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Allokation im Gesundheitswesen

Lösungsstrategien für eine gerechte Verteilung

1016
2023
978-3-8385-6009-0
978-3-8252-6009-5
UTB 
Thomas Stockhausen
10.36198/9783838560090

Knappe Mittel richtig verteilen Wie lassen sich Bedarf und Ressourcen miteinander in Einklang bringen und welche Grundsätze müssen bei der Allokation gelten? Thomas Stockhausen wendet sich genau diesen Fragen zu: Er geht auf die ökonomischen Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen ein und skizziert, welche Grundsätze der Gerechtigkeit hier gelten. Vorhandene Allokationsprobleme diskutiert er und behandelt beispielsweise aktuelle Fragen der Triage und der Allokation in der Intensivmedizin. Das Buch richtet sich an Studierende der Gesundheits- und Pflegewissenschaften sowie der Medizin. Es ist ebenso für Praktiker:innen geeignet, die etwa in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen arbeiten oder sich mit gesundheitspolitischen Fragen beschäftigen.

<?page no="0"?> ISBN 978-3-8252-6009-5 Thomas Stockhausen Allokation im Gesundheitswesen Lösungsstrategien für eine gerechte Verteilung Knappe Mittel richtig verteilen Wie lassen sich Bedarf und Ressourcen miteinander in Einklang bringen und welche Grundsätze müssen bei der Allokation gelten? Thomas Stockhausen wendet sich genau diesen Fragen zu: Er geht auf die ökonomischen Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen ein und skizziert, welche Grundsätze der Gerechtigkeit hier gelten. Vorhandene Allokationsprobleme diskutiert er und behandelt beispielsweise aktuelle Fragen der Triage und der Allokation in der Intensivmedizin. Das Buch richtet sich an Studierende der Gesundheits- und Pflegewissenschaften sowie der Medizin. Es ist ebenso für Praktiker: innen geeignet, die etwa in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen arbeiten oder sich mit gesundheitspolitischen Fragen beschäftigen. Gesundheits- und Pflegewissenschaften | Medizin Allokation im Gesundheitswesen Stockhausen Dies ist ein utb-Band aus dem UVK Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehr- und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel Mit Praxisbeispielen 2023_09_20_6009-5_Stockhausen_M_6009_PRINT.indd Alle Seiten 2023_09_20_6009-5_Stockhausen_M_6009_PRINT.indd Alle Seiten 21.09.23 10: 02 21.09.23 10: 02 <?page no="1"?> utb 6009 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Brill | Schöningh - Fink · Paderborn Brill | Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen - Böhlau · Wien · Köln Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Narr Francke Attempto Verlag - expert verlag · Tübingen Psychiatrie Verlag · Köln Ernst Reinhardt Verlag · München transcript Verlag · Bielefeld Verlag Eugen Ulmer · Stuttgart UVK Verlag · München Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld Wochenschau Verlag · Frankfurt am Main <?page no="2"?> Prof. Dr. Thomas Stockhausen ist Chirurg, Or‐ thopäde und Unfallchirurg. Er lehrt Gesundheits‐ ökonomie an der Business School Wiesbaden der Hochschule RheinMain und ist Chefarzt der Or‐ thopädie am Klinikzentrum Lindenallee in Bad Schwalbach sowie Absolvent der Freien Journalis‐ tenschule Berlin. <?page no="3"?> Thomas Stockhausen Allokation im Gesundheitswesen Lösungsstrategien für eine gerechte Verteilung UVK Verlag · München <?page no="4"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.36198/ 9783838560090 © UVK Verlag 2023 ‒ ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Ver‐ vielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: in‐ nen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: siegel konzeption | gestaltung CPI books GmbH, Leck utb-Nr. 6009 ISBN 978-3-8252-6009-5 (Print) ISBN 978-3-8385-6009-0 (ePDF) ISBN 978-3-8364-6009-5 (ePub) Umschlagabbildung: © Eoneren ∙ iStockphoto Autorenbild: © privat Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 9 11 1 13 1.1 13 1.2 16 1.3 19 1.4 20 1.5 23 1.6 25 1.7 27 1.8 31 2 37 2.1 37 2.2 41 2.3 46 3 51 3.1 51 3.2 53 3.3 58 3.4 61 4 65 4.1 65 4.2 67 4.3 69 4.4 71 4.5 71 Inhalt Geleitwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prolog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ethik und Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Versprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Philosophische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ungleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fürsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Solidarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pandemie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grenzsituationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prinzipienethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Trolley-Phänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Toleranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fake News . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allokationsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Knappheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Versicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesundheitsmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Impfstoffentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Effizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 4.6 74 4.7 76 4.8 81 5 87 5.1 87 5.2 89 5.3 91 5.4 92 5.5 94 6 99 6.1 100 6.2 102 6.3 105 7 111 7.1 111 7.2 118 7.3 120 7.4 122 8 125 8.1 125 8.2 127 8.3 129 8.4 130 8.5 133 9 141 9.1 142 9.2 146 9.3 147 9.4 151 10 153 10.1 153 Zweitmeinungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rationierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rationalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Priorisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erfolgsaussicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtsfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Scores . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Transplantation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Impfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Triage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Taktische Lage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Triage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Genfer Konvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Notfallmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Massenanfall von Verletzten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chancengleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Notstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nutzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Intensivmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontextfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Versorgungsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sozialmedizinischer Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesundheitsökonomische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesellschaftliche Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geriatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> 10.2 155 10.3 161 10.4 163 10.5 167 11 171 11.1 172 11.2 176 11.3 178 11.4 181 185 187 Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gebrechlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Versorgungsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ageism . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ressourcenverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Morbidität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Resilienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 7 <?page no="9"?> Geleitwort In einer Welt begrenzter Ressourcen und unter dem Einfluss der CO‐ VID-19-Pandemie, die uns die knappen Ressourcen für Gesundheitsfürsorge drastisch verdeutlichte, erhebt sich die Frage nach gerechter Ressourcen‐ verteilung mit zunehmender Dringlichkeit. Mein Kollege Prof. Dr. Thomas Stockhausen hat in seinem zweiten Fachbuch „Allokation im Gesundheits‐ wesen - Lösungsstrategien für eine gerechte Verteilung“ dieses wichtige Thema auf beeindruckende Weise behandelt. In diesem Buch nimmt uns der Autor mit auf eine Reise, auf der er einzelne Aspekte dieser komplexen Thematik einfühlsam reflektiert. Strukturierte Essays und begleitende Patientengeschichten verleihen dem Buch eine einzigartige Note. Wir tauchen ein in die Welt der Gesundheitsökonomie, einer fachübergreifenden Wissenschaft, die Gesundheitsversorgung unter ökonomischen Gesichtspunkten betrachtet. Hier stoßen die individuellen Bedürfnisse auf die realistischen Möglichkeiten der Gesellschaft, und es entstehen Konflikte, deren Auswirkungen spürbar sind und anhalten wer‐ den. Dieses Buch ist nicht nur ein Lehrbuch, sondern auch eine Inspirations‐ quelle. Es ermutigt uns, über den Tellerrand zu blicken und neue Wege zur Bewältigung der Herausforderungen im Gesundheitswesen zu suchen. Es fordert uns auf, aktiv an der gesellschaftlichen Debatte teilzunehmen und gerechte und nachhaltige Lösungen zu finden. Mein Kollege hat mit „Allokation im Gesundheitswesen“ ein Werk ge‐ schaffen, das nicht nur Wissen vermittelt, sondern auch zum Nachdenken anregt. Es zeigt uns, dass es in unserer Macht liegt, die Zukunft der Gesundheitsversorgung mitzugestalten und sicherzustellen, dass sie für alle gerecht und zugänglich ist. Möge dieses Buch nicht nur in den Bücherregalen unserer Bibliotheken, sondern auch in den Köpfen und Herzen aller, die sich für eine gerechtere Gesundheitsversorgung einsetzen, seinen verdienten Platz finden. Prof. Dr. med. habil. Dipl.-Kfm. Reinhard Strametz Wiesbaden Institute for Healthcare Economics and Patient Safety (WiHelP) Hochschule RheinMain <?page no="11"?> Prolog Bei begrenzten Ressourcen stellt sich die Frage nach der gerechten Ver‐ teilung. Die COVID-19-Pandemie hat es für jeden und jede aber auch gesamtgesellschaftlich spüren lassen, was es bedeutet, wenn es nicht für alle reicht. Fragen über das, was richtig oder falsch, passend oder nicht passend ist, setzen sich zwangsläufig mit den Aspekten Ethik und Moral auseinander. Ökonomie als Wissenschaft untersucht den rationalen Um‐ gang mit knappen, also nur begrenzt verfügbaren Ressourcen. Sie geht auch der Frage nach, wie Gerechtigkeit und Autonomie für die einzelne Person oder Gesellschaft im ökonomischen Kontext erzielt werden können. Medizinische Entwicklungen haben eine außerordentliche Rasanz. Was gestern undenkbar war, ist heute erfolgreich umsetzbar. Zugleich ist die me‐ dizinisch-wissenschaftliche Interpretation wechselhaft und weitgefächert sich darstellend, bis sich gesicherte Erkenntnisse entwickeln. Unerwartet sieht sich die Gesellschaft mit einer laufenden Diskussion um die richtige Betrachtung der wissenschaftlichen Ergebnisse konfrontiert. Diese Teilhabe am Diskurs ist ungewohnt und will gelernt sein. Feuilletonartig werden einzelne Aspekte entsprechend ihrem jeweiligen Kernbegriff reflektiert, analysiert und geordnet. Das klassische Lehrtext wird durch strukturierte Essays abgelöst und erlaubt einen anderen Zugang zu Wissen und Erfahrung. Die einzelnen Passagen sind in sich abgeschlos‐ sen. Teils werden fiktionale Patientinnen und Patienten begleitet. Erfor‐ derliches Wissen wird ergänzend generiert und strukturiert eingepflegt. Zugleich soll es Unterhaltung sein. Gesundheitsökonomie beschäftigt sich als fachübergreifende Wissen‐ schaft mit den Fragen der Gesundheitsversorgung unter Beachtung der ökonomischen Rahmenbedingungen. Begrenzte Ressourcen und Fragen der gerechten Verteilung stellen eine Herausforderung dar. Individualmedi‐ zinische Aspekte und gesamtgesellschaftliche realisierbare Möglichkeiten treffen aufeinander und konkurrieren miteinander. Das damit verbundene Konfliktpotenzial hatte sich realisiert und war belastend, Auswirkungen sind heute noch spürbar und werden noch anhalten. Dieses Lehrbuch ist eine Einführung in die Denkweise medizinischen Handelns im Kontext begrenzter Ressourcen und versucht den Konflikt einer Individualmedizin unter begrenzten Rahmenbedingungen gegenüber <?page no="12"?> einer gesamtgesellschaftlichen Erwartungshaltung zu beschreiben, Gründe für eine Änderung der Individualmaxime darzulegen, Möglichkeiten der Rückführung zu einer individualmedizinischen Betrachtung und Lösungs‐ ansätze aufzuzeigen. Idstein, im Sommer 2023 Prof. Dr. med. Thomas Stockhausen 12 Prolog <?page no="13"?> 1 Ökonomie Beispiel | Stellen Sie sich vor, Sie haben eine bedeutende Entdeckung gemacht und Sie sind zu einem Meeting eingeladen. Dabei geht es um viel Geld und Ihr Beitrag ist wichtig, um die richtige Entscheidung treffen zu können. Sie bereiten sich vor, suchen die passende Kleidung aus. Alle Unterlagen und Utensilien haben Sie sorgfältig parat. Auf dem Weg zum Kongresszentrum gehen Sie an einem Teich vorbei. Dort bemerken Sie ein Kind im Wasser, dass um Hilfe schreit. Weit und breit ist niemand zu sehen und Sie entscheiden sich, in das Wasser zu springen und das Kind zu retten. Nass stehen Sie am Rand des Wassers und halten das glücklich gerettete Kind in Ihren Armen. Der Termin ist geplatzt, der Deal ist dahin. Zuhause angekommen, sehen Sie einen Brief in Ihrem Kasten. Im Flyer wird auf eine Spende für Kinder in Malawi hingewiesen und Sie können mit einem monatlichen Beitrag die Schullaufbahn eines Kindes unterstützen, damit es Bildung erlangt und später einen Beruf ausüben kann. Ihre Freundin ruft Sie aus Nepal an. Ihr Kind hat sich schwer verletzt und die Behandlung im Krankenhaus muss im Voraus bezahlt werden. Die Kreditkarte Ihrer Freundin ging bei dem Unfall verloren und Sie werden gebeten eine Expressüberweisung mit einem gehörigen Betrag durchzuführen. 1.1 Ethik und Moral In einem plötzlichen Moment sind Sie mit wesentlichen Fragen von Ethik und Moral konfrontiert und müssen sich entscheiden. Wenn ein Kind vor unseren Augen ertrinkt, würde jeder und jede von uns die moralische Pflicht haben, das Leben des Kindes zu retten. Gegenüber dem Leben eines Kindes ist der Deal unwichtig. Wenn es ein guter Deal wäre, dann werden die Beteiligten dies anerkennen und einen neuen Termin zur Entscheidung ausmachen, an dem Sie Ihren Beitrag leisten können. Wir müssen uns keine teuren Klamotten kaufen und können das Geld spenden. Zudem ist es ein Beitrag zur Gewährung fairer Arbeitsbedingungen in der Kleidungsbranche. <?page no="14"?> Sie vermeiden Kinderarbeit im unsicheren Arbeitsumfeld mit niedrigen Löhnen. Möglicherweise ist es aber notwendig, dass die Kinder den Beitrag für die Familie leisten, damit sie überleben. Fehlt die Arbeit in den Fabriken, so verteilt sich dies mutmaßlich auf die Suche nach gewinnbringenden Ressourcen in Müllhalden, die Arbeit in Bergwerksminen oder es folgt die Kinderprostitution. Es ist fraglich, ob das gesellschaftlich und auch für einen selbst gewünscht ist. Auch die Überweisung nach Nepal ist mit der Gefahr verbunden, dass das Geld nicht ankommt oder ein großer Teil der Korruption zukommt. Zügig und unvermittelt können ethische Grundsatzfragen auftauchen. Eine Antwort ist schwierig. Vielfach verbleibt Zweifel. Der Lebensalltag gibt eine ganze Anzahl an Fragestellungen, die uns prüfen, hierbei eine gute Antwort zu finden. Solche Fragen stellen sich in der Familie, insbesondere dann, wenn es um schwere Krankheit geht und wie man damit umzugehen habe. Antworten auf Fragen zu Lebensbeginn oder am Lebensende sind nicht einfach zu finden. Auch Unternehmen sind in einem gesellschaftlichen Kontext eingebunden. Fragen der Ethik beantworten zu können, erscheint als wichtig, wesentlich oder relevant. Andere bezeichnen die Frage danach, was richtig oder falsch, gut oder böse, ethisch oder unethisch ist, als unwichtig, trivial oder bedeutungslos. Zuweilen hat man den Eindruck, dass es auch als Luxus verstanden werden kann, sich hierüber Gedanken zu machen. Im Trubel des Alltagslebens mit all den anstehenden Aufgaben, der terminlichen Enge, dem Druck und dem Berg an Arbeit ist es nachvollzieh‐ bar, dass Fragen der Ethik in den Hintergrund treten. Das Leben schickt immer wieder Situationen, an denen es sich lohnt, darüber nachzudenken. Es stellt sich die einfache Frage: Wie kann ich als Mensch einen Beitrag zur Ethik leisten? Die Ausgangslage ist dabei einfach zu beschreiben: Bedenken Sie, dass Sie den Rest des Lebens mit sich selbst zu tun haben. Andere Menschen kommen und gehen und ziehen an Ihnen und Ihrem Leben vorbei. Teils länger, teils kürzer. Sie sind jedoch immer mit sich selbst konfrontiert. Irgendwie haben alle den Wunsch, ein gelingendes Leben zu führen … allen voran mit sich selbst. Man ist sich selbst der lebenslange Begleiter. Als soziales Wesen ist uns die Gemeinschaft wichtig, denn wir leben in unterschiedlichen Gemeinschaften wie Familie, Arbeitsplatz, Vereine, Glaubensgemeinschaften, Freundeskreis und vielem mehr. Dort wollen wir eine gute Figur machen, anerkannt und angenommen sein. Es gibt Regeln, die auf Ethik und Moral beruhen. Diese Regeln sind spezifisch für die jeweilige Gesellschaft, in der sich das Ganze 14 1 Ökonomie <?page no="15"?> 1 Biller-Andorno, N.; Monteverde S.; Krones T.; Eichinger T. (Hrsg.); Beauchamp T.L.; Der ‚Vierprinzipien‘-Ansatz in der Medizinethik In: Medizinethik 2021; https: / / doi.org/ 10.1 007/ 978-3-658-27696-6: S.-71-90 bewegt. Die jeweiligen Kulturkreise unterscheiden sich, wenngleich sich auch Schnittmengen aufzeigen. Im gesellschaftlichen Kontext haben sich Werte entwickelt, die Orientierung geben über das, was richtig oder falsch, gut oder böse sowie ethisch oder unethisch ist. Diesen gesellschaftlichen Werten stehen auf der anderen Seite Wirklichkeiten gegenüber, die wir mit dem jetzigen Zustand zu vergleichen, zu würdigen und erforderlichenfalls zu korrigieren haben. Wie ein strukturierter Dialog im medizinischen Kontext zu gestalten ist, damit man zu einer Antwort in einer konkreten Situation kommt, findet sich in der Prinzipienethik nach Tom L. Beauchamp (1939) und James F. Childress (1940). 1 Es handelt sich dabei um eine in den 1970er-Jahren entwi‐ ckelte Vorgehensweise, wie eine medizinethische Frage angegangen werden kann. Aspekte der Autonomie der Patientinnen und Patienten (respect for autonomy), der Schadensvermeidung (nonmalficience), der Führsorge (beneficience) sowie der Gerechtigkeit (justice) werden beachtet. Daraus entsteht ein strukturierter Dialog, in dem alle Aspekte Berücksichtigung finden, um zu einer gemeinsamen Antwort zu kommen. Dies kann in der Diskussion um eine Herzoperation bei einem schwer herzkranken, neugeborenen Kind oder in der Behandlung einer Krebserkrankung bei ei‐ nem betagten und von vielen schweren Begleiterkrankungen gezeichneten Menschen bedeutsam sein. Ethik und Moral werden bedeutsam. Wissen | Moral und Ethik ● Moral | Der Begriff der Moral entstammt dem Lateinischen „mora‐ lis“ und heißt übersetzt „die Sitten betreffend“. Als Moral werden die Werte und Regeln bezeichnet, die in einer Gesellschaft allgemein anerkannt sind. Wenn man sagt, jemand habe „moralisch“ gehan‐ delt, ist damit gemeint, dass er sich so verhalten hat, wie es die Menschen richtig und gut finden. ● Ethik | Der Begriff entstammt dem Griechischen „ethos“, was übersetzt den Begriffen „Sitte“ oder „Gewohnheit“ entspricht. Da‐ bei ist „Ethik“ als die wissenschaftliche oder die gesellschaftlich 1.1 Ethik und Moral 15 <?page no="16"?> vereinbarte Grundlage zu verstehen, die sich mit dem menschlichen Handeln beschäftigt, sich der Werteorientierung widmet; danach fragt, was gutes oder schlechtes Handeln bedeutet. Stellt Ethik die normative Struktur dar, entspricht die Moral eher der praktischen Handlungsanweisung, wie ethische Grundsätze umgesetzt werden können. Dabei ist Ethik im gesellschaftlichen Kontext zu verste‐ hen. Hieraus können sich teils diametral entgegenwirkende moralische Handlungsweisen in unterschiedlichen Kulturen und gesellschaftlichen Kontexten entwickeln. 1.2 Versprechen Verallgemeinert treten im gesellschaftlichen Kontext, insbesondere im un‐ ternehmerischen Kontext unterschiedliche Akteure in Kontakt. Mit einer wie auch immer gearteten Vereinbarung kooperieren die Parteien mitein‐ ander. Dies setzt voraus, sich einander zu vertrauen und die jeweilig zugedachte Verantwortung zu übernehmen. Eine Kundin vereinbart mit dem Küchenstudio den Einbau einer neuen Küche. Dafür vereinbaren beide einen Termin und einen Preis, der bei Lieferung zu entrichten ist. Beide Partner geben sich ein gegenseitiges Versprechen. Sie erwarten, dass es von beiden Seiten eingehalten wird. Wird dieses Versprechen nicht eingehalten, dann ist das Vertrauen gebrochen. Streng genommen ist es ein Verrat. Im Medizinischen Kontext wird erwartet, dass ausgehend von den Sym‐ ptomen und Anamnese eine strukturierte Diagnostik eingeleitet wird. Unter Beachtung der Differentialdiagnosen soll die korrekte Diagnose gestellt und die geeignete Therapie eingeleitet werden. Dies hat nach dem aktuellen medizinischen Wissen zu erfolgen. Der Erfolg der Behandlung ist dabei nicht zwingend. Es können und dürfen auch Komplikationen eintreten, denn der Mensch ist ein biologisches Wesen, bei dem eben nicht alle Vorgänge voraussehbar sind. Erwartet wird eine Gewissenhaftigkeit in diesem Prozess und dies zu jedem Zeitpunkt. Dann ist das Versprechen gehalten. Und solche Versprechen wurden gebrochen. Im St. Hedwig-Kranken‐ haus in Berlin-Mitte wurden 2006/ 2007 Endoprothesen am Kniegelenk implantiert. Bei einer schweren Arthrose des Kniegelenkes, meist auf dem 16 1 Ökonomie <?page no="17"?> 2 Bach, I; Honert M. (2017): Prothesen-Skandal - Klinik operierte gegen Plan. In: Tagesspiegel Berlin vom 22.08.2007. Boden eines Gelenkverschleißes, werden bei dieser Operation sowohl die Gelenkrolle des Oberschenkels als auch die Gelenkfacette des Schienbein‐ kopfes entfernt und durch Metallimplantate ersetzt. Teils werden diese „einzementiert“ und teils „zementfrei eingesetzt“. Dies hat unterschiedliche medizinische Gründe. Erwünscht ist eine „zementfreie“ Versorgung, da bei einem möglichen Wechsel nach vielen Jahren, der Defekt deutlich geringer ausfällt als bei der „zementierten“ Variante. Ist jedoch der Knochen durch eine Osteoporose geschwächt, dann kann eine „zementierte“ Implantation für die Patienten von einem größeren Vorteil sein. Eine ganze Anzahl von Patienten klagte über fortbestehende oder schlimmere Beschwerden. Bei der Aufarbeitung war nachzuweisen, dass zementpflichtige Komponenten zementfrei implantiert worden waren. Es zeigte sich aber auch, dass der Krankenhausplan keine Endoprothetik in diesem Krankenhaus vorsah. Zudem waren die Operateure keine Orthopäden, sondern Chirurgen und es gab einen Sondervertrag der gesetzlichen Krankenversicherung, obgleich sie diesen Vertrag nicht hätten schließen dürfen. 2 Dieses Beispiel zeigt, dass mehrere Versprechen nicht eingehalten wurden, was - ethisch betrachtet - einen Verrat darstellt. Die renommierte Zeitschrift The Lancet veröffentlichte 2005 ein Artikel. Sie gehört zu den führenden Fachblättern aktueller Literatur mit hohem internationalem Ansehen. Sie setzt nach eigenem Bekunden extrem hohe Maßstäbe und wählen nur die besten Forschungsarbeiten aus. In dieser Studie wurde untersucht, welchen positiven Einfluss nonsteroidale Anti‐ phlogistika auf die Entwicklung von Krebserkrankungen im Mundbereich haben. Es handelt sich um Medikamente mit den generischen Bezeichnun‐ gen Ibuprofen, Paracatemol oder Diclofenac, die zur Schmerzbehandlung auch frei verkäuflich sind. Es wurde das Ergebnis berichtet, dass eine Lang‐ zeitanwendung mit diesen Medikamenten mit einer niedrigeren Inzidenz für eine Krebserkrankung im Mundbereich auch bei Rauchern einherginge. Zu‐ sätzlich zeige sich eine verminderte Rate an Erkrankungen des Herz-Kreis‐ lauf-Systems. Die Datenanalyse brachte hervor, dass es eine hohe Anzahl der untersuchten Patientinnen und Patienten nicht gab und Daten aus Registern verwendet wurden, welche zum Zeitpunkt der Studie nicht existierten. Drei Gutachter wurden mit der Beurteilung beauftragt, die die Studie noch vor 1.2 Versprechen 17 <?page no="18"?