Rückruf oder Untersagung des Inverkehrbringens des Arzneimittels gem. § 69 AMG durch die zuständige Landesbehörde oder die Bundesoberbehörde angeordnet. Unabhängig vom staatlichen Tätigwerden muss der pharmazeutische Unternehmer eigenverantwortlich alle notwendigen risikominimierenden und -verhindernden Maß‐ nahmen treffen. Das kann im schlimmsten Fall bedeuten, dass er das Arzneimittel (auch ohne eine entsprechende staatliche Entscheidung) vom Markt nehmen muss. Hintergrund dafür ist, dass der Unternehmer trotz der staatlichen Zulassung des Arzneimittels, durch die er sein Arzneimittel in den Verkehr bringen kann, zivil- und strafrechtlich für sein Produkt verantwortlich ist (vgl. Art. 15 VO (EG) 726/ 2004, § 25 Abs. 10 AMG). 2.9 Unternehmen der pharmazeutischen Industrie 307 <?page no="308"?> 445 Vgl. auch RegE des Gesetzes zur Errichtung einer nationalen Stiftung „Hilfswerk für das behinderte Kind“, BTag-Drucks. VI/ 926 S.-6. 446 Gesetz über die Errichtung einer Stiftung „Hilfswerk für behinderte Kinder“ v. 17.12.1971, BGBl. I S.-2018. 447 Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelrechts v. 24.8.1976, BGBl. I S.-2445. 2.9.13 Arzneimittelhaftung Ende der 1950er-/ Anfang der 1960er-Jahre kamen tausende Kinder mit Fehlbildungen der Gliedmaßen zur Welt. Die Fehlbildungen wurden mit der Einnahme des Schlafmit‐ tels Contergan (Wirkstoff Thalidomid) durch die Mütter in Verbindung gebracht. Die‐ ser Contergan-Fall führte der Fachwelt und der Öffentlichkeit das Gefährdungspoten‐ zial von Arzneimitteln deutlich vor Augen und offenbarte die Schwächen der bis dato geregelten Haftungstatbestände. Zur Durchsetzung von Schadenersatzansprüchen hätten die Geschädigten den schwierigen Nachweis der Kausalität zwischen Einnahme des Schlafmittels und den Fehlbildungen sowie die Vorhersehbarkeit der Kausalität und des daraus resultierenden Verschuldens der verantwortlichen Personen des Herstellers nachweisen müssen. 445 Dieser Contergan-Fall führte schließlich in den 1970er-Jahren zur Gründung des Hilfswerks für behinderte Kinder 446 (jetzt: Conterganstiftung) sowie zur Einführung einer Gefährdungshaftung für Arzneimittel durch das AMNOG 447 . Die seinerzeit eingeführten und in der Folgezeit geänderten §§ 84-94a AMG regeln eine Gefährdungshaftung, d. h. eine verschuldensunabhängige Schadenersatzpflicht, des pharmazeutischen Unternehmers, der ein Arzneimittel in Verkehr gebracht hat. Nachfolgend sollen die Voraussetzungen und der Umfang der Schadenersatzpflicht näher betrachtet werden. ✎ Aufgabe Der Patient Herbert Herbst verklagt das Unternehmen BigMed GmbH auf Schmer‐ zensgeld wegen einer erlittenen Hepatitis-C-Infektion (HCV-Infektion). Er leidet an einem kongenitalen Immundefekt (Hypogammaglobulinämie). Seit zehn Jahren wurde er alle 3 bis 4 Wochen mit dem arzneimittelrechtlich zugelassenen Immung‐ lobulinpräparat E des Unternehmen BigMed GmbH intravenös substituiert, so auch im April des Vorjahres mit einem Präparat der Charge X. Seine Blutwerte sind seit neun Jahren serologisch untersucht worden. Anlässlich einer Blut-untersuchung im Oktober des Vorjahres im Hygieneinstitut der Univer‐ sität G. wurde eine chronische HCV-Infektion festgestellt. Herbert Herbst leidet unter verschiedenen Begleiterscheinungen der Infektion, wie z. B. Muskel- und Gelenkschmerz. Als Spätfolgen drohen ihm Leberzirrhose und Leberkrebs. Herbst lebt in einer langjährigen heterosexuellen Partnerschaft. Seine Partnerin ist nicht infiziert. Er ist nicht drogenabhängig und hat keine Tätowierungen. Er unterzog in den letzten Jahren keiner Akupunktur und hat auch kein Organ transplantiert bekommen. 308 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="309"?> 448 Vgl. im Einzelnen: Deutsch, Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 1899-1934. Der vom Gericht bestellte Sachverständige prüft die bei der BigMed GmbH noch vorhandenen Proben der Charge X und stellt fest, dass die Proben den Hepatitis-C-Virus enthalten. Die weitere Aufklärung des Sachverhaltes ergab, dass die Charge X des Präparates E unter Verwendung von Plasmaspenden hergestellt worden war, die von der BigMed GmbH fehlerhaft getestet worden waren. Kann Herbert Herbst auf der Grundlage der §§ 84, 87 AMG Schmerzensgeld von der BigMed GmbH verlangen? Begründen Sie Ihre Entscheidung. ➤ Lösungen im Web-Service. Für die Haftung eines Unternehmers nach § 84 AMG müssen folgende sieben Voraus‐ setzungen erfüllt sein: 448 ● Das in Rede stehende Arzneimittel muss in der BRD an den Verbraucher abgegeben worden und zum Gebrauch bei Menschen bestimmt sein. Die Gefährdungshaftung gilt nicht für Tierarzneimittel. ● Das in Rede stehende Arzneimittel ist zugelassen oder durch Verordnung von der Zulassung befreit (Arzneimittel mit Standardzulassung gem. § 36 AMG). Die Gefährdungshaftung gilt nicht für registrierte homöopathische oder traditionelle pflanzliche Arzneimittel. ● Es muss die Tötung eines Menschen oder eine nicht unerhebliche Verletzung des Körpers oder der Gesundheit des Menschen vorliegen, der das Arzneimittel einge‐ nommen hat. Geschützt ist auch der Fötus, nicht dagegen eine andere sekundär geschädigte Person. Als Körperverletzung gilt die Verletzung der körperlichen Unversehrtheit. Die Störung der inneren Funktionen oder die Beeinträchtigung des körperlichen und psychischen Wohlbefindens gelten als Verletzung der Ge‐ sundheit. Mit dem Merkmal „nicht unerheblich“ sollen Bagatellfälle ausgegrenzt werden. Die Erheblichkeit ist im Einzelfall qualitativ und quantitativ zu bestimmen. Relevant sind insbesondere die Dauer des Leidens, das Maß der Erkrankung oder Behinderung, die Intensität der Schmerzen. ● Die Anwendung des Arzneimittels ist ursächlich für die Tötung oder Verletzung. Der Nachweis der Kausalität, der sich in der Praxis als schwierig erweisen kann, wird durch Vermutungen gem. § 84 Abs. 2 AMG erleichtert. ● Es muss ein Schaden eingetreten sein. Dabei werden der materielle Schaden, wie z. B. Heilungskosten, Vermögensnachteil durch Minderung oder Aufhebung der Erwerbsfähigkeit, sowie der immaterielle Schaden, wie z. B. Schmerzen, dauerhafte Behinderung, differenziert. ● Es muss eine zweite Kausalität gegeben sein, und zwar zwischen der Tötung bzw. Verletzung und dem Schaden. ● Es muss einer der beiden in § 84 Abs. 1 S. 2 AMG genannten Gefährdungstatbe‐ stände erfüllt sein. Ein Tatbestand (Nr. 2) setzt voraus, dass der Schaden infolge 2.9 Unternehmen der pharmazeutischen Industrie 309 <?page no="310"?> 449 Gentechnikgesetz i. d. F. d. Bek. v. 16.12.1993, BGBl. I S.-2066, z. g. d. G v. 27.9.2021, BGBl. I S.-4530. einer fehlerhaften, unklaren, missverständlichen, lückenhaften Kennzeichnung, Gebrauchs- oder Fachinformation eingetreten ist (vgl. zur Kennzeichnung Ab‐ schnitt 2.9.4). Der andere Tatbestand (Nr. 1) verlangt schädliche Wirkungen bei bestimmungsgemäßem Gebrauch des Arzneimittels, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft über das vertretbare Maß hinausgehen. Wissen‐ schaftlich unvertretbar sind Neben- oder Wechselwirkungen, die eine Versagung der Zulassung gem. § 25 Abs. 2 Nr. 5 AMG begründet hätten, wenn sie zum Zeitpunkt der Zulassung bereits bekannt gewesen wären. Ferner müssen die schädlichen Wirkungen ihre Ursache in der Entwicklung (z. B. in Form einer ungenügende Arzneimittelprüfung) oder Herstellung haben (vgl. § 84 Abs. 3 AMG). Wenn alle genannten Voraussetzungen erfüllt sind, ist der pharmazeutische Unterneh‐ mer, der das Arzneimittel in Deutschland in den Verkehr gebracht hat, schadenersatz‐ pflichtig. Den Umfang der Schadenersatzpflicht regeln die §§ 86-89 AMG: Bei einer Körper- oder Gesundheitsverletzung erstreckt sich der Schadenersatz auf die Kosten der Heilung, auf den Verdienstausfall sowie auf die Kosten zur Befriedigung von vermehrten Bedürfnisse des Geschädigten. Ferner kann der Geschädigte für die immateriellen Beeinträchtigungen (z. B. Schmerzen, chronische Folgeerkrankung) ein Schmerzensgeld gem. § 253 BGB verlangen. Im Fall der Tötung kommen die Beerdigungskosten sowie Unterhaltszahlungen an Personen, für die der Geschädigte unterhaltspflichtig gewesen wäre, hinzu. Der Umfang der Haftung ist auf einen Kapitalbetrag von 600.000 Euro oder auf einen jährlichen Rentenbetrag von 36.000 Euro pro Person begrenzt. Bei mehreren Geschädigten beträgt die Gesamtobergrenze 120 Millionen Euro als Kapitalbetrag bzw. 7,2 Millionen Euro als jährlicher Rentenbetrag. Bei Mitverschulden des Geschädigten, beispielsweise bei Ignorieren körperlicher Warnzeichen oder ärztlicher Ratschläge, wird die Entschädigung entsprechend ver‐ mindert (§ 85 AMG, § 254 BGB). Zu anderen Haftungstatbeständen stehen die §§ 84 ff. AMG in folgendem Verhältnis: Die Gefährdungshaftung nach dem AMG und die Verschuldenshaftung des pharmazeu‐ tischen Unternehmers nach dem BGB können nebeneinander geltend gemacht werden. Nach § 823 Abs. 1 BGB haftet jemand, wenn er schuldhaft und widerrechtlich einen anderen tötet oder dessen Körper oder Gesundheit verletzt. Der Verschuldensnachweis wird sich zwar in der Praxis als schwierig erweisen. Dennoch kann es für den Geschädigten ein Bedürfnis geben - z. B. wenn der Schaden die oben genannten Höchstbeträge überschreitet - den Schadenersatz nach § 823 Abs. 1 BGB geltend zu machen. Dagegen wird die Haftung nach dem Produkthaftungsgesetz sowie Gentechnikge‐ setz grundsätzlich durch die §§ 84 ff. AMG verdrängt (vgl. § 15 PHG, § 37 GenTG 449 ). Dies gilt jedoch nicht, wenn das Arzneimittel - wie z. B. ein registriertes homöopathi‐ sches Arzneimittel - von der Gefährdungshaftung des AMG nicht erfasst wird. 310 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="311"?> 2.9.14 Bedeutung des Heilmittelwerbegesetzes Zum Schutz der gesundheitlichen Interessen der Verbraucher vor einer unsachlichen Beeinflussung, unterliegen ● Arzneimittel, ● Medizinprodukte, ● kosmetische Mittel, Gegenstände der Körperpflege und Behandlungsmaßnahmen, soweit sich die Werbeaussage auf die Erkennung, Beseitigung oder Linderung von Krankheiten, Körperschäden oder krankhaften Beschwerden bezieht, sowie ● operative plastisch-chirurgische Eingriffe, soweit sich die Werbeaussage auf die Veränderung des menschlichen Körpers ohne medizinische Notwendigkeit bezieht, den Werbeverboten der §§ 3-13 HWG. Das HWG ist ein Spezialgesetz zum UWG, das auf einen unverfälschten Wettbewerb abzielt und den Schutz des Marktes und seiner Teilnehmer vor unlauteren geschäftlichen Handlungen regelt (vgl. § 1 UWG). Das UWG enthält ebenfalls verschiedene Verbotstatbestände, und zwar in den §§ 3-7 UWG. Für die Anwendung der beiden Gesetze ist folgende Abgrenzung zu beachten: Das HWG gilt nur für die produktbezogene Werbung, also für die Werbung, die sich auf die o. g. Produkte und Dienstleistungen bezieht. Dagegen ist es nicht für die Unternehmenswerbung (ohne Produktbezug) anwendbar. Das UWG gilt sowohl für die produktbezogene als auch firmenbezogene Werbung. Die §§ 3-13 HWG (bitte lesen! ) enthalten folgende Ge- und Verbote für die produkt‐ bezogene Werbung: Medizinprodukte Arzneimittel Krankenbehandlung Verbot der irreführenden Werbung gem. § 3 HWG - Werbeverbot für den zulassungsüber‐ schreitenden Einsatz gem. § 3a HWG - - Gebot von Pflichtangaben bei der Wer‐ bung gem. § 4 HWG - - Verbot von Werbung in der Packungs‐ beilage gem. § 4a Abs. 1 HWG - - Verbot der Werbung mit GKV-Verord‐ nungsfähigkeit gem. § 4a Abs. 2 HWG - - Verbot der Bewerbung der Anwen‐ dungsgebiete der registrierten oder davon freigestellten homöopathischen Arzneimitteln gem. § 5 HWG - Vorgaben für die Werbung mit Gutachten und wissenschaftlichen Veröffentlichungen (§ 6 HWG) Verbot der Werbung mit Werbegaben gem. § 7 HWG 2.9 Unternehmen der pharmazeutischen Industrie 311 <?page no="312"?> 450 Vgl. BGH, Urt. v. 13.03.2008, I ZR 95/ 05, GRUR 2008, 1014 ff. Verbot von Teleshopping gem. § 8 HWG - - Werbeverbot für eine Fern‐ behandlung gem. § 9 HWG - Werbeverbot für verschreibungspflich‐ tige Arzneimittel und Arzneimittel mit Abhängigkeitspotenzial gem. § 10 HWG - verschiedene Werbeverbote gem. § 11 HWG Verbot der Werbung für bestimmte Krankheiten gem. § 12 HWG i. V. m. der Anlage des HWG Werbeverbot für Unternehmen mit Sitz außerhalb der EU und des EWR gem. § 13 HWG Tabelle 18: Werbeverbote der §§ 3-13 HWG Die Werbung für Arzneimittel, die gegen eines der vorgenannten Verbote verstößt, ist ein Rechtsbruch i. S. d. § 3a UWG. Rechtsbruch meint, dass gegen eine gesetzliche Vorschrift verstoßen worden ist, die auch dazu bestimmt ist, im Interesse der Marktteil‐ nehmer das Marktverhalten zu regeln. Das HWG ist ein solches marktregelndes Gesetz. Da ein solcher Verstoß in der Regel auch geeignet ist, die Interessen von Verbrauchern, Mitbewerbern und sonstigen Marktteilnehmern spürbar zu beeinträchtigen (z. B. in Form von möglichen Umsatzeinbußen des Mitbewerbers), gilt die Werbung als unlauter. Die Unlauterkeit nach § 3a UWG bedeutet wiederum, dass die Handlung gem. §-3 Abs. 1 UWG unzulässig ist. ➤ Beispiel Ein Pharmaunternehmen bewarb das von ihm vertriebene verschreibungspflich‐ tige Arzneimittel Amlodipin mit den Anwendungsgebieten Bluthochdruck und Angina pectoris. Die arzneimittelrechtliche Zulassung bezog sich zwar auf Blut‐ hochdruck sowie auf die chronisch stabile Angina pectoris und vasospastische Angina pectoris, nicht jedoch auf die Behandlung von instabiler Angina pectoris. Da diese Einschränkung in der Werbung nicht deutlich wurde, stufte der BGH die Werbung als Verstoß gegen § 3, § 3a UWG i. V. m. § 3a HWG ein. 450 Wer eine unzulässige geschäftliche Handlung vornimmt, kann auf Beseitigung und bei Wiederholungsgefahr auf Unterlassung in Anspruch genommen werden. Der Anspruch auf Unterlassung besteht auch dann, wenn eine derartige Zuwiderhandlung droht (§ 8 Abs. 1 UWG). Neben dem Beseitigungs- und Unterlassungsanspruch können Schadenersatzansprüche gem. § 9 UWG und eine Gewinnabschöpfung gem. § 10 UWG geltend gemacht werden. 312 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="313"?> 451 Vgl. BSG, Urt. v. 27.9.2005, B 1 KR 6/ 04 R, BeckRS 2005, 44077. Ferner drohen bei Verstoß gegen das Heilmittelwerbegesetz eine Geldbuße, wenn eine Ordnungswidrigkeit gem. § 15 HWG vorliegt, sowie eine Geld- oder Freiheitsstrafe, wenn die unzulässige Werbung zugleich eine Straftat gem. § 14 HWG oder gem. § 16 UWG ist. 2.9.15 Arzneimittelversorgung der gesetzlich Versicherten und die Rechtsposition des pharmazeutischen Unternehmers in der gesetzlichen Krankenversicherung - 2.9.15.1 Von der Versorgung erfasste zugelassene Arzneimittel Der gesetzlich versicherte Patient hat grundsätzlich einen Anspruch auf eine Ver‐ sorgung mit allen in Deutschland zugelassenen Arzneimitteln (zur Zulassung vgl. Abschnitte 2.9.5 bis 2.9.7). Wenn die Zulassung (inhaltlich) aufgehoben oder nicht verlängert worden ist und nur noch aus verfahrensrechtlichen Gründen während des Gerichtsverfahren fortbesteht, in dem es um die arzneimittelrechtliche Zulassung geht, ist das Arzneimittel nicht mehr zulasten der Krankenkasse verordnungsfähig. Der Grund dafür ist, dass zur Qualität und Wirksamkeit eines Arzneimittels gem. § 2 Abs. 1, § 12 Abs. 1 SGB V grundsätzlich zuverlässige wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen vorhanden sein müssen, die den Erfolg der Behandlung in einer für die sichere Beurteilung ausreichenden Anzahl von Behandlungsfällen belegen. Ein solcher Nachweis fehlt, wenn die Zulassung nur noch aus formalen Gründen fortbesteht. 451 Jedoch sind verschiedene zugelassene Arzneimittel keine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung: 2.9 Unternehmen der pharmazeutischen Industrie 313 <?page no="314"?> Abb. 51: Von der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossene Arzneimittel Kraft AM-RL ausgeschlossene Arzneimittel § 92 Abs. 1 S. 2 Nr. 6 SGB V ausgeschlossene Arzneimittel Arzneimittel, die nicht apothekenpflichtig sind § 31 Abs. 1 S. 1 SGB V apothekenpflichtige Arzneimittel, die nicht verschreibungspflichtig sind § 34 Abs. 1 S. 1-5 SGB V verschreibungspflichtige Arzneimittel für sog. geringfügige Erkrankungen § 34 Abs. 1 S. 6 SGB V empfängnisverhütende Mittel für Versicherte nach vollendetem 22. Lebensjahr § 24a SGB V Ausschluss von Arzneimitteln gem. § 2 Abs. 1, § 12 Abs. 1 SGB V sog. Lifestyle- Arzneimittel § 34 Abs. 1 S. 7 SGB V Abbildung 51: Von der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossene Arzneimittel Die gesetzlich Versicherten haben keinen Anspruch auf nicht apothekenpflichtige Arzneimittel (Umkehrschluss aus § 31 Abs. 1 S. 1 SGB V). Dies gilt grundsätzlich auch für apothekenpflichtige, aber nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel (§ 34 Abs. 1 S. 1 SGB V). Diese sind nur ausnahmsweise in zwei Konstellationen erstattungsfähig, und zwar zum einen für versicherte Kinder bis zum vollendeten 12. Lebensjahr und versicherte Jugendliche bis zum vollendeten 18. Lebensjahr mit Entwicklungsstörun‐ gen. Zum anderen kann ein nicht verschreibungspflichtiges Arzneimittel zulasten der Krankenkasse verschrieben werden, wenn es zum Therapiestandard der Behandlung einer schwerwiegenden Erkrankung gehört. Die diesbezüglichen Festlegungen trifft der GBA, vgl. dazu § 12 und Anlage I der AM-RL. ➤ Beispiel Acetylsalicylsäure (bis 300 mg/ Dosiseinheit) als Thrombozyten-Aggregations‐ hemmer bei koronarer Herzkrankheit (gesichert durch Symptomatik und ergän‐ zende nichtinvasive oder invasive Diagnostik) und in der Nachsorge von Herzin‐ farkt und Schlaganfall sowie nach arteriellen Eingriffen (vgl. Ziffer 2 Anlage I der AM-RL) 314 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="315"?> 452 Vgl. BSG, Urt. v. 31.5.2006, B 6 KA 13/ 05 R, BeckRS 2006, 43912. 453 Anlage 2 Nr. 2 bis 6 der Verordnung über unwirtschaftliche Arzneimittel in der gesetzlichen Krankenversicherung v. 21.2.1990, BGBl. I S. 301, zuletzt geändert durch Verordnung v. 9.12.2002, BGBl. I S.-4554. Der pharmazeutische Unternehmer kann beim GBA gem. § 34 Abs. 6 SGB V einen Antrag stellen, dass sein nicht verschreibungspflichtiges Arzneimittel in die AM-RL aufgenommen wird. Darüber hinaus haben die gesetzlich Versicherten keinen Anspruch auf Arzneimittel, die durch die Arzneimittelrichtlinie des GBA ausgeschlossen worden sind. Gem. § 92 Abs. 1 S. 1 SGB V können Arzneimittel ausgeschlossen werden, die unzweckmäßig sind oder zu denen es eine andere, wirtschaftlichere Behandlungsmöglichkeit mit vergleichbarem diagnostischen oder therapeutischen Nutzen gibt. Entsprechende Ausschlüsse sind in § 16 und Anlage III der AM-RL geregelt. ➤ Beispiel Kurzwirksame Insulinanaloga (Insulin Aspart, Insulin Glulisin, Insulin Lispro) zur Behandlung des Diabetes mellitus Typ 2 sind grundsätzlich nicht verordnungsfä‐ hig, solange sie mit Mehrkosten im Vergleich zum kurzwirksamen Humaninsulin verbunden sind. Verordnungsfähig sind sie nur für bestimmte Patienten, z. B. bei Allergie gegen Humaninsulin (vgl. Ziffer 33 der Anlage III der AM-RL). Hinsichtlich derartiger Ausschlüsse steht dem betroffenen pharmazeutischen Unter‐ nehmer Rechtsschutz in Form einer Feststellungsklage zur Verfügung. 452 Ferner ist die früher als Verordnung erlassene Negativliste 453 , die Arzneimittel, wie z. B. Arnica, Beifuß, aus der Versorgung der gesetzlichen Krankenversicherung ausschließt, Bestandteil der AM-RL (vgl. § 15 AM-RL). Für die ausgeschlossenen Arzneimittel muss der gesetzlich versicherte Patient selbst aufkommen. Der Vertrags(zahn-)arzt darf diese Arzneimittel nicht zulasten der Krankenkasse verordnen; andernfalls droht ihm ein Wirtschaftlichkeitsprüfverfahren nach §§-106-ff. SGB V. - 2.9.15.2 Zulassungsüberschreitender Einsatz von Arzneimitteln Unter bestimmten Voraussetzungen umfasst die Versorgung der Versicherten auch die Verordnung von zugelassenen Arzneimitteln in nicht zugelassenen Anwendungs‐ gebieten; vgl. zum zulassungsüberschreitenden Einsatz obigen Abschnitt 2.9.8. Gem. § 35c Abs. 1 SGB V i. V. m. § 30 AM-RL ist ein zulassungsüberschreitender Einsatz möglich, wenn eine dafür eingesetzte Expertengruppe mit Zustimmung des pharmazeutischen Unternehmers eine positive Bewertung zum Stand der wissen‐ schaftlichen Erkenntnisse über die Anwendung dieser Arzneimittel in den nicht zugelassenen Indikationen oder Indikationsbereichen als Empfehlung abgegeben hat und der GBA diese Empfehlung in die Arzneimittelrichtlinie übernommen hat. 2.9 Unternehmen der pharmazeutischen Industrie 315 <?page no="316"?> ➤ Beispiel Teil A der Anlage VI der AM-RL bestimmt, welche zugelassenen Arzneimittel unter welchen Voraussetzungen in nicht zugelassenen Anwendungsgebieten verordnungsfähig sind. Eine gegenteilige Aufstellung, nämlich von Wirkstoffen, die in zulassungsüberschreitenden Anwendungsgebieten nicht verordnungsfähig sind, enthält Teil B der Anlage VI der AM-RL. Im Rahmen von klinischen Studien können Versicherte ebenfalls Arzneimittel außer‐ halb des zugelassenen Anwendungsgebietes erhalten. Die diesbezüglichen Einzelhei‐ ten regelt § 35c Abs. 2 SGB V i. V. m. §§ 31-39 AM-RL. Darüber hinaus können Arzneimittel außerhalb ihrer Zulassung zu den alternativen Leistungen gehören, die ein Versicherter gem. § 2 Abs. 1a SGB V beanspruchen kann (vgl. zu den alternativen Leistungen Abschnitt 3.1.10). - 2.9.15.3 Regulierung der Wirtschaftlichkeit der Arzneimittelversorgung Arzneimittel unterliegen wie alle Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung dem Wirtschaftlichkeitsgebot gem. § 12 Abs. 1 SGB V. In diesem Sinne existieren neben dem Ausschluss von Arzneimitteln kraft Gesetzes oder Richtlinie weitere Regelungen zur Wirtschaftlichkeit der Arzneimittelversorgung: Preismoratorium gem. § 130a Abs. 3a SGB V Rabattvertrag gem. § 130a Abs. 8 SGB V Generikaabschlag für patentfreie, wirkstoffgleiche Arzneimittel gem. § 130a Abs. 3b SGB V Herstellerabschlag für Fertigarzneimittel gem. § 130a Abs. 1 SGB V Festlegung von Festbeträgen für Arzneimittel gem. § 35 SGB V Ausschluss oder Einschränkung der Verordnung von Arzneimitteln durch Gesetz oder Richtlinie Erstattungsvereinbarung gem. § 130b SGB V Abschlag für Impfstoffe gem. § 130a Abs. 2 SGB V Regulierung der Wirtschaftlichkeit der Arzneimittelversorgung Abbildung 52: Regulierung der Wirtschaftlichkeit der Arzneimittelversorgung 316 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="317"?> 454 Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses über eine Änderung der Arzneimittel-Richtlinie (AM-RL): Anlage IX - Festbetragsgruppenbildung ACE-Hemmer, Gruppe 1, in Stufe 2 nach § 35 Absatz 1 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) v. 24.11.2016, BAnz AT 19.1.2017 B4. 455 Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses über eine Änderung der Arzneimittel-Richtlinie (AM-RL): Anlage IX - Festbetragsgruppenbildung Kombinationen von ACE-Hemmern mit Hydro‐ chlorothiazid, Gruppe 1, in Stufe 3 nach § 35 Absatz 1 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) v. 24.11.2016, BAnz AT 19.1.2017 B5. 456 Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses über eine Änderung der Anlage 2 der Richtlinien über die Verordnung von Arzneimitteln in der vertragsärztlichen Versorgung (Arzneimittel-Richtli‐ nien/ AMR) v. 20.7.2004, BAnz. Nr.-182 (S.-21 086) v. 25.9.2004. Festbeträge sind gem. § 35 Abs. 1 SGB V für drei verschiedene Arzneimittelgruppen vorgesehen: Die erste Gruppe bilden die Arzneimittel mit denselben Wirkstoffen, also das jeweilige Original und alle entsprechenden Generika. Eine weitere Gruppe bilden die Arzneimittel mit pharmakologisch-therapeutisch vergleichbaren Wirkstoffen. ➤ Beispiel Die Festbetragsgruppe der ACE-Hemmer (blutdrucksenkende Arzneimittel) umfasst beispielsweise die Wirkstoffe Benazepril, Captopril, Cilazapril und Enalapril. 454 Ferner sind Festbeträge für Arzneimittel mit unterschiedlichen Wirkstoffen möglich, die eine therapeutisch vergleichbare Wirkung haben. ➤ Beispiel Die Festbetragsgruppe Kombinationen von ACE-Hemmern mit Hydrochlorothi‐ azid umfasst beispielsweise die Kombinationen von Benazepril, Captopril, Cilaza‐ pril und Enalapril jeweils mit Hydrochlorothiazid. 455 Arzneimittel mit patentgeschützten Wirkstoffen, die neuartig sind, werden in die Festbetragsgruppen nicht einbezogen (§ 35 Abs. 1 S. 6 SGB V). Unter Neuartigkeit versteht das Gesetz den Zeitraum, in dem der Wirkstoff, der als erster dieser Gruppe in Verkehr gebracht worden ist, unter Patentschutz steht. Durch diese Regelung werden patentgeschützte Arzneimittel, die nur einen geringen Unterschied zu einem anderen Arzneimittel haben (sog. Analogpräparate) der Bildung von Festbeträgen unterworfen, sobald der Zeitraum der Neuartigkeit abgelaufen ist. ➤ Beispiel Der GBA beschloss 2004 die Festbetragsgruppe HMG-CoA-Reduktasehemmer mit den Wirkstoffen Atorvastatin, Fluvastatin, Lovastatin, Pravastatin, Simvastatin. 456 Lovastatin war ab 2003 patentfrei, währenddessen z. B. Atorvastatin noch bis 2011 patentgeschützt war. 2.9 Unternehmen der pharmazeutischen Industrie 317 <?page no="318"?> 457 Vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 22.6.2012, L 1 KR 296/ 09 KL, NZS 2012, 940 ff. 458 Vgl. Veröffentlichung der zuzahlungsbefreiten Arzneimittel unter https: / / www.gkv-spitzenverba nd.de/ krankenversicherung/ arzneimittel/ zuzahlungsbefreiung/ zuzahlungsbefreiung.jsp (Abruf am 6.3.2022). Ferner werden Arzneimittel mit patentgeschützten Wirkstoffen, die eine therapeuti‐ sche Verbesserung darstellen, nicht in die Festbetragsgruppen einbezogen (§ 35 Abs. 1 S. 6 SGB V). Eine therapeutische Verbesserung bedeutet, dass das Arzneimittel einen therapierelevanten höheren Nutzen als andere Arzneimittel dieser Wirkstoffgruppe hat und deshalb als zweckmäßige Therapie regelmäßig oder auch für relevante Patientengruppen oder Indikationsbereiche den anderen Arzneimitteln dieser Gruppe vorzuziehen ist (§ 35 Abs. 1b SGB V). Anders verhält es sich bei Arzneimitteln ohne therapeutische Verbesserung. Sie werden in die Festbetragsgruppe der pharmakolo‐ gisch-therapeutisch vergleichbaren Arzneimitteln eingeordnet (§ 35a Abs. 1 S. 4, Abs. 4 SGB V). Währenddessen der GBA über die Einstufung von Arzneimitteln in die Festbetrags‐ gruppen entscheidet, legt der GKV-Spitzenverband die konkrete Höhe des jeweiligen Festbetrages fest (§ 35 Abs. 3 SGB V). Gegen die Festsetzung der Festbeträge kann der pharmazeutische Unternehmer Klage erheben (§ 35 Abs. 7 S.-2-4 SGB V). ➤ Beispiel Der GBA beschloss auf der Stufe der Wirkstoffe mit pharmakologisch-therapeu‐ tisch vergleichbarer Wirkung eine Festbetragsgruppe Antipsychotika mit den Wirkstoffen Risperidon und Paliperidon. Der GKV-Spitzenverband bestimmte 50,43 Euro als Festbetrag. Ein pharmazeutischer Unternehmer, der Arzneimittel mit den Wirkstoffen ver‐ trieb, klagte gegen die Festbetragsfestsetzung für Paliperidon. Das LSG Berlin-Brandenburg stufte die Festbetragsfestsetzung als rechtswidrig ein, weil die Wirkstoffe nicht vergleichbar seien. Zum einen sei Paliperidon nicht nur zur Behandlung der Schizophrenie, sondern auch zur Behandlung von psychotischen oder manischen Symptomen zugelassen. Zum anderen habe dieses Arzneimittel therapeutische Vorteile bei der Behandlung von Patienten mit Nierenfunktionsstörungen. 457 Wenn für ein Arzneimittel ein Festbetrag bestimmt ist, zahlt die Krankenkasse nur den Festbetrag abzgl. der vom volljährigen Versicherten gem. § 61 SGB V zu tragen‐ den Zuzahlung (§ 31 Abs. 2 S. 1 SGB V). Wenn der Arzneimittelabgabepreis ohne Mehrwertsteuer mindestens um 30 % unter dem jeweils gültige Festbetrag liegt, kann der GKV-Spitzenverband das Arzneimittel von der Zuzahlung freistellen, so dass die Versicherten beim Erwerb eines solchen Arzneimittels keine Zuzahlung leisten müssen (§ 31 Abs. 3 SGB V). 458 Dadurch sollen die Versicherten motiviert werden, möglichst preisgünstige Arzneimittel zu erwerben. Wenn der Arzneimittelabgabepreis höher als der Festbetrag ist, muss der Versicherte neben der Zuzahlung die Differenz zwischen 318 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="319"?> 459 Vgl. § 2 Abs. 1 Arzneimittel-Nutzenbewertungsverordnung v. 28.12.2010, BGBl. I S. 2324, z. g. d. G 9.8.2019, BGBl. I S.-1202. 460 Rahmenvereinbarung nach § 130b Abs. 9 SGB V zwischen dem GKV-Spitzenverband und dem Bun‐ desverband der Arzneimittel-Hersteller e. V., dem Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie e. V., dem Pro Generika e. V., dem Verband Forschender Arzneimittelhersteller e. V., https: / / www.g kv-spitzenverband.de/ krankenversicherung/ arzneimittel/ verhandlungen_nach_amnog/ rabatt_verh andlungen_nach_amnog.jsp (Abruf am 6.3.2022). dem Abgabepreis und dem Festbetrag zahlen. Auf diese Mehrkosten hat der Arzt den Versicherten bei seiner Verordnung hinzuweisen (§ 73 Abs. 5 S.-3 SGB V). Für Arzneimittel, die keinem Festbetrag unterliegen, ist in § 130a Abs. 3a SGB V ein sog. Preismoratorium geregelt: Wenn der pharmazeutische Unternehmer seinen Abgabepreis für ein Arzneimittel erhöht, muss er den Krankenkassen einen Abschlag in Höhe des Betrages der Preiserhöhung gewähren. Der Abschlag reduziert sich lediglich um einen Inflationsausgleich, damit die steigenden Personal- und Sachkosten des Unternehmers berücksichtigt werden. Diese Regelung war zunächst bis zum 31.12.2003 befristet. Mittlerweile ist sie bis zum 31.12.2022 verlängert worden. Das Preismoratorium wirkt ebenfalls zugunsten der privaten Krankenversicherer (vgl. § 1 AMRabG). Für nicht festbetragsfähige Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen kann der pharmazeu‐ tische Unternehmer den von ihm festgelegten einheitlichen Abgabepreis in den ersten zwölf Monaten nach dem Inverkehrbringen verlangen. Für die anschließende Zeit wird zwischen ihm und dem GKV-Spitzenverband im Benehmen mit dem Verband der privaten Krankenversicherung eine Vereinbarung gem. § 130b SGB V über den Erstattungsbetrag getroffen, der ab 13. Monaten den einheitlichen Abgabepreis bildet (§ 78 Abs. 3a AMG). Ein Wirkstoff gilt in diesem Zusammenhang als neu 459 , wenn seine Wirkung zum Zeitpunkt der ersten (deutschen oder europäischen) Arzneimittelzulas‐ sung wissenschaftlich nicht allgemein bekannt ist, und er gilt solange als neu wie der Unterlagenschutz besteht (vgl. zum Unterlagenschutz Abschnitt 2.9.5). Der Vereinbarung über den Erstattungsbetrag geht eine Nutzenbewertung gem. § 35a SGB V durch den GBA voraus. Bei der Nutzenbewertung handelt es sich um eine wissenschaftliche Begutachtung des therapeutisch relevanten (Zusatz-)Nutzens des Arzneimittels gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie. Vom Ergebnis dieser Bewertung hängt letztlich die Bemessung des zu vereinbarenden Erstattungsbetrages ab. Der Erstattungsbetrag ermittelt sich auf folgender Grundlage: ● Wenn die Nutzenbewertung einen geringen, beträchtlichen oder erheblichen Zusatznutzen des Arzneimittels ergibt, wird abhängig vom Ausmaß des Zusatznut‐ zens ein Zuschlag auf die Jahrestherapiekosten der zweckmäßigen Vergleichsthe‐ rapie unter Berücksichtigung sonstiger Kriterien, wie z. B. Abgabepreis in anderen europäischen Ländern, vereinbart (§ 5 Abs. 2 Rahmenvereinbarung 460 ). ● Wenn kein Zusatznutzen festgestellt wird, bilden die Jahrestherapiekosten der Vergleichstherapie die Grundlage für den zu vereinbarenden Erstattungsbetrages (§ 5 Abs. 1 Rahmenvereinbarung). 