Autokratien politökonomisch erklärt
Formen, Eigenschaften, Umgang
0313
2023
978-3-8385-6004-5
978-3-8252-6004-0
UTB
Rödiger Voss
10.36198/9783838560045
Eigenschaften und Strategien von Autokratien verstehen
Weltweit werden über drei Milliarden Menschen autokratisch regiert. Autokratien sind auf dem Vormarsch, auch wenn sie die Freiheit der Bürger:innen massiv beschneiden. Rödiger Voss geht dem Phänomen politikökonomisch auf den Grund. Er zeigt, welche Autokratieformen existieren und welche Eigenschaften und Strategien die Systeme haben. Auf die Risiken für Demokratien geht er ein, ebenso auf die große Rolle von Interessengruppen.
Das Buch richtet sich an Studierende der Wirtschafts-, Politik- und Sozialwissenschaften.
<?page no="0"?> Rödiger Voss Autokratien politökonomisch erklärt <?page no="1"?> utb 6004 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Brill | Schöningh - Fink · Paderborn Brill | Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen - Böhlau · Wien · Köln Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Narr Francke Attempto Verlag - expert verlag · Tübingen Psychiatrie Verlag · Köln Ernst Reinhardt Verlag · München transcript Verlag · Bielefeld Verlag Eugen Ulmer · Stuttgart UVK Verlag · München Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld Wochenschau Verlag · Frankfurt am Main <?page no="2"?> Prof. Dr. Rödiger Voss ist Wissenschaftscoach sowie Kompetenzcenterleiter Wirtschaftspädago‐ gik an der Kalaidos Fachhochschule Schweiz. Er ist zudem Autor wirtschaftswissenschaftlicher Lehr‐ bücher. <?page no="3"?> Rödiger Voss Autokratien politökonomisch erklärt Formen, Eigenschaften, Umgang UVK Verlag · München <?page no="4"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.36198/ 9783838560045 © UVK Verlag 2023 ‒ ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Ver‐ vielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. 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Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: siegel konzeption | gestaltung CPI books GmbH, Leck utb-Nr. 6004 ISBN 978-3-8252-6004-0 (Print) ISBN 978-3-8385-6004-5 (ePDF) ISBN 978-3-8364-6004-0 (ePub) Umschlagabbildung: © baona · iStockphoto Autorenfoto: © privat Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> Alle Diktaturen nähren sich aus der Angst der Untertanen. Richard von Weizsäcker <?page no="7"?> 1 9 1.1 9 1.2 11 1.3 13 2 15 2.1 15 2.2 19 2.2.1 19 2.2.2 22 2.3 23 3 25 3.1 26 3.2 32 3.3 37 3.4 45 3.5 53 3.6 56 3.7 58 4 61 4.1 61 4.2 63 4.3 64 4.4 67 4.5 71 4.6 73 5 75 5.1 75 Inhalt Was Sie vorher wissen sollten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Intention und Fragen dieses Buches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autokratie: Begriff und Klassifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlagen der Autokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überblick über Staatsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Systemtheorie nach Platon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Systemtheorie nach Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klassifikationsschemata autokratischer Systeme . . . . . . . . Formen der Autokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Absolut monarchische Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autoritäre Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Totalitäre Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Despotische Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Petroautokratien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gedanken zu der Klassifikation am Beispiel China . . . . . . . Hybride Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Legitimierung und Anerkennung einer Autokratie . . . . . . . . . . . . Legitimität und Legitimitätskrisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leistungsdilemma von Autokratien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Legitimität und Systemalternativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Repressionen und Wahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Legitimation und Ausland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwölf Legitimationsbegründungen auf einen Blick . . . . . . Absetzbarkeit, Nachfolge und Wirtschaftserfolg in Autokratien . Absetzbarkeit eines Autokraten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="8"?> 5.2 78 5.3 82 6 87 6.1 87 6.2 93 6.3 96 6.4 98 7 101 7.1 101 7.2 102 7.3 103 7.4 107 8 111 8.1 111 8.2 113 8.3 114 9 117 9.1 117 9.2 122 9.3 126 9.4 129 9.5 135 10 143 147 159 165 166 Nachfolgeregelungen in Autokratien . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirtschaftlicher Erfolg und Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . Eigenschaften und Handlungsweisen von Autokraten . . . . . . . . . Eigennutzenmaximierung als politisches Ziel . . . . . . . . . . . Inkorrekter Sachverstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überheblichkeit und Paranoia der Autokraten . . . . . . . . . . Meister der Fehlinformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autokratie und Einfluss von Interessengruppen . . . . . . . . . . . . . . Sinn und Zweck von Interessengruppen . . . . . . . . . . . . . . . Informationsmacht der Interessengruppen . . . . . . . . . . . . . Zuwendungen für Interessengruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marktmacht der Interessengruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autokraten und Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neigungen zu kriegerischen Handlungen . . . . . . . . . . . . . . Demokratien als vermeintliche Horte des Friedens . . . . . . Erobern mehrt den Ruhm und lenkt ab . . . . . . . . . . . . . . . . Umgang mit Autokraten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundgedanken zum Umgang mit Autokraten . . . . . . . . . . Wandel durch Handel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Angebot von Hilfsleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kriegerische Handlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussbetrachtung und Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt <?page no="9"?> 1 Was Sie vorher wissen sollten 1.1 Problemstellung Das Thema „Autokratie“ ist in der öffentlichen Diskussion angelangt: Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 wird in Talkshows, z. B. von Anne Will oder Markus Lanz, die Thematik Autokratie und das Problem von Autokraten in all seinen Facetten öffentlich diskutiert - in der Regel mit direktem Bezug zur russischen Autokratie von Wladimir Putin. Diese Autokratie ist jedoch nur die Spitze des Eisbergs. Das vergangene Jahrzehnt war kein guter Zeitraum für weltweite demo‐ kratische Entwicklungen. Nach Ende des so genannten „Kalte Krieges“ wurden zunächst zahlreiche ehemalige kommunistische Regierungen abge‐ löst und damit demokratischen Kräften die Tür geöffnet. Deshalb hatte der renommierte politische Denker Francis Fukuyama (1992) einen Triumph freiheitlicher Demokratien und der Idee des demokratischen Liberalismus als einzig erfolgreiches politisches System vorhergesehen. Ein Erfolg über autokratische Systeme wurde von ihm quasi als eine Art Naturgesetz prophezeit. Mit der Prognose lag er aus der heutigen Perspektive allerdings falsch. Vielmehr ist die Entwicklung seit einigen Jahre sogar rückläufig: Die Zahl der autokratischen Systeme wächst und gewann sogar die Überhand. Nach dem Bertelsmann Transformationsindex (BTI 2022) stehen 70 Autokratien 67 Demokratien gegenüber (→ Abbildung 1). Noch zwei Jahre zuvor waren die demokratischen Systeme in der Überzahl. Der weltpolitische Optimismus der 1990er-Jahre sollte daher realistischer Weise verflogen sein. Braucht es überhaupt eine Darstellung und Diskussion autokratischer Systeme? Aus rein demokratischer Betrachtung könnten Autokratien doch allgemein als illegitim bezeichnet werden, da die Wählerinnen und Wähler wenig Einfluss durch gerechte Wahlen besitzen und viele grundlegende Menschenrechte nicht genügend durch eine Verfassung geschützt sind. Ei‐ ner solchen pauschalen Einordnung autokratischer Systeme wird an dieser <?page no="10"?> Stelle nicht gefolgt. Am kubanischen Beispiel des Castro-Regimes und seiner Nachfolger ist erkennbar, dass Autokraten Gutes (z. B. ausgezeichnetes Bil‐ dungswesen und gute ärztliche Versorgung im Vergleich zu Nachbarstaaten) und Schlechtes (z. B. Repressionen gegen die Bevölkerung) leisten können. Gängige „Schwarz-Weiß-Sichtweisen“ sind also zu schlicht und helfen nicht dabei, die Handlungslogiken autokratischer Systeme zu verstehen. In der Tat ist dieses mangelnde Wissen oft ein Grund, weshalb politische Debatten über eine zu empfehlende Politik gegenüber autokratischen Systemen sehr undifferenziert geführt werden. Sinnvoll erscheint eine solche Betrachtung aus einer politökonomischen Sicht, die im Kontrast zur „reinen Öko‐ nomie“ in ihrer Analyse des ökonomischen Geschehens politische und soziologische Faktoren mit einbezieht. Wirtschaftlichen Handeln wird damit in Relation zu anderen gesellschaftlichen, politischen, ökologischen und räumlichen Prozessen interpretiert. Aus der politökonomischen Sichtweise sind auch einzelne Ausprägungen autokratischer Systeme zu beleuchten und zu differenzieren. Die Entwicklungen bis zur heutigen Gegenwart haben schließlich ein breites Spektrum an Spielarten autokratischer Regime mit unterschiedlichen Legitimierungsstrategien hervorgebracht. Abb. 1: Autokratien und Demokratien in 2022 und 2020 Quelle: Hartmann und Thierry (2022) Anzahl der Länder pro politischer Systemkategorie, BTI (2020 und 2022) 11 38 18 13 44 17 stark defekte defekte sich konsolidierende Demokratien 2020 2022 2020 44 26 42 21 harte gemäßigte Autokratien Abbildung 1: Autokratien und Demokratien in 2022 und 2020 Quelle: in Anlehnung an Hartmann und Thierry (2022) 10 1 Was Sie vorher wissen sollten <?page no="11"?> Eine gezielte Betrachtung ist auch durch die reale internationale Rolle der Autokratien angebracht. Autokratien wie die Volksrepublik China und Russ‐ land besitzen auf der weltpolitischen Bühne durch ihre Wirtschaftsmacht und/ oder ihren Rohstoffreichtum ein besonderes Gewicht. Russland brachte sich durch seine kriegerische Aggression gegenüber der Ukraine in einen umfangreicheren internationalen Blickpunkt und warf damit die Frage auf, wie (un-)zuverlässig und streitsüchtig Herrschende in Autokratien sind. Ein Blick auf die Autokraten selbst lohnt sich also. Diese können auch populär sein, im In- und Ausland. Dies mag sich paradox anhören. Wäh‐ rend ihrer Amtszeit genossen aber z. B. Juan Perón im Argentinien der 1970er-Jahre oder Adolf Hitler im Deutschland (Kershaw 2009; Thamer 2018) der 1930er-Jahre großen Zuspruch seitens der Bevölkerung. Diktatoren können zudem auch nach ihrer Amtszeit im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung in positiver Erinnerung bleiben. Beispiel | António de Oliveira Salazar (Portugal) In einer Fernsehumfrage des wichtigsten Fernsehsenders Portugals „RTP“ wählte am 25. März 2007 die Mehrheit der Zuschauer (41 Prozent) den ehemaligen Diktator António de Oliveira Salazar zur herausragen‐ den Persönlichkeit der Landesgeschichte (o. V. 2007, S. 17). Salazar hatte von 1932 bis 1968 Portugal diktatorisch regiert. Den Zweitplatzierten Alvaro Cunhal (historischer Studentenanführer der jungen portugiesi‐ schen Kommunisten) hängte der ehemalige Diktator mit einem großen Vorsprung von etwa 20 Prozentpunkten ab. 1.2 Intention und Fragen dieses Buches In diesem Werk geht es, wie in wissenschaftlich fundierten Werken üblich, nicht um ein undifferenziertes Bashing von Autokratien und auch nicht darum, demokratische Systeme als das Nonplusultra der politökonomischen Geschichte zu sehen. Es soll also kein Pladoyer für die Demokratie sein, sondern autokratische Systeme sollen anhand von historischen Beispielen und wissenschaftlichen Studien politökonomisch dargestellt und diskutiert werden. Damit ist auch schon ein sehr wichtiges Element in diesem Buch erwähnt: Es lebt von Beispielen, um das Verständnis zu erhöhen. Die Leserinnen und Leser werden deshalb im Leseprozess immer wieder auf 1.2 Intention und Fragen dieses Buches 11 <?page no="12"?> Praxisbeispiele stoßen. Diese werden separat als solche gekennzeichnet, sind aber geleichzeitig lediglich eine subjektive Auswahl. Zu betonen ist, dass durch die vollzogene Auswahl der Fallbeispiele keine (ungenannte) Autokratie verharmlost oder eine politische Couleur geschont werden soll. Ziel ist, einen Einblick in autokratische Systeme zu gewähren oder diesen zu vertiefen und daraus ein Verständnis zu entwickeln, wie autokratische Regimes tatsächlich funktionieren. Dies fordert teils eine vergleichende Betrachtung von Autokratie und Demokratie (Voss 2008). Bei der Diskussion autokratischer Systeme sollen z.-B. folgende Fragen geklärt werden: ● Welche Arten von Autokratien lassen sich unterscheiden? ● Welche Legitimationsstrategien werden in Autokratien angewandt, um das System zu erhalten? ● Was macht also den Reiz der Autokratie aus? Ist sie gar ein ökonomisch effizientes System? ● Welchen Einfluss haben Interessengruppen in Autokratien? ● Kann ein Autokrat seine Entscheidungen frei von jeglichem Einfluss durchsetzen? ● Neigen Autokraten eher dazu, Kriege zu provozieren, um von eigenen Schwächen abzulenken? ● Welche Strategien sind beim Umgang mit Autokraten empfehlenswert? Auf Lesbarkeit und Anwendungsbezug der dargebotenen Sachzusammen‐ hänge wurde deshalb besonderer Wert gelegt. Daher unterstützen zahlreiche Beispiele und Abbildungen das Lesen. Am Anfang eines jeden Kapitels ist ferner ein Überblick zu den folgenden Ausführungen in Form von elementaren Lernzielen positioniert. Bei der Analyse der Autokratien wird nicht jede Eventualität und jeder wissenschaftliche Diskussionsstrang der vergangenen Jahre in aller Tiefe ausgeführt. Vielmehr soll ein Überblick geleistet werden, der die Erkenntnisse der Leserinnen und Leser erweitert und ein gutes Fundament für das Verständnis sowie für fachliche Diskus‐ sionen bildet. Ausgewählte wissenschaftliche Fachliteratur ist dabei nicht ausgeschlossen, sondern wird, wenn sinnvoll, integriert. - Gendergerechte Sprache Eine geschlechtergerechte Sprache soll in diesem Werk realisiert werden. Dies ist aber nicht in jedem Fall sinnvoll. In der Praxis ist die Position eines Autokraten meist durch eine männliche Person besetzt, was nicht positiv 12 1 Was Sie vorher wissen sollten <?page no="13"?> für das männliche Geschlecht erscheinen mag. Sicher existieren einige Ge‐ genbeispiele. Dazu gehört etwa die russische Zarin Katharina die Große, die Russland von 1762 bis 1796 autokratisch regierte. Aufgrund der männlichen Dominanz in diesem Amt wird von einem Autokraten und nicht von einer Autokratin geschrieben werden. Ferner wird die männliche Form gewählt, wenn es Ausdruck von gesellschaftlichen Strukturen in der Vergangenheit war. In der griechischen Polis waren die Geschlechter beispielsweise nicht gleichberechtigt, weshalb bestimmte Aufgaben für Frauen nicht erreichbar waren. In diesem Fall wird ebenfalls nur die männliche Form gewählt. 1.3 Vorgehensweise Was erwartet die Leserinnen und Leser nach diesem ersten Einführungs‐ kapitels? Im zweiten Kapitel wird kurz auf die historische Entwicklung von Autokratien eingegangen und ein allgemeines Begriffsverständnisse entwickelt. Zudem werden Klassifikationsschemata für Varianten von au‐ tokratischen Systemen dargestellt. Im dritten Kapitel werden die Denkansätze des zweiten Kapitels wei‐ terentwickelt und die unter Kapitel zwei vorgestellten autokratischen Va‐ rianten vertieft sowie Merkmale dieser Systeme entwickelt. Zwei dieser Merkmale, die Legitimation und Anerkennung einer Autokratie und Strate‐ gien, um diese zu erzeugen, werden im vierten Kapitel aufgegriffen. Das fünfte Kapitel konzentriert sich auf einzelne Diskussionsaspekte, wie etwa Nachfolgereglungen sowie die Wohlstandförderung und Perfor‐ mance von Autokratien. Das sechste Kapitel widmet sich Eigenschaften und Handlungsweisen von Autokraten, also z. B. Fragen wie „Sind Poli‐ tikerinnen oder Politiker in einer Autokratie gar kompetenter als ihre Gegenstücke in einer Demokratie? “ oder „Leiden Autokraten eher unter einer Paranoia als Herrschende in anderen politischen Systemen? Und wenn ja, worin liegt die Paranoia begründet? “. Im siebten Kapitel wird der Aspekt behandelt, ob in Autokratien mit eingeschränkter oder gar fehlender Rücksichtnahme auf Interessengruppen wirtschaftspolitisch agiert werden kann. In diesem Zusammenhang wird die Marktmacht von Interessengruppen diskutiert. Leider neigen Autokratien eher zu kriegerischen Übergriffen als Demokratien. Diese Thematik wird im achten Kapitel aufgeklärt. 1.3 Vorgehensweise 13 <?page no="14"?> Wie mit Autokraten konkret politisch umgegangen werden kann, wird thematisch im neunten Kapitel geklärt. Es wird die Frage beantwortet, ob Sanktionen, Hilfeleistungen oder kriegerische Mittel zugleich geeignete Mittel beim Umgang mit Autokraten sind. In diesem Zusammenhang werden aktuelle politische Maßnahmen reflektiert und beurteilt sowie theoretische Ansätze aufgegriffen. Im letzten (zehnten) Kapitel folgen eine Schlussbetrachtung der vollzogenen Überlegungen mit einem Fazit sowie ein Forschungsausblick mit Implikationen für die weitere Forschung auf dem Gebiet der Autokratietheorie. 14 1 Was Sie vorher wissen sollten <?page no="15"?> 2 Autokratie: Begriff und Klassifikation Das Kapitel im Überblick | Sie können … ● den Begriff Autokratie anhand von Merkmalen definieren. ● Merkmale von aktuellen Autokratien mit dem entwickelten Defini‐ tionsansatz vergleichen. ● verschiedene Staatsformen unterscheiden. ● den Unterschied zwischen Verfassungsstaaten und Autokratien dis‐ kutieren. ● unterschiedliche Autokratieausprägungen benennen. Der Begriff der Autokratie wird aus folgenden Gründen vornehmlich im Text und im Buchtitel gewählt: zunächst, weil das Wort Diktatur durch na‐ tionalsozialistische und kommunistische Systeme zu wertbehaftet erscheint sowie oft mit totalitären Regimen und Militärherrschaften („Militärdikta‐ tur“) assoziiert wird. Die Bezeichnung Despotie hingegen findet in der Literatur wenig Anwendung und ist auch aus dem öffentlichen Sprachge‐ brauch fast verschwunden. Zudem wurde der Begriff Autokratie bereits vom bedeutenden Nationalökonomen und Politiker Joseph Schumpeter (2020) in den 1940er-Jahren in seinem Werk „Kapitalismus, Sozialismus und De‐ mokratie“ verwandt. Später wurde der Begriff auch von einem der Väter der Neuen Politischen Ökonomie Gordon Tullock (1987) und zahlreichen anderen Ökonominnen und Ökonomen aufgegriffen. Dennoch werden die Termini Autokratie, Diktatur und Despotie im Folgenden häufig synonym Verwendung finden, da es in der begriffsgeschichtlichen Entwicklung zur Angleichung der Bezeichnungen kam. 2.1 Grundlagen der Autokratie - Griechischer Ursprung des Begriffs Die Autokratie stellt ein Pendant zu Verfassungsstaaten dar, wobei eine klare begriffliche Abgrenzung des Autokratiebegriffs nicht leicht zu vollzie‐ <?page no="16"?> hen ist. Seine begriffslogische Herkunft findet der Begriff Autokratie in der griechischen Sprache: Αυτοκρατία ist dort abgeleitet aus αυτός, was so viel bedeutet wie „selbst“. Der zweite Wortteil κρατείν kann mit „herrschen“ übersetzt werden. Autokratie ist also dem griechischen Ursprung nach eine Selbstherrschaft. - Ein merkmalgestützter Definitionsansatz Nach Tullock (1987) handelt es sich bei der Autokratie schlicht um eine un‐ abhängige und vorherrschende Gewalt, bei der ein Staat mit unbeschränk‐ ter Autorität oder absoluter Macht regiert wird. In dieser Form der poli‐ tischen Herrschaft sind alle Gewalten, also Exekutive, Legislative und Judikative, in einer Person oder Gruppe von Personen (Partei, Militärjunta oder ein Komitee) vereinigt und unter deren Kontrolle. Es besteht durch diese Gewaltenkonzentration ein politisches Monopol ohne verfassungsmä‐ ßige Restriktionen. Parlamente können zwar formal bestehen, wirkliche politische Kontrolle üben sie jedoch nicht aus. Auch Gerichte bestehen, unterliegen aber direkt oder indirekt den Anweisungen der Exekutive. Freie Wahlen und eine echte parlamentarische politische Opposition haben in dieser Regierungsform keinen Platz. Somit bestehen keine oder stark eingeschränkte Wahlen, vor allem Scheinwahlen. Die Opposition wird in der Regel ausgeschaltet, unterdrückt oder kontrolliert. Auch außerparla‐ mentarische oppositionelle Kräfte werden allgemein in ihrem Handeln sanktioniert. Das bedeutet nicht, dass es ein Einparteiensystem geben muss. Ein Mehrparteiensystem ist auch in Autokratien nicht ausgeschlossen, allerdings sind diese Parteien meist auf einer politischen Linie mit dem Diktator. Im russischen Parlament im Jahr 2022 fanden sich beispielsweise unterschiedliche Parteien, aber keine echte, ernstzunehmende Opposition. Die freie Meinungsäußerung und die Medien werden zudem beeinflusst durch das Regierungssystem. - Verfassungsstaaten als Gegenüber Autokratien stehen Verfassungsstaaten gegenüber, die die beschriebene Machtkonzentration von Autokratien kraft ihrer Verfassung und deren Etablierung verhindern. Es besteht eine Gewaltenteilung mit autonomen Gerichten und ein Parlament mit weitreichenden Kontrollrechten. In einem solchen System existieren freie Wahlen und eine unabhängige parlamenta‐ rische und außerparlamentarische Opposition. In der Regel formen sich 16 2 Autokratie: Begriff und Klassifikation <?page no="17"?> unterschiedliche Parteien, die Interessen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen repräsentieren. Meinungsfreiheit und eine emanzipierte Me‐ dienvielfalt sind weitere Merkmale von Verfassungsstaaten. Das bedeutet nicht, dass in Verfassungsstaaten die Medien frei von Kritik sind. Der Phi‐ losoph Richard David Precht und der Sozialpsychologe Harald Welzer (2022) identifizieren ein Problem der fehlenden Repräsentation von verschiedenen Gruppen und Meinungen in der Berichterstattung der Medien. Die Autoren weisen auf ein seit Jahren sinkendes Medienvertrauen in Deutschland hin, wovon insbesondere die Printmedien betroffen sind. Precht und Welzer (2022) kennzeichnen eine Entwicklung zu einer Mediokratie, die von aktivistischen Journalistinnen und Journalisten getrieben wird. Anstatt die Politik und deren Entscheidungen zu kontrollieren, besitzt die Presse durch die Berichterstattung selbst eine steuernde Rolle. Diese Einschätzung wird an dieser Stelle nicht weiter diskutiert. Doch auch aus dieser negativen Beurteilung wird sichtbar, dass die Presse frei agieren kann. Fazit: Definitiv keine Autokratien sind Regierungen, die abhängig von freien Wahlen sind und eine Gewaltenteilung im Staatsgefüge realisiert haben. Opposition und Medien können in einem solchen System frei agieren. Die Unterscheidung zwischen Autokratie und Verfassungsstaat macht be‐ reits deutlich, dass es sich nicht nur um zwei getrennte Seiten einer Medaille handelt, sondern ein Kontinuum zwischen den beiden Ausprägungen vor‐ handen sein kann. Ein Verfassungsstaat kann sich zudem mit zahlreichen Zwischenschritten in eine Autokratie transformieren und vice versa (→ Ab‐ bildung 2). Abb. 2: Systemwandel zwischen Autokratie und Verfassungsstaat Autokratie Verfassungsstaat Abbildung 2: Systemwandel zwischen Autokratie und Verfassungsstaat 2.1 Grundlagen der Autokratie 17 <?page no="18"?> Wissen | Soziale Gerechtigkeit und Verfassung Der Public-Choice-Theoretiker und Nobelpreisträger James Buchanan und der ehemalige Präsident der Public Choice Society und Politik‐ wissenschaftler Geoffrey Brennan (1993) beurteilen soziale Regeln als gerecht, wenn sie höheren Regeln (= Metaregeln) entsprechen. Auf der obersten Stufe der Regelhierarchie steht die Verfassung. Dort sind die Erwartungen und Ansprüche aller Gesellschaftsmitglieder per Konsens festgelegt. Einfluss auf die Ausprägung einer Verfassung haben z. B. die Landesgeschichte und -kultur. Problematisch ist diese Sichtweise zu beurteilen, wenn die Bildung in einem autokratischen System erfolgt. Der Philosoph Ernst Bloch (1961) stellt daher den Anspruch, dass Regeln zwingend aus dem Volkwillen abgeleitet werden und Menschenrechte und Sozialstaatlichkeit zentrale Elemente im Regelwerk sein müssten. Das Zielbild in seinem Naturrecht ist die menschliche Würde. Er sieht Menschen also nicht als von einem Autokraten bestimmte Wesen, son‐ dern als selbstbestimmte Individuen. Der Ansatz von Bloch steht damit in starken Widerspruch zu den Menschenrechten in autokratischen Staaten (→ Kap. 3 und 4). Die Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel und Mirko Krück leiteten im Auftrag der Friedrich Ebert Stiftung aus vier zeitgenössischen Gerechtigkeitsansätzen zentrale Prinzipien für soziale Gerechtigkeit ab. Diese umfassen z. B. ● die Gleichverteilung des Zugangs zu den notwendigen Grundgütern für die individuell zu entscheidende Entfaltung von Lebenschancen. ● die Stärkung der individuellen Fähigkeiten, die persönliche Autono‐ mie, Würde, Entschei-dungsfreiheit, Lebenschancen und Options‐ vielfalt zu schützen, sichern und erweitern. ● die Bekämpfung von Armut mit hoher politischer Präferenz, da Armut die individuelle Au-tonomie und Würde des Menschen be‐ schädigt und zu einer Falle für die nachfolgenden Ge-nerationen in armen Familien werden kann. Auch diese Prinzipien stehen im Widerspruch zum Gerechtigkeitsansatz in vielen autokratischen Systemen (→ Kap. 5.3) und im Einklang mit den Regelwerken vieler Verfassungsstaaten. 18 2 Autokratie: Begriff und Klassifikation <?page no="19"?> 2.2 Überblick über Staatsformen Die begriffliche Unterscheidung verschiedener Herrschaftsformen lässt sich auf den griechischen Philosophen Herodot zurückzuführen, der die Staatsformen ● Monarchie (Herrschaft des Einzelnen), ● Aristokratie (Herrschaft weniger) und ● Demokratie (Herrschaft des Volkes) gegeneinander abgrenzt (Störing 1985). Auch weitere führende Philosophen der griechischen Antike beschäftigten sich bereits intensiv mit dem Thema „Staatsform“. Die griechischen Philosophen formten ihr Weltbild allerdings aus der Sicht des hellenistischen Stadtstaates, der Polis (Schumpeter 1954). In der Polis gab es Sklaventum. Mann und Frau waren nicht gleichberechtigt. Die Ansichten zweier bekannter Vertreter dieser Sichtweise - Platon und Aristoteles - werden in diesem Konnex dargestellt, wobei nochmals erwähnt werden soll, dass diese einen sehr konkreten, zeitkritischen Bezug zu ihrer griechischen, speziell athenischen Polis und deren praktisch-politischen Ordnungsproblemen besaßen (Berg-Schlosser und Stammen 2003). 2.2.1 Systemtheorie nach Platon Platons Gedankengut beruht im Wesentlichen auf seinem Lehrmeister So‐ krates. Nach Platon entsteht eine Stadt (Polis) im Rahmen der Bedürfnisbe‐ friedigung durch Arbeitsteilung, wobei eine bestimmte Stufe vorteilhaft und notwendige Voraussetzung für die gesellschaftliche Untergliederung der einzelnen Stände und damit der Staatstheorie als solches ist (Helferich 2012). - Gesellschaft ist ganz einfach in Stände einzuteilen Im Wesentlichen findet die Arbeitsteilung ihren Ausdruck in drei Ständen. Der Staat wird hierbei als „großgeschriebener Mensch aufgefasst, denn die Seele des Menschen besteht ebenso aus drei Teilen“ (Bormann 1973, S. 162): dem Lehr-, Wehr- und Nährstand. Hierbei handelt es sich nicht um Kasten, da alle der Herkunft nach gleich sind, nur ihre Anlagen sind verschieden. Gemäß den vorhandenen Anlagen wird jede Person dem jeweiligen Stand zugeordnet (Bormann 1973): 2.2 Überblick über Staatsformen 19 <?page no="20"?> ● Der Lehrstand ist der oberste, regierende Stand, der aus Philosophen oder Königen besteht. ● Der Wehrstand besteht aus deren Helfern, die mit Waffengewalt die äußere und innere Sicherheit des Volkes garantieren. ● Der dritte Stand (Nährstand) setzte sich aus Fischern, Bauern, Seeleuten und Gewerbetreibenden zusammen. Damit verrichtet dieser Stand als einziger physische (produktive) Arbeit. Wichtigster Aspekt des Staatsaufbaus ist das Gesetz, welches einerseits den Bürgern Rechtssicherheit gewährt, andererseits aber auch Funktion, Beschränkung und Legitimation der Regierungsorgane bestimmt und somit das Allgemeinwohl fördert (Fischel 1964). - Aristokratie als ideale Staatsform Der ideale Staat findet nach Platon seinen Ausdruck in einer Aristokratie, in welcher „der Weiseste ohne Gesetze regiert und in Beweglichkeit und Anpassung stets das verfügt, was das Gemeinwohl jeweils erfordert“ (Fischel 1964, S. 71). Hiermit spricht Platon also einen wohlwollenden Autokraten an, der seiner Wahrnehmung nach zu einem besseren Regierungshandeln befähigt ist als ein Regierender in demokratischen Gesellschaftsordnungen. Während Platons Idealstaat eine Aristokratie ist, in der die Vernunft überwiegt, gibt es noch vier weitere, schlechtere Staatsformen: Timokra‐ tie (Herrschaft einiger mutiger Bürger), Oligarchie (Herrschaft mehrerer), Demokratie und Tyrannis, die alle drei der Begierde entsprechen. Die Staatsformen folgen in dieser Reihenfolge aufeinander und sind als immer schlechter zu bewerten. Abb. 3: Herrschaftsformen nach Platon Staatsformen Aristokratie Timokratie Oligarchie Demokratie Tyranis Abbildung 3: Herrschaftsformen nach Platon 20 2 Autokratie: Begriff und Klassifikation <?page no="21"?> Der Staat geht bergab mit schlechten Staatsformen Der Niedergang eines Staates beginnt nach Platon mit dem Streit um die Herrschaftsgewalt und äußert sich im Absinken derselben auf die Stufe der Timokratie, in der, wie in Sparta und Kreta, die Ehrliebe und Vernunft herrschen. In der Timokratie können einige Vertreter des Wehr- oder Lehrstandes an die Macht gelangen, die das Privateigentum unter sich aufteilen und das Volk knechten wollen. Einige aufrechte Bürger können dies eventuell verhindern und selbst die Macht ausüben. Die Oligarchie als Herrschaft von wenigen basiert auf monetären Vorstellungen: Vermögen wird zum Kriterium für den Einfluss im Staat. Die Gesellschaft ist in einzelne Vermögensklassen gespalten. Die Regierungsgewalt liegt bei der obersten, finanzstärksten Vermögensklasse. Die Klassen sind sich feindlich gesinnt, da infolge des Bereicherungsstrebens jede Person der obersten Klasse angehören will. Die Demokratie ist nach der Oligarchie erst die dritte negative Stufe. In ihr herrscht volle Handlungsfreiheit, wobei die Gewalt in viele Teile zerfällt. Die weiten Freiheitsrechte lassen bereits anarchische Strukturen erkennen, da alles Handeln auf freiwilliger Basis basiert. Hierdurch wird nach Platon weder im Guten noch im Bösen etwas Positives erreicht. Dennoch bietet die Demokratie Vorteile gegenüber der Anarchie, in der die Handlungsfreiheit aufgrund der fehlenden Bindung an Gesetze ausartet (Maurer 1970). Die Bevölkerung ist nicht bereit, Anweisungen auszuführen. Es herrscht mangelnder Respekt gegenüber Autoritäten. Die Anarchie ist quasi das letzte Stadium einer Demokratie. Sie wird ihrerseits nicht lange von Bestand sein und wandelt sich nach Meinung Platons zur Tyrannis. In dieser Staatsform wird die Freiheit völlig unterdrückt und die Bürger sind absoluter staatlicher Gewalt ausgesetzt (Hirschberger 2007). Ein Tyrann ist triebgesteuert und wird so zwangsläufig zum Verbrecher. Seine Macht kann er aber nicht ausgiebig genießen, vielmehr muss er in Unruhe, Qual und Angst leben. Dies ist ein Resultat daraus, dass das Volk ihn hasst und ihn aufgrund seiner Willkür und Brutalität am liebsten eliminieren würde. Platon trennt also strikt zwischen zwei Ausprägungen autokratischer Systeme, eine positive (Aristokratie) und eine negative (Tyrannei). 2.2 Überblick über Staatsformen 21 <?page no="22"?> 2.2.2 Systemtheorie nach Aristoteles Ähnlich wie Platon unterteilt Aristoteles die Gesellschaft in Stände, doch hierbei untergliedert er sie feiner, in drei niedere und drei höhere Stände. Die drei niederen Stände, nämlich die Bauern, Handwerker und Kaufleute, sorgen, ähnlich wie bei Platon der Nährstand, für das materielle Wohl des Staates, besitzen aber keine Bürgerrechte. Diese werden aufgrund ihrer höheren Tugenden nur den drei höheren Ständen, bestehend aus Kriegern, Regierungsbeamten und Priestern, zuteil. Nur sie besitzen ein Stimmrecht und führen Vorsitz vor Gericht (Fischel 1964). - Drei gute Staatsformen zur Auswahl Die Staatsformen unterteilt Aristoteles schlicht in gute und schlechte, wobei der Unterschied zwischen beiden Alternativen durch das Merkmal des jeweiligen Zwecks bestimmt ist (→ Tabelle 1). Zu den guten Staatsformen zählt er die Monarchie, die Aristokratie und die Republik bzw. Politie (Demokratie als Bürgerstaat), weil deren Zweck in der Verwirklichung des Gemeinwohls liegt. Er gibt allerdings keiner dieser drei Ausprägungen den eindeutigen Vorzug, weil die Gerechtigkeit prinzipiell durch jede von ihnen unter günstigen Bedingungen wenigstens annäherungsweise zu verwirkli‐ chen sei (Friedlein 1992). - Schlechte Staatsformen schädigen das Gemeinwohl Schlechte Staatsformen sind demgegenüber die Oligarchie, die Ochlokra‐ tie (demagogische Demokratie) und die Tyrannis, wobei diese die negativste Entartung darstellt. Diese Staatsformen orientieren sich eher am Eigennutz der Herrschenden und weniger am Gemeinwohl. Der Willkür ist so eine Tür geöffnet. In einem demokratischen System besteht nach Aristoteles vor allem das Risiko, dass es zu einer Herrschaft der Redner und schließlich zur Tyrannei verkommt, indem einer der Redner das Volk verblendet und die Herrschaft an sich reißt. Es handelt sich um eine Pöbelherrschaft, die nega‐ tive Variante der Volksherrschaft. Aristoteles hatte also nicht das beste Urteil über die Demokratie, da er in ihr die Gefahr einer wankelmütigen Herrschaft der vielen sah, die kurzfristig denken und sehr manipulationsanfällig sind. 22 2 Autokratie: Begriff und Klassifikation <?page no="23"?> Art/ Menge einer wenige viele gute Staatsform Monarchie Aristokratie Republik schlechte Staatsform Tyrannis Oligarchie Ochlokratie Tabelle 1: Staatsformen nach Aristoteles 2.3 Klassifikationsschemata autokratischer Systeme Der ehemalige Co-Direktor der Political Economy Research Group an der University of Western Ontario Ronald Wintrobe (1998) leitet anhand von autokratischen Handlungsinstrumenten (Unterdrückung und Loyalität bzw. Beliebtheit, um den Machterhalt zu sichern) ein Klassifizierungsschema ab: ● tinpots (wenig Unterdrückung und Loyalität), ● tyrants (hohe Unterdrückung, wenig Loyalität), ● totalitarians (beides auf hoher Stufe) und ● timocrats (wenig Unterdrückung, hohe Loyalität). Loyalität kann beispielsweise durch ökonomischen Erfolg oder durch Ver‐ gabe von Privilegien, Einkommen und andere monetäre oder nichtmonetäre Zuwendungen gewonnen werden. Für Repressionen kann der klassische Machtapparat des Staates genutzt werden, also Polizei, Geheimpolizei oder Militär. Maßnahmen können von einer Kontrolle und Internierung bis hin zu Folter und Ermordungen reichen. Primäres Ziel eines jeden autokratischen Regimes ist nach Wintrobe (1998) der Machterhalt. Unter Tyrannei bleibt das Regime allein durch starke Unterdrückung an der Macht, während die Loyalität der Staatsangehörigen zum System gering ist. Durch die Repression wird also keine Loyalität generiert. Totalitäre Autokraten üben eine starke Unterdrückung der Bevölkerung aus, um einen umfassenden Anspruch auf die Regelung der Gesellschaft (bis in das Privatleben hinein) durchzusetzen. Da oft eine Ideologie durchgesetzt wird, kann dies auch zu einer höheren Loyalität führen. Ein Tinpot-Regime ist auf beiden Ebenen niedrig ausgeprägt. Eine Unterdrückung wird also nur in dem erforderlichen Maß genutzt, um den Einfluss zu erhalten und die Ausbeuten der Monopolisierung politischer Macht zu genießen. Eine timocracy beinhaltet, dass die Loyalität des Volkes hoch ist, während eine Unterdrückung desselbigen nur gering ist. Es handelt sich in diesem Fall oft 2.3 Klassifikationsschemata autokratischer Systeme 23 <?page no="24"?