> 3 Focus Online (19.03.2013) Medizinskandale: Krebsstudie erfunden (https: / / www.focus.d e/ gesundheit/ ratgeber/ chronik-der-medizinskandale-aerztefehler-und-betrug_id_1789 277.html) abgerufen am 10. Juni 2022 4 Manager-Magazin (2004): Globudent-Prozess - Doppelte Kasse mit dritten Zähnen. In: manager magazin vom 09.09.2004. 5 Thomann, K.-D. (2007): Die trügerische Sicherheit der „harten“ Daten. In: Deutsches Ärzteblatt (41): S. A 2778-2782 6 Contergan: Ursache für Fehlbildungen gefunden Deutsches Ärzteblatt vom 03.08.2018 In: https: / / www.aerzteblatt.de/ nachrichten/ sw/ Conterganskandal? s=& ; p=1&n=1&nid=96889 Veröffentlichung vorgelegt bekamen. Ihnen fielen die Fehler nicht auf. 3 Auch hier wurde das Versprechen, eine korrekte Studie vorzustellen, sowohl seitens der Autorengruppe aber auch vom Verlag nicht eingehalten. Nach Kenntnis dieses Betruges wurde die Studie zurückgezogen. Es führte aber zum Verlust des Renommees für alle Beteiligten. Beim Zahnersatz zeigte sich 2002, dass die Firma Globudent aus Mühlheim Zahnersatz aus Ländern zu kostengünstigen Preisen erhalten und auf dem deutschen Markt mit marktentsprechenden Preisen verkauften. Es konnte nicht geklärt werden, ob eine vernünftige Legierung oder ein normaler Haustürschlüssel zur Herstellung verwendet wurde. Kassen und Ärzte wa‐ ren an dem Deal beteiligt. Es kam zu einem erheblichen Vermögensschaden einschließlich einer damit verbundenen Steuerhinterziehung. 4 Beim Contergan-Skandal (1957-1961) wurde der Wirkstoff Thalido‐ mid als Beruhigungsmittel von der Firma Grünenthal vermarktet und eingesetzt. Das Medikament war in den Tierversuchen ungiftig und es wurden keine Nebenwirkungen beobachtet. Infolge der Anwendung bei Schwangeren entwickelten sich Dysmelien (Fehlbildungen der Extremi‐ täten) oder andere angeborene Fehlbildungen bei 5000 Kindern. 5 Dieses Ereignis muss vor dem Kontext der Historie betrachtet werden. Das Gesund‐ heitsministerium wurde erst nach diesen Vorkommnissen gegründet. Eine Zulassung von Medikamenten unterlag nicht den Qualitätskriterien, wie sie heute angewendet werden. Es war auch die Zeit des Kalten Krieges und man vermutete zunächst einen Zusammenhang mit Atombombenversuchen. Ge‐ burtsregister wurden bis 1915 zurückverfolgt und es wurde kein statistischer Zusammenhang entdeckt. Erst die Analyse und die Befragung der Eltern von 20 erkrankten Kindern durch den Kinderarzt Dr. med. Widukind Lenz führte zum Medikament Thalidomid, als Ursache. Der biologische Vorgang, dass durch das Medikament wichtige Steuerungsgene für andere Gene in ihrer Funktion gestört werden, wurde erst etwa 60 Jahre später erkannt. 6 18 1 Ökonomie <?page no="19"?> 7 Wolf, G.; Knoepffler N.; Philosophische Begründung einer Medizinethik. In: Nephrolo‐ gie 2022 (https: / / doi.org/ 10.1007/ s11560-022-00610-w) 1.3 Philosophische Aspekte In all diesen Fragen geht es immer wieder darum, ein Versprechen zu halten und Verrat zu vermeiden. Das ist der Kerngedanke jeder authentischen Un‐ ternehmertätigkeit. Und wenn es um die Frage geht, wie kann der Einzelne oder eine Gruppierung ethisch handeln, dann gibt es eine einfache Strategie: Leben Sie so, dass Sie nichts zu bereuen haben. Im Christlichen Kontext gibt es die einfache Formel: „Liebe Deinen Nächsten, wie dich selbst.“ Damit ist ein enormer und hoher Anspruch verbunden. Führungsseminare beschrei‐ ben diesen Aspekt mit der Terminologie, des sich selbst Führens, um andere führen zu können. Eine solche Sichtweise ist verbunden mit einer hohen Tugendhaftigkeit, um es realisieren zu können. Im interpersonellen Kontext ist es verbunden mit einer Wahrhaftigkeit, einem Einfühlungsvermögen und dem Aufbau und Erhalt von Vertrauen. Im Kategorischen Imperativ nach Immanuel Kant (1724-1804) ist dies schärfer formuliert: „Handle so, dass die Maxime (subjektive Verhaltensregel) deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte.“ Aber auch hier gibt es Konfliktpotenziale, wenn sich das Pflichtenprinzip im Einzelfall als moralisch fragwürdig erscheint. Möglicherweise gibt es doch Gründe, ein Versprechen zu brechen. Insbesondere in Notfallsituationen kann dies wichtig sein, um moralisch richtig zu handeln. Individuell ausgerichtete Lebensaspekte mit dem Streben nach Lust und der Vermeidung von Schmerz zeichnete Jeremy Bentham (1748-1832) als Maxime für menschliches Handeln aus. Soziale und politische Entscheidun‐ gen orientieren sich an dem größten Glück für die größte Zahl. Je näher gesellschaftliche Normen und Regeln der weitestmöglichen Verbreitung von Zufriedenheit und Glück dienen, erscheint dies als moralisch angestrebt. Ergeben sich Zweifel am Handeln, so richtet sich dies nach dem Besten für die Masse. In ähnlicher Weise, jedoch durch die romantischen Einflüsse des Empirismus geprägt, war John Stuart Mill (1806-1873) weniger dogmatisch. Gerechtigkeit kann nur gewährleistet sein, wenn Staat und Gesellschaft sich in ihrem Handeln an dem größtmöglichen Glück der größtmöglichen Anzahl von Menschen orientieren. Die Nützlichkeit einer Handlung zeige sich, wenn sie die Gesamtmenge an Glück der Betroffenen maximiert. 7 1.3 Philosophische Aspekte 19 <?page no="20"?> 8 Wahrendorf M.; Rupprecht C.J. et al. Erhöhtes Risiko eines COVID-19-bedingten Krankenhausaufenthaltes für Arbeitslose: Eine Analyse von Krankenkassendaten von 1,28 Mio. Versicherten in Deutschland. In: Bundesgesundheitsbl 2021 (64): S.-341-321 9 Wahrendorf, M.; Rupprecht, C.J.; Dortmann, O.; Scheider, M.; Dragano (2021): Erhöh‐ tes Risiko eines COVID-19-bedingten Krankenhausaufenthaltes für Arbeitslose: Eine Analyse von Krankenkassendaten von 1,28 Mio. Versicherten in Deutschland. In: Bundesgesundheitsbl 2021 (64): 314-321 1.4 Ungleichheit Es zeigen sich jedoch soziale Ungleichheiten, die sich auch gerade in einer Pandemie aufzeigten. Sozioökonomische Unterschiede und Ungleichheiten bezüglich des Risikos auf einen schweren Verlauf einer COVID-19-Erkran‐ kung waren zuvor bereits in den Vereinigten Staaten nachzuweisen und traten auch in Deutschland auf. Langzeitarbeitslosigkeit und Niedrigverdie‐ ner waren hiervon besonders betroffen und die Gefährdung lag teils doppelt so hoch, wie in der Normalbevölkerung. 8 Oft besteht nicht die Möglichkeit im Homeoffice zu arbeiten, die Wohnverhältnisse sind beengt. Zusätzlich sind sie vermehrt auf Bus und Bahn angewiesen. Die Soziale Mobilität hat sich verschärft, Aufstiegschancen haben sich weiter verschlechtert. Der Reichtum hat sich zugunsten der Reichen verschoben. Die soziale Ungleichheit hat sich in der Pandemie wie unter einem Brennglas ver‐ schärft. Wäre die COVID-19-Pandemie als Krise und zugleich als Chance einer multilateralen und multisektoralen Gesundheitspolitik zu verstehen gewesen, zeigte sich im globalen Handeln, dass reiche Länder Exklusivver‐ träge mit Pharmaunternehmen vereinbarten. Während die Europäische Union eher als Käufer an den Tresen gingen, haben sich die Vereinigten Staaten wie Unternehmer benommen und gleich ganze Produktionsstätten aufgekauft. Afrikanische Staaten hatten und haben keine Chance, sich an der Verteilung des Impfstoffes zu beteiligen, waren und sind auf Almosen der Industrienationen angewiesen. Wissen | Ungleichheiten Es zeigt sich eine empirische Evidenz für Ungleichheiten bei COVID-19. Es erscheint hilfreich, drei mögliche Erklärungsmuster zu unterschei‐ den. 9 20 1 Ökonomie <?page no="21"?> ● Ungleichheiten in der Exposition | Sozioökonomisch benachtei‐ ligte Bevölkerungsgruppen arbeiten häufiger in Berufen, in denen die Wahrscheinlichkeit, mit dem Virus in Kontakt zu kommen, erhöht ist. Personen mit höherem Einkommen haben häufiger die Möglichkeit des Home-Office. Beengte Wohnverhältnisse und mögliche Exposition im Personennahverkehr unterstützen dieses Phänomen. ● Ungleichheiten in der Vulnerabilität | Sozioökonomisch benach‐ teiligte Bevölkerungsgruppen sind häufiger von Vorerkrankungen und chronischen Krankheitsleiden betroffen. Es ergibt sich eine hö‐ here Anfälligkeit für zu erleidende Infektionen und auch für schwere Krankheitsverläufe. Studienlagen weisen auch auf die Folgen einer erhöhten Schadstoffbelastung hin. ● Ungleichheiten der Versorgung | Sozioökonomisch benachtei‐ ligte Bevölkerungsgruppen, insbesondere Menschen in prekären Lebenssituationen haben einen geringeren Zugang zu medizinischer Versorgung oder nehmen diese im Falle einer Erkrankung verspätet in Anspruch. Gedankenexperiment (Schleier des Nichtwissens) | Eine Anzahl von Menschen eines Kreuzfahrtschiffes werden auf eine Insel an‐ gespült, nachdem das Schiff gesunken war. Die Insel ist reich an Nährstoffen und Materialien vom Schiff strömen mehr als genug an Land, so dass man mit ein wenig gutem Erfindergeist und Wissen ein gutes Lebensumfeld schaffen kann. Rettung ist nicht in Sicht. Sie geben mit der Zeit die Hoffnung auf, gerettet zu werden und beschließen, eine neue Gesellschaft zu gründen. In dieser neuen Gesellschaft verfolgt jeder und jede die eigenen Interessen. Das führt zu Unruhe und Streitigkeiten. Bald merken alle, dass es dem Wohle am besten gedient ist, wenn sie zusammenarbeiten. Es ergeben sich Fragen danach, welche Prinzipien der Gerechtigkeit gelten sollen und unter welchem Regelwerk dies geschieht. Die kleinen Kinder fragten nicht nach der Herkunft, der Religion, der sozialen Schicht oder nach dem Vermögen der Eltern. Die einzige Frage war, ob du mitspielen willst oder eben nicht. 1.4 Ungleichheit 21 <?page no="22"?> 10 Rauprich, O.; Utilitarismus oder Kommunitarismus als Grundlage einer Pu‐ blic-Health-Ethik? In: Bundesgesundheitsbl - Gesundheitsforsch - Gesundheitsschutz 2008 (51): S.-137-150 John Rawls (1921-2002) verstand Gerechtigkeit als Ausdruck der Fairness der Mitglieder einer Gesellschaft. Die Prinzipien der Gerechtigkeit begrün‐ den sich in der Unparteilichkeit: der Schleier des Nichtwissens mit dem der Platz in der Gesellschaft unbekannt bleibt. 10 Es ist unklar, ob man dann eine Leitungsfunktion bekommt oder nur für einfache Aufgaben eingeteilt wird. Unter diesem Aspekt ist anzunehmen, dass faire Bedingungen geschaf‐ fen werden. Im betrachteten Kontext entwickelt sich keine Sklaverei, denn keiner will in einem Sklavenverhältnis leben. Für Rawls ist ein solches Ver‐ fahren gerecht und ermöglicht die größtmögliche Freiheit für alle. In diesem Gedankenexperiment haben alle den Losentscheid erfahren und können sich entsprechend ihrer Fähigkeiten und Fertigkeiten einsetzen. Es entwickelt sich eine Vielzahl von Persönlichkeiten, die sich der gemeinsamen Idee widmen und das Beste erstreben. In einer solchen, sich weiterwachsend darstellenden Gesellschaft passt es dann wieder, wenn einerseits der reiche Unternehmer eine Yacht bekommt, währenddessen der einfache Arbeitnehmer statt eines Drahtesels ein E-Bike erhält. Den Benefit erfahren alle in der Gesellschaft. Soziale und wirtschaft‐ liche Ungleichheiten sind in einer Gesellschaft so zu gestalten, als dass diese zum Vorteil für alle sind. Ein solches Differenzierungsprinzip, führt zu einer Verbesserung für jedes Mitglied, wobei die Ärmsten am meisten haben sollten. Zugleich erscheint der Losentscheid ungerecht, weil er persönliche Fähigkeiten und Fertigkeiten nicht berücksichtigt. Kompetenzen, die - wenn sie ‚gerecht‘ verteilt sind - zu einer höheren Effizienz des gesellschaftlichen Systems führen. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25-37) kann in diesem Kontext verstanden werden, sich den menschlichen Heraus‐ forderungen zu stellen, auch Dogmen zu verlassen und individuelle Lösungen zu suchen, wenn die bestehenden Kataloge des Handelns nicht zu einer befriedenden Lösung führen, Gutes zu tun. Der Mann aus Samarien sieht das, was abseits seiner Sinnrichtung passiert. Er kann situativ reagieren, vielleicht nicht immer, jedoch an diesem Tag macht er das. Dabei ist er verbindlich, baut Vertrauen auf und übernimmt Verantwortung, ohne das eigene Ziel und die eigene Sinngebung zu 22 1 Ökonomie <?page no="23"?> verlassen. In existentiellen Begegnungen wird sich die Tragfähigkeit und die Brüchigkeit von Idealen, Überzeugungen und Haltungen zei‐ gen. Ethik ist dann kein Luxus, sondern wird zur Bedingung eines gelingenden Miteinanders. Im gesellschaftlichen Kontext hat es sich bewährt, ein Regelwerk aufzustel‐ len, an dem sich die beteiligenden Mitglieder zu orientieren haben. In den westlichen Kulturen sind sie vornehmlich entstanden aus dem vorwiegen‐ den vernünftigen und guten Menschenbild, wobei einzelne Personen auch verdorben sein können. Dem Grunde nach sind alle in einem friedlichen Miteinander, wenngleich Auseinandersetzungen oder Ungleichheiten ent‐ stehen können. Es gibt Vertreterinnen und Vertreter, die gewählt oder auch bestimmt sind, für die jeweiligen Situationen Regeln festzulegen. Dabei können diese recht rigide und fest und an anderen Stellen des gesellschaftli‐ chen Seins lockerer sein. Auch im medizinischen Bereich hat es sich bewährt, Regeln aufzustellen, insbesondere dann, wenn es eng oder knapp wird; eben dann, wenn es eben nicht für alle reicht. 1.5 Fürsorge Fallbeispiel | Nehmen wir an, dass ein Bombenanschlag verübt wor‐ den ist. Menschen sind verletzt oder getötet worden, möglicherweise sind Gebäudeteile eingestürzt. In diese Gefahrenzone dürfen nur be‐ stimmte und besonders ausgebildete Personen hinein, um Menschen‐ leben zu retten. Dies kann bedeuten, dass bei einem Massenanfall von Verletzten eine Triage durchgeführt werden muss und bei diesen dann, nach Lebenszeichen orientiert, nur Blutstillungen durchgeführt werden können. Möglicherweise muss aber erst das Gebäude abge‐ stützt werden, bevor man an die Verletzten kommen kann. Diesem unsicheren Gefahrenbereich folgt schrittweise die sichere Zone, in dem die höher professionalisierten Rettungsdienste und das zivile medizinische Versorgungssystem übernehmen können. Zu Beginn der Impfkampagne stand fest, dass es nicht für alle reicht. Insofern war es erforderlich einen Verteilungsplan zu erarbeiten und eine 1.5 Fürsorge 23 <?page no="24"?> 11 Ständige Impfkommission; Deutscher Ethikrat; Nationale Akademie der Wissenschaf‐ ten Leopoldina; Wie soll der Zugang zu einem COVID-19-Impfstoff geregelt werden? Positionspapier der gemeinsamen Arbeitsgruppe aus Mitgliedern der Ständigen Impf‐ kommission, des Deutschen Ethikrates und der Nationalen Akademie der Wissenschaf‐ ten Leopoldina 2020: S.-1-6 12 Janssens, U.; Aktuelle ethische Herausforderungen in der Intensivmedizin angesichts der Corona-Pandemie. In: Dtsch Med Wochenschr 2020 (145): S.-1152-1156 Priorisierungsliste zu erstellen. Im Positionspapier der gemeinsamen Ar‐ beitsgruppe aus Mitgliedern der Ständigen Impfkommission, des Deutschen Ethikrates und der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina entwickelte sich ein Vorschlag, der sich an der Verhinderung schwerer COVID-19-Verläufe und Todesfälle, an dem Expositionsrisiko, dem Trans‐ missionsrisiko und der Aufrechterhaltung staatlicher Funktionen und des öffentlichen Lebens orientierte. Eine Rangfolge in Priorisierungsgruppen wurde erstellt. Eine hohe Priorisierung erfuhren Menschen in einem Alter von über 80 Jahren. 11 Erscheinen nun ein 82-jähriger Mann im Beisein seiner 78-jährigen Gattin, die an einer schweren Demenz leidet und rollstuhlpflich‐ tig ist, da sie nicht allein sein kann und eine Verhinderungspflege nicht zu organisieren war, im Impfzentrum, so erscheint es absurd, dass für die Gattin ein neuer Termin zu vereinbaren ist. Bei der Zuweisung von Intensivkapazitäten wurde auf die Zielgröße des Überlebens abgestellt. In einem interprofessionellen Team wird die intensivmedizinische Behandlungsnotwendigkeit, die klinische Erfolgsaus‐ sicht und auch die Einwilligung zur Behandlung überprüft. Es folgt die Über‐ prüfung der Kriterien für den Therapieerfolg, die aktuelle Erkrankungen und Begleiterkrankungen berücksichtigt. 12 Ein solches Vorgehen benach‐ teiligt möglicherweise diejenigen, die an schweren Begleiterkrankungen leiden. Sie haben das größere Risiko, zu versterben. Es berücksichtigt jene, die vermutlich am meisten von der Behandlung profitieren. Zielgröße ist die Minimierung der Todesfälle. Medizinischer Fortschritt und der demographische Wandel führen zu einer erhöhten Nachfrage. Durch reduzierte Einnahmen begrenzt sich die Finanzierung des Angebotes und ein Ungleichgewicht entsteht, es kommt zur Mittelknappheit im Gesundheitswesen. Eine Erhöhung der Mittel erscheint nicht möglich, da bereits 12 bis 15 % des Bruttoinlanddsproduktes für die Fragen der Gesundheit aufgewendet werden. Es verbleiben Ratio‐ nalisierungsmaßnahmen zur Effizienzsteigerung und Rationierungen von Leistungen. 24 1 Ökonomie <?page no="25"?> 13 Marckmann, G.; Gesundheit und Gerechtigkeit. In: Bundesgesundheitsbl 2008 (51): S.-887-894 14 König, H.-H.; Lehnert T.; Riedel-Heller, S.; Konnopka, A.; Prävention und Therapie von Übergewicht und Adipositas im Kindes- und Jugendalter aus gesundheitsökonomischer Sicht. In: Bundesgesundheitsbl 2011 (54): S.-611-620 Aus der Sicht der Patientinnen und Patienten bedeuten Krankheit per‐ sönliches Leid und Angst um die eigene Zukunft. In diesem Kontext machen sie Erfahrung von Hilfe und Zuwendung. Sie sind aber auch Gefühlen von Gleichgültigkeit und Ignoranz ausgesetzt. Sie spüren den Konflikt. Wissen | Fürsorge Es besteht also eine fragile Beziehung der Akteure untereinander. Zum einen ist es die staatliche Gewalt, der eine Fürsorgepflicht für die Bürgerinnen und Bürger zukommt. Dem Staat ist es zugeordnet, gesundheitlichen Schaden abzuwenden. Zugleich unterliegen die Be‐ handlungen von Krankheiten und die Pflege einem Marktmechanismus, in dem es um Kapital und Rendite geht. Medizin zeigt Möglichkeiten und Grenzen des Machbaren auf. Politisches Handeln spannt seinen Spannungsbogen zwischen dem Bestreben des größtmöglichen Nutzens für die Gemeinschaft und ihrer Mitglieder, wie es Aristoteles zu verste‐ hen wusste, und einem Machtbestreben nach Machiavelli, bei der die Summe der Mittel dazu dienen, Macht zu erhalten. 1.6 Solidarität Soziale Unterschiede sind indes größer geworden. Bildung, Einkommen und beruflicher Status haben einen Einfluss auf die Lebenserwartung: je höher der sozioökonomische Status, desto niedriger die Sterblichkeit. 13 Adipositas, das Übergewicht als eine bedeutsame Folge einer Fehlernährung, geht mit einer hohen Inzidenz an Begleiterkrankungen wie Bluthochdruck, koronare Herzerkrankung und Diabetes mellitus einher. Das betrifft auch die dazugehörigen Früh- und Spätkomplikationen. Neben einer deutlich erhöhten Sterblichkeit zeigt sich eine deutliche Reduktion der Lebensqua‐ lität. 14 Feinstaubbelastungen bergen ein Sterberisiko. Lärm ist ein wahr‐ nehmbares Umwelt- und Gesundheitsproblem. Es kann nicht nur das Wohl‐ 1.6 Solidarität 25 <?page no="26"?> 15 Taubenböck, H.; Schmich, P.; Erbertseder, T.; Müller, I.; Tenikl, J.; Weigand, M.; Staab, J.; Wurm, M.; Satellitendaten zur Erfassungs gesundheitsrelevanter Umweltbedingungen: Beispiele und interdisziplinäre Potenziale. In: Bundesgesundheitsbl. 2020 (63): S 936- 944 befinden stören. Lärm kann zu Schlafstörungen, Herzinfarkt und hohen Blutdruck führen. Sommerliche Hitze hat ein hohes Schädigungspotenzial für den Menschen und kann gesundheitliche Risiken für bereits erkrankte Personengruppen erhöhen. 15 Im Umgang mit radioaktiven Stoffen sind hohe Sicherheitsanforderungen zu stellen. Die Folgen der Reaktorunfälle von Tschernobyl 1986 und Fukushima 2011 sind heute noch weltweit messbar und haben zu Regionen geführt, die unbewohnbar bleiben. Politik hat Rahmenbedingungen zu schaffen, Gesundheit zu erhalten und Krankheit zu begegnen. Politik ist verantwortlich für den Bildungsgrad und eine hohe Bildung ist einer der entscheidenden Faktoren, die sich positiv auf ein Gesundheitser‐ leben auswirken. Kontrolle der Nahrungsmittel, Vermeidung von physika‐ lischen und chemischen Umweltbedingungen, Sicherheit im Umgang mit Gefahrenstoffen und im sozialen Miteinander sind Beiträge, um dem Aspekt der Gesundheitsversorgung zu begegnen. Wissen | Solidaritätsprinzip Ein wesentliches Kennzeichen der Versorgung zeigt sich im Solidari‐ tätsprinzip. Es hilft denen, die in Not sind, insbesondere in Krankheit. Aber auch Pflegebedürftigkeit, Arbeitslosigkeit und altersbedingte Ein‐ schränkungen sind gesetzlich im Umlageverfahren abgesichert. Den‐ noch finden sich Unterschiede im Empfang dieser Leistungen. Es ist staatliche Aufgabe, Vorsorge zu treffen und dies zu regulieren. In einer der reichsten Volkswirtschaften ist dies ein Gemengelage von Umlageverfahren und steuerlichen Regelungen. Die Gewährleistung von Freiheit ist dabei ein hohes Gut. Einerseits darf das Individuum nicht in seiner Entwicklung behindert werden, zusätzlich muss der Staat aber auch die Rahmenbedingungen schaffen, in Freiheit agieren zu können. Dieses Gut der freien Entscheidung gerade in Gesundheitsfragen wird immer wieder betont. Dennoch finden sich Strukturen, die gerade dies konterkarieren. Die Diskussion um den Wegfall der Lohnfortzahlung im 26 1 Ökonomie <?page no="27"?> Krankheitsfall bei einer erlittenen Erkrankung, wenngleich eine Impfung zur Verfügung steht, stellt die freiheitliche Entscheidung in Frage. Wissen | Gleichheit Gleichheit beschreibt die Rechtsgleichheit vor dem Gesetz aber auch die Chancengleichheit. Dabei geht es nicht um die formale Chancengleich‐ heit, sondern um die Gewährleistung fairer Chancen, wie sie John Rawls beschrieben hat. Ungleiche soziale oder natürliche Bedingungen führen zu unterschiedlichen Möglichkeiten. Im Gesundheitswesen bedeutet dies, dass Menschen, die bestimmten Risikogruppen angehören, einer besonderen, ja intensiveren Gesundheitsfürsorge bedürfen. Krankheit und Krankheitsfolgen können hinderlich für ein gelingendes Leben sein. Die entscheidende Herausforderung besteht darin, diese vier Prinzipien - Solidarität, Vorsorge, Freiheit, Gleichheit - auszubalancieren, zu gestalten und auch zu refinanzieren. Bei einer Erhöhung der Freiheit als Prinzip steht es jedem frei, sich zu versichern und dies von den individuellen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen abhängig zu machen. Dies kann dazu führen, dass ein Teil der Bürgerinnen und Bürger de facto keine Absicherung gegen Risiken des Lebens in Krankheit, Pflege oder altersbedingte Ein‐ schränkung besitzen. Solidarsysteme refinanzieren sich weitgehend durch Abgaben von Arbeitgebern und Arbeitgeberinnen sowie von Arbeitnehme‐ rinnen und Arbeitnehmern. Renten sind Wertschätzung für Lebensleistung und werden solidarisch refinanziert. Nicht nur ausschließlich Bedürftigen kommt staatliche Unterstützung zu. Die Ausgestaltung dieser solidarischen Balance und staatliche Fürsorgepflicht ist Politik, unterliegt dem politischen Diskurs. 1.7 Verteilung Gesundheit ist als eine jener Voraussetzungen für die gelingende Teil‐ habe am Leben zu verstehen. Bei begrenzten Ressourcen ergibt sich ein Verteilungsproblem und ein absoluter Anspruch auf gesellschaftliche Gesundheitsfürsorge relativiert sich. Es stellt sich die Frage, wie sich 1.7 Verteilung 27 <?page no="28"?