2.9 Unternehmen der pharmazeutischen Industrie 319 <?page no="320"?> ● Wenn der Nutzen des Arzneimittels geringer als der Nutzen der zweckmäßigen Vergleichstherapie ist, wird der Erstattungsbetrag durch einen Abschlag auf die Jahrestherapiekosten der zweckmäßigen Vergleichstherapie vereinbart (§ 5 Abs. 3 Rahmenvereinbarung). Der zwischen dem GKV-Spitzenverband und dem pharmazeutischen Unternehmer vereinbarte Erstattungsbetrag stellt den Abgabepreis für das Arzneimittel ab dem 13. Monat nach dessen Inverkehrbringen dar (§ 78 Abs. 3a AMG). Dieser Erstattungsbetrag entfaltet seine Wirkung auch gegenüber allen anderen Personen, wie z. B. den privat versicherten Personen, (§ 78 Abs. 3a AMG, § 1a AMRabG). Wenn keine Einigung zwischen dem GKV-Spitzenverband und dem pharmazeuti‐ schen Unternehmer zustande kommt, wird der Erstattungsbetrag von einer Schieds‐ stelle festgelegt (§ 130b Abs. 4 bis 6 SGB V). Ferner müssen die pharmazeutischen Unternehmen verschiedene Abschläge zu‐ gunsten der Krankenkassen (und zugunsten der privaten Krankenversicherer gem. § 1 AMRabG) gewähren: ● Für Fertigarzneimittel, für die kein Festbetrag festgesetzt ist, müssen die Unter‐ nehmen gem. § 130a Abs. 1 SGB V einen siebenprozentigen Abschlag auf ihren Abgabepreis gewähren (sog. Herstellerabschlag). ● Für Impfstoffe, die im Rahmen von Schutzimpfungen zulasten der Krankenkassen abgegeben worden sind, erhalten die Krankenkassen gem. § 130a Abs. 2 SGB V einen Abschlag in Höhe der Differenz zu dem geringeren durchschnittlichen Abgabepreis in vier Mitgliedstaaten der EU, deren Bruttonationaleinkommen dem von Deutschland am nächsten kommt. ● Für patentfreie, wirkstoffgleiche Arzneimittel, die zulasten der Krankenkassen abgegeben werden, müssen die Hersteller den Krankenkassen einen sog. Generi‐ kaabschlag gewähren. Wenn das Arzneimittel einer Festbetragsgruppe angehört, beträgt der Abschlag 10 %, ohne Festbetragsfestsetzung 16 % (vgl. § 130a Abs. 1 S.-2, Abs. 3, 3b SGB V). Weitere Rabatte können zwischen den Krankenkassen und pharmazeutischem Unterneh‐ mer gem. § 130a Abs. 8 SGB V vereinbart werden (sog. Rabattverträge). Auf der Grundlage eines solchen Vertrages zahlt der Unternehmer unmittelbar an die Krankenkasse den ausgehandelten Rabatt als Gegenleistung für die bevorzugte Abgabe seines Arzneimittels an die Versicherten der Krankenkasse gem. § 129 Abs. 1 S.-3 SGB V. ❋ Wichtige Schlagwörter ❋ Arzneimittel ❋ Defekturarzneimittel ❋ Fertigarzneimittel ❋ Funktionsarz‐ neimittel ❋ Generikum ❋ Herstellen von Arzneimitteln ❋ Inverkehrbringen ❋ Klinische Prüfung ❋ Klinische Studie ❋ Nebenwirkung ❋ Pharmakovigi‐ 320 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="321"?> lanzsystem ❋ Pharmazeutischer Unternehmer ❋ Präsentationsarzneimittel ❋ Rezepturarzneimittel ❋ Risikomanagementsystem ❋ Zulassung ❋ Zulassungs‐ überschreitender Einsatz ✎ Wiederholungsaufgaben 1. Stellen Sie sich vor, Sie sind Geschäftsführer/ in eines Unternehmens, das ein Gasgemisch aus Stickstoffmonoxid (mit einer Konzentration von 2.000 ppm) und Stickstoff (als Trägergas) herstellt. Dieses ist als „technisches Gasgemisch“ deklariert und wird in 10- und 50-Liter-Stahlbehältern (jeweils mit einem Druck von 150 bar) abgegeben. Bei Verwendung des mitgelieferten Dosie‐ rungsgeräts und unter Verdünnung mit medizinischer Luft/ medizinischem Sauerstoff kann das Gasgemisch zur Therapie von Patienten, z. B. zur Behand‐ lung von Neugeborenen bei Lungenversagen einhergehend mit Bluthochdruck in den Lungen, eingesetzt werden. Das Gasgemisch dient der Verbesserung der Sauerstoffkonzentration in den Lungen, da das Stickstoffmonoxid zur Entspannung der Muskelzellen in den Wänden der Blutgefäße führt, so dass mehr Blut mit Sauerstoff in die Lunge gelangen kann. Medizinische Luft/ medizinischer Sauerstoff wird dem Gasgemisch Ihres Unternehmens nur hinzugefügt, um die Konzentration des Gases auf eine nichttoxische, keimfreie und therapeutische Dosis von 5-8 ppm (parts per million) herabzusetzen. Bei dem Zufügen von Sauerstoff handelt es sich um eine sog. Rekonstitution (Überführen eines Produkts in eine anwendungsfähige Form, wie z. B. auch das Auflösen einer Brausetablette in Wasser.) Ihr Unternehmen liefert dieses Gasgemisch ausschließlich an Krankenhäuser und Krankenhausapotheken. Diese setzen es wie oben beschrieben ein. Für den Anschluss an die medizin‐ ischen Geräte des Krankenhauses wird ein Adapter mitgeliefert. Das Produkt kann auch für nichtmedizinische Zwecke, z. B. in Kraftwerken, verwendet werden. Produziert Ihr Unternehmen ein Arzneimittel? Begründen Sie Ihre Entscheidung. 2. Erläutern Sie die Ziele der einzelnen Stadien der klinischen Prüfung eines Arzneimittels. 3. Der Unternehmer X stellt ein Getränk, das Trockenextrakte der Ginkgo-bi‐ loba-Pflanze enthält, her und vertreibt es. Dieser aus China stammenden Pflanze werden - abhängig von der eingenommenen Menge - heilende Wirkungen zugeschrieben. Ginkgo-Extrakte werden z. B. bei der Behandlung der Symptome von hirnorganisch bedingten Leistungsstörungen, wie z. B. Gedächtnis- oder Konzentrationsstörungen, Schwindel oder Kopfschmerz eingesetzt. Eine pharmakologische Wirkung des Ginkgo-Extrakts wird ab ✎ Wiederholungsaufgaben 321 <?page no="322"?> einer Tagesdosis von 120 mg angenommen. Das Getränk von X besteht aus 0,03 % Ginkgo-Extrakt und im Übrigen aus Wasser, Traubenzucker und weitere Zutaten. X vertreibt das Getränk in 1-Liter-Flaschen, auf deren Rückenetikett sich die Angabe „Empfohlen werden täglich 0,5 Liter“ befindet. Das tägliche Produktionsvolumen des Unternehmens beträgt 12.000 Flaschen. Erörtern Sie, ob es sich bei dem beschriebenen Getränk um ein Fertigarzneimittel handelt, das gem. § 21 Abs. 1 S. 1 AMG zulassungspflichtig ist. Gehen Sie bei der Lösung von der Entsprechung 1,0 ml = 1,0 g aus. 4. Die arzneimittelrechtliche Zulassung eines Fertigarzneimittels ist gem. § 25 Abs. 2 S.-1 Nr.-4 AMG zu versagen, wenn die therapeutische Wirksamkeit des Arzneimittels unzureichend begründet ist. Erläutern Sie diesen Versagungs‐ grund näher. 5. Der Hersteller eines Generikums möchte auf die Zulassungsunterlagen des Unternehmens U für das (Referenz-)Arzneimittel A Bezug nehmen. Wann ist ihm die Bezugnahme ohne Einverständnis des U möglich? Begründen Sie Ihre Antwort mit der einschlägigen Rechtsvorschrift. 6. Der Unternehmer U hat im Jahr 2022 einen neuen Wirkstoff entdeckt und ein Arzneimittel gegen Brustkrebs entwickelt, das er nunmehr in Deutschland auf den Markt bringen möchte. Erläutern Sie, welches Zulassungsverfahren in Betracht kommt. 7. Erläutern Sie die Beurteilungskriterien für die Zulassung eines Arzneimittels im zentralisierten Verfahren der Europäischen Union. 8. Erläutern Sie die Unterscheidung zwischen dem dezentralisierten Verfahren und dem Verfahren der gegenseitigen Anerkennung. 9. Erläutern Sie das Stufenplanverfahren nach § 63 AMG. 10. K begehrt Schmerzensgeld von dem pharmazeutischen Unternehmen M, das in Deutschland das Medikament V vertrieben hat. V wurde 1999 in Deutsch‐ land für die Behandlung von Symptomen bei Reizzuständen degenerativer Gelenkerkrankungen (Arthrosen) oder rheumatoider Arthritis (chronischer Polyarthritis) bei Erwachsenen zugelassen. In der Fachinformation und Pack‐ ungsbeilage wurden u. a. folgende Nebenwirkungen genannt: Schmerzen im Brustkorb, Bluthochdruck, Schwindelgefühl, Atemnot, Magenblutung und verschiedene Hautreaktionen. 2004 nahm M das Antirheumatikum vom Markt, weil Studien ergeben hatten, dass das Medikament ab einer 18-monatigen Einnahmezeit die Risiken eines kardiovaskulären Ereignisses sowie eines Herz- und Schlaganfalls erhöhe. Das Antirheumatikum V, das K zwei Jahre eingenommen hatte, verursachte bei K erhöhten Blutdruck und erhebliche Brustschmerzen. Erörtern Sie, ob einer der beiden Gefährdungstatbestände des § 84 Abs. 1 S.-2 AMG vorliegt. 322 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="323"?> 461 AM-HandelsV v. 10.11.1987, BGBl. I S.-2370, z. g. d. G v. 18.11.2020, BGBl. I S.-2397. 11. Erläutern Sie, unter welchen Voraussetzungen apothekenpflichtige, nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel zulasten der Krankenkassen verordnet werden dürfen. 12. Erläutern Sie die Bedeutung von Festbeträgen für Arzneimittel in der gesetz‐ lichen Krankenversicherung. ➤ Lösungen im Web-Service. 2.10 Arzneimittelgroßhandel ➤ Lernhinweis Die nachfolgenden Erläuterungen werden Sie besser verstehen, wenn Sie die angegebenen Paragrafen des Arzneimittelgesetzes (AMG) und der Arzneimittel‐ handelsverordnung (AM-HandelsV) 461 parallel zum Lehrbuch lesen. 2.10.1 Großhandelserlaubnis Der Großhandel mit Arzneimitteln ist gem. § 52a AMG erlaubnispflichtig. Was unter Arzneimittelgroßhandel zu verstehen ist, bestimmt § 4 Abs. 22 AMG: ❋ Wissen-│-Großhandel mit Arzneimittel Großhandel mit Arzneimitteln ist jede berufs- oder gewerbsmäßige zum Zwecke des Handeltreibens ausgeübte Tätigkeit, die in der Beschaffung, der Lagerung, der Abgabe oder Ausfuhr von Arzneimitteln besteht, mit Ausnahme der Abgabe von Arzneimitteln an andere Verbraucher als Ärzte, Zahnärzte, Tierärzte oder Krankenhäuser. Mit der Ausnahmeregelung im letzten Halbsatz wird klargestellt, dass die Abgabe an den privaten Endverbraucher nicht als Großhandel gilt. Eine solche Abgabe steht im Mittelpunkt des Arzneimitteleinzelhandels, vgl. dazu Abschnitt 2.11. ✎ Aufgaben Eine Schweizer Aktiengesellschaft S, die einen Arzneimittelgroßhandel in der Schweiz betreibt, plant folgendes Geschäftsmodell: 2.10 Arzneimittelgroßhandel 323 <?page no="324"?> 462 Dettling, Großhandel mit Arzneimitteln durch pharmazeutische Unternehmer, Großhändler und Apotheken, S.-32. Sie möchte von ihrem Firmensitz in der Schweiz aus Handel mit Unternehmen in der BRD und anderen Mitgliedstaaten der EU betreiben. Die jeweiligen Arzneimit‐ tel möchte S in einem Lager in der BRD, das dem deutschen Unternehmen X gehört, zwischenlagern. Dazu hat sie einen entsprechenden Vertrag mit X geschlossen, in dem sich X verpflichtet, als Auftragslagerhalter für S tätig zu werden. X selbst hat für seine Tätigkeit in der BRD eine Großhandelserlaubnis. S hat keine eigene Betriebsstätte innerhalb der EU. Benötigt die S eine Großhandelserlaubnis gem. § 52a AMG? Wenn ja, wird sie diese erhalten? Begründen Sie Ihre Antworten. ➤ Lösungen im Web-Service. § 52a AMG hat zwei Regelungsbereiche. § 52 Abs. 1, 6, 7 AMG regelt, ob eine Erlaubnis notwendig ist. Abs. 4 regelt, ob die Erlaubnis erteilt wird. Die Notwendigkeit der Erlaubnis hängt von folgenden Voraussetzungen ab: ● Die unternehmerische Tätigkeit muss den o. g. Begriff des Großhandels mit Arzneimitteln erfüllen. ● Erlaubnispflichtig ist der Handel mit Präsentations- oder Funktionsarzneimitteln (§ 2 Abs. 1 AMG), mit Fiktivarzneimitteln (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 AMG), mit Testsera (§ 4 Abs. 6 AMG) oder Testantigene (§ 4 Abs. 7 AMG). Ausgenommen sind lediglich die Fertigarzneimittel, die nicht apothekenpflichtig sind, und Heilwässer sowie deren Salze in ihrem natürlichen Mischungsverhältnis (inkl. ihre Nachbildungen). Erläuterungen zum Arzneimittelbegriff finden Sie in dem Abschnitt 2.9.2. ● Wenn der Unternehmer bereits über eine Herstellungs- oder Einfuhrerlaubnis für seine Produkte verfügt, mit denen er handeln möchte, benötigt er keine gesonderte Großhandelserlaubnis (§ 52a Abs. 6 AMG). Erläuterungen zur Herstellungs- und Einfuhrerlaubnis finden Sie in den Abschnitten 2.9.9 und 2.9.10. ● Ferner benötigt der Apotheker keine Erlaubnis, wenn seine Großhandelstätigkeit den Rahmen des üblichen Apothekenbetriebs nicht überschreitet (§ 52a Abs. 7 AMG). Zum üblichen Apothekenbetrieb gehören die Tätigkeiten, „die in Zusam‐ menhang mit der Abgabe von Arzneimitteln an Verbraucher oder an andere Apotheken im Rahmen der gelegentlichen kollegialen Aushilfe stehen“. 462 Wenn die unternehmerische Tätigkeit erlaubnispflichtig ist, so muss der Unternehmer bei der zuständigen Behörde die Erlaubnis beantragen. Die zuständige Behörde ergibt sich aus dem Recht des Bundeslandes, in dem die Betriebsstätte liegt oder liegen soll (§ 52a Abs. 3 AMG). Bei Antragstellung muss der Unternehmer die in § 52a Abs. 2 AMG aufgezählten Unterlagen einreichen. Dazu gehören z. B. die Benennung der 324 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="325"?> 463 Vgl. Marcks, Landmann/ Rohmer, GewO § 35 Rn. 29. Betriebsstätte und der verantwortlichen Person, die die zur Ausübung der Tätigkeit erforderliche Sachkenntnis besitzt. Vor der Erteilung der Erlaubnis ist eine Inspektion der Betriebsstätte durch die zu‐ ständige Behörde vorgesehen. Sie muss sich davon überzeugen, ob die Voraussetzungen für die Erlaubnis vorliegen (§ 64 Abs. 3a S.-2 AMG). Wenn kein Versagungsgrund gem. § 52a Abs. 4 AMG vorliegt, muss die Behörde die Großhandelserlaubnis erteilen. Eine Versagung der Erlaubnis ist beispielsweise für den Fall vorgesehen, dass der antragstellende Unternehmer oder die benannte verantwortliche Person nicht zuverlässig sind. Zuverlässigkeit verlangt, dass die betreffende Person willens und fähig ist, ihre Tätigkeit unter Beachtung der rechtlichen Anforderungen ordnungsgemäß auszuüben. 463 Wenn kein Versagungsgrund vorliegt, hat der Unternehmer einen Rechtsanspruch auf die Erteilung der Erlaubnis. In einem solchen Fall hat die Behörde kein Ermessen für eine ablehnende Entscheidung aus anderen Gründen, z. B. weil der Unternehmer in Konkurrenz zu einem bereits in der Region ansässigen Großhändler tritt. Die Großhandelserlaubnis gilt ● personenbezogen, also für die natürliche, juristische Person oder rechtsfähige Personengesellschaft, für die sie erteilt worden ist, ● auf die Betriebsstätte bezogen sowie, ● wenn der Großhändler nicht als Vollversorger auftreten möchte, sondern nur für bestimmte Tätigkeiten oder bestimmte Arzneimittel. Wesentliche Änderungen bzgl. der Person - z. B. durch Rechtsformwechsel - oder bzgl. der Betriebsstätte - z. B. durch Umzug - führen zur Notwendigkeit, eine neue Erlaubnis zu beantragen. 2.10.2 Tätigkeit als Arzneimittelgroßhändler Die zugelassenen Großhändler sind gem. § 52b Abs. 1 AMG verpflichtet, für eine angemessene und kontinuierliche Bereitstellung der Arzneimittel zu sorgen, damit der Arzneimittelbedarf von Patienten gedeckt ist und es nicht zu Engpässen in den Apotheken kommt. Damit die Unternehmen dieser Pflicht nachkommen können, besteht zugunsten der Großhändler, die ein vollständiges und herstellerneutrales Sortiment an apothekenpflichtigen Arzneimitteln anbieten (sog. Vollversorger) ein Belieferungsanspruch gegenüber den pharmazeutischen Unternehmen. Diese müssen die Vollversorger gem. § 52b Abs. 2 AMG bedarfsgerecht und kontinuierlich beliefern. Apothekenpflichtige Arzneimittel darf ein Großhändler nicht an den privaten Endverbraucher, sondern nur an Apotheken und an die in § 47 AMG aufgezählten Einrichtungen, wie z.-B. Krankenhäuser, abgeben. 2.10 Arzneimittelgroßhandel 325 <?page no="326"?> 464 Leitlinien für die gute Vertriebspraxis von Humanarzneimitteln v. 5.11.2013, ABl. C 343 S.-1. Die Vertriebspraxis der Arzneimittelgroßhändler wird insbesondere durch die Arz‐ neimittelhandelsverordnung (AM-HandelsV) reguliert, die zugleich auf die von der EU-Kommission erlassenen Leitlinien für die Gute Vertriebspraxis von Arzneimitteln 464 verweist. Diese Leitlinien sind von den Unternehmen ebenfalls zu beachten. Die Verpflichtungen des Großhändlers lassen sich grob wie folgt skizzieren: ● Es müssen ein Qualitätssicherungssystem und ein Risikomanagementsystem un‐ terhalten werden, damit die Qualität und Unversehrtheit der Arzneimittel jederzeit gewährleistet sind und die Produkte während des Transports und der Lagerung in der legalen Lieferkette bleiben (§ 1a AM-HandelsV, Kapitel 1 der Leitlinien). ● In jeder Betriebsstätte muss eine verantwortliche Person mit der erforderlichen Sachkenntnis und der zur Ausübung ihrer Tätigkeit erforderlichen Zuverlässigkeit bestellt werden, die für die Einhaltung der guten Vertriebspraxis Sorge trägt. Diese Person ist mit der dafür erforderlichen Entscheidungs- und Weisungsbefugnis auszustatten. Des Weiteren sind Mitarbeiter in ausreichender Zahl und mit der für die Tätigkeit erforderlichen Kompetenz zu beschäftigen (§ 2 AM-HandelsV, Kapitel 2 der Leitlinien). ● Die Art, Größe, Zahl und der Zustand der Betriebsräume sowie der Ausrüstungs‐ gegenstände müssen einen ordnungsgemäßen Großhandel mit Arzneimitteln gewährleisten (§ 3 AM-HandelsV, Kapitel 3 der Leitlinien). ● Durch den Transport, die Lagerung, das Abpacken oder Umfüllen darf die Qualität der Arzneimittel nicht beeinträchtigt werden (§§ 4, 5 AM-HandelsV, Kapitel 5, 9 der Leitlinien). ● Der Großhändler darf die Arzneimittel nur von berechtigten Unternehmen erwer‐ ben und nur an berechtigte Unternehmen liefern. Gefälschte Arzneimittel sind auszusondern und der zuständigen Behörde zu melden (§§ 4a, 5, 6 AM-HandelsV, Kapitel 5, 6 der Leitlinien). ● Der Großhändler muss organisatorische Vorkehrungen für einen ggf. notwendigen Rückruf von Arzneimittel treffen (§ 7a AM-HandelsV, Kapitel 6 der Leitlinien). Die apothekenpflichtigen Fertigarzneimittel, die zudem verschreibungspflichtig sind, unterliegen der Preisregulierung gem. § 78 AMG und AMPreisV. Das bedeutet, dass bei der Lieferung dieser Arzneimittel an Apotheken die Großhandelsspanne gem. § 2 AMPreisV zum Tragen kommt. Diese hat zwei Komponenten, und zwar einen Festzu‐ schlag von 70 Cent sowie einen fakultativen Zuschlag bis zu 3,15 % des Abgabepreises des pharmazeutischen Unternehmers ohne die Umsatzsteuer, höchstens jedoch 37,80 Euro. Für apothekenpflichtige, nicht verschreibungspflichtige Fertigarzneimittel, die zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung abgegeben werden, richtet sich die Großhandelsspanne nach der AMPreisV in der bis 31.12.2003 gültigen Fassung (vgl. §-129 Abs.-5a SGB V). 326 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="327"?> 465 Vgl. OVG NRW, Beschl. v. 2.2.2016, 13 B 1137/ 15, PharmR 2016, 204 ff. Im Hinblick auf die Erfüllung ihrer Pflichten unterliegen die Großhändler ebenso wie die pharmazeutischen Unternehmer und Apotheker der staatlichen Aufsicht gem. §§-64 ff. AMG. Die zuständige Behörde kann alle Maßnahmen treffen, die zur Beseiti‐ gung festgestellter Verstöße oder die zur Verhütung künftiger Verstöße notwendig sind (§-69-AMG). ➤ Beispiel Nach § 69 Abs. 1 S. 2 Nr. 7 AMG kann das Inverkehrbringen von Arzneimitteln untersagt werden, wenn die erforderliche Großhandelserlaubnis nach § 52a AMG fehlt. Für die Anwendung der Norm genügt es, dass in der Lieferkette ein Händler keine entsprechende Erlaubnis hat, weil die Norm keine konkrete Gesundheitsgefahr verlangt, sondern an eine abstrakte Gefährdung anknüpft. In diesem Sinne wurde einem Großhändler das Inverkehrbringen bestimmter Arzneimittel untersagt, die er von einem rumänischen Großhändler bezogen hatte, der seinerseits die Arzneimittel von Apotheken ohne Großhandelserlaubnis bekommen hatte. 465 ❋ Wichtige Schlagwörter ❋ Arzneimittelgroßhandel ❋ Arzneimittelbelieferungsanspruch der Vollversor‐ ger ✎ Wiederholungsaufgaben 1. Erläutern Sie den Begriff des Arzneimittelgroßhandels. 2. Welche Unternehmen, die den Arzneimittelgroßhandel betreiben, benötigen keine Erlaubnis nach § 52a AMG? 3. Erläutern Sie die Wirkungen der Großhandelserlaubnis. 4. Nennen Sie drei Pflichten eines Arzneimittelgroßhändlers und die dazugehö‐ rige(n) Rechtsvorschrift(en). ➤ Lösungen im Web-Service. ❋ Wichtige Schlagwörter 327 <?page no="328"?> 466 ApoG i. d. F. d. Bek. v. 15.10.1980, BGBl. I S.-1993, z. g. d. G. v. 27.9.2021, BGBl. I S.-4530. 467 BApO i. d. F. d. Bek. v. 19.7.1989, BGBl. I S.-1478, 1842, z. g. d. G. v. 27.9.2021, BGBl. I S.-4530. 2.11 Apotheken und Arzneimitteleinzelhandel ➤ Lernhinweis Die nachfolgenden Erläuterungen werden Sie besser verstehen, wenn Sie die ange‐ gebenen Paragrafen der nachfolgenden Rechtsvorschriften parallel zum Lehrbuch lesen: Apothekenbetriebsordnung (ApBetrO), Apothekengesetz (ApoG) 466 , Arzneimit‐ telgesetz (AMG), Arzneimittelpreisverordnung (AMPreisV), Bundes-Apotheker‐ ordnung (BApO) 467 , Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), Sozialgesetzbuch 5. Buch (SGB V). 2.11.1 Betrieb einer öffentlichen Apotheke Im deutschen Apothekenwesen werden folgende Apotheken unterschieden: Abb. 52: Deutsches Apothekenwesen Apotheken öffentliche (Voll-) Apotheken §§ 1 ff. ApoG Krankenhausapotheken § 14 ApoG Bundeswehrapotheken § 15 ApoG Zweigapotheken § 16 ApoG Notapotheken § 17 ApoG Abbildung 53: Deutsches Apothekenwesen Den Apotheken obliegt es, eine ordnungsgemäße Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln sicherzustellen (§ 1 Abs. 1 ApoG). Die nachfolgenden Erläuterungen beziehen sich auf die öffentliche Apotheke, auch Offizinapotheke genannt. ❋ Wissen-│-öffentliche Apotheke Die öffentliche Apotheke ist ein handelsgewerbliches Unternehmen, das unter der Leitung eines approbierten Apothekers steht und durch die Herstellung und den Verkauf von Arzneimitteln (und apothekenpflichtigen Medizinprodukten) nach 328 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="329"?> 468 Vgl. Walter, Heppekausen, Pflege- & Krankenhausrecht 2013, 57 ff. [57]. 469 § 1 Nr. 2c Verordnung zur Übertragung von staatlichen Aufgaben auf die Kammern für die Heilberufe v. 25.11.2004, Nds. GVBl. S.-516 z. g. d. VO v. 18.2.2021, Nds. GVBl. S.-66. ärztlicher Verordnung und im freien Verkauf der Sicherstellung der Arzneimittel‐ versorgung der Bevölkerung dient. 468 Der Betrieb einer öffentlichen Apotheke ist erlaubnispflichtig (§ 1 Abs. 2 ApoG). Die für die Erteilung zuständige Behörde wird durch das Recht des Bundeslandes bestimmt, in dem die Apotheke ansässig ist. Beispielsweise ist in Niedersachsen die Apothekerkammer für die Erteilung der Erlaubnis zuständig. 469 Für die Erlaubnis muss der Apotheker folgende Voraussetzungen erfüllen (vgl. § 2 ApoG): ● Der Apotheker muss voll geschäftsfähig sein, vgl. dazu §§ 104 ff. BGB. ● Der Apotheker muss eine Approbation als Apotheker gem. § 4 BApo besitzen. ● Bei einer mehr als zweijährigen Unterbrechung seiner beruflichen Tätigkeit muss der Apotheker im letzten Jahr vor der Antragstellung mindestens sechs Monate pharmazeutisch tätig gewesen sein. ● Ferner muss er die erforderliche Zuverlässigkeit haben. Hierbei handelt es sich um einen gewerberechtlichen Begriff, den auch andere Unternehmen für ihre gewerbliche Tätigkeit erfüllen müssen. Für die Beurteilung der Zuverlässigkeit wird insbesondere geprüft, ob strafrechtliche oder gröbliche und beharrliche Verstöße gegen arzneimittel- oder apothekenrechtliche Vorschriften oder schwere sittliche Verfehlungen vorliegen, die den Apotheker für die Leitung einer Apotheke ungeeignet erscheinen lassen. Zudem darf es keine gesundheitlichen Gründe geben, die der Leitung einer Apotheke entgegenstehen. ● Der Apotheker darf keine umsatz- und gewinnabhängigen Gesellschafts- und Mietverträge abgeschlossen haben (§ 8 S. 2 ApoG). Pachtverträge sind nur einge‐ schränkt erlaubt, z. B. wenn der Antragsteller aus wichtigem Grund die Apotheke nicht selbst betreiben kann. Wenn ein Pachtvertrag den Anforderungen des § 9 ApoG zuwiderläuft, ist er unzulässig. Ferner darf der Apotheker keine Verträge zur Bevorzugung bestimmter Arzneimittel gem. § 10 ApoG geschlossen haben. Ebenso ist ihm verboten, Vereinbarungen mit Ärzten, Krankenhäusern oder anderen Behandlern über die Zuweisung von Patienten an den Apotheker oder umgekehrt, über die Lieferung bestimmter Arzneimittel oder die Fertigung von Arzneimitteln ohne vollständige Deklaration abzuschließen (§ 11 ApoG). Bei der Beantragung der Apothekenerlaubnis muss der Apotheker an Eides statt versichern, dass er derartige Verträge nicht geschlossen hat. Auf Verlangen der Erlaubnisbehörde muss er seine für die Apotheke abgeschlossenen Verträge vorlegen. ● Die Apotheke muss die in § 4 ApBetrO vorgesehenen Räume haben. ● Des Weiteren muss der Apotheker mitteilen, ob und ggf. wo er weitere Apotheken in Deutschland oder anderen Mitgliedstaaten der EU oder des EWR betreibt. 2.11 Apotheken und Arzneimitteleinzelhandel 329 <?page no="330"?> 470 Vgl. EuGH, Urt. v. 19.5.2009, C-171/ 07 und C-172/ 07, NJW 2009, 2112 ff. ● Wenn mehrere Personen die Apotheke(n) betreiben, sind nur zwei Rechtsformen - die GbR (§§ 705 ff. BGB) oder die OHG (§ 105 ff. HGB) - gem. § 8 ApoG zulässig. Wenn der Apotheker die notwendigen Voraussetzungen erfüllt, hat er einen Rechtsan‐ spruch auf die Erteilung der Erlaubnis. Die Erlaubnis gilt personenbezogen und für die Räume, für die sie erteilt worden ist (§ 1 Abs. 3 ApoG). Der Apotheker darf max. vier Apotheken betreiben (§ 1 Abs. 2 ApoG). Die Apotheke, die der Erlaubnisinhaber selbst leitet, wird als Hauptapotheke bezeichnet. Die anderen sind Filialapotheken, für die der Erlaubnisinhaber einen Apotheker als Verantwortlichen einsetzen muss (§ 2 Abs. 5 ApoG). Der Erlaubnisinhaber ist in jedem Fall - auch bei der Bestellung von Leitern für die Filialapotheken - gem. § 7 ApoG zur persönlichen Leitung der Apotheke(n) verpflichtet. Diese Regelungen in § 2 Abs. 5 und § 7 ApoG verhindern letztlich, dass Kapitalgesellschaften mit dem Geschäftsmodell von Apothekenketten auf dem deutschen Markt präsent sind. Dieses sog. Fremdbesitzverbot ist vom EuGH als europarechtskonform eingestuft worden, weil die Mitgliedstaaten der EU einen Wertungsspielraum haben, auf welchem Niveau sie den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung, eine flächendeckende Arzneimittelversorgung und das finanzielle Gleichgewicht ihres Sozialversicherungssystems gewährleisten. 470 Vor der Eröffnung der Apotheke erfolgt eine Abnahmeinspektion, in dem die zuständige Behörde prüft, ob die Apotheke die gesetzlichen Anforderungen erfüllt (§ 6 ApoG). Wer eine Apotheke ohne die erforderliche Erlaubnis betreibt, begeht gem. § 23 ApoG eine Straftat, die mit einer Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder mit einer Geldstrafe bis zu 180 Tagessätzen bestraft wird. Zudem wird die Apotheke von der zuständigen Behörde gem. § 5 ApoG geschlossen. Der Arzneimittelversorgungsauftrag der öffentlichen Apotheken bezieht sich auf Arzneimittel und apothekenpflichtige Medizinprodukte. Daneben dürfen sie apothe‐ kenübliche Waren gem. § 1a Abs. 10 ApBetrO - z. B. Körperpflegeprodukte - sowie apothekenübliche Dienstleistungen gem. § 1a Abs. 11 ApBetrO - wie z. B. einfache Gesundheitstests - anbieten. Diese Angebote dürfen allerdings die ordnungsgemäße Arzneimittelversorgung der Bevölkerung nicht beeinträchtigen (§ 2 Abs. 4 ApBetrO). Im Hinblick auf die Herstellung, den Erwerb, die Lagerung und Abgabe von Arzneimit‐ teln hat der Apotheker eine Vielzahl von Pflichten zu erfüllen, von denen nachfolgend einige benannt werden: ● Betreiben eines Qualitätsmanagements, damit die Arzneimittel nach wissenschaft‐ lichem Standard hergestellt, geprüft und gelagert werden (§ 2a ApBetrO), ● Einsatz des Personals nach seiner Ausbildung und seinen Kenntnissen (§ 3 Ap‐ BetrO), 330 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="331"?> ● Vorhalten von ausreichenden und geeigneten Betriebsräumen (Verkaufs- und Beratungsraum, Lagerraum, Labor und Nachtdienstzimmer), Einrichtungen und Geräten (§ 4 ApBetrO), ● Herrichten des Verkaufs- und Beratungsraums (Offizin genannt) dergestalt, dass apothekenpflichtige Arzneimittel nicht im Wege einer Selbstbedienung der Kun‐ den zugänglich sind (§ 17 Abs. 3 ApBetrO), ● Hygienemaßnahmen (§ 4a ApBetrO), ● Vorrätighalten von bestimmten wichtigen Arzneimittel (§ 15 ApBetrO; zum Belie‐ ferungsanspruch gegenüber dem Großhandel vgl. § 52b Abs. 3 AMG), ● Herstellung von Arzneimitteln nach den anerkannten pharmazeutischen Regeln (§ 6 ApBetrO), ● stichprobenweise Prüfung der Fertigarzneimittel (§ 12 ApBetrO), ● ordnungsgemäße Lagerung der Arzneimittel (§ 16 ApBetrO), ● Information und Beratung seiner Kunden (§ 20 ApBetrO), ● Betreiben einer Einrichtung zum Sammeln von Verschreibungen (Rezeptsammel‐ stellen) nur mit behördlicher Erlaubnis (§ 24 ApBetrO). Wenn der Apotheker, der Rezeptur- und Defekturarzneimittelim apothekenüblichen Rahmen herstellt oder Fertigarzneimittel umverpackt, benötigt er weder eine Geneh‐ migung zum Inverkehrbringen der Arzneimittel noch eine Herstellungserlaubnis, vgl. dazu Abschnitte 2.9.5 und 2.9.9. ➤ Beispiel Ein Apotheker betreibt in seiner Apotheke einen Verblisterungsautomaten. Beim Verblistern werden einzelne Fertigarzneimittel aus den Packungen entnommen (sog. Auseinzeln), nach den individuellen Bedürfnissen des Arzneimittelempfän‐ gers zusammengestellt und mittels eines Automaten in folienverschweißten Behältnissen neu abgepackt und gekennzeichnet (sog. Verblistern). Der Apotheker versorgt die Bewohner eines Heimes mit den neu verblisterten Arzneimitteln. Der Apotheker benötigt wegen § 13 Abs. 2 Nr. 1 AMG keine Herstellungserlaubnis und wegen § 21 Abs. 2 Nr. 1b Buchst. b AMG keine Genehmigung zum Inverkehrbrin‐ gen der umverpackten Arzneimittel. Die apothekenpflichtigen Fertigarzneimittel, die zudem verschreibungspflichtig sind, unterliegen der Preisregulierung gem. § 78 AMG und AMPreisV. Das bedeutet für den Apotheker, dass er den in § 3 AMPreisV vorgesehenen Apothekenzuschlag zu erheben hat. Er muss zur Berechnung des Apothekenabgabepreises einen Festzuschlag von 8,35 Euro zuzüglich 21 Cent zur Förderung der Sicherstellung des Notdienstes ansetzen. Hinzu kommen weitere 3 % bezogen auf den Abgabepreis des pharmazeutischen Unternehmers nebst Großhandelshöchstzuschlag oder auf den Abgabepreis des phar‐ mazeutischen Unternehmers ohne Großhandelsspanne, wenn eine Direktlieferung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen erfolgen musste. Die nicht verschreibungs‐ 2.11 Apotheken und Arzneimitteleinzelhandel 331 <?page no="332"?