> um einen charismatischen Herrscher oder einen klassischen „Landesvater“, der zwar absolut regiert, aber nicht durch Unterdrückung, sondern durch Beliebtheit. Diese Beliebtheit ist durch die Selbstlosigkeit des Herrschers erzeugt worden, der aus Sicht der Bevölkerung zum Wohle „seiner“ Bürger und Bürgerinnen handelt. Diese Klassifikation nach Wintrobe ist ein sinnvoller Ansatz, wobei aller‐ dings monarchische Systeme z. B. am ehesten in die Kategorie timocrats eingeordnet werden könnten. Wintrobe (1998) ordnet diese Systeme jedoch als ein politisches System der Antike ein, was der heutigen Relevanz dieser Systeme nicht gerecht wird. Im Folgenden werden deshalb fünf Ausprä‐ gungen autokratischer Systeme (→ Abbildung 4) nach ihrem Mindset unterschieden. Dabei stehen Einstellungen, Denkweisen und das Selbstver‐ ständnis der Autokraten im Vordergrund sowie die Legitimierungsbemü‐ hungen ihrer Herrschaft. Die von Wintrobe genannten Repressionen werden als wichtiges Element der Herrschaftsausübung in die Abgrenzung der Systeme einbezogen. Letztere kann allerdings nicht überschneidungsfrei vollzogen werden. Die Übergänge zwischen einzelnen Systemvarianten sind zudem teils fließend. So kann sich etwa ein autoritäres oder totalitäres System in eine despotische Variante wandeln. Abb. 4: Abgrenzung der Autokratieformen Autokratieformen (absolut) monarchisc he Systeme autoritäre Systeme totalitäre Systeme despotische Systeme autoritäre Systeme totalitäre Systeme despotische Systeme (absolut) monarchische Systeme petroautokratische Systeme Abbildung 4: Abgrenzung der Autokratieformen Im folgenden Kapitel werden letztgenannten Autokratieformen anhand von Merkmalen erläutert und unterschieden. Zudem werden Beispiele für die einzelnen Typen abgeleitet. Ein Sonderfall stellt die Petroautokratie dar, die sich in allen vier Ausprägungen bilden kann. Aufgrund ihrer praktischen Relevanz und Verbreitung wird sie in einem gesonderten Kapitel beschrie‐ ben. 24 2 Autokratie: Begriff und Klassifikation <?page no="25"?> 3 Formen der Autokratie Das Kapitel im Überblick | Sie können … ● fünf Merkmale unterschiedlicher Autokratietypen benennen. ● verschiedene Autokratietypen anhand von Merkmalen und Beispie‐ len unterscheiden. ● den Unterschied zwischen Verfassungsstaaten und Autokratien dis‐ kutieren. ● die Machposition von Petroautokratien herleiten. ● hybride politische Systeme erklären. Wissen | Vier gemeinsame Merkmale aller Autokratien-Typen 1. Nicht vorhandene oder stark eingeschränkte Gewaltenteilung 2. Informations- und Propagandamonopol 3. Verfassung ist auf das autokratische System ausgerichtet 4. Kontrolle durch eine Geheimpolizei - Ein Blick zurück Erste Autokratien lassen sich in Aufzeichnungen etwa vom 7. und 6. Jahr‐ hundert v. Chr. in Griechenland bis zum Byzantinischen Reich im 12. Jahr‐ hundert n. Chr. nachweisen. Sie bestanden meist in einer Form der Tyrannei. Die schlechte Quellenlage in Bezug auf das antike Griechenland führte dazu, dass Tatsachenfeststellungen über eine korrekte Klassifizierung meist nicht vollzogen werden können, ohne dass moderne Vorstellungen in die geschichtliche Interpretation mit einbezogen wurden (Schuller 2008). Zweifelsfrei kann allerdings festgestellt werden, dass den griechischen Autokratien Dauer und Kontinuität fehlte (Gschnitzler 1981). Die autokratischen Gesellschaftssysteme werden beispielhaft beschrie‐ ben, da sie sich sowohl in der Gegenwart als auch in der Vergangenheit in zahlreichen Varianten und, wie bereits angesprochen, nicht gänzlich <?page no="26"?> überschneidungsfrei zeigten. Dennoch helfen sie dabei, den Charakter autokratischer Systeme zu kennzeichnen. - Ähnlichkeiten und Unterschiede In allen beschriebenen Formen der Autokratie haben Autokraten die Voll‐ macht, die sittliche Rechtfertigung ihres Handelns ohne Bindung an irgend‐ welche Rechtsnormen respektive Pseudorechtsnormen zu treffen. Die Bürgerinnen und Bürger sind also ihrer Willkür ausgesetzt und in keiner oder eingeschränkter Weise an der Staatsgewalt beteiligt. Durch die Willkür in der Rechtsausübung kann es je nach Form der Autokratie und deren Machtanwendung vermehrt zu rechtswidrigen Tötungen von Menschen kommen. Das Vorhandensein oder die Implementierung eines Informations- und Propagandamonopols und damit verbundene Einschränkungen der Pressefreiheit (z. B. Verbot journalistischer Artikel oder einer gesamten Zeitung) ist ein Merkmal aller Autokratien. Durch eine Manipulation der Medien werden die Staatsbürgerinnen und -bürger in vielfacher Hinsicht be‐ einflusst und im Sinne der Regierung gelenkt. Einige autokratische Staaten schotten sich zusätzlich nach außen hin ab (z. B. das frühere kommunistische Albanien oder das Regime in Nordkorea). Durch diese Maßnahme werden die eigenen Bürgerinnen und Bürger und auch ausländische Reporterinnen und Reporter in Unwissenheit über die tatsächlichen Zustände im Lande gehalten. Nachrichten in und aus den abgeschotteten Staaten gibt lediglich das Regime selbst heraus. 3.1 Absolut monarchische Systeme Wissen | Vier Merkmale von monarchischen Systemen 1. dynastische Legitimation 2. meist Bindung an göttliches und historisches Recht 3. Privilegien für Adlige 4. Sicherheits- und Wohlfahrtsversprechen an die Bevölkerung In einer klassischen absoluten Monarchie lenkt ein Regent als Vertretender einer Dynastie mit uneingeschränkter, absoluter politischer Macht das 26 3 Formen der Autokratie <?page no="27"?> Staatsgeschehen. Er kann exekutive Normen setzen und anwenden. Neben dem absoluten Monarchen sind weitere Familienmitglieder in staatlichen Führungsämtern oder wichtigen wirtschaftlichen Positionen. Gemeinsam ist ihnen das Blut und eine vergleichbare Interessenslage. Der Monarch ist bemüht um eine innerfamiliäre Machtbalance zur Vermeidung von familiären Elitekonflikten. - Autokraten sind an Rechte gebunden Bei dieser Ausprägung der Autokratie erkennt der Monarch jedoch das göttliche und historische Recht an. Er kann seine Legitimation auch als Durchführungsorgan von gemeinwohlfördernden Aufgaben begründen, also wie ein gütiger Landesvater, der gnädig über seine Landeskinder regiert. In Staaten mit ethnokulturellen Konflikten kann der gütige Landesvater auch als eine Art Schiedsrichter auftreten, der seine Kinder wieder „auf den richtigen Weg“ bringt. Damit ist er kein klassischer Autokrat, denn ein solcher wäre an keine Rechtsnormen gebunden und könnte Gebote eines Gottes in der Regel weit willkürlicher auslegen. Gleichzeitig übt der Monarch die alleinige Staatsgewalt aus. Der Adel verliert dabei seine Position im Feudalsystem im Austausch gegen Privilegien im Staats- und Militärwesen. Seinen Untergebenen gesteht ein Monarch in der Regel die Sicherheit der Person und des Eigentums zu. Die Monarchie kann so stark verwurzelt sein, dass auch einzelne als ille‐ gitim angesehene Thronfolgende (z. B. aufgrund fragwürdiger Abstammung oder Geisteskrankheit) den Bestand der Monarchie als Gesamtheit nicht gefährden. Erst, wenn die Monarchie selbst als Regimeform als illegitim angesehen wird, ist deren Bestand gefährdet. Die monarchische Elite hat natürlich ein starkes Interesse daran, die monarchische Regimelegitimation zu erhalten. Die durch das Geburtsrecht erlangten Vorteile würden ansons‐ ten teils (wie etwa in einer konstitutionellen Monarchie) oder vollständig (z.-B. bei einer Flucht ins Ausland) verloren gehen. Beispiel | Eduard II. (England) Eduard II. war von 1307 bis 1327 König von England. Während seiner Regentschaft stellten sich nicht die erwünschten militärischen Kriegser‐ folge gegen Schottland ein. Zudem hatte er eine Vorliebe für männliche Begleiter und Ratgeber, die er auch in hohe Ämter erhob (Maddicott 3.1 Absolut monarchische Systeme 27 <?page no="28"?> 1986). Es wurden homosexuelle Beziehungen gemutmaßt, die dem damaligen Anspruch an einen englischen König nicht gerecht wurden. Im englischen Adel und vor allem auch bei seiner Ehefrau Isabella löste die Günstlingswirtschaft des Königs eine steigende Unzufriedenheit aus (Maddicott 1986). Nach mehreren Aufständen erklärte Edward II. im Januar 1327 den Thronverzicht zugunsten seines 14-jährigen Sohnes, um die Monarchie zu erhalten. Ein einzelner Autokrat brachte die Erbmonarchie trotz seiner zur damaligen Zeit geächteten „Verfehlungen und Neigungen“ also nicht zu Fall. - Historische Ursprünge im alten Rom Der Ursprung absolut monarchischer Systeme liegt in der antiken Römi‐ schen Republik, wo das Autokratenamt zunächst nur für Ausnahmefälle vorgesehen war. Nachdem Octavian, der Großneffe und Adoptivsohn von Gajus Julius Cäsar, im Jahr 44 v. Chr. dieses Amt übernommen hatte, wurde das Autokratenamt auf Lebenszeit ausgedehnt (Gottschalk 1984). Bis zu diesem Zeitraum änderte sich das römische Staatswesen laufend. Vorab war es als Mischung aus Monarchie (Magistratsämter), Adelsherrschaft (Senat) und Demokratie (Comitia) zu sehen. Octavian erhielt den Ehrennamen Augustus und wurde so zum Stammva‐ ter des römischen Kaiserreiches. Er ließ die alte republikanische Verfassung formal in Kraft und sicherte seine Position durch die Übernahme unter‐ schiedlicher Ämter wie mehrjährige Kommandos über wichtige Provinzen mit zahlreichen Legionen. Der Adel sah in Augustus keinen Autokraten, sondern den „Ersten Bürger des Staates“ (Christ 2001). - Wandel des Kaisertums Mit späteren römischen Kaisern wurden die Ämter von politischen Ent‐ scheidungspositionen allerdings mehr oder weniger zu reinen Verwaltungs‐ ämtern. Die Illusion einer republikanischen Regierungsform blieb zwar bestehen, doch lag die Macht von nun an nur noch in den Händen des Cäsaren. Unter dem Augustus-Nachfolger Tiberius schien die Sicherheit der neuen Ordnung zunächst gewährleistet zu sein. Doch seine Erben Caligula, Claudius und Nero waren der Regierungsverantwortung und Machtfülle nur noch sehr schwer gewachsen. Fraglich ist allerdings, inwieweit den 28 3 Formen der Autokratie <?page no="29"?> historischen Quellen zu trauen ist. Der deutsche Althistoriker und Wis‐ senschaftsjournalist Theodor Kissel (2006) etwa vertritt die These, dass die der aristokratischen Elite entstammenden Geschichtsschreiber Zusam‐ menhänge unkorrekt wiedergegeben haben könnten. Er begründet seine Ansicht mit der Brüskierung des aristokratischen Senats durch eben diese Cäsaren. Außenpolitisch blieb die Lage aufgrund der starken römischen Truppenpräsenz weitestgehend entspannt, doch im Inneren kam es immer wieder zu Exzessen der Regierenden oder zu schlichten Unfähigkeiten. Das Erbkaisertum wandelte sich in der nachfolgenden Zeit zu unterschiedlichen Formen wie etwa dem Adoptiv- oder Soldatenkaisertum. Teilweise bestand bei der Besetzung der herrschenden Position ein Wahlkaisertum. Die Wahl erfolgte jedoch nicht durch das Volk, sondern stets durch ein elitäres Gremium. - Neuzeitliche Ausprägungen der Monarchie „In der Frühen Neuzeit, während der Aufklärung und im 19. Jahrhundert dominierte eine positive Vorstellung von Diktatur in ihrer konstitutionellen Variante, die sich eng an das republikanische Vorbild Roms anlehnte (Kro‐ nenberg 2017, S. 1095).“ Bis zum Beginn der Französischen Revolution bildete sich der fürstliche Absolutismus in Europa mit Ausnahme von England und Polen immer stärker aus. Als klassischer Vertreter des Absolutismus gilt Ludwig XIV. Mit 72 Jahren Regentschaft war er der am längsten regierende Herrscher der Neuzeit. Während seiner Regierung errang Frankreich mit Hilfe seiner aggressiven Außenpolitik eine Vormachtstellung auf dem euro‐ päischen Kontinent. Ludwig XIV. förderte Künste und Wissenschaften, was zu einer großen Blüte der französischen Kultur führte. Es gab während sei‐ ner Regierungszeit geschäftsführende Minister, weshalb das System auch als absolutistisches Kabinettsystem bezeichnet wurde (Schultz 2006). Der absolute Machtanspruch der Monarchen war jedoch auf Dauer nur schwer gegen den restlichen Adel und das aufstrebende Bürgertum durchzusetzen. - Aktuelle Ausprägungen der Monarchie Derzeitige absolute Monarchien sind beispielsweise in Brunei, Saudi-Ara‐ bien, Kuwait und weiteren arabischen Monarchien am Persischen Golf zu finden. Speziell im islamischen Kulturkreis konnten sich die Monarchien auf einer religiös-traditionellen Basis etablieren. Primär stellen sie Petroauto‐ kratien dar (→ Kapitel 3.5). Diese kamen trotz eines erhöhten Wohlstandes 3.1 Absolut monarchische Systeme 29 <?page no="30"?> und der Entstehung einer neuen Mittelschicht nicht zum Einsturz. Insbe‐ sondere im islamischen Kulturkreis scheint eine Verbindung von religiösen Beweggründen und herrschaftlichen Gründungsmythen (z. B. mit daraus begründeten Traditionen zur Pflege und Erhaltung des Bewährten) ein Garant für deren Bestand zu sein. Dadurch wird eine nationale Identität geschaffen mit einem Autokraten als oberstem Vertreter. Voraussetzung ist natürlich, dass stark religiös geprägte Bevölkerungsteile existieren, die das Machtfundament bilden. Ein Garant für die Existenz ist zudem eine gut ausgebaute Geheimpolizei, die Regimegegner verfolgt. Der lange Arm der Geheimpolizei kann bis ins Ausland reichen. Beispiel | Jamal Khashoggi Im Jahr 2018 wurde der Journalist und Kolumnist (z. B. für die Washing‐ ton Post) Jamal Khashoggi in der saudischen Botschaft in Istanbul ermordet. Khashoggi lebte seit 2017 im Exil in den USA und teils in der Türkei. Er stand der saudischen Monarchie lange Zeit sehr nah als Medienberater. Zudem war Khashoggi Direktor der saudi-arabischen Tageszeitung „Al-Watan“. Später wurde er zum Regimekritiker und publizierte kritische Artikel über die saudische Königsfamilie. Er soll auf Befehl des saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman ermordet und zerstückelt worden sein (Winkler 2021). Die Gründungsmythen und deren Verbreitung sind in Monarchien Aufgabe der Staatspropaganda. Doch im Vergleich zu anderen autokratischen Systemen kann der Einsatz eines Propagandaapparates weniger wichtig sein. Dies ist bei einer breiten religiösen, heimatverbundenen und tradi‐ tionellen Verankerung der Monarchie der Fall. Eine gewisse Machtfülle für religiöse Institutionen kann die Legitimierung der Macht des Monarchen weiter stärken. - Wandlungen der Monarchie Monarchien können gestürzt werden oder sich transformieren. In Russland stürzte der Zar beispielsweise im Jahr 1917, im Iran der Schah im Jahr 1979. Es zeichnen sich Gesetzmäßigkeiten bei der Transformation der Monarchie ab: Dort, wo die Monarchie überlebt, nimmt sie oft Elemente einer Demokratie an. Das heißt, es bildet sich ein unabhängiges Parlament und eine funktionierende 30 3 Formen der Autokratie <?page no="31"?> Justiz aus. Ausprägungen können eine parlamentarische oder konstitutionelle Monarchie sein. Bei der parlamentarischen Monarchie hat der Monarch zusätzlich zur Bindung durch die Verfassung keinen bedeutenden Anteil mehr an den Staatsgeschäften. Diese werden vom Parlament und der Regierung geführt. Dem Monarchen kommen in der Regel nur noch repräsentative Aufgaben zu. Einen größeren Einfluss besitzt ein Monarch in der konstitutionellen Monar‐ chie. Seine Macht ist zwar nicht mehr absolut, sondern von der Verfassung geregelt. Die Regierung wird allerdings weiterhin vom Monarchen und nicht von einer Volksvertretung bestimmt, wie etwa im kaiserlichen Deutschland von 1871 bis 1918. - Liechtenstein als Beispiel für eine Mischform Das Fürstentum Liechtenstein stellt beispielsweise eine Mischform zwi‐ schen parlamentarischer und konstitutioneller Monarchie dar. Es ist eine konstitutionelle Erbmonarchie auf demokratisch-parlamentarischer Grund‐ lage. Nach der reformierten Verfassung aus dem Jahre 2003 kann der Fürst ● das Parlament auflösen (Art. 48 der liechtensteinischen Verfassung: führt zur Neuwahl des Landtages), ● die Regierung ohne Gründe entlassen (Art. 80 der liechtensteinischen Verfassung: führt innerhalb von vier Monaten zu einer Vertrauensab‐ stimmung) und ● ein Vetorecht bei Richterbestellungen einlegen. Erst nach einer langen und umkämpften Abstimmungskampagne stimmte die Mehrheit des Volkes dem Entwurf zu, mit dem bedeutende institutionelle Rechte der Gerichte, des Parlaments sowie der Regierung geklärt wurden. Dem Fürsten wurden in der Verfassung von 2003 weiter bedeutende Rechte zugebilligt. Das Fürstenhaus hatte bei einer Ablehnung der Verfassungs‐ änderungen einen Wegzug aus Liechtenstein angedeutet. Aufgrund der fürstlichen Finanzkraft wäre ein solcher Umzug mit sehr negativen Folgen für das Fürstentum und dessen Einwohner und Einwohnerinnen verbunden gewesen. 3.1 Absolut monarchische Systeme 31 <?page no="32"?> 3.2 Autoritäre Systeme Wissen | Vier Merkmale von autoritären Systemen 1. soziale Gesellschaftsgruppe stützt Autokratie 2. nationalistische Interessen des Autokraten 3. Sicherheits- und Wohlfahrtsversprechen 4. Zulassen von Wahlen bzw. Pseudowahlen Ein autoritärer Herrscher wird in einem autoritären System von bestimm‐ ten sozialen Gesellschaftsgruppen unterstützt, was auch zu oligarchischen Verhältnissen führen kann. Im Gegensatz zum Despoten (→ Kapitel 3.4) werden nur bedingt eigennützige Machtinteressen verfolgt, sondern meist nationalistische Interessen. Der Autokrat steht für Sicherheit und Ordnung und präsentiert sich als Retter in der Not, um den Volkswohlstand zu verbessern. - Das Militär versucht sich als autokratisches Regime Teils sieht das Militär keinen Ausweg zur vermeintlichen Stabilisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse und greift deshalb als Militärdiktatur selbst nach der Macht. Es handelt sich um eine Sammelbezeichnung für autoritäre Regime, in der die politische Führung vom Militär oder Teilen des Militärs ausgeübt wird. Typische Militärdiktaturen werden von einer Junta (Offiziersgruppe) oder einem einzelnen Militärvertreter geleitet. Bei einem umfassenden Militärregime ist der Vorsitzende des Militärs in eigener Person der Autokrat. Andere zentrale Positionen in der Exekutive werden ebenfalls von Militärs ausgefüllt (= direktes Militärregime). Es kann aber auch eine Pseudoregierung mit zivilen Personen gebildet werden, die dem militärischen Wohlwollen unterliegt (= indirektes Militärregime). Militärdiktaturen entstehen oft durch einen Putsch, der sich gegen die jeweils bestehende Ordnung und die damit verbundene Regierung richtet. Die Zahl der militärischen Putschversuche ist rückläufig. „Sie sank von durchschnittlich elf pro Jahr in den 1960er Jahren auf weniger als zwei im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts“ (Croissant und Kuehn 2020, S. 40). In Ägypten stürzte beispielsweise das Militär im Jahre 2013 den gewählten 32 3 Formen der Autokratie <?page no="33"?> Präsidenten Mursi, um ein Islamisieren des Landes zu verhindern. Weitere geschichtliche Beispiele sind ● die Militärjunta in Griechenland (1967-1974), ● Oberstleutnant Étienne Gnassingbé Eyadéma im Togo (1967-1991) ● Augusto Pinochet in Chile (1973-1989), ● Pervez Musharraf in Pakistan seit (1999-2008) Das Beispiel der Militärdiktatur von Pervez Musharraf in Pakistan zeigt, dass eine Differenzierung zwischen Autokratie und (hybrider) Demokratie nicht immer leicht ist. General Pervez Musharraf gründete beispielsweise eine eigene Partei, um die Machtbasis zivil zu bestätigen. Pakistan war unter seiner Regentschaft in der westlichen Presse und den Augen der Politiker an einem Tag ein einigermaßen demokratischer Verbündeter im Kampf gegen den islamistischen Terror. An anderen Tagen dagegen eine Militärdiktatur, die islamische Kämpfer zur Verfolgung eigener machtpolitischer Interessen benutzte. Beispiel | Honduras und Myanmar Ein Beispiel für Übergriffe des Militärs findet sich in Honduras. Im Jahr 2009 wollte etwa der honduranische Präsident Mel Zelaya eine Volksbefragung zu einer Verfassungsrevision durchführen lassen, um entgegen den bisherigen verfassungsrechtlichen Bestimmungen eine dritte Amtszeit ausfüllen zu können. Das Militär verwies darauf den Präsidenten ins benachbarte Costa Rica und übernahm selbst die Macht (Straßner 2013). Ein weiteres Beispiel ist in Myanmar zu finden. Dort putschte das Militär im Jahr 2021, als Demokratisierungstendenzen zu stark wurden. Dabei hatte gerade das Militär im Jahr 2015 Wahlen ermöglicht. Bei diesen gewann die Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi mit ihrer Partei Nationale Liga für Demokratie (NLD). Im November 2020 konnte die NLD ihren Wahlerfolg wiederholen und erlangte bei der Parlamentswahl eine klare Mehrheit der Sitze. Die Ex-Regierungschefin Aung San Suu Kyi ist seit dem 1. Februar 2021 in Haft (Girke 2022). Ein von der Militärjunta bestelltes Gericht hatte die entmachtete Aung San Suu Kyi in mehren Prozessen zu jahrelanger Haft wegen Korruption und Anzettelung eines Volksaufstandes verurteilt. Weitere führende Politiker der NLD wurden ebenso verhaftet und verurteilt. 3.2 Autoritäre Systeme 33 <?page no="34"?> Besser anti als gar keine Meinung Neben einer Militärdiktatur können auch zivile Kräfte zu autoritären Herr‐ schaftsformen führen. Ihre Legitimation sehen diese Regime meist darin, Kommunismus und Chaos zu verhindern. Es wird also eine Antihaltung in der Gesellschaft als Grundlage der Legitimation aufgebaut. Darunter fallen antijapanische, antiamerikanische oder übergreifend antiwestliche Begründungen (→ Kapitel 4.1). Solche Antihaltungen können sich in selbst‐ verständlich auch in Militärautokratien zeigen. - Autoritäre Wahlautokratie, um Legitimation vorzutäuschen Autoritäre Herrscher implementieren oft Wahlautokratien (= elektorale Autokratien), da eine tragende Idee oder eine dynastische Tradition als Legitimationsgrundlage des Systems fehlt. Dort werden demokratische Praktiken kopiert, indem ein allgemeines Wahlrecht und ein durch den Autokraten zugelassener limitierter politischer Wahlwettbewerb besteht. Die Opposition wird zudem oft aufgespalten. Die Wahlen sind nach de‐ mokratischen Gesichtspunkten nicht „frei und fair“ gestaltet, sondern zu Gunsten der Autokraten massiv karikiert (Krennerich 2017). Die politische Macht des Autokraten steht bei den gelenkten Wahlen nicht wirklich zur Disposition. Vielmehr sollen die Wahlergebnisse den Führungsanspruch im‐ ponierend bestätigen. Es sind allerdings auf einem Kontinuum verschiedene Ausprägungen (→-Abbildung 5) hinsichtlich der Offenheit von politischen Wahlen denkbar, von einer starken Einschränkung des Wettbewerbs bis hin zu bestimmten Handlungsmöglichkeiten und der Bildung einer Opposition. Beispiel | Belarus Wahlen unter dem autoritären Autokraten Alexander Lukaschenko in Belarus waren vermutlich fingiert. Bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2020 ließ der Autokrat aber eine begrenzte Opposition zu. Mehrheitlich wurden „ernsthafte Konkurrenten und Konkurrentinnen“ zwar ausgeschlossen, das Ergebnis der Wahl war aber trotzdem unglaubwürdig (Bedford 2021). Über 80 Prozent stimmten in der Scheinwahl für Lukaschenko. Die Oppositionskan‐ didatin Swetlana Tichanowskaja erhielt knapp 10 Prozent der Stimmen, andere Oppositionsvertreter teilen sich die restlichen 10 Prozent. Mit dieser hohen Zustimmungsrate wollte der Diktator seine Legitimität als Autokrat stärken und seine Beliebtheit in der Bevölkerung dokumentieren. Dem Volk erschien 34 3 Formen der Autokratie <?page no="35"?> der Schwindel zu umfassend. Dieser Betrug an den Wählenden führte deshalb zu Massenprotesten, die extrem gewaltsam niedergeschlagen wurden. Die Oppositionskandidatin Swjatlana Zichanouskaja floh nach Litauen. Zahlrei‐ che Mitglieder ihrer Bewegung wurden gefangen genommen und angeklagt. - Nutzen von Wahlen Wahlen in autokratischen Systemen können zudem zur autokratischen Sys‐ temstabilisierung beitragen. Das oppositionelle Spektrum kann identifiziert werden. Während und nach den Wahlen können diese Kräfte durch die Polizei und Geheimpolizei effektiv bekämpft und ausgeschaltet werden. Die Wahlen ermöglichen damit, die Effektivität des Kontrollapparats zu testen und die eigenen Reihen auf Kurs zu bringen. Es sind jedoch auch Wahlautokratien denkbar, die Wahlen positiv für sich gestalten, ohne einen Legitimitätsverlust. Solche Systeme sind gesellschaftlich anerkannt und etabliert. Beispiel | Singapur Eine zivile Ausprägung eines autoritären Staates und auch eine Wahlauto‐ kratie stellt die Regierungsform in Singapur dar. Es handelt sich um eine Ausprägung von Wahlen, die einen gewissen Grad von Wettbewerb duldet (→ Abbildung 5). Zum Hintergrund: Seit mehr als 60 Jahren regiert die Democratic Action Party als Hegemonialpartei. Meinungs- und Pressefreiheit sind in Singapur stark eingeschränkt und Todes- und Prügelstrafen Elemente eines ausgefeilten Strafkataloges. Der erste Regierungschef Lee Kuan Yew führte die Staatsgeschäfte von 1959 bis 1990, um danach bis zu seinem Tod in unterschiedlichen Funktionen Teil der Regierung zu bleiben (Barr 2000). Der dritte Premierminister ist der Sohn von Lee Kuan Yew, das Land wird also quasi von einer Familie regiert. Lee Kuan Yew vertrat die Meinung, dass er weit effektiver regieren könnte als jeder demokratisch gewählte Premierminister in den westlichen Demokratien (Barr 2000). Die Democratic Action Party wird alle fünf Jahre durch Wahlen als Regierungspartei mit 80 bis 100-Prozent der zugewiesenen Sitze im Parlament bestätigt. Die demokratischen Grundsätze einer repräsentativen Wahl sind nur bedingt erfüllt. Aufgrund des starken Disproportionseffekts im Wahlsystem kommt es zu einer Diskrepanz zwi‐ schen dem Stimmenanteil der Opposition und den ihr zugewiesenen Sitzen 3.2 Autoritäre Systeme 35 <?page no="36"?> (Croissant 2022). Die Legitimation der Regierungspartei wird aber vom Volk anerkannt. Die Partei nutzt zudem die Wahlen als Informationsfunktion. Es ist eine Art politisches Barometer, um durch das Abschneiden der Opposition ein Gespür für die Unterstützung der Wählerinnen und Wähler für bestimmte politische Fragen zu gewinnen (Croissant 2022). Teils wird die Opposition auch in die Regierungsarbeit eingebunden. - Leistung als Legitimation Das Beispiel zeigt, dass Wahlen in Singapur weniger im Zentrum des politischen Denkens stehen. Vorgegeben ist vielmehr ein strenges Leis‐ tungsprinzip im Einklang mit dem hochentwickelten Arbeitsethos der Bevölkerung, das erfolgreiches Handeln belohnt und den sozialen Frieden sichert (Barr 2014). Im strengen Antikorruptionskurs der Regierung ist daher Vetternwirtschaft ausgeschlossen, bei der öffentliche Vermögenswerte in private Vermögenswerte transferiert werden. Vielmehr steht der Wunsch der Individuen im Vordergrund durch Leistung zur Elite gehören zu wollen (Barr und Skrbis 2008). Es besteht also eine leistungsbezogene Legitimität der Regierung. Die entsprechenden volkswirtschaftlichen Erfolge inklu‐ sive eines höheren Wohlstandes für zahlreiche Bürgerinnen und Bürger erzeugen zudem eine Output-Legitimität. Eine ähnliche Legitimationsquelle erfährt das totalitäre System in China. Wahlen mit (begrenzten) Wettbewerb Einschränkungen für Kandidierende anderer Parteien Oppositionsparteien zur Wahl zugelassen Parlament mit Einfluss auf Regierungsgeschäfte gewisse Freiheitsrechte beim Handeln Wahlen ohne Wettbewerb abhängige Kandidierende, keine eigentliche Opposition Sperre für wirkliche Oppositionsparteien Pseudo-Parlament ohne Einfluss Opposition wird verfolgt und terrorisiert Abbildung 5: Ausprägung von Wahlen in autoritären Systemen 36 3 Formen der Autokratie <?page no="37"?> 3.3 Totalitäre Systeme Wissen | Vier Merkmale von totalitären Systemen 1. offizielle, allumfassende Ideologie 2. Staatskult um die Partei und/ oder Personenkult um den Autokraten 3. starker, allumfänglicher Einsatz von Staatspropaganda 4. Aufbau von Feindbildern In der jüngsten Vergangenheit waren totalitäre Systeme als Rechtstotali‐ tarismus durch faschistische (z. B. Hitler und Mussolini) und als Linksto‐ talitarismus durch kommunistische Führer bzw. Einparteiensysteme (z. B. Stalin) präsent. - Unsere Weltanschauung soll deine sein Totalitäre Systeme sind eine Art Weltanschauungsdiktatur mit sekten‐ haften oder religiösen Zügen, die oft aus einer Art revolutionären Dynamik entspringen. Es handelt sich also um eine Form einer politischen Religion, deren Anführer ein politischer Messias und Heilsbringer ist. Die Bürge‐ rinnen und Bürger des Staates sollen demnach gläubige Anhängerinnen und Anhänger der zentralen Idee und der Partei sein. Die beschriebenen glorifizierenden Handlungen können zu einer Bereitschaft der Menschen führen, an den nahezu „göttlichen Willen“ des Diktators zu glauben. Sie tun das nicht nur, weil sie dazu gezwungen werden. Viele Individuen sind vielmehr in einer Form von massenpsychologischer Hysterie verfangen. Eine meist parteiförmig organisierte Gruppe initiiert in der Regel die beschriebene Bewegung, um eine utopische Idee zu realisieren. Das Kern‐ stück ihrer politischen Machtordnung wird damit die totalitäre Partei und die Zielvorgabe, z. B. einen „neuen Menschen“, eine „neue Weltordnung“ oder eine „neue Gesellschaft“ zu schaffen. Dies wird zum Staatskult, einer Ideologie (= ein ideell begründetes Denk- und Wertsystem). Es können umfassende, tiefe und fundierte Ideologien wie der Kommunismus, Ansätze wie Nationalismus oder gesellschaftliche Modelle wie Sozialismus unter‐ schieden werden (Grauvogel und von Soest 2017). 3.3 Totalitäre Systeme 37 <?page no="38"?> Halte dich als Bürgerin oder Bürger an die Ideologie Die universale Ideologie mit Ausschließlichkeitscharakter und umfassen‐ dem Gestaltungsanspruch erfasst alle lebenswichtigen Aspekte der mensch‐ lichen Existenz. Die ganze Nation soll dann mit der zentralen Idee gleich‐ gestellt werden, die die ganze Welt und deren Zusammenhänge förmlich erklärt. Dazu gehört ebenfalls, die Bürgerinnen und Bürger bereits von Jugend an in Organisationen einzubinden. Beispiel | Deutschland Im ehemaligen Nazideutschland waren die Hitler-Jugend für Jungen und der Bund deutscher Mädchen prägende Jugendorganisationen. In der DDR (= Deutsche Demokratische Republik) waren dies z. B. die Jugend‐ organisation FDJ (= Freie Deutsche Jugend) und die Pionierorganisation Ernst Thälmann. Eine Vermittlung der Staatsideologie im Schulwesen soll die Idee weiter in den Köpfen der Menschen festsetzen. Die Bevölkerung wird zudem mobilisiert und emotional gebunden durch Rituale, Masseninitiativen, Feste, Sportveranstaltungen oder Militärparaden. Diese Maßnahmen mögen den totalitären Systemen einen pseudodemokratischen Anschein geben. An die Vorgaben einer Ideologie sollte sich jedes Individuum zumindest passiv halten. In China lautet beispielsweise das Ziel, ehrliche, vertrauens‐ würdige Menschen zu schaffen. Die Regeln bestimmt die Partei, wie etwa einen gewissen Rahmen beim Onlineverhalten oder öffentlichen Äußerun‐ gen zur Staatsideologie. Problematisch ist, wenn nach Jahrzehnten die von der Ideologie versprochenen Änderungen nicht eintreten. Der sowjetische Sozialismus verlor so seine Strahlkraft und es bildeten sich Schattengesell‐ schaften heraus. Beispiel | China In China ist die totalitäre Regierung immer wieder bemüht, ihre zentrale Aufgabe, das Land zu Wohlstand zu führen, herauszustellen. Autokratische Herrschaft wird also kombiniert mit sozialökonomischer Modernisierung, um das Ziel zu erreichen. Ermüdungserscheinungen im Glauben an die Legitimität des Staates in Teilen der Bevölkerung soll so vorgebeugt werden. 38 3 Formen der Autokratie <?page no="39"?> Gewaltenteilung besteht bestenfalls auf dem Papier Hierarchien und Organe der Partei werden zu Hierarchien und Organen des gesamten Staates. Es besteht nur noch dieses politische Machtmonopol ohne die Gewaltenteilung eines Verfassungsstaates. Gewerkschaften können bestehen, sind aber durch den Staat dirigiert. Dies gilt auch für Organisatio‐ nen der Wirtschaft. Die Führung der genannten Organisationen übernimmt beispielsweise eine Koryphäe der herrschenden Partei oder eine eng damit verbundene Person. Auch weitere zentrale Positionen werden in gleicher Form besetzt. - Personenkult ist nicht ausgeschlossen Totalitäre System weisen in vielen Fällen einen Personenkult um den Au‐ tokraten auf, z. B. schön gerahmte Bilder des Autokraten in allen öffentlichen Gebäuden und sogar in Privathaushalten. Amt und Amtsinhaber werden in der Außendarstellung oft zur Einheit. Der Begriff „Personenkult“ wurde durch Chruschtschow im Jahre 1956 in seiner Rede auf dem 20. Parteitag der KPdSU (= Kommunistische Partei der Sowjetunion) geprägt. Es handelt sich um die bereits beschriebene, in religiöse Dimensionen ragende bzw. die Religion ersetzende Verehrung von lebenden Führerfiguren im Bereich der Gesellschaft und Politik. Insbesondere in totalitären und despotischen Diktaturen (→ Kapitel 3.4) kommt es oft zu einer gewissen Form des Personenkultes um den Herrscher. Unter Stalin wurden Russinnen und Russen so zu Stalinistinnen und Stalinisten, unter Mao wurden Chinesinnen und Chinesen so zu Maoistinnen und Maoisten. Für den Historiker und Sinologen Frank Dikötter (2020) liegt deshalb der Personenkult im Herzen der Diktatur und ist Bestandteil seines innersten Kerns. Beispiel | Personenkult Einen ausgeprägten Personenkult gab es etwa im Römischen Reich um die Mehrzahl der Cäsaren, die sich teilweise als Gottkaiser verehren ließen. Weitere Beispiele liegen in der ausgeprägten Verehrung Adolf Hitlers (z. B. Hitlergruß) im Nationalsozialismus sowie der Preisung Saddam Husseins im Irak. Interessanterweise gab es bereits beim Des‐ poten Mao eine Art soziales Bewertungssystem, nach dem Belohnungen zugeteilt wurden. Die Bürger wollten unbedingt Gegenstände mit der Abbildung von Mao besitzen. Die Produktion von Standbildern und 3.3 Totalitäre Systeme 39 <?page no="40"?> Ansteckern oder der Mao-Bibel führte deshalb sogar zu Engpässen bei Plastik und Aluminium. Güter des täglichen Bedarfs wie Plastik‐ schuhe und Kochtöpfe wurden infolgedessen knapp (Dikötter 2020). Mao-Stuatuen und Abbildungen genießen in China, aber desgleichen in der westlichen Welt noch eine gewisse Popularität (→ Abbildung 6). Dies liegt unter anderem darin begründet, dass sich der bekannte Pop-Art-Künstler Andy Warhol dem Porträt von Mao widmete und daraus im Jahr 1972 eine Mao-Serie von 10 Siebdrucken anfertigte. In jedem Siebdruck ist Maos Gesicht auffällig gefärbt, seine Lippen wirken manchmal rot geschminkt. Die Erstellung dieser glamourösen Porträts machte Mao zu einer Pop-Ikone. Abbildung 6: Mao | Quelle: © Bernotto, iStock - Tod, na und? Im Extremum entsteht sogar ein Totenkult um verstorbene Autokraten (→ Abbildung 7). Es handelt sich dabei um eine mehr oder weniger rituali‐ sierte Form der Hochschätzung oder Verehrung von toten Autokraten. Aktu‐ elle Regierungen versprechen sich durch die Würdigung eines verstorbenen, populären Autokraten Ausstrahlungseffekte auf das eigene Regime und damit eine Legitimierung der Macht. Das Andenken des toten Autokraten wird also für politische und ideologische Zwecke instrumentalisiert. 40 3 Formen der Autokratie <?page no="41"?> Beispiel | Totenkult Der oben im Beispiel beschriebene Mao-Kult ist nach dessen Tod noch existent und vom aktuellen Regime nicht unterbunden. Auch Lenins Vermächtnis wird mit einem vergleichbaren Kultstatus bewusst weiter am Leben gehalten: Obwohl Lenin vor seinem Tod gewünscht hatte, dass kein Personenkult um seinen Namen betrieben werden sollte, kam es zu einem großen Staatsbegräbnis und einer Einbalsamierung seiner Leiche. Sie ist im Lenin-Mausoleum auf dem Roten Platz in Moskau aufgebahrt und wird dort nach wie vor verehrt. Stalin versprach als nachfolgender Autokrat feierlich, das Erbe von Lenin zu würdigen und weiterzuführen. Offiziell wurde er durch dieses Vorgehen zum Vollstrecker von Lenins Testament. Abb. 7: Personenkult und Totenkult Personenkult zu Lebzeiten des Autokraten Totenkult nach dem Ableben des Autokraten Abbildung 7: Personenkult und Totenkult - Die Polizei weiß (fast) alles über dich Ein Aufbau einer allgegenwärtigen Geheimpolizei, die in der Regel mit Terrormethoden vorgeht, soll die Macht sichern und Personen identifizieren, die nicht konform mit der übergreifenden Idee sind („Volksfeinde“). Die Geheimpolizei bildet gewissermaßen eine Gegenmacht zum Militärapparat und kontrolliert auch dessen Zuverlässigkeit. Beispiel | NKGB und MWD (Sowjetunion) Die ehemalige Sowjetunion bediente sich des NKGBs (= Volkskommis‐ sariat für Staatssicherheit), der mit dem MWD (= Ministerium für innere Angelegenheiten) zusammenarbeitete. 3.3 Totalitäre Systeme 41 <?page no="42"?