> eine gerechte und faire Gesundheitsfürsorge am ehesten verwirklichen lässt. Für die Markttheorie spricht vor allem seine Effizienz. Während Bürgerin‐ nen und Bürger relativ genau einschätzen können, für welches Gut oder welche Dienstleistung sie sich entscheiden möchten, ist dies in Gesundheits‐ fragen schwierig. Nutzen und Kosten medizinischer Leistungen lassen sich für Patientinnen und Patienten nicht abschätzen und den Angehörigen des Gesundheitssystems kommt eine Expertenmacht und damit auch die Steuerungsmacht zu. Nicht die Patientinnen und Patienten, sondern der ärztliche Dienst entscheidet letztendlich, wie die Weichen der Behandlung zu stellen sind. Bei rein marktorientierter Betrachtung kommt es durch Ungleichverteilungen in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht zu einer unterschiedlichen Verteilung der Gesundheitsleistungen, von denen die Stärkeren profitieren. In einer existentiellen Notlage einer Erkrankung ist Hilfe durch die Sozialgemeinschaft erforderlich. Neben den individualethischen Aspekten der Gesundheitsbehandlung der in Not geratenen Personen hat dies einen allgemeinen gesellschaftlichen Nutzen, dass kranke Menschen wieder aktiv in das Sozialgefüge integriert werden können. Es spricht also eine ganze Menge dafür, ein gerechtes Allgemeinprinzip der Solidarität zu etablieren, sowohl für das Individuum als auch für die Gesellschaft. Gesundheit selbst ist ungleich verteilt. Sie ist zum einen individuell unterschiedlich: es gibt Erkrankungen, bei denen wir auch heute noch nicht helfen können. Andere Erkrankungen führen bei dem einen Individuum zu einer hohen Gebrechlichkeit und dauerhaftem Leiden, während es andere gut wegstecken. Es kommen zum anderen auch äußere Einflüsse wie Wohnbedingungen, Umweltschäden oder Bildung hinzu, die einen indirekten Einfluss auf Gesundheit haben. Die begrenzten finanziellen Ressourcen bedingen eine Rationierung. Eine solche Rationierung ist täglich geübte Praxis. Sie muss sich an dem Mach‐ baren und Umsetzbaren orientieren. Eine solche Vorgehensweise ist nicht nur ethisch zu rechtfertigen, sie ist auch ethisch geboten. Es bedarf also der gesellschaftlichen Einigung darüber, wie die Verteilung der Mittel im Gesundheitswesen zu gestalten ist, ohne sozial unverträglich zu sein. Eine Gesundheitsfürsorge ist sozialstaatlich zu gewährleisten. Diese konkurriert 28 1 Ökonomie <?page no="29"?> 16 Goldschmidt A.; Medizinethik und Wirtschaftsethik sind nicht dasselbe. In: Hessisches Ärzteblatt 2020 (11): S.-606-609 mit den weiteren Fürsorgepflichten von in Not geratenen Menschen. Und diese geht über die Sozialfürsorge hinaus und beschreibt auch die Aspekte der Sicherheit in Umweltfragen, Energie- und Wasserversorgung, Telekom‐ munikation und Informationstechnologie, Transport und Verkehr, Ernäh‐ rung sowie Finanzwesen sowie innere und äußere Sicherheit. Konzeptio‐ nelle Vorstellungen der Gewährung Kritischer Infrastruktur und deren Verteilungsmechanismen werden politisch und gesellschaftlich kontrovers diskutiert. Als möglicher Lösungsweg wird eine durch Steuern oder Beiträge refi‐ nanzierte medizinische Basisversorgung diskutiert, bei der darüberhinaus‐ gehende Leistungen durch individuelle Zusatzversicherungen zu vereinba‐ ren sind. Das Sozialrecht der gesetzlichen Krankenversicherung legt fest, dass jeder und jede das medizinisch Notwendige erhalten sollen. Die Leistungen sollen ausreichend und wirtschaftlich sein. In der gesetzli‐ chen Unfallversicherung wird das medizinisch Erforderliche in Betracht gezogen. Zugleich steht die zivilrechtliche und auch strafrechtliche Ver‐ antwortlichkeit der im medizinischen Kontext Arbeitenden einer solchen Betrachtung gegenüber: in Rechtsfragen wird die individuelle Situation hinterfragt und alles medizinisch Erdenkliche in die Betrachtung gezogen. Hieraus ergibt sich die Frage der normativen Festlegung und wie dies dann individualmedizinisch zu gestalten ist. Aber auch insbesondere bei Großschadensereignissen, wie Katastrophen, Massenanfall von Verletzten oder Erkrankten, einer Epidemie oder Pandemie kommen Grenzerfahrun‐ gen hinzu. Die Grenzen sind dann gesellschaftlich festzulegen. Besser ist es, diese Grenzen vorher festzulegen. In diesem Spannungsbogen bewegen sich politisches und wirtschaftli‐ ches Handeln. Dabei gilt es ‚Oikonomia‘, dem guten Haushalten von ‚Chrematistik‘, der Gier, zu unterscheiden. 16 Wenn im Rahmen der Kommerzialisierung der Gesundheitsbetreuung die Maxime aufgestellt wird, dass Aufwand zu einem gesunden Verhältnis zum Ertrag zu stehen haben, werden gesellschaftliche Risikogebiete nicht oder nicht ausreichend adressiert. 1.7 Verteilung 29 <?page no="30"?> 17 Amler, M.; Bollman, J.; Waldhauer, J.; Janella, M. (2021): „Aus der Krise zu Health in All Policies“. Tagungsbericht vom Kongress Armut und Gesundheit 2021. In: Bundes‐ gesundheitsbl 2021 (64): S.-1020-1025 18 ebda. Ging man anfangs davon aus, dass in der COVID-19-Pandemie das Virus alle Menschen gleichermaßen beträfe, so zeigten sich bereits früh Unterschiede. Niedriges Einkommen birgt generell eine niedrigere Lebenserwartung in sich, bei Männern stärker als bei Frauen. Menschen mit geringer Bildung, niedrigem Einkommen und Berufsstatus unterliegen einem erhöhten Risiko an Diabetes mellitus und an Krebs zu erkranken, einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall zu erleiden. Sie gehören damit zu jenen Risikogruppen, die ein erhöhtes Risiko haben, an COVID-19 zu erkranken oder zu verster‐ ben. Auch Langzeitarbeitslose haben ein deutlich erhöhtes Risiko gegenüber regulär erwerbstätig Versicherte. Zeigten sich zunächst höhere Inzidenz‐ zahlen in den sozioökonomisch besser gestellten Bevölkerungsgruppen verlagerte sich dies dann in die sozioökonomisch deprivierten Gruppen. In Armut erforderlicher Präsentismus, dem Arbeiten trotz Erkrankung, als auch prekäre Lebens- und Arbeitssituationen tragen zum Infektionsrisiko bei. Die Auswirkungen der Pandemie machen sich in Familien bemerkbar. Mehr als die Hälfte der Familien erleben die Situation als sehr belastend, aufgrund von existentiellen Ängsten und Überforderung mit der Pandemie. 17 Studierende zeigten - einem Bericht des Healthy Campus Mainz zufolge - pandemiebedingt eine höhere psychische Belastung, was Depression, Angst und psychosomatische Beschwerden angehe. Auch zeige sich ein fortwäh‐ rend riskanter Alkohol- und Drogenkonsum, wobei Präventionsangebote wegbrächen. Die psychosozialen Veränderungen betreffen Menschen, die sich gerade im Lebenswandel befinden, sich abkoppeln wollen von der Familie und ein eigenständiges Leben aufbauen wollen. Das funktioniert nicht, wenn man mehrere Semester im Kinderzimmer des Elternhauses verbringt und die Hochschule nicht sieht, am Campusleben nicht teilnehmen kann. Neuschaffung eines sozialen Netzes und neue Themen zur Persön‐ lichkeitsentwicklung mit eigner Rollenfindung sind in diesem gesellschaft‐ lichen Kontext nicht oder nur erschwert möglich. Studierende werden im betrieblichen Gesundheitsmanagement einer Hochschule nicht oder nur unzureichend bedacht. 18 30 1 Ökonomie <?page no="31"?> 1.8 Pandemie Wissen | Historischer Kontext Wir befinden uns im 14. Jahrhundert der Alten Welt, also jener Zeit, bevor Amerika entdeckt wurde und Europa, Asien und Afrika als Welt zu beschreiben waren. Das Pestbakterium (Yersinia pestis), war zunächst eine Erkrankung der Nagetiere, die sich teilweise auf den Menschen übertrug. Anfangs geschah dies in der Abgeschiedenheit in den Dörfern Himalayas. Dies änderte sich mit der Anbindung an die Seidenstraße. Das Bakterium verbreitete sich sowohl über die Handelswege als auch über die Seewege und gelangte dann im Mittelalter nach Europa. Dabei war die Geschwindigkeit dennoch gering, da sich die Menschen insgesamt nicht so sehr bewegten: sie betrug etwa 2-10 Kilometer pro Tag und breitete sich eher wellenförmig aus. Über die Handelswege verbreitete es sich in alle Abzweigungen und kaum ein Dorf wurde verschont und nagte sich in der schwachen Bevölkerung fest. Die Folgen waren dramatisch. Für Europa wird eine Sterberate von 25 Millionen Menschen eingeschätzt, etwa 50-60 % der seinerzeitigen Bevölkerung. Dem „Schwarzen Tod“ hatte man nicht viel entgegenzusetzen. Faul riechende Winde aus Asien oder Dämpfe aus dem Erdinnern wurden nach der Miasmenlehre als ursächlich angenommen. Auch wurde eine ungünstige Konstellation von Saturn, Jupiter und Mars postuliert. Ader‐ lass, ätherische und aromatische Substanzen waren die therapeutischen Methoden der Zeit. Gesellschaftlich vollzog sich eine Distanz, selbst die nächsten Angehörigen waren zur Gefahr geworden, wie Giovanni Boccaccio (1313-1375) in seinem Werk Decamerone literarisch beschrieb. Es wurde als Gottesstrafe angese‐ hen und war Nährboden für zahlreiche Verschwörungstheorien. Religiöse und spirituelle Bewegungen entstanden und Prozessionen versuchten die Menschheit von der Geißel zu befreien. Der Pestheilige St. Rochus fand große Verehrung. Da der Tod so nahe war, unterblieb Arbeit im Handwerk und auf dem Feld, was die Verelendung und den Mangel unterstützte. Kirchliche und weltliche Macht verloren an Autorität, der Schuldige war schnell ausgemacht. Judenprogrome wurden ausgeführt; die Brunnen- und Quellenvergifter waren angeklagt, die Katastrophe herbeigeführt zu haben. 1.8 Pandemie 31 <?page no="32"?> 19 Vasold, M.; Pest, Not und schwere Plagen, Verlag C.H. Beck - München - 1991: ISBN 3 406 35401 7) Adelige wie Klerus griffen je nach eigener Couleur ambivalent ein. Während das Unrecht erkannt wurde, nutzten andere diese Strömungen aus, um die eigenen Interessen von Macht zu verfolgen. 19 Das postpandemische Zeitalter der Pest war gekennzeichnet durch eine veränderte Nutzbarmachung des Landes, der Aufgabe der Leibeigenschaft und der Mechanisierung manueller Arbeiten. Die Erfindung des Buchdru‐ ckes führte zu einer Verbreitung von Wissen und zu einer besseren Bildung. Es folgten später die Aufarbeitung der Antike, der geistigen intellektuellen Befreiung und Neuschaffung eigenen Wissens, was über die Renaissance und den Barock langfristig in die Zeit der Aufklärung führte. Der Handel gewann in der postpandemischen Phase immer mehr an Bedeutung, insbe‐ sondere mit dem fernen und mittleren Orient. Vor allem Italien erlangte einen unendlichen Reichtum. Die Gesellschaft erkennt, dass durch eigenes Handeln und Wirken das Leben verändert werden kann. Die von Gott gegebene Ordnung gibt es nicht mehr, sie erscheint veränderbar. Neue Ideen entwickeln sich aus dem Reichtum des antiken Nachlasses, was wiederentdeckt und neu interpretiert wird. Der Mensch wird zum Maß aller Dinge mit persönlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten. SARS-CoV-2 bewegt sich in einem komplexen Mobilitätsnetzwerken, da spielt die Geografie keine Rolle mehr. Wer gestern in Hongkong war, ist heute in München und morgen in Los Angeles. Entstammte die sich entwickelnde Pandemie erst aus China, so kam das Virus über Italien nach Europa und auch zügig nach Nordamerika. Sodann erreichte es Südamerika und Indien als auch Russland. Afrika und Australien sind vergleichsweise wenig betroffene Weltregionen. Während in industrialisierten Regionen die Sterberaten erheblich anstiegen, blieb Afrika wohl verschont, wenngleich in den großen Städten des Kontinentes ein großes Gedränge besteht. Armut und eingeschränkte Hygienebedingungen liegen unzweifelhaft vor. Gründe werden angegeben in einer frühen Bereitschaft zu Einschränkung der Mobi‐ lität, dies aus Erfahrungen mit Ebola-Virus und Lassa-Fieber zurückgreifend. Trotzdem muss es andere Faktoren geben, da die Mobilitätseinschränkun‐ gen nur begrenzt aufrechtzuerhalten sind. Die meisten Menschen leben im informellen Sektor, Märkte sind beengt und grundlegende gesellschaftliche Hygienemaßnahmen wie die Trinkwasserversorgung und die Abwasserent‐ 32 1 Ökonomie <?page no="33"?> 20 Steinhagen, P.R.; Baumgart, D.C.; Grundlagen des Mikrobioms. In: Internist 2017 (58): S.-429-434 21 Sitzung des Unterausschusses Zivile Krisenprävention, Konfliktberatung und vernetz‐ tes Handeln vom 05.10.2020: Destabilisierende Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf Staaten des südlichen und westlichen Afrikas sorgung mittels Kanalisation existieren auch in den Großstädten nicht flächendeckend. Der Altersdurchschnitt mit 20 Jahren ist auf dem afrikani‐ schen Kontinent deutlich jünger als in den industrialisierten Zonen der Welt. Bei einer Erkrankung, von der Alte und gebrechliche Menschen das höhere Risiko haben, zu sterben, ist dies von Bedeutung. Es wird aber auch die Mikrobiotastruktur auf dem Boden einer erhöhten Biodiversidität diskutiert. 20 Das Immunsystem ist nicht nur durch die Genetik bestimmt. Es unterliegt auch Umwelteinflüssen, wie die Exposition gegenüber Mikroor‐ ganismen und Parasiten. Das stärkt die Immunantwort und insbesondere chronische Erkrankungen, wie sie in westlichen Kulturen zu beobachten sind, treten weniger häufig auf. Das könnte den Verlauf der Infektionskrank‐ heit deutlich abmildern. Es sind aber die anderen Folgen zu bedenken, die auf den afrikanischen Kontinent treffen. Die Haupteinnahmequelle von Tourismus und Handeln gehen verloren, was zu niedrigeren Einnahmen und zu niedrigeren Bruttoinlandsprodukten führt. Im Oktober 2020 wurde im Unterausschuss für Zivile Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und vernetztes Handeln berichtet, dass man nach Jahrzehnten kontinuierlichen Wachstums die erste ernstzunehmende Rezension erfahre. Die wirtschaft‐ lichen Folgen überwiegen die gesundheitlichen bei Weitem. Armut und Hungersnot verschlimmern sich und führen so zu einer erhöhten Sterberate. Die sozioökonomische Ungleichheit verschärft sich und ist Nährboden für Unruhen. Politisch haben insgesamt autoritäre Tendenzen zugenommen. Wo Korruption bereits ein strukturelles Problem war, hat dies in der Pandemie weiter zugenommen. Es gebe keine genuinen Corona-Konflikte, bestehende Konflikte verschärfen sich. 21 Die COVID-19-Pandemie trifft die Gesellschaft der Postmoderne. Aus‐ gehend von der angewandten Logik der Wissenschaften werden soziale und historische Aspekte der Wissenschaftsphilosophie integriert und zur inkongruenten Pluralität geführt. Die kürzeste Formel für die Postmoderne erbrachte Paul Feyerabend (1924-1994) mit „Anything goes“. Erfahrungen und Erkenntnisse, die von der Modernisierung selbst produziert und Ein‐ fluss auf die gesellschaftliche Entwicklung haben, werden hinsichtlich Tradition und Institution in Frage gestellt. Es zeigt sich eine gesellschaftliche 1.8 Pandemie 33 <?page no="34"?> und eine damit verbundene individuelle Verunsicherung. Leitplanken und Leitfiguren existieren nicht mehr. Es kommt zu einem Abschied von der Eindeutigkeit in allen gesellschaftlichen und künstlerischen Bereichen. Die Differenz von Arbeit und Privatleben ebnen sich ein und vermischen sich: Arbeiten und Leben greifen ineinander. Es geht nicht um die Beliebigkeit me‐ thodischer Regeln, es wird nach dem Sinn der Regel gefragt. Es ist sinnvoll sich an die Regel zu halten, bei einer roten Ampel eines Fußgängerüberweges zu warten. Wenn aber auf der anderen Seite etwas Schlimmes passiert, dann ist diese Beliebigkeit gerechtfertigt auf die andere Straßenseite zu rennen und Hilfe zu geben, wenn von der Seite weit und breit kein Auto kommt. Das ist aber nicht postmodern. Wissen | Tragik der Postmodernen Wenn die eingleisig-eindeutige Ausrichtung der Forschung durch die (eine) wissenschaftliche Methode modern ist, dann ist diese Aufforde‐ rung zur Beliebigkeit sicher postmodern. Dies betrifft den Zweifel an der Aussage, dessen Ausräumung zu einem Wissenszuwachs führt. Die Wissenschaft erfindet im Laufe ihrer Entwicklung immer mehr sich widersprechender Alternativen. Die Welt zeigt sich auf die unter‐ schiedlichsten Weisen, je nach Zugang zu ihr. Die Postmoderne ist kein Buch, sondern eine Collage. Es gibt keine großen Erzählungen mehr, es verbleibt das Kontroverse, die Postmoderne ist in sich selbst kontrovers. Es gibt eine unreduzierbare Vielfalt, die alle wichtig sind. Der Mensch sucht den Platz in der modernen Welt. Diese Welt ist zu komplex, um sie ganz erfassen zu können und somit findet der Mensch keinen Platz in dieser Welt. Unterschiedliche Gesellschaftssysteme konkur‐ rieren miteinander. Alte Traditionen werden thematisiert. Es gibt keine Helden der Zeit, es gibt nur den Menschen, der keinen Platz für sich in der Welt findet. Die Linearität geht verloren, Realität und Fiktion vermischen sich in einer globalisierten Welt. Hinzu tritt die Digitale Revolution mit erheblichen Veränderungen der Wirtschafts- und Arbeitswelt. Nach der neolithischen Revolution und der industriellen Revolution vollzieht sich ein gesamtgesellschaftlicher Wandel innerhalb weniger Jahrzehnte im globalen Kontext. 34 1 Ökonomie <?page no="35"?> Wie ein Brennglas zeigte die COVID-19-Pandemie Schwachstellen der Entwicklung auf, die es zu korrigieren gilt, um den kommenden Anforde‐ rungen gerecht zu werden. Der Versuch, das komplexe Thema der Verteilung begrenzter medizinischer Ressourcen gerecht und fair zu verteilen und gesundheitsökonomisch verantwortlich zu gliedern, zeigte sich nicht als gescheitert; besondere Herausforderungen für künftige Generationen wur‐ den akzentuiert. Die COVID-19-Pandemie hat nicht dazu geführt, eine globale Antwort zu entwickeln. Es verblieb bei der Kleinstaatlichkeit bis hin zu einzelnen Landkreisen, wie der Pandemie zu begegnen sei. Wenngleich das Virus durch die Globalisierung rasche Verbreitung gefunden hat, konnte die globalisierte Welt diesem Phänomen nicht effektiv begegnen. Pflichten- und Tugendethik verloren zu weiten Teilen ihren Platz. Im utilitaristischen Ansatz wurde das Leben von Menschen verhandelbar. Take-Home-Message | Ethik hat in der Gesundheitsökonomie seinen Platz und seine Bedeutung. Das Prinzip der gerechten Verteilung muss in unterschiedlichen Szenarien überdacht werden und passende Strategien angewendet werden. Es verbleibt immer ein Aspekt der Ungewohnt‐ heit, dafür sind solche Extremsituationen zu speziell. In Fragen einer Inkonsistenz im Handeln gilt es nach den Prinzipien der Medizin, die Symptome und den Kontext zu betrachten, eine geeignete Diagnostik einzuleiten, die Diagnose unter Beachtung der Differentialdiagnosen zu stellen und eine adäquate Therapie einzuleiten. Gesundheit und Ökonomie tragen in dieser Wechselwirkung eine gesamtgesellschaftli‐ che Verantwortung. Nach Rudolf Virchow (1821-1902) zu zitieren, ist Medizin eine soziale Wissenschaft, und die Politik nichts weiter als Medizin im Großen. 1.8 Pandemie 35 <?page no="37"?> 2 Gerechtigkeit Sahra (22) kümmert sich zuerst um ihren Sorgenpatientin Celine K., die intubiert und beatmet ist. Celine K. ist 24 Jahre alt und liegt wie viele Patienten auf der Intensivstation im Koma und ist in Lebensgefahr. Vor etwa 14 Tagen geschah der Unfall. Das Auto, in dem sie saß, ist von der Landstraße in die Böschung geraten und hatte sich mehrfach überschlagen. Blutungen im Gehirn. Jetzt kämpft sie um ihr Leben. Sie wurde mehrmals am Schädel operiert. „Im Moment macht sie Probleme mit dem Blutdruck“, erklärt Sahra. Sie arbeitet seit zwei Jahren auf der Intensivstation des kommunalen Klinikums. Nach der Ausbildung in der Gesundheitspflege wurde auf die Intensivstation eingeteilt. Ruhig und routiniert ruft sie nach der Ärztin. 2.1 Grenzsituationen Das Schädel-Hirn-Trauma zählt unverändert zu den großen medizini‐ schen und sozioökonomischen Herausforderungen unserer Zeit. Als Schädel-Hirn-Trauma bezeichnet man jede Verletzung des Gehirns aufgrund einer äußeren Ursache. Das leichte Schädel-Hirntrauma wird als Gehirnerschütterung bezeichnet. Die mittelschere Form bezeichnet man als Gehirnprellung. Folgen der Gewalteinwirkung sind am Ge‐ webe zu erkennen. Die schwerste Form wird als Gehirnquetschung bezeichnet und ist mit Einklemmung des Gehirns, Blutungen oder Ödemen, also diffusen Flüssigkeitsansammlungen verbunden. Infolge der Gewalteinwirkung kommt es zur Verletzung von Nerven und den Verbindungen. Durch weitere pathophysiologische Prozesse kommt es zu einem weiteren Abbau und Funktionsverlust von Nervenzellen. Das Gehirn stirbt ab. Beim mittelschweren und schweren Schädel-Hirn-Trauma sterben knapp ein Viertel der Patienten, die das Unfallgeschehen überlebt haben, noch im Krankenhaus. Etwa ein Fünftel der Patienten zeigen eine bleibende, dauerhafte Behinderung. Drei von vier Patienten mit schwerstem Schä‐ del-Hirn-Trauma sind besonders häufig von einer bleibenden Beeinträchti‐ <?page no="38"?> 22 Firsching, R.; Coma after acute head injury. In: Dtsch Arztebl Int 2017; 114: 313-20. DOI: 10.3238/ arztebl.2017.0313 23 Österreichische Ärztezeitung Nr. 5 / 10.03.2018 (https: / / www.aerztezeitung.at/ archiv/ oeaez-2018/ oeaez-5-10032018/ deklaration-von-genf-hippokrates-und-das-aerztliche-g eloebnis.html) gung betroffen. 22 Die Fortführung der Therapie kann für die Beteiligten eine Herausforderung darstellen. Insbesondere wenn sich bei Celine K. ein bleibendes Wachkoma entwickelt, stellt sich die Frage nach dem gerechten Handeln. Angesichts dieser Datenlage ergibt sich Konfliktpotenzial hinsichtlich des Dienstes an der Menschlichkeit, zu der sich ärztliches Handeln nach dem Genfer Gelöbnis des Weltärztebundes verpflichtet. Gesundheit und Wohlergehen verstehen sich als oberstes Anliegen ärztlicher Verpflichtung. Autonomie und Würde verdienen höchsten Respekt. Wissen | Genfer Gelöbnis des Weltärztebündnis Das Genfer Gelöbnis ist als moderne Fassung des Eids des Hippokrates zu verstehen. Es wurde 1948 vom Weltärztebund beschlossen. Angepasst an die medizinische und gesellschaftliche Entwicklung erfuhr es in den folgenden Jahren mehrere Anpassungen. In der aktuellen Fassung von 2017 wurde die vertrauensvolle Arzt-Patienten-Beziehung, die Selbst‐ bestimmung der Patientinnen und Patienten und die Verpflichtung der Ärztinnen und Ärzte, auf die eigene Gesundheit zu achten als die wichtigsten Neuerungen aufgenommen. 23 Es ergibt sich in diesem Kontext die Frage nach dem, was moralisch richtig oder falsch, gut oder böse oder auch gerecht und ungerecht ist. Im utilitaris‐ tischen Ansatz wäre diejenige Handlung als moralisch richtig zu bewerten, die das Wohlergehen aller Betroffenen maximiert. Im universalisierenden Ansatz, dem kategorischen Imperativ nach Immanuel Kant (1724-1804) ergibt sich das Erfordernis einer Handlungsmaxime, von der zugleich zu wollen ist, dass sie ein allgemeines Gesetz werde. Fallbeispiel | Ein älteres Ehepaar, beide deutlich über 80 Jahre beschreibt die jeweiligen Wünsche. Erna B. (84) wünscht sich eine 38 2 Gerechtigkeit <?page no="39"?> Behandlung, wenn die Ärzte der Meinung sind, ihr helfen zu können und glauben, dass sie die ganze Prozedur überstehen würde. Harald B. (87) sagt, dass er nicht mehr in die Klinik gehen wolle und im Heim gut gepflegt wäre. Er erklärt, dass er den größten Teil seines Lebens gelebt habe. In dieser Konstellation erscheint die Therapieentscheidung überschaubar, denn sie ist zuvor erklärt worden. In der konkreten Situation zählt die Pro‐ gnose hinein, wie sich das Leben nach intensivmedizinischer Behandlung inklusive einer Beatmung gestaltet. Im Hinblick auf die Patientenautonomie ergibt die die Frage, ob man das, was sich entwickelt, noch will oder nicht. Auf der Intensivstation ergibt sich oft die Frage, ob eine Fortführung der Therapie bzw. die Ausweitung der Therapie als sinnvoll zu erachten ist. Die am Prozess beteiligten Ärzte und Ärztinnen, Pflegende, Therapeuten, Patienten und Angehörige bewerten die Sinnhaftigkeit unterschiedlich, weil sie sich unterschiedlicher Bewertungsgrundlagen bedienen. Evidenzbasiert lassen sich allenfalls Einschätzungen geben, inwieweit ein Überleben oder eine Stabilisierung zu erzielen ist. Aus der Sicht der Patienten ist jedoch das Therapieziel möglicherweise nicht erstrebenswert, wenn sich ein lebenslan‐ ges Koma einstellt. Das unterliegt einer individuellen Bewertung. Die Herausforderung wird dadurch verschärft, als dass es sich um einen zeitlich prozessualen Ablauf handelt, bei der unterschiedliche Akteure zu unterschiedlichen Zeiten mit unterschiedlichen Ereignissen in der Behand‐ lung auseinanderzusetzen haben. Fallbeispiel | Josef S. (77) ist an einer schweren Herzentzündung erkrankt. Nach Untersuchung in der Notaufnahme des Krankenhauses wird er unmittelbar auf die Intensivstation aufgenommen. Unter der erforderlichen medikamentösen Therapie zeigt sich eine zunehmende Verschlechterung und Erschöpfung. Josef S. ringt ständig nach Luft. Er klärt sich seinem Sohn gegenüber, noch nicht gehen zu wollen. Aufgrund der zunehmenden Erschöpfung kommt die Frage einer kontrollierten Beatmung auf. Während einerseits eine Entlastung in den Anstrengungen und in der todesangsterfüllten Luftnot zu erwar‐ ten steht, wird andererseits mit der Beatmung ein sich einstellendes Multiorganversagen seitens der Behandler befürchtet. Josef S. wird 2.1 Grenzsituationen 39 <?page no="40"?