> 471 Vgl. BVerwG, Beschl. v. 1.3.2016, Az. 3 B 15.15, A&R 2016, 135 f. 472 Bekanntmachung der Übersicht zum Versandhandel mit Arzneimitteln nach § 73 Abs. 1 S. 3 AMG v. 5.7.2011, BAnz v. 20.7.2011, S.-2552. pflichtigen Fertigarzneimittel unterliegen nur der Preisregulierung, wenn sie zulasten der Krankenkasse abgegeben werden, vgl. dazu Abschnitt 2.9.11. Im Hinblick auf die Erfüllung ihrer Pflichten unterliegen die Apotheker ebenso wie die pharmazeutischen Unternehmer und Großhändler der staatlichen Aufsicht gem. §§ 64 ff. AMG. Die zuständige Behörde kann alle Maßnahmen treffen, die zur Beseitigung festgestellter Verstöße oder die zur Verhütung künftiger Verstöße notwendig sind (§-69-AMG). ➤ Beispiel Einem Apotheker wurde die Herstellung von Augenarzneimitteln, Heparinen und sonstigen Schmerzlösungen sowie das Befüllen von Schmerzpumpen ohne Steri‐ lisationsverfahren im Endbehältnis untersagt, weil die Reinraumanforderungen nach § 35 Abs. 4 ApBetrO nicht erfüllt waren. Die Gerichte sahen die Untersagung als rechtens an. 471 2.11.2 Versandhandel Gem. § 43 Abs. 1 S.-1 AMG ist das berufs- oder gewerbsmäßige Inverkehrbringen von apothekenpflichtigen Arzneimitteln im Wege des Versandes an den Endverbraucher erlaubnispflichtig. Der Versandhandel ist sowohl für nicht verschreibungspflichtige als auch verschreibungspflichtige Arzneimittel zulässig. Der Apotheker benötigt dafür neben seiner Apothekenbetriebserlaubnis eine Versandhandelserlaubnis gem. § 11a ApoG. Apotheken, die in einem EU-/ EWR-Mitgliedstaat ansässig sind, dürfen Arznei‐ mittel an deutsche Endkunden versenden, wenn das Sicherheitsniveau ihres Sitzlandes dem Deutschen entspricht (§ 73 Abs. 1 S. 1 Nr. 1a AMG). Dies ist nach den Feststellungen des BMG 472 ● in Island, ● Schweden für den Versandhandel mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln, ● Tschechien für den Versandhandel mit nicht verschreibungspflichtigen Arzneimit‐ teln, ● in den Niederlanden, soweit die Versandapotheke gleichzeitig eine Präsenzapo‐ theke betreibt, und ● im Vereinigten Königreich gegeben. Apotheken aus anderen Mitgliedstaaten können die Einhaltung vergleichba‐ rer Sicherheitsstandards zusichern und eine Versandhandelserlaubnis nach § 11a ApoG beantragen. Hinsichtlich des Versandhandels hat der Apotheker verschiedene Pflichten zu erfül‐ len, wie beispielsweise: 332 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="333"?> 473 Verordnung über den Nachweis der Sachkenntnis im Einzelhandel mit freiverkäuflichen Arzneimit‐ teln v. 20.6.1978, BGBl. I S.-753, z. g. d. VO v. 6.8.1998, BGBl. I S.-2044. 474 Vgl. BVerwG, Urt. v. 13.3.2008, 3 C 2707, NVwZ 2008, 1238 ff. ● Beratung des Bestellers durch pharmazeutisches Personal in deutscher Sprache, ● Gewährleistung, dass das Arzneimittel grundsätzlich innerhalb von zwei Arbeits‐ tagen nach Eingang der Bestellung versendet wird, ● Verpackung und Transport der Arzneimittel ohne Beeinträchtigung ihrer Qualität und Wirksamkeit, ● Abschluss einer Transportversicherung, ● Unterhaltung eines Systems der Sendungsverfolgung (vgl. im Einzelnen § 11a S.-1 ApoG, § 17 Abs. 2a, 2b ApBetrO). 2.11.3 Verkauf von Arzneimitteln im Einzelhandelsgeschäft, das keine Apotheke ist Arzneimittel, die nicht apothekenpflichtig sind (siehe oben 2.9.2), können in anderen Geschäften des Einzelhandels - wie z. B. in Drogerien oder Reformhäusern - abgegeben werden. Dies bedarf keiner Erlaubnis. Jedoch muss in einem solchen Geschäft während der gesamten Öffnungszeit eine Person mit der erforderlichen Sachkenntnis zur Beratung der Kunden zur Verfügung stehen. Die Einzelheiten der erforderlichen Sachkenntnis und deren Prüfung regelt § 50 AMG i. V. m. Verordnung über den Nachweis der Sachkenntnis im Einzelhandel mit freiverkäuflichen Arzneimitteln (AMSachKV). 473 Ein Einzelhandelsgeschäft kann auch in den Versandhandel einer Apotheke einbe‐ zogen werden. Bei dem Versandhandel mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln darf es aber nur logistische Dienstleistungen (Einsammeln der Bestellungen, Aushändigung der Arzneimittel) übernehmen. Ferner darf das Geschäft nicht den Eindruck vermitteln, es sei Vertragspartner des Kunden und gebe die apothekenpflichtigen Arzneimittel selbst ab. 474 2.11.4 Rechtsposition des Apothekers in der gesetzlichen Krankenversicherung Die gesetzlich Versicherten haben einen Anspruch auf apothekenpflichtige Arzneimit‐ tel, die nicht von der Versorgung ausgeschlossen sind (vgl. im Einzelnen Abschnitt 2.9.15.1). Um Arzneimittel an gesetzlich Versicherte abgeben zu können, benötigt der Apotheker im Unterschied zu den anderen Leistungserbringern im System der gesetz‐ lichen Krankenversicherung keine gesonderte Zulassung (wie z. B. Heilmittelerbringer) oder einen Versorgungsvertrag (wie z. B. Krankenhäuser). Er muss „nur“ die für ihn und für den Betrieb einer Apotheke geltenden Anforderungen erfüllen (vgl. dazu Abschnitt 2.11.1). Ferner muss er dem Rahmenvertrag über die Arzneimittelversorgung zwischen dem GKV-Spitzenverband und dem Deutschen Apothekerverband e. V. (DAV) beitreten 2.11 Apotheken und Arzneimitteleinzelhandel 333 <?page no="334"?> 475 Rahmenvertrag über die Arzneimittelversorgung nach § 129 Abs. 2 SGB V, https: / / www.gkv-spitz enverband.de/ krankenversicherung/ arzneimittel/ rahmenvertraege/ rahmenvertraege.jsp (Abruf am 6.3.2022). oder Mitglied des DAV sein (§-129 Abs. 2, 3 SGB V, §-3 Abs. 2 des Rahmenvertrages 475 , im Weiteren Rahmenvertrag genannt). Wenn der Apotheker diese Voraussetzungen erfüllt, erwirbt er allerdings nicht nur eine Leistungsberechtigung, sondern ebenso eine Leistungsverpflichtung, die ärztlich verordneten Arzneimittel an die Versicherten abzugeben. Die an der Versorgung der Versicherten teilnehmenden Apotheken sind in einem bundesweiten Apothekenverzeichnis gem. §-293 Abs.-5 SGB V erfasst. Neben den in den Abschnitten 2.11.1 und 2.11.2 beschriebenen Pflichten aus dem ApoG oder der ApBetrO hat der Apotheker weitere für das System der gesetzlichen Krankenversicherung spezifische Pflichten. Diese ergeben sich aus den §§ 129-130 SGB V, dem bereits erwähnten Rahmenvertrag auf Bundesebene sowie aus Arzneimittellie‐ ferverträge auf Landesebene gem. § 129 Abs. 5 SGB V. Einige dieser Pflichten werden nachfolgend erläutert werden. So darf der Apotheker Arzneimittel, die gem. § 34 SGB V ausgeschlossen sind, nicht zulasten der Krankenkasse des Kunden abgeben. Ferner muss das Arzneimittel ärztlich verordnet sein. Aus Gründen der Wirtschaftlichkeit ist der Apotheker zur Abgabe eines preis‐ günstigen Arzneimittels verpflichtet. Grundsätzlich legt zwar der Arzt durch seine Verordnung das abzugebende Arzneimittel fest. Jedoch kann er das Arzneimittel nur unter seiner Wirkstoffbezeichnung verordnen oder das Arzneimittel mit seinem Pro‐ duktnamen bezeichnen und dessen Ersetzung durch ein wirkstoffgleiches Arzneimittel auf seinem Rezept nicht ausschließen (sog. aut idem). In diesen beiden Fällen muss der Apotheker ein preisgünstiges Arzneimittel unter Berücksichtigung folgender Kriterien abgeben: ● gleicher Wirkstoff und identische Wirkstärke, ● identische Packungsgröße (Packungsgröße mit gleichem Packungsgrößenkennzei‐ chen), ● arzneimittelrechtliche Zulassung für ein gleiches Anwendungsgebiet, ● gleiche oder austauschbare Darreichungsform (entsprechend der Festlegungen in §-40 und der Anlage VII der AMR-RL), ● vorrangige Abgabe eines Arzneimittels, für das Rabattvertrag nach § 130a Abs. 8 SGB V besteht. Wenn für das Arzneimittel kein Rabattvertrag besteht, hat der Apotheker die Ersetzung durch ein preisgünstigeres Arzneimittel nach Maßgabe der §§ 9-14 des Rahmenvert‐ rages vorzunehmen (vgl. zu den Ersetzungsregeln im Einzelnen § 129 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, S.-2-8 SGB V sowie in §§-9-14 des Rahmenvertrages). Daneben trifft den Apotheker gem. § 129 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB V die Pflicht, preisgüns‐ tige Importarzneimittel abzugeben. Hintergrund dafür ist der sog. Parallelimport von Arzneimitteln aus anderen Mitgliedstaaten der EU, in denen die Arzneimittel ebenso 334 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="335"?> 476 Vgl. Weiß, Soziale Krankenversicherung Pflegeversicherung Kommentar, § 129 SGB V Rn. 34. 477 Siehe Art. 12 Nr. 8 Buchst. a) Doppelbuchst. bb), Art. 21 Abs. 4 Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung vom 9.8.2019, BGBl. I S.-1202. wie in Deutschland zugelassen, dort aber mit geringeren Preisen als in Deutschland in den Verkehr gebracht worden sind. Unter Ausnutzung der Preisdifferenz kann das importierende (Handels-)Unternehmen durch den Import der Arzneimittel Gewinne generieren, auch wenn es die Arzneimittel preislich unterhalb des jeweiligen Bezugs‐ arzneimittels anbietet. Der Begriff des Bezugsarzneimittels leitet sich daraus ab, dass der Parallelimporteur für das Importarzneimittel eine Zulassung im vereinfachten Verfahren unter Bezugnahme auf das deutsche Originalarzneimittel erlangt (vgl. auch Abschnitt 2.9.10). 476 Die Pflicht des Apothekers, anstelle des Originals ein vorhandenes preisgünstiges Importarzneimittel abzugeben, knüpft an bestimmte Preisspannen und dem damit verbundenen Einsparpotenzial an. Die Pflicht zur Ersetzung besteht, wenn der für den Versicherten maßgebliche Abgabepreis unter Berücksichtigung der nach § 130a SGB V relevanten Abschläge um den folgenden Prozentwert oder Betrag niedriger ist als der Abgabepreis des Bezugsarzneimittels: ● bei Bezugsarzneimitteln mit einem Abgabepreis bis einschließlich 100 Euro: mindestens 15-% niedriger, ● bei Bezugsarzneimitteln mit einem Abgabepreis von über 100 Euro bis einschließ‐ lich 300 Euro: mindestens 15-Euro niedriger, ● bei Bezugsarzneimitteln mit einem Abgabepreis von über 300 Euro: mindestens 5-% niedriger. Allerdings regelt § 129 Abs. 1 S. 8 SGB V auch für die Importarzneimittel, dass das Arzneimittel, für das ein Rabattvertrag besteht, unabhängig von der Preisgünstigkeit vorrangig abzugeben ist. Die vorgenannten Ersetzungsregelungen gelten ab 16.8.2022 im Wesentlichen auch für gleiche biotechnologisch hergestellte Arzneimittel (sog. Biosimilar), für die der GBA eine Austauschbarkeit in Bezug auf ein biologisches Referenzmittel festgestellt hat. 477 Für das an den Versicherten abgegebene Arzneimittel erlangt der Apotheker einen Vergütungsanspruch gegen die Krankenkasse des Versicherten. Ausgangspunkt für die Berechnung der Vergütungshöhe ist der einheitliche Abgabepreis, den der pharma‐ zeutische Unternehmer für die verschreibungspflichtigen Fertigarzneimittel und die nicht verschreibungspflichtigen Fertigarzneimittel, die zu Lasten einer Krankenkasse abgegeben werden, gewährleisten muss (§ 78 Abs. 3 AMG). Auf diesen Abgabepreis dürfen sowohl der Großhandel als auch der Apotheker einen Zuschlag gem. § 2 bzw. § 3 AMPreisV erheben. Darüber hinaus wird der Vergütungsanspruch des Apothekers gegenüber der Krankenkasse von den im SGB V vorgesehenen Abschlägen und Rabatten beeinflusst. Zum einen muss der Apotheker den Krankenkassen Abschläge für Fertigarzneimittel, Impfstoffe und Generika einräumen, die er jedoch vom pharmazeutischen Unternehmen erstattet bekommt (vgl. § 130a Abs. 1 S.-3, Abs. 2 S.-3, Abs. 3b S.-4 SGB V): 2.11 Apotheken und Arzneimitteleinzelhandel 335 <?page no="336"?> ● Für Fertigarzneimittel, für die kein Festbetrag festgesetzt ist, muss der Apotheker einen Herstellerabschlag in Höhe von 7 % des Abgabepreises des pharmazeutischen Unternehmers ohne Mehrwertsteuer gem. § 130a Abs. 1, 3 SGB V berücksichtigen (siehe Abschnitt 2.9.15.3). ● Für Impfstoffe, für die kein Festbetrag festgesetzt ist, erhalten die Krankenkassen einen Abschlag, der die in Deutschland im Vergleich zu anderen EU-Mitgliedstaa‐ ten überdurchschnittlichen Impfstoffpreise ausgleicht (§-130a Abs.-2, 3 SGB V). ● Für patentfreie, wirkstoffgleiche Arzneimittel erhalten die Krankenkassen einen Generikaabschlag gem. § 130a Abs. 1 S. 2, Abs. 3, 3b SGB V in Höhe von 10 % des Abgabepreises des pharmazeutischen Unternehmers ohne Mehrwertsteuer (siehe Abschnitt 2.9.15.3). Zum anderen muss der Apotheker gem. § 130 SGB V selbst einen Apothekenrabatt gewähren. Dieser beträgt für bestimmte Zubereitungen und die verschreibungspflich‐ tigen Fertigarzneimittel 1,77 Euro (Stand 2022). Für alle anderen Arzneimittel beläuft sich der Apothekenrabatt auf 5 % des Arzneimittelabgabepreises, der für den Versi‐ cherten maßgeblich ist, oder auf 5 % des Festbetrages, wenn dieser geringer ist. Den Apothekenrabatt muss der Apotheker jedoch nur gewähren, wenn seine Rechnung innerhalb von zehn Tagen nach Eingang der Rechnung bei der Krankenkasse beglichen wird (§-130 Abs.-3 SGB V). Schließlich muss der Apotheker die Zuzahlung des volljährigen Versicherten gem. §-31 Abs.-3 SGB V vereinnahmen. An die vorgenannten Regelungen der AMPreisV und des SGB V sind auch Ver‐ sandhandelsapotheken mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat gebunden, wenn sie Arzneimittel an die Versicherten als Sachleistungen abgeben und unmittelbar mit den Krankenkassen abrechnen möchten (vgl. §-129 Abs.-3 SGB V). Die komplizierte Ermittlung des Betrages, den eine Krankenkasse zu zahlen hat, soll am Beispiel eines verschreibungspflichtigen Arzneimittels, das kein Generikum ist und für das kein Festbetrag festgesetzt ist, veranschaulicht werden: ➤ Beispiel │ Abgabepreis, Abschläge und Zuzahlungen Ermittlung des Abgabepreises nach der AMPreisV: - Herstellerabgabepreis 100,00 Euro zzgl. Großhandelszuschlag (§ 2 AMPreisV) - - (3,15-% von 100,- € zzgl. 0,70 €) 3,85 Euro zzgl. Apothekenzuschlag (§ 3 AMPreisV) - - (3-% von 103,85 € zzgl. 8,35 € zzgl. 0,21 €) 11,68 Euro zzgl. 19-% Umsatzsteuer 21,94 Euro Arzneimittelabgabepreis nach der AMPreisV 137,47 Euro 336 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="337"?> 478 Vgl. BSG, Urt. v. 3.8.2006, B 3 KR 7/ 05 R, BeckRS 2006, 43696. Abschläge und Zuzahlungen nach dem SGB V: - abzgl. abzgl. Zuzahlung des Versicherten (max. 10,- €) 10,00 Euro abzgl. Herstellerabschlag für Fertigarzneimittel - - (7-% von 100,00 €) 7,00 Euro abzgl. Apothekenabschlag (1,77 €) 1,77 Euro von der Krankenkasse zu zahlender Betrag 118,70 Euro Die Abrechnung der Vergütung gegenüber der Krankenkasse erfolgt gem. § 300 SGB V. Der Vergütungsanspruch des Apothekers gegenüber der Krankenkasse besteht grundsätzlich nur, wenn die gesetzlichen und vertraglichen Voraussetzungen für die Arzneimittelabgabe erfüllt sind. Bei einem Verstoß gegen die Abgabevorschriften verliert der Apotheker grundsätzlich seinen Vergütungsanspruch ganz oder teilweise. Nur in den engen Ausnahmefällen des § 6 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 des Rahmenvertrages - z. B. bei einem unbedeutenden formalen Fehler - bleibt der Vergütungsanspruch des Apothekers erhalten. ➤ Beispiel │ Verlust des Vergütungsanspruchs Einem Apotheker wurden Rezepte für das Hormonpräparat Norditropin mit einer Anzahl von Ampullen vorgelegt, die jedoch mit den handelsüblichen Packungs‐ größen nicht übereinstimmte. Die Rezepte enthielten keinen Vermerk, dass genau die verzeichnete Menge abgegeben werden solle. Die im Handel erhältlichen Packungsgrößen waren eine Ampulle (N1), zehn Ampullen (N2) sowie zwanzig Ampullen (N3). Beim ersten Mal gab der Apotheker für die verzeichneten 15 Ampullen 15 Packungen N1 ab. Später gab er bei 13 bzw. 15 Ampullen eine Packung N2 und drei bzw. fünf Packungen N1 ab. Die jeweils abgegebenen Mengen stellte er der Krankenkasse in Rechnung. Das BSG 478 verneinte einen Vergütungsanspruch des Apothekers teilweise, weil er gegen seine Pflicht zur Abgabe von wirtschaftlichen Einzelmengen (§ 129 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB V) verstoßen habe. Diese Pflicht sei durch den (seinerzeit) geltenden § 5 Abs. 2 des Rahmenvertrages dahingehend konkretisiert worden, dass der Apotheker bei Mengenangaben, die von den Packungsgrößen abweichen, nur die nächst kleinere Packung oder ein Vielfaches dieser Packung abgeben dürfe. Etwas anderes gelte nur, wenn der Arzt durch einen besonderen Vermerk auf dem Rezept auf die Abweichung hinweise. Hintergrund dieser Regelung sei, dass der Arzt angesichts der Vielzahl der Arzneimittel und Packungsgrößen nicht in jedem Fall die genaue Stückelung kenne. Deshalb hätte der Apotheker jeweils nur die Packung mit den zehn Ampullen (N2) abgeben und gegenüber der Krankenkasse berechnen dürfen. 2.11 Apotheken und Arzneimitteleinzelhandel 337 <?page no="338"?> Neben dem Verlust seines Vergütungsanspruchs drohen dem Apotheker, wenn er seine Pflichten aus dem SGB V und den vertraglichen Bestimmungen auf Bundes- und Landesebene nicht erfüllt, weitere Sanktionen gem. §-27 des Rahmenvertrages: ● Verwarnung, ● Vertragsstrafe, ● bei gröblichen und wiederholten Verstößen bis zu zweijähriger Ausschluss von der Versorgung der Versicherten. 2.11.5 Rechtsverhältnis zum Kunden Zwischen dem Apotheker und dem Kunden wird hinsichtlich der Fertigarzneimittel ein Kaufvertrag gem. §§ 433 ff. BGB sowie hinsichtlich der vom Apotheker herzustellenden Arzneimittel ein Lieferungskauf gem. § 651, §§ 433 ff. BGB geschlossen. Erfolgt die Arzneimittelabgabe im Wege des Versandhandels, liegt ein Fernabsatzvertrag gem. § 312c BGB vor. Die Rechte und Pflichten bestimmen sich nach den vertraglichen Absprachen sowie nach den privatrechtlichen und öffentlich-rechtlichen Vorschriften, die die Arzneimittelabgabe regulieren. Zu letzteren gehören vor allem § 11a ApoG, §§-17, 20 ApBetrO sowie die AMPreisV. Gem. § 20 ApBetrO muss der Kunde über Arzneimittel informiert und beraten wer‐ den. Das bedeutet, dass der Kunde insbesondere über die sachgerechte Anwendung des Arzneimittels, eventuelle Nebenwirkungen oder Wechselwirkungen, die sachgerechte Aufbewahrung des Arzneimittels zu informieren ist. Ggf. ist durch Nachfrage festzu‐ stellen, inwieweit der Kunde einen weiteren Informations- und Beratungsbedarf hat. In diesem Fall ist eine entsprechende Beratung anzubieten. Im Falle der Selbstmedikation ist zudem festzustellen, ob das gewünschte Arzneimittel zur Anwendung bei dem betroffenen Kunden geeignet erscheint, und ggf. ist anzuraten, einen Arzt aufzusuchen. Um eine Beratung beim Versandhandel zu gewährleisten, muss der Kunde bei der Bestellung eine Telefonnummer angeben, unter der er ohne zusätzliche Gebühren beraten werden kann, wenn sich für den Apotheker ein Beratungsbedarf zeigt (§ 17 Abs. 2a S.-1 Nr.-7 ApBetrO). Ferner hat der Apotheker beim Versandhandel weitere Pflichten gem. § 11a ApoG, § 17 Abs. 2a ApBetrO zu erfüllen, wie beispielsweise: ● Hinweis an den Kunden, dass er mit dem behandelnden Arzt Kontakt aufnehmen soll, wenn Probleme bei der Anwendung des Arzneimittels auftreten, ● Gewährleistung, dass das Arzneimittel grundsätzlich innerhalb von zwei Arbeits‐ tagen nach Eingang der Bestellung versendet wird, ● Veranlassung einer kostenlosen Zweitzustellung, wenn die erste Zustellung fehl‐ geschlagen ist, ● Angebot eines Systems der Sendungsverfolgung, ● Verpackung und Transport der Arzneimittel ohne Beeinträchtigung ihrer Qualität und Wirksamkeit. 338 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="339"?> 479 Für verordnete Arzneimittel, die an Versicherte in der privaten Krankenversicherung, Beihilfeemp‐ fänger und Selbstzahler abgegeben werden, besteht seit 2019 ebenfalls eine Ersetzungsmöglichkeit: Gem. § 17 Abs. 5 S. 2 ApBetrO kann ein verordnetes Arzneimittel durch ein wirkstoffgleiches Arzneimittel ersetzt werden, das in Wirkstärke und Packungsgröße identisch ist, für ein gleiches Anwendungsgebiet zugelassen ist und die gleiche oder eine austauschbare Darreichungsform besitzt, sofern der Arzt dies nicht ausgeschlossen hat und die Person, für die das Arzneimittel bestimmt ist, einverstanden ist. Bei der Abgabe von verschreibungspflichtigen Arzneimitteln, muss der Apotheker die in der AMPreisV vorgesehenen Apothekenzuschläge auch dann erheben, wenn der Kunde für das Arzneimittel selbst aufkommen muss (vgl. zu den Zuschlägen Abschnitt 2.11.1). Dagegen unterliegen die Preise für die Arzneimittel, die ● nicht apothekenpflichtig oder ● apotheken-, aber nicht verschreibungspflichtig sind, und nicht zulasten der Kran‐ kenkasse des Kunden abgegeben werden, nicht der gesetzlichen Preisregulierung, so dass sie der Apotheker entsprechend frei kalkulieren kann. Er steht insoweit „lediglich“ in dem üblichen Preiswettbewerb mit seinen Konkurrenten. Wenn der Kunde gesetzlich versichert ist und das Arzneimittel zulasten seiner Kran‐ kenkasse abgegeben wird, wird der privatrechtliche Vertrag durch die sozialrechtlichen Bestimmungen überlagert. Diese Überlagerung zeigt sich in verschiedener Hinsicht: Der Apotheker darf das verordnete Arzneimittel unter den Voraussetzungen des §-129 SGB V ersetzen (vgl. Abschnitt 2.11.4) 479 . Ferner dient die (zahn-)ärztliche Verordnung, die der gesetzlich versicherte Kunde in der Apotheke vorlegt, sozusagen als Zahlungsmittel. Die Krankenkasse leistet die im Abschnitt 2.11.4 beschriebene Vergütung. Der volljährige Versicherte muss eine Zuzahlung gem. § 31 Abs. 3 SGB V leisten. Wenn die Krankenkasse für ein Arzneimittel nur den Festbetrag zahlt, muss der gesetzlich versicherte Kunde zudem die Differenz zwischen Abgabepreis und Festbetrag übernehmen. Wenn das zu Lasten der gesetzlichen Krankenkasse abgegebene Arzneimittel mangelhaft war und aus diesem Grund ein Arzneimittelrückruf erfolgte oder eine behördlich bekannt‐ gemachte Einschränkung der Verwendbarkeit des Arzneimittels vorlag, gehen die Gewähr‐ leistungsrechte nach § 437 BGB (Nacherfüllung, Minderung, Rücktritt, Schadenersatz) des Apothekers gegenüber seinem Lieferanten (z.-B. Großhändler) auf die Krankenkasse über, soweit diese die Vergütung gezahlt hat (§-131a SGB V). Dieser gesetzliche Übergang der Ge‐ währleistungsrechte hat folgenden Hintergrund: Die „Krankenkassen erwerben die zu ihren Lasten abgegebenen Arzneimittel nicht selbst und stehen in keiner unmittelbaren Rechts‐ beziehung zum pharmazeutischen Unternehmer oder zum Arzneimittel. Die Krankenkassen haben in diesen Fällen zwar einen wirtschaftlichen Schaden, aber keine unmittelbaren Ansprüche gegen den pharmazeutischen Unternehmer oder den Arzneimittelgroßhändler. Die Apotheken wiederum, die die Arzneimittel vom pharmazeutischen Unternehmer oder vom Arzneimittelgroßhandel erwerben und mit diesem in einer vertraglichen Beziehung stehen, haben zwar Gewährleistungsrechte, aber selber keinen eigenen Schaden, da sie für 2.11 Apotheken und Arzneimitteleinzelhandel 339 <?page no="340"?> 480 RegE des Gesetzes für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung, BTag-Drucks. 19/ 8753, S.-66. ihre Tätigkeit von den Krankenkassen nach den öffentlich-rechtlichen Regelungen des SGB V eine Vergütung erhalten.“ 480 Da der die Gewährleistungsrechte nur soweit übergehen, wie die Krankenkasse die Vergütung entrichtet hat, bedeutet dies in der Umkehrung, dass der Apotheker seine Ansprüche gegenüber dem Lieferanten behält, soweit nicht die Krankenkasse, sondern der Versicherte das Arzneimittel bezahlt hat (z. B. in Höhe der Differenz zwischen Abgabepreis und Festbetrag). Hinsichtllich der vom Versicherten entrichteten Zuzahlung gilt, dass diese vom Versicherten beim Ersatzkauf eines mangelfreien Arzneimittels nicht noch einmal entrichtet werden muss (§-31 Abs. 3 S.-7, 8 SGB V). ❋ Wichtige Schlagwörter ❋ Öffentliche Apotheke ❋ Versandhandel mit Arzneimitteln ✎ Wiederholungsaufgaben 1. Erläutern Sie, unter welchen Voraussetzungen einem Apotheker die Erlaubnis für den Betrieb einer Apotheke erteilt wird. 2. Nennen Sie drei Pflichten eines Apothekers bzgl. der Abgabe von Arzneimit‐ teln und die jeweils dazugehörige Rechtsvorschrift. 3. Erläutern Sie, unter welchen Voraussetzungen ein Apotheker zur Teilnahme an der Arzneimittelversorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung berech‐ tigt ist. 4. Erläutern Sie die Grundzüge der Ersetzungsverpflichtung des Apothekers gem. § 129 Abs. 1 S.-1 Nr.-1, S.-2-4 SGB V. 5. Erläutern Sie den Vergütungsanspruch des Apothekers gegenüber einer Kran‐ kenkasse. ➤ Lösungen im Web-Service. 340 2 Rechtliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen <?page no="341"?> 481 Liste der Kranken- und Pflegekassen finden Sie auf der Internetseite des GKV-Spitzenverbandes, dem alle Kassen angehören: https: / / www.gkv-spitzenverband.de/ service/ krankenkassenliste/ krank enkassen.jsp (Abruf am 14.5.2022). 3 Rechtliche Rahmenbedingungen für die Kostenträger ➤ Lernhinweis Wenn Sie beabsichtigen, später in einer Kranken- und Pflegekasse oder in einem Krankenversicherungsunternehmen tätig zu sein, müssen Sie deren rechtliche Rahmenbedingungen kennen, um Ihr künftiges Handeln unter Beachtung der rechtlichen Anforderungen analysieren und steuern zu können. Sowohl die gesetz‐ liche als auch die private Krankenversicherung sind stark regulierte Bereiche. Die Versicherungsleistungen sind Rechtsprodukte, deren Existenz und Beschaffenheit (anders als bei gegenständlichen Gütern) ausschließlich durch gesetzliche und vertragliche Regeln geformt werden. Ferner erklärt sich die Regulierungsdichte aus der gesellschaftlichen Verantwortung, zum Schutz des Versicherten für eine stabile und langfristige Absicherung im Krankheitsfall zu sorgen. 3.1 Kranken- und Pflegekassen ➤ Lernhinweis Die nachfolgenden Erläuterungen werden Sie besser verstehen, wenn Sie die angegebenen Paragrafen der folgenden Rechtsvorschriften parallel zum Lehrbuch lesen: Sozialgesetzbuch 1. Buch (SGB I), 4. Buch (SGB IV), 5. Buch (SGB V), 10. Buch (SGB X), 11. Buch (SGB XI). 3.1.1 Kranken- und Pflegekasse im Spannungsverhältnis zwischen Selbstverwaltung und Staatsaufsicht Träger der Krankenversicherung sind die Krankenkassen, die Körperschaften des öf‐ fentlichen Rechts mit Selbstverwaltung sind (§ 4 Abs. 2 SGB V). Bei jeder Krankenkasse besteht eine Pflegekasse, die ebenfalls Körperschaft des öffentlichen Rechts mit Selbst‐ verwaltung ist (§ 46 Abs. 1 SGB XI). Körperschaften des öffentlichen Rechts gehören zu den mit Rechtsfähigkeit ausgestatteten juristischen Personen des öffentlichen Rechts und sind mitgliedschaftlich verfasst (zu den Mitgliedern siehe Abschnitt 3.1.4). Gem. § 4 Abs. 2, §§ 144-148 SGB V, § 46 Abs. 1 SGB XI werden folgende Kassenarten 481 unterschieden: <?page no="342"?> 482 Vgl. Baier, Soziale Krankenversicherung Pflegeversicherung Kommentar, § 46 SGB XI Rn. 4. 483 Vgl. Baier, a.-a.-O., Rn. 5. ● Allgemeine Ortskrankenkassen (AOK) ● Betriebskrankenkassen (BKK) ● Innungskrankenkassen (IKK) ● Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau (SVLFG) ● Deutsche Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See (DRVKnBS) ● Ersatzkassen (EK). Die Pflegekasse ist gegenüber der Krankenkasse, bei der sie errichtet ist, einerseits selbständig. 482 Sie ist gem. § 46 Abs. 2 S. 1 SGB XI rechtsfähig und somit Träger von Rechten und Pflichten. Sie tritt nach außen unter ihrem Namen als Pflegekasse eigenständig auf. Sie verfügt über eine eigene Satzung (§ 47 SGB XI). Ferner erzielt die Pflegekasse eigene Mittel gem. § 28k Abs. 1 S. 1 SGB IV, §§ 54 ff. SGB XI und ist in der Verwendung der Mittel gegenüber der Krankenkasse eigenständig (§§ 62 ff. SGB XI). Andererseits sind die Pflege- und Krankenkasse organisatorisch miteinander verknüpft. 483 Beide haben gemeinsame Organe und gemeinsames Personal (§ 46 Abs. 2 S.-2, 3 SGB XI). 342 3 Rechtliche Rahmenbedingungen für die Kostenträger <?page no="343"?> Selbstverwaltungsorgane BKK, AOK, IKK, EK DRVKnBS SVLFG Verwaltungsrat §§ 31 Abs. 3a, 33 SGB IV, § 197 SGB V hauptamtlicher Vorstand §§ 31 Abs. 3a, 35a SGB IV besondere Ausschüsse, z. B. Widerspruchsausschuss § 36a SGB IV Vertreterversammlung § 33 SGB IV ehrenamtlicher Vorstand § 35 SGB IV hauptamtlicher Geschäftsführer, der dem Vorstand angehört § 31 Abs. 1, § 36 SGB IV besondere Ausschüsse, z. B. Widerspruchsausschuss § 36a SGB IV Vertreterversammlung § 31 Abs. 1, § 33 SGB IV ehrenamtlicher Vorstand §§ 31, 35 SGB IV hauptamtlicher Geschäftsführer, der dem Vorstand angehört § 31 Abs. 1, § 36 SGB IV besondere Ausschüsse, z. B. Widerspruchsausschuss § 36a SGB IV Abbildung 54: Selbstverwaltungsorgane der Kranken- und Pflegekassen gem. §§ 29-42 SGB IV Die Selbstverwaltung der Kranken- und Pflegekassen wird gem. § 29 Abs. 2 SGB IV grundsätzlich durch die Versicherten und Arbeitgeber ausgeübt (zu den Ausnahmen siehe § 44 SGB IV). Sie bilden eine Vertreterversammlung (bei SVLFG und DRVKnBS) bzw. einen Verwaltungsrat (bei AOK, BKK, EK und IKK). Die Vertreterversammlung bzw. der Verwaltungsrat beschließen die Satzungen und nehmen weitere gesetzlich zugewiesene Aufgaben war (§ 33 SGB IV, § 197 SGB V). Weiteres Selbstverwaltungsor‐ gan ist bei den AOK, BKK, EK, IKK der Vorstand bzw. bei der SVLFG und DRVKnBS der hauptamtliche Geschäftsführer, der die Kasse gerichtlich und außergerichtlich vertritt und gegenüber Verwaltungsrat verantwortlich ist (§§ 35a, 36 SGB IV). 3.1 Kranken- und Pflegekassen 343 <?page no="344"?> 484 Vgl. Waltermann, Sozialrecht, Rn. 124-m. w. N. 485 Vgl. zum Satzungsbegriff statt vieler: BVerfG, Urteil vom 14. 7. 1959 - 2 BvF 1/ 58, NJW 1959, 1531 ff. [1533]. Selbstverwaltung bedeutet für die Kassen, dass sie ihre zugewiesenen Aufgaben selbständig und fachweisungsfrei im eigenen Namen und eigener Verantwortung wahrnehmen können. 484 Zur Regelung ihrer Angelegenheiten dürfen die Kassen auch Satzungen erlassen (§ 34 Abs. 1 SGB IV). Satzungen sind Rechtsvorschriften, die von einer juristischen Person des öffentlichen Rechts im Rahmen der ihr gesetzlich verliehenen Autonomie erlassen werden. Sie sind für diejenigen verbindlich, die der juristischen Person angehören (z.-B. die Versicherten der Krankenkasse). Hinsichtlich dieser Verbindlichkeit unterscheiden sich die Satzungen von den allgemein gültigen Gesetzen und Rechtsverordnungen, auch wenn sie gleichwohl zum objektiven Recht gehören. 485 In den Satzungen regeln die Kranken- und Pflegekassen ihren Namen, Sitz, Zusammensetzung und Aufgaben der Organe sowie weitere organisatorische Fragen (vgl. § 194 SGB V, § 47 SGB XI). Des Weiteren können sie in den Satzungen ihre Leistungen und Beiträge regeln, soweit ihnen eine diesbezügliche Satzungsbefugnis - wie z.