> Eine Reihe von so genannten Staatsfeinden „verschwinden“ durch den gezielten Einsatz von Terror oder werden ohne Gerichtsverhandlungen eingesperrt, wobei ihnen oft ein rechtlicher Beistand verwehrt bleibt. In den Gefängnissen und in Polizeigewahrsam wird häufig gefoltert, etwa durch direkte körperliche Gewalt (z. B. Schläge oder Schlafentzug). Um die Informationen zu erlangen, werden in allen gesellschaftlichen Bereichen Polizeispitzel eingesetzt. Aber auch mehr oder weniger linientreue Anhänger der Ideologie können zu Denunzianten werden und so eine wichtige Informationsquelle für den staatlichen Geheim‐ dienst darstellen. Die Beweggründe für die Spitzel sind meist ideeller und seltener materieller Natur. Sie glauben an die verbreitete Ideologie und werden „Opfer“ und Erfüllungsgehilfinnen und und Erfüllungsgehilfen der umfassenden Staatspropaganda. Spitzel können im Inland und Ausland agieren. Beispiel | Spitzelwesen (DDR) In der früheren DDR (= Deutsche Demokratische Republik) bestand ein ausgeprägtes Spitzelwesen. So genannte inoffizielle Mitarbeiter (IM) spielten dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) verdeckt Daten über ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger zu. Mit Hilfe der Daten wa‐ ren allgemein Stimmungen und Meinungen in der Bevölkerung zu identifizieren und nicht linientreue Bürgerinnen und Bürger intensiver zu beobachten und zu bestrafen. Trotz aller Bemühungen des Staates war eine flächendeckende Überwachung der Gesellschaft auch in der ehemaligen DDR nicht realisierbar. - Informationen ohne Grenzen In der heutigen Zeit stehen die Mittel des Informationszeitalters künstliche Intelligenz und Big Data zur Überwachung zur Verfügung und gehen damit viel weiter als die oben genannten Möglichkeiten. Der perfekte Überwachungs‐ staat lässt sich mit diesen Mitteln besser realisieren. In China hat der Staat beispielsweise den vollständigen Zugriff auf Smartphones und deren Daten. Dadurch ergibt sich eine unglaubliche Informationsfülle über die Bürgerinnen und Bürger. Die künstliche Intelligenz sichert eine tiefere Überwachung. Dazu existiert ein umfängliches Netz an Überwachungskameras, das erlaubt alle Bürgerinnen und Bürger an zahlreichen Orten in ganz China zu identifizieren. Diejenigen, die nicht den Normen der Partei genügen, gelangen auf schwarze 42 3 Formen der Autokratie <?page no="43"?> Listen. Sie werden durch Sanktionen bestraft wie etwa ein langsameres Internet oder ein schlechterer Zugang zu kulturellen Veranstaltungen (Strittmatter 2018). Ziel ist es, ähnlich der Utopie von George Orwell „1984“, ein allumfassendes Sys‐ tem digitalisierter und sozialer Aufsicht zu implementieren, um die Bürgerinnen und Bürger in allen Lebensbelangen zu kontrollieren und zu steuern. Umgekehrt sehen Nils Weidmann vom Exzellenzcluster „The Politics of Inequality“ an der Universität Konstanz und Espen Geelmuyden Rød von der Universität Uppsala (Schweden) (2019) in ihren Studien über die Effekte von Kommunikations‐ technologien in Autokratien keine wesentlichen demokratisierenden Wirkun‐ gen vom Internet und Social Media. Eine Unterstützung der Organisation (z.-B. von Protesten) ist allerdings als positives Element des Internets hervorzuheben. Dies mag ein Grund sein, weshalb im Iran bei Massenprotesten das Internet eingeschränkt oder sogar abgeschaltet wird (Fulterer 2022). - Irgendwer muss Schuld an allem haben Feindbilder bilden sich in Gemeinschaften als Bilder, Erzählungen, Ideen oder Vorstellungen. Oft erfolgt der Aufbau eines ungerechtfertigten Feind‐ bildes als Sündenböcke für staatliche Probleme, deren Bekämpfung die Herrschaft rechtfertigen und erhalten soll. Dies ist oft eine kleine, quasi wehrlose Oppositionsgruppe oder eine Bevölkerungsminderheit. Die‐ sen Gruppen werden negative Eigenschaften oder Verhaltensweisen zuge‐ schrieben, die das Kollektiv gefährden und den Fortschritt des Landes einschränken. Enthumanisieren, also das Abstreiten aller humanen Züge eines Wesens, soll den Umgang des gesellschaftlichen Kollektivs mit den Feinden erleichtern. Beispiel | Nazideutschland In Nazideutschland von 1933 bis 1945 wurde die jüdische Bevölkerung zu zentralen Volksfeinden oder sogar Schädlingen. Sie wurden abfällig mit Krankheitskeimen verglichen, die zu eliminieren wären. In der abstrusen nationalsozialistischen Rassenlehre waren „Arier“ als höher stehende Rasse einzuordnen und die Juden als niedriger stehende. Des Weiteren wurden Homosexuelle, Sinti und Roma und weitere Gruppen als Feinde identifiziert und verfolgt. 3.3 Totalitäre Systeme 43 <?page no="44"?> Es können daneben andere Staaten oder Ideen als Feindbild hochstilisiert werden, also ein externes Feindbild. In Nazideutschland war dies z. B. der internationale Kommunismus. An der Entwicklung des Kommunismus sei erneut das Judentum beteiligt, was sie zu einem international agierenden Feind machte. Es fanden sich also diverse Verschwörungstheorien. - Propaganda-Power und Terror in Kombination Der Einsatz von Propaganda dient einer breitenwirksamen Selbstdarstel‐ lung des politischen Systems. Ziel ist eine Mobilisierung der Bevölkerung zur enthusiastischen Teilnahme am politischen Prozess. Der Staat hat die Verfügungsgewalt über alle zentralen Mittel der Massenkommunikation. Die Propaganda wird oft durch den Einsatz von Terror unterstützt. Dafür können auch spezielle Lager (Naziregime = Konzentrationslager, kommu‐ nistische Sowjetunion = Gulag) bestehen. Strafarbeitslager und unfaire juristische Prozesse sind auch für das heutige Nordkorea typisch. Folter und Hunger gehören zum Alltag in den auf das ganze Land ausgedehnten Lagern (Kruse 2018). Dort sitzen die gefangenen Personen und ihre Familien oft bis zum Tode ein, da Sippenhaft die Regel ist. Bei gefährlichen Verletzungen bei der Arbeit in den Minen werden die Personen ihrem Schicksal überlassen. Kennzeichnend ist auch in diesem Regime die Enthumanisierungsstra‐ tegie, bei der Wärter die Gefagenen nicht als Menschen, sondern als Tiere betrachten (Kruse 2018). Beispiel | Kambodscha Geschichtliche Beispiele sind neben den bereits genannten die Diktatur der Roten Khmer in Kambodscha mit Pol Pot als zentraler Figur (1975- 1979). Ziel war, die Gesellschaft in eine Art Agrarkommunismus zu führen. Die gesamte staatliche Kommunikation war darauf ausgerichtet. Falls dies nicht ausreichte, wurde Massenterror ausgeübt. - Der Weg an die Macht Viele totalitären Diktaturen wurden von den Bürgerinnen und Bürgern eines Landes unter vorgetäuschten Voraussetzungen frei gewählt. Nach der Wahl höhlten die Machthabenden die Gewaltenteilung aus, ähnlich wie das Naziregime. 44 3 Formen der Autokratie <?page no="45"?> Beispiel | Nicolás Maduro und Hugo Chávez (Venezuela) Die Diktatur von Nicolás Maduro in Venezuela ist ein klassisches Beispiel für die Aushöhlung einer Verfassung. Sein Vorgänger Hugo Chávez wurde im Dezember 1998 mit einem Stimmenanteil von 56 Prozent zum Präsidenten gewählt. In seiner Regierungszeit wurden bereits zahlreiche Medien in Venezuela wie Fernseh- und Radiosender verboten. Maduro war in der Regierungszeit von Chávez unter anderem Außenminister und Vizepräsi‐ dent. Nachdem Chávez erkrankte, führte er die Amtsgeschäfte und die autokratische Politik seines Vorgängers fort. Die Wahl im Jahr 2013 gewann er knapp. Während des Wahlkampfes wurde die Opposition eingeschüchtert und im Handeln eingeschränkt. Im Jahr 2017 entmachtete er das Parlament weitgehend und setzte ein linientreues Gegenparlament ein. Wichtig können in einem totalitären System Wahlen ohne wirkliche Aus‐ wahl sein, in denen es gilt, das System mit einem hohen Prozentsatz zu bestätigen. Diese dienen als Legitimation der zentralen Ideologie und deren Vertretenden. 3.4 Despotische Systeme Wissen | Vier Merkmale von despotischen Systemen 1. Entwicklung von Semi- oder Pseudoideologien 2. ausgeprägter Personenkult um den Autokraten 3. starker Einsatz von Staatspropaganda 4. ausgeprägte Vetternwirtschaft - Vergleich zu totalitären Systemen Despotische Systeme haben viele Überschneidungen zu totalitären Syste‐ men (→ Abbildung 8). Teils wechseln auch die Systeme oder die Zuordnung ist nicht eindeutig. Die ehemalige Parteidiktatur in Nordkorea unter Kim Il-sung und Nachfolgern (seit 1946) könnte etwa von einem totalitären zu einem despotischen System transformiert sein. In letzterem besteht um 3.4 Despotische Systeme 45 <?page no="46"?> den Autokraten ein (noch) ausgeprägter Personenkult sowie eine gezielte Massenpropaganda. Beispiel | Wladimir Putin (Russland) Der russische Despot Wladimir Putin wird von dem russischen Schrift‐ steller und Regimekritiker Dmitri Glukhovsky (2022) als recht unschein‐ bar, sehr klein und mit dünnem Haar beschrieben. Diesen Eindruck gewann Glukhovsky in allen direkten Begegnungen mit Putin. In den Medien wird in Russland dagegen alles getan, um Putin als extrem männlich und machtvoll wirken zu lassen, sei es beim Tauchen oder auf einem Pferd reitend mit freiem Oberkörper. Die Macht und Reichweite des russischen Staatsfernsehens kennzeichnet Glukhovsky (2022) als unvergleichbar. Eine stets aktive Geheimpolizei sichert die Macht des Despoten. Auch in dieser Ausprägung der Autokratie werden Terrormethoden angewandt, um die Macht zu sichern und regimekritische Personen zu identifizieren. Eine Geheimpolizei kann direkt (z. B. Verhaftungen) oder indirekt (z. B. durch verdeckte Anschläge) Terror ausüben. Abb. 8: Vergleich totalitärer und despotischer Systeme totalitäres System tiefe, ausgefeilte Ideologie Partei im Zentrum despotisches System Pseudo-Ideologie Autokrat im Zentrum Abbildung 8: Vergleich totalitärer und despotischer Systeme Beispiel | Boris Nemzow (Russland) Am 27.02.2015 wurde beispielsweise der Oppositionelle Boris Nemzow in Moskau durch vier Schüsse in den Rücken ermordet (Hebel 2020). Die Überwachungskameras in nächster Nähe fielen just an dem Tag aus. Fünf Tschetschenen wurden als Täter identifiziert und zu hohen Frei‐ heitsstrafen verurteilt. Hintergründe der Tat wurden nicht in aller Tiefe 46 3 Formen der Autokratie <?page no="47"?> untersucht. Auftraggeber wurden nicht ermittelt. Eine Beteiligung der Geheimpolizei wird vermutet (Hebel 2020), sie handelte also indirekt. In Rumänien ließ der Despot Nicolae Ceauşescu (herrschte von 1965 bis 1989) seine Gegner bzw. vermeintliche Dissidenten durch die Se‐ curitate beobachten und verfolgen. Viele Staatsfeinde verschwanden oder wurden ohne Gerichtsverhandlungen in Lagern eingesperrt. Viele Maßnahmen konnten der Geheimpolizei direkt zugeordnet werden. Im Gegensatz zur totalitären Form existiert in despotischen Systemen meist keine umfassende Ideologie als Grundlage der Herrschaft. Es werden aber (teils erst nach Machtübernahme) Semi- oder Pseudoideologien entwickelt, denen es jedoch an einem tiefen Systementwurf und strategischen poli‐ tischen Leitlinien mangelt. Es fehlt also die Universaltheorie totalitärer Staaten, die ein gemeinsames Handeln leitet. Teils wird die Ideologie auch personalisiert, d.-h. speziell auf einen Autokraten zugeschnitten. - Machtgier und Eigennutz dominieren In despotischen Systemen sind Machtgier und Eigennutz die zentralen Leitlinien der Herrschaft mit engen persönlichen Vertrauensverhältnissen. Autokraten neigen zu einer extremen Ausbeutung öffentlicher Ressourcen sowie regelfreiem Verhalten. Sie gönnen sich teure Yachten und Gebäu‐ dekomplexe in extravaganten Dimensionen. Das Ausfüllen eines Autokra‐ tenamtes muss übrigens nicht zwangsläufig mit ausgiebiger Prunksucht verbunden sein. Die Castro-Brüder auf Kuba pflegten beispielsweise einen beschiedenen Lebensstil. Beispiel | Palast am Schwarzen Meer Der Autokrat Putin soll am Schwarzen Meer einen Palast besitzen, der mit Außenanlagen 39-mal so groß wie Monaco ist und vom russischen Geheimdienst FSB bewacht wird (Ivits 2022). Bereits im Jahr 2010 war das Ansinnen des Diktators bekannt geworden. Aufgrund von Kritik in der Öffentlichkeit wurde das Objekt an den Milliardär und Putin-Ge‐ treuen Alexander Ponomarenko verkauft, der das Anwesen als Hotel nutzen wollte (Ivits 2021). Zehn Jahre später ist der Palast immer noch ein Domizil und kein Hotel. Putin kann zumindest öffentlich erklären 3.4 Despotische Systeme 47 <?page no="48"?> lassen, dass er nicht als Eigentümer deklariert ist. Da allerdings eine Flugverbotszone im weiten Umkreis besteht, sind die Eigentumsverhält‐ nisse mehr als fraglich. Der russische Sicherheitsdienst begründet die Sperrung des Luftraums mit verstärkten Geheimdienstaktivität von Nachbarstaaten (Ivits 2021). Beweggründe der fremden Geheimdienste für das Auskundschaften eines Küstenstreifens in einer Urlaubsregion bleiben im Unbekannten. Es drängt sich daher der Verdacht einer Inszenierung über Scheingeschäfte auf, die durch intensive Staatspro‐ paganda unterstützt wurde, um das Ansehen des Despoten nicht zu verschlechtern. - Vertrauen des Autokraten in Familie und Freunde Ämter werden in despotischen Systemen oft an Familienangehörige oder enge befreundete und vertraute Personen verteilt. Enge persönliche Bezie‐ hungen zum Autokraten sind also das Eingangstor zur eigenen Macht der vertrauten Person. Es liegt eine ausgeprägte Form der Vetternwirt‐ schaft und Korruption vor. In diesem Zusammenhang wird auch von einer Kleptokratie gesprochen, d. h. aufgrund der Verfügungsgewalt bereichern sich einige Gruppen auf Kosten der Beherrschten stark. Faktoren, die die Korruption einschränken könnten, werden beseitigt (z. B. staatliche Kontrollinstitutionen) oder unterdrückt (z.-B. kritische Öffentlichkeit) oder sind in der Gesellschaft nicht so stark ausgeprägt wie etwa eine religiöse/ mo‐ ralische Selbstbindung (Rose-Ackerman 1999). Der Autokrat ist in diesem streng hierarchischen System aus Treue- und Gefolgschaftsbeziehungen die absolute Schlüsselfigur (→ Abbildung 9), alle relevanten Handlungsstränge laufen über ihn. Er regiert nach einem Top-down-Führungsstil, d. h., seine Entscheidungen werden die hierarchische Struktur nach unten weitergege‐ ben (Voss 2018). 48 3 Formen der Autokratie <?page no="49"?> Abb. 9: Zentrale Position des Autokraten Autokrat engster Berater Militärchef Wirtschaftschef Vertretende Vertretende Vertretende … … Geheimpolizeichef Abbildung 9: Zentrale Position des Autokraten Beispiel | Herrschaftsstrukturen (Russland) Die russischen Regimekritiker Dmitri Glukhovsky (2022) und Leonid Wolkow (2022) veranschaulichen in ihren Buchpublikationen das streng hierarchische System, das unter der Herrschaft des russischen Autokra‐ ten Putin besteht. Sie sprechen von mafiösen Strukturen, in denen der Autokrat eine Art Patenrolle einnimmt, bei der er die höchste Stufe innerhalb der Hierarchie der Mafiafamilie ausfüllt. - Der Autokrat als Sultan Alle Personen sind extrem vom Wohlwollen des Autokraten abhängig und damit auch seiner persönlichen Willkür ausgesetzt. Für den Autokraten exis‐ tieren keine öffentlichen Güter (= werden vom Staat dem Gemeinwesen zur Nutzung angeboten), da seine Macht dazu reicht, alles zu seinem Privatgut zu transferieren. Das heißt, es besteht eine hochgradige Vernetzung zwi‐ schen privaten und öffentlichen Rahmen. Die Worte des Autokraten werden quasi zum Gesetz. Deshalb wird in diesem Zusammenhang auch der Begriff Sultanismus zur Kennzeichnung des despotischen Systems verwandt. Ein solche System war z. B. die von den USA gestützte Fulgencio-Batista-Diktatur auf Kuba (1952-1958). Batistas systematische Unterdrückung der Opposition und das durchweg korrupte Regierungssystem bereitete den Boden für die kubanische Revolution unter Fidel Castro. Die kubanische Oberschicht lebte, ähnlich wie viele in Kuba lebenden vermögenden US-Amerikaner, unter besten Lebensbedingungen. Der Großteil der Bevölkerung hingegen vege‐ tierte unter schlechten Lebensbedingungen. Staatliche Einnahmen flossen 3.4 Despotische Systeme 49 <?page no="50"?> nur dem Diktator, der Oberschicht und wenigen anderen Gruppen zu. Der Staatsstreich durch Batista im Jahr 1952 wurde ironischerweise damit begründet, einen Kampf gegen Korruption zu entfachen. Batista selbst deponierte zahlreiche Vermögenswerte im Ausland. Beispiel | Turkmenistan (1) Ein anschauliches Beispiel für den Sultanismus stellt die despotische Petroautokratie Turkmenistan dar (→ Kapitel 3.5). Hier regierte der Diktator Nijasow bis zu seinem Tod im Dezember 2006 als Staats- und Regierungschef mit eiserner Hand. Er unterdrückte Regierungskritiker‐ innen und -kritiker, was ihm von internationalen Organisationen den Vorwurf schwerer Menschenrechtsverstöße einbrachte (Ludwig 2007). Der Diktator entwickelte die Pseudoideologie „Ruhnama“ (= Buch der Seele). Dort werden recht unsystematisch Geschichte, Verhaltensregeln und göttliche Lobpreisungen vermengt, um den Einwohnerinnen und Einwohnern ein identitätsstiftendes Bild zur Geschichte des Landes und dessen großen Gründungsinitiator Nijasow als Vater aller Turekmenin‐ nen und Turkmenen zu geben. Es wurde ein obskurer Gründungsmythos zelebriert. Bei dem Buch handelte es sich um eine schulische und Pflichtlektüre für Staatsbedienstete, um den Personenkult um Nijasow zu stärken. Der Autokrat ging sogar so weit, ein Exemplar des Werkes eingewickelt in die Staatsflagge mittels einer Rakete in die Erdumlauf‐ bahn zu befördern, damit es dort ewig kreist. Schon zu Lebzeiten ließ er große Statuen seiner Person errichten sowie Straßen und an der Erde vorbeifliegende Meteore nach sich benennen. Sein Nachfolger, der ehemalige Leibzahnarzt von Nijasow, Gurbanguly Berdimuhamedow tat es ihm gleich und zeigte ähnlich abstruse Verhaltensweisen. Seine Lieblingsfarbe war etwa Weiß. Aus diesem Grund sollten nur noch helle Fahrzeuge auf den turkmenischen Straßen unterwegs sein. Der Import schwarzer Autos wurde verboten. Besitzerinnen und Besitzer dunkler Fahrzeuge wurden angehalten, ihre Fahrzeuge umzulackieren. Berdimuhamedow änderte im Jahr 2016 die bisherige Verfassung (Alters‐ obergrenze von 70 Jahren für Präsidentschaftskandidaten aufgehoben), um verfassungskonform weiter regieren zu können. 50 3 Formen der Autokratie <?page no="51"?> Scheinwahlen können auch Despoten legitimieren Auch Despoten nutzen gerne Scheinwahlen als Quelle für Anerkennung und Legitimität. Die Opposition wird, wie in autokratischen Systemen üblich, ausgeschaltet, unterdrückt oder kontrolliert. Oppositionelle Kräfte werden allgemein in ihrem Handeln sanktioniert. Gerne werden auch Staatsdiener eingesetzt, um für die Wahl und Vorteile des Despoten zu werben. Dass sie selbst den Autokraten wählen müssen, ist fast selbstverständlich. Beispiel | Turkmenistan (2) Zurück zum Beispiel Turkmenistan. Sein Amt übergab Diktator Gurban‐ guly Berdimuhamedow an seinen Sohn Serdar Berdimuhamedow, der bei einer vorgezogenen Präsidentenwahl im März 2022 72,97 Prozent der Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von 97 Prozent erhielt (o. V. 2022a). Als „Wahlvorbereitung“ hatten Mitarbeitende von Behörden Hausbesuche bei Wählerinnen und Wähler vollzogen und so genannte Wahleinladungen verteilt mit passenden Ratschlägen, an welcher Stelle das Kreuz zu platzieren sei (o. V. 2022a). Zudem hatten sie die Weisung, selbst zur Wahl zu gehen und die wahlberechtige Verwandtschaft mit‐ zubringen. Das Verhalten war vom autokratischen System erwünscht und galt als Voraussetzung, um den Arbeitsplatz behalten zu dürfen. - Feinde sind immer willkommen Auch Despoten können Feindbilder (ähnlich wie in totalitären Staaten) erzeugen. Dies können andere Staaten oder Bündnisse sein, die als Feindbild hochstilisiert werden, also ein externes Feindbild. Über die Feindbilder werden Vorurteile gebildet oder bestehende Vorurteile genutzt. Das Ziel ist, in der Bevölkerung Ängste, Bedrohungs- und Katastrophenszenarien anzuheizen, die vom Feindbild ausgehen. Dazu muss der Feind real gar nicht existieren. Externe Feinde werden beispielsweise gerne in Ländern entwickelt, die eine Identitätskrise durchlaufen oder sich in einer aussicht‐ losen Lage befinden. Das Feindbild soll von der eigenen misslichen Situation ablenken. 3.4 Despotische Systeme 51 <?page no="52"?> Beispiel | NATO und Russland Der russische Diktator Wladimir Putin interpretiert das Verteidigungs‐ bündnis NATO als Aggressor, vor dem die russische Souveränität geschützt werden muss. Bereits auf der Sicherheitskonferenz 2007 in München unterstellte Putin in seiner Rede der NATO eine ungezügelte Militäranwendung, die anderen Nationen ihren Willen aufzwingen und auf Gewalt setzen würde (Fischer 2007). Putin ging in der Dif‐ famierung der westlichen Staaten noch viel weiter. Westliche (also demokratische) Werte wurden allgemein als dekadent und gefährlich angesehen (Kneuer 2017). Nicht nur der NATO, sondern dem gesamten westlichen Wertsystem musste entgegenwirkt werden. Daraus schafft er sich die Legitimation, wie andere Diktatoren auch, das Land und dessen Wertesystem in Sicherheit bringen zu wollen. Unterstützt wurde dies selbstverständlich, wie in Diktaturen üblich, durch Kampagnen gegen den Westen in den gleichgeschalteten Staatsmedien. - Herrscht in Russland ein despotisches Regime? Genau genommen ist eine Einordnung der russischen Autokratie nicht einfach zu leisten, da sie auch im Wandlungsprozess zwischen einem autoritären und einem despotischen Regime zu sein scheint und gleichzeitig eine Petroautokratie darstellt. Putins russischer Nationalismus und Impe‐ rialismus sowie die Glorifizierung der Sowjetunion als altes Imperium sind eine wenig umfassende Ideologie. Einer allgemeinen Staatsideologie scheint er sogar ablehnend gegenüberzustehen. Es ist eher ein post-imperiales Syndrom mit einem ausgeprägten Glauben an die Größe und den Groß‐ machtstatus Russlands. Den Nationalismus soll ein enges Bündnis mit der russisch-orthodoxen Kirche betonen. Es handelt sich um Legitimierungs‐ ideen, denen vor allem die ältere Bevölkerung anhängt. Diese kennt noch das alte sowjetische Imperium und hofft, dass die alte Größe wiedererlangt wird. Aus diesem Grund wird auch der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg, dem Zweiten Weltkrieg, als Ersatzreligion implementiert und alljährlich im großen Stil gefeiert. Alle heutigen Feinde und Gegner werden im Bezug darauf gerne als Faschisten bezeichnet, weil dieses Feindbild der Bevölke‐ rung allseits präsent ist. Zentrales Ziel ist das vermeidliche Wiederherstellen der russischen Einheit, ein geteiltes Volk, das zusammengeführt werden soll. 52 3 Formen der Autokratie <?page no="53"?> Souveränen Staaten wie der Ukraine wird in diesen Gedankengängen das Existenzrecht abgesprochen. Geistigen Bezug nimmt der Autokrat zwar auf den russischen Gesellschaftsphilosophen Iwan Iljin, der in seinen Schriften z. B. die Autokratie als Regierungsform in Russland und ein Großrussisches Reich befürwortete (Snyder 2018). Dies führt aber ebenso wenig zu einer tiefen ideologischen Fundierung wie die bereits beschriebenen Ansätze. 3.5 Petroautokratien Wissen | Vier Merkmale von Petroautokratien 1. können sich in allen vier Formen der Autokratie manifestieren 2. Marktmacht durch Rohstoffe stützt Autokraten 3. Ausland ist meist zur Zusammenarbeit „gezwungen“ 4. Phänomen des Ressourcenfluchs Der Begriff Petroautokrat wurde vom Bestsellerautor und Kolumnisten der New York Times Thomas Friedmann (2006) geprägt. Es handelt sich hierbei um Regime, die sich durch Ölverkäufe finanzieren und daher in ihrer Existenz nicht auf eine (hohe) Besteuerung ihrer Bürgerinnen und Bürger angewiesen sind, da sie ihre Ölquellen „anzapfen“ können. Die Rückschlüsse sind selbstverständlich auch auf andere Energieträger respektive Rohstoffe übertragbar. Petroautokraten können dadurch an den Wünschen und Bedürfnissen der eigenen Bevölkerung „vorbei regieren“ und vom demokratischen Ausland nahezu unbehelligt bleiben. Aufgrund ihrer Marktmacht sind sie bei ihren politischen und wirtschaftlichen Taten sehr unabhängig. Beispiel | Rohstoffreichtum Russland profitiert von seinen Energieträgern Erdöl und Erdgas sowie Kohle und Bodenschätzen wie Eisenerz, Nickel, Kupfer, Platingruppen‐ metalle, Gold und Diamanten. 3.5 Petroautokratien 53 <?page no="54"?> Die Macht der Petroautokratien Demokratische, rohstoffarme Länder wie z. B. Deutschland oder Japan sind gezwungen, von petroautoritären Ländern Rohstoffe zu beziehen und können sich daher weniger kritisch gegen solche Regime äußern, da sie massiv von deren Rohstoffreichtum abhängig sind. Für die Stabilität eines Regimes kann dies sehr vorteilhaft sein, für die Stabilität der Welt und deren Demokratien dagegen weniger. Weder einschneidende Sanktionen noch Hilfeleistungen (→ Kapitel 9) in Verbindung mit Forderungen nach Einhal‐ tung von Menschenrechten scheinen ein geeignetes Instrument gegen diese Autokratien, die jederzeit ihre Rohstoffe respektive den Entzug eben dieser als eine Art Waffe gegen die Verhandlungspartner einsetzen können. Gerade die Petroautokratien verfügen über globale Rohstoffreserven von langem Bestand (Ginsburg 2007), wie die OPEC-Staaten. Dies lässt erwarten, dass die westliche Unterstützung solcher Regime weiter vollzogen bzw. ver‐ stärkt wird. Die gewonnen Geldzuflüsse durch den Rohstoffverkauf können unter anderem in einen Ausbau der Geheimpolizei investiert werden. Beispiel | Turkmenistan Trotz Verletzungen von Menschenrechten und Unterdrückung hielten beispielsweise viele westliche Staaten an der Kooperation mit dem öl- und gasreichen Turkmenistan fest. Grund des Interesses der westlichen Demokratien: Das Land verfügt zudem über die fünftgrößten Erdgasre‐ serven der Welt. Im Jahr 2019 lag Turkmenistan nach Kasachstan und Usbekistan an dritter Stelle der deutschen Handelspartner unter den zentralasiatischen Staaten (o. V. 2022b). Die Petroautokraten selbst sind nicht am Gemeinwohl orientiert, sondern verfolgen individuelle Machtziele. Sie sehen sich aufgrund ihrer Sozialisa‐ tion als privilegierte Wesen und pochen auf Sonderrechte bei der Behand‐ lung ihrer Person oder ihrer Angehörigen im Ausland. Beispiel | Libyen und Schweiz In der Schweiz wurde einer der Söhne des mittlerweile gestürzten Autokra‐ ten Muammar al-Gaddafi (Libyen) sowie seine Frau wegen mutmaßlicher Misshandlungen des Hauspersonals festgenommen und erst nach Zahlung 54 3 Formen der Autokratie <?page no="55"?> einer Kaution zwei Tage später freigelassen (Odermatt 2008). Libyen verhängte kurz darauf Sanktionen gegen Schweizer Unternehmen und ließ mehrere Schweizer in Libyen festnehmen. Dazu erfolgte noch eine Drohung, alle Öllieferungen in die Schweiz einzustellen. Rutz (2008, S.-11) sprach in diesem Fall von „Willkür gegen Recht“. Die Öllieferungen flossen zwar weiter. Wie leicht Konflikte entstehen können und wie konfliktbereit Petroautokraten bei Einsatz ihrer Rohstoffmacht sind, wurde aber durch das gezeigte Verhalten angedeutet. - Gesetz der Petroautokratien Friedmann (2006) formulierte ein Gesetz der Petropolitik. Der Ölpreis und das Tempo der Freiheit (d. h. Meinungsfreiheit, freie Presse, freie und faire Wahlen) bewegen sich in ölreichen Erdölstaaten immer in entgegengesetzte Richtungen. Zum konkreten Zusammenhang: Je höher der durchschnitt‐ liche globale Rohölpreis steigt, umso stärker werden die Freiheitsrechte eingeschränkt. Im Umkehrschluss gilt: Je niedriger der Ölpreis, desto mehr Erdölländer sind gezwungen, Freiheitsrechte zu gewähren. Darunter fällt, sich auf den Aufbau von Rechts- und Bildungsstrukturen zu konzentrieren, die die Kompetenzen der Bevölkerung maximieren. Je tiefer der Rohölpreis fällt, desto empfindlicher reagieren die Erdölführer auch darauf, was äußere Kräfte über sie denken. - Ressourcenfluch als Phänomen Petroautokratien leiden zudem unter dem so genannten Phänomen des Ressourcenfluchs bzw. der Ressourcenfalle. Darunter werden die nega‐ tiven Konsequenzen gefasst, die Ressourcenreichtum für ein Land und seine Bevölkerung haben kann. Gerade in rohstoffreichen Staaten existiert ein hoher Anreiz zur Bestechlichkeit und Unterschlagung sowie eine Tendenz zur Ausbeutung der Ressourcen durch kleine Minderheiten (Freytag 2022). Daraus ergibt sich das Paradoxon, dass das Wirtschaftswachstum in diesen Ländern meist schwächer ausgeprägt ist als in rohstoffarmen Ländern. Natürliche Ressourcen werden dadurch nicht zum Segen, sondern zum Fluch für die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung eines Landes. 3.5 Petroautokratien 55 <?page no="56"?> 3.6 Gedanken zu der Klassifikation am Beispiel China Die dargestellten Klassifikationen von Autokratien sind idealtypisch und die Grenzen zwischen den einzelnen Varianten teils verschwommen. In → Kapitel 3.4 wurde in diesem Zusammenhang bereits die schwierige Einordung des russischen Regimes diskutiert. Zudem sind autokratische Systeme im Wandel, um ihre Legitimation und ihren Bestand zu sichern. Von einer Einordnung anhand der rein formalen Formulierungen der sozialisti‐ schen Verfassung, welche die Volksrepublik China als eine demokratische Diktatur des Volkes kennzeichnet, wird hier abgesehen. Die britische Fach‐ zeitschrift „The Economist“ berechnet seit 2006 jährlich einen Demokratie‐ index (EIU 2022). Bewertungsfaktoren sind Wahlprozess und Pluralismus, Funktionsweise der Regierung, Politische Teilhabe, Politische Kultur und Bürgerrechte. Im Index von 2021 wird China eindeutig als autokratisches System klassifiziert (EIU 2022). Zumindest die Einordnung als Autokratie ist also wenig diskutabel. Die heutige chinesische Autokratie kann jedoch schwerlich als rein totalitäres Regime gekennzeichnet werden. Der Macht‐ anspruch und das Regieren der Kommunistischen Partei mit zentralisierten Entscheidungsbefugnissen ist zwar nach wie vor unumstritten. Die kom‐ munistisch-sozialistische Ideologie hat jedoch augenscheinlich etwas an Zugkraft verloren. Zentrale Systemelemente wie die Planwirtschaft wur‐ den durch eine Öffnung zur Marktwirtschaft seit dem Jahr 1992 ersetzt, um sich an veränderte wirtschaftliche und gesellschaftliche Gegebenheiten anzupassen. Dies bedingte eine Pluralisierung der Wirtschaft, bei der auch kräftig in ausländische Unternehmen investiert wurde. - Chinese Dream anstatt American Dream Materielle Anreize und Wohlstand sowie Armutsbekämpfung bereicherten die rein ideologischen Ansätze im Sinne eines chinesischen, leistungsorien‐ tierten Ansatzes. Dazu wurden nationalistisches Gedankengut und ein reli‐ giös angehauchter Konfuzianismus neben die sozialistische Basis gestellt. Mit den ideellen Elementen und dem Leistungsansatz wurde ein breiterer Rahmen für nationale Identitätsbildung entwickelt. Aus den Entwicklungen bildete sich im Jahr 2012 das von Staatspräsident Xi Jinping angepriesene Konstrukt des Chinese Dream (Chai und Chai 2013). Dieser ist patriotisch ausgerichtet, indem die Wiederbelebung der chinesischen Nation ebenso wie die Bedeutung des Kollektivs betont wird. Wirtschaftliche Großprojekte 56 3 Formen der Autokratie <?page no="57"?> durch massive Investitionen im energiepolitischen Bereich (Wind und Wasser) und die Raumfahrt sollten die neuen Ansprüche dokumentieren. Im Gegensatz zum Chinese Dream steht der klassische American Dream, der den persönlichen Aufstieg auf Grundlage individueller Bemühungen beschreibt. Alle Anpassungen wurden von der chinesischen Staatspartei eingeleitet und das Programm den neuen Bedingungen und Ansprüchen angepasst. Unverändert blieb die Distanz zu westlichen Werten (wie westlicher Mas‐ senkonsum) und Leitbildern, auch wenn der Handel mit solchen Systemen ausgebaut wurde. Ein politischer Übergang Richtung Demokratie war in der kapitalistischen Autokratie Chinas nicht zu bemerken. Aus einer kommunistisch-totalitären Autokratie wurde in China eine kapitalistisch-autoritäre Autokratie mit abnehmenden totalitären Fa‐ cetten. Einem Infragestellen grundlegender ideologischer Kernaussagen wurde so entgegengewirkt. Die Autokratie wurde zudem um demokrati‐ sche Elemente ergänzt. So können Parlamentarier öffentliche Interessen in auf von der Partei definierten Gebieten vertreten (Distelhorst 2019). Themen, die für die Kommunistische Partei zentral sind, wie die Förderung universeller Menschenrechte oder die Implementierung einer unabhängigen Justiz sind von der öffentlichen Diskussion ausgeschlossen. Es handelt sich um No-go-Zonen, die Staatsbediensteten in Schulungen auch als solche vermittelt werden (Truex 2017). Diese Beschränkungen machen deutlich, dass die Volksrepublik China noch weit davon entfernt ist, als hybrides System (→ Kapitel 3.7) klassifiziert zu werden. - Ein Blick zu anderen Autokratieformen Ein interessanter Aspekt ist auch, dass nicht alle skizzierten autokratischen Systeme eine vergleichbare Kompatibilität mit Rechtsgrundlagen aufweisen (Lauth 2017). Klassische Monarchien sind z. B. am ehesten mit einem formalen Rechtsstaat kompatibel, despotische und totalitäre Systeme hin‐ gegen weniger. In autoritären Regimen sind gewisse rechtstaatliche Ansätze implementierbar. Die chinesische Verfassung orientiert sich beispielsweise an einer sozialistischen Rechtsstaatlichkeit mit bestimmten Rechten für Bürgerinnen und Bürgern. Das Prinzip der Gewaltenteilung wird aber als fehlerhaftes westliches Gedankengut abgelehnt. 3.6 Gedanken zu der Klassifikation am Beispiel China 57 <?page no="58"?> 3.7 Hybride Systeme Hybride Systeme stellen einen Mix-Typ zwischen autokratischen und verfassungsstaatlichen Systemen dar. Sie können als Resultat einer demo‐ kratischen Erosion entstehen (→ Abbildung 10). In solchen Systemen werden existente demokratische Institutionen ausgehöhlt (z. B. durch Wahl‐ fälschung), die Gewaltenteilung vermindert und die Bürgerrechte Schritt für Schritt eingeschränkt. Die politische Opposition verliert zunehmend ihre Kontrollfunktion. Die beschriebenen Prozesse vollziehen sich beispielsweise in der Türkei sowie in den EU-Staaten Ungarn und Polen. In der Türkei kam es etwa zu ausgeprägten Verfassungsänderungen und zur Expansion der präsidialen Exekutive. Je nach Interpretationsansatz können die genannten Staaten bereits als Autokratie eingeordnet werden. Im Demokratieindex der britischen Fachzeitschrift „The Economist“ beispielsweise werden weder Ungarn noch die Türkei als autoritäre Systeme eingeordnet (EIU 2022). Die Türkei wird als hybrides System und Ungarn als fehlerhafte Demokratie klassifiziert. Es besteht also ein Graubereich zwischen etablierten Auto‐ kratien und konsolidierten Demokratien. In diesem Graubereich sind zusammenfassend folgende Merkmale hybri‐ der Systeme zu nennen: ● Wahlbetrug oder sonstige politische Unregelmäßigkeiten (z. B. Bevor‐ teilungen regierender Parteien) kommen regelmäßig vor, ● auf die politische Opposition wird Druck ausgeübt, ● Korruption ist weit verbreitet, ● die Rechtsstaatlichkeit ist tendenziell schwach ausgeprägt, ● die Medien werden von der Regierung unter Druck gesetzt und deren Handlungsweisen eingeschränkt. - Wie bilden sich hybride Systeme? Hybride Systeme können Autokratien gewesen sein, die einen Demokrati‐ sierungsprozess begonnen, aber noch nicht vollendet haben. Sie müssen nicht in eine Demokratie führen wie etwa in Russland, das nach der Auflösung der Sowjetunion in ein hybrides System unter Jelzin kam, um dann wieder unter ein autokratisches System unter Putin zu gelangen. Letzterer hat als Autokrat keine neue Verfassung eingeführt, sondern die bestehende Verfassung zu seinem Nutzen und Machterhalt umformuliert. 58 3 Formen der Autokratie <?page no="59"?> Abb. 10: Möglicher Verlauf eines hybriden Systems Demokratie hybrides System Autokratie • Verfassungsstaat • Gewaltenteilung • Abbau des Rechtssystems • Einschränkung der Opposition • Einschränkung der Freiheit • Macht beim Autokraten Abbildung 10: Möglicher Verlauf eines hybriden Systems Beispiel | Viktor Orbán (Ungarn) Viktor Orbán wurde im Jahr 2010 erstmals als ungarischer Ministerprä‐ sident gewählt und errichtete in den Folgejahren nach Einschätzung der am liberalen ungarischen Thinktank Political Capital beteiligten Forscher Róbert László und Patrik Szicherle (2021) eine kompetitive Autokratie, da die Regierung mit einer verfassungsändernden Mehr‐ heit ausgestattet war. Aufgrund der Medienkonzentration und anderer Beschränkungen waren für die Opposition keine fairen Wahlen mehr möglich. Die demokratischen Institutionen sind zwar formal vorhanden, aber von der Regierung kontrolliert und in ihrer Funktionsfähigkeit li‐ mitiert (László und Szicherle 2021). Es besteht eine ausgeprägte Vettern‐ wirtschaft, bei der die Regierenden öffentliche Ressourcen ausbeuteten. 3.7 Hybride Systeme 59 <?page no="61"?> 4 Legitimierung und Anerkennung einer Autokratie Das Kapitel im Überblick | Sie können … ● Legitimationsstrategien von Autokratien kritisch hinterfragen. ● das „dilemma of performance“ von Autokraten erklären. ● den Zusammenhang von Autorität, Machteinsatz und Regierungs‐ handeln kennzeichnen. ● die Relevanz von politischen Alternativen für den Bestand von Autokratien beschreiben. ● Legitimationsbegründungen diskutieren. 4.1 Legitimität und Legitimitätskrisen Die Frage der Legitimität und Anerkennung einer Regierung durch das Volk und systemrelevante Eliten nimmt im Rahmen der Neuen Politischen Ökonomie (auch Public-Choice-Theorie, → Kap. 6) einen relativ großen Rahmen ein und wird teilweise als notwendige Basis für das Bestehen eines Staates genannt (Tulock 1987). - Was ist unter Legitimität zu verstehen? Unter Legitimität kann die Fähigkeit eines politischen Systems verstanden werden, bei Bürgerinnen und Bürgern den Glauben zu erzeugen und aufrechtzuerhalten, dass die bestehenden politischen Institutionen und das politische System für die Gesellschaft am besten geeignet sind (Lipset 1960). Ziel ist eine kontinuierliche Rechtfertigung politischer Herrschaft mit einem freiwilligen Gefolge oder zumindest Gehorsam der Bürgerinnen und Bürger. Dies soll zu Vertrauen in die politischen Institutionen führen und den Autokraten stärken. Es sollte also zentraler Fokus eines Autokraten sein, im Wertesystem der Beherrschten anerkannt zu sein. Bleibt autokratischen Regierungen dieses Vertrauen und die Gefolgschaft versagt, befinden sie sich in einer Legitimitätskrise. Legitimitätskrisen haben vielfach den Zusammenbruch autoritärer Regime verursacht oder ausgelöst. Ein Beispiel <?page no="62"?