> intubiert und kontrolliert beatmet. Nach anfänglicher Stabilisierung kommt es schrittweise zum Multiorganversagen. Das Leben ist zuletzt nur noch durch kreislaufunterstützende Medikamente zu erhalten. Aufgrund der mangelnden Prognose auf ein Überleben, werden in Absprache und mit Einwilligung der Angehörigen die Therapiemaß‐ nahmen eingestellt. Die interprofessionelle Interaktion konnte die Frage der Vermeidung einer Übertherapie durch sinnlose Fortführung lebenserhaltender Maßnahmen gegenüber der Unterversorgung mit verfrühter Begrenzung von medizi‐ nisch erforderlichen Maßnahmen klären. Dennoch zeigte sich im Team als auch bei den Angehörigen ein verbliebenes Unbehagen. Beim alten Menschen ist ein terminales Nierenversagen eine schwere und die Lebenszeit limitierende Erkrankung. Therapieansatz ist die Dialyse. Beim Dialyseabbruch und -vorenthalt handelt es sich um eine passive Ster‐ behilfe; der Tod tritt infolge des natürlichen und unaufhaltsamen Verlaufs der zugrunde liegenden Erkrankung ein. Fallbeispiel | Erna F. (87) ist an einer akuten schweren Niereninsuf‐ fizienz auf dem Boden einer seit Jahren bestehenden chronischen Niereninsuffizienz erkrankt. Die sogenannten Nierenretentionswerte sind erheblich erhöht. Der Körper vergiftet sich selbst mit dem jedem Tag mehr und mehr. Erna F. erklärt, keine Dialysebehandlung haben zu wollen. Das stellt eine invasive Maßnahme dar, zu der es einer Einwilligung bedarf. Die betreuende Ärztin Insa P. (36) erarbeitet ein konservatives Therapiekonzept mit Medikamenten, der die Patientin zustimmt. Entgegen allen Erwartungen konnte die konservative The‐ rapie die akute Niereninsuffizienz in eine chronische Niereninsuffizi‐ enz umwandeln und Erna F. verließ das Krankenhaus in ihre bisherige häusliche Umgebung. Die anfängliche diskutierte Dialyse stellt eine Methode dar, die mit einer Le‐ bensverlängerung einhergeht. Dem allgemeinen moralischen Prinzip der Le‐ bensverlängerung würde entsprochen werden. Der individuell ausgedrückte Wunsch nach Vermeidung der Dialyse entbindet von der operationalen 40 2 Gerechtigkeit <?page no="41"?> Verpflichtung zur Erhaltung des Lebens auf invasiver Ebene, eben durch die Dialyse. Dies schließt aber eine medikamentöse Therapie, zu der die Patientin einwilligt, nicht aus. Daraus ergibt sich nicht mehr das Prinzip, das Leben zu erhalten, sondern das Prinzip, das Wohlergehen der Patientin zu fördern. Die Verpflichtung das Bestmögliche für das Wohlergehen der Patientin zu tun, bleibt immer erhalten und hat sich bei dieser Patientin durchgesetzt. 2.2 Prinzipienethik Wissen | Prinzipienethik Die von Tom Lamar Beauchamp (*1939) und James Franklin Childress (*1940) in den 1970er-Jahren beschriebenen vier medizinischen Grund‐ prinzipien bestimmen auch heute noch wesentlich den medizinethi‐ schen Diskurs. Es ist zum einen das Prinzip des Wohltuns oder Nutzens, was uns verpflichtet, bestmöglich das Wohlergehen zu fördern. Das Prinzip des Nichtschadens, was uns dazu verpflichtet, keinen Schaden zuzufügen. Die Autonomie ist zu respektieren, was dazu führt, das durchzuführen, was Betroffene für sich selbst wünschen. Das vierte Prinzip ist das Prinzip der Gerechtigkeit, was darauf abzielt, Nutzen und Lasten im Gesundheitssystem gerecht zu verteilen. Das Prinzip des Wohltuns und des Nutzens wird im Lateinischen beschrie‐ ben als „salus aegroti suprema lex“ und beschreibt die Sicherheit bzw. das Wohl als oberstes Gesetz. Mit dem angloamerikanischen Begriff „bene‐ ficience“ verbindet sich, Gutes zu tun. Dabei geht es um die Begrifflichkeit des Wohltuns, was wir in Deutschland als Umschreibung verwenden. Dieses Prinzip verpflichtet uns dazu, Patienten zu nutzen im Sinne eines aktiven Handelns, gesundheitlichen Schaden zu verhindern oder zu verbessern. Es verfolgt das Ziel, die Lebenserwartung und die Lebensqualität zu verbessern. Bei der Anwendung des Prinzips findet sich das Problem der Bewertung der Lebensqualität. Hierbei unterscheiden Menschen vor dem individuellen, historischen und gesellschaftlichen Hintergrund die Lebensqualität. Es existieren unterschiedliche evaluative Vorstellungen des guten Lebens. 2.2 Prinzipienethik 41 <?page no="42"?> Das zweite Prinzip ist das Prinzip des Nichtschadens, was im englischen Sprachraum als „nonmaleficence“, als die Nichtmangelhaftigkeit bezeichnet wird. Im Lateinischen ist es als „primum nil nocere“, dem „Erstens, schade nicht“ geschrieben, was nochmals die Dringlichkeit auch eines Nichtstuns unterstreicht. Diese Maxime als oberstes Gebot war früher sinnvoll, da die Medizin oftmals mehr schaden als nutzen konnte. Die weitere medizinische Entwicklung hat jedoch Möglichkeiten geschaffen, die die Grenze des Nichtschadens weiter nach außen führt. Heute geht es darum, mit den medizinischen Methoden nach Möglichkeit keinen Schaden zuzufügen. In vielen Fällen sind Nutzen und Schaden gegeneinander abzuwägen. Eine solche Entscheidungsfindung ist nicht einfach oder trivial und stellt für alle Beteiligten zuweilen eine Herausforderung dar. Der Nutzen einer Maß‐ nahme ist gegenüber den Risiken und den damit verbundenen Erfolgsaus‐ sichten im individuellen bio-psychosozialen Kontext abzuwägen. Auch im Expertenkreis können hier ganz unterschiedliche Auffassungen vertreten sein, Kontroversen bestehen. Das dritte Prinzip ist der Respekt der Autonomie. Dieses Prinzip entwickelt sich aus dem Selbstbestimmungsrecht, was jedem Individuum zu‐ gestanden ist, also die Freiheit über sich selbst zu bestimmen. Dies beinhaltet die Freiheit von äußerem Zwang und manipulativer Einflussnahme. Mehr noch richtet es sich dahingehend, Patienten in ihrer Entscheidungsfähigkeit zu fördern und sie in ihrer Entscheidungsfindung zu stützen. Die individu‐ elle Kompetenz zur Entscheidung, ob eine Therapiemaßnahme eingeleitet wird oder nicht, wird im Rahmen von Bildung aber auch durch eine ärztliche Begleitung und Beratung unterstützt. Patienten kommen nicht autonom in die Behandlung. Sie müssen erst in die Lage versetzt werden, infolge der mit den Erkrankungen verbundenen neuen Informationen und Sach‐ zusammenhänge medizinischer Fragestellungen, eigenständige Positionen einzunehmen. Ein solches informiertes Einverständnis liegt dann vor, wenn Patienten ausreichend aufgeklärt worden sind, die Aufklärung verstanden wurde, es sich dabei um eine freiwillige Entscheidung handelt, eine Entscheidungs‐ kompetenz vorliegt und auch eine Zustimmung erteilt wird. Hieraus ergibt sich die Pflicht zur Aufklärung, die im Patientenrechtegesetz nochmals normativ verdeutlicht wurde. Dabei handelt es sich um eine Kodifizierung und nicht um eine Neuregelung der vormaligen Praxis. In der Ausgestaltung ist die informative Einwilligung in Ausmaß und Grenzen in einer umfangrei‐ chen Spruchpraxis der Gerichte entwickelt worden. Es ist zu erkennen, dass 42 2 Gerechtigkeit <?page no="43"?> dies ein sehr anspruchsvolles Konzept darstellt. Es ist aber nach Möglichkeit anzustreben, wenngleich es in der Praxis nicht immer im Vollbild realisiert werden kann. Die Aufklärung zu einer medizinischen Intervention adressiert das Verstehen der erforderlichen Handlung als Solche, die als Sachaufklärung zu verstehen ist. Hierbei ist es wichtig aus der Sicht des erkrankten Menschen die Vorgehensweise nahe zu bringen, ohne in eine medizinische Vorlesung zu driften, was eine Überforderung darstellt. Im Weiteren sind mit jeder medizinischen Maßnahme auch Gefahren verbunden, die in relativen Häu‐ figkeiten auftreten können, die selten, aber für die Maßnahme spezifisch sind oder auch noch völlig unbekannt sind. Zur Autonomie gehört aber auch das Recht auf ein Nichtwissen, was in Einzelfragen auch ein Konflikt‐ potenzial in sich bergen kann. Dies tritt insbesondere dann auf, wenn eine gesetzliche Betreuung oder eine Vertretung für einen Patienten oder eine Patientin agiert. Es tritt aber auch dann auf, wenn zu erspüren ist, dass der Sachverhalt als Solches nicht verstanden worden ist und dennoch eine Entscheidung über den weiteren Therapieverlauf zu erarbeiten ist. Das vierte Prinzip der Gerechtigkeit ist historisch jünger einzuordnen und adressiert eine faire Verteilung von Nutzen und Lasten im Gesundheits‐ wesen im Sinne von Verteilungsgerechtigkeit. Die große Herausforderung besteht darin, die gerechte Verteilung zu bestimmen. Gesellschaftlich sind einerseits Kriterien zu bestimmen und festzulegen und andererseits gilt es, dem individuellen Aspekt der optimalen Behandlung gerecht zu werden. Ein formales Gerechtigkeitsprinzip kann definiert werden, als dass gleiche Fälle gleich zu behandeln sind. Ungleiche Fälle sollten nur insofern ungleich behandelt werden, als sie moralisch relevante Unterschiede aufweisen. Bei knappen Ressourcen ergeben sich Fragen der Gerechtigkeit von Verteilung. Fallbeispiel | Drei Patienten liegen auf der Intensivstation. Ihre Situation verschlechtert sich nahezu zeitgleich und das Ärzteteam steht in der Entscheidung, das einzig verbliebene Beatmungsgerät einzusetzen. Der 46-jährige Patient Heinrich K. hat aufgrund seiner Trunksucht, die er am Hafen regelmäßig befriedigt, bereits eine beträchtlich vor‐ geschädigte Leber. Die Gerinnungssituation des Blutes ist erheblich eingeschränkt. Er lebt allein im Hinterhof einer Fischerei und verdingt 2.2 Prinzipienethik 43 <?page no="44"?> sich mit Tagelohn. Aufgrund einer Lungenentzündung verschlechtert sich seine Atemfunktion zusätzlich. Fallbeispiel | Die 27-jährige Patientin Natalie A. hat vor einer Woche eine Tochter geboren. Sie arbeitet als Sekretärin eines mittelgroßen Handelsunternehmens. Jetzt ist sie mit einer Schwangerschaftsver‐ giftung wieder aufgenommen worden (HELLP-Syndrom). Die Leber‐ funktionswerte sind deutlich erhöht und die Gerinnungsfähigkeit des Blutes ist eingeschränkt. Die Lungenfunktion verschlechtert sich erheblich. Fallbeispiel | Der 78-jährige Rentner Alfons P. erlitt auf der Au‐ tobahn als Fahrer eines PKWs einen Verkehrsunfall, als ihm ein Geisterfahrer entgegengekommen war. Hierbei wurde ein offener Oberschenkelbruch links sowie ein Unterarmbruch links voreinigen Tagen operiert. Es kam zu septischen Komplikationen, die mehrfa‐ che Revisionsoperationen am Oberschenkel erforderlich machten. Zudem ist eine Verbrauchskoagulopathie entstanden, die zu einer erheblichen Störung der Blutgerinnung geführt hat. Dabei zeigte sich im CT eine spontane diffuse Einblutung. Die Neurochirurgen sehen keine Notwendigkeit der operativen Intervention. Auf dem Boden der Lungenkontusion hat sich eine Lungenentzündung entwickelt. Die Atemsituation verschlechtert sich zusehends. Alle drei Patienten haben zwar eine unterschiedliche Krankheitsursache, jedoch jeweilig das gleiche Problem. Sie haben ein Gerinnungsproblem mit der Gefahr zu verbluten und bedürfen aufgrund der Lungenfunktion unbedingt das einzig zur Verfügung stehende Beatmungsgerät. In diesem Modell sei grundsätzlich angenommen, dass sie über die gleiche Prognose im Behandlungserfolg verfügen. Alle haben einen begründeten Anspruch auf das Beatmungsgerät. Sie unterscheiden sich im Alter und in ihrer gesellschaftlichen Einbindung. Eine absolut richtige und faire Entscheidung lässt sich anhand der Prinzipien 44 2 Gerechtigkeit <?page no="45"?> 24 Salomon, T.; Rothgang, H.; Gesundheitsökonomische Evaluation bei Leistung für Se‐ nioren. Führen diese zu einer Benachteiligung gesundheitsfördernder und präventiver Maßnahmen? In: Präv Gesundheitsf 2011 (6): S.-138-144 und ohne die Berücksichtigung öffentlicher Debatten und Argumente nicht treffen. Im Deontologischen Ansatz ergibt sich die Pflicht, währenddessen im Teleologischen Ansatz der Nutzen zum Wohle aller gilt. Es stellt sich die Frage, wie „Nutzen“ im gesellschaftlichen Kontext zu definieren ist. Ein erwähnenswerter Nutzen könnte durch einen zu erwägenden Beitrag der auszuwählenden Person für die Gemeinschaft sein. So könnte der Aspekt dahingehend ausgerichtet werden, als dass Nathalie A. Mutter geworden ist und einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit nachgeht, währenddes‐ sen Alfons P. berentet ist und Heinrich K. alleinstehend ist und sich nur tageweise verdingt. Es erscheint eine praktikable Lösung, die sich nach dem höchsten Potenzial der Teilhabe am Sozialversicherungssystem ausrichtet und dennoch wirkt dies obskur und dubios. So könnte Heinrich K. als ehema‐ liger Physiker sich seiner Fähigkeiten besinnen und entscheidende Beiträge zur alternativen Energiegewinnung und somit Fragen zum Klimawandel beantworten. Alfons P. engagiert sich möglicherweise in der Stadtbibliothek und hält regelmäßig Lesestunden für die Kleinen der Stadt. Nathalie A. lebt in einer toxischen Beziehung, in dem der Vater vor dem Hintergrund seiner eigenen seelischen Verletzungen und Fokussierung des Lebens auf das sich erfolgreich entwickelnde Kind zum Filmstar nur noch den Ausweg in einem erweiternden Suizid sieht. Der indische Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Amartya Sen (*1933) beschreibt in dem Kontext der Verteilung von einem Gut - bei unterschiedlich definierten, aber gleicher Bedürftigkeit - die Gerechtigkeit nicht als ein abstraktes monolithisches Prinzipiengebäude, sondern als eine Vielzahl konkurrierender Grundsätze, die in ihrer Pluralität miteinander im Wettstreit sind und Versionen der Gerechtigkeit begründen. „Was uns antreibt, ist nicht die Erkenntnis, dass die Welt nicht durch und durch gerecht ist, was kaum jemand erwartet, sondern die Tatsache, dass es um uns herum offensichtlich vermeidbare Ungerechtigkeiten gibt, die wir beseitigen wollen.“ 24 In dieser Fragestellung wird die moralische Relevanz der bestehenden Unterschiede in die Beantwortung aufzunehmen sein. Man könnte zum Beispiel argumentieren, dass die jüngere Patientin weniger von ihrem Leben 2.2 Prinzipienethik 45 <?page no="46"?> 25 Schmidt, J.; Kriwy, P.; Allokation knapper Ressourcen auf COVID-19-PatientInnen. Ergebnisse einer Vignettenstudie. In: Präv Gesundheitsf 2022 (17): S.-545-551) gehabt hat und es daher gerecht wäre ihr das Beatmungsgerät zuzuteilen. Zudem hat sie die Sorge, um ihr neugeborenes Kind zu erfüllen. Man könnte aber auch argumentieren, dass jeder Mensch unabhängig vom Alter das gleiche Recht auf eine lebenserhaltende Maßnahme hat. Dann wäre der Altersunterschied moralisch irrelevant. Alle sollten dann die gleiche Chance haben und man könnte dann nach einem Zufallsprinzip entscheiden lassen. Bei jedwedem Aspekt verbleibt das Unbehagen um Gerechtigkeit und um Ungerechtigkeit. Grundgesetzlich verankerte Prinzipien der Würde, Freiheit und Gerech‐ tigkeit stellen im hiesigen gesellschaftlichen Kontext die Entscheidungs‐ maxime dar. In einer Vignettenstudie wurden Knappheitsentscheidungen von medizinischen Laien bei der Behandlung von COVID-19-Patienten untersucht. Hierbei wurden unterschiedliche Fallkonstellationen von me‐ dizinischen Laien eingeschätzt. Es zeigte sich, dass jüngere Patienten, Männer, Erkrankte mit hohen Genesungschancen aber auch Menschen mit eigenen Kindern oder in Berufen in einem Krankenhaus tendenziell bevorzugt wurden. Bewusst oder unbewusst erscheinen soziale Kriterien bei der Entscheidungsfindung hinsichtlich der Zuweisung medizinischer Ressourcen mitzuwirken, was aus medizinischer und ethischer Sicht nicht erlaubt ist. 25 Die Problematik verschärft sich, wenn bei einer bestehenden Beatmungs‐ situation die Frage des Abbruchs der Behandlung zugunsten eines Drit‐ ten kommt. Die Rechtswissenschaft und Politik neigen dazu, den Behand‐ lungsabbruch zu verneinen. Die Medizin und die Gesundheitsökonomie befürworten möglicherweise eher einen Behandlungsabbruch zugunsten des Dritten ob der Perspektive hinsichtlich der individuellen Prognosen, währenddessen die Ethik sich in dieser Frage gespalten darstellt. 2.3 Trolley-Phänomen Utilitaristik und Konsequentialistik zeichnen sich dadurch aus, als dass über Personengrenzen hinweg aufgerechnet wird. Daneben gibt es die große Pflichtenethik, die auf Immanuel Kant (1724-1804) zurückgeht. In dieser Betrachtung kann gefragt werden, was für das Individuum auf dem Spiel 46 2 Gerechtigkeit <?page no="47"?> steht, wenn die Behandlung nicht durchgeführt wird. Man ist geneigt zu sagen, dass bei demjenigen, der oder die eine größere Lebenserwartung hat, mehr Leben auf dem Spiel steht. Diese Frage leuchtet anders auf, wenn die 65-jährige Bürgermeisterin Anne K. mit einer begrenzten Lebenserwartung mit dem 18-jährigen drogenabhängigen und strafrechtlich verfolgten Felix N. zu vergleichen und möglicherweise zu verrechnen ist. Auch wenn die Beendigung der Beatmung ein Entzug von Hilfe und damit nicht als aktives Handeln, sondern als ein ‚Geschehenlassen‘ zu verstehen ist, hilft dies nicht in der moralischen Bewertung. Wissen | Trolley-Problem Beim Straßenbahn-Beispiel, dem Trolley-Problem der englischen Moral‐ philosophin Philippa Foot (1920-2010) wird die Problematik verdeutlicht: Edward ist am Stellwerk eines Gleises beschäftigt. Es ist sein Job, das Stellgleis zu bedienen. Jeden Tag reine Routine. Heute aber gibt es ein Problem. Der Führer eines Straßenbahnwagens, dessen Bremsen auf der abschüssigen Strecke versagen, rast mit hohem Tempo auf Edward zu. Die Bahn rollt geradewegs auf fünf Gleisarbeiter zu, die davon nichts hören und nichts sehen. Wenn Edward nichts tut, sterben alle fünf Gleisarbeiter. Edward kann die Weiche stellen, aber auf dem anderen Gleis steht auch ein Arbeiter, der von der kommenden Gefahr auch nichts mitbekommt. Hier würde ein Einzelner sterben. In diesem Augenblick ist Edward die einsamste Person in der Welt und muss entscheiden, wie die Weiche zu stellen ist. Unternimmt Edward nichts, überlässt er die fünf Arbeiter ihrem Schicksal. Stellt Edward aber das Stellgleis um, so opfert er ein Leben und rettet fünf Menschenleben. Wenn diese Frage nicht zu beantworten ist, so kann dem Problem noch eins draufgesetzt werden. Edward steht jetzt auf einer Brücke, die vor den fünf Gleisarbeitern steht. Die Straßenbahn rast auf die fünf Personen zu. Vor Edward steht ein dicker Mann, der die Bahn zum Stehen bringen könnte, wenn er ihn von der Brücke stoßen würde. Aber er würde dabei sterben. Bei dem Gleisarbeiterproblem der fünf Gleisarbeiter und des einen Gleis‐ arbeiters auf der anderen Strecke könnte eine Abwägung dahingehend getroffen werden, als dass alle an der Reparatur des Gleises beteiligt sind 2.3 Trolley-Phänomen 47 <?page no="48"?> und sie somit eine Beteiligungsgemeinschaft darstellen. Wäre statt des einen Gleisarbeiters eine Brücke mit einem Passanten, der verstirbt, weil der Zug die Brücke zerstört, dann fällt uns die Entscheidung schwerer, da dieser nicht an den Gleisarbeiten beteiligt ist. So ergeht es auch dem Mann auf der Brücke, der runterzustoßen wäre, genauso. Am Ende ist es eine gesellschaftliche Verhandlungssache. Problematisch ist das Fehlen eines Triagegesetzes oder Priorisierungsgesetzes als Ausdruck einer staatlichen Verständigung und Konsensfindung. Ethisch moralische Grundsätze, die sich grundsätzlich eher an Pflichten und Tugenden orien‐ tieren, werden in Krisensituation eher im Hinblick auf die Konsequenzen für das Gemeinwohl ausgerichtet sein. Eine nicht unerhebliche Anzahl von Menschen denken, dass beim Straßenbahnproblem die Anzahl der Menschen verrechenbar erscheint. Gedankenexperiment | Ein Virus hat eine Sterblichkeitsrate von 0,1 % der Bevölkerung. Auf der einen Seite ist es Tikopia, die südlichste bewohnte Insel der Salomonen mit etwa 1.000 Einwohnern in der Nachbarschaft zu Australien. Auf der anderen Seite ist es Indien mit 1,4 Milliarden Einwohnern. Die individuelle, gesellschaftliche und gesundheitliche Zumutbarkeitsrate ist in beiden Regionen gleich. Statistisch wäre auf der Insel ein Todesopfer zu beklagen, während in Indien 1,4 Millionen resultieren werden. Die Frage ist zu beantworten, welche Region vor dem Virus zu schützen ist oder auch welcher Region der Impfstoff bereitgestellt wird. Bei gleichem Risiko erscheint es dennoch absurd, diesbezüglich eine Münze zu werfen. Unter der Annahme, man könne das Leben eines Menschen saldieren, könnte das Bewusstsein entstehen, man könne dies im utilitaristischen Ansatz verrechnen. Der deontologische Ansatz beschreibt, dass jedem Leben ein unendlicher Wert beizumessen ist. Wir sind jedoch nicht verpflichtet, um jeden Preis zu helfen. Im Rahmen der Pflichten- und Rechteethik haben wir auch das Recht, nicht um jeden Preis helfen zu müssen. Es gibt eine Grenze des Forderungsgrades, Menschen zu helfen. Das Helfen kann für den Helfenden eine Überforderung werden, zu der dieser auch nach Pflichten- und Rechteethik nicht verpflichtet ist. Eine an Konsequenzen orientierte 48 2 Gerechtigkeit <?page no="49"?> Ethik kann dazu führen, dass es den Einzelnen oder die Gemeinschaft überfordert. Take-Home-Message | Gerechtigkeit kann beschrieben werden, als der beständige und unwandelbare Wille, einem jeden das ihm Gebüh‐ rende zukommen zu lassen. Die sogenannte Distributive der Vertei‐ lungsgerechtigkeit beschreibt die faire oder gerechte Verteilung be‐ grenzter Ressourcen. Justitia trägt neben den Waagschalen, die als Zeichen der Ausgewogenheit gelten, eine Augenbinde, die sie unabhän‐ gig machen lässt von Parteilichkeit, was ihr ein Zeichen der Unabhän‐ gigkeit ist. Gerechtigkeit ist auch ein Belassen von Ungleichheit, denn den Menschen liegen unterschiedliche Begabungen und auch Rahmen‐ bedingungen zugrunde. Es ist aber auch der Anspruch danach auszu‐ richten, in einer gerechten Gesellschaft Ungleichheiten zu vermeiden. Im medizinischen Kontext bedeutet dies die Frage der Zugänglichkeit medizinischer Versorgung auch bei knappen Ressourcen. 2.3 Trolley-Phänomen 49 <?page no="51"?> 3 Autonomie Die Tugend der Toleranz, dem Zulassen anderer Überzeugungen sind im demokratisch-liberalem Denken tief verankerte Paradigmen, die uns selbstverständlich erscheinen. Auf dem Boden von gegenseitiger Akzeptanz und Toleranz begegnen sich Staaten und auch vernunftbegabte Individuen. Toleranz ist die Bereitschaft, Dinge hinzunehmen und zu akzeptieren. Pro‐ blematisch wird es, wenn sich hieraus Falsches oder moralisch Schlechtes entsteht. In der vervollkommneten absoluten Toleranz müsste dann auch das moralisch Schlechte gewährt werden. Das ist das Toleranzparadoxon. 