-B. in §-11 Abs. 6 SGB V - eingeräumt ist. Obgleich der eingeräumten Selbstverwaltung gehören die Kassen zur mittelbaren Staatsverwaltung. Die Staatsverwaltung wird in unmittelbare und mittelbare Staats‐ verwaltung unterschieden. Im Rahmen der unmittelbaren Staatsverwaltung werden die staatlichen Aufgaben durch eigene Behörden des Bundes (dann unmittelbare Bundesverwaltung) oder der Bundesländer (dann unmittelbare Landesverwaltung) wahrgenommen. Wenn die staatlichen Aufgaben dagegen von rechtlich selbständigen Verwaltungsträgern ausgeführt werden, spricht man von der mittelbaren Staatsver‐ waltung. Innerhalb der Staatsverwaltung unterliegen die Kranken- und Pflegekassen der Staatsaufsicht (vgl. § 87 Abs. 1 S. 1 SGB IV). Aufsichtsbehörden sind das Bundesamt für Soziale Sicherung für die bundesunmittelbaren Kranken- und Pflegekassen sowie die jeweilige oberste Verwaltungsbehörde eines Bundeslandes, z. B. Sozialministerium, für eine landesunmittelbare Kasse mit dem Zuständigkeitsbereich für ein Bundesland (vgl. § 90 Abs. 1, 2, § 90a, § 94 SGB IV). Wenn sich der Zuständigkeitsbereich einer landesunmittelbaren Kasse auf bis zu drei Bundesländer erstreckt, müssen sich die betroffenen Bundesländer einigen, welche Behörde zuständig ist (§ 90 Abs. 3 SGB IV). ➤ Beispiel Das Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie des Landes Brandenburg ist die Aufsichtsbehörde für die AOK Nordost, deren Bezirk die Länder Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern umfasst. Die Staatsaufsicht gegenüber den Kranken- und Pflegekassen ist keine Fachsondern eine Rechtsaufsicht. Das heißt, sie erstreckt sich auf die Einhaltung der Gesetze und anderer Rechtsvorschriften (§ 87 Abs. 1 S. 2 SGB IV). Mangels Fachaufsicht kann die 344 3 Rechtliche Rahmenbedingungen für die Kostenträger <?page no="345"?> 486 LSG Niedersachsen-Bremen, Urt. v. 23.10.2014, L 1/ 4 KR 570/ 12 KL, NZS 2015, 187 ff. [188]. 487 Vgl. BSG, Urt. v. 3.3.2009, B 1 A 1/ 08 R, BeckRS 2009, 62113. Aufsichtsbehörde nicht einschreiten, solange sich die Tätigkeit der Kassen innerhalb des rechtlich zulässigen Rahmens bewegt. Das gilt auch dann, wenn sie in einer bestimmten Angelegenheit anders vorgehen würde. Dieser Rechtsaufsicht unterliegt die gesamte Geschäfts-, Rechnungs- und Betriebs‐ führung der Kranken- und Pflegekasse. § 30 Abs. 1 SGB IV regelt grundlegend, dass die Kassen nur Geschäfte zur Erfüllung ihrer gesetzlich vorgeschriebenen oder zugelassenen Aufgaben führen und ihre Mittel nur für diese Aufgaben und für die Verwaltungskosten verwenden dürfen. Die zuständige Aufsichtsbehörde darf sich gem. § 88 Abs. 2 SGB IV Unterlagen vorlegen lassen und Auskünfte verlangen, um zu prüfen, ob eine Rechtsverletzung gegeben ist. ❋ Wissen-│-Rechtsverletzung „Eine Rechtsverletzung liegt dann vor, wenn der Versicherungsträger gegen zwin‐ gende Vorschriften für ihn maßgeblicher Gesetze oder sonstiges Recht verstößt, diese also fehlerhaft angewandt oder nicht beachtet hat […] Keine Rechtsverletzung ist gegeben, wenn die Aufsichtsbehörde nur eine andere Rechtsanwendung vertritt, die Rechtsanwendung durch den Versicherungsträger jedoch zumindest vertretbar ist […]“ 486 Wenn die Aufsichtsbehörde Rechtsverletzungen feststellt, darf sie gem. § 89 Abs. 1, 3 SGB IV folgende Aufsichtsmittel ergreifen: ● Beratung, ● Einberufung von Versammlungen der Selbstverwaltungsorgane, ● Erlass einer Aufsichtsanordnung. ➤ Beispiel │ Aufsichtsanordnung Das BSG 487 hat eine Aufsichtsanordnung des Bundesversicherungsamtes (jetzt Bundesamt für Soziale Sicherung) für rechtmäßig erklärt, nach der einer Ersatz‐ kasse folgende angekündigte Festgeldanlage untersagt wurde: Die Ersatzkasse wollte eine Festgeldanlage gegen Schuldschein über 100 Mill. Euro bei einer Hypothekenbank mit einer Laufzeit von sechs Monaten und einem Zinssatz von 2,3 % vornehmen. Die Anlage sollte die unattraktiven Tagesgeldanlagen (Zinssatz 2,04 %) ersetzen. Aufgrund der hohen Liquiditätsschwankungen war zwar davon auszugehen, dass an einigen Tagen die Festgeldanlage durch eine Kreditaufnahme hätte gegenfinanziert werden müssen. Jedoch hätten die täglichen Kreditaufnah‐ men maximal die Höhe der Festgeldanlage erreicht; der Kreditzinssatz hätte mit ca. 2,09 % deutlich unter den erwarteten Zinserträgen gelegen. Die Festgeldanlage wäre auch zu 100-% über den Einlagensicherungsfonds abgesichert gewesen. 3.1 Kranken- und Pflegekassen 345 <?page no="346"?> Das BSG führte aus, dass die mit der gewählten Anlageform unvermeidlich zusammenhängende kurzfristige Kreditaufnahme gegen das grundsätzliche Ver‐ bot für Krankenkassen, Kredite aufzunehmen (damals § 220 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 i. V. m. § 222 SGB V a. F., jetzt § 220 Abs. 1 S. 2 SGB V), verstoße. Die Festgeldanlage der Klägerin verletze zugleich ihre Pflicht, Betriebsmittel für laufende Ausgaben in einer jederzeit verfügbaren Form (§ 260 Abs. 3 SGB V) und sicher anzulegen (§ 80 Abs. 1 SGB IV). Die (mittelbare) Kreditfinanzierung der Geldanlage lasse Verluste nicht ausgeschlossen erscheinen. Solche Geschäfte mit spekulativem Charakter dürften Sozialversicherungsträger nicht vornehmen. Denn die Entwicklung des Kreditmarktes sei nicht nur im Hinblick auf die Höhe der Zinsen, sondern auch bezüglich des prinzipiellen Angebots von Darlehen nicht zuverlässig einzuschätzen. 3.1.2 Verbände der Kranken- und Pflegekassen Alle Kranken- und Pflegekassen gehören dem GKV-Spitzenverband an, der zugleich als Spitzenverband Bund der Pflegekassen fungiert (§ 217a SGB V, § 53 SGB XI). Der Spitzenverband wurde im Jahr 2007 als Körperschaft des öffentlichen Rechts errichtet und übernahm ab dem 1.7.2008 die Aufgaben der damals bestehenden Bundesverbände der Krankenkassen. Die AOK-, IKK- und BKK-Bundesverbände verloren zum 1.1.2009 ihre Rechtsform als Körperschaft des öffentlichen Rechts und wurden kraft Gesetzes in Gesellschaften des bürgerlichen Rechts umgewandelt. Sofern die Bundesverbände heute noch bestehen, sind sie beratend und unterstützend für ihre Mitglieder tätig. Der GKV-Spitzenverband nimmt die ihm gesetzlich zugewiesenen Aufgaben wahr (§ 217 f SGB V, § 53 SGB XI). Beispielsweise bestimmt er die Arzneimittelfestbeträge und trifft die Erstattungsvereinbarung mit dem pharmazeutischen Unternehmer (vgl. Ab‐ schnitt 2.9.15.3) oder vereinbart mit dem Bundesamt für Soziale Sicherung das Nähere zur Durchführung des Finanzausgleichs zwischen den Pflegekassen (vgl. Abschnitt 3.1.7). Ferner unterstützt er die Kranken- und Pflegekassen und ihre Landesverbände bei der Erfüllung ihrer Aufgaben und bei der Wahrnehmung ihrer Interessen. Auf Landesebene besteht eine heterogene Verbandsstruktur. Die Ortskrankenkas‐ sen, die Betriebskrankenkassen und die Innungskrankenkassen bilden Landesverbände, die Körperschaften des öffentlichen Rechts sind (§ 207 SGB V). Die Landesverbände in verschiedenen Bundesländern können sich auch zusammenschließen. ➤ Beispiel Zum 1.1.2010 schlossen sich die beiden BKK Landesverbände Niedersachsen-Bre‐ men und Ost zum BKK Landesverband Mitte zusammen. Zum 1.7.2011 erfolgte eine weitere Fusion mit dem BKK Landesverband Rheinland-Pfalz und Saarland. Heute gehören dem BKK Landesverband Mitte die Betriebskrankenkassen aus den Ländern Berlin, Brandenburg, Bremen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen an. 346 3 Rechtliche Rahmenbedingungen für die Kostenträger <?page no="347"?> 488 Zweites Gesetz über die Krankenversicherung der Landwirte v. 20.12.1988, BGBl. I S. 2477, 2557, z. g. d. G v. 27.9.2021, BGBl. I S.-4530. Wenn nur eine Krankenkasse der gleichen Art im Bundesland besteht oder sich alle Mitgliedskassen eines Landesverbandes zu einer Krankenkasse vereinigen, tritt diese in die Rechte und Pflichten des Landesverbandes ein und übernimmt somit zugleich dessen Aufgaben (§ 207 Abs. 2a, 4 SGB V). ➤ Beispiel AOK - Die Gesundheitskasse für Niedersachsen Für die knappschaftliche Krankenversicherung nimmt die DRVKnBS die Aufgaben der Landesverbände wahr (§ 212 Abs. 3 SGB V). Für die landwirtschaftliche Krankenver‐ sicherung kommt diese Funktion der SVLFG zu (§ 36 KVLG 488 ). Die Ersatzkassen haben keinen Landesverband. Sie sind Mitglieder des bundesweit tätigen Verbandes der Ersatzkassen e. V. (vdek). Dieser Verband hat im Unterschied zu den Landesverbänden der BKK, AOK, IKK die Rechtsform eines eingetragenen Vereins und nimmt aufgrund entsprechender Bevollmächtigungen die Aufgaben der Ersatzkassen auf Landesebene wahr (vgl. § 212 Abs. 5 SGB V). ➤ Lernhinweis Das Fehlen eines Landesverbandes der Ersatzkassen sehen Sie auch am Wortlaut des Gesetzestextes. So lautet beispielsweise § 109 Abs. 1 S.-1 SGB V: „Der Versorgungsvertrag nach § 108 Nr. 3 kommt durch Einigung zwischen den Landesverbänden der Krankenkassen und den Ersatzkassen gemeinsam und dem Krankenhausträger zustande […].“ Die Landesverbände der AOK, BKK, IKK, die DRVKnBS, SVLFG sowie die Ersatzkassen nehmen zugleich die Aufgaben der Landesverbände der Pflegekassen wahr (§ 52 SGB XI). Die Landesverbände unterstützen zum einen die Mitgliedskassen bei der Erfüllung ihrer Aufgaben und bei der Wahrnehmung ihrer Interessen (§ 211 Abs. 2 SGB V). Zum anderen haben sie die ihnen gesetzlich zugewiesenen Aufgaben zu erfüllen (§ 211 Abs. 1 SGB V). So wirken sie beispielsweise an der Bedarfsplanung der vertragsärztli‐ chen Versorgung mit (vgl. Abschnitt 2.1.2.2) und schließen Versorgungsverträge mit verschiedenen Leistungserbringern zu deren Zulassung ab (vgl. Abschnitt 2.2.3.2 - Vertragskrankenhäuser, Abschnitt 2.4.2.2 - Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtun‐ gen, Abschnitt 2.5.2.3 - Pflegeheime, Abschnitt 2.6.3.4 - Pflegedienste). 3.1 Kranken- und Pflegekassen 347 <?page no="348"?> 3.1.3 Errichtung und Organisationsveränderungen der Kranken- und Pflegekassen Kranken- und Pflegekassen sind Körperschaften des öffentlichen Rechts, so dass für ihre Errichtungen, Zusammenschlüsse etc. ein staatlicher Hoheitsakt - ein Gesetz oder eine staatliche Entscheidung auf der Basis eines Gesetzes - notwendig ist. Das Organisationsrecht der gesetzlichen Krankenversicherungen, die §§ 149 ff. SGB V und § 46 Abs. 1, 5 SGB XI, regelt verschiedene Tatbestände. Eine Errichtung ist nur für die Betriebskrankenkassen geregelt. Die anderen Krankenkassen werden als existent vorausgesetzt. Für die Gründung einer Pflegekasse ist gem. § 46 Abs. 1 SGB XI der Beschluss der Krankenkasse und die Genehmigung der Aufsichtsbehörde notwendig. Im Übrigen ist für die Pflegekassen geregelt, dass für ihre Fusionen, Auflösungen und Schließung ebenfalls die §§-143 ff. SGB V gelten (§-46 Abs. 5 SGB XI). Abbildungsnummer: 57 Organisationsrecht §§ 149 ff. SGB V, § 46 SGB XI Organisationsrecht für Kranken- und Pflegekassen (§§ 143 ff. SGB V, § 46 SGB XI) BKK AOK, IKK, BKK, EK freiwillige Vereinigung, §§ 155, 158 SGB V Vereinigung durch Rechtsverordnung, §§ 156, 157 SGB V Schließung, § 159 SGB V Insolvenz, §§ 160-162 SGB V Errichtung, §§ 149, 150 SGB V Ausdehnung auf weitere Betriebe, § 151 SGB V Ausscheiden von Betrieben, § 152 SGB V Auflösung, § 153 SGB V Abbildung 55: Organisationsrecht §§ 149 ff. SGB V, § 46 SGB XI Für zwei praxisrelevante organisationsrechtliche Tatbestände sollen die gesetzlichen Voraussetzungen und Rechtsfolgen nachfolgend erläutert werden: ● Freiwillige Vereinigung von Krankenkassen gem. §§ 155, 158 SGB V, § 46 Abs. 5 SGB XI und ● Schließung von Krankenkassen gem. §-159 SGB V, §-46 Abs. 5 SGB-XI. Die §§ 155, 158 SGB V, § 46 Abs. 5 SGB XI ermöglichen den AOK, BKK, IKK sowie den EK nebst ihren jeweiligen Pflegekassen eine freiwillige Vereinigung. Diese kann 348 3 Rechtliche Rahmenbedingungen für die Kostenträger <?page no="349"?> 489 Vgl. § 1 der Satzung der Barmer vom 1.1.2017, https: / / www.barmer.de/ unsere-leistungen/ satzungen -1003580 (Abruf am 14.5.2022). 490 Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen i. d. F. d. Bek. v. 26.6.2013, BGBl. I S. 1750, 3245, z. g. d. G. v. 27.7.2021, BGBl. I S.-3274. sowohl innerhalb der Kassenart als auch kassenartübergreifend erfolgen. Für die beiden anderen Kassenarten, SVLFG und DRVKnBS, ist eine solche Fusion nicht vorgesehen. ➤ Beispiel │ Freiwillige Vereinigung Die Deutsche Betriebskrankenkasse und die Ersatzkasse Barmer GEK fusionierten mit Stichtag 1. Januar 2017 zur Barmer, einer Ersatzkasse. 489 Die §§ 155, 158 SGB V stellen für die freiwillige Vereinigung folgende Voraussetzungen auf: ● Die Verwaltungsräte der beteiligten Kassen müssen die Fusion beschließen (§-155 Abs. 1 S.-1 SGB V). ● Die beteiligten Kassen müssen die Genehmigung der Vereinigung bei der/ den zuständigen Aufsichtsbehörde/ n beantragen. Dem Antrag haben sie eine Satzung, einen Vorschlag zur Berufung der Mitglieder der Organe, ein Konzept zur Or‐ ganisations-, Personal- und Finanzstruktur der neuen Krankenkasse (inkl. Zahl und Verteilung ihrer Geschäftsstellen) sowie eine Vereinbarung über die Rechts‐ beziehungen zu Dritten beizufügen (§ 155 Abs. 2 S. 1 SGB V). Bei einer kassen‐ artübergreifenden Fusion müssen sie erklären, welche Kassenartzugehörigkeit aufrechterhalten bleiben soll (§-155 Abs. 2 S.-2 SGB V). ● Unter bestimmten Voraussetzungen muss die Vereinigung vom Bundeskartellamt gem. § 158 SGB V freigegeben werden. Die Zusammenschlusskontrolle kommt insbesondere zum Tragen, wenn die beteiligten Krankenkassen weltweite Umsatz‐ erlöse von mehr als 500 Mill. Euro und mindestens eine Krankenkasse im Inland Umsatzerlöse von mehr als 50 Mill. Euro und eine andere beteiligte Krankenkasse Umsatzerlöse von mehr als 17,5 Mill. Euro hat (§ 158 SGB V i. V. m. § 35 Abs. 1, 1a GWB 490 ). Die Krankenkassenbeiträge gelten in diesem Zusammenhang als Umsatzerlöse (§ 38 Abs. 4 S.-2 GWB). ● Gem. § 155 Abs. 1 S. 2 SGB V bedarf die freiwillige Vereinigung der Genehmigung der zuständigen Aufsichtsbehörde/ n. Ferner muss/ müssen die Aufsichtsbehörde/ n die Satzung genehmigen, die Mitglieder der Organe berufen sowie den Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Fusion bestimmen (§-155 Abs. 5 SGB V). Zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Fusion verlieren die bisherigen Kassen ihre Rechtsfähigkeit und die neue Kasse tritt in die Rechte und Pflichten der vereinigten Kassen ein (§ 155 Abs. 6 SGB V). Über die Schließung einer Krankenkasse und der bei ihr errichteten Pflegekasse entscheidet die zuständige Aufsichtsbehörde. Wenn ein gesetzlich geregelter Schließ‐ 3.1 Kranken- und Pflegekassen 349 <?page no="350"?> 491 Vgl. Baier, Soziale Krankenversicherung Pflegeversicherung Kommentar, § 159 SGB V Rn. 4. ungsgrund vorliegt, ist die Aufsichtsbehörde zur Schließung verpflichtet (§ 159 Abs. 1 SGB V, § 46 Abs. 5 SGB XI). Die Entscheidung steht nicht im Ermessen der Behörde. Nach § 159 Abs. 1 SGB V, § 46 Abs. 5 SGB XI ist die Krankenkasse und die bei ihr errichtete Pflegekasse zu schließen, wenn ihre Leistungsfähigkeit nicht mehr auf Dauer gesichert ist. Dieser Schließungsgrund knüpft daran an, dass die Kranken- und Pflegekasse dauerhaft finanziell nicht in der Lage ist, die gesetzlichen Regelleistungen zu erbringen. Kurzfristige finanzielle Engpässe genügen dagegen nicht. Ursachen für die fehlende Leistungsfähigkeit können beispielsweise sinkende Einnahmen infolge eines übermäßig hohen Mitgliederschwundes oder ein übermäßiger Mittelbedarf infolge einer stark veränderten Mitgliederstruktur sein. 491 ➤ Beispiel │ Schließung einer Krankenkasse Das Bundesversicherungsamt (jetzt Bundesamt für Soziale Sicherung) schloss zum 31.12.2011 die Betriebskrankenkasse für Heilberufe. Für die Betriebs- und Innungskrankenkassen sind weitere Schließungstatbestände vorgesehen: ● Der Betrieb schließt und die Betriebskrankenkasse ist nicht geöffnet (§ 159 Abs. 2 Nr. 1 SGB V). Eine nicht geöffnete Betriebskrankenkasse ist nur von den Beschäftigen des Arbeitgebers wählbar (vgl. Abschnitt 3.1.4). ● Die Errichtung der Betriebskrankenkasse (geöffnet oder nicht geöffnet) war und ist rechtswidrig (§ 159 Abs. 2 Nr.-2 SGB V). ● Die Errichtung der Innungskrankenasse war und ist rechtswidrig (§ 159 Abs. 3 SGB V). Die Liquidation der geschlossenen Kranken- und Pflegekasse ist in §§ 165 ff. SGB V geregelt: Die Kasse bleibt zum Zwecke der Abwicklung (teil-)rechtsfähig. Erst mit der Beendigung der Liquidation verliert sie ihre Rechtsfähigkeit. Für die Liquidation ist der Vorstand verantwortlich. Dieser hat die Schließung bekannt zu machen und die Gläubiger aufzufordern, ihre Forderungen innerhalb von sechs Monaten anzumelden. Die Mitglieder der Kranken- und Pflegekasse hat der Vorstand über ihr Kassenwahl‐ recht, das sie innerhalb von sechs Wochen auszuüben haben, sowie über die wählbaren Kassen zu informieren. Der zur Meldung verpflichteten Stelle hat er ebenfalls die Schließung und das Kassenwahlrecht mitzuteilen. Die zur Meldung verpflichteten Stellen sind in den §§ 198 ff. SGB V geregelt. Das sind z. B. die Arbeitgeber der Beschäftigten, die bei der geschlossenen Kranken- und Pflegekasse versichert sind. Die Abwicklung der Arbeitsverhältnisse der Arbeitnehmer der Kranken- und Pfle‐ gekasse richtet sich nach § 168 SGB V. Die dienstordnungsmäßigen Angestellten sind verpflichtet, eine von einer anderen Krankenkasse nachgewiesene dienstordnungsmä‐ ßige Stellung anzutreten, wenn die Stellung nicht in auffälligem Missverhältnis zu den 350 3 Rechtliche Rahmenbedingungen für die Kostenträger <?page no="351"?> 492 Vgl. BAG, Urteil vom 29. 9. 2010---10 AZR 588/ 09, NJW 2011, 476 ff. [477]. 493 Vgl. zum Unterbringungsverfahren BAG, Urt. v. 21.11.2013, 2 AZR 495/ 12, BeckRS 2014, 69410, Rn. 48 ff. 494 Vgl. Spitzenverband Bund der Krankenkassen, Versicherte je System, Stand 1.12.2019, https: / / www.g kv-spitzenverband.de/ service/ zahlen_und_grafiken/ zahlen_und_grafiken.jsp (Abruf am 13.3.2022). Fähigkeiten der Angestellten steht. Das Arbeitsverhältnis der dienstordnungsmäßigen Angestellten beruht zwar auf einem privatrechtlichen Arbeitsvertrag, wird allerdings normativ durch die Dienstordnung des Arbeitgebers bestimmt. 492 Diese Angestellten haben eine beamtenähnliche und regelmäßig nur aus wichtigem Grund kündbare Stellung, auch wenn sie keine Beamten sind. Den anderen Arbeitnehmern, denen nicht ordentlich gekündigt werden kann, ist im sog. Unterbringungsverfahren eine zumutbare Stelle bei einem Landesverband oder bei einer anderen Krankenkasse zu unterbreiten. Dafür ist jede Krankenkasse verpflichtet, entsprechend ihrem Anteil an der Zahl der Versicherten Anstellungen anzubieten. Lehnt der Arbeitnehmer die angebotene Stelle ab, endet das Arbeitsverhältnis am Tag der Schließung. 493 Den kündbaren Arbeitnehmern ist unter Beachtung der Kündigungsfrist zu kündigen, wenn keine unternehmensinterne Weiterbeschäftigungsmöglichkeit (z. B. zum Zwecke der Abwicklung) besteht. Wenn am Ende der Abwicklung Vermögen verbleibt, so erhält dieses der GKV-Spit‐ zenverband, der das Vermögen auf die übrigen Krankenkassen verteilt (§ 165 Abs. 3 SGB V). Für die gegenteilige Situation, dass das Vermögen nicht ausreicht, um die Gläubiger zu befriedigen, wird differenziert, ob es sich um eine nicht geöffnete Betriebskranken‐ kasse oder eine andere Kasse (inkl. geöffnete Betriebskrankenkasse) handelte. Bei einer nicht geöffneten Betriebskrankenkasse haftet/ haften zunächst der/ die Arbeitgeber (§ 166 Abs. 2 SGB V). Wenn dessen/ deren Vermögen ebenfalls ungenügend ist, müssen die übrigen Krankenkassen gem. § 167 SGB V finanziell einstehen. Bei der Schließung aller anderen Kassen und einem für die Gläubigerbefriedigung unzureichenden Ver‐ mögen haften die übrigen Krankenkassen gem. § 167 SGB V, mit Ausnahme der SVLFG (§ 17 S.-3 KVLG). 3.1.4 Mitglieder und Versicherte der Krankenkasse Die Kranken- und Pflegekassen sind Körperschaften des öffentlichen Rechts und somit eine Organisationsform, die an eine Mitgliedschaft anknüpft. Die Mehrzahl der Versicherten ist zugleich Mitglied. Daneben gehören die Familienversicherten der Kasse an, ohne zugleich Mitglied zu sein. Etwa 88 % der Bevölkerung sind gesetzlich kranken- und pflegeversichert. 494 3.1 Kranken- und Pflegekassen 351 <?page no="352"?> versicherter Personenkreis Mitglieder Familienversicherte Pflichtmitglieder freiwillige Mitglieder Abbildung 56: Versicherter Personenkreis der gesetzlichen Krankenversicherung § 5 SGB V regelt, welche Personen kraft Gesetzes versicherungspflichtig sind. Dieser Pa‐ ragraph wird ergänzt durch die §§ 6, 7 SGB V, die den versicherungsfreien Personenkreis festlegen, sowie § 8 SGB V, der eine Befreiung von der Versicherungspflicht auf Antrag zulässt. § 9 SGB V bestimmt, wer freiwilliges Mitglied einer Krankenkasse werden kann. § 10 SGB V stellt die Voraussetzungen für die Familienversicherungvon Ehegatten, Lebenspartnern und Kindern auf. Diese Regelungssystematik soll nachfolgend für einige Personengruppen dargestellt werden: ● Arbeiter, Angestellte und zu ihrer Berufsausbildung Beschäftigte, die gegen Ar‐ beitsentgelt beschäftigt sind, sind grundsätzlich versicherungspflichtig (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V). Die Frage, ob eine Beschäftigung vorliegt, ist anhand § 7 SGB IV zu klären. ● Arbeitnehmer, die geringfügig beschäftigt sind, sind jedoch versicherungsfrei (vgl. im Einzelnen § 7 SGB V i. V. m. §§ 8, 8a SGB IV). ● Arbeitnehmer mit einem regelmäßigen Entgelt oberhalb der Jahresarbeitsent‐ geltgrenze (2022: 64.350,- Euro jährlich) sind gem. § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB V ebenfalls versicherungsfrei. Sie können unter den Voraussetzungen des § 9 SGB V freiwilliges Mitglied einer Krankenkasse werden oder sich für eine private Krankenversicherung entscheiden. Arbeitnehmer, die wegen Überschreitens der Jahresarbeitsentgeltgrenze zunächst versicherungsfrei geworden waren, später aber wegen Anhebung der Jahresarbeitsentgeltgrenze ein Entgelt unterhalb der Grenze erzielen, können sich von der eintretenden Versicherungspflicht befreien lassen (§-8 Abs. 1 Nr.-1 SGB V). ● Beamte und Richter sind gem. § 6 Abs. 1 Nr. 2 SGB V versicherungsfrei. Sie erhalten für ihre Aufwendungen im Krankheitsfall eine (anteilige) Beihilfe von ihrem Dienstherrn und müssen sich für den vom Dienstherrn nicht gedeckten Kosten entweder gem. § 193 Abs. 3 VVG privat krankenversichern oder gem. § 9 Abs. 1 S.-1 Nr.-1 SGB V freiwilliges Mitglied einer Krankenkasse werden. 352 3 Rechtliche Rahmenbedingungen für die Kostenträger <?page no="353"?> 495 Vgl. z.-B. BSG, Urt. v. 21.7.1977, 7 RAr 132/ 75, BSGE 44, 164 ff. [165 f.]; Urt. v. 22.2.1980, 12 RK 34/ 79, BSGE 50, 25 ff. [26 f.]. ● Die hauptberuflich selbständigen Erwerbstätigen sind nicht versicherungspflich‐ tig (§ 5 Abs. 5 SGB V). Das gilt allerdings nicht für die landwirtschaftlichen Unternehmer sowie Künstler und Publizisten. Die Landwirte sind gem. § 5 Abs. 1 Nr. 3 SGB V i. V. m. dem KLVG versicherungspflichtig. Die Versicherungspflicht der Künstler und Publizisten folgt aus § 5 Abs. 1 Nr. 4 i. V. m. dem Künstlersozi‐ alversicherungsgesetz. Sofern ein Selbständiger nicht versicherungspflichtig ist, kommt eine freiwillige gesetzliche Versicherung gem. § 9 SGB V oder eine private Krankenversicherung gem. § 193 Abs. 3 VVG in Betracht. ● Personen, die Arbeitslosengeld I (siehe dazu §§ 136 ff. SGB III) beziehen, sind gem. § 5 Abs. 1 Nr.-2 SGB V versicherungspflichtig. ● Personen, die Arbeitslosengeld II (siehe dazu §§ 19 ff. SGB II) beziehen, sind gem. § 5 Abs. 1 Nr.-2a SGB V versicherungspflichtig. ● Studenten, die nicht familienversichert sind, sind bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres versicherungspflichtig. Danach sind sie nur versicherungspflichtig, wenn die Art der Ausbildung, persönliche oder familiäre Gründe die Überschrei‐ tung der Altersgrenze rechtfertigen (§ 5 Abs. 1 Nr. 9 SGB V). Während eines in der Prüfungs- oder Studienordnung vorgeschriebenen Praktikums sind die Studenten ebenfalls pflichtversichert (§ 5 Abs. 1 Nr. 10 SGB V). Ebenso sind Studenten der dualen Studiengänge gem. §-5 Abs. 4a SGB V versicherungspflichtig. Wenn ein Student neben seinem Studium einer Beschäftigung nachgeht, ist er bzgl. der Beschäftigung versicherungsfrei, wenn das sog. Werkstudentenprivileg gem. § 6 Abs. 1 Nr. 3 SGB V Anwendung findet. Danach muss die Beschäftigung einen gegenüber dem Studium untergeordneten Umfang haben. Insoweit orientiert sich die Rechtsprechung an einem Grenzwert von 20 Wochenstunden in der Vorlesungszeit. Bei einer höheren Wochenarbeitszeit kann im Einzelfall noch von einer untergeordneten Tätigkeit gesprochen werden, wenn die Arbeitszeit den Er‐ fordernissen des Studiums angepasst ist, weil sie z. B. in den Abend-, Nachtstunden oder am Wochenende liegt. In den Semesterferien kann eine Beschäftigung über die 20 Wochenstunden hinaus, auch in Vollzeit, ausgeübt werden; sie bleibt trotzdem versicherungsfrei. 495 ● Rentenantragsteller und Rentner sind versicherungspflichtig, wenn sie mindestens neun Zehntel der zweiten Hälfte ihres gesamten Erwerbslebens, das von der erst‐ maligen Aufnahme bis zum Tag des Rentenantrages gerechnet wird, als Mitglied oder Familienversicherte gesetzlich versichert waren (§-5 Abs. 1 Nr.-11 SGB V). Der Beginn und das Ende einer Mitgliedschaft in der Krankenkasse sind in den §§ 186 bis 193 SGB V geregelt. Beispielsweise besteht die Mitgliedschaft eines Arbeitnehmers vom ersten bis zum letzten Tag seines Beschäftigungsverhältnisses (§ 186 Abs. 1, § 190 Abs. 2 SGB V). Unter Umständen kann die Mitgliedschaft fortgelten, z. B. wenn und solange 3.1 Kranken- und Pflegekassen 353 <?page no="354"?> ein arbeitsunfähiger Arbeitnehmer über das Ende seines Beschäftigungsverhältnisses hinaus Krankengeld bezieht (§ 192 Abs. 1 Nr.-2 SGB V). Die Mitgliedschaft ist bei der gewählten Krankenkasse gem. § 175 Abs. 1 SGB V zu beantragen. Die Krankenkasse darf den Antrag nicht ablehnen, wenn die getroffene Wahl den Vorgaben der §§ 173, 174 SGB V entspricht. So dürfen beispielsweise sog. geöffnete Betriebskrankenkassen von Personen gewählt werden, die nicht in dem Betrieb beschäftigt sind, für den die Betriebskrankenkasse besteht, wenn es die Satzung der Kasse zulässt (vgl. § 173 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 SGB V). Anders verhält es sich bei den sog. nicht geöffneten Betriebskrankenkassen. Diese können nur von den im Betrieb Beschäftigten gewählt werden (§ 173 Abs. 2 S.-1 Nr.-3 SGB V). 3.1.5 Mitglieder und Versicherte der Pflegekasse In der sozialen Pflichtversicherung sind alle pflichtversichert, die in der gesetzlichen Krankenversicherung Pflichtmitglied, freiwilliges Mitglied oder Familienversicherter sind (§§ 20, 25 SGB XI). Freiwillige Mitglieder können sich und ihre familienversi‐ cherten Angehörigen befreien lassen, wenn sie für alle betroffenen Personen eine Pflegepflichtversicherung bei einem privaten Krankenversicherungsunternehmen ab‐ schließen (§ 22 SGB XI). Wenn die Versicherungspflicht endet, z. B. beim Erlöschen der Familienversicherung, besteht unter den in § 26 SGB XI geregelten Voraussetzungen die Möglichkeit einer Weiterversicherung. Diejenigen, die nicht in der gesetzlichen, sondern in der privaten Krankenversi‐ cherung abgesichert sind, müssen gem. § 23 SGB XI eine Pflegepflichtversicherung bei einem privaten Krankenversicherungsunternehmen abschließen (siehe dazu auch Abschnitt 3.2.4.1). Mit Einführung der Pflegeversicherung ist eine Absicherung des Risikos der Pfle‐ gebedürftigkeit, sei es bei einer Pflegekasse oder bei einem privaten Versicherer, für möglichst alle Einwohner der Bundesrepublik angestrebt worden. Deshalb regelt das Gesetz für weitere im Inland wohnende Personengruppen ohne gesetzlichen oder privaten Krankenversicherungsschutz eine Versicherungspflicht (vgl. § 21 SGB XI) sowie ein Beitrittsrecht (vgl. § 26a SGB XI). 3.1.6 Finanzierung und Verwendung der Mittel einer Krankenkasse Die finanziellen Mittel der gesetzlichen Krankenversicherung setzen sich aus Beiträgen und sonstigen Einnahmen zusammen. Das Finanzieren von Ausgaben durch Darlehen ist den Krankenkassen grundsätzlich untersagt; eine Darlehensaufnahme ist nur ausnahmsweise zur Finanzierung des Grundstückserwerbs, der Errichtung, der Erwei‐ terung oder des Umbaus von Gebäuden für eine Eigeneinrichtung der Krankenkasse mit Genehmigung der Aufsichtsbehörde möglich (§ 220 Abs. 1 SGB V). 354 3 Rechtliche Rahmenbedingungen für die Kostenträger <?page no="355"?> Abb. 59: Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung Mittel der Krankenversicherung Beiträge sonstige Einnahmen, wie z. B. allgemeiner Beitrag Zusatzbeitrag Bundeszuschuss für versicherungsfremde Leistungen § 221 SGB V Erstattungen von Dritten § 116 SGB X Rabattzahlung eines pharmazeutischen Unternehmers gem. § 130a Abs. 8 SGB V Abbildung 57: Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung Die Beiträge werden von den Mitgliedern und den Arbeitgebern entrichtet und bestim‐ men sich grundsätzlich nach den beitragspflichtigen Einnahmen der Mitglieder (§ 3 SGB V). Sie sind Teil des Gesamtsozialversicherungsbeitrages, den die Krankenkassen als Einzugsstelle einziehen (§§ 28d, 28i, 28h, 28k SGB IV). Für die Beitragsbemessung sind die beitragspflichtigen Einnahmen relevant, zu de‐ nen beispielsweise das Arbeitsentgelt, die Ausbildungsvergütung oder Rentenzahlung gehören (Näheres dazu in den §§ 226-240 SGB V). Diese Einnahmen werden jedoch nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze gem. § 223 Abs. 3 SGB V herangezogen, 2022 liegt die Grenze bei 58.050 Euro jährlich. Die Einnahmen oberhalb der Beitragsbemes‐ sungsgrenze sind grundsätzlich beitragsfrei. Der allgemeine Beitragssatz beträgt aktuell 14,6 % der beitragspflichtigen Einnahmen der Mitglieder (§ 241 SGB V). Für bestimmte Versichertengruppen - z. B. für versiche‐ rungspflichtige Studenten - regeln die §§ 243-248 SGB V ermäßigte Beitragssätze. Daneben gibt es den kassenindividuellen Zusatzbeitragssatz, den eine Krankenkasse für ihre Mitglieder in ihrer Satzung festlegt, wenn die Zuweisungen aus dem Gesund‐ heitsfonds den Finanzbedarf der Krankenkasse nicht deckt (§ 242 SGB V). Die Beiträge aus dem Arbeitsentgelt, die nach dem allgemeinen Beitragssatz ermit‐ telt werden, werden grundsätzlich paritätisch getragen, beispielsweise 3.1 Kranken- und Pflegekassen 355 <?page no="356"?> 496 Vgl. Bek. des Bundesamtes für Soziale Sicherung zum Gesundheitsfonds Nr.