> wäre der Untergang des kommunistischen Regimes in Russland zwischen 1989 und 1991 (Holmes 1997). Die Erzeugung von Legitimität ist immer verbunden mit der Kultur eines Landes. Es sind immer typische Ansprüche und Werthaltungen einer Gesellschaft zu bedienen. Diese sind, bedingt durch die Landesgeschichte, jeweils unterschiedlich. Ebenso sind die Legitimationsprofile autoritärer Regime in der Regel multidimensionaler Natur als Kombination unter‐ schiedlicher Ansätze, wie etwa eine umfassende Ideologie in Kombination mit Antihaltungen. Die Zustimmung aller oder eines Großteiles der Staatsangehörigen zur Regierung ist nicht exklusiv für autokratische Systeme, sondern für alle politischen Systeme relevant. Sie ist also für demokratische Systeme oder Oligarchien ebenso wichtig wie für die erwähnten Autokratien. Verliert eine Demokratie ihre Legitimation, kann auch sie nicht dauerhaft existieren. Dies kann der Fall sein, wenn eine Regierung gegen die Volksinteressen handelt. - Wie sind Legitimitätskrisen zu vermeiden? Ein komplexes Staatsgebilde scheint am wenigsten krisenanfällig zu sein, wenn positive Maßnahmen (die wirtschaftliches Wachstum und Wohlstand bedingen) und Gesetze der Regierung auf eine breite Akzeptanz seitens der Bevölkerung stoßen (Hayek 1977; Burnheim 1987). Autokraten werden deshalb bemüht sein, ihre wirtschaftlichen Leistungen durch die Staatspro‐ paganda positiv darstellen zu lassen. Diese sollten aber auch real existent sein, denn kurzfristig mag sich eine Bevölkerung zwar täuschen lassen, langfristig sind wirtschaftliche Rückschritte schwerlich zu verbergen. Sys‐ temstabilisierend wäre eine merkbare Bereitstellung von öffentlichen Gütern und damit ein Erfüllen von Bedürfnissen der Bevölkerung wie z. B. Zugang zur Bildung, kostenlose Kitaplätze und Parklandschaften zur Erholung. Eine fehlende Befriedigung elementarer Bedürfnisse wie Hunger und Sicherheit wird umso schneller auffallen. Eine Autokratie wie in Singa‐ pur scheint den Bürgerinnen und Bürgern des Landes einen gelungenen wirtschaftlichen Fortschritt zu bieten und auch langfristig zu erfüllen, was auch in Autokratien eine Verantwortlichkeit der Regierung für die Zukunft des Landes symbolisiert. 62 4 Legitimierung und Anerkennung einer Autokratie <?page no="63"?> 4.2 Leistungsdilemma von Autokratien - Das Leistungsdilemma erklärt Der Politikwissenschaftler und ehemalige Berater des US-Außenministeri‐ ums Samuel Phillips Huntington (1991, S. 55) spricht in Autokratien von einem „dilemma of performance“. Demnach verlieren die Regime Legiti‐ mität, wenn sie keine Leistung erbringen, wie etwa eine Verschlechterung des Wohlstandes durch ein verkrustetes System. Gleichzeitig verlieren die Regime Legitimität, wenn sie Leistung erbringen, indem sie z. B. Reformen beschließen, die die Wirtschaftsleistung und damit den Wohlstand für die Individuen verbessern. Letzteres ist dadurch begründet, dass wachsender Wohlstand Werthaltungen der Individuen bedingen könnte, die demokrati‐ sche Rechte und Freiheiten sowie eine solide Verfassung wünschen. Diese Entwicklung kann durch ein gehobenes Bildungsniveau der Bevölkerung sowie den internationalen Austausch (Tourismus, Handel) verstärkt werden. Beispiel | Leistungsdilemma Der russische Politikwissenschaftler und Schriftsteller Vladimir Gelman (2010) verdeutlicht das Performancedilemma an der Entwicklung der kommunistischen Sowjetunion: Errungenschaften wie Industrialisie‐ rung, Urbanisierung oder ein höherer Anteil an Hochschulbildung führ‐ ten zur Entstehung einer kritischen und anspruchsvollen städtischen Mittelschicht, die politisch Einfluss ausüben und mitentscheiden wollte. Diese Schicht stellte die Legitimität des sowjetischen Systems im Laufe der Zeit in Frage. Diese Umstrukturierung der Elite beeinflusste den Verlauf des postkommunistischen Regimewechsels in Russland. Die Rolle der Massenunterstützung (oder deren Fehlen) war bestenfalls zweitrangig (Gelman 2010). - Persönlich Rechte und Rechtssicherheit können anziehend wirken Verfassungsstaaten, in denen ausreichend Freiheiten und Rechte bestehen, können auch hoch qualifizierte Personen anziehen. Durch einen Auslöser wie einen aggressiven Akt eines autokratisch regierten Landes können die Fluchtbewegungen erhöht werden. Wünsche nach politischer Partizipa‐ 4.2 Leistungsdilemma von Autokratien 63 <?page no="64"?> tion und demokratischer Freiheit sowie Flucht der eigenen Bevölkerung wären also vom Regime durch die bessere Performance selbst gesät. Das grundlegende Problem im Performancedilemma ist, dass autokratische Systeme ein ähnliches Resultat hervorrufen können, wenn sie untätig sind. Beispiel | Russian Brain Drain Bereits fünf Monate nach dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine hatten schätzungsweise 100.000 hoch qualifizierte Fachkräfte (IT-Spezialistinnen und -Spezialisten, Journalistinnen und Journalisten, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Analystinnen und Analys‐ ten) Russland verlassen (Sackmann 2022). Die spätere militärische Teil‐ mobilisierung verstärkte den Auswanderungstrend. Durch den Russian Brain Drain wurde die internationale Konkurrenzfähigkeit des Landes gemindert, was langfristig in eine Wohlstandsminderung resultieren kann. In den 1930er-Jahren kam es in Deutschland zu ähnlichen Ef‐ fekten. Teile der jüdischen Elite flüchtete aus Deutschland nach der Machtübernahme der Nazis. 4.3 Legitimität und Systemalternativen - Bleib beim Bewährten, wenn Alternativen fehlen Nicht nur der Beistand der Bevölkerung ist für den Bestand einer Auto‐ kratie relevant, sondern auch die Attraktivität von Alternativen zum Bestehenden (→ Abbildung 11). Bieten sich neben dem autokratischen System keine besonderen Vorteile alternativer Systeme, dann bleibt auch ein System mit geringerer Legitimität bestehen. Der deutsch-spanische Politik‐ wissenschaftler Juan Linz (1978) weist der Legitimität daher eine relative Natur gegenüber ihren Alternativen zu, also eine relative Legitimität. Trotz Mängeln und Fehlschlägen können bestehende autokratische Institu‐ tionen besser beurteilt werden als andere Optionen, die möglicherweise im Anschluss regieren könnten. 64 4 Legitimierung und Anerkennung einer Autokratie <?page no="65"?> Unterstützung des Bestehenden Unterstützung von Alternativen zum Status q uo Abbildung 11: Status quo versus Systemwechsel Die Bandbreite möglicher Reaktionen von Bürgerinnen und Bürgern auf politische Systeme und den Systemwechsel ist allerdings ein komplexes Konstrukt (→ Tabelle 2). Autokratien mit hoher Zuwendung der Bevölke‐ rung und zugleich schwacher Unterstützung von Alternativen genießen eine stabile Legitimität. Ein solcher Zustand ist oft über einen längeren Zeitraum gewachsen und in wirtschaftlich erfolgreichen monarchischen Systemen vorhanden. Hilfegebend wirkt meist ein traditionelles, religiös fundiertes Wertgefüge. Kuwait oder Saudi-Arabien mögen als Beispiele dienen. - niedrige Unterstützung von Alternativen zum Status quo hohe Unterstützung von Alternativen zum Status quo niedrige Unterstützung des Status quo Resignation Illegitimität hohe Unterstützung des Status quo stabile Legitimität instabile Legitimität Tabelle 2: Unterstützung der Bevölkerung und mögliche Reaktionen der Bürger auf politi‐ sche Regime Quelle: in Anlehnung an Gelman 2010, S.-56 Politische Alternativen können aber eine ähnlich hohe Unterstützung wie das bestehende politische System haben. In diesem Fall können kleine Än‐ derungen in den Handlungsweisen eines Autokraten das politische System destabilisieren. In diesem Fall liegt eine instabile Legitimität vor. Ande‐ rerseits kann ein Autokrat zwar eine geringe Legitimität aufweisen, aber die 4.3 Legitimität und Systemalternativen 65 <?page no="66"?> Bürgerinnen und Bürger weisen durch den langjährigen politischen Alltag einen hohen Grad an Resignation auf. Politische Alternativen erfahren deshalb auch wenig Unterstützung. Es ist keine euphorische Zustimmung für ein autokratisches System zu dessen Bestand nötig. Die Stärke der aktiven Regimegegnerinnen und -gegner muss nur kleiner als die der aktiven Regimeanhängerinnen und -anhänger sein, um eine Standhaftigkeit des Systems zu ermöglichen. Vergangene politische Erfahrung beeinflusst also die Haltungen zur bestehenden Regierung und die Aktivierung gegen ein Regime. Beispiel | Vertrauen In den 2000er-Jahren war das Vertrauen in öffentliche Institutionen in Russland trotz des Anstiegs der Popularität von Präsident Wladimir Putin extrem gering (Gelman 2010). Trotz der mangelnden Legitimität beteiligten sich nur sehr wenige russische Bürgerinnen und Bürger an Aktivitäten gegen das Regime und die permanenten autokratischen Wandlungen des Systems unter dem Präsidenten Putin. Die russischen Bürgerinnen und Bürger hatten vermutlich Angst vor einem erneuten Systemwechsel, weil sie die Konfusion der Regierung Jelzin im Kopf hatten. Zudem ruinierte das Erbe der Sowjetzeit das institutionelle Vertrauen und bot deshalb nur geringes Potenzial für eine Massen‐ mobilisierung. Auch das systematische Unterdrücken der Opposition unter Wladimir Putins Regentschaft schwächte deren Attraktivität. Selbst kleinere Demonstrationen der Opposition werden nach wie vor von Polizeikräften brutal aufgelöst. Der russische Schriftsteller und Regimekritiker Dmitri Glukhovsky (2022) betont, dass der russischen Opposition klar sei, dass bei wirklichem Widerstand unmittelbar eine Einweisung in ein Straflager droht. Auch humanitäre Organisationen wurden eingeschüchtert und verboten. Die Zustimmung zur Politik des Diktators Putin wandelte sich aber nicht nur durch die Ausschaltung der Opposition. Die mediale Unterstützung und der aufstrebende Wohlstand führten ebenso zu einer stabilen Legitimität. Sonnenurlaube in der Türkei und auf Zypern waren für den russischen Mittelstand ebenso realisierbar wie Städtetrips nach Berlin oder Prag. Das System Putin war ein Aufleben der alten und vertrauten UdSSR-Autokratie, aber ohne kommunistische Herrschaft und Warenknappheit, dafür mit mehr persönlichen Freiheiten. So ist der Diktator quasi seit 1999 russischer 66 4 Legitimierung und Anerkennung einer Autokratie <?page no="67"?> Präsident. Von 2008 bis 2012 hatte zwar sein Freund Medwedew (ein früherer Kollege aus der Petersburger Stadtverwaltung) den Präsiden‐ tensessel inne, weil eine verfassungsmäßige Begrenzung des Präsiden‐ tenamtes auf zwei Legislaturperioden bestand. Es war aber lediglich eine Machtrochade, bei der die existierenden Machtstrukturen erhalten blieben. In dieser Zeit war Wladimir Putin Ministerpräsident und nur formal dem Präsidenten Medwedew unterstellt, was das Manöver zu einer verfassungsrechtlichen Farce machte. So schlug Medwedew dann auch am Ende seiner Präsidialzeit wieder Putin als Nachfolger vor, der im Anschluss einen klaren Wahlerfolg feierte. Die Wahlerfolge machten es Putin leicht zu behaupten, mit all seinen Maßnahmen erfülle er lediglich den Volkswillen. 4.4 Repressionen und Wahlen - Freiwilligkeit ist am besten Angestrebte Regierungsziele sind am ehesten zu verwirklichen, wenn die einzelnen Individuen aus freiem Willen mitarbeiten bzw. direkt am Formu‐ lierungsprozess beteiligt sind. Zwang wiederum erfordert einen kostspieli‐ gen ausführenden Apparat „und lähmt die in den komplizierten modernen Wirtschaften so notwendige Initiative und das Verantwortungsbewusstsein der Betroffenen“ (Bernholz 1975, S. 67). Gleichwohl können durchaus Auto‐ kratien bestehen, die, ohne Zwang auszuüben, von den Bürgerinnen und Bürgern als legitim angesehen werden. Hierzu ist es allerdings nötig, dass die Autokratie als Teil des ethischen Systems einer großen Anzahl von Menschen in diesem Land gesehen wird, was in der heutigen Zeit eher selten der Fall ist, am ehesten noch in monarchischen Autokratien. Durch den Einsatz von Repressionen kann sich ein relevanter Vorteil der Autokratie - nämlich die minimalen Entscheidungskosten, da dort im Extremfall nur der Autokrat entscheidet - schnell ins Gegenteil umkehren. Die Durchsetzungskosten einer Entscheidung können umso höher sein und sie können auch immer weiter steigen. Wenn massiver Terror immer wieder die Grenzen der Legalität verletzt, kann dies zu unumkehrbarem Legitimitätsverlust in den Augen der Bevölkerung führen. In diesem Fall 4.4 Repressionen und Wahlen 67 <?page no="68"?> muss wieder mehr Unterdrückung eingesetzt werden, was ein Teufelskreis für den Autokraten werden kann. Zudem besteht noch ein Risiko, dass ein Autokrat durch den aufgeblähten Unterdrückungsapparat selbst gestürzt werden kann. Wissen | Spieltheorie Individuen und damit auch Autokraten verhalten sich beschränkt ratio‐ nal. Sie begehen deshalb systematische Fehler bei der Entscheidungsfin‐ dung. Bei der Informationsverarbeitung sind Autokraten trotz oder ge‐ rade wegen einer ausgeprägten Tätigkeit der Geheimpolizei überlastet. Es ist eine Frage der Spieltheorie, wie solche Handlungen prognostiziert und gesteuert werden können. Die Spieltheorie ist ein mathematisches Vorgehen zur Analyse und Vorhersage des menschlichen Verhaltens in gewissen situativen und unter strategischen Bedingungen. Wie bereits erwähnt, ist die Datenbasis in autokratischen Systemen eingeschränkt, da die freie wissenschaftliche Forschung und die Meinungsfreiheit allge‐ mein eingeschränkt ist. Es existieren jedoch Spieleansätze wie etwa das „Dictator Game“, die diktatorische Verhaltensweisen in Experimenten (Voss 2022) simulieren. Bei einer einfachen Spielvariante des Dictator Game agieren zwei spielende Personen miteinander. Eine Person über‐ nimmt die Rolle eines Diktators, der einseitig entscheiden kann, wie ein bestimmter Geldbetrag zwischen den beiden Spielern aufgeteilt wird. Die andere beteiligte Person füllt eine rein passive Rolle aus. In der Regel verhalten sich die Diktatoren in diesem Spiel sozial und weisen den anderen beteiligten Personen einen Geldbetrag zu (Guala und Mittone 2010). - Wahlen als Legitimationshilfe In autoritären, totalitären und despotischen Systemen sollen eher (mehr oder weniger) manipulierte Wahlen oder andere Pseudobeteiligungen der Bevölkerung Legitimität vortäuschen. Teils kommen die Wahlergebnisse durch Manipulation einer Einstimmigkeit nahe. Aber wie im Wirtschaftsle‐ ben gilt: Marketing kann vieles bewirken. Der aserbaidschanische Präsident Ilham Aliyev setzte sogar Public-Relations-Agenturen ein, um seiner Herr‐ schaft einen demokratischen Anschein nach innen und außen zu verleihen 68 4 Legitimierung und Anerkennung einer Autokratie <?page no="69"?> (Krennerich 2017). Faire Wahlen geben einer Autokratie übrigens ebenfalls Legitimation von ausländischen Mächten, die den Wahlerfolg anerkennen müssen. Funktion von Wahlen Legitimität nach innen Legitimität nach außen Informationsfunktion über Präferenzen Tabelle 3: Funktionen von Wahlen - Kampf gegen die Legitimationslücke Ein Blick in die Historie: Bereits im antiken Griechenland kamen Autokra‐ tien zu Fall, weil die Bewohner der Regierung ihre Zustimmung verweiger‐ ten und damit die Legitimationsbasis entzogen. Die meisten Tyranneien endeten spätestens in der zweiten Generation, weil es die Autokraten nicht verstanden, ihre Herrschaft rechtlich abzusichern, und damit den Widerstand der von der Macht verdrängten adligen Familien und des übrigen Volkes, das einen unbeugsamen Freiheitswillen besaß, herausfor‐ derten (Dahlheim 1992). Selbst teure Söldnerheere konnten den Bestand der Tyranneien nicht sichern. Die Legitimationslücke war dauerhaft zu breit. Auch demokratische Systeme legitimieren sich übrigens nicht kraft freier Wahlen selbst und vor allem nicht auf Dauer. Beispiel | Weimarer Republik Der Politikwissenschaftler Harry Eckstein (1966) erklärt, dass für den Zusammenbruch der Weimarer Republik in den 1930er-Jahren unter an‐ derem der soziologische Aspekt einer mangelnden Akzeptanz der Regie‐ rungsform ausschlaggebend war. Es handelte sich um eine hybride und improvisierte Demokratie ohne tiefere Wurzeln in der deutschen politischen Tradition (Grebing 1984). Die Regierung stand so unter dem Druck, sich selbst legitimieren und gleichzeitig noch den Ballast der monarchisch-autoritären Tradition mitschleppen zu müssen, bzw. diesen abzuwerfen (Grebing 1984). Aufgrund zunehmender Unruhen, die insbesondere paramilitärische Organisationen auslösten, wie z. B. der Rote Frontkämpferbund (= paramilitärischer Kampfverband der 4.4 Repressionen und Wahlen 69 <?page no="70"?> Kommunistischen Partei Deutschlands) und die Sturmabteilung (SA), wurde so verstärkter Polizei- und Militäreinsatz nötig. Die Gruppen lieferten sich heftige Straßenkämpfe. Letztlich obsiegte die SA als pa‐ ramilitärische Kampforganisation der NSDAP. Die Vereinigung spielte als Ordnergruppierung eine entscheidende Rolle beim Aufstieg der Nationalsozialisten und der Implementierung eines totalitären Systems. Nach der Machtergreifung der NSDAP wurde sie sogar kurzzeitig als Hilfspolizei eingesetzt und damit staatliche Organisation. Dadurch sollte der Wunsch der deutschen Bevölkerung nach Sicherheit und Ruhe hergestellt werden. Wie in der Weimarer Republik fehlte in Russland nach dem Fall der kom‐ munistischen Sowjetunion eine Verankerung des demokratischen Gedan‐ kengutes. Allgemeine Prinzipien der Wettbewerbspolitik wurden etwa in Russland von seinen Bürgern in Frage gestellt: Laut einer Umfrage der Public Opinion Foundation (FOM) aus dem Jahr 2006 (N = 1500) lehnten 47 Prozent der Russen die Idee des Parteienwettbewerbs ab (Gelman 2010). Sie wünschten sich offensichtlich eine „starke Hand“, die den Wohlstand und Fortschritt des Landes garantierte. - Regierungshandeln ist schwer zu messen Das grundlegende Problem der Überlegungen liegt in der Messung des Regierungsansehens. Denn sonst wäre es in jedem Staat möglich, den Machteinsatz in Zusammenhang mit der Autorität zu optimieren. Dies wäre besonders für Autokratien in totalitären und despotischen Regimen von starker Relevanz, wo oft ein robuster Einsatz von Miliz oder Militär nötig ist, um die Regierungsmacht zu erhalten. Es besteht in jedem autokratischen System die Gefahr, dass Gruppen, die das autokratische System an sich akzeptieren, durch einen rigorosen Machteinsatz abgeschreckt werden. Der Autokrat könnte dadurch die Legitimation bisher treuer Anhängerin‐ nen und Anhänger verlieren. Ein wohl dosierter Einsatz der Repression wäre also wichtig. Die Datengewinnung zur Erforschung von Autokratien ist allerdings schwierig, da mangelnde Transparenz aufgrund der teils ge‐ schlossenen Gesellschaften herrscht. Forschungsergebnisse werden durch Manipulationsabsichten der Herrschenden zudem extrem eingeschränkt. 70 4 Legitimierung und Anerkennung einer Autokratie <?page no="71"?> Beispiel | Nordkorea Als ausgezeichnetes Beispiel für eine eingeschränkte Einsicht in totali‐ täre Systeme sei das Regime in Nordkorea genannt: Wer etwa in Nord‐ korea ohne Sondergenehmigung ein mobiles Telefon besitzt, riskiert die Todesstrafe (Koesch, Magdanz und Stadler 2007). Im Grenzgebiet zu China bieten chinesische Netze einen brauchbaren Empfang, weshalb dort zahlreiche „illegale“ Handyeigentümer vorhanden sind. Agenten des Regimes suchen diese Schwarzfunker mit Handyscannern, um den unerwünschten Kontakt zur Außenwelt einzuschränken. 4.5 Legitimation und Ausland Eine besondere Art der Legitimation erfahren autokratische Systeme bei ihrem Umgang mit ausländischen Staaten. Treten sie als zuverlässige oder sogar als Bündnispartner auf, werden Missstände in solchen Ländern gerne von demokratischen Systemen toleriert. Rohstoffe in der Hand der Auto‐ kraten sind zwar mit dem Ressourcenfluch belastet (→ Kapitel 3.5), sie können aber eine unverzichtbare Stellung auf internationaler Ebene begründen. Ressorcenreichtum vermindert also den Druck von äußeren demokratischen Systemen. Beispiel | Russland Es gab wenig ernsthafte Kritik am russischen despotischen System von Wladimir Putin. Auch nach der Annexion der Krim erfolgte keine wirkliche Drohung der westlichen Demokratien mit tiefgehenden, ab‐ schreckenden Sanktionen. Vielmehr baute Deutschland seine umfang‐ reiche Energiepartnerschaft jährlich mit dem autokratischen System weiter aus. Gaslieferungen erschienen den politisch verantwortlichen Personen wichtiger als ein gewissenhafter Umgang mit der Autokratie. Als Begründung wurde angeführt, dass es sich um rein privatwirtschaft‐ liche Belange handele. Diese Argumentationsbasis ist allerdings beim Umgang mit Autokraten sehr kurzsichtig und blauäugig. 4.5 Legitimation und Ausland 71 <?page no="72"?> Das oben genannte Beispiel ist nur eins von vielen. Die internationale Anerkennung und der Handel mit Verfassungsstaaten geben den Autokraten zudem Überzeugungskraft nach innen. Die Bürgerinnen und Bürger erkennen dies womöglich als Leistung des Autokraten an. Steigt zudem der Wohlstand des Landes durch die wirtschaftlichen Verflechtungen, kann die Legitimität des Autokraten erhöht und die Autokratie stabilisiert werden (→ Abbildung 12). Es besteht aber ein gewisses Konfliktpotenzial. Je inten‐ siver und bereichernder eine Mitgliedschaft eines autokratischen Regimes in der internationalen Gemeinschaft ist, umso mehr innenpolitischer Druck könnte entstehen. Das internationale Engagement könnte als Verrat an nationalen Interessen interpretiert werden. Deshalb müssen aus Sicht der Autokraten die internationalen Erfolge intern gut verkauft werden. Abbildung 12: Wirkung von internationalen Beziehungen wirtschaftliche Verflechtung internationale Anerkennung Legitimität System- Stabilität Abbildung 12: Wirkung von internationalen Beziehungen 72 4 Legitimierung und Anerkennung einer Autokratie <?page no="73"?> 4.6 Zwölf Legitimationsbegründungen auf einen Blick Hier finden sich ein Dutzend gängiger Legitimationsbegründungen in autokratischen Systemen zusammenfassend im tabellarischen Überblick (→-Tabelle 4). Antihaltungen wie Antikommunismus ▶ z.-B. autoritäre Militärregime mit antikommunistischer Haltzung (etwa in Südamerika) Kampf gegen äußere Feinde ▶ z.-B. despotische Systeme (Russland), die NATO als Aggressor und Feind der russischen Autokratie Epochaler Grundungsmythos ▶ z.-B. totalitäre Systeme etwa in Nordkorea, Kim-Dynastie Umfassende Ideologie ▶ z.-B. totalitäre Systeme etwa Marxismus-Leninismus der Sowjetunion Garant für Recht, Ordnung und Wohlstand ▶ z.-B. autoritäre Systeme etwa die People’s Action Party in Singapur Personale Legitimation, Personenkult ▶ z.-B. despotische Systeme etwa Lebensleistung und Einsatz von Putin Dynastische Legitimation ▶ z.-B. monarchische Systeme etwa viele arabische Autokratien Kampf gegen innere Feinde ▶ z.-B. totalitäre Systeme etwa der Kampf Hitlers gegen den jüdischen Einfluss Zustimmung der Bevölkerung durch Wahlen ▶ z.-B. autoritäre Systeme etwa Scheinwahlen in Belarus Zuverlässiger internationaler Partnerstaat ▶ z .B. Petroautokratien etwa Turkmenistan als Energielieferant 4.6 Zwölf Legitimationsbegründungen auf einen Blick 73 <?page no="74"?> Antihaltungen wie Antikommunismus Nationales Wir-Gefühl ▶ z.-B. autoritäre Systeme, etwa Betonung der unabhängigen chinesischen Ge‐ schichte und Kampf gegen Unterdrückung Performancelegitimität, wirtschaftlicher Wohlstand ▶ z.-B. Petroautokratien wie Dubai mit nationalen Großprojekten Tabelle 4: Legitimationsbegründungen 74 4 Legitimierung und Anerkennung einer Autokratie <?page no="75"?> 5 Absetzbarkeit, Nachfolge und Wirtschaftserfolg in Autokratien Das Kapitel im Überblick | Sie können … ● die Rolle von Volksaufständen für die Absetzung eines Autokraten kritisch hinterfragen. ● das Gesetz der 3,5 Prozent im politischen Kontext beschreiben. ● erläutern, warum endogen entstandene Autokratien resistenter im Bestand sind. ● Überlegungen von Autokraten zu ihren Nachfolgern diskutieren. ● Demokratien und Autokratien hinsichtlich ihres wirtschaftlichen Erfolges vergleichen. 5.1 Absetzbarkeit eines Autokraten Ein Regierungswechsel ist ein entscheidendes Kriterium, um die Wirt‐ schaftspolitik eines Landes punktuell zu variieren oder grundlegend zu reformieren. Dies kann nötig werden, weil die vorangegangenen Machtha‐ benden unter Umständen „abgewirtschaftet“ oder die Wünsche der Wähle‐ rinnen und Wähler zu wenig berücksichtigt haben. - Regierungsablösung ist in Demokratien einfacher In Demokratien haben es Wählende in der Hand, demokratische Änderun‐ gen einzuleiten. Ihnen wird also als Hauptfunktion zugedacht, eine Regie‐ rung hervorzubringen, wobei die Akzeptanz gleichzeitig die Rücknah‐ memöglichkeit dieser Entscheidung mit einschließt (Schumpeter 2020). Die Wählerschaft installiert und kontrolliert also die Regierung in der Hinsicht, dass sie gegebenenfalls eine politische Führung selbst oder die stützende parlamentarische Mehrheit abwählt und anderen Kräften als den bisherigen eine Chance gibt. Das Volk besitzt in einer Demokratie also die Möglichkeit, die Individuen, von denen es beherrscht wird, zu akzeptieren oder abzulehnen (Schumpeter 2020). Der Ökonom und Sozialphilosoph <?page no="76"?> Friedrich August von Hayek (1977, S. 7) sieht in dieser Tatsache ein wichtiges Kriterium und betont, dass es von „unschätzbarem Wert“ ist, sich einer unerwünschten Regierung entledigen zu können. - Wirkliche Volksaufstände sind meist ein Mythos In einer Autokratie erscheint die Absetzung der Regierung zunächst nicht so einfach. Dem Volk fehlt in der Regel die Handhabe, um die Regierung durch Wahlen zu stürzen. Dies ist für den Philosophen und Wissenschafts‐ theoretiker Karl Popper (1970) ein entscheidendes Kriterium zur Abgrenzung der Staatsformen. Für ihn existieren an sich nur zwei zentrale Formen: „Solche, in denen es möglich ist, die Regierung ohne Blutvergießen durch eine Abstimmung loszuwerden, und solche, in denen das nicht möglich ist“ (Popper 1970, S. 54). Dem Volk bliebe nur die Möglichkeit, den Autokraten durch einen Volksaufstand zu stürzen, aber wirkliche Volksaufstände sind nach dem Ökonomen Gordon Tullock (1987) sehr selten und liegen eher im Bereich des Mythos. Als Beispiel nennt Tullock den Mythos der Französischen Revolution, bei der die Bastille in Wirklichkeit nicht von der Pariser Bevölkerung gestürmt wurde, sondern von einem regulären Regiment der Infanterie. Im besten Fall ist ein spontaner Volksaufstand nach Meinung des australischen Philosophen John Burnheim (1987) planlos, schlecht koordiniert und kurzlebig. Ein Systemwechsel vollzieht sich also eher nicht in einer kurzen Zeitspanne, sondern als ein Prozess permanenter Fortschritte über eine längere Zeitperiode. Das Volk besitzt in einer Diktatur zudem kurzfristig nur stark eingeschränkte Optionen, diese zu stürzen. Beispiel | Burma 2007 wurde ein Aufstand in Burma (vornehmlich in der größten Stadt des Landes Rangun), der von Mönchen, aber auch Studierenden und Oppositionellen gesteuert wurde, von dem Militärregime schnell und blutig beendet. Das Regime unter Führung von General Than Shwe ließ unverzüglich größere Truppenverbände aus anderen Landesteilen abziehen und nach Rangun bringen, um die Aufständischen in die Schranken zu weisen (Eigenmann 2007a). Nach einiger Zeit ebbte die Protestwelle dann in allen Landesteilen ab. 76 5 Absetzbarkeit, Nachfolge und Wirtschaftserfolg in Autokratien <?page no="77"?> Gesetz der 3,5 Prozent Nach dem Gesetz der 3,5 Prozent, das von der Politikwissenschaftlerin Erica Chenoweth (Kramper 2020) formuliert wurde, wäre keine große Mehr‐ heit der Bevölkerung nötig, um politische Veränderungen zu erzwingen. In der Untersuchung ging es also nicht primär um ein völliges Ersetzen der Regierung, sondern um einen politischen Wandel. Chenoweth analysierte Bewegungen im Zeitraum zwischen 1900 und 2006, deren Ziel ein politi‐ scher Wechsel war. Chenoweth identifizierte die magische Zahl von 3,5 Prozent der Bevölkerung als nötigen Anteil an einer Massenbewegung. Diese 3,5 Prozent müssen allerdings auch aktiv agieren und nicht einen stillen und somit unbemerkten Protest zu Hause durchführen. Um die Zahl einzuordnen: Bei einer Bevölkerung von 60 Millionen im erwachsenen Alter wären dies über 2 Millionen aktive Personen. Eine weitere Erkenntnis der Forscherin war, dass gewaltfreie Proteste doppelt so erfolgreich waren wie bewaffnete Konflikte. Sie erbrachten in 53 Prozent der Fälle einen politischen Wandel, gewalttätige Proteste hingegen nur in 26 Prozent der Fälle. Trotz aller Argumentation mit Prozentzahlen ist herauszustellen, dass es nicht selbstverständlich ist, dass sich eine kritische Masse überhaupt findet. Insbesondere vor dem Hintergrund von massivem staatlichem Terror. Beispiel | Russland Die Wahrscheinlichkeit eines Volksaufstandes in Russland schätzt Leo‐ nid Wolkow (2022) als politischer Direktor der von Alexei Nawalny gegründeten Anti-Korruptions-Stiftung als eher gering ein, da die Un‐ terdrückung der Zivilgesellschaft zu massiv und das Volk dadurch ermüdet sei. Als wahrscheinlicher sieht Wolkow einen Elitenkonflikt an, der in einer Art Palastrevolution endet. Der russische Schriftsteller und Regimekritiker Dmitri Glukhovsky (2022) argumentiert ähnlich und betont, dass die Russinnen und Russen sich sehr staatskonform verhalten, weil sie Angst vor dem Staat haben und aus dieser Angst heraus wenig Widerstand zeigen wollen. Seiner Meinung nach haben die Menschen in der mehr als 20-jährigen Herrschaft von Putin gelernt, dass jeder Widerstand hart sanktioniert wird. Zudem sind in vielen russischen Familien die Erinnerungen an die Zeit der Stalin-Diktatur und dem in dieser Zeit ausgeübten Staatsterror noch sehr präsent. 5.1 Absetzbarkeit eines Autokraten 77 <?page no="78"?> Endogene legitimierte Autokraten sind resistenter Der Ursprung eines autokratischen Systems kann Folge endogener oder exogener Faktoren sein. Endogen legitimierte Autokraten kamen meist aufgrund einer breiten Massen-, oft revolutionären Bewegung an die Macht. Darunter fallen z. B. die frühere Sowjetunion mit Lenin oder Kuba mit Castro als Revolutionsführern. Durch die Zusammenarbeit von Elite- und Volksgruppen im Rahmen der Revolutions- oder Befreiungsbewegung ent‐ stehen enge Bindungen zwischen den unterschiedlichen Gruppen, was in vielen Fällen die Geburt eines Gründungsmythos auslöst. Exogen legitimierte Autokraten verdanken ihre Macht auswärtigen Mächten. In Polen und Ungarn wurden nach dem Zweiten Weltkrieg z. B. Autokratien nach sowjetischem Vorbild erschaffen, wobei die Sowjetunion die Taktge‐ berin und spätere Beschützerin dieser Autokratien war. Verschwindet dieser Beistand später, lösen sich auch die autokratischen Systeme leichter auf. Beispiel | Ungarn Der ungarische Volksaufstand im Jahr 1956, bei dem sich eine breite Masse gesellschaftlicher Gruppen gegen die Regierung der kommunisti‐ schen Partei und der sowjetischen Besatzungsmacht auflehnten, wurde mit militärischer Unterstützung der Sowjetunion blutig niedergeschla‐ gen. 5.2 Nachfolgeregelungen in Autokratien - Nachfolge leicht gemacht in Monarchien Am einfachsten gestaltet ist eine Nachfolgeregelung in Monarchien. Dort bestimmt meist eine dynastische Regel die Erbreihenfolge (z. B. das Vorse‐ hen des erstgeborenen Sohnes als ersten Nachfolger), die dem Volk meist seit langer Zeit bekannt ist und von diesem auch akzeptiert wird. Der Nachfolger weiß quasi von Geburt an um seine Verantwortung und wird über Jahre an die auszufüllende Aufgabe herangeführt. Die fixierte erbliche Nachfolge dient als eine Art Stabilitätsgarantie. Gefährlich können Angehörige in direkter Nachfolge zum Thronfolgenden sein. Für sie besteht eine gewisse 78 5 Absetzbarkeit, Nachfolge und Wirtschaftserfolg in Autokratien <?page no="79"?> Motivation, den potenziellen späteren Autokraten zu eliminieren, um selbst in den Besitz des Autokratenamtes zu gelangen. - Autokraten möchten die Rente genießen Ein Machtverzicht eines Autokraten in totalitären, autoritären und des‐ potischen Systemen zeigt meist nicht die Einsicht in die Notwendigkeit anderer wirtschaftspolitischer Maßnahmen, sondern vielmehr den Wunsch, seine letzten Tage geruhsam in der Heimat zu verbringen (Tullock 1987). Eine frühzeitige Klärung der Nachfolge kann eine Autokratie stabilisieren. Der Leiter der Research Group on Deand Re-Democratization (DRD) und Gastprofessor an der CEU Wien Andreas Schedler sieht besonders bei hochgradig personalisierten Autokraten eine besondere Relevanz dafür, da spätere Intra-Eliten-Konflikte vermieden werden. Ähnlich wie bei monarchischen Systemen ist auch in anderen Formen der Autokratie eine Übergabe der Macht an direkte Erben die einfachste und sicherste Alterna‐ tive für einen Autokraten. In Nordkorea wurde ein solcher Schritt bereits zweifach vollzogen, ohne das System zu destabilisieren. - Beim Militär ist alles etwas anders Ein besonderer Fall ist die Nachfolgeregelungen bei autoritären Militärau‐ tokratien. Das befremdliche an Militärregierungen ist nämlich, dass sie dazu neigen, kurzlebig zu sein, und dass sie oft damit enden, dass das Militär seine Macht freiwillig an ein Zivilregime übergibt (Geddes 1999). Trotzdem gibt es in Fragen der Langlebigkeit von Militärregimen eine Reihe von Gegenbeispielen wie etwa das Militärregime von Pervez Musharraf in Pakistan von 1999 bis 2008. - Militärdiktaturen haben zahlreiche Probleme Ein freiwillige Machreduktion scheint auf den ersten Blick rätselhaft, da das Militär besonders gut bei der Unterdrückung der Bevölkerung agieren sollte. Es handelt sich schließlich um ein primäres Instrument, welches von Diktaturen zum Machterhalt eingesetzt wird. Um dieses Rätsel zu erklären, sollten die leicht herleitbaren Hauptziele des Militärs bei der Ergreifung der Staatsgewalt genannt werden: die eigene militärische Stellung zu verbessern sowie die eigene Bezahlung und das Militärbudget allgemein zu erhöhen. Hierbei handelt es sich um kein ungewöhnliches Vorgehen in der mensch‐ 5.2 Nachfolgeregelungen in Autokratien 79 <?page no="80"?> lichen Natur. Machthabende belohnen sich und ihre Anhängerinnen und Anhänger. So werden arbeiterdominierte Regierungen beispielsweise den Preis der Arbeit (= die Entlohnung) anheben. Falls im Volk der Eigennutz wahrgenommen wird, können Proteste erfolgen. Das Militär hat ein weiteres Problem: Es ist nicht besonders gut darin, sich die Loyalität von anderen Gruppen außerhalb des Militärapparates zu erkaufen. Es ist eher eine Gruppe für sich. Des Weiteren schafft sich ein Militärregime zahllose Feinde, da es die „Anarchie“ von politischen Parteien und anderen politischen Organisationen ablehnt. All dies sind keine guten Voraussetzungen für einen langfristigen Machterhalt. Zurück zum zentralen Dilemma, dem Militärregierungen gegenüberste‐ hen. Um an der Macht zu bleiben, müssen die Militärs die Unterdrückung steigern. Ihre Legitimationsbasis steht einfach auf viel zu dünnem Eis. Wenn sie nun z. B. gleichzeitig die Bezahlungsstufen des Militärpersonals verdoppeln, wird es x-Mal (je nach dem Grad der eingeschlagenen Unter‐ drückung der Staatsbürgerinnen und -bürger) so viel kosten, an der Macht zu bleiben, wie zuvor. Hierdurch können erhebliche Löcher im Staatshaushalt entstehen, die nur über kurze Zeit gedeckt werden können. Durch diese Maßnahmen destabilisieren sie ihre Machtbasis. Aus diesem Grund ist es wenig überraschend, dass Militärregierungen oftmals die Zügel der Regierung nach einer gewissen Zeit an eine zivile Kraft übergeben. Nachdem sie sich selbst ihre Vergütung erhöht haben und Ordnung und Sicherheit in den Augen der Bevölkerung etabliert sind, wären die Haupt‐ ziele des Regimes erfüllt. Die vernünftigste Strategie eines Militärregimes ist, danach von den demokratischen Nachfolgern passende Garantien für die Immunität (wegen der eventuell begangenen Verbrechen) sowie einen konstitutionellen Schutz für ihre angehobene Bezahlung und das Budget zu verlangen. Diese Bedingungen sind oft leicht mit der Drohung zu erreichen, dass bei Ablehnung oder späterem Verstoß gegen die Wünsche ein erneuter Militärputsch droht. Wenn eine demokratische Regierung die Versprechen nicht einhalten kann, ist es für die Militärs sinnvoller, die Macht zu behalten und weiter zu regieren, bis „Ordnung und Sicherheit“ endgültig erreicht sind. Beispiel | Burma Ein Beispiel für eine erfolgreiche Machtübergabe an einen diktatori‐ schen Nachfolger stellt der Machtverzicht von General Ne Win aus 80 5 Absetzbarkeit, Nachfolge und Wirtschaftserfolg in Autokratien <?page no="81"?