3.1 Toleranz Es muss also gute Gründe geben, tolerant zu sein. Es ist nach John Stuart Mill (1806-1873) die menschliche Verschiedenheit, die in sich selbst wertvoll ist, zum andern die Achtung der menschlichen Eigenständigkeit, die es jedem einzelnen ermöglicht, eigene Entscheidungen zu treffen. Toleranz ist in der modernen liberal-demokratischen Gesellschaft verankert in der Achtung der Autonomie anderer und dem Recht des Einzelnen auf eine eigen freie Willens- und Meinungsbildung. Menschen sind im Denken und zum Handeln frei, insofern Handlungen moralisch zu vertreten sind und einem anderen nicht schaden. Leid und Schaden entstehen, wenn die Autonomie anderer verletzt wird. Die Autonomie kann als eine gesellschaftlich zugesprochene Kompe‐ tenz zugesprochen werden, die auch gelernt werden will. Möglicher‐ weise ist sie aber auch eine dispositionelle Eigenschaft des Menschen, die nur dann zum Tragen kommt, wenn sie sich entfalten darf. Sie ist dann eine in sich ruhende Eigenschaft, die möglicherweise bestimmter Potenziale bedarf, um Wirksamkeit zu entfalten. Die Gründe zur Ent‐ wicklung der Autonomie sind unerforscht. Gesellschaftliche Umstände ermöglichen Autonomie oder auch nicht. Was innerhalb des eigenen gesellschaftlichen Systems in Toleranz gelebt wird, kann sich in Into‐ leranz gegenüber anderen gesellschaftlichen Gruppen und zum Verlust der Autonomie des anderen führen. So können Kriege, Zerwürfnisse <?page no="52"?> und Untergang von Kulturen, Zwietracht und Streit in interpersonellen Beziehungen entstehen. Derzeit erfahren wir in Big Data und Internetnutzung, elektronischer Überwachung und Maßnahmen zur Selbstoptimierung … Strukturen, die der Selbstautonomie stark widersprechen. Praxisbeispiel | Julia S. (22) kontrolliert ihre Trainingsleistungen mit Wearables. Von der Krankenkasse erhält sie Gutschriften für ihre körperliche Fitness. Täglich werden die Leistungen überprüft und festgehalten. Der Diätplan wird elektronisch auf ihre Laufbedürfnisse erstellt. Mobil sind die Daten des Kühlschrankes erfasst, so dass sie - ihren Bedürfnissen entsprechend - an den Einkauf erinnert wird. Die Nahrungsergänzungsstoffe werden von der Apotheke pünktlich geliefert, wenn die bisherige Lieferung aufgebraucht ist. Im Internet bekommt sie regelmäßig neue Impulse hinsichtlich Fitness-Kurse, Vitaminpräparate und Online-Meetings mit Gleichgesinnten. Wenn Sport der allgemeinen Ertüchtigung, Freude an der Bewegung und auch an der damit vermittelten Interessengemeinschaft dienen, kann die Verwendung von Wearables oder Tracks zu einem Monitoring führen, das sein Eigenleben führt. Aus der intrinsischen Motivation kann sich dann eine extrinsische Vorgabe entwickeln. Aus Freizeit und Erholung wird Verpflichtung und Stress. Und alles ist überwacht. Autonomie ist gefährdet. Autonomie ist jedoch die Grundlage unserer Gesellschaft. Die parlamentarische Demokratie beruht auf der selbstver‐ ständlichen Voraussetzung, zur Wahl gehen zu können. Menschen sind zu selbstbestimmten Befähigungen fähig. Autonomie ist an Privatheit gebun‐ den. Sie benötigt einen geschützten Raum, in der sich Meinungsbildung entwickeln kann. Sie benötigt den Diskurs, um mit anderen, sich selbst in der Entscheidungsfindung zu üben und sie benötigt Bildung, um Kompetenzen der Meinungsbildung zu erlangen. 52 3 Autonomie <?page no="53"?> 26 Stollortz, V.; Herausforderung für den Journalismus über Wissenschaft in der Corona‐ pandemie - erste Beobachtungen zu einem Weltereignis. In: Bundesgesundheitsbl 2021 (64): S.-70-76 27 Wort des Jahres 2016 (Gesellschaft für deutsche Sprache): „Das Kunstwort postfaktisch verweist darauf, dass es heute zunehmend um Emotionen anstelle von Fakten geht“ 3.2 Fake News Pandemische Krankheitserreger überlasten durch die große Anzahl gleich‐ zeitig Erkrankter nicht nur das Gesundheitssystem, sie überlasten die Ge‐ sellschaft. Tsunamiartig kommt es zur Informationswelle, eine Infodemie 26 , bei der alle gesellschaftlichen Mitglieder beteiligt sind. Die Grenzen zwischen Wahrheit und Lüge verschwimmen. Das postfak‐ tische 27 Zeitalter bedroht die Gesellschaft. Die aktuelle Pandemie-Situation hat den Begriff der „Fake News“ weiter in die öffentliche Diskussion gebracht. Sie sind zu verstehen als intentional falsche oder potenziell irre‐ führende Informationen, die als vermeintlich echte Nachrichten formatiert werden. Dabei stellt die reine Information, bestehend aus Daten, Fakten und Statistiken nicht die Neuigkeit dar. Sie ist konnotiert mit einer wertenden und emotionalen Reaktion der Rezipienten. Fallbeispiel | Hubert P. (62) hat Schmerzen im Oberbauch und geht zur Ärztin. Es wird ein Gallensteinleiden festgestellt. Alles erscheint Routine. Die Beschwerden kommen von den Gallensteinen. Er soll sich in der Klinik vorstellen, um sich die Gallenblase entfernen zu lassen. Es ist ein Eingriff, wie er tagtäglich tausendfach durchgeführt wird. Dem Oberarzt fallen kleinste Zysten in der Bauchspeicheldrüse auf. Er veranlasst weitere Untersuchungen. Die Ergebnisse zeigen, dass Hubert P. an einer Krebserkrankung der Bauchspeicheldrüse leidet. Im medizinischen Kontext ist die wissenschaftlich basierte Mitteilung einer Diagnose mit einer gefühlsbestimmten Reaktion verbunden. Eine Krebs-Diagnose löst bei Patienten Gefühle von Wut, Trauer oder Angst um die persönliche Zukunft aus. Wertehierarchien ändern sich. Das eigene Leben ist in Gefahr. In einer solchen Situation sind Ärzte auch im digitalen Zeitalter weiterhin die präferierte Informationsquelle. 3.2 Fake News 53 <?page no="54"?> 28 Hohlfeld, R.; Harnischmacher M.; Heinke E. Lehner L.S.; Sengl, M. (Hrsg.); Fake News und Desinformation. Namos Verag Baden-Baden 2020 (ISBN 978-3-8487-6013-8) Die COVID-19-Erkrankung konfrontiert die Gesellschaft pandemisch mit den Themen Leiden, Krankheit und Tod. Diese Erkrankung ist potenziell verbunden mit einem schweren Krankheitsverlauf, umfangreichen inten‐ sivmedizinischen Maßnahmen und sie ist auch tödlich. Viele Menschen sind erstmalig mit der Gefahr um das eigene Leben konfrontiert. Diese Bedrohung des eigenen Lebens wird individuell und zugleich kollektiv erlebt. Aus dem vollen Leben heraus kommt ein Lockdown. Das gesamte gesellschaftliche Leben ist lahmgelegt. In dieser veränderten individuellen Situation werden existentielle Gefühle erlebt. Da kommen Nachrichten, die versprechen, dass alles ganz anders ist und aufzeigen, dass der Albtraum morgen vorbei ist, ganz recht. Die Begrifflichkeit der Fake News ist abzugrenzen, gegenüber Gerüchten oder Verschwörungserzählungen. Es kann aber auch eine falsche Nachricht sein oder eine falsche Berichterstattung. Kommentare oder andere Überzeu‐ gungen können, als Nachricht transportiert, Fake News darstellen. In der Medizin kann dies als Informationen, die nicht mit dem medizinischen Wissen übereinstimmen, eingeordnet werden. Eine solche Definition wäre zu einfach. Bei Fake News tritt noch das Merkmal hinzu, dass es an Wahrheitsgehalt fehlt und dass der Urheber selbst nicht an die Gültigkeit seiner Tatsachenbehauptung glaubt 28 (bzw. keinen Anlass dazu hat, dies selbst zu glauben). Wissen | Fake News Fake News ordnen sich in eine Gemengelage von verschiedenen Fehl- und Falschinformationen ein, die von Gerüchten, über absichtslos erstellten Falschinformationen, bis hin zu Verschwörungstheorien rei‐ chen. Absichtsvolle und gezielte Desinformationen können dazu führen, dass weitere Informationen nicht gesucht werden und auch offizielle bzw. staatliche Quellen ignoriert werden. Social Media haben einen erheblichen Anteil an der Rekrutierung von Informationen. Altersab‐ hängig zeigt sich eine Verschiebung der Nutzung von klassischen Medien zu Internet und Social Media. In der jüngeren Zielgruppe sind bei den sozialen Medien Facebook und YouTube die wichtigsten Informati‐ 54 3 Autonomie <?page no="55"?> 29 Kreutzer, R.T.; Die digitale Verführung: Selbstbestimmt leben trotz Smartphone. Social Media & Co. In: Springer Fachmedien Wiesbaden (2020) 978-3-658-27781-9 30 Elias, C.; Catalan-Matamoros D.; Coronavirus in Spain: Fear of ‘Official’ Fake News Boosts WhatsApp and Alternative Sources. In: Media and Communication 2020 (8): S.-462-466 31 Roozenbeek, J.; Schneider, CR.; Dryhurst, S.; Kerr, J.; Freeman, ALJ.; Recchia, G.; van der Bles, AM; van der Linden, S.; Susceptibility to misinformation about COVID-19 around the world. In: R. Soc. Open Sci. 2020 7: 201199. http: / / dx.doi.org/ 10.1098/ rsos.201199 (Eine multinationale Arbeitsgruppe analysierte 2.311 Berichte aus Online-Plattformen der Social media und Online-Zeitungen vom 31.12.2019 bis 05.04.2020. 82 % der Berichte stellten sich als inhaltlich falsch heraus) 32 ausführliche Beschreibungen bei Vasold (1991): Pest, Not und schwere Plagen: Seuchen und Epidemien vom Mittelalter bis heute onsquellen für Nachrichten. Eine kanadische Studie zeigte jedoch, dass in über ein Viertel der meistgesehenen YouTube-Videos bezüglich CO‐ VID-19 irreführende Informationen enthalten und zugleich einem Mil‐ lionenpublikum zur Verfügung stehen. YouTube weist nach Intervention bei diesen Einspielungen auf die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung hin. In Spanien war zu beobachten, das WhatsApp und TV-Angebote Mystik und Esoterik adressieren. Sie versprechen, damit die Wahrheit zu sagen. 29,30 Die Verbreitung wissentlich falscher Informationen zu gesellschaftlich rele‐ vanten Sachverhalten mit dem Anspruch auf Wahrheit stellt in Krisenzeiten eine besondere Gefahr dar. Findet sich in der Gesellschaft zunehmend ein Misstrauen gegenüber den demokratischen Institutionen, liefern Fake News eine Alternative zur bisherigen Ordnung. Es entwickeln sich Gerüchte, Stig‐ matisierung und Verschwörungserzählungen, wobei sich Online-Plattfor‐ men dadurch auszeichnen, als dass sie in Echtzeit wahrgenommen werden. Es gab Berichte über das Essen von Knoblauch, das Feuchthalten des Halses oder das Vermeiden scharfen Essens zur Verhinderung einer Infektion. Das Gurgeln von Essig und Rosenwasser könne das Virus im Hals töten. 31 Vieles dieser Anwendungen erinnert an die hilflosen Versuche der Behandlung der Pocken im frühen 18. Jahrhundert. Die Landbevölkerung nutzte einen Saft aus Schaf- und Gänsekot, vermengt mit Korn und Branntwein. Was die Ärzte in den Städten zu geben wussten, war möglicherweise nicht weniger ekelhaft. 32 3.2 Fake News 55 <?page no="56"?> 33 Kochhan, C.; Schunk, H.; Reiter, A.; Ambient-Marketing für Printmedien. In: Springer Gabler, Wiesbaden; (2017) ISBN 978-3-658-17432-3; DOI 10.1007/ 978-3-658-17433-0_1 Extrem gefährlich erscheint die Stigmatisierung von Personen oder Personengruppen. Menschen asiatischer Herkunft erfahren Ausgrenzung und Schuldzuweisung, insbesondere dann, wenn von hochkarätigen Perso‐ nen von einem „China-Virus“ gesprochen wird. Eine australische Zeitung veröffentlichte eine Geschichte mit der Überschrift „China-Kinder bleibt Zuhause“, was eine ethnische Gruppe diskriminiert. Nachrichtenartikel wurden mit dem Titel „Die gelbe Gefahr“ veröffentlicht und weisen auf eine ethnische Komponente hin. Berichte über körperliche Angriffe auf Beschäftigte mit asiatischem Hintergrund sind Zeichen der Ausgrenzung. Mehrere Verschwörungserzählungen berichten über biologische Waffen, Unfälle in Laboratorien mit Freisetzung der Viren, bis hin zu zionistischen Äußerungen. Der Mythos, dass der Mobilfunkstandard 5G Ursache oder Verbreitungsweg für das Virus darstellt, führte in Großbritannien zum An‐ zünden der Funktürme. Empirische Untersuchungen zeigen einen Zusam‐ menhang zwischen der Anfälligkeit von Fehlinformationen, der zögerlichen Einstellung zu Impfstoffen und der eingeschränkten Teilnahme an gesell‐ schaftlichen Gesundheitsregeln mit dem Bildungsgrad und dem Vertrauen in die Wissenschaft. Die Rekrutierung der Information erfolgt aus den öffentlich-rechtlichen Medien, den Printmedien sowie aus dem Internet, insbesondere Social Media. Dies ist generationsspezifisch ausgerichtet. Die ältere Bevölkerung zeigt insgesamt mehr Nutzungsverhalten zu den öffentlich-rechtlichen Fernseh- und Radioangeboten und den Printmedien. Die jüngeren Erwach‐ senen rekrutieren ihr Wissen über Internet, Streaming-Dienste und soziale Netzwerke. 33 Homo sapiens hat sich über Homo veritates, faktenbasierend die Welt beurteilend, zu homo sensus, den Gefühlen und Emotionen sich neigend, entwickelt. Begrifflichkeiten wie ‚alternative Fakten‘ oder ‚subjektive Wahr‐ heiten‘ sind Teil einer öffentlichen Realität geworden, gegenüber der sich die Demokratie zu beweisen hat. Propagandistische Angriffe und evidenz‐ freie Behauptungen können im Rahmen der grundgesetzlich verankerten freien Meinungsäußerung aufgestellt werden und eine Demokratie hat dies auszuhalten. Es entwickelt sich ein breit gefächerter Diskurs mit unendlich vielen Facetten, einer schillernden Individualität neben digitaler Zerstörung und brutaler Attacke. 56 3 Autonomie <?page no="57"?> Die Profession der Wissenschaftsjournalisten wird im Kontext dieser Pandemie nach Ansicht vieler Beobachter als systemrelevant eingestuft. In diesem Zusammenhang ist eine Professionalität und belastbare Evidenz das entscheidende Qualitätsmerkmal. Hierzu sind verlässliche Informations‐ quellen ausschlaggebend. Es gibt aber auch Unsicherheiten. Auf Seiten der Rezipienten besitzen häufig konsumierte Quellen einen höheren Stellenwert als die Seriosität der Quellen dieser Information. Politisch zeigen sich unterschiedliche Botschaften, sich teils widersprechend. Internet und Social Media beherbergen eine Fülle irreführender Informationen, derer sich gerne bedient wird. Unklar ist die Wechselwirkung von Qualitätsjournalismus und soziale Medien. Ist zu Beginn der Katastrophe der Qualitätsjournalismus erster Adressat für Informationen, entwickeln sich Internet und Soziale Medien als Resonanzkörper der emotionalen Wahrnehmung. In diesem Zusammen‐ hang ist auch das kostenlose Angebot ein Faktor als niedrigschwelliges Angebot. Expertenmeinungen unterstützen den qualitativen Anspruch einer Infor‐ mation, sofern es gelingt, sie als unparteiische Instanz zu positionieren. Entscheidend ist die Glaubwürdigkeit beim Publikum. Wissenschaftliche Auseinandersetzungen leben von der Diskussion, der Überprüfung der Hy‐ pothese. Wissenschaftliche Aussagen verdichten sich hierdurch zu Eviden‐ zen. Insbesondere bei komplexen Fragestellungen, wie eine Viruspandemie, ist dieser Prozess der Wissensentwicklung schwer verständlich und schwer nachvollziehbar. Ein sorgfältig recherchierender seriöser Wissenschafts‐ journalismus als Gatekeeper ist für eine liberale Demokratie unerlässlich. Darstellungen wissenschaftlich normatile, konfligierende Evidenzen tragen zur Authentizität bei, können Patienten jedoch verunsichern. In diesem Kontext am Beispiel der Pandemie entwickelt sich das Aus‐ gangswissen um die COVID-19-Erkrankung und dem Erreger SARS-Cov-2, dessen Bedeutung, die Bedrohlichkeit und die Interpretation. In einem solchen Kontext entwickeln sich aber auch Meinungsbildung über Impfung, Hygiene, Krankheit, Tumorentstehung, Migräne, Adipositas, bis hin zu Behandlungsmöglichkeiten einer akuten Blinddarmentzündung. Im Rahmen der Impfkampagne zeigte sich im März 2021 unter der Gabe von AstraZenica-Impfstoff als eine Auffälligkeit eine gehäufte Entwicklung von Sinusvenenthrombosen. Bei dieser Erkrankung kommt es zur Bildung von Blutgerinnseln in den großen Venen des Gehirns. Hierbei kommt es zu einem erhöhten Druck im Gehirn und zum klinischen Bild eines 3.2 Fake News 57 <?page no="58"?> 34 Deutsches Ärzteblatt (Politik): Regional Impfungen mit Astrazeneca bei Personen unter 60 ausgesetzt - Beratungen angekündigt (30. März 2021) Schlaganfalls. Diese Anhäufung von Fällen führte dazu, dass einige Bundes‐ länder und auch europäische Länder die Impfung mit dem Impfstoff unmit‐ telbar aussetzten. 34 Bei gleicher Datenlage kamen die Wissenschaftler zu unterschiedlichen Ergebnissen. Eine Gruppe befürwortete den Abbruch der Impfkampagne, um die Daten genau zu überprüfen. Andere Wissenschaftler befürworteten die weitere Impfung und Überprüfung der Daten, da sie den Nutzen der Impfung höher einschätzten als dessen Schaden. In diesem Zusammenspiel von unterschiedlich generierten Informationen begegnen Patienten dem ärztlichen Dienst. Als praktische evidenzbasierte Wissenschaft sind Mediziner auch einer eigenen Interpretation unterlegen und kommen bei gleicher Datenlage zu unterschiedlichen Ergebnissen. Entwickeln sich bei einem Impfstoff Komplikationen, führt dies in der einen wissenschaftlichen Gruppierung zu der Erkenntnis, die weiteren Impfungen auszusetzen, während andere, dies weiterführen würden. Diese wissenschaftliche Betrachtungsweise führt zu Verunsicherung. In Fragen von Leiden, Krankheit und Tod treffen zwei Kommunikatoren aufeinander, die auf unterschiedlichen Wissensebenen interagieren. Hierbei werden patientenseitig auch Emotionen angesprochen und auch hervorge‐ rufen. Eltern, denen die Diagnose einer Trisomie 21, eines Down-Syndroms zum Zeitpunkt der Geburt mitgeteilt werden, erinnern sich noch nach Jahren an den Wortlaut und die damit verbundenen und ausgelösten Emotionen. Die Mitteilung einer Krebsdiagnose erschlägt den Aufnehmenden, so dass weitere Informationen nur noch schwer aufgenommen werden können. Die Mitteilung, dass das Kind nach dem Sturz von der Mauer unmittelbar operiert werden muss, führt zu Reaktionen von Sorge und Angst bei den Eltern. 3.3 Aufklärung Patientinnen und Patienten sind jeweilig die Entscheidungskompetenz und die Verfügung über den eigenen Körper zugeschrieben. Sie sind für sich selbst, ihren Körper und ihre Psyche verantwortlich. In einer medizinischen Behandlung kommt dies insbesondere in der Aufklärung zu medizinischen Maßnahmen zum Tragen. In diesem Themenfeld wird der Patientenauto‐ 58 3 Autonomie <?page no="59"?> nomie eine besondere Bedeutung gegeben. Das Aufklärungsgespräch unterliegt hohen Anforderungen und ist immer wieder Gegenstand einer auch juristischen Auseinandersetzung. Ist die Entscheidungskompetenz nicht gegeben, so besteht das Recht auf Wiederherstellung der Entschei‐ dungsfähigkeit. Das sind Situationen, bei denen beispielsweise zunächst ein Delir oder eine Vergiftung zu behandeln sind. Erst in der Situation, in der diese Wiederherstellung krankheitsbedingt nicht zu erzielen ist und ein weiteres Abwarten aus medizinischer Sicht nicht möglich erscheint, kann und muss sich das ärztliche Handeln nach dem aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand richten. Es richtet sich nach dem, Gutes zu tun, der Benefi‐ zienz und Schaden zu vermeiden. Fallbeispiel | Ludmilla S. (87) erlitt einen Schenkelhalsbruch auf der linken Seite. Das ist eine für sie das Leben bedrohende Verletzung. Nach medizinischer Expertise ist ein Ausbleiben der Operation zwei‐ felsfrei mit einer höhten Sterberate verbunden. Sie ist hochgradig dement und wird von ihrer Nichte betreut. Die Implantation eines neuen künstlichen Hüftgelenkes ist zweifelsfrei erforderlich. Diese Maßnahme ist nach medizinischen Kriterien mit einer Verbesserung von Lebensqualität und einer Chance auf Überleben verbunden. Als Ludmilla S. erklärt wird, dass sie ein neues künstliches Hüftgelenk braucht, lehnt sie vehement die Maßnahme ab. Zwar kann sie die Tragweite ihrer Entscheidung nicht nach rationalen Kriterien abwä‐ gen, jedoch ist sie mit dieser Maßnahme nicht einverstanden. Man hat den Eindruck, als würde man ihr Gewalt antun. Im gemeinsamen Gespräch mit der gesetzlichen Betreuerin ergeben sich Unsicherheiten, wie zu verfahren ist. Daraufhin wird der zustän‐ dige Amtsrichter angefragt. Nach gemeinsamer Erörterung vor dem Amtsrichter unter Berücksichtigung der Aktenlage im Arztzimmer wird die Operation amtsrichterlich verfügt. Die Sache erscheint klar. Daraufhin wird der Amtsrichter vom Oberarzt gebeten, sich ein eigenes Bild zu machen und die Patientin zu besuchen. Im Gespräch mit der Patientin wird dem Amtsrichter die Konfliktsituation des emotionalen Unwillens klar, ohne derer die Fähigkeit zu haben, Argu‐ mente gegeneinander abzuwägen. Das Gericht tat sich in der Abfassung eines Beschlusses schwer und trat wiederkehrend in die Diskussion mit dem ärztlichen Dienst. 3.3 Aufklärung 59 <?page no="60"?> 35 Henking, T.: Die Reform des Betreuungsrechts. In: Nervenarzt 2022 (93): S.-1125-1133 36 Blab, B.: Sich im Notfall vertreten. In.: Der freie Zahnarzt 2023 (3). S.-46-47 Die Entscheidung hob sich auf, indem die gesetzliche Betreuerin ihr Anliegen zurückzog. Die konservative Therapie zeigte eine sich ent‐ wickelnde Schmerzfreiheit, die eine Entlassung mit der Möglichkeit der Mobilisation in den Rollstuhl ermöglichte. Eine einvernehmliche Vereinbarung mit den Patienten ist vor jeder ärztli‐ chen Maßnahme zu treffen, ein Konsens im Behandlungsregime ist herzu‐ stellen. Voraussetzungen sind die Entscheidungsfähigkeit, die ausreichende Aufklärung und dass diese auch verstanden wurde, sowie die Freiwilligkeit der Zustimmung. Hieraus ergibt sich die ergänzende mögliche Maxime, wie sie von Beauchamps und Childress formuliert wurden, dass nicht mehr das Wohl, sondern der Wille das oberste Prinzip der Behandlung darstellt. Das Ganze hat aber auch seine Grenzen. Wenn keine medizinische Indikation zur Behandlung gegeben ist, dann darf ein medizinischer Ein‐ griff nicht durchgeführt werden. Wenn eine Einwilligungsfähigkeit nicht gegeben ist und wenn die Frage der Sterbehilfe aufgeworfen wird, sind die Grenzen erreicht. Patientenautonomie am Lebensende hat Grenzen des medizinisch Möglichen und Erlaubten. Patienten haben aber das Recht, auf Behandlungsmaßnahmen zu verzichten oder auch ganz eigene neue Wege zu gehen. Problemstellungen sind dann gegeben, wenn eine Entscheidungsfähigkeit nicht mehr gegeben ist. Klassisches Beispiel sind hier eine sich entwickelnde Demenz oder eine Schlaganfallsituation. Es ist aber auch das Delir aufgrund eines diabetischen Komas. Es kommt dann dazu, sich der eigenen Versor‐ gung nicht mehr umfassend widmen zu können. Patientenverfügung, Vor‐ sorgevollmacht und Betreuungsrecht sind Instrumente, Vertretungsfunkti‐ onen einzunehmen und rechtsverbindliche Geschäfte einzugehen und zu vereinbaren. Hinzugetreten ist das 2023 eingeführte gegenseitige Vertretung von Ehegatten in Angelegenheiten der Gesundheitsfürsorge 35 . Ehegatten‐ vertretungen sind unmittelbar umsetzbar und zu weiten Teilen sind es auch die Ehegatten, die die spätere gesetzliche Vertretung übernehmen. Es ist ein Instrument der schnellen rechtssicheren Vorgehensweise, bis eine gerichtliche Klärung herbeigeführt ist. Kritisiert wird die mangelnde Kontrolle 36 . 60 3 Autonomie <?page no="61"?> 37 Prien, T.: Bestimmung des Therapieausmaßes - ethische und rechtliche Grundlagen. In.: Intensvivmedizin up2date 2013 (9): S.-129-140 38 BGH 1 StR 357/ 94, Urteil v. 13.09.1994 Diese Vorgehensweisen basieren auf der Kontinuität eigener Willensbil‐ dung, nach der Patienten im autonomen Zustand die gleiche Entscheidung treffen würden, wie sie dies in nicht autonomen Situationen auch tun würden. Wissenschaftlich hinterlegt ist diese Auffassung nicht, postmor‐ tale Interviewbefragungen sind nicht möglich. Es ist eine gesellschaftliche Vereinbarung, davon so auszugehen. Der Frage nachzugehen, welches der mutmaßliche Wille ist, stellt eine Herausforderung aller Beteiligten dar. Frü‐ here mündliche oder schriftliche Äußerungen sowie ethische oder religiöse Überzeugungen und weitere Wertvorstellungen sind in die Betrachtung mit aufzunehmen. Lässt sich der mutmaßliche Wille nicht ermitteln, sind allgemeine Wertvorstellungen gemessen am Prinzip des Lebenserhaltes heranzuziehen, um vor Missbrauch und Willkür zu schützen. 