-1/ 2022 v. 22.11.2021, ht tps: / / www.bundesamtsozialesicherung.de/ fileadmin/ redaktion/ Risikostrukturausgleich/ Bekanntma chungen/ 20211123Bekanntmachung_01_2022.pdf (Abruf am 17.3.2022). ● im Fall eines Beschäftigten von diesem und seinem Arbeitgeber (§ 249 SGB V), ● im Fall eines Rentners von diesem und dem Träger der Rentenversicherung (§ 249a SGB V). Von dieser paritätischen Beitragstragung gibt es Ausnahmen für bestimmte Versicher‐ tengruppen, vgl. dazu §§ 249b-251 SGB V. Zudem wird der Zusatzbeitrag, den eine Krankenkasse nach §-242 SGB V erhebt, vom Mitglied allein getragen. ➤ Beispiel Eine Krankenkasse hat in ihrer Satzung einen Zusatzbeitragssatz von 0,9 geregelt. Das bedeutet für einen versicherungspflichtigen Arbeitnehmer, dass für ihn ein Beitragssatz von 8,2-% und für seinen Arbeitgeber in Höhe von 7,3 gilt. Die eingezogenen (Grund-)Beiträge und Zusatzbeiträge leitet die Krankenkasse an den Gesundheitsfonds (§ 271 SGB V) weiter. Dieser wird vom Bundesamt für Soziale Siche‐ rung als Sondervermögen verwaltet. Der Fonds erhält zudem einen Bundeszuschuss für versicherungsfremde Leistungen gem. § 221 SGB V. Aus den Mitteln des Gesund‐ heitsfonds muss eine Liquiditätsreserve gem. § 271 Abs. 2-3 SGB V gebildet werden. Des Weiteren erhalten die Krankenkassen aus dem Gesundheitsfonds Zuweisungen zur Deckung ihrer Ausgaben. Diese Zuweisungen sind mit einem Risikostrukturausgleich verknüpft, durch den die Leistungsausgaben der Krankenkassen, die wegen der Risi‐ komerkmale ihrer Versicherten unterschiedlich hoch sind, ausgeglichen werden. Dafür werden die Versicherten nach Alter, Geschlecht, Morbidität, regionalen Merkmalen und danach, ob die Mitglieder Anspruch auf Krankengeld haben, verschiedenen Risikogruppen zugeordnet (§ 266 Abs. 2 SGB V). Die Zuweisung an die Krankenkassen aus dem Gesundheitsfonds besteht aus einer für alle Kassen einheitlichen Grundpauschale sowie alters-, geschlechts- und risikoadjustierten Zu- und Abschlägen für ihre standardisierten (nichtindividuellen) Leistungsausgaben. Die Grundpauschale entspricht den durchschnittlichen Leistungs‐ ausgaben pro Versicherten in der gesetzlichen Krankenversicherung, so dass die tatsächlichen Ausgaben einer Krankenkasse je nach Versichertenstruktur ober- oder unterhalb des Durchschnitts liegen können. ➤ Beispiel Für 2022 beträgt die monatliche Grundpauschale 304,945182371836 Euro je Versi‐ cherten. 496 Um die unterschiedliche Verteilung der Versicherten bei den Krankenkassen auszu‐ gleichen, wird die Grundpauschale durch Zu- und Abschläge angepasst. Um die Zu- 356 3 Rechtliche Rahmenbedingungen für die Kostenträger <?page no="357"?> 497 Anlage zur Bek. des Bundesamtes für Soziale Sicherung zum Gesundheitsfonds Nr. 1/ 2022 v. 22.11.2021 https: / / www.bundesamtsozialesicherung.de/ de/ themen/ risikostrukturausgleich/ anlagen / (Abruf 17.3.2022). 498 Ebd. und Abschläge angemessen zu staffeln, werden mehrere Gruppen gebildet und jeder Versicherte wird einer Gruppe zugeordnet. Es werden Gruppen nach Geschlecht und Alter (in Abständen von fünf Jahren sowie gesondert für Neugeborene) gebildet, um die unterschiedlichen Leistungsausgaben, die mit dem Alter und Geschlecht der Versicherten zusammenhängen, zu kompensieren. Beispielsweise nehmen jüngere Versicherte regelmäßig weniger Leistungen in Anspruch und sind dadurch für eine Krankenkasse kostengünstiger, so dass die Grundpauschale durch einen Abschlag reduziert wird. Anders verhält es sich z. B. bei Neugeborenen, die einen höheren Leistungsbedarf haben, so dass die Grundpauschale mit einem Zuschlag aufgestockt wird. ➤ Beispiel Für 2022 beträgt der monatliche alters- und geschlechtsbezogene Abschlag für Gruppe 5 [weiblich, 18 bis 24 Jahre] -190,629336421333 Euro. 497 Ferner werden Gruppen für Versicherte gebildet, die im Vorjahr mindestens 183 Tage ihren Wohnsitz im Ausland hatten (unterschiedliche Gruppen nach Alter und Geschlecht) oder mindestens 183 Tage die Kostenerstattung nach § 13 Abs. 2 SGB V oder § 53 Abs. 4 SGB V in Anspruch genommen haben. Die Versichertenklassifikation hinsichtlich des Krankengeldzuschlages erfolgt nach Alter und Geschlecht. ➤ Beispiel Für 2022 beträgt der monatliche Zuschlag für die Gruppe KEG002 [Versicherte mit mind. 183 Tage mit Kostenerstattung nach § 13 Abs. 2 SGB V im Vorjahr, 30-59 Jahre im Ausgleichsjahr] 58,736778456054 Euro. Für die Gruppe AUSAGG007 [weiblich, 30-34 Jahre, Ausland im Vorjahr] beträgt der Abschlag 75,572318030128 Euro. Der monatliche Krankengeldzuschlag für die Versicherten der Gruppe KAGG112 [männlich, 20 Jahre] beträgt 4,924878959028 Euro für 2022. 498 Zur Berücksichtigung von unterschiedlichen Krankheitsrisiken der Versicherten wer‐ den Morbiditätsgruppen für Krankheiten gebildet, die einen hohen Versorgungsbedarf haben und somit für die Krankenkassen ausgabenintensiv sind. Zu diesen Krankheiten gehören z. B. HIV/ AIDS, Diabetes mellitus, Demenz. Die hohen finanziellen Auswir‐ kungen für eine Krankenkasse werden durch entsprechende Zuschläge zur Grundpau‐ schale ausgeglichen. Die Einstufung der Versicherten in die Morbiditätsgruppen ist von entsprechenden ärztlichen Diagnosen und Arzneimittelverordnungen abhängig. 3.1 Kranken- und Pflegekassen 357 <?page no="358"?> 499 Ebd. 500 Verordnung über das Verfahren zum Risikostrukturausgleich in der gesetzlichen Krankenversiche‐ rung (Risikostruktur-Ausgleichsverordnung, RSAV) v. 3.1.1994, BGBl. I S. 55, z. g. d. G v. 11.7.2021, BGBl. I S.-2754. 501 Vgl. z. B. Sondergutachten zu den Wirkungen des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs vom 27.11.2017, https: / / www.bundesamtsozialesicherung.de/ de/ themen/ risikostrukturausgleich/ wi ssenschaftlicher-beirat/ (Abruf am 17.3.2022). 502 Vgl. RegE des Gesetzes zur Weiterentwicklung der Finanzstruktur und der Qualität in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-FQWG), BTag-Drucks. 18/ 1307, S.-49. ➤ Beispiel Für 2022 beträgt der monatliche Zuschlag für die Morbiditätsgruppe 019 [Diabetes ohne Komplikationen] 32,920079024833 Euro. 499 Je nach Zuordnung der Versicherten zu den verschiedenen Gruppen erhält die Krankenkasse Zu- und Abschläge zur Grundpauschale. Ferner erhalten die Krankenkassen aus dem Gesundheitsfonds gem. § 270 SGB V weitere Zuweisungen für Verwaltungsausgaben, für bestimmte Satzungs- und Ermessensleistungen sowie für die Entwicklung und Durchführung von strukturierten Behandlungsprogrammen. Maßgeblich sind für diese Zuweisungen stan‐ dardisierte Kosten, nicht die tatsächlich entstandenen Kosten der Krankenkasse. Die Einzelheiten des Risikostrukturausgleichs sind in den §§ 266 ff. SGB V und der Risikostruktur-Ausgleichsverordnung 500 geregelt. Der Risikostrukturausgleich un‐ terliegt einer regelmäßigen Weiterentwicklung mit dem Ziel, die Zielgenauigkeit der Zuweisungen an die Krankenkassen zu erhöhen, um den Wettbewerb zwischen den Krankenkassen fairer zu gestalten. Für das wettbewerbliche Handeln der Krankenkas‐ sen sollen nicht die Risikoselektion, sondern die Wirtschaftlichkeit und Qualität der Leistungsversorgung maßgeblich sein. Zur Weiterentwicklung des Risikostrukturausg‐ leichs werden dessen Wirkungen durch den beim Bundesamt für Soziale Sicherung gebildeten wissenschaftlichen Beirat begutachtet. 501 Dessen Empfehlungen bilden regelmäßig die Basis für entsprechende gesetzliche Änderungen. Die Zusatzbeiträge gehen nicht in den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich ein. Sie werden einem gesonderten Ausgleich gem. §-270a SGB V unterworfen. Im Ergebnis dieses Ausgleichs erhalten die Kassen, die einen Zusatzbeitrag erheben, eine Zuweisung je Mitglied, die sich aus der Multiplikation ihres Zusatzbeitragssatzes mit dem voraussicht‐ lichen durchschnittlichen beitragspflichtigen Einnahmen je Mitglied aller Krankenkassen ergibt (§-270a Abs. 2 SGB V). Mit anderen Worten: Die Krankenkasse bekommt nicht ihren individuellen, sondern einen Zusatzbeitrag zugewiesen, der auf den durchschnittlichen bei‐ tragspflichtigen Einnahmen in der gesetzlichen Krankenversicherung basiert. Damit sollen Wettbewerbsverzerrungen aufgrund unterschiedlich hoher beitragspflichtiger Einnahmen der Kassenmitglieder verhindert werden. 502 Neben den Mitteln aus dem Gesundheitsfonds erhalten die Krankenkassen Zahlun‐ gen von Dritten, z. B. Rabatte der pharmazeutischen Unternehmen nach § 130a Abs. 8 SGB V für Arzneimittel, die zulasten der Krankenkasse abgegeben worden sind. 358 3 Rechtliche Rahmenbedingungen für die Kostenträger <?page no="359"?> Abb. 60: Zahlungsströme in der gesetzlichen Krankenversicherung Zusatzbeitrag (Grund-) Beitrag Gesundheitsfonds (Sondervermögen des Bundesversicherungsamtes) (nur Krankenkasse, die Zusatzbeitrag erhebt) Beitrag gemäß Einkommensausgleich Grundpauschale, risikoadjustierte Zu- und Abschläge, Zuweisung für sonstige Ausgaben Bildung einer Liquiditätsreserve Bundeszuschuss Dritte, z. B. pharmazeutische Unternehmen sonstige Zahlungen ( Grund-) Beitrag (Grund-) Beitrag Zusatzbeitrag Mitglieder oder Dritte für bestimmte Versichertengruppen Arbeitgeber oder Selbstzahler Direktzahler Bund Krankenkasse als Einzugsstelle Krankenkasse Abbildung 58: Zahlungsströme in der gesetzlichen Krankenversicherung 3.1 Kranken- und Pflegekassen 359 <?page no="360"?> Die Mittel, die eine Krankenkasse vereinnahmt und für die Erledigung ihrer Aufgaben einzusetzen hat, gliedern sich in ● Betriebsmittel (§ 260 SGB V) Betriebsmittel sind lt. der Definition in § 81 SGB IV kurzfristig verfügbare Mittel zur Bestreitung der laufenden Ausgaben sowie zum Ausgleich von Einnahme- und Ausgabeschwankungen. Sie dürfen nur für die Aufgaben der Krankenkasse, die durch Gesetz oder Satzung vorgesehen sind, für die Verwaltungskosten, die Auffüllung der Rücklage und zur Bildung von Verwaltungsvermögen eingesetzt werden. Dagegen dürfen sie nicht für die Erledigung der Aufgaben der Pflegekasse verwendet werden, weil diese über eigene Betriebsmittel verfügt. Zudem unterliegt die Mittelverwendung dem Geboten der Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit gem. §-69 Abs. 2 SGB IV. ● Rücklage (§ 261 SGB V) Zweck der Rücklage ist es, die Leistungsfähigkeit der Krankenkasse zu sichern, ins‐ besondere für den Fall, dass Einnahme- und Ausgabeschwankungen nicht (mehr) durch Betriebsmittel ausgeglichen werden können (§ 82 SGB IV). Wenn durch die Entnahme von Mitteln aus der Rücklage das in der Satzung bestimmte Rücklagen‐ soll unterschritten wird, besteht eine Auffüllpflicht gem. der gesetzlichen Vorgaben in § 261 Abs. 4 SGB V. Für den umgekehrten Fall, dass die tatsächliche Rücklage größer als das Soll ist, muss der übersteigende Betrag den Betriebsmitteln zugeführt werden (§ 261 Abs. 5 SGB V). Die Rücklage ist getrennt von den sonstigen Mitteln und unter Berücksichtigung der Vorgaben in § 83 SGB IV anzulegen. Andere Anlageformen benötigen die Genehmigung der Aufsichtsbehörde (§ 86 SGB IV). ● Verwaltungsvermögen (§ 263 SGB V) Zum Verwaltungsvermögen gehören alle Vermögenswerte, die der Erfüllung der Aufgaben sowohl der Krankenals auch der Pflegekasse dienen und nicht den Be‐ triebsmitteln, der Rücklage oder einem Sondervermögen zuzuordnen sind. Da die Pflegekasse wegen der organisatorischen Verknüpfung mit der Krankenkasse kein eigenes Verwaltungsvermögen hat, sind ihre Aufgaben für die Zweckbestimmung ebenfalls relevant. Zu den Vermögenswerten gehören zum einen beispielsweise Grundstücke, Gebäude, Fahrzeuge sowie entsprechende Rückstellungen für künf‐ tige Anschaffungen und Erneuerungen derartiger Werte. Dagegen stellen die Mittel für deren laufende Ausgaben, z. B. im Fall einer Reparatur, Betriebsmittel dar. Zum anderen werden die Rückstellungen für die künftig zu zahlenden (lang‐ fristigen) Versorgungsbezügen der Bediensteten und ihrer Hinterbliebenen dem Verwaltungsvermögen zugeordnet. 3.1.7 Finanzierung und Verwendung der Mittel einer Pflegekasse Die Finanzierung der Pflegeversicherung ist in den §§ 54-68 SGB XI geregelt und ent‐ spricht in weiten Teilen der Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung. Die Mittel der Pflegeversicherung bilden ebenfalls die Beiträge und sonstige Einnahmen. 360 3 Rechtliche Rahmenbedingungen für die Kostenträger <?page no="361"?> Wie in der gesetzlichen Krankenversicherung sind für die Beitragsbemessung die beitragspflichtigen Einnahmen der Mitglieder relevant, zu denen beispielsweise das Arbeitsentgelt, die Ausbildungsvergütung oder Rentenzahlung gehören (Näheres dazu in den § 57 SGB XI). Diese Einnahmen werden gem. § 55 Abs. 2 SGB XI ebenfalls nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze herangezogen. Der allgemeine Beitragssatz beträgt aktuell 3,05 % der beitragspflichtigen Einnahmen der Mitglieder (§ 55 Abs. 1 SGB XI). Die Beiträge aus dem Arbeitsentgelt, die nach dem allgemeinen Beitragssatz ermittelt werden, werden vom Arbeitgeber und Arbeitneh‐ mer grundsätzlich paritätisch getragen. Eine Ausnahme besteht für die Beschäftigten des Freistaates Sachsen, in dem seinerzeit ein Wochentags-Feiertag nicht abgeschafft worden ist. Deshalb verschiebt sich der Beitragssatz gem. § 58 Abs. 3 SGB XI auf 2,025 % für den Arbeitnehmer sowie 1,025 % für den Arbeitgeber. Weitere Abweichungen der paritätischen Beitragstragung regeln die §§ 58, 59 SGB XI. Beispielsweise trägt der Arbeitgeber die Beiträge allein, soweit für Beschäftigte Beiträge für Kurzarbeitergeld zu zahlen sind. Für kinderlose, nach dem 31.12.1939 geborene Mitglieder erhöht sich der Beitragssatz ab dem vollendeten 23. Lebensjahres um 0,35 Beitragssatzpunkte. Der daraus resultie‐ rende Beitragszuschlag ist vom Mitglied allein zu tragen (§ 55 Abs. 3, § 58 Abs. 1 S. 3 SGB-XI). Die Beiträge werden als Teil des Gesamtsozialversicherungsbeitrags von der Kran‐ kenkasse gem. § 28k SGB IV eingezogen und an die Pflegekasse (nicht an den Gesundheitsfonds) weitergeleitet. Da die beitragspflichtigen Einnahmen der Mitglieder der einzelnen Pflegekassen unterschiedlich hoch sind, gleichwohl aber einem einheit‐ lichen Beitragssatz unterworfen sind, erzielen die Pflegekassen unterschiedlich hohe Beitragseinnahmen. Das bedeutet wiederum, dass die Überschüsse und Defizite in den Kassen unterschiedlich verteilt sind. Deshalb findet zwischen den Pflegekassen bezogen auf ihre Aufwendungen für Leistungen an die Versicherten sowie ihre Verwaltungskosten ein Finanzausgleich in der Verantwortung des Bundesamtes für Soziale Sicherung gem. §§ 66-68 SGB XI statt. Dazu melden die Pflegekassen monatlich ihre Einnahmen, Ausgaben sowie jeweils die Ist- und Sollbeträge ihrer Betriebsmittel und Rücklage. Abhängig von der finanziellen Situation erhält die Pflegekasse entweder eine Erstattung oder muss ihrerseits eine Zahlung tätigen: 3.1 Kranken- und Pflegekassen 361 <?page no="362"?> 503 Vereinbarung des GKV-Spitzenverbandes und dem Bundessamt für Soziale Sicherung zur Durchfüh‐ rung des Finanzausgleichs nach § 66 Abs. 1 Satz 4 und 5 SGB XI v. 1.9.2020, https: / / www.bundesam tsozialesicherung.de/ fileadmin/ redaktion/ Pflegeversicherung/ Finanzausgleich/ 20200827_Vereinbar ung____66_Abs._1_S._4_und_5_SGB_XI.pdf (Abruf am 19.3.2022). Ausgaben zzgl. Betriebsmittelsoll zzgl. Rücklagensoll Einnahmen zzgl. Betriebsmittelbestand zzgl. Rücklage Erstattung des Unterschiedsbetrages aus dem Ausgleichsfonds > Einnahmen zzgl. Betriebsmittelbestand zzgl. Rücklage Ausgaben zzgl. Betriebsmittelsoll zzgl. Rücklagensoll Überweisung des Unterschiedsbetrages an den Ausgleichsfonds > Abbildung 59: Finanzausgleich und Ausgleichsfonds Der in der Abbildung genannte Ausgleichsfonds ist eine kassenübergreifende Schwankungsreserve, um die Liquidität aller Pflegekassen jederzeit zu gewährleisten. Der Fonds wird als Sondervermögen vom Bundesamt für Soziale Sicherung verwaltet und hat neben den Zahlungen der Pflegekassen weitere Einnahmen, wie z. B. Bundes‐ mittel in Höhe von jährlich 1 Milliarde Euro zur Finanzierung der Aufwendungen der sozialen Pflegeversicherung (vgl. § 61a SGB XI) und Beiträge aus Rentenzahlungen (vgl. § 65 SGB XI). Nähere Einzelheiten des Finanzausgleichs und des Ausgleichsfonds sind in einer Vereinbarung zwischen dem GKV-Spitzenverband und dem Bundesamt für Soziale Sicherung geregelt. 503 Die Mittel der Pflegekasse, die sie vereinnahmt und für die Erledigung ihrer Aufgaben einzusetzen hat, umfassen ● Betriebsmittel (§ 63 SGB XI) Hier gilt ebenfalls die Definition aus § 81 SGB IV (siehe Abschnitt 3.1.7). Die Betriebs‐ mittel sind wie bei der Krankenkasse nur für die im Gesetz und in der Satzung vorgesehenen Aufgaben, für die Verwaltungskosten und für die Auffüllung der Rück‐ lage zu verwenden. Des Weiteren dienen sie der Finanzierung des Ausgleichsfonds. Die Betriebsmittel sind gesetzlich auf den sich aus dem Haushaltsplan ergebenden Monatsbetrag für die gesetzlichen und satzungsmäßigen Aufgaben und Verwaltungs‐ kosten begrenzt. Darüber hinaus gehende Mittel sind der Rücklage oder, wenn deren Soll erreicht ist, dem Ausgleichsfonds zuzuführen (siehe auch oben). ● Rücklage (§ 64 SGB XI) Die Pflegekasse hat wie die Krankenkasse zur Sicherung ihrer Leistungsfähigkeit eine Rücklage zu bilden und getrennt von den sonstigen Mitteln unter Berücksich‐ tigung der Vorgaben des § 83 SGB IV anzulegen. Wenn das Rücklagensoll erreicht 362 3 Rechtliche Rahmenbedingungen für die Kostenträger <?page no="363"?> 504 Bestimmung des GKV-Spitzenverbandes nach § 46 Abs. 3 SGB XI über die Verteilung der Verwal‐ tungskostenerstattung der sozialen Pflegeversicherung v. 15.12.2020, https: / / www.bundesamtsoziale sicherung.de/ fileadmin/ redaktion/ Pflegeversicherung/ Finanzausgleich/ 20210202_Bestimmung__20 20__Pflege-Verwaltungskosten.pdf (Abruf am 19.03.2022). ist, muss der übersteigende Betrag den Betriebsmitteln zugeführt werden, soweit dessen Soll unterschritten ist. Wenn das nicht der Fall ist, muss der übersteigende Betrag an den Ausgleichsfonds überwiesen werden (siehe auch oben). Anders als die Krankenkasse hat die Pflegekasse kein (eigenes) Verwaltungsvermögen, da sie organisatorisch an die Krankenkasse angebunden ist. Für die Nutzung der personellen und sachlichen Ressourcen der Krankenkasse hat die Pflegekasse eine Verwaltungskostenpauschale gem. § 46 Abs. 3, 4 SGB XI an die Krankenkasse zu entrichten. Nähere Einzelheiten für die Erstattung regelt die Pflege-Verwaltungskos‐ tenbestimmung des GKV-Spitzenverbandes. 504 3.1.8 Nach außen gerichtete öffentlich-rechtliche Handlungsformen der Kranken- und Pflegekasse Die Kranken- und Pflegekasse kann unternehmerisch wie andere Privatrechtssubjekte (z. B. AG, GmbH, OHG) am Wirtschaftsverkehr teilnehmen, indem sie beispielsweise Kauf-, Miet- und Arbeitsverträge abschließt. Daneben stehen ihr als Teil der mittelba‐ ren Staatsverwaltung (vgl. Abschnitt 3.1.2) die dem Staat vorbehaltenen Handlungs‐ formen zur Verfügung, um z. B. über Ansprüche eines Versicherten zu entscheiden oder Verträge mit Leistungserbringern abzuschließen. Sie kann Verwaltungsakte und Satzungen erlassen, Realakte vornehmen oder öffentlich-rechtliche Verträge schließen. ➤ Beispiel Verwaltungsakt: Bewilligung von Krankengeld gem. §§ 44 ff. SGB V; Gewährung von Pflegegeld gem. § 37 SGB XI, Zulassung eines Heilmittelerbringers zur Versorgung der gesetzlich Versicherten durch eine Ersatzkasse gem. § 124 SGB V Realakt: Information der Versicherten durch eine Krankenkasse über die Hilfs‐ mittelverträge gem. § 127 Abs. 5 SGV V; Transparenzbericht der Landesverbände der Pflegekassen gem. § 115 Abs. 1a SGB XI Öffentlich-rechtlicher Vertrag: Vertrag zwischen einer Krankenkasse und einem Hilfsmittellieferanten gem. § 127 SGB V; Versorgungsvertrag zwischen einem Krankenhausträger und den Landesverbänden der Krankenkassen und den Ersatzkassen gem. § 109 SGB V; Rahmenvertrag zwischen den Landesverbänden der Pflegekassen und den Vereinigungen der Träger der ambulanten Pflegeein‐ richtungen im Land gem. §-75 SGB XI; Pflegesatzvereinbarung gem. §-85 SGB XI Satzung: (Haupt-)Satzung einer Krankenkasse gem. § 194 SGB V und einer Pflegekasse gem. § 47 SGB XI; Festlegung des Zusatzbeitrages gem. § 242 SGB V; 3.1 Kranken- und Pflegekassen 363 <?page no="364"?> 505 Ständige Rechtsprechung des BSG, vgl. z.-B. Urt. v. 22.04.2015, B 3 KR 3/ 14 R, NZS 2015, 662ff. [663] m. w. N. Satzung über Wahltarife gem. § 53 SGB V; Satzung über zusätzliche Leistungen gem. § 11 Abs. 6 SGB V ➤ Lernhinweis Repetieren Sie den Begriff, das Zustandekommen sowie die Anforderungen an die Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsaktes, eines öffentlich-rechtlichen Vertrages, eines Realaktes sowie einer Satzung mit Hilfe eines Lehrbuchs zum Allgemei‐ nen Sozialrecht und Sozialverwaltungsrecht. Die einzelnen Handlungsformen unterliegen unterschiedlichen gesetzlichen Vorgaben, z. B. im Hinblick auf den Verfahrensablauf. Deshalb müssen Sie für eine Tätigkeit bei einer Kranken- und Pflegekasse in der Lage sein, das Handeln juristisch richtig einzuordnen, und die jeweiligen gesetzlichen Anforderungen kennen, um Fehler zu vermeiden. 3.1.9 Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung Sachlicher Schutzbereich der gesetzlichen Krankenversicherung ist das Risiko der Krankheit. Das heißt, die Leistungspflicht der Krankenkasse setzt das Vorliegen einer Krankheit voraus. Die Krankheit ist nicht gesetzlich definiert. Jedoch gibt es einen in der Rechtsprechung fest verankerten Begriff: ❋ Wissen-│-Krankheit Krankheit ist ● ein regelwidriger, vom Leitbild des gesunden Menschen abweichender körper‐ licher, geistiger oder seelischer Zustand, ● der den Versicherten in seinen Körperfunktionen beeinträchtigt oder der entstellend wirkt und ● der eine Behandlungsbedürftigkeit und/ oder Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat. 505 Die Versicherten erhalten die Leistungen gem. § 2 Abs. 2 SGB V grundsätzlich als Sach- oder Dienstleistung (sog. Naturalleistungsprinzip oder Sachleistungsprinzip). Eine Kostenerstattung kommt nur in Betracht, wenn ● es im SGB V oder SGB IX vorgesehen ist (vgl. § 13 Abs. 1 SGB V), ● der Versicherte für mindestens ein Kalendervierteljahr eine Kostenerstattung gem. § 13 Abs. 2 SGB V wählt, 364 3 Rechtliche Rahmenbedingungen für die Kostenträger <?page no="365"?> 506 Vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 28.2.2013, L 5 KN 182/ 10 KR, PharmR 2013, 360 ff. 507 Vgl. BSG, Urt. v. 2.9.2014, B 1 KR 11/ 13 R, NZS 2015, 26 ff. ● die Krankenkasse in ihrer Satzung einen Wahltarif für eine Kostenerstattung geregelt und der Versicherte diesen Tarif (für mindestens ein Jahr) gewählt hat (§-53 Abs. 4, 8 S.-1 SGB V), ● die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbracht hat und dem Versicherten dadurch für eine selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind (§ 13 Abs. 3 SGB V), ● die Krankenkasse eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dem Versicherten dadurch für eine selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind (§ 13 Abs. 3 SGB V). ➤ Beispiel │ zu Unrecht abgelehnte Leistung Die Versicherte beantragte die Durchführung von Lucentis-Injektionen (1.523,96 Euro je Einmalspritze) zur Behandlung ihrer feuchten altersbedingten Makula‐ degeneration (AMD). Die Krankenkasse verwies sie auf die Behandlung im städtischen Krankenhaus, das die Einmalspritze auf zwei oder drei patientenge‐ rechte Darreichungen aufteile, so dass jede Injektion nur 891,78 Euro koste. Diese Aufteilung entsprach jedoch nicht der arzneimittelrechtlichen Zulassung von Lucentis, die zur Wahrung der Sterilität nur einen einmaligen Gebrauch der Durchstechflasche, Injektionsnadel, Filterkanüle und Spritze vorsah. Das LSG 506 sah in der Entscheidung der Krankenkasse eine rechtswidrige Ableh‐ nung und bejahte einen Kostenerstattungsanspruch der Versicherten gem. § 13 Abs. 3 SGB V. Das BSG 507 wies die Revision der Krankenkasse zurück. Die Leistungen der Krankenversicherung) lassen sich in verschiedene Arten einteilen: Abbildungsnummer: 60 Leistungsarten der gesetzlichen Krankenversicherung Leistungsarten Regelleistungen, §§ 11-66 SGB V alternative Leistungen, § 2 Abs. 1a SGB V Satzungsleistungen, § 11 Abs. 6 SGB V Abbildung 60: Leistungsarten der gesetzlichen Krankenversicherung Die Regelleistungen umfassen die gesetzlich vorgesehenen Leistungen, die alle Kran‐ kenkassen erfüllen müssen (siehe → Abbildung 61). 3.1 Kranken- und Pflegekassen 365 <?page no="366"?> Regelleistungen §§ 11-66 SGB V Leistungen bei Schwangerschaft und Mutterschaft, §§ 24c-24i SGB V Leistungen zum Verhüten von Krankheiten, §§ 20-24 SGB V Versorgungsmanagement, § 11 Abs. 4 SGB V Leistungen bei Empfängnisverhütung, Sterilisation und Schwangerschaftsabbruch, §§ 24a-24b SGB V Leistungen zur Früherkennung von Krankheiten, §§ 25-26 SGB V medizinische Rehabilitation, unterhaltssichernde und andere ergänzende Leistungen bei Behinderung und Pflegebedürftigkeit gem. § 11 Abs. 2 SGB V i.V.m. SGB IX persönliches Budget gem. § 29 SGB IX Fahrtkosten, § 60 SGB V Leistungen zur Behandlung einer Krankheit, §§ 27-52 SGB V ärztliche Behandlung einschließlich Psychotherapie Zweimeinung zahnärztliche und kieferorthopädische Behandlung Versorgung mit Zahnersatz einschließlich Zahnkronen und Suprakonstruktionen Versorgung mit Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln, digitalen Gesundheitsanwendungen Krankenhausbehandlung Übergangspflege im Krankenhaus häusliche Krankenpflege Soziotherapie außerklinische Intensivpflege Kurzzeitpflege bei fehlender Pflegebedürftigkeit Haushaltshilfe nichtärztliche Leistungen für Erwachsene mit geistiger Behinderung oder schweren Mehrfachbehinderungen nichtärztliche sozialpädiatrische Leistung spezialisierte ambulante Palliativversorgung Hospizleistungen medizinische und ergänzende Leistungen zur Rehabilitation sowie Belastungserprobung und Arbeitstherapie Krankengeld medizinische Maßnahmen zur Herbeiführung einer Schwangerschaft Leistungen für lebende Blut- und Organspender Abbildung 61: Gesetzliche Regelleistungen gem. §§ 11 bis 66 SGB V 366 3 Rechtliche Rahmenbedingungen für die Kostenträger <?page no="367"?> 508 Vgl. Gerlach, Sozialgesetzbuch-Gesamtkommentar, SGB V § 23 Rn. 17. 509 BVerfG, Beschl. v. 6.12.2005, 1 BvR 347/ 98, NJW 2006, 891 ff. Die Leistungen zur Verhütung, Früherkennung und Behandlung von Krankheiten las‐ sen sich nicht immer leicht unterscheiden und die Übergänge sind manchmal fließend. Im Allgemeinen lassen sie sich wie folgt differenzieren: 508 Die Leistungen zur Verhütung von Krankheiten zielen zum einen darauf ab, die Gesundheit des Versicherten zu bessern und sozial- oder arbeitsbedingte ungleiche Gesundheitschancen zu vermindern (vgl. §§ 20-22a SGB V). Zum anderen knüpfen diese Leistungen gem. § 23 SGB V an eine drohende, aber noch nicht eingetretene Erkrankung an (vgl. Abschnitt 2.4.1. zur me‐ dizinischen Vorsorge). Die Leistungen der Früherkennung von Krankheiten bezwecken, Erkrankungen in bestimmten Risikogebieten (z. B. Tumorerkrankungen) frühzeitig festzustellen (§§ 25-26 SGB V). Die Leistungen der Krankenbehandlungknüpfen an eine festgestellte Erkrankung an und zielen auf deren Heilung, Linderung, Verzögerung etc. ab (§§ 27 ff. SGB V). Erläuterungen zu den Leistungen der Krankenbehandlung, denen im Gesundheits‐ wesen eine besonders große Bedeutung zukommt, finden Sie bei den jeweiligen Dienstleistern und Warenlieferanten, die die Leistungen erbringen: Abschnitte 2.1.2.1 (ärztliche und zahnärztliche Behandlung sowie Zahnersatz), 2.2.3.4, 2.2.3.5 und 2.2.3.7 (Krankenhausbehandlung), 2.3.2.1 (Heilmittel), 2.4.1 (medizinische Rehabilitation), 2.6.3.3 (Häusliche Krankenpflege), 2.7.5.1 und 2.8.10 (Hilfsmittel/ Medizinprodukte), 2.9.15.1 und 2.9.15.2 (Arzneimittel). Wenn der Versicherte infolge seiner Krankheit arbeitsunfähig ist oder stationär in ei‐ ner Vorsorge-, Rehabilitationseinrichtung oder in einem Krankenhaus behandelt wird, hat er gem. der §§ 44 bis 51 SGB V einen Anspruch auf Krankengeld zur Kompensation von Einkommensausfällen. Bestimmte Personengruppen sind allerdings davon gem. § 44 Abs. 2 SGB V ausgenommen. Zu ihnen gehören z. B. hauptberuflich selbständig Erwerbstätige, die freiwillig versichert sind, oder Beschäftigte ohne Anspruch auf eine Entgeltfortzahlung bei Arbeitsunfähigkeit. Die Versicherten dieser beiden Gruppen können sich jedoch für einen Wahltarif mit Krankengeldzahlung entschieden, den die Krankenkasse gem. § 53 Abs. 6 SGB V anbieten muss. Für Beschäftigte beträgt das Krankengeld 70 % des regelmäßigen Arbeitsentgelts, das der Beitragsberechnung zugrunde gelegt wird, höchstens jedoch 90 % des Nettoarbeitsentgeltes, das der Versi‐ cherte in dem (mind. vierwöchigen) Abrechnungszeitraum vor der Arbeitsunfähigkeit bezogen hat (§ 47 SGB V). Während der Entgeltfortzahlung durch den Arbeitgeber ruht das Krankengeld (§ 49 Abs. 1 Nr. 1 SGB V). Bei Erkrankung eines Kindes unter 12 Jahren besteht nach den näheren Vorgaben des § 45 SGB V ebenfalls ein Anspruch auf Krankengeld. Neben den gesetzlichen Regelleistungen gibt es alternative Leistungen, die auf einen sog. Nikolausbeschluss des BVerfG 509 zurückgehen. In diesem Beschluss führte das BVerfG u. a. aus, dass es in der gesetzlichen Krankenversicherung, die im Wesentlichen auf einer kraft Gesetzes angeordneten Pflichtmitgliedschaft beruht, aus verfassungs‐ 3.1 Kranken- und Pflegekassen 367 <?page no="368"?> 510 Vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Urt. v. 18.12.2014, L 1 KR 21/ 13, BeckRS 2015, 66672 für einen Leistungszeitraum vor dem Inkrafttreten des § 2 Abs. 1a SGB V, jedoch unter Berücksichtigung der im sog. Nikolausbeschluss aufgestellten Kriterien. rechtlichen Gründen geboten sein kann, dem Versicherten in lebensbedrohlichen Situationen eine Krankenbehandlung zuzugestehen, die nicht zum festgelegten Leis‐ tungskatalog gehört. Die Ausführungen des BVerfG griff der Gesetzgeber auf und regelte in § 2 Abs. 1a SGB V einen Anspruch des Versicherten auf Leistungen außerhalb des gesetzlichen Leistungskatalogs unter folgenden drei Voraussetzungen: ● Der Versicherte leidet an einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen oder einer wertungsmäßig gleichwertigen Erkrankung. ● Eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung steht nicht zur Verfügung. ● Die alternative Leistung verspricht eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf. ➤ Beispiel │ alternative Leistung Ein Versicherter litt an einer Krebserkrankung mit unbekanntem Primärtumor, bei der es innerhalb kürzester Zeit zu einer fortschreitenden Metastasierung in Leber, Lunge, Milz, Bauchspeicheldrüse, Magen, Magenwand und Lymphknoten gekommen war. Die Chemotherapie zeigte keine Auswirkungen auf das Tumor‐ geschehen. Die experimentelle Antikörpertherapie hatte sehr starke Nebenwir‐ kungen, so dass der Zustand des Versicherten nicht positiv beeinflusst worden war. Das LSG Niedersachsen-Bremen verurteilte die beklagte Krankenkasse zur Über‐ nahme der Kosten einer Hyperthermiebehandlung (ca. 22.000 Euro). Die relevan‐ ten Tumormarker waren bereits nach der ersten Behandlung deutlich gesunken. Die erhöhten Leberwerte waren auf die Hälfte gesunken. Die Tumorschmerzen mussten nicht mehr behandelt werden, so dass Kortison und Analgetika abgesetzt werden konnten. Der Allgemeinzustand des Versicherten hatte sich deutlich verbessert. 