> Burma im Jahr 1988 dar. Der ehemalige Herrscher wurde von seinen Nachfolgern zwar zunächst gut zehn Jahre als Berater akzeptiert. Ohne tiefgehende Begründung wurde Ne Win später jedoch unter Hausarrest gesetzt, der bis zu seinem Ableben Bestand hatte. Ne Win starb im Dezember 2002 in Rangun und erhielt kein Staatsbegräbnis (Eigenmann 2007b), nicht einmal ein Vertreter der Militärjunta nahm an der Trau‐ erfeier teil. Nur rund 30 Personen wohnten der Zeremonie bei, die bereits am Mittag seines Todestags stattfand. Die anfangs scheinbar erfolgreiche Übergabe blieb für den Diktator also ohne Happy End. - Demokratien als Nachfolger bringen Sicherheit Ein Machttransfer an eine Demokratie als neue Regierungsform ist nicht exklusiv für Militärregimes attraktiv. Allgemein werden demokratische Führerinnen und Führer dankbar für einen Machtverzicht sein und weniger Motivation für eine Beseitigung des Autokraten besitzen als ein ebenfalls autokratischer Nachfolger. Grundlage dafür ist, dass ein Autokrat eine Li‐ beralisierung einleitet. Dies bedeutet, dass Autokraten beginnen, autonome Institutionen und Organisationen zu akzeptieren, die sie zuvor womöglich bitter bekämpft und unterdrückt haben. Als Beispiel dienen die Handlungs‐ weisen zahlreicher südamerikanischer Diktatoren. Beispiel | Chile und Zimbabwe In Chile wurde im Oktober 1988 eine Volksabstimmung durchgeführt, um zu bestätigen, dass Militärdiktator Augusto Pinochet als einziger Kandidat bei den nächsten Präsidentenwahlen antreten dürfe. Bei der Abstimmung über‐ wogen jedoch die Neinstimmen, worauf es ein Jahr später zu freien Wahlen kam. Bei diesen Wahlen wurde Pinochet von Patricio Aylwin als Präsident abgelöst. Doch gemäß der von ihm maßgeschneiderten Verfassung konnte Pinochet Senator auf Lebenszeit bleiben und blieb außerdem Befehlshaber der Streitkräfte. Der chilenische Kongress stimmte Ende März 2000 einer neuen Verfassungsnorm zu, die dem ehemaligen Diktator eine immerwährende Immunität zusichern sollte. In der Folgezeit kam es jedoch aufgrund von Protesten der Staatsbürgerinnen und -bürger immer wieder zu Verfahren gegen den Diktator. 5.2 Nachfolgeregelungen in Autokratien 81 <?page no="82"?> Auch auf dem afrikanischen Kontinent finden sich ähnliche Beispiele: Nach 37 Jahren als Autokrat hat Robert Mugabe sein Land Zimbabwe zu einem der ärmsten Länder der Welt heruntergewirtschaftet. Als „Dank“ erhielt er von seinem demokratischen Nachfolger eine Abstandzahlung von 5 Millionen Dollar, damit er seinen luxuriösen Lebensstil weiter pflegen konnte (Wenge 2017). - Es bleibt immer die Flucht als Alternative Teils ist die Nachfolge ungeplant und die Umstände zwingen Diktatoren zur Landesflucht. Wichtig ist in diesem Fall, ein Land zu finden, in dem es sich ruhig und angenehm leben lässt. Des Weiteren wird sich der geflüchtete Autokrat Sicherheit und Verfolgungsfreiheit von seinen politischen Nach‐ folgern wünschen. Sinnvoll ist es daher für einen Diktator, während seiner Regierungszeit Kontakte zu anderen Ländern zu pflegen und einige wichtige Politikerinnen und Politiker dieser Länder mit Posten (wie Aufsichtsräten) zu belohnen. Die materiellen Mittel, die investiert werden, können einem hilfesuchenden gestürzten Autokraten später wichtige Türen öffnen. Beispiel | Fulgencio Batista (Kuba) Nach dem Sieg der Castro-Revolution Ende 1958 floh Diktator Fulgencio Batista mit Teilen des Staatsvermögens zunächst in die Dominikanische Republik, um später ein dauerhaftes Asyl in Portugal und Spanien zu finden. Im Jahr 1973 starb der ehemalige Autokrat an der Costa del Sol an einem Herzinfarkt. 5.3 Wirtschaftlicher Erfolg und Gerechtigkeit - Fördern eher Demokratien Wirtschaft und Wohlstand? Die Diskussion des Sachverhaltes wird gerne und intensiv geführt, da es so scheint, als gäbe es einige autokratische Regime, welche in der Lage sind, Demokratien in wirtschaftlicher Hinsicht auszustechen: In den 1930er-Jahren Hitlers Deutschland und Stalins Russland; in jüngster Zeit 82 5 Absetzbarkeit, Nachfolge und Wirtschaftserfolg in Autokratien <?page no="83"?> Pinochets Chile und, vielleicht am spektakulärsten, die Volksrepublik China und ihr Freier-Markt-Kommunismus. Die Beantwortung der obigen Frage ist jedoch weit komplexer, als es auf den ersten Blick erscheint, denn die autokratischen Wirtschaftssysteme unterscheiden sich sehr voneinander - wie etwa die Wirtschaft im aktuellen China, in Nazideutschland, in Südafrika unter der Apartheid, in Papa Docs (François Duvalier) Haiti und der früheren UdSSR. Insbesondere in China und Russland wird gerne die Ansicht vertreten, dass ihre großen und widerspenstigen Nationen Ordnung und Stabilität brauchen, um zu wachsen und zu gedeihen. Diese Stabilität garantiert am ehesten eine starke Staatsführung. Unstetigkeiten (z. B. als Jelzin Staatsoberhaupt in Russland war) und Chaos einer Demokratie würde nach Meinung der Autokraten ihre Nationen nur sinnlos entkräften und letztlich zugrunde richten, betont der Politikberater und US-Neokonservative Robert Kagan (2008). - Der Bertelsmann-Transformationsindex als Analysehilfe Einen transparenten Vergleich hinsichtlich der Ökonomie von Autokratien und Demokratien bietet der Bertelsmann-Transformationsindex (BTI). Au‐ tokratien schneiden in diesem Bericht über zahlreiche Bereiche der politi‐ schen Ökonomie weit schlechter ab als Demokratien (→ Abbildung 14). In Autokratien sind die Korruption weit ausgeprägter, die Aufstiegschan‐ cen für Individuen eingeschränkter und Unternehmen finden schlechtere Wettbewerbsbedingungen. Ein vertiefter Blick auf die Korruptionsbekämp‐ fung führt zu keinem guten Urteil über autokratische Systeme. In → Abbildung 13 sind Länder in absoluter Zahl abgebildet und deren Maßnah‐ men gegen die Korruption. Werte zwischen 6 (leidlichen) und 9 (guten) zeigen die Implementierung von Antikorruptionsmechanismen. Nur 28 Staaten widmen sich intensiver der Bekämpfung der Korruption. Darunter sind lediglich vier Autokratien. Vorbildlich agiert in diesem Bereich ledig‐ lich Singapur als autoritäres System. Katar, Kuwait und die Vereinigten Arabischen Emirate weisen als monarchische Systeme immerhin akzeptable Ansätze auf. Werte zwischen 1 und 3 kennzeichnen eine quasi unbestrafte Form der Korruption. Diese findet sich in 44 Autokratien, aber nur in 9 Demokratien (Hartmann und Thiery 2022). 5.3 Wirtschaftlicher Erfolg und Gerechtigkeit 83 <?page no="84"?> 5 1 3 9 1 7 2 9 8 7 6 17 6 5 17 16 4 7 18 3 2 16 2 10 Demokratien Autokratien Punkte Min. 1 Max. 10 Abbildung 13: Korruption in Demokratien und Autokratien Quelle: in Anlehnung an Hartmann und Thiery, BTI 2022, Bertelsmann Stiftung Chancengleichheit weitgehend in … Marktordnung und Wettbewerb funktionieren gut in … Korruptionsbekämpfungspolitik funktioniert gut in … 17% 2 % 15 % 3 % 38 % 3 % Demokratien Autokratien Abbildung 14: Demokratien übertreffen Autokratien Quelle: in Anlehnung an BTI 2018, Bertelsmann Stiftung 84 5 Absetzbarkeit, Nachfolge und Wirtschaftserfolg in Autokratien <?page no="85"?> Ein weiterer Blick auf die Effizienz politischer Systeme Die Wirtschaftsforscher Dani Rodrik und Romain Wacziarg (2005) analysier‐ ten die Effizienz politischer Systeme, indem sie lediglich die ökonomischen Wirkungen eines Systemwechsels in Richtung Demokratie in 24 Ländern betrachteten. Es wurden nur Staaten in die Untersuchung einbezogen, bei denen mehr als 9 Jahre vor und nach der Demokratisierung vergangen waren. Das heißt, es handelte sich um die Ablösung einer etablierten oder Übergangsautokratie. Abgelöst wurde sie durch eine Demokratie. Es ist allerdings zu bedenken, dass die Differenzierung zwischen den einzelnen Formen nicht immer leicht ist: Wann liegt wirklich eine demokratische Regierungsform vor? Es gibt zahlreiche Systeme, die als hybride Formen zwischen Autokratie und Demokratie existieren (→ Kapitel 3.7). Konkret verglichen wurde das Wachstum vor und nach dem Regierungswechsel. Aus dem Differenzwert zogen die Autoren Erkenntnisse über den ökonomischen Erfolg eines Systemwechsels. Gerade ein Regierungswechsel zu einem demokratischen System kann nach Meinung der Autoren eine positive ökonomische Wirkung haben. Insbesondere etablierte Autokratien tun sich nach dieser Analyse schwer, positive ökonomische Effekte zu generieren. In der Hälfte der Fälle war ein größeres wirtschaftliches Wachstum durch den Systemwechsel zu beobachten. Bei der Analyse ist einschränkend zu erwähnen, dass der Übergang zu einem demokratischen System oft mit Bürgerkriegen oder anderen Umständen verbunden war, die das Wachstum zunächst abschwächten. Wie fragil die Ergebnisse solcher Auswertungen zu sehen sind, soll ein Beispiel zeigen: Als besonders gelungenes Vorbild für einen Wechsel von einer Diktatur zu einer Demokratie nennen Rodrik and Wacziarg (2005) den Staat Mali. Die ersten Gehversuche der jungen Demokratie führten dort zu einem positiven ökonomischen Wandel. Generaloberst Touré hatte Mali 1991 nach einem Putsch gegen den Diktator Traoré als Übergangspräsident in die Demokratie geführt und 1992 die Macht in den ersten freien Wahlen des Landes an Alpha Konaré abgegeben, der bis 2002 regierte. Die Verfassung von 1992 wurde an die französische Verfassung angelehnt und sieht eine Präsidialdemokratie vor. Der ehemalige Militär Ammadou Toumani Touré löste Alpha Konaré ohne innenpolitische Zwischenfälle oder Militärinter‐ ventionen ab. In seiner Amtszeit höhlte Touré die demokratischen Reprä‐ sentationsorgane wie politische Parteien und das Parlament aus, was die Konsolidierung des malischen Demokratisierungsprozesses einschränkte 5.3 Wirtschaftlicher Erfolg und Gerechtigkeit 85 <?page no="86"?> (Heyl und Leininger 2012). Im März 2012 wurde Touré einen Monat vor dem regulären Ende seiner Amtszeit durch einen Militärputsch gestürzt und floh schließlich ins Exil nach Senegal. Das Militär putschte noch ein weiteres Mal nach einem kurzen demokratischen Intermezzo und versprach im Juni 2022 zumindest bis Ende 2024 demokratische Wahlen (o. V. 2022). Fazit: Die in der wissenschaftlichen Studie (Rodrik und Wacziarg 2005) herausgestellte vorbildliche Demokratisierung am Beispiel von Mali stellte sich im Nachhinein als Desaster dar. Mali mutierte zum Negativbeispiel. Positiv ist jedoch, dass sich die Vermutung, dass ein Wechsel zu einer demokratischen Staatsform mit einer wirtschaftlichen Schwächung einer Nation verbunden ist, anhand der Auswertungen von Rodrik und Wacziarg nicht eindeutig bestätigen lässt. - Reformen sind in Diktaturen meist Nebensache Die Wirtschaftsforscher Dan Usher und Merwan Engineer (1987) untersuch‐ ten modellhaft die Einkommensverteilung in einer Autokratie, in der die Herrschaft des Diktators nur durch einen Aufstand beschränkt ist. Die Gesellschaft organisiert sich in ihrer Public-Choice-Studie in mehrere Klas‐ sen, denen so viel Einkommen gewährt wird, dass sie nicht rebellieren. Jede weitere Zuwendung von Ressourcen widerspräche der Prämisse der Nutzenmaximierung des Autokraten, denn diese könnte er auch im eigenen Sinn verwenden. In diesem Modell wird jemand das System nur stürzen wollen, wenn er mit den Transferzahlungen des Diktators nicht einverstan‐ den ist (Usher und Engineer 1987). Die Verteilung der Einkommen steigt dementsprechend mit der Höhe des Amtes und dessen Wichtigkeit, weil dem Despoten mehr Gefahr von hohen Regierungspersonen droht. Eine rationale Einkommensverteilung mag ein solches Handeln nur im Sinne des Autokraten sein und mit einer rationalen Wirtschaftspolitik wohl wenig gemein haben. Ein Interesse an umfangreichen Reformprojekten zur Wohl‐ standsmaximierung aller Individuen ist durch diesen Verteilungsschlüssel quasi ausgeschlossen. 86 5 Absetzbarkeit, Nachfolge und Wirtschaftserfolg in Autokratien <?page no="87"?> 6 Eigenschaften und Handlungsweisen von Autokraten Das Kapitel im Überblick | Sie können … ● die Optimierung des Eigennutzes von politischen Personen in Au‐ tokratien und Demokratien diskutieren. ● Nachteile von demokratischen Systemen ableiten. ● begründen, warum Autokraten teils resistent gegen Ratschläge sind. ● Gründe für die Paranoia von Autokraten ableiten. ● den Begriff Spin-Diktaturen erklären und kennzeichnende Beispiele nennen. Um das Handeln und die Effizienz von Autokraten besser einschätzen zu können, werden in diesem Kapitel teils Bezüge zu demokratischen Systemen hergestellt. 6.1 Eigennutzenmaximierung als politisches Ziel Als Ausgangspunkt für die Erklärung der Motivation einer Politikerin oder eines Politikers wird in der Public-Choice-Theorie häufig die Eigen‐ nutzenmaximierung genannt. Das Handeln liegt demnach vorrangig in dem Versuch begründet, Macht, Einkommen und Prestige zu erlangen, was allerdings nur in Verbindung mit einem öffentlichen Amt möglich ist (Downs 1968). Wissen | Public-Choice-Theorie Die Public-Choice-Theorie beschäftigt sich mit dem Einsatz ökonomi‐ scher Instrumente zur Bewältigung traditioneller politikwissenschaftli‐ cher Probleme, wie etwa die Optimierung verfassungsrechtlicher Regeln (Verfassungsökonomie) oder Verhaltensweisen von eigennutzenmaxi‐ mierenden Politikerinnen und Politikern. Beispielsweise wurden von Vertreterinnen und Vertretern der Public-Choice-Theorie Modelle zur <?page no="88"?> Erklärung verschiedener Abstimmungsverfahren auf der Basis indivi‐ dueller Nutzen-Kosten-Überlegungen entwickelt. Ziel dieser Theorie ist unter anderem, die Eigennutzorientierung der Politik in Überein‐ stimmung mit dem Allgemeinwohl zu bringen. Es handelt sich um eine positive Ökonomie, die tatsächliches Verhalten beschreibt. Die Begriffe Public-Choice-Theorie und Neue Politische Ökonomie (NPÖ) werden in diesem Buch synonym verwendet. - Wie sieht es in Demokratien aus? Politische Ämter sind in Demokratien nur zu erreichen oder zu halten, indem die wählenden Personen Politikerinnen oder Politikern ihre Stimme geben. Sie müssen im Konkurrenzkampf um die Stimmen des Volkes bestehen (Schumpeter 2020). Die höchste Prämisse wird folglich die Wählerstimmen‐ maximierung sein, wobei die soziale Funktion, ähnlich wie die Produktion beim Erzielen von Profiten, nur eine Nebenbedingung ist (Downs 1968). Demokratische Politikerinnen und Politiker werden sich nicht unbedingt danach richten, welche Ratschläge ihnen Fachkräfte für eine rationale Wirt‐ schaftspolitik geben, sondern eher danach, welche gewählte Alternative ih‐ nen die meisten Stimmen verspricht. Hierdurch können einige Sachverhalte der Wirtschaftspolitik nur von einem kurzfristigen Standpunkt aus geplant werden. Denn, wenn sie den Wählenden keinen Nutzen bringen, werden sie bei der nächsten Wahl von ihnen nicht honoriert (Schumpeter 2020). Eine unnötige Aufblähung des Staatshaushaltes ist eine logische Folge‐ erscheinung einer solchen Politik. Diese Entscheidungsgrundlage entspricht wohl in den wenigsten Fällen einer rationalen Wirtschaftspolitik. Der Träger des Alfred-Nobel-Gedächtnispreises für Wirtschaftswissenschaften James Buchanan und der Wirtschaftsprofessor Richard Wagner (1977) stellen in diesem Zusammenhang fest, dass in einer Demokratie durch die Abhängig‐ keit der Politikerinnen und Politiker von den Wünschen der Wählenden immer mehr Schulden entstehen werden, als Einnahmen in die Staatskasse fließen. Diese Budgetdefizite steigern dann die Staatsverschuldung. Es existieren jedoch Ausnahmen wie etwa Norwegen, das eine geringe Staats‐ verschuldung aufgrund seiner Rohstoffreserven aufweist. Dies ist aber nicht als einziges Manko zu nennen, das durch die Prämissen der Politikerinnen und Politiker bedingt ist. Das Staatswohl wird nicht 88 6 Eigenschaften und Handlungsweisen von Autokraten <?page no="89"?> minder gefährdet, wenn sie aus Angst vor Verlust von Wählerstimmen die Regierungsbildung scheuen. Beispiel | Weimarer Republik Als Beispiel soll die Situation Anfang der 1930er-Jahre in Deutschland genannt werden, also das Ende der Weimarer Zeit; die Politiker und mit ihnen ihre Parteien zeigten keine Bereitschaft, mit einer oder mehreren anderen Parteien zusammenzuarbeiten, sobald sie befürchteten, dass der Partner dabei günstiger abschneiden und ihnen beim nächsten Wahlgang Stimmverluste zufügen könnte (Pentzlin 1983). Da die vor‐ mals staatstragenden Parteien und Politiker nicht mehr bereit waren, ihre Rollen wahrzunehmen, wurde Deutschland fortan unter Herrschaft von Präsidialkabinetten regiert. Dies war der Anfang des Weges zur nationalsozialistischen Diktatur (Göbel 1985). - Können es Autokraten besser? Fraglich ist nun jedoch, ob die Wirtschaftspolitik autokratischer Systeme dem demokratischen Pendant überlegen ist. Zunächst einmal ist festzuhal‐ ten, dass die Nutzenerwägung von Politikerinnen und Politikern in einer Autokratie ebenso wie in einer Demokratie in der Möglichkeit liegt, ein politisches Amt zu erlangen oder zu behalten und während dieser Zeit Vergünstigungen zu erhalten (Cao-Gracia 1983). Aufgrund der relativen Unabhängigkeit von Wahlen verfolgen Autokraten nicht die Prämisse der Wählerstimmenmaximierung. Ein Autokrat scheint also eher durch das Heranziehen von Expertenrat‐ schlägen eine rationale Wirtschaftspolitik durchsetzen zu können? Die Antwort ist „Nein“, denn ein Autokrat befindet sich nicht weniger in einer Situation der Ungewissheit und des Risikos als sein Gegenüber in der Demokratie. Aus diesem Grunde werden auch Diktatoren langfristige wirt‐ schaftspolitische Konzepte oft nicht in ihre Planungen und Entscheidungen mit einbeziehen können, denn ihr Zeithorizont ist wesentlich kürzer als der des demokratischen Politikers, weil sie permanent von der Ablösung bedroht sind (Brought und Kimenyi 1986). Es besteht zudem die Gefahr, dass ein Diktator glaubt, die wahren Interessen der Bevölkerung besser zu 6.1 Eigennutzenmaximierung als politisches Ziel 89 <?page no="90"?> kennen als die Gesellschaftsmitglieder selbst. Sein Urteil wird aber nur in den seltensten Fällen zutreffen (Bernholz 1972). Beispiel | Napoleon Nicht alle Autokraten waren an der Optimierung des eigenen Nutzens interessiert. Zum Beispiel wäre Napoleon als autoritärer Autokrat zu nennen, der, wenn seine politischen Interessen oder die Außenpolitik nicht auf dem Spiel standen, durchaus die Wünsche des Volkes berück‐ sichtigte (Schumpeter 2020). Aber auch in der antiken griechischen Geschichte befanden sich unter den Autokraten gute Regenten, dies gilt insbesondere für Peisistratos (Dahlheim 1992), der etwa 560 v. Chr. regierte. Seinen Taten verdankten die Bauern der damaligen Zeit eine Abschwächung der sozialen Abhängigkeit von ihren adligen Nachbarn; er zentralisierte die Rechtsprechung, führte Steuern ein und förderte die zentralen Kulte. In den Ausführungen des Geschichtswissenschaftlers Pedro Barcelo (1993, S. 187) finden sich charakterisierende Worte des zeitgenössischen Dichters Thukydides zur Politik des Peisistratos: Seine Herrschaft „bedrückte weder die Menge noch verursachte sie Ärgernis“. Der Autokrat ließ zudem die bestehende solonische Verfassung und die alten Gesetze in Kraft und lebte auch selbst nach ihnen (De Libero 1996; Stahl 2003). - Also haben demokratische und autokratische Politikerinnen und Politiker gleich geartete Probleme? Politikerinnen und Politiker in beiden Systemen befinden sich in analogen Situationen; auf der einen Seite steht die Angst, durch einen Staatsstreich oder eine Revolution die Macht zu verlieren, auf der anderen Seite steht die Angst vor einer Wahlniederlage und dem Verlust des Amtes. Beide Alternativen stellen, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung, für die jeweiligen Politikerinnen und Politiker den politischen Bankrott dar, der nur durch eine Machterhaltung verhindert werden kann. Diese Macht kann der Autokrat nur durch das Verhindern eines Putsches erhalten; er muss die Zustimmung der Personen gewinnen, die ihn stürzen könnten. Diese potential rulers haben, bevor sie den Staatsstreich wagen, oftmals einen hohen Rang in der Regierung inne (North 1981). Es wird selten 90 6 Eigenschaften und Handlungsweisen von Autokraten <?page no="91"?> ein Putsch außerhalb der Regierung initiiert (Tullock 1987). Je mächiger Autokraten jedoch werden, umso mehr Feinde generieren sie durch ihre Machtfülle. Gerne würden andere diese Macht ausfüllen können. Zudem hat ein Autokrat eher Angriffe von demokratischen Nachbarstaaten zu befürchten als demokratische Führerinnen und Führer. Solche Angriffe könnten z. B. zur Befreiung der unterdrückten Bevölkerung dienen (→ Ka‐ pitel 9.5). Regimegegnerinnen und Regimegegner innerhalb seines eigenen Staates können sich zudem mit außenstehenden Mächten verbünden und Kommunikationsmedien aus demokratischen Nachbarländern nutzen, um die Propaganda des Diktators zu relativieren. Wissen | Homo oeconomicus Handelt es sich bei Autokraten um einen typischen Homo oeconomicus? Hierunter wird eine rein rational handelnde Person verstanden, die unter Beachtung ökonomischer Grundprinzipien beständig versucht, den eigenen Nutzen zu maximieren. In der Public-Choice-Theorie wer‐ den diese Annahmen auch auf das Handeln von Politikerinnen und Politikern übertragen. Es handelt sich um ein theoretisches Konzept, das davon ausgeht, dass sämtliche Informationen zur Entscheidungsfin‐ dung vorliegen. Das ist für Autokraten (auch mit Hilfe umfassender staatlicher Überwachung) nicht erreichbar. Auch bleiben Emotionen in dem Konzept exkludiert. Gerade Autokraten werden aber z. B. von emotional gesteuerten Großmachtsphantasien getrieben, die ihr Han‐ deln mitbestimmen. Gemeinsam haben Autokraten mit einem Homo oeconomicus allerdings in vielen Fällen den egoistischen Denkansatz. Die menschliche Evolutionsgeschichte hat den Ansatz klar widerlegt. Ohne Teamarbeit, Wissensteilung oder gegenseitiges Helfen wäre die Evolutionsentwicklung anders verlaufen. Daher wäre zumindest von einem Homo socio-oeconomicus zu sprechen, der bei seinem Handeln soziale Bestimmungsfaktoren, den sozialen Status oder die Meinungen von sozialen Bezugsgruppen einbezieht. Ein Autokrat ist folglich nicht so entscheidungsfrei, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Er kann nicht einfach einen Kurs zu einer rationaleren Wirtschaftspolitik einschlagen, ohne dass er die Interessen der potential rulers abwägt. Im Zweifelsfall wird er ihnen lieber mehr Ressourcen zukom‐ men lassen, als diese zur Verbesserung der sozialen Wohlfahrt zu verwenden. 6.1 Eigennutzenmaximierung als politisches Ziel 91 <?page no="92"?> Der Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften Douglass North (1981) erklärt mit diesem Faktum die ineffiziente Produktion von property rights (= Verfügungsrechte). Gleichzeitig muss ein Diktator bestrebt sein, die Interessengruppen (→ Kapitel 7) zu spalten, denn wenn sich einzelne Gruppen gegen ihn verbünden, könnte seine Macht gefährdet sein. - Ein Kurzfazit zur Wirtschaftspolitik in politischen Systemen Ein Diktator wird also, genauso wie demokratisch legitimierte Regierungs‐ personen, meist nicht unbedingt die Rationalität der Wirtschaftspolitik oder ein soziales Ziel vor Augen haben. In einem demokratischen System liegt es jedoch im Bereich des Möglichen, soziale Ziele durch die institutionelle Zusammenführung mit dem persönlichen Zweck der Politikerin bzw. des Politikers zu erreichen, was der Ökonom und Sozialwissenschaftler Philipp Herder-Dorneich (1959, S. 58f.) als List der Demokratie bezeichnete. Diese List wirkt aber eben auch nur durch den Wahlmechanismus im Konkur‐ renzkampf um die Stimmen. Diktatoren fehlt der innere Mechanismus für Veränderungen, da sie ihre Umgebung oft mit getreuen Ja-Sagenden besetzen. - Die öffentliche Meinung interessiert auch Autokraten Durch die Unabhängigkeit vom Wahlmechanismus treten Veränderungsef‐ fekte in der Autokratie seltener auf. Allerdings wird sich ein Diktator der öffentlichen Meinung nicht ganz entziehen können. Denn auch er ist ein menschliches Lebewesen und hat als solches das Bedürfnis nach Popularität und Anerkennung. Beispiel | Wladimir Putin (Russland) Russlands Präsident Wladimir Putin gibt der Öffentlichkeit gerne spek‐ takuläre Bilder preis, die ihn als „harten Kerl“ zeigen, um seine Männ‐ lichkeit perfekt in Szene zu setzen (→ Kapitel 3.4). Gerne werden Fotos mit nacktem Oberkörper beim Fischen oder beim Eishockey-Spiel gezeigt. Die Bevölkerung soll ihn für seine Taten bewundern und als durchsetzungsfreudigen Herrschenden wahrnehmen. 92 6 Eigenschaften und Handlungsweisen von Autokraten <?page no="93"?> 6.2 Inkorrekter Sachverstand - Regieren in Demokratien fachliche „Anfängerinnen“ und „Anfänger“? Um den Sachverhalt der qualifizierten Amtsführung zu erschließen, wird zunächst erneut ein Vergleich zu demokratischen Systemen gesucht. Fach‐ liche Kompetenzen zur Lösung von Problemen scheinen bei der Besetzung von politischen Ämtern in Demokratien von nachrangiger Bedeutung, die getreue Parteigängerin bzw. der getreue Parteigänger und das loyale „Arbeitstier“ werden fast immer vorgezogen (Burnheim 1985). „Wir haben es also, wenn die politischen Führer ein Ressort übernehmen, mit Amateuren zu tun“ (Starbatty 1985, S. 97). Fraglich ist, ob diese rationale wirtschafts‐ politische Entscheidungen treffen können. Schumpeter (2020) nennt als Hilfe hierfür eine gut ausgebildete Bürokratie mit guter Tradition und starkem Pflichtgefühl. Die Bürokratie kann den womöglich nicht so kompe‐ tenten politischen Führerinnen und Führern zur Seite stehen, wodurch allzu irrationale politische Entscheidungen verhindert werden können. Die Vor‐ aussetzungen dazu sind allerdings das Vorhandensein der von Schumpeter dargestellten Qualitäten. Denn sonst liegt auch im bürokratischen Handeln keine Kompetenz für eine qualitativ hochwertige Problemlösung. - Autokraten haben ähnlich gelagerte Probleme Ein Autokrat ist in der Besetzung der politischen Ämter genauso gebunden wie eine demokratische Ministerpräsidentin bzw. ein demokratischer Mi‐ nisterpräsident. Im Zweifelsfall wird er - aus der Sicht der Neuen Politischen Ökonomie - wichtige Posten eher für „politische Verbündete“ reservieren (müssen) als für qualifizierte Fachleute (Brought und Kimenyi 1986). Dies ist nötig, um diese machtvollen Mitsteitenden zu befriedigen, weil die Gefahr, dass sie sonst beim nächsten Putsch eine entscheidende Rolle spielen könnten, latent vorhanden ist. Insbesondere in despotischen Systemen besteht die Regierung deshalb aus Familienangehörigen und Freunden. Allerdings könnte mangelnde Kompetenz ähnlich wie in Demokratien durch eine kompetente Bürokratie ausgeglichen werden. 6.2 Inkorrekter Sachverstand 93 <?page no="94"?> Beispiel | Russland Die russische Regierungsmannschaft von Wladimir Putin wirkt etwa wie die Gästeliste einer Geburtstagsfeier des Präsidenten in den 1990er-Jahren, also lange vor seiner Amtszeit. Die Freunde werden nicht nur in der russischen Administration platziert, sondern auch in der staatsnahen Wirtschaft. Da viele Verbindungen aus seiner politischen Arbeit in Sankt-Petersburg resultieren, wird auch von der Sankt-Pe‐ tersburg-Putin-Connection gesprochen. Daneben gesellen sich noch Freunde aus seiner Studienzeit und seiner Arbeit beim russischen Ge‐ heimdienst KGB. Die russische Bürokratie wird zudem vom politischen Direktor der von Alexei Nawalny gegründeten Anti-Korruptions-Stif‐ tung Leonid Wolkow (2022) als extrem korrupt bezeichnet: Nicht das Gemeinwohl oder der Fortschritt des Landes stehen bei deren Handeln in Vordergrund, sondern das Kassieren von Bestechungsgeldern. - Autokraten verdecken ihre Mängel gerne In autokratischen und demokratischen Systemen ist es also möglich, dass Individuen an die Spitze des Staates treten, die nicht die Kompetenz von Fachpersonen besitzen. Eine Hypothese, dass in einer Autokratie aufgrund von Expertenkompetenz in höchsten Positionen rationale wirtschaftspoliti‐ sche Entscheidungen getroffen werden, wäre nach der bisherigen Bestands‐ aufnahme eher zu verwerfen. In Autokratien ist es allerdings leichter, mögliche Zielverfehlungen durch die Einschränkung der Presse- und Mei‐ nungsfreiheit zu verdecken. - Neue Ziele oder Feindbilder sollen es richten Bei eklatanten Zielverfehlungen präferiert ein Diktator zumeist ein Aus‐ weichen auf neue Ziele oder Feindbilder (→ Kapitel 3.4), beispielsweise intensive Aktivitäten auf dem Gebiet der militärischen Rüstung in Zeiten der Missernte oder von Rückschritten bei der industriellen Produktion von Konsumgütern (Ramb 1987). Hier können Triumphe etwaige Defizite auf anderen Bereichen verdecken. Das Hochstilisieren von Feindbildern bietet sich auch gerne bei jeder Staatskrise an. 94 6 Eigenschaften und Handlungsweisen von Autokraten <?page no="95"?> Beispiel | Legitimation Der Diktator Mugabe aus Zimbabwe legitimierte seine Verbrechen beispielsweise mit der Notwendigkeit des Kampfes gegen den ausländi‐ schen Imperialismus, den er mit weißen Siedlern in Verbindung brachte (Purr 2007). Der russische Autokrat Putin konzentriert sich vereinfacht auf die „echten Russen“ und kooperiert mit der Orthodoxen Kirche, um die Schwarz-Weiß-Sicht zu begründen. Unechte Russen sind zu verfolgen. - Diktatoren nehmen Rat schlecht an Ein Autokrat unterliegt gewissen Belastungen, wobei allerdings einige Anstrengungen nicht so öffentlich zu Tage treten wie in einer Demokratie (Schumpeter 2020). Er schwebt des Weiteren in der Gefahr, durch seine Machtfülle, die dadurch bedingt ist, dass er nahezu alle wichtigen und vor allem elementare militärische Entscheidungen selber fällen muss, den Kon‐ takt zur Realität zu verlieren. „Niemand hört gerne unbequeme Wahrheiten, und der Alleinherrscher glaubt es nicht nötig zu haben, sie sich anzuhören“ (Hermens 1964, S. 86). Diese Abneigung wird als Folge der oben erläuterten Energieverluste, die physische und psychische Kräfte verringern, sicher noch um ein erhebliches Maß verstärkt. Oft verhelfen Familienmitglieder Diktatoren zur Realitätsnähe und zu gemäßigten Taten. Beispiel | Einfluss Als etwa 1992 die Frau des Diktators Mugabe (Zimbabwe) starb, wurde sein Handeln immer unkontrollierbarer und volksfeindlicher. Seine Frau war in der Bevölkerung überaus populär und eine gute politische Beraterin (Purr 2007). Ohne den positiven Einfluss seiner verstorbenen Gattin mutierte Mugabe vom gefeierten Befreiungshelden zum unheimlichen, despotischen Diktator, der sich nicht von der Macht trennen konnte. Wegen einer Niederlage gegen seinen Herausforderer Morgan Tsvangirai unterdrückte Mugabe beispielsweise die Opposition vor der endgültigen Stichwahl, sodass Tsvangirai sich vom Wahlkampf zurückzog und zum eigenen Schutz in die niederländische Botschaft flüchtete. Erst im Jahr 2017 wurde Mugabe durch einen Militärputsch gestürzt und verzichtete danach auf sein Amt. 6.2 Inkorrekter Sachverstand 95 <?page no="96"?> Verlässt sich der Diktator nur noch auf sein eigenes Urteil und vernachlässigt dabei die Personen, die einen Putsch initiieren könnten, ist sein Sturz nur eine Frage der Zeit. Gefahr droht insbesondere vom inneren Machtzirkel, wenn sich Koalitionen gegen den Autokraten finden respektive mit opposi‐ tionellen Kräften kooperiert wird. Beispiel | Machtzirkel Als Beispiele können zahlreiche römische Cäsaren genannt werden, wie unter anderem Caligula, der seine Machtkompetenzen in eklatanter Weise ausnutzte und sich so den Unwillen seiner Prätorianer-Garde und der Senatoren zuzog (Grant 1985), die ihn als Autokraten stürzten und ermordeten. 6.3 Überheblichkeit und Paranoia der Autokraten Da ein Autokrat in der Regel die Grundsätze der freien Meinungsäußerung abgeschafft hat, erhält er eine Aktionsfreiheit, die in einer Demokratie meist unbekannt ist. Dies kostet ihn womöglich die Nähe zum Volk und zur Realität: Er verliert die Möglichkeit herauszufinden, wie beliebt seine politischen Handlungen sind - und damit, wie sicher er in Wirklichkeit ist. Beispiel | Realitätsnähe und -ferne Die chinesischen Kommunisten fanden etwa erst heraus, wie unbeliebt die Kollektivierung der Landwirtschaft war, als sie diese abschafften. Der chilenische Autokrat Pinochet wurde von seinen Beratern versichert, dass er eine freie und faire Wahl gewinnen könnte. Er verlor diese jedoch. Der russische Despot Putin war sich sicher, den Krieg gegen die Ukraine in wenigen Tagen zu gewinnen und dass das ukrainische Volk ihm nach seinem erfolgreichen Feldzug zujubeln würde. Diese Beispiele mögen Indizien für die allgemeine Überheblichkeit von Autokraten sein. 96 6 Eigenschaften und Handlungsweisen von Autokraten <?page no="97"?> Vertrauen ist gut, Misstrauen besser Oder trauen Autokraten einfach besser keiner Person, außer sich selbst? Vielleicht interpretieren sie alle anderen Personen als Feinde, die ihre auto‐ kratische Macht gefährden können. Eine Konsequenz hieraus ist, dass das wahrscheinlichste Persönlichkeitscharakteristikum, welches ein Diktator aufweist, die Paranoia ist. Viele der „großen Diktatoren“ der Menschheits‐ geschichte wurden tatsächlich von dieser Form der Verunsicherung aufge‐ sogen, einschließlich der römischen Imperatoren Tiberius und Commodus, und in unserer jüngsten Geschichte Stalin und Mao Tse-Tung. Viele „kleinere Diktatoren“ sind ebenso betroffen: Die Tagebücher von Ferdinand Marcos z. B. sind mit Paranoia Symptomen durchdrungen (McDougald 1987). Oft wird die eigene Paranoia eines Diktators institutionalisiert und damit das Volk in einen dauerhaften Zustand des Terrors zu versetzt, wobei stets gegen neue bzw. vermeidlich neue Feinde gekämpft wird. Beispiel | Türkei In der Türkei kam es nach dem Putschversuch 2016 zu einer Vielzahl von Massenverhaftungen. Die türkische Juristin, Journalistin und Schrift‐ stellerin Ece Temelkuran (2019) schätzt ein, dass der türkische Herrscher Recep Tayyip Erdoğan entweder die willkommene Gelegenheit nutzte, um alle erdenklichen Feinde oder Pseudofeinde zu beseitigen oder er schlicht Angst hatte, seine Macht zu verlieren. Eine tiefere Prüfung, ob eine Paranoia zugrunde liegt, ist aber zum derzeitigen Zeitpunkt unmöglich. Tatsache ist, dass es in einer Autokratie eine echte Basis für die Paranoia gibt: Der typische Diktator ist, wie bereits beschrieben, weit weniger „sicher im Sattel“ als demokratische Führerinnen und Führer und dazu noch akut mit dem Verlust seiner Freiheit und im Extremfall seines Lebens bedroht. Die Paranoia kann er ausleben, da staatliche Kontrollorgane fehlen. - Kann es in einer Demokratie ähnlich gelagerte Fälle geben? Regierungsverantwortliche in demokratischen Verfassungsstaaten können sich unter Umständen genauso weit von der Realität entfernen, wie ein Autokrat, wenn ihre Machtkompetenzen erweitert werden. Solche Modifi‐ kationen sind in vielen demokratischen Staaten möglich. 6.3 Überheblichkeit und Paranoia der Autokraten 97 <?page no="98"?> Beispiel | USA In den USA herrscht ein Präsident durch die Übernahme zahlreicher Sonderrechte als Oberbefehlshaber im Krieg „so gut wie absolut“ (Chur‐ chill 1951). Zudem entfällt weitgehend die Kontrolle durch den Kongress und die öffentliche Meinung wegen des Bedürfnisses nach militärischer Geheimhaltung. 6.4 Meister der Fehlinformation Autokraten waren schon immer Meister der Fehlinformation. Stalin ließ von blühenden Ernten berichten, aber viele Bürgerinnen und Bürger verhun‐ gerten aufgrund von Lebensmittelknappheit. Auch die Nationalsozialisten waren sehr gut in der Manipulation durch Fehlinformationen. - Die Spin-Diktatoren sind im Einsatz Neu ist eine Strategie der totalen Verwirrung oder besser, sie wird ge‐ zielter eingesetzt. Wirtschaftsprofessor Sergei Guriev und Politikprofessor Daniel Treisman (2022) betiteln Autokraten, die diese Taktik anwenden als spin dictators und nennen die Autokratien von Lee Kuan Yew in Singapur und Alberto Fujimori in Peru als Beispiele. Kennzeichnend ist eine Machtmonopolisierung durch eine verschleierte Zensur und ein kultiviertes Kompetenzimage. In den gesteuerten Medien lassen sich die Autokraten gerne als wohlwollende und demokratische Führer präsentieren. Durch die Deskreditierung der Opposition steht ein autokratischer Amtsinhaber im Vergleich immer in einem guten Licht (Guriev und Treisman 2022). Solche Führer sind dann so populär wie Viktor Orbán oder Wladimir Putin durch die Anwendung dieser Strategien. Spin-Diktatoren verzögern den Übergang zu echter Demokratie, indem sie ihn vortäuschen, obwohl sie am Ausbau der Autokratie arbeiten. Damit sind sie Meister der Subversion von innen heraus (Guriev und Treisman 2022). - Flood the zone with shit Die Strategie der Verwirrung ist nicht exklusiv für autokratische Systeme anzuwenden. Donald Trumps Ex-Berater Steve Bannon ist für seinen Aus‐ 98 6 Eigenschaften und Handlungsweisen von Autokraten <?page no="99"?