37 Das Bundesverfassungsgericht hat in einer Entscheidung aus dem Jahr 2014 ausgeführt, dass ein Sterbenlassen durch Abbruch einer ärztlichen Behandlung oder Maßnahme nicht von vorneherein ausgeschlossen ist, sofern der Patient mit dem Abbruch mutmaßlich einverstanden ist. Auch in dieser Situation sei das Selbstbestimmungsrecht zu achten. Ist aber dieser individuelle mutmaßliche Wille nicht feststellbar, so könne und müsse auf Kriterien zurückgegriffen werden, die allgemeinen Wertvorstellungen entsprechen. Im Zweifel habe der Schutz menschlichen Lebens Vorrang vor persönlichen Überlegungen der Beteiligten. „Im Einzelfall wird die Ent‐ scheidung naturgemäß auch davon abhängen, wie aussichtslos die ärztliche Prognose und wie nahe der Patient dem Tode ist: je weniger die Wiederher‐ stellung eines nach allgemeinen Vorstellungen menschenwürdigen Lebens zu erwarten ist und je kürzer der Tod bevorsteht, um so eher wird ein Behandlungsabbruch vertretbar erscheinen.“ 38 3.4 Normen Der Wunsch nach einer natürlichen Beendigung des Lebens ohne Durch‐ führung lebenserhaltender Maßnahmen am Lebensende kann in autonomer Situation vorgetragen werden. Es besteht aber dennoch die Möglichkeit, dass sich in der beginnenden Agonie, der unmittelbaren Begegnung mit 3.4 Normen 61 <?page no="62"?> dem Tod, eine Bewusstseinswandlung eintreten könne, die den Wunsch hat, wiederbelebt zu werden. Das zugrundeliegende Betreuungsprinzip beruht auf Fürsorge und Autonomie. Hieraus kann sich ein Dilemma entwickeln. Dem Schutz vor Vorenthaltung medizinischer Therapie aus der Fürsorge heraus, steht die Pa‐ tientenautonomie aus der Patientenverfügung, mit Wunsch auf Nichtdurch‐ führung medizinisch erforderlichen Maßnahmen gegenüber. Das muss man als Betreuer auch aushalten können oder auch wollen. Zwangsbehandlung zur Wiederherstellung der Einwilligungsfähigkeit stellt in diesem Kontext eine Klammer dar, um einerseits die Patientenauto‐ nomie wieder zu erlangen und ein Vorenthalten medizinisch erforderlicher Maßnahmen zu vermeiden. Die Autonomie ist insgesamt wichtiger einzu‐ ordnen, als die Fürsorge und kann auch dazu führen, dass eine angefangene Behandlung abzubrechen ist. Die Patientenautonomie versteht sich im Kontext der Verteilung me‐ dizinischer Ressourcen auch dahingehend, medizinisch notwendige und erforderliche Maßnahmen auszuschließen. Dies mag in verschiedenen Si‐ tuationen unvernünftig sein. Eine freiheitlich-liberal-demokratische Gesell‐ schaftsordnung kann dies aushalten und hat nur enge Korridore, hier mit Einschränkungen der Autonomie zu hantieren. Aus dem Transplantationsrecht lässt sich die einigermaßen konsolidierte Erkenntnis festhalten, dass Allokationsentscheidungen nicht nur aus de‐ skriptiven medizinischen und ökonomischen Elementen bestehen, sondern stets auch normativer Natur sind. Eine normative Festlegung einer Behand‐ lung konterkariert das Selbstbestimmungsrecht. Eine freie Entscheidung ist im Allokationsproblem für Patienten teils nicht mehr möglich. In der Vorbereitung von Auswahlkriterien ist die Einholung eines me‐ dizinischen Sachverstandes erforderlich. Es wäre auch unverantwortlich, dies nicht zu tun. Die Medizin kann kraft ihrer eigenen Kompetenz die Indikation, deren Dringlichkeit und deren Erfolgsaussichten einschätzen. Auswahlentscheidungen sprengen die medizinische Kompetenz. Allokati‐ onsentscheidungen werden nicht aufgrund der medizinischen Erkenntnis und Methode der medizinischen Wissenschaft getroffen. Sie werden gesell‐ schaftlich determiniert. Eine normative Festlegung einer Behandlung konterkariert insbesondere bei der Festlegung von Reihenfolgen oder Auswahlkriterien das Selbstbe‐ stimmungsrecht. Eine freie Entscheidung ist im Allokationsproblem für Patienten nicht mehr möglich. Im Rahmen der Impfstrategie zur Corona-Vi‐ 62 3 Autonomie <?page no="63"?> rus Infektion SARS-CoV-2 wurde nach ministerieller Verordnung eine Pri‐ orisierungsliste erstellt, wenngleich unter dem Aspekt von „Zuteilung von Lebenschancen“ auch zu erörtern wäre, dass die gesellschaftliche normen‐ vorgebende Legislative mit dieser Aufgabe zu betrauen gewesen wäre. Take-Home-Message | Die Autonomie stellt ein wertvolles Gut in einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft dar. Der Staat ist nicht dazu da, dem einzeln Individuum vorzuschreiben, was es will. Es ist die eigene Entscheidung, mit dem eigenen Leben umzugehen. Staatliche Verantwortung gilt dem Schutz der Staatenbürger untereinander und im Miteinander. Wo Grenzen zu setzen sind, werden normative Regeln festgelegt, um das Miteinander zu gewährleisten. Diese Maßnahmen schützen die Autonomie. Normative Vorschriften haben die Autonomie zu gewährleisten. Eine unberechtigte Einschränkung der Autonomie verletzt die Würde und das Recht auf Selbstbestimmung als die höchsten gesellschaftlichen Güter. 3.4 Normen 63 <?page no="65"?> 4 Allokationsproblem 4.1 Knappheit Fallbeispiel | Für Erna K. (87) wurde der Haushalt zu viel. Nach dem Tod ihres Mannes vor drei Jahren ist sie in die Altenwohnanlage gezogen. „Damals hatte er eine Magen-Darm-Infektion“, berichtet sie. „Durch die Herzinfarkte war er sehr geschwächt, dann hat es mit dem Kreislauf nicht mehr funktioniert.“ Im Winter 2020 waren die Regeln streng und Erna K. konnte ihren Mann im Krankenhaus nicht begleiten. Ihr Enkel hat den Impftermin im Impfzentrum vereinbart. Das war zu kompliziert für sie. Sie hofft, mit der Impfung nicht mehr gefährdet zu sein. Sie wünscht sich aber auch, dass sie wieder mehr Besuch haben kann. „Das ist dann doch sehr einsam.“ Dem gesellschaftlichen Wunsch, dass es einen wirksamen Impfstoff gegen COVID-19 geben soll, kamen die Pharmafirmen zügig nach. Noch nie wurde so schnell ein Impfstoff entwickelt. Doch fest steht auch: Es reichte nicht für alle. Deshalb lautete die Frage, die unweigerlich mit den Impfstoffen verbunden ist: Wer soll zuerst geimpft werden? Ein Verteilungsplan ist erforderlich, der die medizinischen, ethischen und rechtlichen Fragen der Priorisierung adressiert und berücksichtigt. Hinzu kommt die Selbstbestim‐ mung der Impfentscheidung. Keine einfach zu lösende Aufgabenstellung. Abstrahiert geht es um die Verteilung von Ressourcen auf die unter‐ schiedlichen Verwendungsmöglichkeiten: Allokation. Der Begriff findet hauptsächlich Anwendung in der Wirtschaftslehre Verwendung. Ziel ist das Erreichen einer optimalen Verteilung oder Zuteilung der verfügbaren Produktionsfaktoren unter dem Gesichtspunkt der Effizienz. Bei Ressour‐ cenbegrenzung ergibt sich ein Allokationsproblem. <?page no="66"?> Wissen | Allokation Unter Allokation ist die Verteilung knapper Ressourcen wie Arbeit, Boden und Kapital zur Herstellung von Gütern und Dienstleistungen zu verstehen. Ziel ist die optimale Zuteilung der zur Verfügung stehen‐ den Ressourcen. Das Allokationsproblem beschreibt die Aufgabe einer effizienten Zuteilung zur Steigerung von Wohlfahrt, im medizinischen Kontext die der Fürsorge. Ein vollkommener Marktmechanismus vermag dieses Problem aufzulö‐ sen. In diesem Modell geht man davon aus, dass alle Marktteilnehmer absolut rational handeln, homogene Güter vorliegen und eine völlige Transparenz besteht. Es gibt sowohl viele Anbieter als auch viele Nachfragende. Da es aber keinen vollkommenen Markt gibt, ist dies ein rein theoretisches Modell. Im Gesundheitssystem ist die Schieflage besonders ausgeprägt. Patienten sind zwar auch Kunden, jedoch befinden sie sich aufgrund Leiden, Krankheit und möglicher Todesgefahr gegenüber den unterschiedlichen Akteuren im Gesundheitswesen auf unterschiedlichen Ebenen. Sie bedürfen der Hilfe und Unterstützung. Das mit der Erkrankung hinzukommende Wissen muss erst erarbeitet und auch noch verstanden werden. Unterschiedliche Anbieter in Gesundheitsfragen befinden sich an unterschiedlichen Orten. Die Qualität der Medizin wird unterschiedlich bewertet, was besonders bei geplanten Operationen eine Bedeutung hat. Der Markt und deren Anbieter ist unüber‐ sichtlich. Eine Markttransparenz besteht nicht. Preise sind den Teilnehmern nicht vorstellbar. Insofern bedarf es Schaffung staatlicher Rahmenbedingungen. Die So‐ ziale Marktwirtschaft bezeichnet dabei eine Wirtschaftsordnung, die auf der Basis des Wettbewerbs dem Staat die Aufgabe zuweist, sozialpolitische Korrekturen vorzunehmen und auf sozialen Ausgleich hinzuwirken. Der Begriff entwickelte sich in der Nachkriegszeit und sehr eng mit den Namen Ludwig Erhard (1897-1977), Wirtschaftsminister der Bundesrepublik und Wirtschaftswissenschaftler sowie dem Nationalökonomen Alfred Müller-Ar‐ mack (1901-1978). Freiheit des Handels bei einem geordneten Wettbewerb, in einem stabilen Umfeld sowie die Gewährung sozialer Sicherheit, Gerech‐ tigkeit und Fürsorge bilden die Kernelemente. Soziale Marktwirtschaft stellt sich als ein dynamisches System dar, dass sich gegenüber neuen Werten und Erkenntnissen im gesellschaftlichen Kontext öffnet. 66 4 Allokationsproblem <?page no="67"?> 39 Arentz, C; Läufer I.; Münstermann L.; Zum Umgang mit Nicht-Zahlern in der Kran‐ kenversicherung. In: Otto-Wolff-Discussion Paper No. 05/ 2013, Otto Wolff-Institut für Wirtschaftsordnung (owiwo), Köln 4.2 Versicherung In Gesundheitsfragen ist eine wesentliche staatliche Regelung in der Schaf‐ fung der Krankenversicherung getroffen worden. Unter dem damaligen Reichskanzler Otto von Bismarck (1815-1898) wurde das „Gesetz betreffend der Krankenversicherung der Arbeiter“ am 15. Juni 1883 geschaffen. Seither ist viel passiert. Die Krankenversicherung gliedert sich auf in die Bereiche der Gesetzlichen und der Privaten Krankenversicherung über die etwa 90 % der Bevölkerung versichert sind. Es ist eine Solidargemeinschaft, in der die einzelnen Versicherungsmitglieder einzahlen. Die Mittel werden für alle in gleicher Weise bereitgestellt. Erst seit 2007 ist die Versicherungspflicht eingepflegt worden, die besagt, dass jeder und jede eine Versicherung abzuschließen hat. Aus verschiedenen Gründen haben Menschen diese Versicherung dann doch nicht abgeschlossen oder haben sie - wenn auch nur zeitweilig - nicht abschließen können. Praktisches Beispiel ist etwa der Verlust des Arbeitsplatzes, Scheidung, Ratenzahlungen für das Haus oder das Auto. Dann ist einfach kein Budget mehr für die Kosten der Krankenversicherung im persönlichen Haushalt da. Kommt dann noch eine persönliche Überforderung im Zusammentreffen solcher Ereignisse hinzu, kommt es zu Beitragsrückständen, die dann auch noch zu verzinsen sind. Schnell steigen die offenstehenden Beträge in die Höhe. Mit dem Gesetz zur Beseitigung der Beitragsschulden 2013 konnte hier eine Entlastung geschaffen werden. Viele konnten sich dann wieder schul‐ denfrei versichern lassen. Dennoch gingen Experten von etwa 155.000 Menschen aus, die seinerzeit unversichert waren. 39 Betroffen sind davon Menschen in sozialen Randgruppen, die es einfach schwer haben, am Gesellschaftsleben teilzuhaben, ausgegrenzt sind oder auch ausgegrenzt werden. Es sind aber auch Menschen, die sich inhalt‐ lich oder auch deliktisch entziehen. Weitere sind Migranten, insbesondere sind hier illegale Einwanderer oder auch nichtregistrierte Asylsuchende zu benennen. Zuweilen ist es auch mit prekären Arbeitsverhältnissen in Themenbereichen des Illegalen verbunden. Es trifft auch Selbständige, die aus ganz unterschiedlichen Gründen sich der Beitragszahlung entziehen. Zu bemerken ist aber auch, dass möglicherweise - ungeachtet der jeweiligen 4.2 Versicherung 67 <?page no="68"?> 40 Kurz, C.: Menschen ohne Krankenversicherung. In: Dtsch. Ärzteblatt 2022 (119) S.: A 1742 - A 1744 Situation - ein Anspruch auf Leistungen der Krankenversicherung besteht, was aber nicht eingefordert wird. Gründe der Nicht-Versicherung, der soziale Status sowie die Herkunft die‐ ser Personen sind heterogen. Jedoch ist das Fehlen einer Grundversorgung aus medizinischer, ethischer und auch ökonomischer Sicht nicht sinnvoll. Akute Erkrankungen werden nur initial behandelt und nicht fachgerecht ausbehandelt. Das große Themengebiet der chronischen Erkrankungen wie Bluthochdruck, Diabetes mellitus, Tumorerkrankungen und viele andere mehr können nicht ausreichend adressiert werden. Dies ist zwangsläufig mit einer erhöhten Komplikationsrate, einem Anstieg von Morbidität und Mor‐ talität verbunden und stellt mittelsowie langfristig ein gesellschaftliches Versorgungsproblem dar. Gleichwohl hat sich das System an der Würde des Menschen und dem Recht auf körperliche Unversehrtheit zu orientieren. Unterschiedliche Interessenkonflikte und auch bürokratische Hürden haben bisher nicht zu einer umfassenden Lösung dieser Frage geführt. Es wurden Versorgungsstrukturen geschaffen, die eine Grundversorgung erlauben. Dazu gehört auch die Teilhabe am Impfprogramm einer Pandemie. Im Hinblick auf Impfprogramme im Rahmen von Pandemien oder Epide‐ mien wird eine kostenfreie, staatlich durchgeführte Impfung für alle zuge‐ sichert. Verschiedene administrative Ideen zu Verbesserung der Situation der Nicht-Versicherten wurde nachgegangen. Zur Versorgung Nicht-Versi‐ cherter haben sich in einigen Bundesländern sogenannte Clearingstellen etabliert. In Mainz habe die Clearingstelle eine Erfolgsquote von 60 Prozent. Das bedeutet, dass 60 Prozent der Menschen, die glauben sie sind nicht versichert, eigentlich doch versichert sind, berichtet Prof. Dr. med. Gerhard Trabert, der den Verein Armut und Gesundheit gegründet hat. Betroffene seien oftmals überfordert von der schwierigen Rechtssituation und müssen beraten werden. 40 Kostenübernahmescheine oder anonyme Krankenscheine stellen noch Insellösungen dar, die durch Kooperationsverträge eine Ge‐ sundheitsversorgung Nicht-Versicherter gewährleistet. Langfristig benötigt es einer umfassenden und barrierearmen Struktur, um dem bereits 1966 geschaffenen Sozialpakt der Vereinten Nationen gerecht zu werden, nach der die medizinische Betreuung für jedermann sicherzustellen ist. 68 4 Allokationsproblem <?page no="69"?> 4.3 Gesundheitsmarkt Der medizinische Alltag ist tagtäglich mit dem Allokationsproblem konfron‐ tiert. Trotz aller Bemühungen besteht eine Mangelsituation in allen erdenk‐ lichen Ebenen. Die demographische Entwicklung, ansteigende Kosten in Diagnostik und Therapie, Mangel an Pflegekräften und Ärzten, heterogene Versorgungsstrukturen, fehlende Organe für Transplantationen oder auch begrenzte Arzneimittel führen die Medizin an Grenzen; dies nicht nur in Entwicklungsländern, sondern auch in Industriestaaten. Es stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien Ressourcen zu verteilen sind, inwiefern Ratio‐ nalisierungsmaßnahmen greifen, wie Entscheidungsprozesse zu gestalten sind und ob Rationierung wirklich nicht zu vermeiden ist. Ein wesentliches Merkmal stellt hierbei die fehlende Konsumentensou‐ veränität dar. In der Situation von Krankheit, Leiden und möglicherweise auch dem drohenden Tod ist eine Symmetrie nicht oder nur selten gegeben. Insbesondere in der Not geben sich Patienten hin, in der Erwartung, dass ihnen geholfen wird. Dieses Merkmal findet sich in verschiedenen Bereichen unseres Lebens auch. Hier hat es aber nochmals eine besondere emotionale aber auch mit Ängsten verbundene Komponente. Mit dem Beginn der Dia‐ gnostik und Therapie wird den am Gesundheitssystem beteiligten Personen die Autonomie vom Patienten übertragen. Insbesondere wird hier vielfach auf das besondere Arzt-Patienten-Verhältnis abgestellt. Die weitreichende und umfassende Schweigepflicht unterstreicht dieses zu schützende und auch zu achtende Vertrauensverhältnis. Genauso ist es aber auch wichtig, dass mit Abschluss der Behandlung die Autonomie den Patientinnen und Patienten wieder zurückgegeben wird. Trotz aller Ausgaben und allem Engagement der Gesellschaft ist eine Mittelknappheit im Gesundheitsbereich zu beschreiben. Dies ist sowohl in sehr staatlich aufgebauten Gesundheitssystemen wie auch in sehr freien, marktorientierten Systemen zu erkennen. Während einige Autoren darauf hinweisen, dass eine staatliche Regulierung hier zwingend erforderlich ist, kann zumindest über alle Gesundheitssysteme hinweg gesagt werden, dass staatliche Regulierung eine optimale Allokation unterstützt. Ein gleicher Zugang zur Gesundheitsversorgung und eine gerechte Ver‐ teilung knapper medizinischer Ressourcen kann damit als Grundbedingung für die Chancengleichheit innerhalb der Gesellschaft angesehen werden. Das entspricht dem Gleichheitsgrundsatz, der neben der Würde des Men‐ schen einen besonderen Stellenwert in der Verfassung hat und sich auch 4.3 Gesundheitsmarkt 69 <?page no="70"?> in vielen anderen Verfassungen findet. Es kann also aus dem Prinzip Würde und Gleichheit gesagt werden: Es ist gerechter, allen Personen einen begrenzten Zugang zu wichtigen Gesundheitsleistungen zu ermöglichen. Jedoch muss sich die Gesellschaft die Frage stellen, ob das der richtige Weg oder die einzige Maxime ist, nach der zu handeln ist. Da eine Mittelknappheit besteht, müssen Strategien zum Umgang mit Mittelknappheit entwickelt werden, damit diese Mittel möglichst von Allen erlangt werden können. Darüberhinausgehende, individuelle Versorgungspräferenzen können ihren Ausdruck in einem Markt für Zusatzleistungen finden. Ein Modul diesbe‐ züglich sind beispielsweise die individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL). Wissen | Gemeinsamer Bundesausschuss (GBA) Die gesetzlichen Krankenkassen dürfen laut Sozialgesetz nur Leistungen bewilligen, die ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sind und das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Das betrifft über 70 Millionen Personen der Bevölkerung. Die hierbei festlegende Instanz findet sich im Gemeinsamen Bundesausschuss, als höchstem Beschluss‐ gremium der Selbstverwaltung im deutschen Gesundheitswesen. Dieser Ausschuss legt fest, was das ganz konkret für die Versicherten heißt. Neue Arzneimittel werden bewertet und es werden bei Eignung, die Pro‐ dukte eingeführt. Es werden neue Untersuchungsmethoden geprüft und bei Tauglichkeit zugelassen. Nicht alle Innovationen sind gut und nachhaltig. Manchmal dauern die Prüfung einer medizinisch sinnvollen Intervention sehr lange. Die Videokapselendoskopie des Dünndarms ist eine Leistung, die von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen wird. Hierbei wird statt eines schlauchförmigen Endoskops eine Kapsel geschluckt, die mit Batterien, einer Lichtquelle, einer winzigen Videokamera und einem Sender ausgestattet ist. Mit ihr können die Innenwände des Dünndarmes optisch beurteilt werden. Dies wurde 2014 von der Kassenärztlichen Bundesverei‐ nigung beschlossen. Vorangegangen war ein Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschuss vom November 2010 und die Ratifizierung durch das Bundesamt für Gesundheit im Januar 2011. Von 2011 bis 2013 mussten zunächst die genauen Qualitätskriterien zur Zulassung, Betrieb und Geneh‐ migung der neuen Kassenleistung erarbeitet werden, bevor der Bewertungs‐ ausschuss sich des Themas im Herbst 2013 endlich annehmen konnte. 70 4 Allokationsproblem <?page no="71"?> Dies war ein unendlich langer Prozess der Umsetzung. Der medizinische Wert der Sichtbarmachung des Dünndarms von innen, war früh erkannt. Endoskopische Verfahren mit einem Schlauch, der durch Körperöffnungen geführt wird, stehen beim Dünndarm nicht zur Verfügung. So war die Vide‐ okapselendoskopie - medizinisch gesehen - eine deutliche Bereicherung der diagnostischen Möglichkeiten. Der Weg von der medizinischen Anwendung bis zur Anerkennung als gesellschaftlich legitimiertes Verfahren ist sehr lang gewesen und wurde durch Gremienarbeiten in eine zeitliche Länge geführt. 4.4 Impfstoffentwicklung Bei der Entwicklung eines Impfstoffes gegen COVID-19 konnte ein deutlich verkürztes Zeitraster eingehalten werden. Hier entwickelte sich eine welt‐ weite gesellschaftliche Erwartung, die insbesondere erhebliche finanzielle Mittel bereitstellte, um das Projekt zu realisieren. Innerhalb kürzester Zeit und unter Durchführung parallel durchgeführter klinischer Studien konnte die Zulassung von Impfstoffen früh erzielt werden. Bei der klinischen Anwendung ergaben sich Änderungen in den Indikationsgruppen, die immer wieder angepasst und neu formuliert wurden. An diesem Anpas‐ sungsprozess nahm die Bevölkerung teil. Teilweise wurden Impfungen ausgesetzt und Tage später wieder eingesetzt. Es wurde ein Zusammenhang zwischen dem Impfstoff AZD 1222 (AstraZeneca) und der Entwicklung von Sinusvenenthrombosen beschrieben, was dazu führte, dass in den Ländern Dänemark, Norwegen, Island und Deutschland die Impfung zeitweilig eingestellt worden war. Beobachtungen von anaphylaktischen Reaktionen oder Todesfällen in Verbindung mit den Impfungen wurden beschrieben und ein kausaler Zusammenhang seitens des Robert-Koch-Institutes verneint. 4.5 Effizienz Verbesserung der Lebensstruktur, Förderung von Bildung und medizi‐ nisch-technische Innovationen leisten einen positiven Beitrag zur Lebenser‐ wartung. Durch den damit einhergehenden Ressourcenverbrauch wird das Finanzierungssystem belastet. Einnahmen aus sozialversicherungspflichti‐ gen Beschäftigungsverhältnissen, Ausweitung des Leistungskataloges der Versicherungen und gesellschaftlicher Veränderungen gehen mit einem 4.4 Impfstoffentwicklung 71 <?page no="72"?> erhöhten Bedarf an Gesundheitsleistungen einher und führen zu einem chronifizierten Finanzierungsdefizit im deutschen Gesundheitswesen. Unter dem postulierten Aspekt, dass Mittelknappheit im Gesundheitswe‐ sen besteht, ergeben sich drei grundsätzliche Möglichkeiten, diesem zu begegnen. Einerseits können mehr Mittel eingesetzt werden, die Effizienz kann gesteigert werden oder auf der anderen Seite können Leistungsbegren‐ zungen erfolgen. Bei der Effizienzsteigerung gibt es prinzipiell die Möglichkeit den glei‐ chen Effekt mit weniger Mitteln oder einen größeren Effekt mit den gleichen Mitteln zu erzielen. Wirtschaftlichkeitsreserven bezeichnen Einsparmög‐ lichkeiten bei der Gesundheitsversorgung. Dabei wird die Diskussion um die Art der Einsparung recht kontrovers geführt. Dies kann erzielt werden durch eine Begrenzung der Leistungserbringer, eine stärkere Verzahnung der ambulanten und stationären Versorgung, der Vermeidung von Doppel- und Mehrfachuntersuchungen sowie strenge Ausrichtung an die medizinische Notwendigkeit. Rationalisierungsmaßnahmen sind aufwändig und gehen mit strukturel‐ len Veränderungen einher. Diese Maßnahmen sind in einem besonderen Dienstleistungssektor wie der Gesundheit anders auszurichten, als es dies in einem produzierenden Gewerbe, der herstellenden Industrie oder in der Administration zu etablieren wäre. Allenthalben wird hier eine begrenzte Einsparung erörtert, insbesondere dadurch, als dass sich medizinischer Fortschritt und Demographie weiterentwickeln. Der Anteil von Ausgaben in Gesundheitsfragen ist unter Einschluss der Krankenkassenbeiträge in sozialversicherungspflichtigen Haushalten mit 17 bis 20 % des Bruttoeinkommens zu verorten. Bundesweit betrug der Anteil der Gesundheitsausgaben im Jahr 2021 insgesamt 13,2 % des Bruttoinland‐ produktes. Im zeitlichen Verlauf ist dieser Wert stabil gehalten worden, während andere Staaten hier zugelegt haben. Möglicherweise wird in diesen Staaten den Gesundheitsfragen eine höhere Bedeutung beigemessen, es besteht ein effektiver Mehrbedarf, dem sachlich entsprochen werden muss oder die Gesundheitsleistungen sind schlichtweg durch Marktmechanismen teurer geworden. Eine Erhöhung der Mittel ist definitiv nur mit Einschränkungen mit anderen sozialstaatlichen Aufgaben möglich. Diese sozialen Rahmenbedin‐ gungen, die über die Bereitstellung Kritischer Infrastruktur als Basis hinaus‐ gehen, haben auch Einfluss auf Morbidität und Mortalität. Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefin‐ 72 4 Allokationsproblem <?page no="73"?