510 Aus Gründen des Wettbewerbs wird den Krankenkassen seit einiger Zeit immer mehr die Möglichkeit eröffnet, (Mehr-)Leistungen anzubieten, mit denen sie sich von anderen Kassen unterscheiden. So kann jede Krankenkasse gem. § 11 Abs. 6 SGB V zusätzliche Leistungen für ihre Versicherten vorsehen (sog. Satzungsleistungen). Dabei darf es sich jedoch nicht um medizinische Maßnahmen handeln, die der GBA aus der Versorgung ausgeschlossen hat. Beispielsweise kann für Erwachsene die Versorgung mit Brillengläsern angeboten werden, wenn die Sehfähigkeit oberhalb der in § 33 Abs. 2 SGB V vorgegebenen Grenze von 0,3 liegt. Für alle Leistungen, die die Krankenkassen gewähren, gilt das Wirtschaftlichkeits‐ gebot nach § 12 Abs. 1 SGB V. Das bedeutet einerseits, dass die Versicherten ausreichend 368 3 Rechtliche Rahmenbedingungen für die Kostenträger <?page no="369"?> und zweckmäßig, also mit allen notwendigen und geeigneten Leistungen, zu versorgen sind. Andererseits können die Versicherten keine unnötigen oder unwirtschaftlichen Leistungen verlangen. Bei einem Auslandsaufenthalt des Versicherten ruhen seine Leistungsansprüche grundsätzlich (§ 16 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB V). Ausnahmen davon sieht das Gesetz für Leistungen innerhalb des Europäischen Wirtschaftsraums (EU-Mitgliedstaaten sowie Norwegen, Liechtenstein und Island) sowie der Schweiz in § 13 Abs. 4 bis 6, § 140e SGB V sowie für alle anderen Staaten (sog. Drittstaaten) in § 18 SGB V vor. Mitglieder, die im Ausland beschäftigt sind und während dieser Beschäftigung erkranken, erhalten die notwendigen Leistungen von ihrem Arbeitgeber, der seinerseits gegenüber der Krankenkasse eine Kostenerstattung geltend machen kann (vgl. § 17 SGB V). Weitere Ausnahmen können sich aus Sozialversicherungsabkommen mit anderen Ländern gem. § 6 SGB IV ergeben. 3.1.10 Leistungserbringungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung Das Leistungserbringungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung ist in den §§ 69 bis 140h sowie §§ 294 bis 305a SGB V geregelt. Angesichts des Naturalleistungsprinzips sind die Krankenkassen verpflichtet, rechtliche Beziehungen zu den Leistungserbrin‐ gern einzugehen, damit diese die Leistungen gegenüber den Versicherten erbringen. Ausführungen zum Leistungserbringungsrecht finden Sie deshalb in den Abschnitten 2.1.2 (Ärzte und Psychotherapeuten), 2.2.3 (Krankenhäuser), 2.3.2 (Heilmittelerbrin‐ ger), 2.4.2.2, 2.4.3.2, 2.4.4 (Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen, Rehabilitati‐ onsdienste), 2.5.2 (Pflegeheime) 2.6.3 (Pflegedienste), 2.7.5 (Gesundheitshandwerker), 2.9.15.3 (pharmazeutische Unternehmen) 2.11.4 (Apotheken). 3.1.11 Leistungsrecht der sozialen Pflegeversicherung Sachlicher Schutzbereich der sozialen Pflegeversicherung ist das Risiko der Pflegebe‐ dürftigkeit. Dieses Risiko ist im Unterschied zum Begriff der Krankheit gesetzlich definiert. Die Definition in § 14 SGB XI (bitte lesen! ) lässt sich wie folgt strukturieren: 3.1 Kranken- und Pflegekassen 369 <?page no="370"?> auf Dauer (voraussichtlich mind. 6 Monate) § 14 Abs. 1 S. 3 SGB XI körperliche, kognitive oder psychische Beeinträchtigungen oder gesundheitlich bedingte Belastungen oder Anforderungen, die nicht selbständig kompensiert oder bewältigt werden können § 14 Abs. 1 S. 2 SGB XI Bedarf an Hilfe durch andere § 14 Abs. 1 S. 1 SGB XI dadurch und deshalb Beeinträchtigung der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten in den Bereichen § 14 Abs. 1 S. 1, Abs. 2, 3 SGB XI 1. Mobilität 2. Kognitive und kommunikative Fähigkeiten 3. Verhaltensweisen und psychische Problemlagen 4. Selbstversorgung 5. Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen 6. Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte Abbildung 62: Pflegebedürftigkeit Der Umfang der Pflegebedürftigkeit wird seit dem 1. Januar 2017 in fünf Pflegegrade gemessen (vgl. § 15 SGB XI). Die Schwere der Beeinträchtigung der Selbständigkeit und der Fähigkeiten wird durch eine Begutachtung der betroffenen Person festgestellt. Dabei wird die Beeinträchtigung in jedem der o.-g. sechs Bereiche mit Punkten gem. Anlage 1 des SGB XI ermittelt. Die Summe der Punkte in den einzelnen Bereichen wird anschließend gem. Anlage 2 des SGB XI in fünf Schweregrade - von „keine Beeinträchtigung“ bis „schwerste Beeinträchtigung“ eingeordnet und nach folgendem System gewichtet: ● Mobilität: 10-% ● Kognitive und kommunikative Fähigkeiten sowie Verhaltensweisen und psychi‐ sche Problemlagen: 15-% ● Selbstversorgung: 40-% ● Bewältigung von krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen: 20-% ● Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte: 15-% 370 3 Rechtliche Rahmenbedingungen für die Kostenträger <?page no="371"?> Schließlich ergeben sich aus der Summe der gewichteten Punkte grundsätzlich fol‐ gende Pflegegrade: ● Pflegegrad 1: 12,5 bis unter 27 Gesamtpunkte ● Pflegegrad 2: 27 bis unter 47,5 Gesamtpunkte ● Pflegegrad 3: 47,5 bis unter 70 Gesamtpunkte ● Pflegegrad 4: 70 bis unter 90 Gesamtpunkte ● Pflegegrad 5: 90 bis 100 Gesamtpunkte Eine Abweichungsmöglichkeit für besondere Bedarfskonstellationen und die Pflege‐ grade für bis zu 18 Monate alte Kinder regelt § 15 Abs. 4, 6 SGB XI. ➤ Beispiel │ Ermittlung des Pflegegrades Die Begutachtung des 75-jährigen Versicherten Max führt zu folgenden Ergebnis‐ sen: 1. Mobilität (5 Punkte = Schwergrad 2) gewichtete Punkte 5 2. Kognitive und kommunikative Fähigkeiten (4 Punkte = Schwergrad 1) - - 3. Verhaltensweisen und psychische Problemlagen (4 Punkte = Schweregrad 2) Höherer Wert von 2 und 3 bestimmt gewichtete Punkte 7,5 4. Selbstversorgung (15 Punkte = Schweregrad 2) gewichtete Punkte 20 5. Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen (3 Punkte= Schweregrad 2) gewichtete Punkte 10 6. Gestaltung des Alltagslebens und soziale Kontakte (5 Punkte = Schweregrad 2) gewichtete Punkte 7,5 Gesamtpunktzahl - 50 Ergebnis: Pflegegrad 3 - - Das Leistungsrecht der Pflegeversicherung wird wie das der gesetzlichen Krankenver‐ sicherung vom Naturalleistungsprinzip geprägt (vgl. § 4 SGB XI): Die Leistungen werden als Dienst-, Sach- und Geldleistungen für den Bedarf an körperbezogenen Pfle‐ gemaßnahmen, pflegerischen Betreuungsmaßnahmen und Hilfen bei der Haushalts‐ führung erbracht. Eine Kostenerstattung erfolgt nur, soweit sie gesetzlich vorgesehen ist. Ferner werden die Leistungen danach differenziert, ob sie im häuslichen Bereich des Pflegebedürftigen, teil- oder vollstationär erbracht werden. Gem. §-29 SGB XI gilt der Grundsatz der Wirtschaftlichkeit (siehe Abschnitt 3.1.10) für die Leistungen der Pflegeversicherung ebenfalls. Der Umfang der Leistungsansprüche des Pflegebedürftigen hängt von der Schwere der Beeinträchtigung seiner Selbständigkeit und seiner Fähigkeiten, also vom Pflege‐ 3.1 Kranken- und Pflegekassen 371 <?page no="372"?> grad, ab. Zum einen wird eine Zweiteilung in die Leistungen bei Pflegegrad 1 sowie in die Leistungen bei Pflegegrad 2 bis 5 vorgenommen. Zum anderen hängt der Umfang der Leistung innerhalb der Gruppe der Pflegegrade 2 bis 5 vom konkreten Pflegegrad ab. Beispielsweise beträgt das Pflegegeld im 2. Grad 316,- Euro und im 3. Grad 545,- Euro pro Kalendermonat. Leistungen der sozialen Pflegeversicherung Leistungen bei Pflegegrad 1 § 28a SGB XI Leistungen bei Pflegegrad 2-5 § 28 SGB XI  Pflegeberatung, §§ 7a, 7 b SGB XI  Beratungsbesuche, § 37 Abs. 3 SGB XI  zusätzliche Leistungen für Pflegbedürftige in ambulant betreuten Wohngruppen, § 38a SGB XI  Pfleghilfsmittel, § 40 Abs. 1-3, 5 SGB XI  Digitale Pflegeanwendungen, §§ 39a, 40a, 40b SGB XI  Zuschüsse zu wohnungsumfeldverbessernden Maßnahmen, § 40 Abs. 4 SGB XI  zusätzliche Betreuung und Aktivierung in stationären Einrichtungen, § 43b SGB XI  Pflegkurse, § 45 SGB XI  Entlastungsbetrag, § 28a Abs. 2 SGB XI  Zuschüsse zur vollstationären Pflege, § 28a Abs. 3 SGB XI  Pflegeberatung, § 7a SGB XI  Pflegesachleistung, § 36 SGB XI  Umwandlungsanspruch, § 45a SGB XI  Pflegegeld, § 37 SGB XI  Kombination von Geld- und Sachleistungen gem. § 38 SGB XI  Verhinderungspflege gem. § 39 SGB XI  Pfleghilfsmittel und wohnungsumfeldverbessernde Maßnahme, § 40 SGB XI  Digitale Pflegeanwendungen, §§ 39a, 40a, 40b SGB XI  zusätzliche Leistungen für Pflegebedürftige in ambulant betreuten Wohngruppen, § 38a SGB XI  Anschubfinanzierung zur WG-Gründung, § 45e SGB XI  Tages- und Nachtpflege, § 41 SGB XI  Kurzzeitpflege, § 42 SGB XI  vollstationäre Pflege, § 43 SGB XI  zusätzliche Betreuung und Aktivierung in stationären Einrichtungen, § 43b SGB XI  Pflege in vollstationären Einrichtungen der Behindertenhilfe, § 43a SGB XI  Soziale Sicherung der Pflegeperson, § 44 SGB XI  Leistungen bei Pflegezeit, § 44a SGB XI i. V. m. Pflegezeitgesetz  Pflegekurse, § 45 SGB XI  Entlastungsbetrag, § 45b SGB XI  Persönliches Budget, § 28 Abs. 1 Nr. 14 SGB XI i. V. m. § 29 SGB IX Abbildung 63: Leistungen der sozialen Pflegeversicherung 372 3 Rechtliche Rahmenbedingungen für die Kostenträger <?page no="373"?> Einige der vorgenannten Leistungen sollen an dieser Stelle erläutert werden: ● Pflegeberatung, §§ 7a, 7b SGB XI Die Beratung ist sowohl beim Erstantrag als auch für spätere Anträge vorgesehen. Sie können alle Pflegebedürftige in Anspruch nehmen. Die Pflegekasse soll unmit‐ telbar nach Antragseingang einen Termin bei einem Pflegeberater anbieten oder einen Beratungsgutschein für eine andere Beratungsstelle ausgeben, der innerhalb von zwei Wochen ab Antragstellung einzulösen ist. Der Pflegeberater soll im Sinne eines Fallmanagements insbesondere den Hilfebe‐ darf ermitteln, den Pflegebedürftigen über mögliche Leistungen informieren, einen Versorgungsplan aufstellen und auf dessen Umsetzung hinwirken, die Umsetzung überwachen sowie den Versorgungsplan ggf. anpassen. ● Pflegegeld für selbstbeschaffte Pflege, § 37 SGB XI Pflegebedürftige der Pflegegrade 2 bis 5 können ein monatliches Pflegegeld in Anspruch nehmen, wenn sie Pflege z. B. durch Angehörige selbst sicherstellen. Das Pflegegeld beläuft sich je nach Pflegegrad auf 316,- Euro, 545,- Euro, 728,- Euro sowie für Grad 5 auf 901,- Euro. Um die Qualität der häuslichen Pflege zu sichern und Unterstützung zu geben, erfolgt für die Pflegebedürften des 2. und 3. Grades halbjährlich und für die anderen vierteljährlich ein sog. Beratungsbesuch durch eine dafür zugelassene Pflegeeinrichtung. Die Betreuungsdienste sind für die Beratungsbesuche nicht zugelassen (§ 37 Abs. 9 SGB XI). Wenn der Beratungs‐ besuch vom Pflegebedürftigen nicht abgerufen wird, hat das eine Kürzung und im Wiederholungsfalls die Entziehung des Pflegegelds zur Folge. ● Pflegehilfsmittel, §-40 SGB XI (siehe auch Abschnitt 2.8.11) Pflegehilfsmittel haben den Zweck, die Pflege zu erleichtern, Beschwerden des Pflegebedürftigen zu lindern oder dem Pflegebedürftigen einer selbständigeren Lebensführung zu ermöglichen. Zu ihnen gehören z. B. Pflegebetten, Dekubitus‐ matratzen und Duschhocker. Die Pflegehilfsmittel dürfen nicht mit den Hilfsmit‐ teln verwechselt werden, die gem. § 33 SGB V der Krankenbehandlung oder dem Behinderungsausgleich dienen. Für diese hat die Krankenkasse aufzukommen. ● Soziale Sicherung der Pflegeperson, §§ 19, 44 SGB XI Als Pflegeperson gelten diejenigen, die nicht erwerbsmäßig einen Pflegebedürfti‐ gen in seiner häuslichen Umgebung pflegen. Das sind beispielsweise Angehörige des Pflegebedürftigen. Wenn die Pflegeperson eine oder mehrere Personen mit mindestens Pflegegrad 2 zehn Stunden wöchentlich, verteilt auf mindestens zwei Tage pflegt, so ist sie nach dem Recht der Arbeitsförderung versichert und während der pflegerischen Tätigkeit gesetzlich unfallversichert. Wenn die Pflegeperson zu‐ dem nicht mehr als 30 Wochenstunden erwerbstätig ist, entrichtet die Pflegekasse für die Pflegeperson Beiträge zur Rentenversicherung. ● Pflegesachleistung gem. § 36 SGB XI (siehe Abschnitt 2.6.3.2.) ● Kurzzeitpflege gem. § 42 SGB XI, teil- und vollstationäre Pflege gem. §§ 41, 43 SGB XI: siehe Abschnitt 2.5.2.2. 3.1 Kranken- und Pflegekassen 373 <?page no="374"?> 511 Gesetz für bessere und unabhängige Prüfungen (MDK-Reformgesetz) vom 14.12.2019, BGBl. I S. 2789. 512 RegE des Gesetzes für bessere und unabhängige Prüfungen (MDK-Reformgesetz), BTag-Drucks. 19/ 13397 S.-41. 3.1.12 Leistungserbringungsrecht der sozialen Pflegeversicherung Das Leistungserbringungsrecht der sozialen Pflegeversicherung ist in den §§ 69 bis 92 f sowie §§ 112 bis 119 SGB XI geregelt. Angesichts des Naturalleistungsprinzips sind die Pflegekassen verpflichtet, rechtliche Beziehungen zu Pflegeheimen und Pflegediensten einzugehen, damit diese die Leistungen gegenüber dem Pflegebedürftigen erbringen. Ausführungen zum Leistungserbringungsrecht finden Sie deshalb in den Abschnitten 2.5.2 sowie 2.6.3. 3.1.13 Medizinische Dienst und Medizinischer Dienst Bund Das MDK-Reformgesetz 511 leitete den Prozess einer Neuausrichtung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) ein, der in 2021 abzuschließen war. Das Gesetz zielte auf die Stärkung der Medizinischen Dienste und die Gewährleistung ihrer Unabhängigkeit gegenüber den Krankenkassen ab. 512 Vor der Reform war der MDK als Arbeitsgemeinschaft der Krankenkassen organisiert. Nunmehr hat er gem. § 278 Abs. 1 S. 1 SGB V die Rechtsform einerr Körperschaft des öffentlichen Rechts inne und trägt die Bezeichnung Medizinischer Dienst (MD) . In jedem Bundesland gibt es grundsätzlich einen MD. In Nordrhein-Westfalen bestehen zwei, in den Ländern Berlin und Brandenburg einerseits und Schleswig-Holstein und Hamburg andererseits jeweils ein gemeinsamer MD. Bei der Krankenversicherung der DRVKnBS nimmt der Sozialmedizinische Dienst die Aufgaben des MD wahr (§-283a SGB V). Der MD ist für die Kranken- und Pflegekassen beratend und begutachtend tätig. Seine Aufgaben ergeben sich insbesondere aus den §§ 275, 275a bis 275d SGB V. So prüft der MD im Auftrag der Krankenkassen beispielsweise das Vorliegen einer Ar‐ beitsunfähigkeit, die Notwendigkeit der Krankenhausbehandlung, der Vorsorge- und Rehabilitationsleistungen, der häuslichen Krankenpflege und der Krankenbehandlung im Ausland. In die ärztliche Behandlung des Versicherten dürfen die begutachtenden Ärzte des MD jedoch nicht eingreifen (§ 275 Abs. 5 SGB V). Zudem wird der MD für die Pflegekassen tätig, vgl. § 53c SGB XI. Beispielsweise obliegt ihm die Feststellung der Pflegebedürftigkeit gem. § 18 SGB XI und die Qualitätsprüfung bei den Pflegediensten und Pflegeheimen (§-114 SGB XI). Auf Bundesebene besteht ein Medizinischer Dienst Bund (MD Bund), der im Zuge der Reform den Medizinischen Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen ablöste. Der Medizinische Dienst Bund ist ebenfalls eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, seine Mitglieder sind die Medizinischen Dienste (§-281 Abs. 1 SGB V). Der Medizinische Dienst Bund koordiniert und fördert die Durchführung der Auf‐ gaben und die Zusammenarbeit der Medizinischen Dienste in medizinischen und or‐ 374 3 Rechtliche Rahmenbedingungen für die Kostenträger <?page no="375"?> ganisatorischen Fragen und trägt Sorge für eine einheitliche Aufgabenwahrnehmung. Er berät den Spitzenverband Bund der Krankenkassen in allen medizinischen Fragen der diesem zugewiesenen Aufgaben (vgl. zu den Aufgaben im Einzelnen § 283 SGB V sowie §-53d SGB XI). ❋ Wichtige Schlagwörter ❋ Gesundheitsfonds ❋ Krankenkasse ❋ Krankheit ❋ Naturalleistungsprinzip ❋ Pflegebedürftigkeit ❋ Pflegekasse ❋ Selbstverwaltung ✎ Wiederholungsaufgaben 1. Wer vertritt eine Ersatzkasse gerichtlich und außergerichtlich? 2. Welche staatlichen Stellen beaufsichtigen die Kranken- und Pflegekassen? 3. Die bundesunmittelbare Krankenkasse K schloss mit dem privaten Kranken‐ versicherungsunternehmen V einen Vertrag über einen Auslandreisekranken‐ versicherungsschutz für urlaubs- und berufsbedingte Reisen ihrer Mitglieder sowie deren Familienangehörigen, die nach § 10 SGB V familienversichert sind. Nach diesem Vertrag erhalten die versicherten Personen der Krankenkasse K ihre Aufwendungen für die medizinisch notwendige Heilbehandlung wegen Krankheit oder Unfallfolgen im Ausland zu 100 % erstattet. Der Versicherungs‐ schutz besteht weltweit. Die Krankenkasse muss für diesen Versicherungs‐ vertrag jährlich pro versicherte Person drei Euro (insgesamt 300.000,- Euro) zahlen. Die Krankenkasse K hatte den beabsichtigten Vertragsschluss zuvor beim Bundessamt für Soziale Sicherung (BAS) angezeigt. In einem Beratungs‐ gespräch erläuterte das BAS der Krankenkasse, dass der Vertragsschluss nicht zulässig sei. Die Gewährung einer weltweiten Auslandsreisekrankenversiche‐ rung gehöre nicht zu den Aufgaben einer Krankenkasse. Deshalb dürfe sie da‐ für ihre Mittel nicht verwenden. Schließlich sei sie zur sparsamen Verwendung der Mittel verpflichtet. Es läge in der Eigenverantwortung der Versicherten, für einen ausreichenden Versicherungsschutz während einer Auslandsreise zu sorgen. Die Krankenkasse könne allenfalls im Rahmen einer Kooperation gem. § 194 Abs. 1a SGB V die Aufgabe übernehmen, dass sie Versicherungsverträge für eine Krankenbehandlung im Ausland vermittelt. Nach dieser Beratung schloss die Krankenkasse K den oben genannten Versicherungsvertrag ab. Sie versprach sich mit dem Versicherungsangebot einen Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Krankenkassen, durch den sie neue Mitglieder gewinnen würde. Ferner prognostizierte sie, dass sie durch Wegfall von Verwaltungsar‐ ❋ Wichtige Schlagwörter 375 <?page no="376"?> beit bei den Auslandsabrechnungen ihrer Versicherten jährlich 250.000,- Euro einsparen würde. Erläutern Sie, welche Reaktionsmöglichkeit das BAS hat, nachdem es von dem Vertragsschluss erfahren hat. 4. Erläutern Sie die gesetzlichen Voraussetzungen der Vereinigung einer Betriebs‐ krankenkasse und einer Ersatzkrankenkasse. Beide sind bundesunmittelbare Krankenkassen. 5. Die bundesunmittelbare Betriebskrankenkasse H (BKK H), deren Satzung eine Regelung nach § 173 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 SGB V enthält, steckt seit drei Jahren in finanziellen Schwierigkeiten. Im letzten Jahr musste sie einen Zusatzbeitrag von ihren Mitgliedern einfordern und verlor daraufhin 100.000 ihrer 250.000 Versicherten. Die angestrebte Fusion mit der Betriebskrankenkasse X (BKK X) scheiterte. Das finanzielle Defizit der BKK H beläuft sich mittlerweile auf 26,5 Millionen Euro. Die zuständige Aufsichtsbehörde prüft die Schließung der BKK H. Erläutern Sie, a. welcher Schließungsgrund in Betracht kommt, und b. wer für die finanziellen Verpflichtungen gegenüber den Gläubigern der BKK H einstehen muss, wenn das Vermögen der BKK H für die Befriedigung der Gläubiger nicht ausreicht. 6. Der Wolfsburger Lehrer Konrad Klug, der an einer staatlichen Schule angestellt ist, hat seit 2015 ein Jahresarbeitsentgelt von 42.000,- Euro. Ist er in der gesetzlichen Krankenversicherung und sozialen Pflegeversicherung versicherungspflichtig? 7. Der Wolfsburger verbeamtete Professor Siegfried Schlau hat seit 2015 ein Jahresarbeitsentgelt von 42.000,- Euro. Ist er in der gesetzlichen Krankenver‐ sicherung und sozialen Pflegeversicherung versicherungspflichtig? Falls nicht, welchen Versicherungsschutz kann oder muss er erlangen? 8. Erläutern Sie den Anspruch von erkrankten Versicherten auf Krankengeld. 9. Erläutern Sie den Anspruch von pflegebedürftigen Versicherten auf Pflegegeld. 10. Erläutern Sie die Rolle des Gesundheitsfonds bei der Finanzierung der gesetz‐ lichen Krankenversicherung. ➤ Lösungen im Web-Service. 3.2 Private Krankenversicherungsunternehmen ➤ Lernziele Im Abschnitt 3.2 erlangen Sie Kenntnisse zum Versicherungsunternehmens-, Versicherungsaufsichts- und Versicherungsvertragsrecht. Diese Kenntnisse sollen Sie auf eine spätere Managementtätigkeit bei einem privaten Krankenversicherer, Versicherungsverband oder Unternehmensberatung vorbereiten. Sie sollen befä‐ 376 3 Rechtliche Rahmenbedingungen für die Kostenträger <?page no="377"?> 513 AktG v. 6.9.1965, BGBl. I S.-1089, z. g. d. G v. 10.8.2021, BGBl. I S.-3436. 514 VAG v. 1.4.2015, BGBl. I S.-434, z. g. d. G v. 7.8.2021, BGBl. I S.-3311. 515 VVG v. 23.11.2007, BGBl. I S.-2631, z. g. d. G v. 11.7.2021, BGBl. I S.-2754. 516 VVG-InfoV v. 18.12.2007, BGBl. I S.-3004, z. g. d. G v. 9.6.2021, BGBl. I S.-1666. 517 Download unter https: / / www.pkv.de/ wissen/ private-krankenversicherung/ #c690 (Abruf am 5.5.2022). higt werden, Sachverhalte und Zusammenhänge Ihres künftigen Arbeitsumfeldes sowohl bzgl. der rechtlichen Anforderungen als auch hinsichtlich der juristischen Folgen analysieren und steuern zu können. ➤ Lernhinweis Die nachfolgenden Erläuterungen werden Sie besser verstehen, wenn Sie die angegebenen Paragrafen der folgenden Rechtsvorschriften ● Aktiengesetz (AktG) 513 , Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), Sozialgesetzbuch 5. Buch (SGB V), 11. Buch (SGB XI), Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG) 514 , Ver‐ sicherungsvertragsgesetz (VVG) 515 , VVG-Informationspflichtenverordnung (VVG-InfoV) 516 sowie der folgenden Musterbedingungen 517 ● Allgemeine Versicherungsbedingungen für den Basistarif (AVB/ BT 2009), All‐ gemeine Versicherungsbedingungen für den Notlagentarif (AVB/ NLT 2013), Allgemeine Versicherungsbedingungen für die Private Pflegepflichtversiche‐ rung (MB/ PPV 2019), Musterbedingungen für die Krankheitskosten- und Krankenhaustagegeldversicherung (MB/ KK 2009), Musterbedingungen für die Krankentagegeldversicherung (MB/ KT 2009) parallel zum Lehrbuch lesen. 3.2.1 Einführung Die Versicherungsunternehmen werden in Erst- und Rückversicherungsunternehmen unterschieden. Die privaten Krankenversicherungsunternehmen (auch als Kranken‐ versicherer bezeichnet) gehören zu den Erstversicherungsunternehmen. Sie bieten entgeltlich einen Versicherungsschutz für Endkunden an, die keine Versicherer sind. Anders verhält es sich bei den Rückversicherern. Diese beteiligen sich gegen Zahlung einer Prämie an den Risiken, die das Erstversicherungsunternehmen übernommen hat (bieten sozusagen Versicherungsschutz für die Erstversicherer an). 3.2 Private Krankenversicherungsunternehmen 377 <?page no="378"?> Abb. 66: Erst- und Rückversicherungsunternehmen Endkunde Rückversicherer Erstversicherer Abbildung 64: Erst- und Rückversicherungsunternehmen Die private Krankenversicherung deckt Gefahren, die sich im oder am menschlichen Körper verwirklichen (z. B. Krankheit und Pflegebedürftigkeit) und ist somit eine Personenversicherung (Gegenstück: Sachversicherung). Zu ihr gehören die Krankensowie die Pflegekrankenversicherung. Die Krankenversicherung unterteilt sich in: ● Krankheitskostenversicherung (§ 192 Abs. 1-3 VVG) ● Krankenhaustagegeldversicherung (§ 192 Abs. 4 VVG) ● Krankentagegeldversicherung (§ 192 Abs. 5 VVG) und die Pflegekrankenversicherung in ● Pflegekostenversicherung (§ 192 Abs. 6 VVG) ● Pflegetagegeldversicherung (§ 192 Abs. 6 VVG) ● Pflegepflichtversicherung (§ 192 Abs. 6 VVG, § 23 SGB XI). Die einzelnen Arten werden als Schaden- oder Summenversicherung betrieben. Bei einer Schadenversicherung wird der im Versicherungsfall eingetretene Vermögensscha‐ den ersetzt. Dagegen wird im Rahmen einer Summenversicherung bei Eintritt des Versicherungsfalls der vereinbarte Betrag (unabhängig vom Vorliegen eines Vermö‐ genschadens) gezahlt. ✎ Aufgaben Lesen Sie § 192 VVG sowie § 23 SGB XI und entscheiden Sie, ob die Krankheitskos‐ ten-, Krankenhaustagegeld-, Krankentagegeldversicherung sowie die Pflegekos‐ ten-, Pflegetagegeld- und Pflegepflichtversicherung als Schaden- oder Summen‐ versicherung ausgestaltet sind. ➤ Lösungen im Web-Service. Wenn die Versicherung geeignet ist, die gesetzliche Krankenversicherung oder soziale Pflegeversicherung zu ersetzen, wird sie als substitutive Krankenversicherung bezeich‐ net (§ 146 Abs. 1 VAG, § 195 Abs. 1 S.-1 VVG). Die Erläuterungen des Abschnitts 3.2 beziehen sich vor allem auf die Krankheits‐ kosten-, Krankentagegeld- und Pflegepflichtversicherung, weil diesen in der Praxis die größte Bedeutung zukommt. 378 3 Rechtliche Rahmenbedingungen für die Kostenträger <?page no="379"?> 518 Verordnung (EG) Nr. 2157/ 2001 des Rates v. 8. Oktober 2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft, ABl. 294 S.-1, z. g. d. VO (EU) Nr.-517/ 2013 v. 13.5.2013, ABl. L 158 S.-1. 519 Vgl. Weber, Körperschaften des öffentlichen Rechts, Rechtswörterbuch. 520 Vgl. Weber, Anstalten des öffentlichen Rechts, Rechtswörterbuch. 3.2.2 Zulässige Rechtsformen der Krankenversicherungsunternehmen Den Krankenversicherungsunternehmen stehen nur die in § 8 Abs. 2 VAG genannten Rechtsformen zur Verfügung. Das sind im Einzelnen: ❋ Wissen-│-Aktiengesellschaft Die Aktiengesellschaft ist eine Kapitalgesellschaft mit eigener Rechtspersönlich‐ keit. Ihr Grundkapital beträgt mind. 50.000 Euro und ist in Aktien zerlegt. Für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft haften nicht die Aktionäre, sondern nur das Gesellschaftsvermögen (vgl. §§ 1, 7 AktG). ❋ Wissen-│-Europäische Gesellschaft Die Europäische Gesellschaft ist ebenfalls eine Aktiengesellschaft mit den oben genannten Merkmalen; ihr Grundkapital muss jedoch mind. 120.000 Euro betragen. Sie ermöglicht Unternehmen aus verschiedenen EU-Mitgliedstaaten zu fusionie‐ ren, um unionsweit mit Niederlassungen juristisch einheitlich aufzutreten, oder eine Holdinggesellschaft mit Tochtergesellschaften in verschiedenen EU-Staaten zu gründen (vgl. Erwägungsgründe 1, 10, Art. 1, 4 VO 2157/ 2001 518 ). ❋ Wissen-│-Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit Der Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit ist ein rechtsfähiger Verein, der seine Mitglieder nach dem Grundsatz der Gegenseitigkeit versichert. Für die Verbindlichkeiten gegenüber den Vereinsgläubigern haftet das Vereinsvermögen, nicht aber die Mitglieder (vgl. §§ 171, 174 VAG). ❋ Wissen-│-Körperschaft des öffentlichen Rechts Die Körperschaft des öffentlichen Rechts ist eine juristische Person des öffentlichen Rechts zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben, die auf einer Mitgliedschaft von Personen beruht. 519 ❋ Wissen-│-Anstalt des öffentlichen Rechts Die vollrechtsfähige Anstalt des öffentlichen Rechts ist ebenfalls eine juristische Person des öffentlichen Rechts, mit der öffentliche Aufgaben erfüllt werden. Im Unterschied zur Körperschaft ist sie nicht mitgliedschaftlich organisiert. 520 Die meisten im Inland tätigen Krankenversicherungsunternehmen haben die Rechts‐ form einer Aktiengesellschaft oder eines Versicherungsvereins auf Gegenseitigkeit. 3.2 Private Krankenversicherungsunternehmen 379 <?page no="380"?> 521 Vgl. Statistik der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht - I Gesamtentwicklung VA (26.11.2021), https: / / www.bafin.de/ SharedDocs/ Downloads/ DE/ Statistik/ Erstversicherer/ I_gesamte ntwicklung_va.html (Abruf 14.5.2022). 3.2.3 Aufnahme des Geschäftsbetriebes durch ein Krankenversicherungsunternehmen Die Krankenversicherer, die im Inland ihren Hauptsitz haben, benötigen für ihren Geschäftsbetrieb eine Erlaubnis der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) als zuständige Aufsichtsbehörde (§ 8 Abs. 1, § 320 VAG). Krankenversicherer, die der Aufsicht eines Bundeslandes gem. § 321 VAG unterliegen, bestehen (gegenwär‐ tig) nicht. 521 Die Versicherungsunternehmen müssen die Erlaubnis unter Beifügung verschiedener Unterlagen beantragen. Einzureichen sind gem. § 9 VAG insbesondere: ● Geschäftsplan, der den Zweck und Einrichtung des Versicherers, das Gebiet des beabsichtigten Geschäftsbetriebs sowie die Solvenzverhältnisse enthält, ● Satzung des Unternehmens (vgl. § 2 AktG für eine AG, § 173 VAG für einen VVaG), ● Angaben zur beabsichtigten Versicherungssparte und zu deckenden Risiken (vgl. Nr. 2 der Anlage 1 des VAG: Sparte „Krankheit“ mit den Risiken „Tagegeld“, „Kostenversicherung“ und „kombinierte Leistungen“), ● Plan-Bilanz und Plan-Gewinn- und Verlustrechnung, ● Schätzungen der Mindestkapital- und Solvabilitätskapitalanforderung (siehe Ab‐ schnitt 3.2.9.5), ● Schätzungen der finanziellen Mittel, die zur Deckung der versicherungstechni‐ schen Rückstellungen sowie der Mindestkapital- und Solvabilitätskapitalanforde‐ rung voraussichtlich zur Verfügung stehen (siehe Abschnitt 3.2.9.5), ● Angaben zu den Personen, die zur Geschäftsführung und Vertretung des Versi‐ cherungsunternehmens berufen sind (Geschäftsleiter), zu den Mitgliedern des Aufsichtsrates und zu weiteren gesetzlich genannten Personen, damit die BaFin die nach § 24 VAG notwendige Zuverlässigkeit und fachliche Eignung beurteilen kann, ● Allgemeine Versicherungsbedingungen und Grundsätze für die Berechnung der Prämien und der mathematischen Rückstellungen der substitutive Krankenversi‐ cherung, wenn eine solche betrieben werden soll. Der Krankenversicherer hat einen Rechtsanspruch auf die Erlaubnis, wenn sein Geschäftsbetrieb nicht gegen zwingende Normen verstößt und kein Versagungsgrund vorliegt. Zu den zwingenden Normen gehören beispielsweise § 8 Abs. 2 VAG, der nur bestimmte Rechtsformen für die Versicherer zulässt (siehe auch Abschnitt 3.2.2) sowie § 15 Abs. 1 VAG, der Geschäfte verbietet, die nicht im unmittelbaren Zusam‐ menhang mit Versicherungen stehen (sog. versicherungsfremde Geschäfte). So darf beispielsweise ein Krankenhausträger nicht zugleich Krankenversicherungen anbie‐ ten. Die Versagungsgründe sind abschließend in § 11 VAG geregelt. Dieser Paragraph differenziert in Gründe, die lt. Abs. 1 zwingend zur Versagung der Erlaubnis führen, und 380 3 Rechtliche Rahmenbedingungen für die Kostenträger <?page no="381"?