> spruch „flood the zone with shit“ bekannt (Stelter 2021). Dieser Ausdruck bedeutet, dass es zweckmäßig ist, einfach etwas zu behaupten. Es spielt keine Rolle, ob die Behauptung wahr oder auch nur ansatzweise schlüssig ist. Getreu dem Motto: Eine tausendfach gehörte unwahre Behauptung bleibt besser im Gedächtnis der Individuen verankert als ein einmal gehörter wahrer Sachverhalt. Der Ex-Präsident Donald Trump betont z. B. immer wieder, dass die US-Wahl gefakt war. Durch eine permanente Wiederholung des Sachverhaltes weiß bald ein großer Teil der Bevölkerung nicht mehr, was wirklich real ist. Es geht also bei der Anwendung der Strategie nicht um Überzeugung, sondern um Desorientierung. Die Erfindung der Strategie kann sich aber auch nicht der neokonservative Ex-Trump-Berater Steve Bannon zuschreiben. Schon die Mineralölkonzerne wandten ein vergleich‐ bares Vorgehen an, um den Klimawandel in Zweifel zu ziehen. Beispiel | Mineralölkonzerne Shell, Exxon, Total Energies und BP wussten etwa zwischen 1950 und 1970 von den Gefahren des Klimawandels (Banerjee et al. 2015; Mommers 2018). Die Konzerne waren aber mit vollem Einsatz bemüht, Skepsis an der Echtheit des Klimawandels zu erzeugen (Bonneuil, Choquet und Franta 2021). Dabei wurden in vielen öffentlichen Publika‐ tionen und Werbeanzeigen Gegenargumente präsentiert, Forschungs‐ ergebnisse in Zweifel gezogen und teils zweifelhafte Gegengutachten lanciert. Deren Lobby setzte sich zudem ein, um politische Maßnahmen zu verzögern oder diesen entgegenzuwirken. Kommunikation im Internet kann in bei der Erzeugung von Desorientie‐ rung eine verstärkende Wirkung haben. Sie erhöht zwar die Reichweite und das Bewusstsein für die Missstände in der Gesellschaft, kann aber auch durch widersprüchliches Fluten von Informationen zur Desorientierung eingesetzt werden. Das führt zu kognitiven Dissonanzen und selbst faktenbasierte Daten werden von den Individuen in Frage gestellt. Resultat kann sein, dass der kritische Teil der Bevölkerung aufgibt und in eine politische Lethargie abdriftet. Die Flood-the-zone-with-shit-Taktik kann national und international eingesetzt werden. 6.4 Meister der Fehlinformation 99 <?page no="100"?> Beispiel | Russland Russland lässt ganze Troll-Armeen über Fake-Konten arbeiten, um mit Copy-Paste-Inhalten im Westen Desinformation und Desorientierung in der Bevölkerung zu erzeugen (Gensing 2022), und begab sich damit in eine Art hybride Kriegsführung (→ Kapitel 9.5). Im Krieg gegen die Ukraine wurde die gleiche Taktik angewandt: Die Propaganda ist zudem darauf ausgerichtet, Personen im In- und Ausland zu verwirren. Es wird eine Unzahl von fraglichen Informationen gestreut, damit Menschen in Misstrauen kommen, was überhaupt wahr ist (Eidmann 2016). 100 6 Eigenschaften und Handlungsweisen von Autokraten <?page no="101"?> 7 Autokratie und Einfluss von Interessengruppen Das Kapitel im Überblick | Sie können … ● den Sinn und Zweck von Interessengruppen charakterisieren. ● das Free-rider-Verhalten im Zusammenhang mit der Thematik der Interessengruppen vorstellen. ● die Informationsmacht von Interessengruppen in politischen Syste‐ men beschreiben. ● Maßnahmen der Begrenzung des Einflusses von Interessengruppen diskutieren. ● das Verhalten von Militärregimen als Interessengruppe darstellen. 7.1 Sinn und Zweck von Interessengruppen - Was ist unter Interessengruppen zu verstehen? Nach dem Ökonomieprofessor und Gründer der Public Choice Society Mancur Olson (2004) lässt sich eine Interessengruppe als eine Anzahl von Personen abgrenzen, die ein gemeinsames Interesse verfolgen. Rationelles Verhalten vorausgesetzt, entstehen solche Gruppen nur unter der Bedin‐ gung, dass die im Rahmen dieser Gruppe angestrebten Ziele individuell nicht oder nur unbefriedigend zu realisieren sind. Ihre Verwirklichung liegt dann im Eigeninteresse der Mitglieder (Olson 2004). Das gewünschte Ergebnis wird meist die Bereitstellung eines erhofften Kollektivgutes sein, das sowohl materieller als auch immaterieller Natur sein kann. Dieses Gut ist öffentlicher Art für die Mitglieder der Interessengruppe, von deren Aktivität allerdings auch Nichtmitglieder profitieren können. Als Problem sollte in diesem Zusammenhang das Free-rider-Verhalten nicht unerwähnt bleiben (Stiglitz und Schönfelder 2000). Free-rider-Verhalten (auch Tritt‐ brettfahrerverhalten) kennzeichnet das Phänomen, dass Individuen den Nutzen eines Gutes erlangen, ohne dafür zu bezahlen. Ein solches Verhalten kann nur bei Gütern auftreten, bei denen keine Ausschließbarkeit möglich ist. Ein Beispiel sind Lohnerhöhungen aufgrund von Gewerkschaftsdruck, <?page no="102"?> der auf die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber ausgeübt wurde. Diese Lohn‐ erhöhungen werden auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gewährt, die als Trittbrettfahrende nicht in der Gewerkschaft organisiert sind (Frey 1981). Ob sich Interessengruppen eine rationale Wirtschaftspolitik wünschen, ist fraglich. Vielmehr werden wohl Bedürfnisse der Gruppe im Vordergrund stehen, da eine Nutzenmaximierung der Gruppeninteressen zu erwarten ist. - Lobby wird benötigt, um Ziele durchzusetzen Um ihre Ziele durchzusetzen, benötigt ein Verband eine Lobby, welche im politischen Bereich ihre Interessen vertritt und durchsetzt, obwohl die Gruppe unter Umständen repräsentativ zur Bevölkerung nur eine Min‐ derheit darstellt. Politikerinnen und Politiker sind sich dieses Einflusses bewusst, Interessengruppen ohne Lobby scheinen ihnen daher weniger beachtenswert (Olson 2004). Natürlich können auch staatliche oder halb‐ staatliche Stellen, Mitgliedergruppen oder Organisationen einer etwa beste‐ henden Einheitspartei als Interessengruppe auftreten und handeln, sofern gemeinsame Anliegen und Wünsche bestehen. 7.2 Informationsmacht der Interessengruppen - Autokraten müssen sich Informationen „kaufen“ Ein Diktator kann schwerlich als „absoluter“ Regent bezeichnet werden, denn auch er bleibt von Daten über die nationale und internationale Situation abhängig (Schumpeter 2020). Diese Informationsdefizite können unter Umständen Interessengruppen abbauen, indem sie der Regierung und Verwaltung Daten, die sie in ihrem eigenen Wirtschaftsbereich meist zur Genüge besitzen, zur Verfügung stellen. Ein rational denkender Diktator wird sich der Begrenztheit seines Wissens bewusst sein (Bernholz 1975). Er ist auf konkurrierende und billige Informationen angewiesen, um den Staat möglichst effektiv zu steuern. Diese Informationen können von Interessen‐ gruppen geliefert werden, die so im Rahmen ihrer Möglichkeiten die Ziele des Autokraten beeinflussen und eigene Wünsche anhängen können. 102 7 Autokratie und Einfluss von Interessengruppen <?page no="103"?> Beispiel | Sowjetunion Als Beispiel ein Rückblick auf die ehemalige kommunistische sowjeti‐ sche Diktatur: Die öffentlichen Behörden, Institutionen und Betriebe, die in öffentlichem Eigentum standen, verfügten durchaus noch über genügend Einfluss, die politischen Ziele in ihre Richtung zu lenken (Bernholz 1975). Dies lässt sich unter anderem durch mangelnde Kon‐ trollmöglichkeiten seitens des Regierungsapparates erklären. „So ist z. B. bekannt, dass sich sowjetische Industrieministerien und regionale Be‐ hörden sogar gesetzeswidrig für die Belange der von ihnen vertretenen Betriebe einsetzten“ (Bernholz 1975, S.-95). - Angedrohte Strafen erleichtern die Informationsbeschaffung Selbst ein Autokrat wird also auf die Wünsche der Interessengruppen eingehen müssen. Allerdings kann er sich die von ihm gewünschten Infor‐ mationen durchaus auch durch die Androhung von Strafen und Gewalt verschaffen. In diesem Fall können er und sein Apparat natürlich nicht wis‐ sen, ob nicht gefälschte Informationen geliefert werden, da eine Kontrolle unter Umständen sehr kostspielig ist. Eine eigenständige Erhebung dieser Daten erscheint im Vergleich zu den kostenlosen Informationsquellen der Verbände wenig rational. 7.3 Zuwendungen für Interessengruppen - Es gilt, Unterstützungskoalitionen aufzubauen Diktaturen von Dauer sind jene, die Mechanismen zur Informationsge‐ nerierung entdecken und einrichten. Informationen und Unterstützung kosten aber, wie bereits erwähnt, selbst den Autokraten etwas. Er wird also „automatisch“ seine Unterstützenden belohnen und gleichzeitig ihre Unterstützung überwachen. Autokraten finanzieren diese Programme durch Besteuerung und systematisches Unterdrücken der Opposition. Demnach ist eine Lösung für das Problem des Erhaltens von Unterstützung die Verteilung von Zuwendungen, d. h., Unterstützende überzubezahlen. Ein Diktator „kauft“ die Loyalität und auch das Wissen einer Gruppe. Dabei gibt er ihnen 7.3 Zuwendungen für Interessengruppen 103 <?page no="104"?> mehr, als sie unter einem anderen Regime zu erwarten hätten. Wichtiges Ziel sind also Unterstützungskoalitionen mit wichtigen Interessengruppen, um die Macht zu erhalten. Verringert ein Autokrat die Unterstützung für zentrale Interessengruppen, begibt er sich in Gefahr. Die Gruppen könnten Vorteile bei oppositionellen Gruppen sehen und den Kontakt aktiv suchen. Dies wird insbesondere dann der Fall sein, wenn eine Unterstützung der Opposition mehr Ressourcen verspricht als ein Verbleib im Machtzirkel. Die begünstigten Gruppen können also die erhaltenen Ressourcen nutzen, um einen Autokraten zu stürzen. - Ein Stück deutscher Geschichte Der Autokrat Hitler war beispielsweise unter deutschen Ärzten beliebt, weil sie Vorteile erwarteten. Deutsche Ärzte und Funktionäre im medizinischen Bereich traten selbst in eine Führungsrolle (Kater 1983) und schlossen proaktiv jüdische Ärzte aus dem Berufszweig aus, übernahmen deren Praxen und gewannen damit neue Patientinnen und Patienten. Eigentlich wäre anzunehmen, dass Hochgebildete unsinnige Kriterien wie die Kopfform als ein Indiz für die Feststellung des menschlichen Wertes ablehnen müssten. Stattdessen übernahmen Mediziner größtenteils die Einstellung, dass sie Experten in medizinischen Sachfragen seien und damit die Basis für die Politik des Regimes bildeten. An den deutschen Universitäten blieben die Handlungen der Nazimediziner lange ein Tabuthema (Stiehm 2002): Keiner von 332 befragten Medizinstudierenden der Humbolt-Universität Berlin beantwortete beispielsweise alle Wissensfragen zu Medizin und Nationalsozialismus richtig. Bemerkenswert war bei dieser Studie jedoch, dass das Unwissen nicht am mangelnden Interesse der Studierenden lag: Gut 60 Prozent wünschten mehr Informationen über durchgeführte Maß‐ nahmen. Über 90 Prozent der Probanden meinten, dass sie insgesamt mehr über Medizin im Nationalsozialismus wissen wollen. Die Geschichte wurde und wird weiter aufgearbeitet. Im Jahr 2011 legte beispielsweise die deutsche Bundesärztekammer den von einer unabhängigen Expertengruppe erstellten Forschungsbericht „Medizin und Nationalsozialismus“ als Buch vor ( Jütte, Eckart, Schmuhl und Süß 2011). Auf der Website der Ärztekammer finden sich zudem Schuldeingeständnisse (→-Abbildung 15). 104 7 Autokratie und Einfluss von Interessengruppen <?page no="105"?> Abbildung 15: Auszug aus der Website der Bundesärztekammer Quelle: https: / / www.bundesaerztekammer.de/ baek/ ueber-uns/ aerzteschaft-im-nationalso zialismus, abgerufen am 21.12.2022 Beispiel | Apartheidregime (Südafrika) Es finden sich eine Reihe von internationalen Beispielen für Belohnun‐ gen von Interessengruppen: Das Apartheidregime in Südafrika wurde stark von weißen Arbeiterinnen und Arbeitern unterstützt, deren Löhne niemals so hoch gewesen wären, wenn ihre Arbeitsplätze ihren farbigen Kolleginnen und Kollegen zugänglich gewesen wären. Kapitalistinnen und Kapitalisten erging es ebenso gut unter dem despotischen Regime, seit die Apartheidgesetze eine Ansammlung von „billigen“ farbigen Arbeitskraft generierte. 7.3 Zuwendungen für Interessengruppen 105 <?page no="106"?> Welche Bezahlungsvarianten sind denkbar? Im Allgemeinen ist der einfachste Weg, das Problem der Unterstützung durch eine Überbezahlung von aktuellen und potenziellen Unterstützerin‐ nen und Unterstützern zu erreichen, d. h., diesen mehr zu zahlen, als sie wert sind. Die Unterstützung von ● Arbeiterinnen und Arbeitern kann z. B. durch Zahlung von exzessiven Löhnen erhalten werden, ● Kapitalistinnen und Kapitalisten z. B. durch das Gewähren von Mono‐ polprivilegien, ● Militärangehörigen durch hohe Löhe und zusätzliche Ämter, ● bestimmten Regionen z. B. durch das Platzieren von Herstellungsein‐ richtungen an Orten, wo sie nicht wirklich hingehören, aber politisch wertvoll sind, ● ethnischen Gruppen z. B., indem ihnen spezielle Privilegien erteilt werden usw. Beispiel | Caracallas (Römisches Reich) Während der Diktatur des römischen Herrschers Caracallas kam es zu einer ausgeprägten Bevorzugung der Armee (Menningen 2005). Der Ty‐ rann verhängte willkürlich Geldstrafen und immer neue Steuern für die Bürger, wodurch er eine Reihe von wohlhabenden Familien in den Ruin trieb. Die Soldaten genossen ihrerseits gerne ein Luxusleben, während die übermäßigen Solderhöhungen und Schenkungen die Staatskasse mehr und mehr belasteten. - Autokratische Systeme lernen Der Einfluss der Interessengruppen durch Informationsvermittlung darf nicht überbewertet werden. Bei mehrmaliger Wiederholung ähnlich oder gleich strukturierter Maßnahmen in Autokratien kann die autokratische Verwaltung eigene Erfahrungen sammeln und einbringen. Genauso helfen hier oft wissenschaftliche Beratungsgremien sowie die (eingeschränkte) öffentliche Meinungsforschung. Der ehemalige Chefredakteur des „Journal of Development Economics“ Pranab Bardhan (1993) argumentiert zudem, dass Autokraten durch ihre weitgehenden Entscheidungskompetenzen we‐ sentlich immuner gegen die Anliegen von Interessengruppen sind und sie 106 7 Autokratie und Einfluss von Interessengruppen <?page no="107"?> dadurch leichter Gesetze durchsetzen könnten, die Wirtschaftswachstum und/ oder das Allgemeinwohl fördern. 7.4 Marktmacht der Interessengruppen In einer Diktatur kann eine Interessengruppe durch Boykotte oder ver‐ gleichbare Maßnahmen auf sich aufmerksam machen, wobei es weniger in ihrem Interesse liegt, Wählerinnen und Wähler zu beeinflussen, sondern das Ziel verfolgt wird, die Aufmerksamkeit des Herrschers zu gewinnen, um so die eigene Stärke zu beweisen. Beispiel | Deutschland In Deutschland kam es zu fortgesetzten Terroraktionen der eigenen paramilitärische Kampforganisation SA (= Sturmabteilung), obwohl die NSDAP seit dem 5. Juli 1933 bereits Staatspartei war (Göbel 1985). Diese Aktionen wurden jedoch nur kurzfristig vom Diktator Hitler gebilligt, er sah sich zu geeigneten Schritten veranlasst, um den Einfluss der innerparteilichen Interessengruppe zu mindern. - Die Macht von halbstaatlichen Stellen in Autokratien Die Meinungsfreiheit ist in autokratischen Systemen durch die Beschrän‐ kung der Rundfunk- und Fernsehrechte und die Kontrolle des Internets stark reduziert. Es liegt hier in der Hand des Autokraten, im Bereich seines Machtpotenzials mit Hilfe des Polizei- und Militärapparates, welcher ihm jedoch auch selber gefährlich werden könnte (→ Kapitel 3.2), seine Anliegen durchzusetzen. Ein Autokrat wird sich also bewusst sein, dass er in der Abhängigkeit herrscht, die Hilfe einiger Menschen zum Handeln und Unterdrücken zu benötigen (Schumpeter 2020). Ein Autokrat ist in jedem Fall darauf angewiesen, dass seine Instruktionen auf zuverlässige Art und Weise ausgeführt werden. Hier treten besonders die staatlichen und halbstaatlichen Stellen als Interessengruppen hervor, denn nur in der Koordination mit diesen werden die Befehle ausgeführt, die garantieren sollen, dass die Ziele erreicht werden, die der Autokrat anstrebt (Bernholz 1975). Die Behörden können z. B. getroffene Entscheidungen in 7.4 Marktmacht der Interessengruppen 107 <?page no="108"?> erheblichem Umfang sabotieren, „indem die Durchführung verzögert, durch einen erheblichen Verwaltungsaufwand verteuert oder durch einen ‚Dienst nach Vorschrift‘ behindert wird, notwendige Informationen an die passiven Träger nicht oder verfälscht weitergeleitet oder Ermessensspielräume ein‐ seitig ausgenutzt werden“ (Ramb 1987, S.-164). - Bürokratie als Interessengruppe kann bremsen Bürokratien sind in Autokratien nicht von Grund auf ineffizient. Der grundsätzlichen Fehler ist ein anderer: Er liegt darin, dass sich die Loyalität zur Regierungsspitze über die Zeit zu verschlechtern scheint und durch Allianzen zwischen den Bürokratinnen und Bürokraten selbst ersetzt wird (Wintrobe 1998). Die Bürokratinnen und Bürokraten nutzen ihre Verbin‐ dungen, um ihren eigenen Reichtum zu mehren oder Freunden Gefallen zu erweisen. Berichte, die an die Spitze der Hierarchie geleistet werden sollen, werden „geschönt“, um die eigene Leistung besser erscheinen zu lassen. Bürokratien müssen aus diesem Grunde periodisch „aufgerüttelt“ werden, wie es in der kapitalistischen Geschäftswelt geschieht, wenn eine Übernahme erfolgt, oder in demokratischen Systemen, wenn eine neue Partei an die Macht kommt und den Apparat austauscht. Hier liegt die Kraft der Marktwirtschaft und der Demokratie. In Diktaturen kommt es oft über Jahrzehnte nicht zu solchen Änderungen. Wenn sie eingeleitet werden, geschieht dies oft in Verbindung mit brachialer Gewalt. Beispiel | Stalin (Sowjetunion) Maßnahmen können so genannte „Partei-Säuberungen“ sein, welche am bekanntesten durch Stalin von 1935 bis 1939 eingesetzt wurde, um die Dominanz über die Partei zu erlangen und die Loyalität der Bürokratie zu sichern. In dieser Zeit etwa fielen 1.000 Menschen pro Tag den Säuberungen zum Opfer und wurden hingerichtet. Schätzungen gehen von über 700.000 Todesopfern aus, über eine Million wurde in die Lager deportiert (Rogwin 1999). Diese „Säuberungstechnik“ zeigte sich neben der Menschenverachtung mit einem weiteren Fehler behaftet: der Unbestimmtheit. Unter Stalin z. B. war der Prozess erst abgeschlossen, als diejenigen, die die Säuberung vornahmen, selbst ausgelesen wurden. So endeten die Übeltäter des Prozesses selbst unter den Opfern, was nicht ungewöhnlich ist für Gesellschaften, welche ohne die Herrschaft 108 7 Autokratie und Einfluss von Interessengruppen <?page no="109"?> des Gesetzes operieren. Unter Mao war es während der Großen Kultur‐ revolution nicht viel anders. - Konkurrenz der Interessengruppen in Autokratien In einer Diktatur stehen unterschiedliche Interessengruppen in einem Kon‐ kurrenzverhältnis zueinander (Maser 1985). Allerdings besitzt ein Diktator die Möglichkeit, diese von Zeit zu Zeit in Form einer politischen Säu‐ berung zu beseitigen, um ein warnendes Beispiel für eine zu ausgiebige Ausnutzung ihres Einflussspielraumes zu setzen (→ Kapitel 7.5). Selbst im Extremfall bleibt wenigstens eine Interessengruppe bestehen, denn ohne starke Armee, Miliz oder Polizei wird eine (zumindest schwach legitimierte) autokratische Regierung schwerlich bestehen können (Ramb 1987). „Sogar der mächtigste Tyrann ist abhängig von seiner Geheimpolizei, von seinen Helfern und Henkern“, bemerkt der Philosophen und Wissenschaftstheore‐ tiker Karl Popper (1970, S. 171) daher zu Recht. Die Politikwissenschaftler Aurel Croissant und David Kuehn (2020, S. 39) betonen, dass die „Rolle des Militärs in Nicht-Demokratien oft zentral“ ist. Beispiel | Röhm-Putsch (Drittes Reich) Als Beispiel für die Konkurrenz von Interessengruppen mögen Analysen aus der Zeit des Dritten Reiches dienen. So standen sich z. B. im Dritten Reich 1934 die SA-Führung mit dem Reichsführer SA Röhm an der Spitze auf der einen Seite sowie auf der anderen die Reichswehr und die innerparteiliche SA-Opposition (Heß, Heydrich, Himmler und Göring) gegenüber. Diktator Hitler beendete den Konkurrenzkampf brachial (Höhne 1984). Die in Ungnade gefallene Führungsspitze der SA wurde als Interessengruppe mit der fadenscheinigen Begründung beseitigt, einen Putschversuch (so genannter Röhm-Putsch) geplant zu haben (Thamer 1986). Solche Beseitigungsmaßnahmen gehen allerdings in der Regel mit der Stärkung einer anderen Gruppe einher. In Bezug auf das vorangegangene Beispiel ist der „kometenhafte“ Aufstieg der SS (= Schutzstaffel der NSDAP) unter der Führung von Himmler zu erwähnen. Die Machtbefugnisse der SS wurden nach der Entmachtung der SA stark erweitert (Erdmann 1985). Nach dem Röhm-Putsch wurde die SS zu einer 7.4 Marktmacht der Interessengruppen 109 <?page no="110"?> eigenständigen paramilitärischen Organisation der NSDAP, die zugleich eine Art parteiinternen „Polizeidienst“ ausübte. - Beseitigung von Interessengruppen in Demokratien In einer Demokratie scheint die Beseitigung von Interessengruppen un‐ längst schwerer als in einer Autokratie. Ihr Zusammenschluss wird sogar als grundlegendes Freiheitsrecht bezeichnet (Weizsäcker 1984). In Deutschland würde eine Beseitigung von Interessengruppen zudem im Konflikt zum Grundgesetz (2022) stehen (Art. 9 Grundgesetz „Vereinigungsfreiheit“). Die Beschränkung der Macht der Verbände wird allerdings vielfach befürwortet, weil diese zu stark auf ihrer Macht beharren können und so, wie der Ökonom Mancur Olson (2004, S. 103) es ausdrückt, eine „institutionelle Sklerose“ eintreten könnte, die die Anpassung einer Gesellschaft an sich ändernde Ansprüche verzögert. 110 7 Autokratie und Einfluss von Interessengruppen <?page no="111"?> 8 Autokraten und Krieg Das Kapitel im Überblick | Sie können … ● beschreiben, warum Autokratien eine stärkere Kriegsneigung als Demokratien haben. ● einschätzen, welche Kriegsgefahren von Demokratien ausgehen. ● die Vertrauenswürdigkeit von Autokraten einschätzen. ● hybride Systeme hinsichtlich der vorhandenen Kriegsneigung be‐ werten. ● Krieg als interne Legitimitätsquelle für Autokraten beschreiben. 8.1 Neigungen zu kriegerischen Handlungen - Kriege werden eher von diktatorischen Regierungen angezettelt Diktatoren besitzen zweifelsohne einen großen Aktionsfreiraum zur Expansion durch kriegerische Handlungen. Demokratien hingegen verfü‐ gen über weit mehr institutionelle Kontrollen und höhere prozedurale Hürden vor einem Kriegseintritt. Kombinieren lässt sich dieser diktatorische Freiraum mit dem diktatorischen Dilemma, die Macht ständig innen- und außenpolitisch sichern zu müssen. Daraus resultiert eine einfache Erklärung für eine besondere Neigung von Diktatoren, sich an Kriegen zu beteiligen oder selbst welche zu initiieren. Der Politikwissenschaftler Michael Brecher (1999) identifizierte einige historische Beweise, dass ein nichtdemokratisch geführter Staat bei einer Eskalation in der Außenpolitik mit einer größeren Wahrscheinlichkeit gewalttätig wird als sein demokratisches Pendant. Beispiel | Russischer Angriffskrieg gegen die Ukraine Ein aktuelles Beispiel für die Kriegsaggression einer Autokratie stellt der russische Angriffskrieg vom 24. Februar 2022 gegen das Nachbar‐ land Ukraine dar. Kurz zuvor hatte der Autokrat Wladimir Putin das Existenzrecht der Ukraine als autonomer Staat in Zweifel gezogen <?page no="112"?> und die so genannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk in der Ostukraine anerkannt. Es schien sein ausdrücklicher Wille zu sein, die kriegerischen Handlungen aufzunehmen. Unterstützt wurde sein Handeln durch massive staatliche Propaganda in den Medien (Luther 2022). - Nicht jede Form der Autokratie ist gleich kriegerisch Die Inhaberin des H. Douglas Weaver Lehrstuhls in Diplomacy und Interna‐ tional Relations an der Wisconsin University Jessica Weeks (2012) analysierte unterschiedliche Autokratietypen und leitete erhebliche Unterschiede bei der Konfliktinitiierung zwischen autokratischen Subsystemen ab. Demnach sind vor allem autoritäre und despotische Systeme eher Initiatoren von Konflikten. Je stärker der Einfluss von Elitegruppen außer dem Militär in einer Autokratie (wie etwa in einer Monarchie die Angehörigen des Adels), desto geringer ist die Tendenz, kriegerische Handlungen zu initiieren. - Autokraten sind wenig vertrauenswürdig Das Versprechen eines Diktators, demokratische Nachbarstaaten nicht an‐ zugreifen, ist weniger vertrauenswürdig als das gleiche Versprechen eines demokratisch gewählten Führers bzw. einer Führerin. Das Versprechen der Letzteren wurde formell zwischen den exekutiven und legislativen Organen der Demokratie ratifiziert, welches es umgekehrt bindend für die Exekutive macht. Ein Diktator hat keinen ähnlichen Weg, sein Versprechen ebenso vertrauenswürdig für einen ausländischen Führer bzw. eine Führerin zu machen. Wird der These des Aufklärungsphilosophen Immanuel Kant (1984) Glau‐ ben geschenkt, dass Demokratien keine Kriege gegen Demokratien führen, kann sich eine Demokratie mit demokratischen Nachbarstaaten sicher füh‐ len. Kants Werk „Zum ewigen Frieden“ stammt aus dem Jahr 1795 und wurde wiederholt wiederaufgelegt. Es hat bis heute eine hohe aktuelle Bedeutung, denn der Inhalt ist für eine internationale Friedensgemeinschaft gestaltet. Kant (1984) begründet seine These mit den internalisierten gewaltfreien Mustern der Konfliktbehandlung in Demokratien, die nach außen projiziert und für die angemessene Umgangsform gehalten werden. Krieg stellt das Gegenteil eines zivilisierten, von Drohung und Gewalt freien Streits dar 112 8 Autokraten und Krieg <?page no="113"?> und führt unvermeidlich zu Verletzungen von Menschenwürde und -rechten sowie zu Verlust von Leib und Leben. Demokratische Staatsbürgerinnen und -bürger als moralische Personen sind daher gewissermaßen die natürlichen Kriegsgegnerinnen und -gegner. Eine kriegerische Aggression gegen einen demokratischen Nachbarn wäre den Staatsbürgerinnen und -bürgern sehr schwer vermittelbar und damit eine Wiederwahl der verantwortlichen Politikerinnen und Politiker extrem gefährdet. 8.2 Demokratien als vermeintliche Horte des Friedens - Auch Demokratien führen Kriege Die Wahrscheinlichkeit, dass die Kriegsgegnerschaft in einer demokrati‐ schen Öffentlichkeit die Mehrheit hält, ist allgemein sehr hoch. Es sei denn, es liegt ein Verteidigungsfall vor, der dem demokratischen Gemeinwesen von einem aggressiven Angreifer von außen aufgezwungen wird. In der Pra‐ xis kommen noch weitere Gründe hinzu, denn die westlichen Demokratien haben in jüngster Vergangenheit eine Reihe von kriegerischen Handlungen aufgenommen: im Golfkrieg, in Somalia, in Bosnien, im Irak bei der Opera‐ tion Desert Fox, im Kosovo und in Afghanistan. Nur der Krieg in Afghanistan könnte in einer weiten Interpretationsauslegung mit einer Selbstverteidi‐ gung zum Schutz der Bevölkerung in Verbindung gebracht werden. In den anderen Fällen lagen (teils scheinbare) Verletzungen des Völkerrechts vor, die den Gang zu den Waffen in den Augen einiger Demokratien nötig machten. Besonders schwierig erscheint die Begründung für den Golfkrieg, da die USA und Großbritannien unterstellten, dass der Diktator Hussein im Besitz von und im Aufbau von Massenvernichtungswaffen war, die er gegen die westliche Welt einsetzen könnte. Diese Argumentationslinie beruhte auf einer sehr hypothetischen These, die sich nachträglich als eindeutig unwahr erwies. Dies mag vielleicht die Begründung sein, warum viele andere westliche Demokratien dem Kriegsruf der USA nicht gefolgt waren. - Nur gereifte Demokratien sind friedlich Der Direktor der Abteilung Demokratie und Demokratisierung am Wissen‐ schaftszentrum Berlin für Sozialforschung Wolfgang Merkel (2006, S. 9) schränkt die Friedfertigkeit demokratischer Staaten sinnvollerweise ein, 8.2 Demokratien als vermeintliche Horte des Friedens 113 <?page no="114"?> indem er studienbasiert feststellt, „dass instabile hybride Regime mit einer 60 Prozent höheren Wahrscheinlichkeit in Kriege verwickelt werden als Demokratien und Diktaturen“. Solche hybriden Systeme sind zwischen Demokratie und Autokratie anzusiedeln (→ Kapitel 3.7). Hybride Systeme befinden sich im Wandel und sind dadurch oft Objekt und Subjekt kriege‐ rischer Auseinandersetzungen. Nur reife Demokratien ziehen also nicht gegeneinander in den Krieg, eine Tatsache derer sich Analytikerinnen und Analytiker bewusst sein müssen. 8.3 Erobern mehrt den Ruhm und lenkt ab - Ruhm möchte ich als Autokrat genießen Zur Denkweise eines Autokraten: Es gibt für ihn vielleicht keinen sichereren Weg, die Loyalität der eigenen Bevölkerung zu inspirieren, als mit dem Ruhm und den Beutestücken von ausländischen Eroberungen. Dies ist kein schwieriges Unterfangen, denn Diktatoren brauchen, wenn sie Krieg führen möchten, keinen Konsens. Höchstens eine Absprache mit einflussreichen Interessengruppen wie etwa dem Militär oder den Geheimdiensten ist zu leisten, um in einen Krieg einzutreten. Kriege können z. B. von Armutsproblemen oder allgemein verfehlten Wohlstandszielen ablenken. Intern sind die wirtschaftlichen Mittel, um die Bevölkerung zu befriedigen, limitiert. Rettung bringt das außenpolitische Instrument Krieg. Kriege sind also in vielen Fällen als reine Ablenkungsst‐ rategien zu interpretieren. Diese Gefahrenquelle sollte von den westlichen Demokratien nicht übersehen werden. - Erfolgreiche Kriege erhöhen die interne Legitimität Durch einen Angriffskrieg kann ein Diktator seine eigene Furcht um sein Amt verringern. Diejenigen, welche in friedlichen Zeiten versuchen könnten, ihn seines Amtes zu entheben, könnten in Kriegszeiten gut unter fadenscheinigen Gründen angeschuldigt werden, mit ausländischen Mäch‐ ten zusammenzuarbeiten. Ferner kann der Krieg als Erklärung dienen, um den gesamten Sicherheitsapparat auszubauen. 114 8 Autokraten und Krieg <?page no="115"?> Beispiel | Krim-Annexion Der Autokrat Putin führte im Jahr 2014 bereits einen ersten Krieg gegen die Ukraine, als externen Feldzug, der in der Annexion der Krim endete. Das Ziel des Autokraten war, Handlungsfähigkeit und Stärke aufzuzeigen, um die interne Legitimität zu stärken. Die Aktion war erfolgreich, der Despot wurde für seine Tat national gefeiert. Zusammen mit dem russischen Beistand für prorussischer Separatisten in der Ost‐ ukraine erfolgte allgemein eine militärisch-patriotische Mobilisierung der russischen Gesellschaft (Ševcova 2015). - Die internationale Arbeitsteilung geht vergessen Autokraten vernachlässigen oft einige Folgeprobleme aus kriegerischen Handlungen: Sie sind in vielen Fällen angewiesen auf die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Rohstoffen aus anderen Ländern. Wenn der Zugang zum Weltmarkt aufgrund kriegerischer Handlungen eingeschränkt wird, verschlechtern sich die Lebensbedingungen im Inland. Ursache können hierfür z. B. Sanktionen oder Blockaden von Häfen oder Meeresbzw. Landwegen durch andere Länder sein. Der Berater der Foundation for Economic Education Ludwig von Mises (2011) erklärt etwa das Scheitern des Autokraten Adolf Hitler im Zweiten Weltkrieg unter anderem durch den Umstand, dass die britische Seeblockade (= Seesperre) nicht entschei‐ dend durchbrochen werden konnte. Hierdurch fehlten Nazi-Deutschland unter anderem wichtige Rohstoffe zur Produktion von Kriegsgütern und allgemein Versorgungsgüter. Wissen | Arbeitsteilung Aus volkswirtschaftlicher Sicht handelt es sich bei der Arbeitsteilung, um eine Form der Spezialisierung. Jedes Individuum konzentriert sich dabei auf eine Tätigkeit, für die es die entsprechenden Kompeten‐ zen mitbringt. In der heutigen Gesellschaft ist eine Wirtschaft ohne Arbeitsteilung nicht mehr vorstellbar. Arbeitsteilung kann sich auf unterschiedlichen Ebenen vollziehen, wie etwa bei der Produktion in einem Unternehmen oder zwischen unterschiedlichen Nationen. Bei letzterer Form liegt eine internationale Arbeitsteilung zwischen zwei 8.3 Erobern mehrt den Ruhm und lenkt ab 115 <?page no="116"?> oder mehreren verschiedenen Staaten vor. Begründet werden kann die Arbeitsteilung durch unterschiedliche Arbeitskosten, historische Gegebenheiten, Rohstoffvorkommen oder klimatische Bedingungen. Der Ökonom Adam Smith entwickelte aus diesem Ansatz im Jahr 1776 die Theorie der absoluten Kostenvorteile ab. Staaten sollten sich demnach auf die die Güterproduktion konzentrieren, die zu einem absoluten Kostenvorteil führen. D. h., Güter, die ein Staat günstiger bzw. schneller herstellen kann als externe Wettbewerber. Dies würde den Handel und die Wohlfahrt in den Volkswirtschaften fördern. Im Jahr 1817 wurde die Theorie von Smith um den komparativen Kostenvorteil durch den Ökonom David Ricardo erweitert. Internationaler Handel kann demnach für alle Nationen vorteilhaft sein, auch wenn eine Nation auf keinem Gebiet absolute Kostenvorteile vorweisen kann. Handel zwischen zwei Ländern lohnt sich für beide Parteien, selbst wenn ein Land alle Güter mit geringerem Aufwand herstellen kann als das andere. Ausschlaggebend sind die so genannten Opportunitätskosten zwischen den Ländern, also dem aus dem Einsatz von Ressourcen entstehenden Verzicht auf alternative leistungsfähigere Verwendungs‐ möglichkeiten dieser Ressourcen. Handelshemmnisse wie Zölle werden in diesem Ansatz allerdings ausgeblendet. Der ehemalige Präsident der American Economic Association Jacob Viner (1932) bestätigte empirisch den Ansatz von Ricardo. Das strategische Problem von kriegerischen Autokratien wird daher durch die Bedingungen der internationalen Arbeitsteilung bestimmt, indem sie sich im Extrem vom Weltmarkt abkapseln und wichtige komparative Kostenvorteile ungenutzt bleiben. Ein ökonomisches Resultat daraus ist ein eingeschränkter Wohlstand in der autokratischen Nation sowie auch eine Einschränkung des Welt‐ handels allgemein (vgl. auch die Ausführungen in → Kap. 9). Damit sind auch alle Handelspartner: innen des autokratischen Staates und seiner Verbündeten sowie ganze internationale Lieferketten verbunden. Das Niveau des Rückgangs ist von zahlreichen Faktoren abhängig, wie von der Stellung der kriegerischen autokratischen Nation im Welthandel sowie den Sanktionen gegen diese Nation. 116 8 Autokraten und Krieg <?page no="117"?> 9 Umgang mit Autokraten Das Kapitel im Überblick | Sie können … ● die Strategie „Wandel durch Handel“ im Umgang mit Autokratien veranschaulichen. ● die möglichen Wirkungen von Hilfeleistungen für Autokraten kenn‐ zeichnen. ● die Zweckmäßigkeit von Sanktionen gegen autokratische Systeme bewerten. ● Gründe kriegerischer Handlungen gegen Autokratien erläutern. ● einen Wirtschaftskrieg als Handlung gegenüber Autokratien be‐ schreiben. 9.1 Grundgedanken zum Umgang mit Autokraten Welche Politik sollte eine demokratische Regierung beim Umgang mit Diktaturen verfolgen? Bei der Beantwortung dieser Frage wird von der Annahme ausgegangen, dass das ureigenste Interesse von Demokratien darin besteht, die Freiheit zu fördern - im eigenen Land und in fremden Ländern. - Sieh es trivial schwarz-weiß Eine recht einfache Lösung liefert ein Ansatz aus den 1980er-Jahren. Autorin der Studien war die Politikwissenschaftlerin Jeane Kirkpatrick (1982), die unter dem früheren US-Präsidenten Ronald Reagan Botschafterin der Ver‐ einten Nationen wurde. Sie klassifizierte in ihrem trivial anmutenden Modell lediglich zwei Ausprägungen von Diktaturen: totalitäre und traditionelle Autokratien. Nach dem in → Kapitel 3 vorgestellten Klassifikationsschema wären monarchische und teils auch autoritäre Systeme unter den traditio‐ nellen Autokratien einzuordnen. Totalitäre und despotische sowie teils autoritäre Systeme wären unter den totalitären Autokratien zu gliedern. Der Interpretation von Kirkpatrick nach regieren Diktatoren allein durch Unterdrückung, weshalb der Hauptunterschied zwischen beiden Typen <?page no="118"?> in der Stufe der Unterdrückung besteht. Der erste Typ „Totalitarismus“ wird charakterisiert durch massive Beeinflussung des wirtschaftlichen und sozialen Lebens der Staatsbürgerinnen und -bürger. In der zweiten, der „traditionellen Autokratie“, ist die Unterdrückung hingegen gering. Kirkpatrick (1982) empfiehlt, dass die Vereinigten Staaten und andere Länder, welche daran interessiert sind, die Demokratie zu fördern, einen doppelten Standard bezüglich den beiden Autokratieausprägungen ver‐ folgen sollten: Genau gesehen eine relativ entspannte Politik gegenüber „traditionellen Autokratien“ und eine durch Sanktionen geprägte Politik gegenüber „totalitären Autokratien“. Kirkpatricks Analyse erscheint jedoch sehr einseitig, indem sie nur die Dimension Unterdrückung als Charakteris‐ tikum von Autokratien betrachtet. Der ehemalige Co-Direktor der Political Economy Research Group an der University of Western Ontario Ronald Wintrobe (1998) betont, dass neben „Unterdrückung“ noch die Dimension „Loyalität“ und damit zwei Instrumente, um Macht aufzubauen, zu unter‐ scheiden wären (→ Kapitel 4). Das Rahmenwerk von Kirkpatrick kann dahin interpretiert werden, dass einfach angenommen wird, dass „traditionelle Autokratien“ durch niedrige Stufen und „totalitäre Autokratien“ durch hohe Stufen dieser Variablen charakterisiert werden. Ein weiterer Mangel darf nicht übersehen werden: Viele der Regime, die dem Modell von Kirkpatrick nach als „traditionelle Autokratien“ bezeichnet werden - dies zeigte sich an Mitteln der Unterdrückung wie der Anzahl der Inhaftierten oder Ge‐ folterten -, sind nicht weniger unterdrückend als totalitäre Regime. Der offensichtlichste Fall war das Militärregime von Pinochet in Chile, das in dem Schema von Kirkpatrick als autoritäres Regime in die Kategorie „traditionelle Autokratie“ einzuordnen war. Beispiel | Chile Der chilenische Autokrat Pinochet hatte viele amerikanische Unterstüt‐ zer, die sein Regime als Bollwerk gegen den Kommunismus interpre‐ tierten. Zudem sollten vorhandene US-Investitionen in Chile geschützt werden. Viele neoliberale, US-inspirierte Wirtschaftstheorien wurden in der chilenischen Wirtschaftsordnung implementiert. Von Ländern, die wirtschaftliche Unterstützung der Weltbank erhofften, wurde sogar erwartet, dass sie Pinochets Politik des freien Marktes nachahmen sollten (Munoz 2008). Obwohl seit dem Putsch im Jahr 1973 chilenische und ausländische Staatsbürgerinnen und -bürger systematisch observiert, 118 9 Umgang mit Autokraten <?page no="119"?