> dens und nicht nur des Freiseins von Krankheit und Gebrechen nach der Definition der Weltgesundheits-Organisation (WHO). Zugleich muss diese Maxime auch wieder relativiert werden. Ausweislich der individuellen bio‐ graphischen Historie ergeben sich immer gesundheitsbezogene belastende Aspekte. In dem Kontext des Lebens erscheint die Definition von Gesundheit seitens der WHO als nahezu idealistisch. Es ist aber auch zu beachten, dass neue Methoden in der Medizin einen begrenzten Nutzen haben. Eine ganze Anzahl an operativen Maßnahmen auf ihre medizinische Bedeutsam‐ keit sind zu hinterfragen. Teilweise sind diese Maßnahmen auch wieder verschwunden, wenngleich sie über Jahrzehnte durchgeführt wurden. Die Vertebroplastie und die Kyphoplastie sind operative Methoden, Sin‐ terungsbrüche von osteoporotischen Wirbelkörpern zu stabilisieren. Bei der 1984 erstmals angewendeten Vertebroplastie wird ein Kunstharz über Hül‐ sen, die durch die Haut in den Wirbelkörper eingeführt werden, eingebracht. Dieses Kunstharz härtet in der schwammartigen Knochenstruktur des Kno‐ chenmarkes des Wirbelkörpers aus und verleiht diesem die Stabilität. Die 1998 entwickelte Kyphoplastie erweitert dieses Verfahren, indem mittels ei‐ nes Ballons der eingesunkene Wirbelkörper wieder aufgerichtet wird. Nach anmutigenden Ergebnissen folgte eine breite Anwendung des Verfahrens. Weiteren Studien zufolge sind die Ergebnisse dann nicht mehr so eindeutig gewesen, so dass es sich nur noch um eine Einzelfallentscheidungen handelt, die in einem interdisziplinären Team in Kenntnis der aktuellen klinischen Beschwerden und des aktuellen bildgebenden Materials zu treffen wären. Wissen | Osteoporose Bei der Osteoporose handelt es sich um eine systemische Skeletterkran‐ kung, die durch eine niedrige Knochenmasse und eine mikroarchitek‐ tonische Verschlechterung des Knochengewebes charakterisiert ist, was eine geringere Bruchfestigkeit des Knochens mit sich bringt. Diese Veränderungen führen zu einem erhöhten Knochenbruchrisiko. Die Wirbelsäule das Hüftgelenk und das körperferne Speichenende sind davon besonders betroffen. In den letzten Jahren kommt der Oberarm‐ kopfbruch als osteoporosebedingte Fraktur vermehrt hinzu. Die medizinische Welt unterscheidet die sog. primäre Osteoporose von der sekundären Osteoporose. Bei der primären Osteoporose be‐ schreiben wir die postmenopausale Osteoporose, also jene nach den 4.5 Effizienz 73 <?page no="74"?> Wechseljahren, die sich im Wesentlichen durch einen Östrogenmangel kennzeichnet. Hier ist das weibliche Geschlecht betroffen und der Knochenverlust zeigt sich mehr in den Knochenbälkchen. Das erklärt auch, warum vornehmlich die Wirbelkörper betroffen sind. Bei der zweiten Form, der senilen, also altersbedingten Osteoporose handelt es sich um die Folge eines Mangels an Kalzium und Vitamin D, geht mit dem altersbedingten Bewegungsmangel einher und ist auch eine Folge des Alterungsprozesses. Hier sind Menschen hohen und höheren Alters betroffen. Es verbleiben noch die seltenen Gründe für eine Osteoporose, die sekun‐ däre Osteoporose. Sie können mit einer Rheumatoiden Arthritis, dem Morbus Crohn, dem Typ 1 Diabetes oder der Epilepsie vergesellschaftet sein können. Dann gibt es noch weitere seltene Erbkrankheiten, die ursächlich für eine Osteoporose sein können. 4.6 Zweitmeinungsverfahren Fallbeispiel (Zweitmeinungsverfahren) | Heinz K. (67) war von Beruf Maschinenbediener und beklagt seit 15 Jahren Rückenschmerzen. Der Arzt verordnete ihm Schmerzmittel und Physiotherapie. Er macht Rehasport und geht einmal in der Woche schwimmen. Zur Verbesserung seiner Altersrente arbeitet er stundenweise als Platzwart auf dem nahegelegenen Campingplatz. Seit einigen Monaten ziehen die Schmerzen in die Beine. Die Schmerz‐ mittel helfen auch nicht weiter. Nach weiterer Bilddiagnostik und diagnostischen Nervenblockaden empfahl der Orthopäde und Wirbel‐ säulenspezialist die Versteifung der unteren Wirbelsäule. Die Opera‐ tion sei auch mit Risiken verbunden, darunter auch das Fortbestehen der Beschwerden. Heinz wendet sich an seinen Hausarzt. Der fragt weiter nach: Heinz hatte eine wenig beschützte Kindheit und Jugend. Er habe sich wie‐ derholt als Opfer ungerechter und traumatisierender Behandlung seiner Eltern und Bezugspersonen erlebt. Der Stiefvater habe ihn nicht gewollt und als einzigen von mehreren Geschwistern ins Kin‐ 74 4 Allokationsproblem <?page no="75"?> 41 Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Konkretisierung des Ab‐ spruchs auf eine unabhängige ärztliche Zweitmeinung gemäß § 27b Absatz 2 des Fünftsen Buches Sizialgesetztbuch, zuletzt geändert am 18.März 2022, in Kraft getreten am 31. Mai 2022 derheim abgeschoben. Oftmals sei es zu Gewalt gegen ihn gekommen. Vertrauen zu anderen Personen aufzubauen, falle ihm schwer. Das Zweitmeinungsverfahren versucht, dem Problem der Übertherapie zu begegnen. Im Rahmen eines Zweitmeinungsverfahrens haben Patientin‐ nen und Patienten die Möglichkeit, offene Fragen zu einem empfohlenen Eingriff mit einer Ärztin oder einem Arzt mit besonderen Fachkenntnissen und Erfahrungen zu besprechen. Sie können sich dabei über die Notwendig‐ keit des Eingriffs und über alternative Behandlungsmöglichkeiten beraten lassen. Dies betrifft aktuell Eingriffe an Gaumen- und Rachenmandeln, die Entfernung der Gebärmutter, die Gelenkspiegelungen an der Schulter, Amputationen beim diabetischen Fußsyndrom und die Implantation einer Knieendoprothese, Eingriffe an der Wirbelsäule sowie kathetergestützte elektrophysiologische Herzuntersuchungen und Ablation am Herzen 41 . Die‐ ser Katalog erweitert sich. Wenngleich bei diesem Verfahren die medizinische Indikation hinterfragt wird, zielt das Verfahren darauf ab, unnötige operative Maßnahmen zu vermeiden, somit Kosten für das Gesundheitssystem zu mindern. Die Verwendung aller verfügbaren Mittel ist ökonomisch und ethisch nicht sinnvoll, weil es schlichtweg nicht umsetzbar ist. Das entspricht auch der gesellschaftlichen Interpretation, wenngleich dies individuell ganz anders gesehen werden kann. Beim Zweitmeinungsverfahren ist stets die Unab‐ hängigkeit sicherzustellen. Sie darf nicht bei einem Arzt oder Einrichtung eingeholt werden, die die Eingriffe selbst vornimmt. Die Teilnahme als Gut‐ achter im Zweitmeinungsverfahren ist durch die jeweilige kassenärztliche Vereinigung genehmigungspflichtig. Die Zweitmeinung etwa bei Wirbelsäulenoperationen ist als Regelleis‐ tung der gesetzlichen Krankenversicherung eingeführt. Es gilt neben der Indikation auch zu prüfen, ob alle konservativen Therapiemöglichkeiten ausgeschöpft sind. Wer eine Zweitmeinung einholt, widerspricht häufig der ursprünglichen Entscheidung. In etwa 98 % der Fälle raten Zweitmeiner von einem chirurgischen Eingriff an der Wirbelsäule ab, so die Deutsche Gesell‐ 4.6 Zweitmeinungsverfahren 75 <?page no="76"?> 42 Deutsches Ärzteblatt Newsletter vom 25. März 2022: https: / / www.aerzteblatt.de/ treffe r? mode=s&; wo=1041&typ=1&nid=132849&s=Zweitmeinungsverfahren 43 Lindena, G.; Bienek, K.; Marnitz, U., von Pickarth, B.: Zweitmeinung vor Operationen an der Wirbelsäule. In: Schmerz 2023 (37): S.-175-184 schaft für Schmerzmedizin. Sie schlossen Daten von etwa 7.000 Betroffenen ein. Auch bei Gelenkoperationen von knapp 4.000 Patienten entschieden sich in 87-% der Fälle die Zweitmeiner gegen eine Operation. 42 In einer, wenn auch kleinen Studie aus der Versorgungsforschung wurde der Frage nachgegangen, welche Therapieempfehlungen durch ein multi‐ professionelles Team auszusprechen sind und wie es den Patienten im Lang‐ zeitverlauf erging. Nur 15 von 522 Personen erhielten eine OP-bestätigung. Schmerzintensität und Schmerzbeeinträchtigung waren auffällig und der morphologische Befund war aus Sicht des Teams ausgeprägt. Eine weitere Frage richtete sich danach, ob Patienten, die vor einer anstehenden Rücken‐ operation eine Zweitmeinung einholen, von einer konservativen Therapie profitieren. Ein bio-psychosoziales Konzept erscheint dabei der Regelversor‐ gung überlegen. Patienten mit Operation ging es im 2-Jahres-Folgezeitraum nach Zweitmeinung tendenziell schlechter als Patienten ohne Operation. 43 Kernaussage: Das Zweitmeinungsverfahren scheint ein Instrument zu sein, das die Anzahl an Operationen verringert und zugleich Fragen der weiterführenden konservativen Therapie adressiert. Es verbleibt abzuwarten, wie sich das Verfahren etabliert und zu welchen gesamt‐ gesellschaftlichen Ergebnissen es führt. 4.7 Rationierung Rationierung in der Form der Leistungsbegrenzung bedeutet nicht die Vorenthaltung medizinisch notwendiger und lebenswichtiger Maßnahmen. Es werden keine Rabattmarken im Gesundheitswesen vergeben und sie sind auch nicht sinnvoll. Leistungsbegrenzung beschreibt die gesellschaft‐ lich-normative Festlegung der relativen Wertigkeit medizinischer Maß‐ nahmen. Eine solche Einschätzung bedarf aber einer Transparenz der Werteentscheidung. Diese ist nicht immer zu erkennen. Trotz aller Leis‐ tungsbegrenzung ist eine Verbesserung von Lebenserwartung und Lebens‐ qualität zu beachten. Leistungsbegrenzung erlaubt, medizinisch nicht sinn‐ 76 4 Allokationsproblem <?page no="77"?> 44 Janssens, U.; Ökonomie in der Intensivmedizin - ein Widerspruch? In: Med Klein Intensivmed Notfmed 2015 (110): S.-264-271 volle Maßnahmen eben nicht zur Verfügung zu stellen, insbesondere dann, wenn die benannten Ziele mit diesen Maßnahmen nicht zu erlangen sind. In dieser Frage befinden wir uns in einem Konfliktfeld zwischen indivi‐ dualethischem Nutzen und gerechtigkeitsethischer Fragen der solidarischen Finanzierung. Zuteilungen medizinischer Leistungen sind hiervon abhän‐ gig. Im Spannungsfeld von Bereitstellung der Mittel, Effizienz und Leistung steht das so zitierte Arzt-Patient-Verhältnis. Im großen Pinselstrich hat die Behandlung eines Patienten gemäß SGB V (Gesetzliche Krankenver‐ sicherung) mit allen notwendigen Mitteln zu erfolgen. Hinsichtlich des SGB VII (Gesetzliche Unfallversicherung) werden hierzu alle erforderlichen Mittel angewendet. In der zivil- und strafrechtlichen Bewertung wird ein sorgfältiges Handeln eingefordert, was von der Klageseite als „mit allen möglich erdenklichen Mitteln“ interpretiert wird. In diesem Spannungsfeld spiegelt sich Medizin ab und dies ist einer der Hauptgründe, warum es zu einem exorbitanten Anstieg der Gesundheitskosten kommt. An dieser Stelle sei die Makro- und Mikroallokation nach H. Tristram Engelhardt (1941-2018), einem amerikanischen Philosophen, eingeführt. Nach seiner Auffassung sind Makroallokation von Mikroallokation zu unterscheiden. Diese sind in jeweils zwei Untergruppen aufzuschlüsseln. Makroallokation I beschreibt vereinfacht die Verteilung der Mittel auf oberster oder politischer Ebene gemäß einer Verteilung der Ressourcen, ori‐ entiert nach dem Bruttoinlandsprodukt. Dies ist eine gesellschaftspolitische Entscheidung und allem übergeordnet. Die Makroallokation II beschreibt die Verteilung der Mittel innerhalb des Gesundheitswesens. Hier sind sehr stark die jeweiligen Fachgesellschaften in ihren Meinungen und in ihren Gestaltungsmöglichkeiten angefragt. 44 Mikroallokation I beschreibt die Verteilung der Mittel auf bestimmte Krankheiten und Patienten und definiert auch Ausgrenzungen von Hilfen nach zu definierenden Kriterien. Hierbei handelt es sich auch um gesell‐ schaftliche Normvorschriften und sie ist der Mikroallokation II, dem eigentlichen Arzt-Patienten-Verhältnis übergeordnet. In diesem sehr per‐ sönlichen Verhältnis und gerade in Situationen des Erlebens von Krankheit, Leiden und Tod stellen Ärztinnen und Ärzte die Personifikationen dieses 4.7 Rationierung 77 <?page no="78"?> komplexen Systems dar und entscheiden auch über die Zugänglichkeit von Diagnostik und Therapie. Zusammenfassend beschreibt es die Struktur eines gesellschaftlich festge‐ legten normativen Regelwerkes gegenüber der individual-therapeutischen Situation. Klassische Marktmechanismen greifen an dieser Position nicht. Hieraus entwickelt sich eine Kontroverse. Die Lösung ergibt sich in dem individuellen Arzt-Patienten-Verhältnis, wenn medizinische Leistungen als medizinisch sinnvoll zu verorten sind und andererseits nach den vorgege‐ benen Regelungen als nicht notwendig erachtet werden. Dieses Dilemma ist durch Transparenz im kommunikativen Bereich zwar aufzulösen, wird aber durch die Komplexität der Regularien um Gesundheitsfragen beibehalten. Leistungsbegrenzungen nehmen einen besonderen Raum ein und sind in ihrer Entstehung und Bedeutung differenziert zu betrachten. Sie können in eine explizite und eine implizite Form unterschieden werden. Das Thema Priorisierung ist gesondert zu betrachten, da es sich hier um eine Form einer gestufte Leistungsbegrenzung handelt. In aller Regel ist sie entlang einer Zeitachse ausgerichtet. Explizite Leistungsbegrenzungen entstammen einer vorgebenden Norm und sollten in ihrer Struktur konsistent und transparent sein. In vergleichbaren Situationen sollen gleiche Behandlungsformen zur Anwen‐ dung kommen. Es sind also allgemeinverbindliche Vorgaben außerhalb der Arzt-Patient-Beziehung. In einem solchen Kontext von Standards oder Richtlinien sind Maßnahmen kontrollierbar. Die etablierten Versorgungss‐ tandards entstehen auf Grundlage wissenschaftlicher Evidenz. Eine der Grundregeln der gesetzlichen Krankenversicherung ist, dass alle Behandlungen wirtschaftlich, also effektiv und kostengünstig, sein müssen. Das bedeutet, dass bestimmte Behandlungen einem Leistungsaus‐ schluss bei der gesetzlichen Krankenversicherung unterliegen und nicht bezahlt werden. Besteht man dennoch auf einer Behandlung, muss man einen Teil oder die gesamten Kosten selbst übernehmen. Das trifft beispiels‐ weise auf Schönheitsoperationen zu. Wenn nicht nachgewiesen werden kann, dass ein Schönheitsmakel eine schwere Depression hervorgerufen hat, die nur durch die Operation behandelt werden kann, werden die Behandlungskosten nicht übernommen. Sie sind dann aus medizinischer Sicht nicht notwendig, sondern werden als reiner Luxus betrachtet. 78 4 Allokationsproblem <?page no="79"?> 45 Bundesverfassungsgericht vom 06.12.2005 (AZ: 1 BvR 347/ 98) 46 Bekanntmachung eines Beschlusses des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Änderung der Richtlinien Methoden Krankenhausbehandlung und Methoden vertragsärztliche Versorgung sowie der Verfahrensordnung: Berücksichtigung des BVerfG-Beschlusses vom 6. Dezember 2005 in der Methodenbewertung vom 20. Januar 2011 47 Nach SG Rostock, Beschluss vom 05.11.2015 - S 15 KR 753/ 15 ER Wissen | Nikolausurteil 45 Bei diesem vielfach zitierten Beschluss des Bundesverfassungsgerichts wurde der Frage nachgegangen, inwieweit nicht anerkannte, soge‐ nannte neue Behandlungsmethoden in Fällen einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung im Rahmen der ambulanten ärztlichen Versorgung dennoch von der Solidargemeinschaft zu tragen sind. Demnach sei es mit den Grundrechten in Verbindung mit dem So‐ zialstaatsprinzip nicht vereinbar, einem gesetzlich Krankenversicherten, für dessen lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behand‐ lung nicht zur Verfügung steht, von der Leistung einer von ihm gewähl‐ ten, ärztlich angewandten Behandlungsmethode auszuschließen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Diesbezüglich hat sich eine Änderung dahingehend ergeben, als dass ein hinreichender Schweregrad der Erkrankung vorzuliegen habe, eine Alternativlosigkeit bestehe und dies mit einem hinreichenden Nachweis des hinreichenden Erfolges verbunden sei und dies auch zumindest bei wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankungen. 46 Fallbeispiel 47 | Herta K. (72) leidet an einem chronischen Schmerz‐ syndrom mit somatischen und psychischen Faktoren bei ausgeprägter Arthrose der Schultergelenke und einem chronischen Schulter-Na‐ cken-Syndrom. Aufgrund einer Kinderlähmung ist sie an Armen und Beinen weitgehend gelähmt und benötigt infolge der Schädigung der Atemhilfsmuskulatur ganztägig ein Atemunterstützungsgerät. Seit ei‐ nigen Jahren befindet sie sich in schmerztherapeutischer Behandlung in einem Krankenhaus. Es stellte sich die Frage der Übernahme der Kosten für eine Behandlung mit einem Cannabis-Präparat. Der Medi‐ 4.7 Rationierung 79 <?page no="80"?> zinische Dienst und die Krankenkasse lehnten ein solches Vorgehen ab, da es an einer entsprechenden Zulassung für das Medikament fehle. Medizinhistorisch gilt Cannabis als wirksames Arzneimittel zur Behandlung von Schmerzzuständen und es hat nur eine geringe Gefahr einer psychischen Abhängigkeit. Zur Schmerzlinderung be‐ nötigt es nur einer geringen Dosis und somit unterhalb der die psychische Reaktion auslösende Schwelle. Das Gericht sah in dieser Konstellation, dass das Recht auf körperliche Unversehrtheit neben der Gefahr für Leib und Leben auch das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit und vor Schmerzen beinhalte, was auch eine Schutzpflicht des Staates darstelle. Implizite Leistungsbegrenzungen berücksichtigen die Besonderheiten des Einzelfalles. Dabei stellt die Budgetierung das einfachste Mittel zur Ausgabenbegrenzung dar. Die Budgetierung beschreibt eine gesetzlich fest‐ gelegte Maßnahme, dass pro Kalenderjahr in einem bestimmten Aufgaben‐ bereich für alle Versicherten der Gesetzlichen Krankenversicherung nur eine Geldmenge ausgegeben werden darf, die derjenigen des Vorjahres - um einen Anpassungsfaktor ergänzt - entspricht. Es ist zugleich aber auch kritisch zu betrachten. Innerhalb des zur Verfü‐ gung stehenden Budgets sind Leistungen innerhalb der Patientengruppe zu priorisieren. Damit sind die Entscheidungen nicht transparent und können zu Benachteiligung führen. Dies belastet das individuelle Arzt-Pa‐ tienten-Verhältnis, wenn es um die Zuteilung von Gesundheitsleistungen geht. Häufig kommt es zum Ende des Jahres vor, dass die Ausgaben die festgelegte Begrenzung überschreiten. Gründe hierzu sind die demographi‐ sche Entwicklung, die Multimorbidität und auch besondere Entwicklungen im Gesundheitswesen, die dem Gesamteinkommen-assoziiertem Faktor nicht entsprechen. Regionale Minderversorgungen führen zu einer lokalen Mehrbelastung und werden vom komplexen Verteilungssystem nicht be‐ rücksichtigt. Leistungserbringer tragen die damit verbundenen Mehrkosten selbst. Kernaussage: Zusammenfassend sind explizite Leistungsbegrenzung ethisch zu bevorzugen, da sie auf einer breiteren gesellschaftlichen Normierung beruhen. Sie sind aber in der Praxis nur schwer realisier‐ bar, insbesondere durch die zeitliche Latenz, die mit diesen Entschei‐ 80 4 Allokationsproblem <?page no="81"?> dungsprozessen verbunden sind. Zwar sind die impliziten Leistungsbe‐ grenzungen leichter umsetzbar, sie bieten aber auch erhebliche ethische Probleme, da sie sehr individuell ausgerichtet sind. 4.8 Rationalisierung Rationalisierung wird üblicherweise zuerst genannt, wenn es um den Umgang mit begrenzten Ressourcen geht. Es ist sinnvoll, Prozesse und Abläufe zu überdenken und auf ihre Effizienz zu überprüfen. Ein vernetztes Informationssystem vermeidet eine doppelte Diagnostik und führt zielge‐ richteter zu einer Diagnose. Patientinnen und Patienten wissen nicht, wann und wo, welche Untersuchungen durchgeführt wurden und welche Ergebnisse sie erbracht haben. In einem Praxisverbund mit verschiedenen Fachdisziplinen stehen die Informationen allen beteiligten Ärzten in einem Informationssystem zur Verfügung. Einige der Arbeiten können maschinell unterstützt oder auch automatisiert werden. Statt mehrerer Sterilisations‐ einheiten in kleineren Krankenhäusern kann eine zentrale Sterilisationsein‐ heit mit höchstem Niveau etabliert werden. Hierzu muss aber auch die damit verbundene Logistik mitbedacht werden. Die Operationssiebe, in denen sich die Instrumente befinden, können für alle Standorte vereinheitlicht werden. Sie haben einen hohen Standard und sind bei Engpässen auch innerhalb des Klinikverbundes austauschbar. Es ist einfacher ein Operationssieb durch die Gegend zu fahren als den intensivpflichtigen Patienten. Witterungseinflüsse können zu Bildung von Kondensationswasser in den Operations-Sieben führen, was dann das Produkt unbrauchbar macht. Daher ist der Transport mit klimatisierten Fahrzeugen erforderlich, was wiederum mit Mehrkosten verbunden ist. Auch in den Prozessabläufen der medizinischen Behandlung zeigen sich positive Effekte, wenn hochstandardisierte Erkrankungen einem zügigen Behandlungspfad unterliegen. Die damit verbundene Kürzung der Ver‐ weildauer macht sich auch bei ähnlichen Erkrankungsformen bemerkbar. Zudem hat sie den entscheidenden medizinischen Effekt, das Risiko einer nosokomialen Infektion für die Patientinnen und Patienten zu mindern, was seinerseits mit Morbidität und Mortalität einhergeht. Andererseits bergen verkürzte Verweildauern die Gefahr einer Unterversorgung, insbesondere dann, wenn keine poststationäre Betreuung gewährleistet ist. 4.8 Rationalisierung 81 <?page no="82"?> 48 Aßfalg, V.; Hassiots, S.; Radonjic, M. et al. Einführung des Entlassmanagements an einer Universitätsklinik für Chirurgie: Explorative Analyse von Kosten, Verweildauer und Patientenzufriedenheit. In: Bundesgesundheitsbl. 2022 (65): S.-348-356 49 Cunic, D.; Lacombe, S.; Mohajer K. et al. Can the Blaylock Risk Assessment Screening Score (BRASS) predict length of hospital stay and need for comprehensive discharge planning for patients following hip and knee replacement surgery? Predicting arthro‐ plasty planning and stay using the BRASS. In: Can J Surg. (57) No.6: S.: 391-397 50 Hüftendoprothese: Dank Ultra-Fast-Track-Chirurgie direkt nach Haus (21.02.2002): ht tps: / / www.ndr.de/ ratgeber/ gesundheit/ Hueftprothese-Dank-Ultra-Fast-Track-Chirurg ie-direkt-nach-Hause,hueftoperation100.html Das 2017 eingeführte Entlassungsmanagement trägt dazu bei, eine geregelte nachstationäre Versorgung zu gewährleisten. Es stellt eine effek‐ tive und qualitativ erfolgreiche, jedoch kostenverursachende Maßnahme dar. Langfristige Einsparungen ergeben sich durch die Vernetzung der unterschiedlichen Akteure 48 . Alter, Lebenssituation, funktionaler Status, kognitive Fähigkeiten, Verhalten, Mobilität, Sehschwäche und Schwerhö‐ rigkeit, Anzahl an Vorstellungen in der Notfallambulanz innerhalb der vergangenen 3 Monate, Anzahl der medizinischen Probleme und Anzahl an Medikamenten stellen Risikofaktoren für die Länge des stationären Aufenthaltes nach elektiver Endoprothetik dar 49 und sind auch auf andere stationäre Behandlungsgründe übertragbar. Diese Patienten profitieren von einer Überleitung in eine adäquate Versorgungsform. Drehtüreffekte, als kurzfristige Wiederaufnahme sind reduzierbar und tragen zur effizienten Nutzung der Krankenhausressourcen bei. Kernaussage: Rationalisierungsmaßnahmen in den prozessualen Ab‐ läufen, durch strukturelle Zusammenführung von Leistungsgruppen aber auch die Verzahnung von stationärer Versorgung und Nachbe‐ handlung stellen effizienzsteigernde Faktoren für die Ressourcenpla‐ nung dar. Wissen | Ultra-Fast-Track-Chirurgie 50 Ultra-Fast-Track-Chirurgie ermöglicht es Patientinnen und Patienten noch am Operationstag wieder Zuhause zu sein, auch bei einer Hüft-En‐ doprothese: Hip-in-a-Day (Hüfte in einem Tag) ist das Schlagwort. Patientinnen und Patienten werden aktiv und eigenverantwortlich in den Behandlungsprozess mit einbezogen. Eine intensive Patientenschu‐ 82 4 Allokationsproblem <?page no="83"?