> in Gründe, bei deren Vorliegen die BaFin gem. Abs. 2 ein Ermessen hat, die Erlaubnis zu versagen. Beispiele für Versagungsgründe § 11 Abs. 1 VAG (gebundene Entscheidung) § 11 Abs. 2 VAG (Ermessensentscheidung) fehlende Zuverlässigkeit oder fehlende fachliche Eignung der Geschäftsleiter keine ausreichende Wahrung der Belange der Versicherten Beeinträchtigung einer wirksamen Aufsicht durch intransparente Konzernstrukturen unvollständige Antragsunterlagen Abbildung 65: Gründe für die Versagung der Erlaubnis zum Geschäftsbetrieb Die Erlaubnis wird gem. § 10 Abs. 2 S. 1, 2 VAG entweder für die jeweilige Versiche‐ rungssparte - also Krankheit - oder, wenn es beantragt ist, nur für einzelne Risiken der Sparte - z. B. Tagegeld oder Kostenversicherung - erteilt. Wenn sich die Erlaubnis auf eine substitutive Krankenversicherung bezieht, ist der Betrieb einer anderen Versicherungssparte - z. B. Rechtsschutzversicherung - durch das Unternehmen ausgeschlossen (§ 8 Abs. 4 S. 2 2. Hs VAG). Die erteilte Erlaubnis gilt unbefristet, wenn sich aus dem Geschäftsplan des Krankenversicherers nichts anderes ergibt, sowie für das gesamte Gebiet der EU und des EWR (§ 10 Abs. 1 VAG). Krankenversicherer mit Sitz in einem Mitgliedstaat der EU und des EWR unterliegen im Hinblick auf die Aufnahme der Geschäftstätigkeit den Regeln ihres Herkunftslandes (§§ 61 Abs. 1, 62 Abs. 1 VAG). Sie können Krankenversicherungen in der BRD erst anbieten, wenn die in § 61 Abs. 2-4 VAG vorgesehene Unterrichtung der BaFin erfolgt ist. Krankenversicherungsunternehmen mit Sitz in einem Drittstaat, also einem Staat außerhalb der EU und des EWR, unterliegen ebenfalls der Erlaubnispflicht. Die diesbezüglichen Einzelheiten sind in den §§ 67 ff. VAG geregelt. 3.2 Private Krankenversicherungsunternehmen 381 <?page no="382"?> 522 Grundlegend zum Begriff des Versicherungsvertrages: BVerwG, Urt. v. 25.11.186, 1 C 54.81, BVerwGE 75, 155 [159 f.]. 3.2.4 Zustandekommen eines Versicherungsvertrages - 3.2.4.1 Vertragsfreiheit und Kontrahierungszwang Das Versicherungsverhältnis entsteht nicht kraft Gesetzes, sondern durch einen Vertragsschluss. Die Beteiligten des Versicherungsvertrages sind der Versicherungs‐ nehmer und das Versicherungsunternehmen (auch Versicherer genannt). Nimmt der Versicherungsnehmer den Versicherungsschutz für sich in Anspruch, ist er zugleich Versicherter. Der Vertrag kann auch zugunsten eines Dritten abgeschlossen werden (z. B. einem Kind), ohne dass derjenige Vertragspartner ist. Dieser Begünstigte wird als Versicherter bezeichnet. Bei einer solchen Vertragsgestaltung fallen die Eigenschaft als Versicherungsnehmer und Versicherter auseinander. ❋ Wissen-│-Versicherungsvertrag Ein Versicherungsvertrag hat folgende Kennzeichen: 522 Der Versicherer verpflich‐ tet sich gegen Entgelt zu Leistungen für den Fall einer Gefahr. Gefahr wird dabei als ungewisses Ereignis verstanden, das für den Versicherungsnehmer einen wirtschaftlichen Nachteil (z.-B. Aufwendungen im Zusammenhang mit Krankheit oder Pflegebedürftigkeit) bedeutet. Das vom Versicherer übernommene Risiko wird auf eine Vielzahl von Personen, die durch die gleiche Gefahr bedroht sind, verteilt. Nur durch die Gleichartigkeit der Gefahr ist die Kalkulation eines bedarfsgerechten Beitrages möglich. Ferner liegt der Risikoübernahme eine Kalkulation zugrunde, die auf dem Gesetz der großen Zahlen beruht. Dieser Grundsatz der Wahrschein‐ lichkeitsrechnung berücksichtigt die statistische Erfahrung, dass das ungewisse Ereignis nicht bei allen, sondern nur bei einem Teil der Gefährdeten eintritt und mit der wachsenden Zahl der gleichartig Gefährdeten die Risikokalkulation weniger vom Zufall beeinflusst wird. Der Versicherungsvertrag ist ein privatrechtlicher Vertrag, so dass grundsätzlich die das Privatrecht beherrschende Vertragsfreiheit gilt. Diese ermöglicht es den Bürgern und Unternehmen, selbst zu entscheiden, ob und mit welchem Inhalt sie ihre Rechts‐ beziehungen regeln möchten. Diese Vertragsfreiheit ist jedoch im Bereich der Kranken- und Pflegeversicherung durch den sog. Kontrahierungszwang eingeschränkt. Dieser bedeutet, dass ● eine Person als Versicherungsnehmer (für sich und ggf. ein Versicherten) unter den Voraussetzungen des § 193 Abs. 3 VVG eine Krankheitskostenversicherung sowie unter den Voraussetzungen der §§ 22, 23 SGB XI eine Pflegepflichtversicherung und 382 3 Rechtliche Rahmenbedingungen für die Kostenträger <?page no="383"?> 523 GenDG v. 31.7.2009, BGBl. I S.-2529, 3672, z. g. d. G v. 4.5.2021, BGBl. I S.-882. ● der Krankenversicherer unter den Voraussetzungen des § 193 Abs. 5 VVG i. V. m. § 152 VAG eine Krankenversicherung im Basistarif sowie unter den Voraussetzun‐ gen des § 110 Abs. 1, 3 SGB XI eine Pflegepflichtversicherung abschließen müssen. Bei dem genannten Basistarif handelt es sich um eine Kranken‐ versicherung mit Leistungen, die in Art, Umfang und Höhe den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung entspricht (vgl. zu den Einzelheiten § 152 VAG). Abb. 68: Kontrahierungszwang Kontrahierungszwang Versicherungsnehmer § 193 Abs. 3 VVG Krankheitskostenversicherung § 23 SGB XI Pflegepflichtversicherung Versicherer § 193 Abs. 3 VVG, § 152 VAG Krankenversicherung im Basistarif § 110 Abs. 1, 3 SGB XI Pflegepflichtversicherung Abbildung 66: Kontrahierungszwang Den Versicherungsnehmern und Versicherern bleibt es jedoch unbenommen, über die Mindestkrankenversicherung, zu deren Abschluss sie verpflichtet sind, weitergehende Verträge - z.-B. eine Krankenhaustagegeldversicherung - abzuschließen. - 3.2.4.2 Vorvertragliche Anzeigepflicht des Versicherungsnehmers Der Versicherungsnehmer ist gem. § 19 Abs. 1 VVG verpflichtet, vor Abschluss des Vertrages sog. gefahrerhebliche Umstände anzuzeigen. Dabei handelt es sich um Vorerkrankungen, Gesundheitsrisiken und Vorbehandlungen (z. B. Herzinfarkt, Alko‐ holabhängigkeit, Krankenhausaufenthalte), ● die auf den Entschluss des Versicherers, den Vertrag überhaupt oder mit welchem Inhalt, abzuschließen, Einfluss nehmen und ● nach denen der Versicherer in Textform (vgl. § 126 BGB) gefragt hat. Allerdings ist der Versicherungsnehmer lt. § 18 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 GenDG 523 nicht verpflichtet, genetische Untersuchungen durchführen zu lassen. Zudem ist es dem Versicherer verboten, Ergebnisse von bereits erfolgten genetischen Untersuchungen zu verlangen oder entgegenzunehmen, selbst wenn der Versicherungsnehmer sie 3.2 Private Krankenversicherungsunternehmen 383 <?page no="384"?> freiwillig anbietet (§ 18 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 GenDG). Dieses Verbot gilt allerdings nicht für eine Pflegerentenversicherung, bei der für den Fall der Pflegebedürftigkeit eine Jahresrente von 30.000 Euro oder eine Einmalzahlung von 300.000 Euro vereinbart wird (§ 18 Abs. 1 S. 2 GenDG). Ein Verstoß gegen § 18 GenDG kann als Ordnungswidrigkeit oder Straftat geahndet werden (vgl. §§ 25, 26 GenDG). Dennoch muss der Versicherungsnehmer, wenn er aufgrund einer genetischen Untersuchung eine Erkrankung kennt, diese dem Versicherer anzeigen (§ 18 Abs. 2 GenDG). Insoweit gilt nichts anderes, als wenn er von einem behandelnden Arzt über eine eingetretene Krankheit informiert worden ist. Wenn der Versicherungsnehmer durch unvollständige oder falsche Angaben seine vorvertragliche Anzeigepflicht verletzt, kommen eine Anpassung oder Beendigung des Vertrages durch den Versicherer in Betracht. Zu welcher Maßnahme der Versicherer berechtigt ist, hängt vom Verschuldensgrad seitens des Versicherungsnehmers ab. Folgende Verschuldensgrade werden unterschieden: Abb. 65: Verschuldensgrade der Anzeigepflichtverletzung vorwerfbare Verletzung der Anzeigepflicht Schuldlosigkeit Fahrlässigkeit grobe Fahrlässigkeit Verschulden Vorsatz Arglist Abbildung 67: Verschuldensgrade der Anzeigepflichtverletzung ❋ Wissen-│-Schuldlosigkeit Schuldlosigkeit bedeutet, dass der Versicherungsnehmer zwar objektiv seine An‐ zeigepflicht verletzt hat, dies ihm aber subjektiv nicht vorgeworfen werden kann. ➤ Beispiel Eine Versicherungsnehmerin gab auf die Frage nach den Untersuchungen in den letzten fünf Jahren nicht an, dass sie sich auf Veranlassung ihres Dienstherrn einer Begutachtung unterzogen hatte, die der Abklärung einer Depression diente. Der Gutachter kam seinerzeit zu dem Ergebnis, dass die Versicherungsnehmerin nicht an einer Depression leide. Er bestätigte damit die Auffassung der Versicherungs‐ nehmerin über ihren Gesundheitszustand. 384 3 Rechtliche Rahmenbedingungen für die Kostenträger <?page no="385"?> 524 Vgl. BGH, Urt. v. 7.3.2007, IV ZR 133/ 06, NJW-RR 2007, 979 ff. 525 Gesetz zur Reform des Versicherungsvertragsrecht, BGBl. I 2007 S.-2631. 526 Vgl. RegE des Gesetzes zur Reform des Versicherungsvertragsrechts, BTag-Drucks. 16/ 3945 S.-36. 527 Vgl. BeschlE des Gesetzes zur Reform des Versicherungsvertragsrechts, BT-Drucks. 16/ 5862 S.-85. 528 Art. 43 Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung vom 26.3.2007, BGBl. I S.-378. 529 Vgl. BeschlE des Gesetzes zur Reform des Versicherungsvertragsrechts, BT-Drucks. 16/ 5862 S.-101. Der BGH sah die unterbliebene Anzeige als schuldlos an, weil die Versicherungs‐ nehmerin durch das Gutachten in ihrer Ansicht bestätigt worden war, dass sie nicht an einer Depression leide, sie also insoweit gesund sei. 524 Wenn der Versicherungsnehmer seine vorvertragliche Anzeigepflicht schuldlos ver‐ letzt hat, so sieht das Gesetz (im Unterschied zu anderen Versicherungsverträgen) keine Anpassung des Vertrages durch Prämienzuschlag, Risikoausschluss oder Leistungsbe‐ grenzung vor (vgl. § 194 Abs. 1 S.-3, § 19 Abs. 4 VVG). Die Beendigung des Vertrages durch Kündigung des Versicherers (§ 19 Abs. 3 S. 2 VVG) ist dagegen in der seit dem 1.1.2009 geltenden Fassung nicht ausdrücklich ausgeschlossen. Dabei dürfte es sich jedoch um ein Redaktionsversehen innerhalb des Gesetzgebungsverfahrens handeln. § 194 Abs. 1 S. 3 VVG, der am 1.1.2008 in Kraft trat, schloss die Anwendung des § 19 Abs. 3 S. 2 und Abs. 4 VVG aus 525 . Diese Vorschrift entspricht dem Regierungsentwurf des Art. 1 des Gesetzes zur Reform des Versicherungsvertragsrechts. 526 Die ab dem 1.1.2009 geltende Fassung (also die ohne Ausschluss des § 19 Abs. 3 S. 2) geht dagegen auf Art. 11 des Reformgesetzes zurück, der durch den Rechtsausschuss des Bundestages ergänzt worden ist. 527 Mit dieser Ergänzung des Ausschusses sollten lediglich Änderungen des VVG, die zwischen dem Gesetzentwurf und der Beschlussempfehlung des Ausschusses durch ein anderes Gesetz in Kraft getreten waren 528 , inhaltsgleich in das ab dem 1.1.2009 geltende VVG überführt werden. 529 Die Änderungen durch das andere Gesetz betrafen aber nicht § 194 VVG, so dass ein Redaktionsversehen anzunehmen ist. Letztlich muss bei der Gesetzesanwendung der Sinn und Zweck der Vorschriften berücksichtigt werden: Wenn der schuldlos handelnde Versicherungsnehmer vor einer Vertragsanpassung geschützt werden soll, muss dies erst recht für die Beendigung des Vertrages gelten. Somit bleibt die schuldlose Anzeigepflichtverletzung für den Versicherungsnehmer folgenlos. Anders verhält es sich jedoch beim schuldhaften, also fahrlässigen, grob fahrlässigen, vorsätzlichen oder arglistigen Verstoß gegen § 19 Abs. 1 VVG. ❋ Wissen-│-Fahrlässigkeit (vgl. auch § 276 Abs. 2 BGB) Fahrlässigkeit liegt vor, „wenn der Handelnde die drohende Folge seines Verhaltens nicht vorhersieht und/ oder den an sein Verhalten anzulegenden Sorgfaltsmaßstab nicht erkennt, gerade darin aber das vorwerfbare Fehlverhalten liegt, weil bei der 3.2 Private Krankenversicherungsunternehmen 385 <?page no="386"?> 530 Felsch, Versicherungsvertragsgesetz, § 28 Rn. 94. 531 Felsch, a.-a.-O., § 28 Rn. 93. 532 Vgl. LG Stuttgart, Urt. v. 20.12.2010, 16 O 354/ 10, BeckRS 2012, 02789. 533 Armbrüster, Prölss/ Martin, VVG § 28 Rn. 205-m. w. N. gebotenen Anstrengung die Konsequenzen der Handlung und die daraus folgenden Handlungsrichtlinien erkennbar gewesen wären.“ 530 Ferner handelt der VN fahrlässig, wenn er erkennt, „dass sein Verhalten zu einer rechtlich missbilligten Folge führen kann, er ist also in der Lage, die eigentlich gebotene Sorgfalt zu erkennen, vertraut jedoch vorwerfbar darauf, dass die Folge ausbleiben wird, und lässt sich deshalb nicht von seiner sorgfaltswidrigen Hand‐ lungsweise abbringen.“ 531 ➤ Beispiel Ein Versicherungsnehmer hatte folgende Frage verneint: Werden derzeit Zahn‐ behandlungen, Zahnersatzmaßnahmen, Behandlungen wegen Zahn-, Kieferregu‐ lierungen oder Parodontose durchgeführt oder sind solche notwendig, angeraten oder beabsichtigt? Wenn ja, dann ist ein aktueller zahnärztlicher Befundbericht erforderlich. Zwei Jahre zuvor hatte der Zahnarzt dem VN einen Heil- und Kosten‐ plan für eine Zahnbehandlung erstellt. Diese diente angesichts von Auffälligkeiten (Spalten) an den Zahnverfüllungen als Vorsichtsmaßnahme zur Vermeidung der Verschlechterung des Zahnbestandes. Eine akute Behandlungsnotwendigkeit bestand nicht. Die Zahnbehandlung wäre zwar medizinisch sinnvoll, aber nicht notwendig gewesen. Der Versicherungsnehmer ließ die Zahnbehandlung seiner‐ zeit nicht durchführen. Das LG Stuttgart bejahte unter diesen Umständen zwar Fahrlässigkeit, lehnte aber grobe Fahrlässigkeit und Vorsatz ab. 532 ❋ Wissen-│-Grobe Fahrlässigkeit „Grob fahrlässig handelt, 'wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt gröblich, in hohem Grade, außer Acht lässt, wer nicht beachtet, was unter den gegebenen Umständen jedem einleuchten musste'.“ 533 ➤ Beispiel Ein Versicherungsnehmer hatte bei Antragstellung Taubheitsgefühle in beiden Händen, deren Ursache (noch) ungeklärt war, verschwiegen. Die insoweit rele‐ vante Frage lautete: Werden oder wurden Sie in den letzten fünf Jahren von einem Arzt, Heilpraktiker oder anderen Therapeuten in folgenden Bereichen behandelt, beraten oder untersucht? Bestehen oder bestanden bei Ihnen in den letzten fünf Jahren Krankheiten, Unfallfolgen oder Beschwerden in folgenden Bereichen? a) 386 3 Rechtliche Rahmenbedingungen für die Kostenträger <?page no="387"?> 534 Vgl. OLG Frankfurt a.-M., Urt. v. 19.1.2011, 7 U 77/ 10, BeckRS 2011, 28322. 535 Vgl. Armbrüster, Prölss/ Martin, VVG § 28 Rn. 188. 536 Vgl. Armbrüster, Prölss/ Martin, VVG § 22 Rn. 7-m. w. N. 537 Vgl. OLG Saarbrücken, Urt. v. 12.10.2005, 5 U 82/ 05, NJW-RR 2006, 607 ff. … s) Sonstige nicht aufgeführte Bereiche (z. B. gutartige Neubildungen, Herpes, Leistenbruch, Fistel, Wechseljahresbeschwerden)? Das OLG Frankfurt a. M. bejahte grobe Fahrlässigkeit, weil die Taubheitsgefühle dem Versicherungsnehmer präsent waren. Der behandelnde Arzt hatte keine Ursache gefunden, aber auch nicht erklärt, dass nur unverdächtige Ursachen in Betracht kämen. Die Taubheitsgefühle traten immer wieder auf und vergingen nicht sofort, sondern hielten eine Zeit lang an. Deshalb suchte der Versicherungs‐ nehmer den Arzt wiederholt auf. 534 ❋ Wissen-│-Vorsatz Vorsatz erfordert das Wollen der Anzeigepflichtverletzung im Bewusstsein des Vorhandenseins der Verhaltensnorm. Es genügt der sog. bedingte Vorsatz, der gegeben ist, wenn der Versicherungsnehmer eine Verletzung der Anzeigepflicht für möglich hält und diese billigend in Kauf nimmt. 535 ❋ Wissen-│-Arglist Arglist bedeutet, dass der Versicherungsnehmer wissentlich falsche Angaben macht und den Entschluss des Versicherers beeinflussen will. Er ist sich bewusst, dass der Versicherer möglicherweise seinen Antrag nicht oder nur unter erschwer‐ ten Bedingungen annehmen werde, wenn er die Fragen wahrheitsgemäß beant‐ worten würde. 536 ➤ Beispiel Das OLG Saarbrücken beurteilte die Angabe eines Versicherungsnehmers, dass eine Krankheit ausgeheilt sei, obwohl er sich ihretwegen in ständiger ärztlicher Behandlung befand, als arglistig. 537 Je nach Verschuldensgrad des Versicherungsnehmers hat der Versicherer verschiedene Reaktionsmöglichkeiten, die zum Teil noch an weitere Voraussetzungen geknüpft sind. Die Einzelheiten sind der nachfolgenden Tabelle zu entnehmen. 3.2 Private Krankenversicherungsunternehmen 387 <?page no="388"?> Fahrlässigkeit grobe Fahrlässigkeit Vorsatz Arglist Vorrang der An‐ passung vor der Be‐ endigung des Vertra‐ ges Keine Beendigung des Vertrages, wenn der Versicherer den Kranken‐ versicherungsvertrag mit anderen Bedingungen - wie z.-B. Prämi‐ enzuschlag, Selbstbehalt, Risikoaus‐ schluss oder Leistungsbegrenzung - geschlossen hätte (§ 19 Abs. 4 VVG). § 19 Abs. 4 VVG gilt nicht, so dass die An‐ passung des Vertrages keinen Vorrang vor der Beendigung hat. Beendi‐ gung des Vertrages Der Versicherer kann innerhalb eines Monats ab Kenntnis der Pflichtverlet‐ zung den Vertrag mit einmonati‐ ger Frist gem. § 19 Abs. 3 VVG kündigen. Allerdings ist die Kündigung aus‐ geschlossen, so‐ lange der Kon‐ trahierungszwang besteht (§ 206 Abs. 1 S.-1 VVG sowie § 110 Abs. 4 SGB XI). Der Versicherer kann innerhalb ei‐ nes Monats ab Kenntnis der Pflicht‐ verletzung vom Vertrag gem. §-19 Abs. 2 VVG zurücktreten. In der Pflegepflichtversicherung ist der Rücktritt des Versicherers gem. § 110 Abs. 4 SGB XI ausgeschlossen, solange der Kontrahierungszwang besteht. Der Versicherer kann innerhalb eines Jahres den Vertrag gem. § 22 VVG, §§-123 f. BGB anfechten. vorherige Belehrung des Versi‐ cherungs‐ nehmers über die Rechtsfol‐ gen Die Vertragsanpassung und -beendigung setzen voraus, dass der Versicherer den Versicherungsnehmer vorab in Textform auf die Folgen der Anzeigepflichtverletzung hingewiesen hat (§ 19 Abs. 5 S.-1 VVG). Die Anfechtung setzt keine vorhe‐ rige Rechtsfolgenbe‐ lehrung voraus (BGH, Urt. v. 12.3.2014, IV ZR 306/ 13, VersR 2014, 565 ff.) Kenntnis des Versi‐ cherers vom nicht angezeig‐ ten Gefah‐ rumstand bei Ver‐ trag‐ sschluss Wenn der Versicherer den Versicherungsvertrag in Kenntnis des nicht ange‐ zeigten Gefahrumstandes schließt, so kann er den Vertrag nicht nachträglich anpassen oder beenden. Für die fahrlässige, grob fahrlässige oder vorsätzliche Anzeigepflichtverletzung folgt dies aus § 19 Abs. 5 S. 2 VVG. Im Fall der Arglist folgt dies aus § 123 BGB. Wenn der Versicherer den Gefahrumstand kennt, ist die Täuschung nicht kausal für die Vertragsabschlusserklärung des Versicherers, so dass es an einer der in § 123 BGB geregelten Anfechtungsvoraussetzungen fehlt. 388 3 Rechtliche Rahmenbedingungen für die Kostenträger <?page no="389"?> Aus‐ schluss‐ fristen Die Vertragsanpassung und -been‐ digung sind nach Ablauf von drei Jahren nach Vertragsschluss ausge‐ schlossen (§ 21 Abs. 3 S. 1, § 194 Abs. 1 S.-4 VVG). Die Vertragsan‐ passung und -beendigung sind nach Ab‐ lauf von zehn Jahren nach Vertragsschluss ausgeschlossen (§ 21 Abs. 3 S.-2 VVG). Die Anfechtung ist gem. § 124 Abs. 3 BGB ausgeschlossen, wenn seit Abgabe der Willenserklärung des Versicherers zehn Jahre verstrichen sind. (§ 21 Abs. 3 VVG gilt für Anfech‐ tung wegen Arglist nicht, vgl. BGH, Urt. v. 25.11.2015, IV ZR 277/ 14, NJW 2016, 394 f.) Rechtsfol‐ gen der Beendi‐ gung Der Versiche‐ rungsnehmer muss bis zum Ablauf der Kün‐ digungsfrist Prä‐ mie zahlen (§ 39 Abs. 1 S. 1 VVG). Der Versicherer ist bis zum Ab‐ lauf der Kündi‐ gungsfrist zur Leistung ver‐ pflichtet (Um‐ kehrschluss aus § 21 Abs. 2 VVG). Der Versicherungsnehmer muss bis zum Wirksamwerden der Rück‐ trittserklärung Prämie zahlen (§ 39 Abs. 1 S.-2 VVG). Die Leistungs‐ pflicht des Versicherers beschränkt sich auf die Versicherungsfälle, für die der nicht angezeigte Gefahrum‐ stand nicht relevant ist (§ 21 Abs. 2 S.-1 VVG). Der Versicherungs‐ nehmer muss bis zum Wirksamwerden der Anfechtungser‐ klärung Prämie zah‐ len (§ 39 Abs. 1 S.-2 VVG). Der Versiche‐ rer muss keine Leis‐ tungen erbringen (§ 21 Abs. 2 S.-2 VVG). Tabelle 19: Reaktionsmöglichkeiten des Versicherers auf die vorvertragliche Anzeigepflichtverletzung durch den Versicherungsnehmer - 3.2.4.3 Vorvertragliche Informationspflicht des Versicherers Aufseiten des Versicherers gibt es ebenfalls eine vorvertragliche Informationspflicht. Der Versicherer muss den Versicherungsnehmer die Informationen zukommen lassen, die in § 7 Abs. 1, 2 VVG i. V. m. der VVG-InformationspflichtenVO vorgesehen sind. Das sind beispielsweise für einen Krankenversicherungsvertrag die: ● Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB), In der Praxis haben sich zum einen sog. Musterbedingungen durchgesetzt, wie beispielsweise die MB/ KK 2009 und MB/ KT 2009. Diese werden vom Verband der privaten Krankenversicherung herausgegeben. Sie sind zwar für die Versiche‐ rungsunternehmen nicht verbindlich. Gleichwohl verwenden viele Versicherer die Musterbedingungen für ihre Verträge. Dies hat traditionelle Gründe. Bis 3.2 Private Krankenversicherungsunternehmen 389 <?page no="390"?> 538 Drittes Gesetz zur Durchführung versicherungsrechtlicher Richtlinien des Rates der Europäischen Gemeinschaften v. 21.7.1994 BGBl. I, S.-1630, berichtigt S.-3134. zum Inkrafttreten des 3. DG/ EWG zum VAG 538 vom 21.7.1994 waren die Versi‐ cherungsbedingungen genehmigungspflichtig und die seinerzeit vorhandenen Musterbedingungen waren die von der Aufsichtsbehörde genehmigungsfähigen Bedingungen. Zum anderen gibt es AVB, wie z. B. AVB/ BT 2009 und MB/ PPV 2015, die branchen‐ einheitlich sind, weil die Versicherer zu einheitlichen (Mindest-) Versicherungen verpflichtet sind (vgl. z. B. § 152 Abs. 1 S. 1 VAG für den Basistarif, § 23 Abs. 1 S. 2 SGB XI für die Pflegepflichtversicherung). ● Besondere Versicherungsbedingungen (BVB), BVB sind Versicherungsbedingungen, die für ein konkretes Risiko, z.-B. Kranken‐ hausbehandlung ohne Wahlleistungen, verwendet werden. ● Tarifbestimmungen, Die Tarifbestimmungen konkretisieren die Leistungspflicht des Versicherers, z. B. die Regelung, dass Aufwendungen für die Leistungen eines Heilpraktikers erstattet werden. ● Identität des Versicherers nebst ladungsfähiger Anschrift, ● Versicherungsprämie, Steuern und in der Prämie einkalkulierten Kosten und ● Hinweise auf Möglichkeiten zur Beitragsbegrenzung im Alter. Diese Informationen muss der Versicherungsnehmer grundsätzlich vor seiner Ver‐ tragserklärung erhalten (§ 7 Abs. 1 S. 1 VVG). Nur in Ausnahmefällen, wenn der Vertrag z. B. auf Verlangen des Versicherungsnehmers telefonisch geschlossen werden soll, kann der Versicherer die Informationen nachreichen; dies muss dann unverzüglich nach Vertragsschluss erfolgen (vgl. § 7 Abs. 1 S.-3 VVG). Wenn der Versicherer seine vorvertragliche Informationspflicht verletzt, hat das folgende Konsequenz. Die 14-tägige Frist, innerhalb der der Versicherungsnehmer seine Vertragserklärung widerrufen kann (vgl. dazu den nachfolgenden Abschnitt), beginnt erst zu laufen, wenn der Versicherungsnehmer die notwendigen Informationen bekommen hat (§ 8 Abs. 2 VVG). - 3.2.4.4 Abschluss des Versicherungsvertrages ➤ Lernhinweis Repetieren Sie die §§ 145-157 BGB zum Zustandekommen eines Vertrages mit Hilfe eines Lehrbuchs zum Bürgerlichen Recht. Der Versicherungsvertrag ist ein privatrechtlicher Vertrag, so dass für seinen Abschluss die §§ 145 ff. BGB gelten. Von diesen Vorschriften wird jedoch § 150 Abs. 2 BGB, 390 3 Rechtliche Rahmenbedingungen für die Kostenträger <?page no="391"?> der die Annahme eines Vertragsangebots mit Änderungen regelt, durch § 5 VVG verdrängt. Wenn der Versicherungsschein vom Antrag des Versicherungsnehmers abweicht, so gelten die Abweichungen als genehmigt, wenn der Versicherungsnehmer nicht innerhalb von einem Monat ab Zugang des Versicherungsscheins widerspricht (§ 5 Abs. 1 VVG). Diese Genehmigungsfiktion setzt jedoch voraus, dass der Versiche‐ rungsnehmer über sie und über die Abweichung durch einen auffälligen Hinweis im Versicherungsschein aufmerksam gemacht worden ist (§ 5 Abs. 2 VVG). Wenn der Versicherer diesen Hinweis versäumt oder nicht auffällig gestaltet, so gilt nach § 5 Abs. 3 VVG, dass im Hinblick auf die Abweichung nicht der Versicherungsschein, sondern der Antrag des Versicherungsnehmers den Vertragsinhalt bestimmt. Das BGB regelt für bestimmte Verträge - z. B. dem Fernabsatzvertrag - ein Wider‐ rufsrecht für den Verbraucher (vgl. z. B. §§ 312c, 312 g, 355 BGB). Ein solches Widerrufs‐ recht ist für den Krankenversicherungsvertrag ebenfalls gesetzlich vorgesehen. Gem. § 8 VVG kann der Versicherungsnehmer seine Vertragserklärung ohne Angabe von Gründen innerhalb von 14 Tagen, nachdem er die nach § 7 Abs. 1, 2 VVG notwendigen Unterlagen (vgl. Abschnitt 3.2.4.3) sowie die Belehrung über die Widerrufsmöglichkeit erhalten hat, widerrufen. Der Mustertext einer Widerrufsbelehrung ist in der Anlage des VVG abgedruckt. Wenn der Versicherer diesen Mustertext verwendet, so genügt er auf jeden Fall den gesetzlichen Anforderungen. Für bestimmte Verträge, z. B. Reisekrankenversicherungsvertrag von unter einem Monat, ist das Widerrufsrecht ausgeschlossen (vgl. § 8 Abs. 3 VVG zu den Einzelheiten). Der Versicherungsnehmer hat für seinen Widerruf neben der Frist die Textform (§ 126b BGB) zu beachten. Das bedeutet, dass er seinen Widerruf beispielsweise per Brief, Fax oder E-Mail absenden kann. Wenn der Versicherungsnehmer seine Vertrags‐ erklärung wirksam widerrufen hat, so haben er und der Versicherer grundsätzlich die jeweils vor Zugang des Widerrufs empfangenen Leistungen zurück zu gewähren. Die diesbezüglichen Einzelheiten sind in den §§ 355, 357, 346 ff. BGB geregelt. Wenn der Versicherungsschutz mit Zustimmung des Versicherungsnehmers bereits vor Ablauf der Widerrufsfrist begonnen hat, so muss der Versicherer unter den in § 9 Abs. 1 VVG genannten Voraussetzungen nur die Prämie, die er für die Zeit nach dem Zugang erhalten hat, erstatten. - 3.2.4.5 Versicherungsbedingungen und Tarifbestimmungen als Vertragsbestandteil ➤ Lernhinweis Repetieren Sie die §§ 305-310 BGB zur vertraglichen Einbeziehung und Wirk‐ samkeit der Allgemeinen Geschäftsbedingungen mit Hilfe eines Lehrbuchs zum Bürgerlichen Recht. 3.2 Private Krankenversicherungsunternehmen 391 <?page no="392"?> 539 Vgl. Armbrüster, Prölss/ Martin, VVG Einleitung Rn. 260-m. w. N. 540 Vgl. BGH, Urt. v. 27.2.2008, IV ZR 219/ 06, NJW 2008, 1820 ff. Die Allgemeinen und Besonderen Versicherungsbedingungen sowie die Tarifbestim‐ mungen eines Krankenversicherers erfüllen üblicherweise die Definition des § 305 Abs. 1 BGB und gelten somit als Allgemeine Geschäftsbedingungen. Sie werden gem. §-305 Abs.-2, §-305c Abs.-1 BGB Vertragsinhalt. Die Versicherungsbedingungen und Tarife des Versicherungsvertrages werden bei der Rechtsanwendung aus der Sicht eines aufmerksamen, verständigen, durchschnitt‐ lichen Versicherungsnehmers, der die Versicherungsbedingungen und Tarife unter Einbeziehung der Interessen der Beteiligten und des erkennbaren Sinnzusammenhangs würdigt, ausgelegt. 539 Sie unterliegen als Allgemeine Geschäftsbedingungen der Inhaltskontrolle gem. §§-307-309 BGB. Bei einem Verstoß gegen diese Vorschriften sind sie unwirksam. ➤ Beispiel BGH 540 sah folgende Klauseln (in Verbindung) wegen des Verstoßes gegen § 307 Abs. 2 Nr.-2 BGB als unwirksam an: Tarifbedingungen Nr.-2: Versicherungsfähig sind […] Personen, die in einem ständigen festen Dienst- oder Arbeitsverhältnis gegen Entgelt stehen (Arbeitnehmer) […] § 15 Buchst. a MB/ KT 1994: Das Versicherungsverhältnis endet […] bei Wegfall einer im Tarif bestimmten Voraussetzung für die Versicherungsfähigkeit zum Ende des Monats, in dem die Voraussetzung weggefallen ist. […] Der BGH verwies darauf, dass diese Regelungen den Versicherungsnehmer unangemessen benachteiligen würden, weil der Vertrag ende, obwohl sich der Versicherungsnehmer möglicherweise sofort und ernsthaft um die Begründung eines neuen Arbeitsverhältnisses bemühe und während dieser Zeit arbeitsunfähig werde. Die Zeiten der Arbeitssuche nach Beendigung eines Arbeitsverhältnisses seien ebenfalls Teil der Erwerbstätigkeit des Versicherungsnehmers. Wenn die Versicherungsbedingungen und Tarife nicht Bestandteil des Vertrages ge‐ worden oder unwirksam sind, so richtet sich der Vertragsinhalt nach den gesetzlichen Bestimmungen (§ 306 Abs. 2 BGB). Allerdings handelt es sich bei einer Versicherung um ein „Rechtsprodukt“, das durch die Versicherungsbedingungen und Tarife geprägt wird. Die vorhandenen gesetzlichen Bestimmungen sind nicht in jedem Fall geeignet, die (Hauptleistungs-)Pflichten der Vertragspartner ausreichend abzubilden, um die beiderseitigen Interessen zu wahren. Dies würde in der Konsequenz dazu führen, dass der Vertrag insgesamt unwirksam wird (vgl. § 306 Abs. 3). Um dieser Konsequenz zu begegnen, gibt es die Möglichkeit einer ergänzenden Vertragsauslegung (§§ 133, 157 BGB), die darauf abzielt, offene Punkte des Vertrages unter angemessener Abwägung 392 3 Rechtliche Rahmenbedingungen für die Kostenträger <?page no="393"?> 541 Vgl. BGH, Urt. v. 6.7.2016, IV ZR 44/ 15, NJW 2017, 388 ff. [392]. 542 Vgl. Rudy, Prölss/ Martin, VVG § 3 Rn. 1, 2. 543 Vgl. BGH, Urt. v. 21.9.2005, IV ZR 113/ 04, NJW 2005, 3783 [3783]. 544 Vgl. Voit, Prölss/ Martin, VVG § 192 Rn. 43. der beiderseitigen Interessen zu regeln. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass die ergänzende Vertragsauslegung den Vertragsgegenstand nicht erweitert, das Festhalten am Vertrag ohne Ergänzung unzumutbar wäre und der ergänzte Vertrag auch für den Versicherungsnehmer von Interesse ist. Wenn die Voraussetzungen gegeben sind, so ist die Ergänzung maßgeblich, die die Vertragsparteien unter Berücksichtigung der beiderseitigen Interessen nach Treu und Glauben redlicherweise vereinbart hätten, wenn sie die Lücke bei Vertragsschluss erkannt hätten. 541 Im Fall der Unwirksamkeit einer Versicherungsbedingung oder Tarifbestimmung hat der Versicherer zudem die alternative Möglichkeit, die vertragliche „Lücke“ gem. § 203 Abs. 4, § 164 VVG zu schließen (vgl. dazu Abschnitt 3.2.7). - 3.2.4.6 Bedeutung des Versicherungsscheins Der Versicherer hat dem Versicherungsnehmer lt. § 3 VVG einen Versicherungsschein in Textform (§ 126b BGB), oder auf dessen Verlangen als Urkunde, zu übermitteln. Der Versicherungsschein hat eine Beweisfunktion, er bestätigt ● das Zustandekommen des Versicherungsvertrages und ● den Inhalt des Versicherungsvertrages. 