> verfolgt und gefoltert wurden. Des Weiteren wurden Menschen aus Flugzeugen geworfen und Massenmorde an politischen Gefangenen verübt (Munoz 2008). In der Regierungszeit werden mehr als 10.000 Opfer vermutet (Volkery 2006). Ein allgemeiner empirischer Test der Annahmen von Kirkpatrick wurde von den Wirtschaftsforschern Neil Mitchell und James McCormick (1988) geleistet. Sie konstruierten zwei Maßeinheiten für Verletzungen von Men‐ schenrechten - die Häufigkeit der Nutzung von Folter und die Anzahl der aus dem Verkehr gezogenen politischen Gefangenen. Ergebnis dieser Studie war, dass Militärregime und traditionelle Monarchien Folter als Unterdrück‐ ungsmittel häufiger einsetzen als totalitäre (marxistische) Regierungen und dies, obwohl sie die Inhaftierung weniger oft nutzen. Ein gemeinsamer Index aus Inhaftierung und Folter konnte keinen signifikanten Unterschied zwischen den Autokratieausprägungen feststellen. Wissen | Neoliberalismus Ein autokratisches System ist nicht automatisch mit einer bestimmten Wirtschaftsordnung verbunden. Der chilenische Autokrat Augusto Pi‐ nochet setzte beispielsweise auf einen neoliberalen Ansatz. In der So‐ wjetunion oder der Volksrepublik China wurde dagegen lange Zeit eine Planwirtschaft verfolgt. Pinochet brachte der neoliberale Ansatz viele internationale Sympathien und auf den ersten Blick wirtschaftliches Wachstum ein. Zentrale Forderung des Neoliberalismus ist, dass der Staat nur dann in die Wirtschaft eingreifen sollte, wenn diese durch wirtschaftliche Fehlentwicklungen (z. B. Monopolbildung) gefährdet würde. Die Wirtschaft hingegen korrigiert sich der neoliberalistsichen Theorie nach selbst und pulsiert, wenn sie in Ruhe gelassen wird. Den wissenschaftlichen Hintergrund des Ansatzes liefert die Chicago School of Economics mit vier zentralen Ansprüchen an ein neolibera‐ les System: 1. Privatisierung öffentlicher Unternehmen und Ressourcen, 2. Wirtschaftsderegulierung 3. Steuersenkungen (insbesondere für Unternehmen) sowie 4. Tiefgreifende Kürzungen der Staatsausgaben. 9.1 Grundgedanken zum Umgang mit Autokraten 119 <?page no="120"?> Als einer der bedeutendsten Vertreter des Neoliberalismus ist der US-amerikanische Nobelpreisträger Milton Friedman anzusehen. Er hatte als dessen wirtschaftlicher Berater enge Verbindungen zum chile‐ nischen Autokraten Pinochet. Die neoliberalen Ideen der Chicago School of Economics ließen sich in dem System von Pinochet aufgrund der Handlungsmacht des Autokraten leicht verwirklichen. Die wirkliche Quelle des wirtschaftlichen Erfolges von Pinochet ist allerdings mehr als umstritten. Teils wurden bereits vor dessen Putsch wirtschaftsför‐ dernde Strukturen vom demokratisch gewählten Vorgänger Salvador Allende geschaffen. Die Bestsellerautorin und Sozialaktivistin Naomi Klein (2007) kennzeichnet das neoliberale System von Pinochet eher als ökonomische Schocktherapie, die eng verbunden war mit Unterdrü‐ ckung und Folter. Gewerkschaften wurden als Bedrohung für die Wirt‐ schaft angesehen und deren Handeln stark eingeschränkt. Öffentliche Versammlungen wurden verboten. In einem Fall wurden einige chile‐ nische Schulkinder festgenommen, als sie gemeinsam um niedrigere Busfahrpreise kämpften. Für den Großteil der chilenischen Bevölkerung war der vermeintliche Aufschwung daher mit sinkenden Einkommen, steigender Arbeitslosigkeit, Armut und extremen Abbau der staatlichen Sozialfürsorge verbunden. Zentrale Profiteure waren hingegen interna‐ tionale Grosskonzerne und einige Oligrachen (Klein 2007). - Vorbildlicher Umgang der USA mit Autokratien? Es ist Fakt, dass die USA seit Jahrzehnten Autokratien unterstützt, die ihre Machtambitionen und Vormachtstellungen sichern. Die US-Regierung erlaubt, arrangiert oder finanziert direkte Waffenverkäufe an autokratische Systeme. Der Anwalt und Aktivist Rich Whitney (2017) nennt in seinem Artikel „US Provides Military Assistance to 73 Percent of World’s Dicta‐ torships“ als bekannte Beispiele die frauenfeindliche Monarchie Saudi-Ara‐ biens und die repressive Militärdiktatur in Ägypten. Der Journalist und Friedensaktivist David Swanson (2020) führt aus, dass durch diese Strategie Autokratien begünstigt und demokratische Entwicklungen im gesamten globalen Süden systematisch unterdrückt würden (→ Kapitel 4.5). Der globale Kampf gegen Autokratien und Totalitarismus ist also nichts anderes als eine Unterstützung ebendessen, wenn es den eigenen Machtansprüchen 120 9 Umgang mit Autokraten <?page no="121"?> und Zielen genügt. Dieses einseitige Vorgehen ist selbst durch das triviale Einteilungsschema von Kirkpatrick schwer zu rechtfertigen. - Konkrete Vorgehensweisen beim Umgang mit Autokraten Ausgangspunkt der Gedanken soll die idealistische Annahme sein, dass ein wesentliches Ziel der demokratischen westlichen Politik darin besteht, die Unterdrückung der Bevölkerung in Autokratien zu senken. Historisch gesehen haben sich die westlichen Demokratien allerdings nicht vorrangig mit diesem Ziel beschäftigt. Ausgangannahme sei, dass Kriege hauptsächlich zwischen zwei oder mehreren Diktaturen sowie zwischen Diktaturen und Demokratien auftre‐ ten. Kombiniert mit den enormen Kosten eines Krieges sollten Demokratien starke Motive haben, um die Welt auf anderen Wegen von Autokratien zu „befreien“ (→ Kapitel 9.5). Auf jeden Fall wäre es sinnvoll, danach zu fragen, was die optimale Politik zur Förderung des Friedens wäre. „Waffen“ im Arsenal der Demokratien sind in diesem Zusammenhang vor allem die Maßnahmen „Wandel durch Handel“, „Hilfspakete“, „Sanktionen“ und erst im letzten Schritt „kriegerische Handlungen“ (→ Abbildung 16). Die vier genannten Maßnahmen werden in folgenden Unterkapiteln genauer konkretisiert. Abbildung 16: Umgangsalternativen mit Autokraten Umgangsalternativen Wandel durch Handel Hilfeleistungen Sanktionen Kriegerische Handlungen Abbildung 16: Umgangsalternativen mit Autokraten - Offene Fragen bleiben Es bleibt jedoch auch die Frage, welche Maßnahme in welchen Situationen anzuwenden sind. Wäre dazu ein Frühwarnsystem, wenn sich eine Demo‐ kratie in eine Diktatur transformiert, sinnig? Soll eine Skala für Diktaturen zum politischen Umgang entwickelt werden? Etwa mit extrem schlechten Diktaturen oder weniger schlechten Diktaturen? Welche Kriterien sollten denn weniger schlechte Diktaturen kennzeichnen? Diktaturen, in denen die 9.1 Grundgedanken zum Umgang mit Autokraten 121 <?page no="122"?> Bürgerinnen und Bürger noch gewisse Rechte haben? In denen Reisefreiheit herrscht? In denen noch ein geringer Grad an Gewaltenteilung und eine Opposition existiert? 9.2 Wandel durch Handel Das Konzept des Wandels durch Handel im deutschsprachigen Raum geht auf den SPD-Politiker Egon Bahr zurück, der in den 1960er-Jahren den Fahrplan für eine neuen Politik im Umgang mit dem damaligen Ostblock entwickelt hatte, den Wandel durch Annäherung (Lau 2021). Politische Thesen dazu finden sich jedoch schon Jahrzehnte früher (Freytag 2022). Die Annäherung ist in einigen Ausprägungen denkbar: z. B. in Handelsbe‐ ziehungen, die zu wirtschaftlichen Verflechtungen führen oder in Modern‐ isierungspartnerschaften. - Ziele der Annäherung „Der gedankliche Kern ist, dass ein autoritäres Regime (damals die Sowjet‐ union) durch den Anreiz der wirtschaftlichen Öffnung auch politisch und gesellschaftlich aufgeschlossen werden soll“ (Lau 2021, S, 15). Durch den Handel sollen Länder besser kooperieren, sich kennenlernen, Intoleranzen vermindern und gegenseitiges Vertrauen entwickeln. Durch erwartbaren Verlust der Beziehungen sollten beide Handelsparteien schlechter gestellt werden, sodass ein Interesse bestehen sollte, die Beziehungen langfristig zu pflegen. Dass die Strategie „Wandel durch Handel“ erfolgreich verlaufen kann, zeigt die spätere Zusammenarbeit zweier ehemaliger Feinde im Ersten und Zweiten Weltkrieg, Deutschland und Frankreich. Beide Länder durchliefen einen beispiellosen Friedens- und Integrationsprozess, der zur Implementie‐ rung eines gemeinsamen funktionstüchtigen Europäischen Binnenmarktes führte. - Demokratie lässt sich nicht leicht schaffen Der westliche Traum war, dass sich die Autokratien durch die Annäherung langfristig (infolge des Performancedilemmas, → Kapitel 4.2) zu Demo‐ kratien transformieren. Petroautokratien wie Russland (→ Kapitel 3.6) funktionieren jedoch ganz anderes. Die Ergebnisse des Handels mündeten 122 9 Umgang mit Autokraten <?page no="123"?> in Russland nicht eins zu eins in die Schaffung von Beschäftigung und das Hervorbringen von produktiven Unternehmen. Vielmehr investierte eine kleine Minderheit der russischen Oligarchen in pompöse Yachten oder in nationale und internationale Luxusanwesen. Für die westlichen Staaten (insbesondere Deutschland) war das Geschäft so gesehen ein Ge‐ winn, wenn die exorbitanten Gewinne der korrupten russischen Eliten ausgeklammert werden. Die langjährige deutsche Kanzlerin Angela Merkel klammerte scheinbar am russischen Gemeinwohl orientierte Überlegungen weitgehend aus, um deutschen Wohlstand durch billiges Gas und andere Rohstoffe zu gewährleisten. Zudem begab sie sich in eine unheilsame Rohstoffabhängigkeit von einem Autokraten. Der russische Regimekritiker und Buchautor Leonid Wolkow (2022) kennzeichnet das Verhalten gegenüber der russischen Diktatur als geopolitische Naivität. Beispiel | Annäherung des Westens an Russland Die Annäherung an Russland war nicht exklusiv ein Phänomen der deutschen Politik. Gleiche Annäherungsschritte machen auch andere Regierungen, wie etwa die britische. Der damalige Premierminister Tony Blair erklärte etwa im Jahr 2003, dass die künftige Beziehung zu Russ‐ land keine gewöhnliche Handelsbeziehung, sondern von fundamentaler strategischer Bedeutung sei (o. V. 2003), und gewährte Putin höchste Staatsehren bei dessen viertägigem Aufenthalt in Großbritannien. - Eine einseitige Annäherung ist nie richtig sinnvoll Es soll nicht verschwiegen werden, dass auch Medikamente und ähnlich wichtige Zwischen- und Endprodukte nach Russland exportiert wurden. Es bringt aber kein Gleichgewicht zur enormen Abhängigkeit vom russischen Gas. Obwohl Russland 2014 die Krim annektiert hatte, wurde die Gasleitung Nordstream 2, die noch schneller mehr russisches Gas in die EU und vor allem nach Deutschland bringen sollte, gebaut. Die Pipeline hätte es Russland weiter erleichtert, seine Stellung auf dem EU-Gasmarkt zu stärken und sprach klar gegen eine Diversifi‐ kation der europäischen Energiepolitik in Richtung erneuerbare Energien. Erst mit dem Überfall auf die Ukraine wurde das (fertiggestellte) Projekt eingestellt und nicht in Betrieb genommen. Die ehemalige deutsche Kanzlerin Angela Merkel 9.2 Wandel durch Handel 123 <?page no="124"?> sprach sich im Juni 2022 in einem Interview selbst von Fehlern frei und sah keinen Grund für Entschuldigungen für die verfehlte Energiepolitik (Reichmuth 2022). - Wirkte die Annäherungspolitik in China? Zu einem anderen Beispiel und einer Frage: Zu welchem Wandel kam es für die chinesische Bevölkerung durch den intensiven Handel mit den westli‐ chen Demokratien? Die chinesische Autokratie verbindet wirtschaftliche Verknüpfung mit gesellschaftlicher Repression, es wird rigoros durchgegrif‐ fen, wie etwa das Beispiel Hongkong zeigt (Maizland 2022). Zur Erinne‐ rung: Bevor die britische Regierung Hongkong 1997 an die Volksrepublik China übergab, erklärte sich die chinesische Führung bereit, der Region 50 Jahre lang politische Autonomie (einschließlich Exekutiv-, Legislativ- und unabhängiger Justizbefugnisse) zu gewähren. In den vergangenen Jahren hat die chinesische Autokratie Hongkongs Freiheiten eingeschränkt und Massenproteste resolut unterdrückt. Im Jahr 2020 wurde ein nationales Sicherheitsgesetz erlassen, das weitreichende Rechte einräumte, um kriti‐ sche Stimmen und Andersdenkende zu bestrafen. Das Gesetz ermöglicht es z. B., eine Sicherheitstruppe in Hongkong einzurichten und die Auswahl von Richterinnen und Richtern zu beeinflussen (Maizland 2022). Nicht nur in diesem Fall sind also der westliche Neoliberalismus und damit einhergehende liberale Märkte vortrefflich mit unfreien Bürgerinnen und Bürgern aus autokratischen Systemen zu bewirtschaften. Die chinesische Autokratie verfolgt mit ihrer Außenwirtschaftspolitik selbst eine Variante von Wandel durch Handel. Allerdings genau in eine andere Richtung, als sich die westlichen Demokratien versprachen, nämlich im Sinne chinesischer Werte und Ideen. Fraglich ist, ob diese Form des Wandels durch Handel im Sinne der Demokratien ist. Beispiel | Impfstoff als Mittel der Diplomatie (China) Die Volksrepublik China verschenkt respektive verkauft günstig die eigenen Covid-Impfstoffe an Entwicklungsländer, um Macht und Anse‐ hen im Ausland zu stärken. Während sich die westlichen Demokratien vornehmlich um die Impfung der eigenen Bürgerinnen und Bürger kümmerten, setzte China den Impfstoff also als Mittel der Diplomatie ein. Ferner sollen Unternehmen, die in der Volksrepublik China produ‐ zieren, über den Umgang mit den Uiguren schweigen. 124 9 Umgang mit Autokraten <?page no="125"?> Negative Wirkung einer Appeasement-Politik Oft verbunden mit der „Wandel durch Handel Politik“ ist die Beschwich‐ tigungspolitik (engl. Appeasement). Dies ist nicht zielführend: Die Be‐ schwichtigungspolitik ist, wie es der Name ausdrückt, eine Politik der Zugeständnisse und Zurückhaltung gegenüber den Autokratien, auch Han‐ delsbeziehungen werden dabei anvisiert, aber als Nebeneffekt. Ziel ist die Vermeidung größerer Konflikte wie etwa einen Krieg. Diese Form der Politik ist eng verbunden mit dem Umgang von britischen und französischen Politi‐ kern mit Nazideutschland vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges. Vor al‐ lem der damalige britische Premierminister Neville Chamberlain wird gerne als zentrale (negative) Figur gekennzeichnet. Im Zentrum der Kritik steht der von Chamberlain ausgehandelten Pakt mit Nazideutschland, der Deutsch‐ land das Recht einräumte, seine Herrschaft über die deutschsprachigen Gebiete der Tschechoslowakei auszudehnen (Tharoor 2015). Chamberlain ging davon aus, dass es in den fremden, verfeindeten Staaten auch gemäßigte Kräfte gäbe, die vor allem durch Zugeständnisse im wirtschaftlichen Bereich gestärkt und zum Einlenken bewegt werden könnten. An dieser Stelle soll kein direkter Vergleich zwischen der Politik von der ehemaligen deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Politik gegenüber Russland und dem zentralen Vertreter der Appeasement-Politik, Neville Chamberlain, hergestellt werden. Problem und Struktur des Vorgehens und die Randbe‐ dingungen sind, wie bereits erwähnt, anders gelagert. Obwohl Chamberlain gewisse Fehler in seinem Handeln registrierte, war er sich sicher, dass die Geschichte ihn im Großen und Ganzen von einer Schuld freisprechen werde (Tharoor 2015). In dieser Hinsicht hatte er sich getäuscht. Wie das Handeln von Angela Merkel gegenüber der russischen Autokratie langfristig interpretiert wird, wird die Geschichtsschreibung in einigen Jahrzehnten zeigen. Bei der Einschätzung ist das Hindsight Bias zu beachten. Dieses beschreibt die Neigung von Individuen, rückblickend die Vorhersehbarkeit eines Ereignisses anders einzuschätzen als vor der Situation. Konnte mit all dem bestehenden Wissen über Autokraten z. B. das Verhalten des russischen Autokraten Putin prognostiziert werden? 9.2 Wandel durch Handel 125 <?page no="126"?> 9.3 Angebot von Hilfsleistungen Hilfsleistungen stellen materielle und sachliche Unterstützungen für Staaten dar, auch für Autokratien. Darunter fallen auch Leistungen wie Entwick‐ lungshilfe. Menschenrechtseinhaltungen könnten als eine Bedingung für das Erhalten der Hilfe verknüpft werden. - Positive Wirkung von Hilfsleistungen Die Wirkung der Hilfeleistungen in Verbindung mit Ansprüchen an die Menschenrechte kann durchaus positive Resultate haben: Einerseits könnte ein Autokrat nationalen Nutzen aus den Hilfeleistungen ziehen und das autokratische System stabilisieren. Andererseits muss die Unterdrückung über den Zeitraum der Hilfsleistung gelockert werden, um weiterhin die Hilfe erhalten zu können. Damit hat ein Autokrat einen Anreiz, die Hilfe zur Wohlfahrtssteigerung der Staatsbürgerinnen und -bürger zu verwenden. Da diese Verbesserung aus Sicht der Einwohnerinnen und Einwohner direkt auf den Autokraten zurückzuführen wäre, können gleichzeitig die Loyalität und Unterstützung der Bevölkerung ansteigen. Nötig ist hierfür selbstverständlich eine entsprechende Unterstützung der Presse. Dies ist in Autokratien allerdings meist durch die Kontrolle der Medien sehr einfach zu realisieren. Die Fortschritte bei dem Zubilligen von Menschenrechten können dann von westlichen Demokratien öffentlich gelobt werden mit der Betonung, dass es sich um erste Schritte handele. Dies kann dem Autokraten Selbstbestätigung bringen, indem sein internationales Ansehen verbessert wird. - Hilfsleistungen leisten, um Schlimmeres zu verhindern Hilfsleistungen für eine Diktatur können auch mit dem Kampf gegen noch „schlimmere Diktaturen“ verbunden sein, d. h., Demokratien unterstützen aus Sicherheitserwägungen Diktaturen im Kampf gegen andere Diktaturen. Ein solcher Sachverhalt ist sehr problematisch, denn auch die unterstützte Autokratie kann sich negativ weiterentwickeln. Die Entwicklung muss also nicht zwangsläufig positiv im Sinne der westlichen Demokratien mit dem Einräumen erweiterter Freiheits- und Bürgerrechte erfolgen. 126 9 Umgang mit Autokraten <?page no="127"?> Beispiel | Saddam Hussein (Irak) Der irakische Diktator Saddam Hussein wurde jahrelang vom Westen militärisch aufgerüstet, um der islamischen Diktatur im Iran ein Gegen‐ gewicht zu bieten. Zu den unterstützenden Nationen gehörte auch die USA, die später selbst in den Krieg gegen den Irak zog. „Vom Hätschel‐ kind zum Bösewicht der Amerikaner“ tituliert das Handelsblatt daher einen Artikel (o. V. 2005). Solche Handlungsweisen von demokratischen Regierungen wirken zwar extrem paradox, sind aber nichts anderes als Realpolitik. Werden die Hilfsleistungen ohne Ansprüche vergeben, wird damit einsei‐ tig die Macht eines Autokraten gesteigert. Da Machtansammlung in der Regel ein dominierendes Ziel in Autokratien ist, werden Autokraten diese Option genauso wahrnehmen wie ein Geschäftsmann, der zwar bereits reich ist, aber dennoch jede Chance nutzt, noch mehr Geld zu verdienen. Das heißt, Hilfeleistungen können nicht nur verschwendet, sondern auch noch kontraproduktiv sein. Die Unterdrückung nimmt zu, wenn sich die Wirtschaftsleistung der Nation verbessert. Genau dies geschah unter Hitler und Stalin: Je beliebter sie waren, desto stärker erhöhten sie den Druck auf all jene Teile der Bevölkerung, deren absolute Loyalität schwer zu prognosti‐ zieren war. Auf die gleiche Weise hat das enorme wirtschaftliche Wachstum in der Volksrepublik China nicht zum kleinsten Grad der Entspannung bei der Stufe der Unterdrückung geführt. Beispiel | Hilfe für autokratische Systeme Es soll von der Annahme ausgegangen werden, dass ein Autokrat eine enorme Prunksucht hat und z. B. Luxusautos und Luxusimmobilien wie andere Briefmarken sammelt. Sein Ziel ist, so viel wie möglich zu konsumieren, z. B. noch mehr Luxusautos zu kaufen. Was beschränkt seinen Verbrauch? Warum gibt er nicht das gesamte Staatsvermögen für seine Prunksucht aus? Seine Beschränkung besteht ganz einfach darin, dass er im Amt bleiben will. Er könnte es sich nicht erlauben, dass seine Macht so weit abnimmt, dass er Gefahr läuft, abgesetzt zu werden. Die Stufen Unterdrückung und Loyalität müssen unter seinem Regime gerade hoch genug sein, um im Amt zu bleiben. Wenn ein Autokrat diese Balance schafft und „sicher“ im Amt ist, macht es wenig 9.3 Angebot von Hilfsleistungen 127 <?page no="128"?> Sinn, ihm Hilfe zukommen zu lassen. Alles, was er mit den materiellen Mitteln anfangen wird, ist noch mehr Luxusautos und Luxusimmobilien zu kaufen. Nun zur entgegengesetzten Perspektive, d. h., er befände sich in der Gefahr, abgesetzt zu werden. In diesem Fall würde die Hilfe das Regime stützen. Denn er wird eventuell die erlangten Mittel dazu verwenden, die Unterdrückung zu steigern. Demzufolge wird die Unterdrückung der Staatsbürgerinnen und -bürger durch die Hilfe in beiden Fällen nicht gesenkt. - Kurze Erinnerung an die Verlässlichkeit von Autokraten Die hier empfohlenen politischen Handlungen geben einem Autokraten die Möglichkeit, die Unterdrückung seines Volkes durch den Aufbau von Loyalität als ein Mittel einzusetzen, um an der Macht zu bleiben. Sie haben daher eine größere Chance, für den Diktator akzeptabel zu sein. Sie bergen nur eine echte Gefahr: Ein Diktator akzeptiert die Hilfe und verspricht alle Forderungen einzuhalten nur, um mit seinem Wort zu brechen, wenn der passende Zeitpunkt dafür gekommen ist. Die Einhaltung der Vereinbarun‐ gen muss also strikt überwacht werden und bei Verfehlungen unmittelbar eingestellt werden. Eventuell sind Meilensteine, d. h. einzelne Schritte, zu fixieren, deren Erfüllung der Diktator garantieren muss. Jede Zielerreichung wäre zu prüfen und die Mittelfreigabe daran zu binden. - Ein Fazit: keine Hilfsleistung ohne Gegenleistung Aus den Ausführungen wird offensichtlich, dass Autokratien nicht einfach unterstützt werden dürfen. Die Hilfezahlungen können dazu verwendet werden, um mehr Macht über die Bevölkerung anzusammeln. Ihre Unter‐ drückung würde erhöht oder zumindest beibehalten. Wenn die Hilfe hinge‐ gen an Menschenrechtseinhaltungen und/ oder Liberalisierungsforderungen als Meilenstein gebunden wäre (→ Abbildung 17), könnte die Politik in die richtige Richtung gelenkt werden. Wenn die Wirtschaft als eine der Folgen wachsen würde, die Unterstützung der Bevölkerung zunähme, könnte es sich der Herrscher leisten, die Unterdrückung zu entspannen. Seinen Machanspruch würde dies nicht gefährden. Die Bindung der Unterstützung an die Einhaltung von Menschenrechten und/ oder Liberalisierungsschritte sind absolut notwendig, wenn es zu einem Nachlassen der Unterdrückung 128 9 Umgang mit Autokraten <?page no="129"?> und nicht zu einer Erhöhung derselben kommen soll. Das Bestehen auf Menschenrechtseinhaltung müsste also Dreh- und Angelpunkt der Förder‐ politik werden. Abb. 17: An Meilensteine gebundene Hilfsleistungen Hilfe 1 Hilfe 2 Meilenstein 1 materielle Zahlung 1 Förderung Infrastrukturprojekte Abbau Repression Rechte für Opposition materielle Zahlung 2 humanitäre Hilfe Abbildung 17: An Meilensteine gebundene Hilfsleistungen 9.4 Sanktionen Sanktionen (= Embargo) sind Zwangsmassnahmen, die von Behörden ge‐ genüber einzelnen Staaten oder bestimmten Personen oder Personengrup‐ pen aus bestimmten Gründen erlassen werden. Die Sanktionen werden erst aufgehoben, wenn z. B. kriegerische Handlungen eines Staates eingestellt, Freiheitsrechte in einem Land wieder gewährt oder die politische Lage im je‐ weiligen Land stabilisiert wurde. Überstaatliche Sanktionen werden zumeist vom UN-Sicherheitsrat und von der OSZE (= Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) ausgesprochen. Die Massnahmen können einen unterschiedlichen Intensitätsgrad haben: ● Totalembargo: Es handelt sich um ein umfassendes Embargo, das den gesamten Handel betrifft. Handelsbeziehungen sind grundsätzlich mit der sanktionierten Nation verboten. ● Teilembargo: Dieses Embargo ist auf gewisse Wirtschaftsbereiche oder Handelstätigkeiten ausgerichtet, die verboten werden. ● Waffenembargo: Betrifft ein Embargo den Rüstungsbereich, dann wird der Begriff Waffenembargo angewendet. Dieses beschränkt oder untersagt die Lieferung von Waffen, Munition oder anderen Rüstungs‐ gegenständen. - Sanktionen haben nicht einfach die umgekehrte Wirkung von Hilfen Vorab ist es notwendig zu erkennen, dass Sanktionen nicht nur einfach als das Gegenteil von Hilfeleistungen zu interpretieren sind. Politische Handlungen der Vereinigten Staaten oder der Vereinten Nationen gegenüber 9.4 Sanktionen 129 <?page no="130"?> geächteten Regimes (z.-B. in der Vergangenheit Castros Kuba, Husseins Irak oder Milosevics Serbien) dürften oberflächlich den bereits beschriebenen Hilfeleistungen ähnlich sein, aber in Wirklichkeit funktionieren sie doch etwas anders. In den genannten Beispielen erzwangen die Vereinigten Staaten Sanktionen und boten an, diese als eine Belohnung für besseres Verhalten wieder aufzuheben. Die Amerikaner haben z. B. von Mitte des Jahres 1997 an den Eintritt Belgrads in Weltinstitutionen wie den Interna‐ tionalen Währungsfonds und die Weltbank verhindert. Der serbische Führer Slobodan Milosevic sollte zuerst die Forderung erfüllen, einen fruchtbaren Dialog zu eröffnen, bei dem er seinen politischen Gegnerinnen und Gegnern größere Meinungsfreiheit zugestehen sollte. Solche politischen Handlungen sind jedoch oft weniger hilfreich als die im vergangenen Kapitel diskutierten Hilfeleistungen, die an konkrete Verbesserungen gebunden sind. Der Grund ist, dass ein Regime zuerst liberalisieren muss und erst dann die Sanktionen aufgehoben werden. Erst nach entsprechenden Maßnahmen wird der Handel wieder aufgenommen oder die Hilfsmittel fließen erneut. Dies bedeutet, dass dem Regime jede Möglichkeit genommen wird, mit den Vorzügen der Hilfe oder des Handels vor der Liberalisierung Loyalität bei der Bevölkerung aufzubauen. Vielmehr noch begibt sich ein Autokrat in die unmittelbare Gefahr, ersetzt zu werden, wenn er einer Liberalisierung zustimmt, ohne vorab entsprechende Loyalität aufgebaut zu haben. Es ist daher nicht überraschend, dass weder Castro noch Hussein oder Milosevic willig waren, die mit den Sanktionen verbundenen Forderungen zu akzeptieren. - Sanktionen müssen den Autokraten auch empfindlich treffen Sanktionen funktionieren zudem nur, wenn sie einen Diktator wirklich einschüchtern und direkt bedrohen. Starke Sanktionen sind auch nicht notwendigerweise ethisch verwerflich, da Autokraten ihre Völker ebenfalls unterdrücken. Fehlt freilich eine markante Einschüchterung, werden die politischen Handlungen versagen. Beispiel | Kuba und Irak Die Vereinigten Staaten schüchterten Castros Regime über mehr als 40 Jahren ein, ohne wesentliche Änderungen auf Kuba herbeizuführen. Strategien, das Regime gefügig zu machen, sind fehlgeschlagen. Ebenso 130 9 Umgang mit Autokraten <?page no="131"?> wurde Saddam Husseins Regime durch Sanktionen nicht entmachtet oder auch nur annähernd liberalisiert. Erst kriegerische Handlungen führten zum Sturz des Autokraten im Irak. - Sanktionen können Autokraten stärken und sind schwer international durchzusetzen Weitere Probleme der Sanktionen sind zumindest eine Bemerkung wert: Ihre Nutzung könnte die nationalistische Unterstützung für den Diktator sogar stimulieren und in der Tat seine Macht stärken. Es kann im autokratisch regierten Staat ein „Wir-Gefühl“ bei nahezu dem ganzen Volk entstehen, das sich ungerecht vom Ausland behandelt fühlt. Beispiel | Wir-Gefühl Ein Trend eines „Wir-Gefühls“ war im Iran nach den ersten internatio‐ nalen Kritiken hinsichtlich ihres Atomprogramms zu beobachten. Ein weiteres Beispiel wäre die Zustimmungswerte des russischen Diktators Putin, der aus Erfahrung wusste, dass die russische Bevölkerung zum großen Teil hinter den kriegerischen Aggressionen stehen würde. Die kriegerischen Handlungen auf der Krim und die darauffolgenden west‐ lichen Sanktionen führten dazu, dass die Zustimmungsraten zu seiner Präsidentschaft in die Höhe kletterten (Minsch 2022). Gefördert wird die Zustimmung durch den Einsatz immenser staatlicher Propaganda und der Verteufelung der sanktionierenden Länder und des Kriegsgegners. So gesehen wurde dem Diktator in die Karten gespielt. Des Weiteren verlangt die Nutzung von Sanktionen eine genaue Koordina‐ tion der Politik der sanktionierenden Länder. Geschäfte von nichtsanktion‐ ierenden Ländern mit dem sanktionierten Autokraten würden eventuell zu weiteren Sanktionen führen. Wie wäre sonst mit diesen Ländern umzuge‐ hen? Zu nennen wäre z. B. Indien, das die USA gerne als Alliierten zur Eindämmung der chinesischen Autokratie in Anspruch nehmen würde. Indien selbst pflegt Handelsbeziehungen zu Russland und dem Iran. Würde sich Indien an Sanktionsvorschläge halten und diese Kontakte eindämmen? Insbesondere die USA täten sich als Be- und Verurteilende solcher Verstöße 9.4 Sanktionen 131 <?page no="132"?> schwer, denn sie selbst pflegen einen Umgang mit zahlreichen Autokratien wie Ägypten, Jordanien oder Saudi-Arabien, die sie als Verbündete betrach‐ ten und mit Mitteln unterstützen. - Sanktionen gegen Russland nach dem Schlag gegen die Ukraine Eine Betrachtung des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine und der Umgang der Vereinten Nationen mit diesem scheint lohnend. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen verurteilte Russlands Überfall mit großer Mehrheit am 3. März 2022. 141 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen stimmten in New York in einer Dringlichkeitssitzung für die Verurteilung. 35 Länder enthielten sich, darunter die Volksrepublik China, Indien und der Iran. Die Gegenstimmen kamen außer von Russland selbst von den Autokratien Belarus, Nordkorea, Syrien und Eritrea. Auf den ersten Blick ein historischer Moment. Aber wie viele der zehn bevölkerungsreichs‐ ten Länder im Jahr 2022 sind an den Sanktionen gegen Russland beteiligt? Die Antwort ist einfach: Ein einziges, die USA. Die bevölkerungsreichen Demokratien Indien, Pakistan, Brasilien oder Mexiko verurteilen zwar teils den Angriffskrieg, zu strengen Sanktionen griffen sie jedoch nicht. - Jahrelange Sanktionen gegen Kuba und was war die Wirkung? Als negatives Sanktionsbeispiel bietet sich erneut Kuba an, das seit 1959 einem US-Embargo (= Sanktionen) unterliegt. Es muss eingeräumt werden, dass Fidel Castro einen korrupten, von den USA unterstützten Autokraten abgelöst hat, der ohne Skrupel und Moral sein Volk unterdrückte. Zudem initiierte das Castro-Regime zumindest zu Beginn seiner Regierungszeit viele nützliche Maßnahmen z. B. im Gesundheitswesen und in der Bildungs‐ politik für das kubanische Volk. Die Verschlechterung der kubanischen Wirtschaftslage wurde, zumindest teilweise, durch das amerikanische Em‐ bargo verschuldet. Zudem wurde Fidel Castro zu Beginn seiner Amtszeit von der kubanischen Bevölkerung gefeiert und später von breiten Teilen der Bevölkerung zumindest respektiert. Trotz jahrzehntelanger amerikani‐ scher Sanktionen blieb Fidel Castro mehr als 40 Jahre im Amt. Castro gab die Regierungsgeschäfte nur aufgrund seines schlechten Gesundheits‐ zustandes an seinen Bruder Raúl Modesto Castro ab, der zehn Jahre die Regierungsgeschäfte führte. Eine genaue Analyse der Wirkungen der Ef‐ fekte der US-Sanktionen oder der Wohlstandsvermehrungen durch das Castro-Regime existieren nicht. Es ist fraglich, welche Illusionen selbst vom 132 9 Umgang mit Autokraten <?page no="133"?> Castro-Regime vorgetäuscht wurden. Der Schriftsteller und Literaturprofes‐ sor Antonio Jose Ponte (2008) setzt sich in seinem romanhaften Essay „Der Ruinenwächter von Havanna“ kritisch mit dem Regime auseinander und beschreibt unter anderem ein ausgeklügeltes Spitzel- und Spionagesystem, das er mit dem der ehemaligen DDR (= Deutsche Demokratische Republik) vergleicht. Beim Ausklammern der negativen und Konzentration auf die po‐ sitiven Effekte des Regierungshandelns von Fidel Castro hätte sich vielleicht ein frühes Aufheben der amerikanischen Sanktionen und ein „konstruktiver Umgang“ mit dem Regime angeboten. - Sanktionen der westlichen Welt nach der russischen Aggression gegen die Ukraine Westliche Demokratien haben den Angriff Russlands Ende Februar 2022 auf die Ukraine mit zahlreichen Sanktionen beantwortet. Darunter fallen z. B. der weitgehende Ausschluss russischer Banken vom globalen Finanzsystem, das Blockieren von russischen Devisenreserven oder Exportkontrollen für Hightech-Artikel. Auch das Vermögen von einigen russischen Oligarchen wurde eingefroren oder enteignet. Eine Politik, die 2014 versäumt wurde, als Russland die russische Halbinsel Krim völkerrechtlich illegitim annek‐ tierte. Nach weniger einschneidenden Sanktionen waren viele westlichen Staaten schnell um eine Normalisierung der Beziehungen bestrebt, auch mit dem Ziel verbunden, weiterhin günstig russische Rohstoffe beziehen zu können. Welche Rückschlüsse soll ein kriegsbereiter Autokrat aus einer solchen Sanktionspolitik ziehen? Könnte er interpretieren, dass eine weitere Eskalationsstufe seinerseits möglich wäre? - Wirkung der Sanktionen gegen Russland Ein Team aus Forschenden der amerikanischen Universität Yale analysierte die Wirkung der Sanktionen, die seit Ende Februar 2022 ergriffen wurden (Sonnenfeld et al. 2022). Der Studie nach steuert die russische Wirtschaft durch die Sanktionen und den Rückzug tausender Unternehmen langfris‐ tig auf einen Zusammenbruch zu. Propagandameldungen, dass Russlands Wirtschaft robust wäre und sich erholen würde, entsprächen nicht der wirtschaftlichen Realität. Die amerikanischen Forschenden würden den Wirtschaftskrieg also zumindest langfristig als erfolgreich sehen. Auch kurzfristig wirkten den Forschern nach bereits einzelnen Sanktionen: Die russischen Börsen blieben wochenlang geschlossen. Aktionärinnen und 9.4 Sanktionen 133 <?page no="134"?> Aktionäre konnten auch nach der Wiedereröffnung der Börsen nicht frei über ihre ausländischen Wertpapiere und Konten in Fremdwährungen ver‐ fügen. Es zeigt sich bereits eine starke Kapital- und Bevölkerungsflucht aus Russland. Es sei erneut angemerkt, dass es sich um eine Studie aus den USA handelt. Fakt ist, dass eine mehr als 30-jährige Phase der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Integration Russlands in das globale Wirtschaftssys‐ tem von westlicher Seite eingeschränkt wurde. - Ein Fazit: Sanktionen haben zentrale Probleme Sanktionen haben drei zentrale Probleme. ● Erstens könnte es Staaten geben, die sich den Sanktionen nicht anschlie‐ ßen. ● Zweitens könnte es zu allem Überfluss Nationen geben, die das Einhal‐ ten der Sanktionen nur nachlässig kontrollieren. ● Drittens müssen auch die Sanktionspartner zusammenstehen und eine einheitliche Meinung vertreten. Erneut stellt sich die Frage, wie mit diesen autokratischen Ländern besser umzugehen ist. Hilfsvereinbarungen, die an die Einhaltung von Menschen‐ rechten gebunden sind, haben keines der genannten Probleme. Allerdings existieren viele Petroautokratien, die aufgrund ihres Rohstoffreichtums keine materiellen Hilfsleistungen benötigen. Stattdessen könnten techni‐ sche Hilfeleistungen offeriert werden, wobei hier eine Überschneidung zur Privatwirtschaft besteht. Sanktionen stellen nur ein Mittel dar, um die Lage zu ändern. Manchmal sind also Sanktionen oder sogar noch strengere Maßnahmen nicht zu vermeiden. In jedem Fall ist allerdings zu beachten, dass ein tief verwurzelter Diktator nicht einfach durch Sanktionen in seinem Land zu überwältigen ist und ein sehr langer Atem bis zum Erfolg nötig sein kann. - Es bestehen viele Fragen zur Verwirklichung von Sanktionen Die Frage ist auch, ob und wie weit Sanktionen durchgeführt werden sollen. Soll etwa eine rote Linie für Sanktionspolitik bestehen und alle Autokratien, die ihre Bevölkerung rigoros unterdrücken, von den Demokratien sanktio‐ niert werden? Oben wurde bereits angesprochen, dass sich alle Demokratien an diese Maxime halten müssten. Wäre dies der Fall, stellt sich eine andere Frage: Wie handeln die sanktionierten Autokratien? Bilden sie selbst eine 134 9 Umgang mit Autokraten <?page no="135"?