542 3.2.5 Versicherungsfall und Leistungsbegrenzungen Der Versicherungsfall ist das Ereignis, das die Leistungspflicht des Versicherers auslöst. Er ist für die verschiedenen Krankenversicherungsarten in § 192 VVG festgelegt. ❋ Wissen │ Versicherungsfall der Krankheitskostenversicherung, § 192 Abs. 1 VVG Gem. § 192 Abs. 1 VVG (siehe auch § 1 Abs. 2 MB/ KK 2009) bildet die medizinisch notwendige Heilbehandlung der versicherten Person wegen Krankheit oder Un‐ fallfolgen den Versicherungsfall der Krankheitskostenversicherung. Ferner werden Schwangerschaft und Entbindung in den Versicherungsschutz einbezogen. Unter Krankheit wird ein anormaler Zustand, der nicht nur eine unerhebliche Störung körperlicher und/ oder geistiger Funktionen bedeutet. 543 Dieser anormale Zustand kann auch auf einem Unfall beruhen. Mit der ausdrücklichen Erwähnung des Unfalls wird verdeutlicht, dass neben den inneren Ursachen auch äußere Ereignisse die Krankheit auslösen können. 544 Die medizinisch notwendige Heilbehandlung erfasst jede ärztliche Tätigkeit, die darauf gerichtet ist, die Krankheit zu erfassen, zu heilen, den krankheitsbedingten 3.2 Private Krankenversicherungsunternehmen 393 <?page no="394"?> 545 Vgl. Voit, Prölss/ Martin, VVG § 192 Rn. 48. 546 Vgl. BGH, Urt. v. 10.7.1996, IV ZR 133/ 95, NJW 1996, 3074 [3075]. 547 Vgl. BGH, Urt. v. 29.3.2017, IV ZR 533/ 15, NJW 2017, 2408 ff. Zustand zu verbessern, die Verschlimmerung der Krankheit zu verzögern oder zu verhindern oder Beschwerden zu lindern. Vorsorgeuntersuchungen zur Früh‐ erkennung von Krankheiten werden kraft Gesetzes (§ 192 Abs. 1 VVG) einbezogen, weil sie nicht per se unter den Begriff der Heilbehandlung, der an eine bereits eingetretene Krankheit anknüpft, fallen. 545 Zudem muss die ärztliche Maßnahme medizinisch notwendig sein. Das bedeutet, dass es nach den objektiven anamnes‐ tisch und diagnostisch gewonnenen Erkenntnissen zum Zeitpunkt der Vornahme der ärztlichen Maßnahme vertretbar war, sie als notwendig anzusehen. 546 Dieser Ansatz wird sowohl dem nicht vorhersagbaren Behandlungserfolg als auch der medizinischen Methodenpluralität gerecht. ➤ Beispiel Eine Fehlsichtigkeit von -3 und -2,75 Dioptrien stellt eine Krankheit dar, auch wenn sie Folge eines natürlichen Alterungsprozesses ist und bei 30-40 % der Menschen im entsprechenden Alter auftritt. Maßgeblich ist, dass sie eine nicht unerhebliche Abweichung vom Normalzustand der Sehfähigkeit ist, die ein beschwerdefreies Lesen und eine gefahrenfreie Teilnahme am Straßenverkehr einschließt. Die Fehlsichtigkeit kann mit einer sog. Lasik-Operation behandelt werden. Bei der Operation wird mittels Laser Gewebe in der Hornhaut abgetragen und somit die Hornhautkrümmung verändert. Zu der Fragen, ob die Operation eine medizi‐ nisch notwendige Heilbehandlung ist, gibt es unterschiedliche Entscheidungen der Instanzgerichte. Der BGH hat sich 2017 wie folgt positioniert: Wenn eine Lasik-Operation im Fall des betroffenen Versicherungsnehmers geeignet ist, die Fehlsichtigkeit zu heilen, zu lindern oder ihrer Verschlimmerung entgegenzu‐ wirken, so stelle die Operation eine medizinisch notwendige Heilbehandlung dar. Dem stehe die Möglichkeit, dass der Versicherungsnehmer eine Brille oder Kontaktlinsen tragen könne, nicht entgegen. Die Sehhilfen seien Hilfsmittel, die lediglich eine Behinderung ausgleichen. Mit ihnen werde die Funktionsfähigkeit der Augen nicht wieder hergestellt. Der BGH verwies das Verfahren zur erneuten Entscheidung an das Berufungsgericht zurück. 547 ❋ Wissen-│-Versicherungsfall der Krankentagegeldversicherung Der Versicherungsfall der Krankentagegeldversicherung ist die Arbeitsunfähigkeit der versicherten Person wegen Krankheit oder Unfall (vgl. § 192 Abs. 5 VVG, § 1 Abs. 2, 3 MB/ KT 2009). 394 3 Rechtliche Rahmenbedingungen für die Kostenträger <?page no="395"?> 548 BGH, Urt. v. 9.3.2011, IV ZR 137/ 10, NJW 2011, 1675 ff. [1676]. 549 BGH, Urt. v. 20.5.2009, IV ZR 274/ 06, NJW-RR 2009, 1189 ff. [1191]. 550 Vgl. BGH, Urt. v. 11.3.2015, IV ZR 54/ 14, VersR 2015, 570 f. Arbeitsunfähigkeit liegt vor, „wenn die versicherte Person ihre berufliche Tätigkeit nach medizinischem Befund vorübergehend in keiner Weise ausüben kann, sie auch nicht ausübt und keiner anderweitigen Erwerbstätigkeit nachgeht. Diese Definition der Arbeitsunfähigkeit knüpft an die konkrete berufliche Tätigkeit der versicherten Person und nicht allgemein an ihre beruflichen Möglichkeiten an. Dementsprechend bemisst sich die Arbeitsunfähigkeit nach der bisherigen Art der Berufsausübung, selbst wenn der Versicherte noch andere Tätigkeiten ausüben kann […]. Daher ist der Versicherer nicht berechtigt, den Versicherungsnehmer auf so genannte Vergleichsberufe oder gar auf sonstige, auf dem Arbeitsmarkt angebotene Erwerbstätigkeiten zu verweisen […]. Ob der Versicherte seinem Beruf nicht mehr in der bisherigen Ausgestaltung nachgehen kann, ist durch einen Vergleich der Leistungsfähigkeit, die für die bis zur Erkrankung konkret ausgeübte Tätigkeit erforderlich ist, mit der noch verbliebenen Leistungsfähigkeit festzustellen.“ 548 Zudem ist der Versicherungsnehmer „nicht gezwungen, seine berufliche Tätigkeit durch Austausch oder Veränderung der bislang eingesetzten Arbeitsmittel neu zu organisieren.“ 549 ➤ -(Gegen-)Beispiel Der BGH 550 verneinte den Versicherungsfall für folgende Wiedereingliederungs‐ maßnahme eines Versicherungsnehmers: Dieser war wegen eines Burn-out-Synd‐ roms erkrankt und erhielt zunächst Krankentagegeld von seinem Kran‐ kenversicherer. Vor Wiederaufnahme seiner Arbeitstätigkeit erfolgte eine Wiedereingliederung (i. S. d. § 74 SGB V), um den Versicherungsnehmer kontinu‐ ierlich an die Arbeitsbelastungen heranzuführen. In den ersten beiden Wochen arbeitete er täglich drei Stunden, in der dritten und vierten Woche sechs Stunden. Während dieser vier Wochen bezog er keinen Lohn von seinem Arbeitgeber. Der BGH verwies darauf, dass Arbeitsunfähigkeit nur vorliege, wenn der Versi‐ cherungsnehmer seiner Tätigkeit in keiner Weise nachgehen kann. Sobald er seine Tätigkeit teilweise verrichten kann, ist er im Sinne der privaten Kranken‐ versicherung arbeitsfähig. ❋ Wissen-│-Versicherungsfall der Privaten Pflegeversicherung Der Versicherungsfall der Privaten Pflegepflichtversicherung ist die Pflegebedürf‐ tigkeit, die dem Begriff der sozialen Pflegeversicherung entspricht. Nähere Erläu‐ terungen finden Sie im Abschnitt 3.1.11. 3.2 Private Krankenversicherungsunternehmen 395 <?page no="396"?> Mit der jeweiligen gesetzlichen Definition des Versicherungsfalls geht ein sog. primärer Risikoausschluss einher. Das Ereignis, das nicht die versicherte Gefahr verwirklicht, ist nicht in den Versicherungsschutz eingeschlossen. Beispielsweise schließt der Versi‐ cherungsfall der Krankheitskostenversicherung, der an eine Krankheit anknüpft, keine Schönheitsoperationen ein. Da der Versicherungsfall mitunter eine sehr weitgehende Leistungspflicht des Versicherers auslösen kann, regeln die Versicherungsbedingungen Leistungsbegrenzungen. Diese Begrenzungen bzgl. der übernommenen Gefahr werden als sekundäre Risikoausschlüsse bezeichnet. Wenn dagegen derartige Begrenzungen wiederum eingeschränkt, der Versicherungsschutz also wieder in einer bestimmten Hinsicht ausgeweitet wird, handelt es sich um sog. Ausweitungen. ➤ Beispiel │ modifizierte Wissenschaftsklausel der Krankheitskosten‐ versicherung Sekundärer Risikoausschluss gem. § 4 Abs. 6 S.-1 MB/ KK 2009: Der Versicherer leistet im vertraglichen Umfang für Untersuchungs- oder Be‐ handlungsmethoden und Arzneimittel, die von der Schulmedizin überwiegend anerkannt sind. Ausweitung gem. § 4 Abs. 6 S.-2 MB/ KK 2009: Er leistet darüber hinaus für Methoden und Arzneimittel außerhalb der Schulme‐ dizin, wenn sie sich in der Praxis ebenso erfolgversprechend bewährt haben oder sie angewendet werden, weil es auch keine schulmedizinische Methode gibt; […] Diese modifizierte Wissenschaftsklausel schränkt den Begriff der medizinisch notwen‐ digen Heilbehandlung ein, der für sich genommen die Methoden verschiedener The‐ rapierichtungen zulässt (selbstverständlich ohne Wunderheilung und Scharlatanerie). Sie begrenzt die Leistungspflicht des Versicherungsunternehmens grundsätzlich auf die schulmedizinischen Methoden. Nur unter den Voraussetzungen des § 4 Abs. 6 S. 2 MB/ KK 2009 muss das Versicherungsunternehmen für andere Therapierichtungen leisten. 3.2.6 Pflichten und Obliegenheiten der Vertragsparteien - 3.2.6.1 Pflichten des Versicherers Die Hauptpflicht des Versicherers ist die Gewährung der vereinbarten Leistungen im Versicherungsfall (§ 1 S. 1, § 192 VVG). Welche Leistungen geschuldet werden, bestimmt sich nach den jeweiligen Vereinbarungen der Vertragsparteien, die vor allem in den Versicherungsbedingungen und Tarifbestimmungen festgehalten sind, sowie ggf. vorhandenen gesetzlichen Vorgaben. In der Krankheitskostenversicherung schuldet der Versicherer den Ersatz der Auf‐ wendungen insbesondere für 396 3 Rechtliche Rahmenbedingungen für die Kostenträger <?page no="397"?> 551 Vgl. Schleswig-Holsteinsches OLG, Urt. v. 24.11.2011, 16 U 43/ 11, juris. ● ambulante Heilbehandlung durch Ärzte freier Wahl, ● stationäre Krankenhausbehandlung, ● Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmittel, ● Zahnbehandlung und Zahnersatz, ● Untersuchungen und medizinisch notwendige Behandlung wegen Schwanger‐ schaft und Entbindung (vgl. zu den Einzelheiten z. B. § 192 Abs. 1, 3 VVG, §§ 1, 4, 5 MB/ KK 2009 bzw. für den Basistarif §§§ 1, 4, 5 AVB/ BT 2009). Wenn die Heilbehandlung voraussichtlich mehr als 2.000,- Euro kostet, hat der Versicherungsnehmer gem. § 192 Abs. 8 VVG einen gesetzlichen Anspruch auf eine vorherige Auskunft über den Umfang des Versicherungsschutzes. Die vertraglich vereinbarten Leistungen der Krankheitskostenversicherung können (außer bei der Versicherung im Basistarif nach § 152 VAG) von den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung abweichen. ➤ Beispiel Gem. § 37 SGB V gehört die Medikamentengabe zu den Leistungen einer Krankenkasse. Eine pflegebedürftige Versicherungsnehmerin erhielt Arzneimittel und Medikamentengabe durch einen Pflegedienst verordnet. Der Pflegedienst berechnete für jede Medikamentengabe 9,02 Euro. Diese erstattete der private Krankenversicherer nicht, weil nach dem vereinbarten § 4 Abs. 1, 3 MB/ KK und den einschlägigen Tarifen zwar die Arzneimittel, nicht aber die mit der Einnahme der Mittel verbundenen Kosten versichert waren. Die Zahlungsklage der Versicherungsnehmerin wurde abgewiesen. 551 In der Krankentagegeldversicherung schuldet der Versicherer den vereinbarten Betrag für die Zeit der ärztlich bestätigten Arbeitsunfähigkeit. Die Leistung ist jedoch auf das durchschnittliche Nettoeinkommen der letzten 12 Monate vor der Arbeitsunfähigkeit begrenzt (§ 192 Abs. 5 VVG, §§ 4, 5 MB/ KT 2009). Für die private Pflegepflichtversicherung gibt § 23 Abs. 1 S. 2 SGB XI vor, dass die Leistungen mindestens denen der sozialen Pflegeversicherung entsprechen müssen. Näheres zu den Leistungen finden Sie im Abschnitt 3.1.11 sowie in den § 4 MB/ PPV 2017. Für die Leistungen können - unter Beachtung der §§ 197, 208 VVG - Wartezeiten vertraglich festgelegt werden. Als Wartezeit wird die Zeit zwischen dem Beginn des Versicherungsverhältnisses (formeller Versicherungsbeginn) und dem Beginn des Versicherungsschutzes (materieller Versicherungsbeginn) bezeichnet. Die Leistungs‐ verpflichtung tritt erst nach Ablauf der vereinbarten Wartezeit ein. Die Länge der Wartezeit ergibt sich beispielsweise aus: 3.2 Private Krankenversicherungsunternehmen 397 <?page no="398"?> ● § 3 MB/ KK 2009, § 197 VVG (Krankheitskosten- und Krankenhaustagegeldversi‐ cherung), ● § 3 MB/ KT 2009, § 197 VVG (Krankentagegeldversicherung), ● § 33 SGB XI, § 110 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c, Abs. 3 Nr. 4 SGB XI, § 3 MB/ PPV 2017 (Private Pflegepflichtversicherung). Für die Krankenversicherung im Basistarif ist dagegen keine Wartezeit zulässig (vgl. auch § 3 AVB/ BT 2009), da sonst die Entsprechung zu den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung fehlen würde. Die Leistungspflicht des Versicherungsunternehmens kann gesetzlich oder vertrag‐ lich eingeschränkt oder ausgeschlossen sein. Nach § 201 VVG ist der Versicherer nicht zur Leistung verpflichtet, wenn der Versicherungsnehmer bzw. der Versicherte die Krankheit oder den Unfall vorsätzlich herbeiführt hat. Ferner können die Leistungen der Krankheitskostenversicherung reduziert werden, soweit die Aufwendungen für die Heilbehandlung oder sonstigen Leistungen in einem auffälligen Missverhältnis zu den erbrachten Leistungen stehen (§ 192 Abs. 2 VVG). Weitere Ausschlüsse sind im § 5 MB/ KK 2009, § 5 MB/ KT 2009, §§ 5, 5a MB/ PPV 2017 vorgesehen. ➤ Beispiel Keine Leistungspflicht besteht gem. § 5 Abs. 1 Buchst. g MB/ KK 2009 für Behand‐ lungen des Versicherten durch Ehegatten, Lebenspartner, Eltern oder Kinder (nur nachgewiesene Sachkosten werden tarifgemäß erstattet) sowie gem. § 5 Abs. 1 Buchst. b MB/ KK 2009 für Entziehungsmaßnahmen, inkl. Entziehungskuren. Wenn der Versicherer die geschuldeten Leistungen nicht erbringt, kann der Versiche‐ rungsnehmer auf Erfüllung des Krankenversicherungsvertrages klagen. Bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 323 BGB kann der Versicherungsnehmer vom Vertrag zurücktreten. Bei Zahlungsverzug schuldet der Versicherer Verzugszinsen gem. § 288 BGB. Der Versicherer hat neben der Gewährung der Leistungen im Versicherungsfall weitere Pflichten. So muss er beispielsweise dem Versicherungsnehmer einen Versiche‐ rungsschein übermitteln (vgl. Abschnitt 3.2.4.6) und gegenüber dem Versicherungs‐ nehmer oder Versicherten gem. § 202 VVG Auskunft geben, wenn er zur Prüfung seiner Leistungspflicht Gutachten oder Stellungnahmen eingeholt hat. - 3.2.6.2 Pflichten und Obliegenheiten des Versicherungsnehmers Die Hauptpflicht des Versicherungsnehmers ist die Prämienzahlung (§ 1 S. 2 VVG). Die Höhe der Prämie hängt zum einen von den Vereinbarungen der beiden Vertragsparteien ab. Für ein erhöhtes Risiko kann grundsätzlich ein Risikozuschlag vereinbart werden. Davon ausgenommen sind die Krankenversicherung im Basistarif gem. § 203 Abs. 1 S. 2 VVG sowie die Verträge der Pflegepflichtversicherung, die bereits vor dem 01.01.1995 geschlossen worden waren, gem. § 110 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. d SGB XI. Zum anderen 398 3 Rechtliche Rahmenbedingungen für die Kostenträger <?page no="399"?> 552 Einführungsgesetz zum Versicherungsvertragsgesetz i. d. i. BGBl. III, Gliedergs-Nr. 7632-2 veröff. bereinigten F., z. g. d. G. v. 9.6.2021, BGBl. I S.-1666. unterliegt die Bestimmung der Prämienhöhe durch den Versicherer verschiedenen gesetzlichen Vorgaben (vgl. dazu Abschnitt 3.2.9.3). Beschäftigte, die nach § 6 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3a oder § 8 SGB V nicht der Versicherungs‐ pflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung unterliegen und eine substitutive Krankenversicherung abgeschlossen haben, erhalten von ihrem Arbeitgeber gem. § 257 SGB V einen Beitragszuschuss. Für die Pflegepflichtversicherung ist in § 61 Abs. 5, 6 SGB XI ebenfalls ein Beitragszuschuss vorgesehen. Die Erstprämie ist 14 Tage nach Zugang des Versicherungsscheins fällig (§ 33 VVG). Ihr kommt eine besondere Bedeutung zu. Wenn sie nicht gezahlt wird, so ist der Versicherer gem. § 37 Abs. 1 VVG zum Rücktritt vom Vertrag berechtigt. Ferner muss der Versicherer keine Leistung erbringen, vorausgesetzt er hat den Ver‐ sicherungsnehmer über diese Folge mit auffälligem Hinweis im Versicherungsschein oder mit gesonderter Mitteilung in Textform aufgeklärt (§ 37 Abs. 2 VVG). Von einem Pflegepflichtversicherungsvertrag kann das Versicherungsunternehmen jedoch nicht zurücktreten, solange der Kontrahierungszwang besteht (§ 110 Abs. 4 SGB XI). In diesem Fall besteht nur die Leistungsfreiheit. Die Fälligkeit der Folgeprämien kann sich aus dem Vertrag ergeben (siehe z. B. § 8 MB/ KK 2009, § 8 MB/ KT 2009). Wenn eine vertragliche Vereinbarung fehlt, gilt § 271 BGB. Das heißt, dass die Prämie zu Beginn jeder neuen Versicherungsperiode fällig ist. Der Zahlungsverzug mit der Folgeprämie hat folgende Konsequenzen: Wenn der Versicherungsnehmer den Krankenversicherungsvertrag zur Erfüllung seiner gesetzlichen Verpflichtung nach § 193 Abs. 3 VVG, also im Rahmen des Kontrahierungszwangs, abgeschlossen hat, so kann der Vertrag vom Versicherer bei Zahlungsverzug nicht gekündigt werden (vgl. § 206 Abs. 1 S. 1 VVG). Für den Fall des Zahlungsverzuges gibt es deshalb in § 193 Abs. 6-10 VVG Sonderregelungen (sowie Art. 7 EGVVG 552 für Verträge, die bereits am 1.8.2013 ruhten). Unter den dort geregelten Voraussetzungen wird der Versicherungsvertrag, wenn der Versicherungsnehmer mit einem Betrag in Höhe von zwei Monatsprämien in Rückstand gerät, in den Notlagen‐ tarif gem. § 153 VAG überführt. Dieser Tarif sieht auf der einen Seite eine reduzierte Prämie sowie auf der anderen Seite nur noch die Erstattung der Aufwendungen für die Behandlung von akuten Krankheiten und Schmerzen, für Leistungen bei Schwangerschaft und Mutterschaft sowie bei Kindern für Vorsorgeuntersuchungen und Schutzimpfungen vor (§ 153 VAG, §-1 AVB/ NLT 2013). Krankenversicherungsverträge, die nicht dem Kontrahierungszwang unterliegen, können bei Verzug mit der Prämienzahlung unter den Voraussetzungen des § 38 VVG vom Versicherer gekündigt werden. Da es sich um ein Sonderkündigungsrecht handelt, gelten die Ausschlüsse der ordentlichen Kündigungen gem. § 206 Abs. 1 S. 2-4, Abs. 2 VVG nicht. Anders verhält es sich in der Pflegepflichtversicherung. Hier erfasst der in § 110 Abs. 4 SGB XI geregelte Kündigungsausschluss auch das Kündigungsrecht 3.2 Private Krankenversicherungsunternehmen 399 <?page no="400"?> 553 Vgl. AG München, Urt. v. 4.7.2013, 282 C 28161/ 12, NZS 2014, Heft 6, S. VI (Kurzmitteilung). 554 Vgl. KG, Urt. v. 4.7.2014, 6 U 30/ 13, VersR 2015, 94 ff. [95]. 555 Vgl. Armbrüster, Prölss/ Martin, VVG § 28 Rn. 2. nach § 38 VVG, so dass das Versicherungsunternehmen nur die Prämie einklagen und sich im Versicherungsfall auf die Leistungsfreiheit berufen kann. Versicherte, die nicht Versicherungsnehmer sind, können bei wirksamer Vertragskündigung die Prämie für sich selbst zahlen und den Vertrag fortsetzen (§-206 Abs. 3 VVG). Neben der Verpflichtung zur Prämienzahlung können sich aus dem Versicherungs‐ vertrag (i. V. m. § 241 Abs. 2 BGB) weitere Pflichten für den Versicherungsnehmer ergeben, z.-B. die Pflicht zur Rechnungsprüfung. ➤ Beispiel Ein Versicherungsnehmer reichte bei einem Versicherer eine Rechnung ein, mit der u. a. eine nicht erbrachte Akkupunkturbehandlung abgerechnet wurde. Der Versicherer bezahlte zunächst die Rechnung, forderte aber, nachdem er erfahren hatte, dass die Akkupunkurbehandlung nicht erfolgt war, die Überzahlung zurück. Das AG München 553 verurteilte den Versicherungsnehmer zur Rückzahlung, weil er die vertragliche Nebenpflicht verletzt habe, Rechnungen daraufhin zu prüfen, dass nur tatsächlich erbrachte Behandlungen abgerechnet werden. Neben den Pflichten statuieren das VVG und häufig auch die Versicherungsverträge für den Versicherungsnehmer und/ oder Versicherten Obliegenheiten. Dabei handelt es sich um Verhaltensnormen, die zwar nicht selbständig vom Versicherer einklagbar sind, dennoch vom Versicherungsnehmer/ Versicherten zur Sicherung seines vertraglichen Erfüllungsanspruchs beachtet werden müssen. 554 Beispielsweise muss der Versiche‐ rungsnehmer/ Versicherter ● den Versicherungsfall anzeigen (§ 30 VVG), ● zur Feststellung der Leistungspflicht des Versicherers Auskünfte erteilen und Belege vorlegen (§-31 VVG), ● gem. § 9 Abs. 1 MB/ KK 2009 eine Krankenhausbehandlung innerhalb von zehn Tagen nach ihrem Beginn anzeigen. Die Rechtsfolgen einer Obliegenheitsverletzung sind entweder spezialgesetzlich für die konkrete Obliegenheit geregelt oder, wenn das nicht der Fall ist, dem § 28 VVG zu entnehmen. § 28 VVG gilt seinem Wortlaut nach zwar nur für die vertraglichen Oblie‐ genheiten. Gleichwohl wird er auch für die gesetzlichen Obliegenheiten angewendet, für die die Rechtsfolgen nicht gesetzlich, sondern vertraglich geregelt sind. 555 Wenn im Vertrag eine Leistungsfreiheit des Versicherers als Folge einer Obliegen‐ heitsverletzung vorgesehen ist, so sind die Einzelheiten der Leistungsfreiheit dem § 28 Abs. 2-4 VVG zu entnehmen: 400 3 Rechtliche Rahmenbedingungen für die Kostenträger <?page no="401"?> 556 Vgl. Armbrüster, Prölss/ Martin, VVG § 28 Rn. 261-m. w. N. Obliegenheitsverletzung (vor oder nach Eintritt des Versicherungsfalls) - fahrlässig grob fahrlässig vorsätzlich arglistig Leistungs‐ freiheit gem. § 28 Abs. 2, 4 VVG Leistungsver‐ pflichtung des Versicherers bleibt beste‐ hen Quotelung der Leistung nach der Schwere des Ver‐ schuldens des Versicherungs‐ nehmers vollständige Leistungsfreiheit des Versicherers Bei Verletzung einer Auskunfts- und Aufklärungsobliegenheit nach Ein‐ tritt des Versicherungsfalls tritt eine teilweise oder vollständige Leistungs‐ freiheit nur ein, wenn der Versiche‐ rungsnehmer ordnungsgemäß über die Rechtsfolgen belehrt wurde. Leistungsfreiheit auch bei nicht ord‐ nungsgemäßer Rechtsfolgenbe‐ lehrung, weil Ver‐ sicherungsnehmer nicht schutzwür‐ dig ist 556 Bedeutung der Kausali‐ tät gem. § 28 Abs. 3 VVG siehe oben Versicherer bleibt zur Leistung verpflichtet, wenn Obliegenheitsver‐ letzung für Feststellung des Ver‐ sicherungsfalls und Leistungsver‐ pflichtung nicht ursächlich ist Leistungsfreiheit des Versicherers auch bei fehlender Kausalität Tabelle 20: Leistungsverpflichtung des Versicherers bei einer Obliegenheitsverletzung durch den Ver‐ sicherungsnehmer Für eine Obliegenheit, die vor dem Eintritt des Versicherungsfalls zu erfüllen ist, regelt §-28 Abs. 1 VVG zusätzlich eine Kündigungsmöglichkeit für den Versicherer. Bei grob fahrlässiger oder vorsätzlicher Verletzung dieser Obliegenheit, kann der Versicherer innerhalb eines Monats nach Kenntniserlangung den Vertrag fristlos kündigen. ➤ Beispiel │ Krankentagegeldversicherung Nach § 9 Abs. 5 MB/ KT 2009 muss der Versicherungsnehmer einen Berufswechsel anzeigen. Unterlässt er diese Mitteilung grob fahrlässig oder vorsätzlich, so besteht für den Versicherer das Kündigungsrecht gem. § 28 Abs. 1 VVG (siehe auch § 10 Abs. 2 MB/ KT 2009). Ein solches Kündigungsrecht besteht jedoch in der Pflegepflichtversicherung und der Krankheitskostenversicherung, zu der der Versicherte gem. § 193 Abs. 3 S. 1 VVG verpflichtet ist, nicht. Bei diesen beiden Versicherungsarten ist das Kündigungsrecht des Versicherungsunternehmens gem. § 110 Abs. 4 SGB XI bzw. § 206 Abs. 1 S. 1 VVG ausgeschlossen. 3.2 Private Krankenversicherungsunternehmen 401 <?page no="402"?> 3.2.7 Änderung des Versicherungsvertrages Während der Laufzeit eines Kranken- und Pflegekrankenversicherungsvertrages kom‐ men verschiedene Vertragsänderungen in Betracht. Abbildungsnummer: 70 Überblick über die gesetzlichen Änderungstatbestände gesetzliche Änderungstatbestände Anpassen der Prämie gem. § 203 Abs. 2 VVG Herabsetzen einer höheren Prämie gem. § 41 VVG Anpassen der Versicherungsbedingungen und Tarife gem. § 203 Abs. 3 VVG Lückenfüllung gem. § 203 Abs. 4, § 164 VVG Anpassung an eine Änderung des Beihilfeanspruchs gem. § 199 Abs. 2 VVG Tarifwechsel innerhalb eines Unternehmens gem. § 204 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG Abbildung 68: Überblick über die gesetzlichen Änderungstatbestände Bei einem Versicherungsvertrag, bei dem die ordentliche Kündigung durch den Versi‐ cherer - z. B. gem. § 206 Abs. 1, 2 VVG - ausgeschlossen ist, kann dieser die Prämie sowie einen ggf. vereinbarten Risikozuschlag und Selbstbehalt gem. §-203 Abs. 2 VVG, § 155 Abs. 3 VAG anpassen, wenn ● die erforderlichen Versicherungsleistungen nicht nur vorübergehend 10 % über den kalkulierten Versicherungsleistungen liegen und ● ein unabhängiger, fachlich geeigneter Treuhänders der Anpassung zugestimmt hat. Die Prämienanpassung ist dem Versicherungsnehmer unter Angabe der dafür maß‐ geblichen Gründe mitzuteilen und wird zu Beginn des zweiten Monats nach der Mitteilung wirksam (§ 203 Abs. 5 VVG). Bei anderen Versicherungsverträgen kann der Versicherungsnehmer die Herabset‐ zung einer vereinbarten Prämie mit Risikozuschlag gem. § 41 VVG verlangen, wenn die Voraussetzungen für den Risikozuschlag entfallen sind. Die Versicherungsbedingungen und Tarife können bei einem Versicherungsvertrag, bei dem die ordentliche Kündigung durch den Versicherer ausgeschlossen ist, ebenfalls angepasst werden. Diese Anpassungsmöglichkeit soll die ausgeschlossene Kündigung kompensieren. Die entsprechende Regelung enthält § 203 Abs. 3 VVG (sowie § 18 Abs. 1 402 3 Rechtliche Rahmenbedingungen für die Kostenträger <?page no="403"?> 557 BGH, Urt. v. 23.6.1993, IV ZR 135/ 92, VersR 1993, 957 ff. MB/ KK 2009, § 18 Abs. 1 MB/ KT 2009, § 18 Abs. 1 MB/ PPV 2015). Voraussetzungen für diese Anpassung sind folgende: ● Die Versicherung wird nach Art der Lebensversicherung betrieben. ● Die Verhältnisse im Gesundheitswesen haben sich nicht nur vorübergehend geändert (z.-B. Änderung der gesetzlichen Vergütung der Ärzte). ● Die Änderung der Versicherungsbedingungen und Tarife ist zur hinreichenden Wahrung der Belange der Versicherten notwendig. ● Ein unabhängiger, fachlich geeigneter Treuhänders hat die Änderung geprüft und bestätigt. Während § 203 Abs. 2, 3 VVG für die Versicherungsverträge, bei denen die ordentliche Kündigung des Versicherers ausgeschlossen ist, gilt, enthält § 203 Abs. 4 VVG eine Änderungsmöglichkeit für alle Kranken- und Pflegekrankenversicherungsverträge. Nach dieser Vorschrift kann der Versicherer Versicherungsbedingungen ändern, wenn diese durch eine höchstrichterliche Entscheidung (z. B. durch den BGH) oder durch einen bestandskräftigen Verwaltungsakt (z. B. durch die BaFin) für unwirksam erklärt worden sind (vgl. Abschnitt 3.2.4.5 zur Inhaltskontrolle der Versicherungsbedingun‐ gen). Die Voraussetzungen für die Anpassung gem. § 164 VVG, auf den verwiesen wird, sind folgende: ● Die Änderung der Versicherungsbedingungen ist zur Fortführung des Vertrages notwendig oder das Festhalten an dem Vertrag ohne Neuregelung ist für eine Ver‐ tragspartei auch unter Berücksichtigung der Interessen der anderen Vertragspartei unzumutbar. ● Die Belange der Versicherungsnehmer werden angemessen berücksichtigt. ➤ Beispiel │ Krankheitskostenversicherung § 5 Abs. 1 Buchst. f MB/ KK 76 enthielt eine sog. Wissenschaftsklausel, nach der keine Leistungspflicht des Versicherers für wissenschaftlich nicht allgemein an‐ erkannte Untersuchungs- und Behandlungsmethoden und Arzneimittel bestand. Diese Klausel wurde vom BGH für unwirksam erklärt. 557 Darauf reagierten die Versicherer mit einer sog. modifizierten Wissenschaftsklausel, die heute in § 4 Abs. 6 MB/ KK 2009 zu finden ist. Diese lautet, dass der Versicherer im vertraglichen Umfang für Untersuchungs- oder Behandlungsmethoden und Arzneimittel leistet, die von der Schulmedizin überwiegend anerkannt sind. Er leistet darüber hinaus für Methoden und Arzneimittel, die sich in der Praxis als ebenso erfolgversprechend bewährt haben oder die angewandt werden, weil keine schulmedizinischen Methoden oder Arzneimittel zur Verfügung stehen; der Versicherer kann jedoch seine Leistungen auf den Betrag herabsetzen, der bei der Anwendung vorhandener schulmedizinischer Methoden oder Arzneimittel angefallen wäre. 3.2 Private Krankenversicherungsunternehmen 403 <?page no="404"?> 558 Verordnung betreffend die Aufsicht über die Geschäftstätigkeit in der privaten Krankenversicherung (KVAV) v. 18.4.2016, BGBl. I S.-780, z. g. d. G. v. 19.12.2018, BGBl. I S.-2672. Wenn sich der Beihilfebemessungssatz (z. B. 70 % statt 50 %) eines verbeamteten Versicherten oder Versicherungsnehmers ändert, so kann der Versicherungsnehmer eine entsprechende Anpassung des Krankheitskostenversicherung gem. § 199 Abs. 2 VVG verlangen. Während der Laufzeit eines Versicherungsvertrages kann sich für den Versiche‐ rungsnehmer das Bedürfnis ergeben, in einen anderen Tarif des Versicherers zu wechseln. Eine derlei Änderung ist für den Wechsel aus einem sog. Unisextarif (siehe Abschnitt 3.2.9.3) in einen Tarif aus der Zeit vor dem 21.12.2012, bei dem die Prämie geschlechtsabhängig kalkuliert werden, ausgeschlossen (§ 204 Abs. 1 Nr. 1 a. E. VVG). Gleiches gilt grundsätzlich für befristete Verträge (siehe § 204 Abs. 3 VVG). Bei einem Tarifwechsel ist für den Versicherungsnehmer von Bedeutung, dass seine bereits erworbenen Rechte, insbesondere seine Alterungsrückstellung, in den neuen Tarif „mitnehmen“ kann. Dies ist jedoch nur in den in § 204 Abs. 1 Nr.-1 VVG vorgesehenen Konstellationen möglich: ● Wechsel in einen Tarif mit gleichartigem Versicherungsschutz (Die Gleichartigkeit bestimmt sich nach § 12 Abs. 1-3 KVAV 558 . Wenn der neue Tarif Mehrleistungen enthält, werden diese ggf. über Wartezeiten, Leistungsausschlüsse oder Risikozuschläge kompensiert.) ● Wechsel in den Basistarif, wenn der Versicherungsnehmer seinen Krankenversi‐ cherungsvertrag ab dem 1.1.2009 abgeschlossen hat (Bei älteren Verträgen war der Wechsel unter Mitnahme der Alterungsrückstellung nur bei einem Antrag bis zum 30.06.2009 möglich.) ● Wechsel in die Krankenversicherung im Basistarif, wenn der Versicherungsnehmer das 55. Lebensjahr vollendet hat oder das 55. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, aber die Voraussetzungen für den Anspruch auf eine Rente der gesetzlichen Rentenversicherung erfüllt und diese Rente beantragt hat oder ein Ruhegehalt nach beamtenrechtlichen oder vergleichbaren Vorschriften bezieht oder hilfebedürftig nach dem Zweiten oder Zwölften Buch Sozialgesetzbuch ist. Wenn keine der genannten Konstellationen vorliegt, verliert der Versicherungsnehmer bei einem Tarifwechsel seine zuvor erworbenen Rechte. Von den aufgezeigten Vorgaben der §§ 199, 203, 204 VVG darf vertraglich nicht zum Nachteil des Versicherungsnehmers abgewichen werden (vgl. § 208 VVG). 404 3 Rechtliche Rahmenbedingungen für die Kostenträger <?page no="405"?> 3.2.8 Beendigung des Versicherungsvertrages - 3.2.8.1 Beendigung des Vertrages durch den Versicherer Der Krankenversicherungsvertrag kann durch verschiedene Erklärungen des Versiche‐ rers enden: ● Anfechtung (siehe Abschnitt 3.2.4.2 zur Anfechtung bei arglistiger Verletzung der vorvertraglichen Anzeigepflicht), ● Rücktritt (siehe Abschnitt 3.2.4.2 zum Rücktritt bei grob fahrlässiger oder vorsätz‐ licher Verletzung der vorvertraglichen Anzeigepflicht sowie Abschnitt 3.2.6.2 zum Rücktrit