> Allianz, sodass zumindest zwei Blöcke gegenüberstehen: ein demokratischer und ein autokratischer Block. Quasi ein neuer Eiserner Vorhang. Es kann auch zu einem Ansteigen von vielen einzelnen ökonomischen und politischen Verflechtungen von Autokratien (autocratic linkages) kom‐ men, aus denen ein konzentriertes Vorgehen resultieren kann (Tansey, Koehler und Schmotz 2017). Wie sollen Demokratien mit den verbundenen Systemen umgehen? Wie würden bei Existenz eines solchen Blocksystems transnationale Probleme wie etwa die Klimakrise angegangen? Wie sind die Alternativen von Sanktionen zu beurteilen? Würde Deutsch‐ land z. B. amerikanisches Fracking-Gas im größeren Umfang beziehen oder selbst in dessen Produktion gehen? Wäre dies nicht eine Art Krieg gegen die Natur? Fracking kann, je nach Gewinnungsmethode, zu dauerhaften und irreversiblen nachteiligen Auswirkungen auf die Trinkwasserversorgung und den Naturhaushalt führen (Carstens o. J.). Außerdem können Erdver‐ schiebungen ausgelöst werden. Aus politökonomischer Sicht muss gerade ein solches wirtschaftliches Handeln in seinem sozialen Zusammenhang und vor allem auch mit Bezug zu ökologischen Prozessen interpretiert werden. 9.5 Kriegerische Handlungen - Beim Angriff eines Autokraten bleiben keine Optionen Bereits in → Kapitel 8 wurde die Neigung von Demokratien zu kriegerischen Handlungen angesprochen. Als Begründungen wurden dort ein Selbstver‐ teidigungsfall und Kampf gegen Verletzungen des Völkerrechts genannt. Auf direkte außenpolitische Konfrontationen eines Autokraten in Form eines kriegerischen Angriffs auf Demokratien selbst bleiben Demokratien wenige Optionen neben der besagten Selbstverteidigung. Demokratische Nationen müssen in der Lage sein, die individuellen Rechte ihrer Bürger: in‐ nen gegen Autokratien zu verteidigen. Verhandlungen bringen in der Regel wenig, da Autokraten alles andere als verlässliche Partner sind und sichtbare Schwäche der Demokratien ausnutzen und weitere Angriffe führen werden. Es existieren also unumstößliche Grenzen akzeptablen autokratischen Han‐ delns. Überschreitet ein Diktator diese, ist ein Eingreifen von Verfassungs‐ staaten zwingend. Bei einem direkten kriegerischen Angriff bleibt nicht 9.5 Kriegerische Handlungen 135 <?page no="136"?> mehr als eine Verteidigung des Staatsgebietes und ein kompromissloser Rückschlag mit aller militärischen Energie. - Vom eigentlichen Unsinn, Mittel in Militär zu investieren Damit sich Demokratien gegen Angriffe verteidigen können, ist militäri‐ sche Präsenz und Macht nötig. Die Politikprofessorin Victoria Basham (2020) merkt in diesem Zusammenhang an, dass liberale Staaten durch die militärische Präsenz bei den eigenen Staatsbürger: innen, aber auch bei den Bürger: innen anderer Nationen zu einer Globalisierung der Unsicherheit beitragen. Fraglich ist auch, ob Investitionen in Rüstungsgüter und Kriege unter dem Vorwand der Sicherheit in Wirklichkeit einer Ausdehnung des Kapitalismus und Neoliberalismus dienen. Ein bewaffneter Konflikt bietet zudem neue Optionen, um die geografische Einflusssphäre zu erweitern und weiteres Kapital anzusammeln (Basham 2020). Investitionen zur Stärkung des Militärs erscheinen in Zeiten der Klimakrise auf den ersten Blick unzweckmäßig. Die Menschheit führt seit Jahren einen „Krieg“ gegen ihre Umwelt und zerstört den Planeten. Die Klimakrise anzugehen wäre also eine viel sinnvollere Verteilung von Ressourcen, als Milliarden für militärische Mittel zu opfern. Der Meteorologe und Klimaforscher Mojib Latif (2022) erklärt, dass sich das vereinte Handeln der Bevölkerung für das Klima dieser Erde noch lohnen würde, die Zeit für Maßnahmen läuft aber ab. Wichtig sind zudem staatliche Investitionen in alternative Energien. Auch andere zentrale gesellschaftliche Aufgaben wie z. B. Inklusion, Lohngerechtigkeit oder Wohnungsbau wären wichtige Themen. Dort wären finanzielle Mittel ebenso weit zweckmässiger zu investieren. Aus politökonomischer Sicht könnten gerade solche Investitionen den gesellschaftlichen Frieden und damit die Entwicklung eines Staates positiv beeinflussen. Trotzdem erschei‐ nen Investitionen in an sich gehaltlose militärische Güter folgerichtig, da mit Autokraten schlecht zu verhandeln ist. Gemeinnützige Autokraten, die mit demokratischen Regierungsführern bei einer gepflegten Diskussion Probleme klären, werden schwerlich zu finden sein. Dies ist Realität. Die weitere Evolutionsgeschichte wird zeigen, für welche Richtung sich die Menschheit entscheidet. - Verteidigungsbündnisse sparen Mittel für einzelne Staaten Die NATO mag als Verteidigungsbündnis eine Alternative in Sicherheits‐ fragen sein. Fraglich ist jedoch, warum europäische Nationen als Union 136 9 Umgang mit Autokraten <?page no="137"?> nach dem Zweiten Weltkrieg kein autonomes Verteidigungsbündnis grün‐ deten oder die EU als solches agieren könnte. Gemeinsam könnten die demokratischen Nationen ihre Autorität einsetzen, um Autokraten gegen‐ überzutreten. In der Vergangenheit begaben sich die europäischen Nationen in militärischer Hinsicht in eine amerikanische Abhängigkeit als eine Art Schutzmacht. Die USA platziert die eigenen Atomwaffen in Deutschland, Belgien, Niederlande und Italien. Sollte die NATO in dieser Hinsicht nicht reformiert werden? Sollen in der NATO oder der EU Staaten auf dem Weg zu autokratischen Systemen oder gar Autokratien Platz finden? Ungarn unter dem nationalkonservativen Populisten Viktor Orbán oder die Türkei unter dem religiös-motivierten Nationalisten Recep Tayyip Erdoğan sind Mitglie‐ der dieser Institutionen. Erdoğan votiert gerne gegen NATO-Entscheide, Orbán gegen EU-Entscheide. - Wie sind Präventivkriege gegen Autokratien einzuschätzen? Demokratien könnten auch Präventivkriege gegen Autokratien führen, in dem sie organisiert und unter Einsatz erheblicher Waffengewalt gegen die Diktaturen vorgehen. Sie haben (vielleicht angeführt von den Vereinig‐ ten Staaten) entweder die Wahl, die Welt im Sinne ihrer freiheitlich-de‐ mokratischen Vorstellungen zu formen oder sich in einer Weltordnung wiederzufinden, die von Autokraten gestaltet wird. Der Politikberater und US-Neokonservative Robert Kagan (2008) schlägt vor, eine „Liga der Demo‐ kratien“ zu bilden, die helfen kann, im Wettbewerb bzw. Kampf zwischen autokratischen und demokratischen Staaten zu bestehen. Ein Präventivkrieg würde jedoch in demokratischen Staaten schwerlich angenommen, da dieser das Gegenteil einer zivilisierten Welt darstellt und unausweichlich zu Verletzungen der Menschrechte führt. Ferner lassen sich kriegerische Mittel gegen eine Reihe von Autokratien wie China, Russland oder Singapur schwerlich vorstellen. Ob die westlichen Demokratien Autokratien wie Petroautokratien unter einem Vorwand angreifen, um Menschenrechte sichern zu wollen, sollte aus moralischer Sicht verurteilt werden. Im Hintergrund solcher Angriffs‐ überlegungen könnte vielmehr der Wunsch eines direkten Zugangs zum Öl oder anderen Rohstoffen dieser Autokratien stehen. Es bleibt zu hoffen, dass dieser Vorwand nie (wieder) genutzt wird. 9.5 Kriegerische Handlungen 137 <?page no="138"?> Was wäre das Resultat eines Krieges? Der Autokrat und seine Nation wären im besten Fall zwar militärisch besiegt. Die autokratische Macht müsste abgegeben werden. Die demokra‐ tischen Siegesmächte würden eine politische Transformation zu einem demokratischen System einleiten. Dieses Ziel muss nicht zwangsläufig erreichbar sein. Positive Beispiele sind sicher die totalitären Regime Italien und Deutschland, die im Zweiten Weltkrieg besiegt und abgelöst wurden. In den beiden Ländern bestehen funktionierende Demokratien. Wie ist aber das Versagen in Afghanistan und im Irak zu begründen? Offensichtlich waren hier die politisch-kulturellen Voraussetzungen für eine Implementierung eines Verfassungsstaates nicht gegeben. Die Befreiungsstrategie und erste Schritte zur Demokratie wurden also den Landestraditionen schlicht nicht ausreichend gerecht. Folglich war die Intervention, die darauf gezielt hat, die jeweiligen autokratischen Systeme zu stürzen, weder für die Entwicklung einer Demokratie noch für den Frieden vielversprechend. Trotz Verfehlun‐ gen von Autokraten sollten die späteren Aussichten für ein Land analysiert und kalkuliert werden. Demokratische Interventionsmächte sollten sich bei (Verteidigungs-)Kriegszügen gegen Autokraten der beschriebenen Pro‐ bleme bewusst sein. Sie sollten auch nach dem Sturz einer Autokratie die neue politische Ordnung so lange unterstützen, bis sich diese von einer hybriden zu einer reifen Demokratie gewandelt hat. Problematisch ist es, wenn der „lange Atem“ nicht besteht und sich die „Befreier“ beugen. In Afghanistan haben mehr als 20 Jahre nicht zur Transformation in einen demokratischen Staat gereicht! Beispiel | Afghanistan In Afghanistan trat die NATO als eine Art „Besetzerin“ auf. Genau genommen handelt es sich nicht um die NATO, sondern um die Internationale Sicherheitsunterstützungstruppe, kurz ISAF (aus dem Engl. International Security Assistance Force). Aus der bisherigen Ge‐ schichte des Landes hatte die Truppe wenig gelernt, da Demokratie und Zivilgesellschaft sich in einem Stammesland wie Afghanistan schwer implementieren lassen (Taheri 2008). Insbesondere ein zentralistisches, modernes Afghanistan ist in dieser Stammesgesellschaft schwer durch‐ zusetzen, die zentrale Anweisungen aus Kabul als Einmischung in ihre eigenen Angelegenheiten sieht. Taheri (2008, S. 7) kam bereits 2008 138 9 Umgang mit Autokraten <?page no="139"?> zu einer düsteren Aussage: Wenn die NATO nun das Land verlassen würde, dann „werden die Taliban in wenigen Monaten Kabul erneut einnehmen. Und dann wird das Land am Hindukusch noch einmal zum Tummelplatz des internationalen Terrorismus“. Tatsächlich zogen die westlichen Truppen, wie 1989 bereits die Rote Armee, unverrichteter Dinge aus dem Land ab. Am 14. April 2021 kündigt US-Präsident Joe Biden den bedingungslosen Abzug der US-Truppen an, der sich bereits bis Ende August des Jahres vollzog. Die Hauptstadt Kabul wurde kampflos aufgegeben. Die bestenfalls hybride Demokratie brach also in extrem kurzer Zeit in sich zusammen. Die demokratischen Bemühungen wurden beispielsweise durch viele Korruptionsfälle nicht erst genom‐ men. - Sind Wirtschaftskriege nicht auch Kriege? Die Frage ist, wie die unter → Kapitel 9.4 vorgestellten Sanktionen zu beurteilen sind. Trifft hier das Wort Krieg respektive Handelskrieg für ausgeprägte wirtschaftliche Sanktionen bereits zu? Schon während des Ersten und Zweiten Weltkrieges war ein Ziel aller Kriegsparteien, die Handelswege durch militärische Mittel zu unterbrechen, um die Gegenpar‐ tei wirtschaftlich zu schwächen. In der heutigen Zeit kommt es immer wieder zu Wirtschaftskriegen, d. h. einem mit rein ökonomischen Mitteln geführten Konflikt zwischen Staaten, z. B. durch exorbitant hohe Einfuhr‐ zölle. Inwieweit Sanktionen bereits einen kriegerischen Akt darstellen, mag Ansichtssache sein. Die Kriegsführung geht aber noch weiter als hybrider Krieg. Darunter ist eine Kombination aus wirtschaftlichem Druck, Cybe‐ rangriffen, klassischen Militäreinsätzen und Propaganda in den Medien und sozialen Netzwerken zu fassen. Beispiel | Russland Der russische Außenminister Lawrow beschuldigt die westlichen De‐ mokratien einen totalen hybriden Krieg gegen Russland zu führen (Hendrich, Rottmann und Stocker 2022). Die russische Interpretation des Krieges gegen die Ukraine ist demnach nicht nur der militärische Krieg auf dem Gebiet der Ukraine, sondern auch ein von den westlichen 9.5 Kriegerische Handlungen 139 <?page no="140"?> Demokratien geführter Krieg, bei dem Sanktionen ein Instrument sind. Ein Krieg, den Russland in der einen oder anderen Form übrigens seit Jahren vor allem im Cyberraum gegen westliche Staaten führt. Russland setzt im hybriden Krieg neben dem Cyberkrieg noch auf die Kappung der Rohstoffe (wie Gas) für die europäischen Gegner. Resultat sind höhere Energiepreise und damit eine steigende Inflation. Ziel dieser Maßnahmen soll ähnlich wie mit den Cyberangriffen eine Destabilisierung der Verfassungsstaaten sein. - Das Internet als Instrument einer hybriden Kriegsführung Das Internet und soziale Medien werden nicht nur im autokratischen im Inland, sondern auch für ausländische Gegenparteien als praktisches Pro‐ paganda- und Diskreditierungsmittel (→ Kapitel 6.4) gebraucht (Guriev und Treisman 2015). Ist dieses Element einer hybriden Strategie nicht auch schon eine Art kriegerische Handlung? Es ist in der Regel eine anonyme Variante. Wird eine Täterin oder ein Täter identifiziert, kann ein autokratischer Staat immer noch eine Beteiligung an den Vorfällen bestreiten und es als die Tat von Einzelpersonen oder autonomen Terrorgruppen klassifizieren. Abbildung 18: Ziele eines hybriden Online-Krieges Ziele eines hybriden Onlinekrieges Cyberattaken zum Lahmlegen von Unternehmen und Bürokratie Desinformation zur Erzeugung von Unsicherheit Destabilisierung des politischen Systems Abbildung 18: Ziele eines hybriden Onlinekrieges - Sind Tötungen von Personen auf dem Staatsgebiet anderer Nationen ein kriegerischer Akt? Politische Gegner und geflüchtete Geheimdienstler sowie Ex-Militärs wer‐ den gerne völkerrechtswidrig auf dem Boden anderer Staaten mehr oder weniger direkt eliminiert, z.-B. 140 9 Umgang mit Autokraten <?page no="141"?> ● Nordkorea in Malaysia mit dem tödlichen Anschlag auf den Halbbruder Kim Jong Nam des nordkoreanischen Diktators im Jahr 2017 oder ● Russland in Großbritannien mit dem tödlichen Giftanschlag auf den Kreml-Kritiker Alexander Litwinenko im Jahr 2006 oder ● Saudi-Arabien in der Türkei mit der Ermordung des Regimekritikers Jamal Ahmad Khashoggi im saudi-arabischen Konsulat in Istanbul im Jahr 2018. Völkerrechtsbedenkliche Angriffe auf fremdem Hoheitsgebiet werden aller‐ dings nicht nur von Autokratien durchgeführt. Auch die USA töten Personen durch Drohnenangriffe oder Spezialeinheiten auf ausländischem Boden. Das Völkerrecht deckt solche Einsätze lediglich in einem bewaffneten Konflikt gegen Kämpfer der Gegenpartei. Angriffe dürfen nicht unverhältnismäßig viele zivile Opfer fordern. Die USA berufen sich dementsprechend auf ihren weltweiten Krieg gegen den internationalen Terrorismus, bei dem die Kämper der Gegenpartei ausgeschaltet werden. Die amerikanische Interpretation des Völkerrechts ist zumindest diskussionswürdig. - Hybride Kriege müssen durchgesetzt werden Fraglich wäre denn, wie ein umfassender hybrider Krieg zu führen wäre. Letztlich ist es ein ähnlicher Fall, wie die Durchsetzung von Sanktionen (→ Kapitel 9.5). Es würde sich ein Embargo mit einem Boykott auf allen Ebenen wirtschaftlichen Handels empfehlen, also auch ein Sport- und Kul‐ turboykott. Gerade im Sportbereich werden allerdings Diktaturen hofiert: ● Olympische Sommerspiele 2008 in Peking (Volksrepublik China) ● Olympische Winterspiele 2014 in Sotschi (Russland) ● Handball-Weltmeisterschaft der Männer 2015 in Katar ● Fußballweltmeisterschaft 2018 in Russland ● Leichtathletik-Weltmeisterschaften 2019 in Doha (Katar) ● Olympische Winterspiele 2022 in Peking (Volksrepublik China) ● Fußballweltmeisterschaft 2022 in Katar An der Fußballweltmeisterschaft 2018 nahmen alle qualifizierten Nationen teil, obwohl Russland gegen die Menschenrechte in Syrien verstieß und 2014 nach einem kriegerischen Akt gegen die Ukraine unrechtmäßig die Krim annektierte. Zusätzlich erfolgte im Vorfeld eine massive Ausbeutung von Arbeitskräften beim Bau der russischen Sportstätten. Nordkoreanische Arbeiter erhielten z. B. Hungerlöhne und arbeiteten unter miserablen Bedin‐ 9.5 Kriegerische Handlungen 141 <?page no="142"?> gungen (Redaktion Sportbuzzer 2018). Tatsache ist, dass Russland und China bei den sportlichen Wettkämpfen eine ausgezeichnete Möglichkeit offeriert wurde, sich als Wirtschaftsmacht und Global Player zu präsentieren. Eine solche Strategie wird auch als Sportswashing (Wortzusammenset‐ zung aus Sport und Whitewashing) bezeichnet. Die Reputation eines Staates soll durch internationale Sportveranstaltung und in- und ausländische Medi‐ enberichte darüber gesteigert werden. Insbesondere die Petroautokratien in den Golfstaaten verfolgen solche Bestrebungen durch enorme Investitionen in Sportevents (Olivereau 2022; Chadwick und Widdop 2022). Die Hypothese, dass solche Events einen Demokratisierungsprozess fördern, entspricht in der Regel einer Positiv-Rhetorik von Sportfunktionär: innen, um die Vergabepraxis von Wettkämpfen zu rechtfertigen. Eine Studie der Politik‐ wissenschaftler Adam Scharpf, Christian Gläßel und Pearce Edwards (2022) zur Fußballweltmeisterschaft 1978 unter der argentinischen Militärdiktatur widerlegt die Hypothese eindeutig. Die Analysen der Forscher legten offen, dass vor dem Turnier die Unterdrückung zunehmend verdeckt wurde. Bereits Wochen vor dem Beginn des Turniers wurden dabei politische Gegner: innen entführt und ermordet. Während des Turniers wurden z. B. Repressionen an die Arbeitsschichten ausländischer Journalist: innen angepasst. Nach Beendigung des Turniers wurden die Repressionen wieder gesteigert. Scharpf, Gläßel und Edwards (2022) kommen daher zum Schluss, dass Repression strategisch an die räumlich-zeitliche Präsenz internationaler Medien angepasst werden. - Wachsamkeit ist besser als Krieg Westliche Demokratien sollten alles unternehmen, um die Funktionslogiken moderne Autokratien besser zu verstehen, und zugleich und die inländische Finanzüberwachung, Spionageabwehr und Cybersicherheit stärken. Sie müs‐ sen eine gewisse Widerstandsfähigkeit aufbauen. Gleichzeitig muss vermieden werden, Diktatoren zu stärken. Zahlreiche Rechtsanwälte, Lobbyisten und Bankiers setzen sich z. B. für Diktatoren ein, um den westlichen politischen Prozess negativ zu beeinflussen (Guriev und Treisman 2022). Westliche Technologiefirmen ermöglichen durch Technologietransfer den Aufbau von Infrastruktur für die Überwachung der Bevölkerung in autoritären Staaten. Ein solches Handeln wäre vor dem Hintergrund eines politökonomisch sinnvollen Umgangs mit Autokratien zu überdenken. Wenn eine solche Technik von Unternehmen aus Demokratien transferiert wird, stärkt dieses Handeln die Stellung von Autokratien im internationalen Gefüge. 142 9 Umgang mit Autokraten <?page no="143"?> 10 Schlussbetrachtung und Fazit Die Ausführungen haben verdeutlicht, dass autokratische Systeme unter‐ schiedliche Ausprägungen haben. Alle Varianten haben dennoch eines gemeinsam: Es besteht Unterdrückung von Individuen, eine Instrumentali‐ sierung der Justiz und ein ausgeprägter (Geheim-)Polizeiapparat. Permanent positive Handlungsweisen eines „wohlwollenden“ Autokraten sind zwar durch seine Entscheidungsmacht realisierbar, aber nur sehr begrenzt vor‐ handen. Die Realität widerlegt in der Regel den Wunsch von Individuen, dass ein gemeinwohlorientierter Herrscher als Autokrat ein Land führt. Als Beleg dafür mögen die zahlreichen Beispiele dieses Buches dienen. Auch Interessengruppen verhindern durch ihre Einflussnahme in Autokratien eine rationale Wirtschaftspolitik. Aufstrebende Autokratien sehen ihre Staatsform aus der Perspektive der Regierenden zweifelsohne als optimal. Darunter fallen die Autokratien China und Russland. Auch ein beträchtlicher Teil ihrer Staatsbürgerinnen und -bürger werden von der Überlegenheit ihrer politischen Staatssysteme überzeugt sein, wobei aus oben genannten Gründen die Datenlage einge‐ schränkt ist. Doch damit nicht genug: Ihre Systeme gelten zudem als Vorbil‐ der und Schutzpatrone für autokratisch geführte Schwellenländer in Afrika oder Asien, die auch gezielt in ihren autokratischen Entwicklungen geför‐ dert werden. Dadurch werden die gefestigten und wirtschaftlich bedeut‐ samen Autokratien zu einer Art von autoritären Gravitationszentren, die ihren Einflussbereich verbreitern, indem sie artverwandte Systeme aufbauen und unterstützen (Kneuer und Demmelhuber 2016). Die weitere Entwicklung wird hier abzuwarten sein. Die westlichen Demokratien sind im weiteren Prozess allerdings gefordert, die Vorteile ihrer Regierungsform vehement zu vertreten, wie etwa die Freiheitsgrade der Bürgerinnen und Bürger. Hilfsleistungen müssen in diesen Ländern zwingend mit Klauseln zur Einhaltung der Menschenrechte verbunden werden, um langsam (wenn nötig) einen Demokratisierungsprozess einzuleiten. Autokratien sind schwer erfassbare Phänomene, die einer noch in‐ tensiveren ökonomischen Untersuchung bedürfen. Zwar sind in den letzten Jahrzehnten viele Forschungsansätze geleistet worden, das Feld ist aber nicht gänzlich erkundet. Das liegt auch darin begründet, <?page no="144"?> dass die Datengewinnung in autokratischen Systemen eingeschränkt ist. Es steht kaum Informationsmaterial über die Performance der Wirtschaftspolitik in Autokratien zur Verfügung, was die empirische Betrachtung in starkem Maße erschwert. Freie Forschung ist keine Selbstverständlichkeit. Bei einer politökonomischen Analyse autokratischer Systeme besteht immer die Gefahr, dass (bewusst versteckt oder unbewusst) eigene Meinungen und Ansichten in die wissenschaftliche Betrachtung eingehen, sodass nur in den seltensten Fällen ein einheitlicher Konsens zwischen unterschiedlichen Autorinnen und Autoren zustande kommen wird. Je nachdem, in welchem politischen System die Autoren selbst beheimatet sind, werden sehr unter‐ schiedliche Ansichten aufeinanderprallen. Die Ausführungen in diesem Buch wurden deshalb mit vielen wissenschaftlichen und Beispielen aus der autokratischen Praxis untermauert, um einer wissenschaftlich neutralen Sichtweise gerecht zu werden. Nach meinen Recherchen zu unterschiedlichen politischen Systemen teile ich die Meinung des ehemaligen britischen Premierministers Winston Chur‐ chill, der die Demokratie als „bestschlechteste“ Regierungsform im Vergleich zu allen Alternativen kennzeichnen (Schmölz 1981). Diese Regierungsform ist mit zahlreichen Mängeln behaftet, eine autokratische Alternative ist jedoch als schlechter zu bewerten und kann vielen Personen Unfreiheit geben und Leid zufügen. Eine demokratische Verfassung garantiert einen Schutz vor Willkür von Herrschenden. Wir sollten als Bürgerinnen und Bürger in demokratischen Staaten zusammenarbeiten, um die Demokratie zu verbessern. Wir sollen uns nicht von Demagogie und Populismus blenden lassen, die unsere Demokratie permanent schlecht reden und demokratische Wahlergebnisse anzweifeln. Andernfalls werden diese negativen Kräfte die Demokratie aushöhlen. Eine weitere Gefahr für die Demokratie liegt der Literatursoziologin Carolin Amlinger und dem Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaftler Oliver Nachtwey (2022) nach im Phänomen des libertären Autoritarismus. Personen, die diesem Phänomen zuzuordnen sind, lehnen Autorität, (insbe‐ sondere des Staates) ab und haben nur ihre eigenen Handlungsspielräume im Sinn. Inwieweit durch das eigene Tun die Freiheit anderer eingeschränkt wird, ist diesen Personen egal, da sie ihre Interessen zum absoluten Maßstab für ihr Handeln machen. Es handelt sich nicht mehr nur um berechtigte Kritik an politischen Missständen, sondern um Haltungen und Vorgehens‐ 144 10 Schlussbetrachtung und Fazit <?page no="145"?> weisen, die die Demokratie gefährden und schlicht unsolidarisch sind. Zur Vermeidung solcher Praktiken sind Informationen des Staates zu politischen Entscheidungen und politische Teilhabe wichtig. Alternativen politischen Handels müssen dabei offengelegt und die jeweiligen Wirkungen des po‐ litischen Handelns dargestellt werden. Zu diskutieren wäre auch, ob die beschriebenen Handlungsweisen des libertären Autoritarismus nicht Resultat des kapitalistischen Denkens an sich sind. Es wird Individuen suggeriert (z. B. in Werbebotschaften), sich von anderen zu differenzieren und dabei gesellschaftliche Abhängigkeiten und Zwänge hinter sich zu lassen. Freiheit ist in diesem Sinn nicht die das freiheitliche solidarische Handeln im Gemeinschaftssinn, sondern ein persönlicher Besitzstand. Diese Interpretation der Freiheit hat jedoch negative Auswirkungen auf das Gemeinwohl. Schon in der Systemtheorie nach Platon (→ Kap. 2.2.1) wurden die beschriebenen Verhaltensweisen als Gefahr gesehen, die ein Abdriften in eine Autokratie nach sich ziehen kann. Dies sollte uns allen bewusst sein. 10 Schlussbetrachtung und Fazit 145 <?page no="147"?> Literaturverzeichnis Amlinger, C. & Nachtwey. O. (2022). Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus. Suhrkamp, Berlin 2022. Banerjee, N. et al. (2015). Exxon: The Road Not Taken. Unter https: / / insideclimaten ews.org/ content/ Exxon-The-Road-Not-Taken, abgerufen am 30.10.2022. Barcelo, P. (1993). Basileia, Monarchia, Tyrannis. Stuttgart. Bardhan, P. (1993). Symposium on democracy. In: Journal of Economic Perspectives, Vol. 7 (3), S.-45-49. Barr, M. (2000). 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Mohammed-30 Bloch, Ernst-18 Boykott-107, 141 Brain Drain-64 Buchanan, James-88 Bürgerstaat-22 Burma-76, 80 Burnheim, John-76 Bürokratie-108 Caligula-28, 96 Castro, Fidel-49 Castro-Brüder-47 Castro-Revolution-82 Ceauşescu, Nicolae-47 Chávez, Hugo-45 Chenoweth, Erica-77 Chicago School of Economics-119 Chile-81, 118 China-38, 56 Chinese Dream-56 Chruschtschow, Nikita-39 Claudius-28 Commodus-97 <?page no="160"?> Covid-Impfstoffe-124 DDR-42 Definition-16 Demokratie-19-22, 75, 80, 82, 88, 92f, 113, 122 Demokratie, gereifte-113 Demokratie, hybride-69 de Oliveira Salazar, António-11 Desorientierung-99 Despotie-15 Deutschland-38, 107 Dictator Game-68 Diktatur-15 dilemma of performance-63 Durchsetzungskosten-67 dynastische Regel-78 Eduard II.-27 Eigennutz-22, 47 Eigennutz, Maximierung-87 Eiserner Vorhang-135 Embargo-129 Engineer, Merwan-86 England-27 Enthumanisierungsstrategie-44 Erdoğan, Recep Tayyip-97 Erfüllungsgehilfen-42 Exekutive-16 Eyadéma, Étienne Gnassingbé-33 Fachleute-93 faktenbasierte Daten-99 Feindbild, extern-51 Feindbilder-43, 51, 94 flood the zone with shit-99 Flucht-82 Fluchtbewegungen-63 Französische Revolution-76 Free-rider-Verhalten-101 freie Meinungsäußerung-16 Freier-Markt-Kommunismus-83 freie Wahlen-17 Friedmann, Thomas-53 Frühwarnsystem-121 Führungsstil-48 Fujimori, Alberto-98 Fukuyama, Francis-9 Fußballweltmeisterschaften-141 Gajus Julius Cäsar-28 Geheimpolizei-46 Gemeinwohl-22 Gerechtigkeitsansatz-18 Gesetz der 3,5 Prozent-77 Gewalten-16 Gewaltenteilung-16, 39 Gewerkschaften-39 Globalisierung der Unsicherheit-136 Glukhovsky, Dmitr-49, 66, 77 Glukhovsky, Dmitri-46 göttlicher Wille-37 Gravitationszentren, autoritäre-143 Gründungsmythos-78 Gulag-44 Guriev, Sergei-98 halbstaatliche Stellen-107 Herder-Dorneich, Philipp-92 Herrschaftsstrukturen-49 Hilfsleistungen-126 Hindsight Bias-125 Hitler, Adolf-38f, 104, 107, 109 Homo oeconomicus-91 Honduras-33 Hussein, Saddam-39, 127 160 Register <?page no="161"?> hybride Demokratie-69 hybride Kriege-139ff hybride Systeme-58, 85 Ideologie-37f Iljin, Iwan-53 improvisierte Demokratie-69 Informationen-42, 102 Informationen, Beschaffung-103 Informationsmonopol-26 inoffizielle Mitarbeiter-42 Interessengruppen-101, 103 Interessengruppen, Konkurrenz-109 Internet-99, 140 Irak-127, 130 James McCormick-119 Jelzin, Boris-58, 83 Judikative-16 Junta-32 Kagan, Robert-83 Kambodscha-44 Khashoggi, Jamal-30, 141 Kim Il-sung-45 Kim Jong Nam-141 Klassifikation-23 Kleptokratie-48 kognitive Dissonanzen-99 Komitee-16 komparativen Kostenvorteil-116 Konaré, Alpha-85 Konzentrationslager-44 Korruption-83 KPdSU-39 Krieg-111, 113f, 135 Krieg, wirtschaftslicher-139 Krim-Annexion-115 Kuba-82, 130 künstliche Intelligenz-42 Landesvater-24 Lawrow, Serge-139 Lee Kuan Yew-35, 98 Legislative-16 Legitimation-36, 95 Legitimation, Ausland-71 Legitimation, Begründung-73 Legitimationshilfe-68 Legitimationslück-69 Legitimität, durch Krieg-114 Legitimität, exogen-78 Legitimität, relative-64 Legitimität, stabile-65f Legitimitätskrisen-61f Lehrstand-20 Leistungsdilemma-63 Lenin, Wladimir Iljitsch-41 liberaler Autoritarismus-145 Libyen-54 Liechtenstein-31 Litwinenko, Alexander-141 Lobby-102 Loyalität-23 Ludwig XIV.-29 Lukaschenko, Alexander-34 Machtgier-47 Machtzirkel-96 Maduro, Nicolás-45 Mao-39, 41, 97 Marcos, Ferdinand-97 Marktwirtschaft-56 McCormick, James-119 Medien-16 Medienvielfalt-17 Register 161 <?page no="162"?> Mediokratie-17 Medwedew, Dmitri-67 Meinungsfreiheit-17 Merkel, Angela-125 Militärautokratien-79 Militärdiktatur-32 Militärjunta-16, 33 Militärregime, direkt-32 Militärregime, indirekt-32 Mineralölkonzerne-99 Ministerium für Staatssicherheit-42 Misstrauen-97 Mitchell, Neil-119 Mittelschicht-63 Monarch-27 Monarchie-19, 27, 29, 57, 78 Monarchie, konstitutionelle-31 Monarchie, parlamentarische-31 Monarchie, Wandel-30 Mugabe, Robert-82, 95 Mursi, Mohammed-33 Musharraf, Pervez-33, 79 MWD-41 Myanmar-33 Nachfolge-78 Nährstand-20 Napoleon-90 NATO-52, 136 Naturrecht-18 Nawalny, Alexei-77, 94 Nazideutschland-43 Nemzow, Boris-46 Neoliberalismus-119 Nero-28 Neue Politische Ökonomie-88 Ne Win-81 Nijasow, Saparmurat-50 NKGB-41 Nordkorea-44, 71 Nordstream-123 NSDAP-70 Ochlokratie-22 Octavian-28 öffentliche Güter-49, 62 öffentliche Meinung-92 Oligarchie-20ff Olson, Mancur-101 Olympische Spiele-141 Opfer-42 Opportunitätskosten-116 Opposition-16, 35, 43, 58 Orbán, Viktor-59, 98 Orwell, George-43 Paranoia-97 Partei-16, 39 Partei-Säuberungen-108 Personenkult-39 Petroautokratie-52 Petroautokratien-29, 53ff Petropolitik-55 Pinochet, Augusto-33, 81, 118 Planwirtschaft-56 Platon-19ff politisches Monopol-16 politökonomische Sicht-10 Polizei-41 Pol Pot-44 Ponomarenko, Alexander-47 Popper, Karl-76 Portugal-11 potential rulers-90 Precht, Richard David-17 Pressefreiheit-26 162 Register <?page no="163"?> Privilegien-27 Propaganda-30, 44 Propagandamonopol-26 pseudodemokratisch-38 Pseudorechtsnormen-26 Public-Choice-Theorie-87f Putin, Wladimir 9, 46f, 49, 52, 58, 66, 71, 92, 94, 98 Realitätsnähe/ -ferne-96 Rechtssicherheit-63 Rechtstotalitarismus-37 Regelhierarchie-18 Regierungshandeln messen-70 Repressionen-23 Resignation-66 Ressourcen-47 Ressourcenfalle-55 Ressourcenfluch-55 Ricardo, David-116 Rodrik, Dani-85 Röhm-Putsch-109 Rohstoffreichtum-53 Rom-28 Rücknahmemöglichkeit-75 Ruhm-114 Ruhnama-50 Russian Brain Drain-64 russischer Angriffskrieg-111 Russland-46, 49, 52, 71, 77, 92, 94, 100, 123, 139 Sachverstand-93 Sanktionen-115, 129-134 Sankt-Petersburg-Putin-Connection-94 Säuberungen-108f Schah-30 Schattengesellschaft-38 Schumpeter, Joseph-15 schwarze Listen-43 Schweiz-54 Singapur-35 Sippenhaft-44 Smith, Adam-116 Sokrates-19 Soldatenkaisertum-29 Sowjetunion-41 soziale Gerechtigkeit-18 Spieltheorie-68 Spin-Diktatoren-98 Spitzelwesen-42 Sportswashing-142 Staatsfeind-42 Staatsformen-19 Staatsformen, gute-22 Staatsformen, schlechte-22 Staatsgewalt-27 Staatskult-37 Staatsverschuldung-88 Stalin, Josef-39, 41, 97, 108 Stände-19 Stände, höhere-22 Stände, niedere-22 Subversion von innen-98 Südafrika-105 Sultan-49 Sultanismus-49 Swanson, David-120 Systemalternativen-64 Systemtheorie nach Aristoteles-22 Teilembargo-129 Temelkuran, Ece-97 Thälmann, Ernst-38 Than Shwe-76 Theorie der absoluten Register 163 <?page no="164"?> Kostenvorteile-116 Tiberius-28, 97 Tichanowskaja, Swetlana-34 timocracy-23 timocrats-23f Timokratie-20f Tinpot-Regime-23 tinpots-23 Top-down-Führungsstil-48 Totalembargo-129 totalitäre Systeme-37 totalitarians-23 Totenkult-40f Touré, Amadou Toumani-85 Traoré, Moussa-85 Treisman, Daniel-98 Trittbrettfahrerverhalten-101 Trolle-100 Trump, Donald-99 Tsvangirai, Morgan-95 Tullock, Gordon-15, 76 Türkei-97 Turkmenistan-50f, 54 Tyrannei-23 Tyrannis-20ff tyrants-23 Überzeugungskraft, nach innen-72 Ukraine-111, 133, 139 Ungarn-78 Unterstützungskoalitionen-104 USA-98, 120, 130 Usher, Dan-86 Verbündete-93 Verfassungsstaat-16 Verlässlichkeit-128 Verteilung Einkommen-86 Vertrauen-66, 97, 112 Vetternwirtschaft-48 Volksaufstände-76 Volksfeinde-41 von Hayek, Friedrich August-76 Waffenembargo-129 Wagner, Richard-88 Wahlautokratie-34f Wahlen-17, 35, 68 Wahlen, pseudo-32 Wahlen, Stimmenmaximierung-89 Wahlkaisertum-29 Wandel durch Handel-122 Warhol, Andy-40 Weeks, Jessica-112 Wehrstand-20 Weimarer Republik-69, 89 Weltanschauungsdiktatur-37 Weltordnung, neue-37 Welzer, Harald-17 Wintrobe, Ronald-23 Wir-Gefühl-131 Wirtschaftskrieg-139 Wirtschaftspolitik-75, 92 Wolkow, Leonid-49 Zar-30 Zelaya, Mel-33 Zimbabwe-81, 95 164 Register <?page no="165"?> Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Autokratien und Demokratien in 2022 und 2020 . . . . 10 Abbildung 2: Systemwandel zwischen Autokratie und Verfassungsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Abbildung 3: Herrschaftsformen nach Platon . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Abbildung 4: Abgrenzung der Autokratieformen . . . . . . . . . . . . . . . 24 Abbildung 5: Ausprägung von Wahlen in autoritären Systemen . . 36 Abbildung 6: Mao | Quelle: © Bernotto, iStock . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Abbildung 7: Personenkult und Totenkult . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Abbildung 8: Vergleich totalitärer und despotischer Systeme . . . . . 46 Abbildung 9: Zentrale Position des Autokraten . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Abbildung 10: Möglicher Verlauf eines hybriden Systems . . . . . . . . . 59 Abbildung 11: Status quo versus Systemwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Abbildung 12: Wirkung von internationalen Beziehungen . . . . . . . . 72 Abbildung 13: Korruption in Demokratien und Autokratien . . . . . . 84 Abbildung 14: Demokratien übertreffen Autokratien Quelle: in Anlehnung an BTI 2018, Bertelsmann Stiftung . . . . . 84 Abbildung 15: Auszug aus der Website der Bundesärztekammer . . . 105 Abbildung 16: Umgangsalternativen mit Autokraten . . . . . . . . . . . . . 121 Abbildung 17: An Meilensteine gebundene Hilfsleistungen . . . . . . . 129 Abbildung 18: Ziele eines hybriden Onlinekrieges . . . . . . . . . . . . . . . 140 <?page no="166"?> Tabellenverzeichnis Tabelle 1: Staatsformen nach Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Tabelle 2: Unterstützung der Bevölkerung und mögliche Reaktionen der Bürger auf politische Regime . . . . . . . . . 65 Tabelle 3: Funktionen von Wahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Tabelle 4: Legitimationsbegründungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 <?page no="167"?> BUCHTIPP Der Autor erforscht, inwiefern die Ursachen für das Ende seiner Dominanz im Liberalismus selbst zu suchen sind. Im Buch werden zudem die Grundlagen unserer Freiheit erläutert. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, ob wir uns diese heute noch leisten können oder vielleicht aufgeben müssen, um den heutigen Herausforderungen begegnen zu können. Ausgehend von den Konsequenzen des (Neo-)Liberalismus werden schließlich Perspektiven ausgeleuchtet, inwieweit ein anderes Verständnis davon womöglich unsere Demokratie und damit unsere Freiheit zu retten vermag. Heribert Nix Wozu Liberalismus? Struktur, Krise und Perspektiven liberaler Demokratie 1. Auflage 2021, 287 Seiten €[D] 25,90 ISBN 978-3-8252-5544-2 eISBN 978-3-8385-5544-7 UVK Verlag - Ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ Fax +49 (0)7071 97 97 11 \ info@narr.de \ www.narr.de <?page no="168"?> BUCHTIPP Was unterscheidet die moderne von der antiken Demokratie? Welche Schattenseiten hat die moderne Demokratie? Gehören Demokratie und Kapitalismus zusammen? Wie steht es um Meinungsfreiheit und Toleranz in Demokratien? Diese und weitere Fragen beantwortet Martin Oppelt in seinem Buch. Er beleuchtet konkurrierende Ideen und Modelle der Demokratie, blickt auf ihre geschichtliche Entwicklung und erklärt aktuelle Herausforderungen. Zudem stellt er die wichtigsten Fachbegriffe prägnant vor und verrät, welche Websites, Videos und Bücher das Wissen aus diesem Band vertiefen können. Frag doch einfach! Die utb-Reihe geht zahlreichen spannenden Themen im Frage-Antwort-Stil auf den Grund. Ein Must-have für alle, die mehr wissen und verstehen wollen. Martin Oppelt Demokratie? Frag doch einfach! Klare Antworten aus erster Hand 1. Auflage 2021, 202 Seiten €[D] 14,90 ISBN 978-3-8252-5446-9 eISBN 978-3-8385-5446-4 UVK Verlag - Ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ Fax +49 (0)7071 97 97 11 \ info@narr.de \ www.narr.de <?page no="169"?> ISBN 978-3-8252-6004-0 Eigenschaften und Strategien von Autokratien verstehen Weltweit werden über drei Milliarden Menschen autokratisch regiert. Autokratien sind auf dem Vormarsch, auch wenn sie die Freiheit der Bürger: innen massiv beschneiden. Rödiger Voss geht dem Phänomen politökonomisch auf den Grund. Er zeigt, welche Autokratieformen existieren und welche Eigenschaften und Strategien die Systeme haben. Auf die Risiken für Demokratien geht er ein, ebenso auf die große Rolle von Interessengruppen. Zahlreiche Beispiele illustrieren den Stoff. Wissensboxen vertiefen zudem das Verständnis. Das Buch richtet sich an (angehende) Wirtschafts-, Politik- und Sozialwissenschaftler: innen. Es ist zudem für Journalist: innen, Politiker: innen und politisch Interessierte eine spannende Lektüre. Wirtschafts-, Politik- und Sozialwissenschaft | Journalismus Dies ist ein utb-Band aus dem UVK Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehr- und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel Mit zahlreichen Beispielen