> 51 Statista (https: / / de.statista.com/ statistik/ daten/ studie/ 2604/ umfrage/ durchschnittliche -verweildauer-im-krankenhaus-seit-1992/ ) lung sowohl vor der Operation als auch im weiteren Behandlungszyklus senken Stress und Angst. Mit einer Prähabilitation, also einer aktiven Vorbereitung noch vor der Operation, lassen sich die Behandlungspfade entscheidend verkürzen. Ein schonendes Operationsverfahren begüns‐ tigt den Verlauf. Noch wird die Fast-Track-Chirurgie kaum angeboten. Menschen mit bedeutsamen Vorerkrankungen benötigen eine Zeit der stationären Betreuung. Es zeigen sich viele Daten dahingehend, als dass sich die Gesamtverweildauer stetig verkürzt. Waren es 1992 im Schnitt 13,3 Tage, so waren es 2021 nur 7,2 Tage 51 - Tendenz fallend. Im Personalwesen führen die Verbesserung des Führungsstils, die Teilhabe am Prozess, die Förderung von Aus- und Weiterbildung zu einer verbes‐ serten intrinsischen Motivation und zu einer Verbesserung der Qualität. Praktikanten sind auf den Stationen willkommen, sie können eine Fachkraft jedoch nicht ersetzen, da sie die Gefahrensituation von Patientinnen und Patienten nicht erkennen können. Ihnen fehlt das Wissen dazu. Chronische Unterbesetzung der Kliniken, allen voran im Pflegebereich als auch im ärztlichen Dienst sind allgegenwärtig. Davon sind alle Kliniken ungeachtet der Trägerschaft oder Größe betroffen. Konzerne verfolgen gerne die Strategie, Therapiegebiete in den unterschiedlichen Häusern zu konzentrieren und vernachlässigen gewollt oder ungewollt den Sicherungs‐ auftrag. Ärztinnen und Ärzte fühlen sich in ihren Kompetenzen beschnitten und werden in ihren Kernkompetenzen nicht weiter adressiert. Die Folge ist Frustration und Kündigung. Durch die Einführung von Mindestfallzahlen für bestimmte Eingriffe ist eine Konzentration gewollt. Einem Team oder einer Klinik die Kompetenz zu nehmen, eine erfolgreiche Pankreaschirurgie durchzuführen, weil sich die Fallzahlen an der Grenze der Mindestmenge bewegen, stellt für die Beteiligten eine emotionale Katstrophe dar. Ganze Krankenhausketten bauen Stellen für medizinisches Personal ab und nutzen zugleich die Corona-Staatshilfen. Hieraus generieren sich Ge‐ winne, die nach oben abgegeben werden. Da bleibt nur wenig Raum für Investitionen. Die öffentliche Hand kommt ihrem Investitionsauftrag auf Landesebene ebenso nicht nach. Der Helios-Konzern hat im Rahmen der Pandemie zusammen mit der spanischen Krankenhauskette im Jahr 2020 4.8 Rationalisierung 83 <?page no="84"?> 52 Gesellschaftsbericht Fresenius Helios (https: / / geschaeftsbericht.fresenius.de/ 2020/ an-u nsere-aktionaere/ unternehmensbereiche/ fresenius-helios/ ) abgerufen 10. Juli 2022 53 Wehkamp K.H.; Medizinethik und Ökonomie im Krankenhaus - die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Ergebnisse einer qualitativen Studie. In: Ethik Med (2021) 33: 177-187 mehr als eine Milliarde Euro vor Steuern erwirtschaftet. 52 Frustindex der Mitarbeiter und Aktienindex des Konzerns schnellen in die Höhe. Auf diese Weise werden Sozialleistungen und Pflichtversicherungsbeiträge in Kapital umgewandelt. In den Kliniken sind erhebliche finanzielle Restriktionen wahrzunehmen. Teils fließen erwirtschaftete Gewinne ab, teils bleibt eine Unterdeckung, die zum Untergang der Klinik führen. Chefärzte geben an, aus ökonomischen Gründen nützliche Maßnahmen in der Patientenversorgung vorenthalten zu haben oder durch weniger effektive, aber kostengünstigere Alternativen zu ersetzen. 53 Ziel ist die Fahlzahlgenerierung und die Verweildauersteuerung, verbunden mit den dazu erforderlichen und Belastungen der Verdichtungen im Behandlungsprozess. Diese Prozesse werden sich weiter verschärfen. Take-Home-Message | Ethisch am ehesten vertretbar erscheint eine Kombination der drei Verteilungskriterien, die neben der Dringlichkeit und dem Schweregrad der Erkrankung den erwarteten medizinischen Nutzen und die Kosteneffektivität der Maßnahmen berücksichtigen. Die große ethische Herausforderung besteht dabei darin, das relative Gewicht der drei Kriterien bei der Mittelverteilung zu bestimmen, da sich dieses nicht aus einer übergeordneten ethischen Theorie ableiten lässt. Die Vorenthaltung nützlicher medizinischer Leistungen unter den derzeitigen ökonomischen Rahmenbedingungen bedarf klare Kriterien, um die Beteiligten auch abzusichern. Neben der Definition von zu er‐ bringenden Leistungen stellt der Ausbau von Zweitmeinungsverfahren ein Modul dar, um einer Überversorgung entgegenzutreten und somit Mittel zur Versorgung freizustellen. Eine Konzentration von stationären Kapazitäten wie sie in Dänemark oder in den Niederlanden umgesetzt wurden, erscheint als Element bezüglich Konzentration und Kostenre‐ duktion bei hohem Qualitätsstandard effizient. Die Allokationsproblematik im Gesundheitswesen umfasst alle Bereiche der Patientenversorgung. Demographische und morbiditätsbezogene 84 4 Allokationsproblem <?page no="85"?> Entwicklungen werden die Verteilungsproblematik verschärfen. Die aktuelle Situation zeigt ein Nebeneinander von Unterversorgung in der Breite und eine Überversorgungstendenz in den wirtschaftlich lukrativen Geschäftsanteilen. Es erscheint notwendig, hier eine gesamt‐ gesellschaftliche und gesundheitspolitische Entscheidung zu treffen. 4.8 Rationalisierung 85 <?page no="87"?> 54 G. Marckmann; Ethische Grundlagen der Priorisierung im Gesundheitswesen. In: Bundesgesundheitsbl 2010 (53): S.-867-873 5 Priorisierung Priorisierung kann in Anlehnung der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer verstanden werden, als die Bestimmung der relativen Vorrangigkeit von medizinischen Maßnahmen, Indikationen, Patientengruppen oder auch ganzen Versorgungsbereichen. 54 Am Bei‐ spiel der Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen im Kontext der CO‐ VID-19-Pandemie lassen sich die grundsätzlichen Aspekte diskutieren. 5.1 Erfolgsaussicht Medizinische Entscheidungen orientieren sich am Bedarf des einzelnen Patienten. Es besteht ein medizinisches Problem, bei dem die Mittel zu Erkennung und Behandlung zur Verfügung gestellt werden. Bei einer Schnittwunde, wie sie beim Schneiden einer Ananas auftreten kann, vermag die Versorgung in der Verwendung eines einfachen Pflasters bestehen. Bei einer Strecksehnenverletzung wird die Sache aber komplizierter. Hier bedarf es dann einer möglichen operativen Versorgung. Treten beispiels‐ weise infektiologisch-bakterielle Komplikationen hinzu, kann dies - unter zusätzlichem Bestehen komplexer Begleiterkrankungen - auch zu einem septischen Krankheitsbild mit dann intensivmedizinischer Behandlung füh‐ ren. Tritt in dieser Phase ein apoplektischer Insult, also ein Schlaganfall ein, kommt es zu einer komplexen neurologischen Rehabilitation. Infolge bestehender Einschränkungen ergeben sich erhebliche sozialmedizinische Fragestellungen. Es folgt Pflegebedürftigkeit, Verlust des Arbeitsplatzes, fehlende Teilhabe am sozialen Kontext und Isolation. Solange das System funktioniert und genügend Reserven bestehen, sind solche umfangreichen Fragestellungen adressierbar. Anders ist es bei Mit‐ telknappheit. Neben einer individuellen patientenzentrierten Betrachtung tritt eine überindividuelle Perspektive hinzu. Es ist schwierig, hierzu die passenden Kriterien gesellschaftlich festzulegen. <?page no="88"?> 55 Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (S1-Leitlinie AWMF-Registernummer 040-013) Entscheidungen über die Zuteilung intensivmedizi‐ nischer Ressourcen im Kontext der COVID-19-Pandemie. 2., überarbeitet Fassung vom 17.04.2020. 56 Clinical Frailty Scale (CFS) der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie e. V. (https: / / www .divi.de/ images/ Dokumente/ 200331_DGG_Plakat_A2_Clinical_Frailty_Scale_CFS.pdf) Die Fachgesellschaften haben sich dahingehend verständigt, das Krite‐ rium der Klinischen Erfolgsaussicht für intensivmedizinische Behandlung bei der COVID-19-Erkrankung anzuwenden und es ist als Leitlinie so auch formuliert worden. 55 Die darin festgelegten Priorisierungsentscheidungen in Notlagen bestim‐ men, bei welchen Patienten intensivmedizinische Maßnahmen begonnen werden und auch, bei welchen Patienten bereits eingeleitete intensivmedi‐ zinische Maßnahmen beendet werden sollen. Dieser Prozess unterliegt einer Reevaluation, wenn sich eine relevante Zustandsänderung und / oder ein verändertes Verhältnis von Bedarf, der zur Verfügung stehenden Möglich‐ keiten ergibt. Eine Weiterbehandlung ist jedoch sicherzustellen. In einem entsprechenden Protokoll soll dies von möglichst zwei inten‐ sivmedizinisch erfahrenen Ärzten, einschließlich Primär- und Sekundärbe‐ handler der beteiligten Fachgebiete und möglichst einem Vertreter der Pflegenden das Ergebnis der Beratungen dokumentiert werden. Zur Eva‐ luation werden klinische Erfolgsaussichten herangezogen. Sie adressieren einerseits die aktuelle Erkrankungssituation als auch den prämorbiden Gesundheitszustand. Ein Aspekt stellt hierbei die Clinical Frailty Scale dar, wobei weitere Kataloge zur Beschreibung von Gebrechlichkeit bestehen und Anwendung finden. Wissen | Clinical Frailty Scale Die Clinical Frailty Scale (CFS) besteht aus mehreren Kategorien und wurde von der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie erarbeitet 56 . Es werden die Fähigkeiten der betreffenden Person zwei Wochen vor dem Ereignis evaluiert. Sie ist nur für ältere Patientinnen und Patienten über 65 Jahre evaluiert. Sie ist auch nicht bei Personen mit stabilen dauerhaften Behinderungen validiert, da deren Prognose stark von der älterer Menschen mit progredienten Behinderungen differieren können. Es ist ein Instrument, dass eine ganzheitliche Betrachtung ergänzt. An 88 5 Priorisierung <?page no="89"?> 57 Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichtes Nr. 74 vom 14. August 2020 (Be‐ schluss vom 16. Juli 2020: 1 BvR 1541/ 20) insgesamt neun Stufen werden Patientinnen und Patienten von sehr fit (1) über mittelgradig frail (6) bis terminal erkrankt (9) unterschieden. Es erlaubt auch eine klinische Einstufung bei dementiellen Erkrankungen. Diese Skala identifiziert Patienten mit einem erhöhten Risiko für einen ausbleibenden Behandlungserfolg, welche nicht von einer intensivmedizi‐ nischen Intervention profitieren dürften. Dabei ist das „dürften“ so zu verstehen, als dass nicht die Erwartung besteht, dass sie einen wirklichen Benefit erlangen und das Ergebnis der intensivmedizinischen Behandlung letal endet oder zumindest mit einer erheblichen Morbidität einhergeht. Unter einer weiteren Evaluation von aktuellem klinischem Zustand, dem bestehenden Patientenwillen, der Komorbiditäten, der Erfassung des All‐ gemeinzustandes, laborchemischer Analysen und prognostisch relevanter Scores und auch der aktuellen Erfahrungen mit der zugrunde liegenden Infektion sind Therapieentscheidungen hinsichtlich einer intensivmedizini‐ schen Behandlung zu führen. 5.2 Rechtsfolge Zeitgleich gab zum Vorschlag der Fachgesellschaften über die Frage der Priorisierung auf der Intensivstation einen Eilantrag am Bundesverfas‐ sungsgericht 57 auf eine verbindliche Regelung der Triage im Rahmen der COVID-19-Pandemie. Die Beschwerdeführer trugen vor, dass sie unter verschiedenen Behinderungen und Erkrankungen leiden. Sie befürchteten, schlechter behandelt oder gar von der Behandlung ausgeschlossen zu werden. Nach den bisherigen Empfehlungen solle eine Triage entscheidend sein und sie regen an, dass der Gesetzgeber verpflichtet sei, die Triage verbindlich zu regeln. Dieser Einwand ist, so die Richter des Bundesverfassungsgerichtes, insoweit korrekt. Die Leitlinie orientiert sich an der Prognose „Über‐ leben“. Sie bevorzugt Patienten, die vermutlich am meisten von der Behandlung profitieren. Zielgröße ist die Minimierung der Todesfall‐ 5.2 Rechtsfolge 89 <?page no="90"?> 58 Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichtes Nr. 109 vom 28. Dezember 2021 (Beschluss vom 16.Dezember 2021: 1 BvR 1541/ 20) 59 Deutsches Ärzteblatt (10.11.2022); Bundestag verabschiedet Triagegesetz, Ex-Post-Triage ausgeschlossen. In: https: / / www.aerzteblatt.de/ nachrichten/ 138717/ B undestag-verabschiedet-Triagegesetz-Ex-Post-Triage-ausgeschlossen rate. Das Diskriminierungsverbot wird insofern ignoriert, als dass in dieser Betrachtung Alter und Komorbidität mit aufgenommen sind. Diese Marker sind aber mit einer erhöhten Sterberate verbunden. Zwar ist die Verfassungsbeschwerde nicht von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Sie wirft vielmehr die schwierige Frage auf, ob und wann gesetzgeberisches Handeln in Erfüllung einer Schutzpflicht des Staates gegenüber behinderten Menschen verfassungsrechtlich geboten ist und wie weit der Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei Regelungen medizinischer Priorisierungsentscheidungen reicht. Dies bedarf einer eingehenden Prüfung, die im Rahmen eines Eilverfahrens nicht mög‐ lich ist. Das Bundesverfassungsgericht hat dann in seiner abschließenden Beurtei‐ lung (1BvR 1541/ 20) befunden, dass der Gesetzgeber Vorkehrungen zum Schutz behinderter Menschen für den Fall einer pandemiebedingt auftreten‐ den Triage zu treffen hat. Aus dem Verbot ergebe sich ein Auftrag, Menschen wirksam vor einer Benachteiligung der Behinderung zu schützen. Es ergebe sich daraus eine unmittelbare Handlungspflicht des Gesetzgebers. 58 In dem dann verabschiedeten zweiten Gesetz zu Änderung des Infektions‐ schutzgesetzes soll mit dem neu eingeführten § 5c IfSG die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen für den Fall einer Verknappung lebens‐ notwendiger medizinischer Versorgung in Notfällen verhindert werden. Insbesondere wegen einer Behinderung, des Grades der Gebrechlichkeit, des Alters, der ethnischen Herkunft, der Religion oder Weltanschauung, des Geschlechtes oder der sexuellen Orientierung darf es nicht zu einer Benachteiligung kommen. Allein die aktuelle und kurzfristige Überlebens‐ wahrscheinlichkeit sei entscheidend und diese Zuteilung soll einvernehm‐ lich von zwei Fachärztinnen oder Fachärzten vorgenommen werden. Hat bereits ein Patient ein Intensivbett erhalten, so ist diese Person in die Abwägung nicht einzubeziehen. Diese sogenannte Ex-Post-Triage ist im Gesetz explizit ausgeschlossen. 59 90 5 Priorisierung <?page no="91"?> 60 Marzi, I. Lehnert M. et al. Multiorganversagen auf operativen und nichtoperativen Intensivstationen im Vergleich. In: Intensivmed (2000) 37: 688-700 5.3 Scores Die Heranziehung der Überlebensrate hat einen sehr starken Einfluss erlangt und erscheint in der ersten Betrachtung gerecht. Aktuelle wissen‐ schaftliche Erkenntnisse zur evidenzbasierten Einschätzung der kurzfris‐ tigen Überlebenswahrscheinlichkeit wären aufzunehmen. In der Notfall‐ medizin sind die Therapieentscheidungen oft lebensrettend, unterliegen aber einem engen zeitlichen Korridor. Klassische Studien oder Register aus der Qualitäts- und Versorgungsforschung widmen sich spezifischen Fragestellungen, auch wenn sie zuweilen breit aufgestellt sind. Das Deutsche Krebsregister oder das skandinavische Endoprothesenregister widmen sich spezifischen Entitäten. Zu den seit Jahrzehnten etablierten Notfallregistern zählen das Traumaregister der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie sowie das Deutsche Reanimationsregister der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin. Kontrollierte Studien und Register er‐ lauben die Qualität der Versorgung zu beschreiben und Vergleich zwischen den Anbietern objektivierbar zu machen. Die daraus sich entwickelnden Daten erlauben zwar in einem gewissen Maße auch die Entwicklung von Prognose-Scores. Scores haben in der täglichen Routine am Krankenbett zur objektiven Beschreibung eines individuellen Behandlungsverlaufes jedoch nur eine Bedeutung mit Einschränkungen. Therapieentscheidung werden vom klinischen Gesamteindruck und der subjektiven Erfahrungen getrof‐ fen. Gleichwohl stehen in der Intensivmedizin unterschiedliche Methoden zur Verfügung, die über einen Score auch eine Aussage über die Überle‐ benswahrscheinlichkeit treffen könnten. In einer offenen, prospektiven multizentrischen Studie ging man der Frage nach, inwieweit Score-Systeme einen Beitrag leisten können, auf einer interdisziplinären Intensivstation die Entwicklung eines Multiorganversagens einzuschätzen. Es zeigte sich, dass die klinische Einschätzung der Häufigkeit eines Multiorganversagens als Todesursache durch die Score-Systeme nicht ausreichend abgebildet wur‐ den. 60 Ein fachübergreifendes Beurteilungs- und Dokumentationssystem hat sich bisher nicht etabliert bzw. eine breite Anwendung gefunden. Die Einschätzung eines Behandlungserfolges und damit die Prognoseab‐ schätzung erfolgt multivariat und integral im Behandlungsteam und ist abhängig, von Wissen, Erfahrung und Intuition der am Prozess beteiligten 5.3 Scores 91 <?page no="92"?> 61 Gottlieb J; Gwinner W.; Strassburg C.P.; Allokationssysteme in der Transplantations‐ medizin. In. Intrnist 2016 (57); S.-15-24 62 Gottlieb J; Gwinner W.; Strassburg C.P.; Allokationssysteme in der Transplantations‐ medizin. In. Intrnist 2016 (57); S.-15-24 Personen. Algorithmenbasierte Score-Systeme und Erfahrungen in der wissenschaftlichen Literatur sind hilfreich. Es handelt sich dabei immer um Behandlungsgruppen mit patientenseitig individuell unterschiedlichen Aus‐ gangslagen, die zur Erlangung der Vergleichbarkeit untergliedert werden. Klassifikationssystematiken vermögen die krankheitsspezifische Situation zu verorten und hieraus Therapiepläne abzuleiten. Individualmedizinische Aspekte sind komplex zu interpretieren. Individuelle patientenseitige Fak‐ toren im bio-psychosozialen Kontext sind in die Betrachtung mit aufzuneh‐ men, um unter Abwägung aller Umstände die bestmögliche Lösung für einen guten Behandlungserfolg zu finden. 5.4 Transplantation Im Bereich der Lungentransplantation wird auf die Fragen der Dringlichkeit und Erfolgsaussicht abgestellt. Der Lung Allocation Score (LAS) berück‐ sichtigt u. a. Lungenfunktionsdiagnostik, die 6-Minuten Gehstrecke, sowie metabolische und nephrologische Parameter als auch das Alter. Hieraus wird nach einem definierten Algorithmus ein LAS-Wert ermittelt. Patienten mit einem höheren LAS-Wert haben aufgrund des höheren Überlebensvorteils eine Priorität. Problemstellung ist, dass etwa ein Drittel der Patienten einem Zentrumsangebot unterliegen und sich daher die Empfänger eines eigenen Pools an Spendern bedienen können. Dies hat vorwiegend logistische Gründe. In einem sog. mini-match-Verfahren erfolgt die Zuteilung der avisierten Empfänger dann dennoch durch Eurotransplant. 61 Bei der Lebertransplantation wird der der Erfolg gesehen in einem Zusammenspiel von Vorsorge, Screening und Nachsorge. Das „Model for End-Stage-Liver-Disease“ (MELD) ist ein Marker für die 3-Monatsletalität basierend auf Leberfunktions- und Nierenwerte. Es hat sich gezeigt, dass dieser Algorithmus Patienten mit erheblichen Gerinnungsproblemen und Nierenfunktionsstörung bevorzugt. Durch sog. „standard exceptions“, also definierte Ausnahmesituationen, konnte die Allokationspriorität präzisiert werden. 62 92 5 Priorisierung <?page no="93"?> 63 Niehaus H; Haverich A.; Ius F.: Aktueller Stand der Transplantationsmedizin im Bereich Herz- und Lungentransplantation. In: Zeitschrift für Herz-, Thorax- und Gefäßchirurgie 2022 (36): S.-83-94 (https: / / doi.org/ 10.1007/ s00398-022-00493-y) In beiden zitierten Allokationssystemen wird auf die Prognose des Überlebens abgestellt. Dies ist auch so gesetzlich im Transfusionsgesetz konkretisiert. In §12 Abs. 3 S. 1 steht: „Die vermittlungspflichtigen Organe sind von der Vermittlungsstelle nach Regeln, die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entsprechen, insbesondere nach Erfolgs‐ aussicht und Dringlichkeit für geeignete Patienten zu vermitteln.“ Die in Deutschland gültigen Richtlinien für die Organvermittlung werden von der Bundesärztekammer (BÄK) festgelegt und regelmäßig aktualisiert. 63 Hierbei ist anzumerken, dass mit steigender Dringlichkeit die Erfolgs‐ aussichten abnehmen. Gemeinhin erfolgt die Gruppierung der Erfolgsaus‐ sicht unter Berücksichtigung von Dringlichkeit und Wartezeit. Der ideale Zeitpunkt für eine erfolgreiche Transplantation liegt dabei regelhaft vor dem derzeitigen durchschnittlichen Zeitpunkt. Es besteht die Gefahr der systematischen Benachteiligung alter, behinderter und chronisch kranker Menschen. Wissen | Priorisierung Priorisierungsentscheidungen sollten allgemeinen, nachvollziehbaren und bestimmten Regeln zugrunde liegen. Die angewendeten Verfahren sollten fest etabliert sein. Die verwendeten Algorithmen sind eindeutig definiert und das zugrundeliegende Wissen ist wirklich von Menschen verstanden. Andere und weitere Verteilungswerturteile sind nicht zu‐ gelassen. Sollten sich im Prozess eine Änderung der Priorität ergeben, so müssen die dafür zugrunde liegenden Normen klar festgelegt werden. Es ergibt sich aber auch die Frage danach, wer eigentlich die Gewichtungen und das dazugehörige Regelwerk festlegt und mehr noch, stellt sich die Frage, wie bei einem konkreten Fall der Beurteilung mit Konfliktsituationen umgegangen werden soll. Algorithmen und standardisierte Prozeduren vernachlässigen Intuition und Erfahrung. Hinzu tritt die Beobachtung, dass Sozialgemeinschaften, die Situation ganz unterschiedlich interpretieren. Mit der Staatenvielfalt zeigt sich auch eine Vielfalt in der Reaktion in den jeweiligen Ländern. Ein übergeordneter Konsens findet sich nicht. 5.4 Transplantation 93 <?page no="94"?> 64 Wilke, F: Künstliche Intelligenz diskriminiert (noch): In: Zeit-Online vom 18.10.2018 (https: / / www.zeit.de/ arbeit/ 2018-10/ bewerbungsroboter-kuenstliche-intelligenz-amaz on-frauen-diskriminierung) 65 Positionspapier der gemeinsamen Arbeitsgruppe aus Mitgliedern der Ständigen Impf‐ kommission, des Deutschen Ethikrates und der Nationalen Akademie der Wissenschaf‐ ten Leopoldina: Wie soll der Zugang zu einem COVID-19-Impgstoff geregelt werden? vom 09.11.2020 (https: / / www.leopoldina.org/ uploads/ tx_leopublication/ 2020_Position spapier_COVID-19-Impfstoff_final.pdf) Trotz aller Algorithmen und Künstlicher Intelligenz mit Methoden des Deep Learning kann sich ein Bias, also eine Verschiebung entwickeln, die zu einer Interpretation führt, die nicht unbedingt gewollt ist. Das Beispiel Amazon aus den USA spielt sich zwar auf einer ganz anderen Ebene ab, spiegelt aber das Problem wider: Im Recruiting-Prozess für Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen fanden Algorithmen und Künstliche Intelligenz Anwen‐ dung. Dieses Verfahren sollte die Personaler bei einer Flut an Bewerbun‐ gen entlasten. Bei der zwanzigsten Bewerbung wird auch ein Personaler unkonzentriert und so könnten geeignete Bewerber nicht berücksichtigt werden. Ausgangsmaterial und Grundlage für die Lernvorgänge waren erfolgreiche Bewerbungen. Das System sollte die Muster erkennen, die mit einer erfolgreichen Bewerbung verbunden waren. Diese Musterkennung gelang auch ganz gut. Es zeigte sich jedoch, dass Bewerbungen von Frauen schlechter bewertet wurden. Hochrangige Positionen waren traditionell eher an Männer vergeben worden; so hatte es das System gelernt. Auch wurde die Ausbildung auf zwei Universitäten insgesamt schlechter bewertet. Dies zeigt sich jedoch traditionell eher bei den weiblichen Kandidatinnen. Es war auch zu beobachten, dass harte Skills besser bewertet wurden, obgleich dies in bestimmten Bereichen eines Unternehmens überhaupt nicht erwünscht ist. Formen der Festlegung haben ein Konfliktpotenzial. 64 5.5 Impfung Impfkampagnen bei begrenzt zur Verfügung stehenden Impfseren unter‐ liegen einer ethisch-moralisch zu legitimierender Strategie. Diesbezüglich wurde im Rahmen der SARS-CoV-2-Infektion ein Positionspapier der ge‐ meinsamen Arbeitsgruppe aus Mitgliedern der ständigen Impfkommission, des Deutschen Ethikrates und der nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina erstellt. 65 94 5 Priorisierung <?page no="95"?> Wissen | Ethische Stellungnahme zur Priorisierung Die Priorisierung muss medizinischen, ethischen und rechtlichen Prinzi‐ pien folgen. Diese sind der Bevölkerung verständlich darzulegen, damit die Priorisierung als gerechtfertigt wahrgenommen werden kann. Die Verteilung der Impfstoffe ist so zu organisieren, dass die Erreichung der Impfziele sichergestellt ist. Hierzu bedarf es geeigneter neuer Struktu‐ ren. Die selbstbestimmte Impfentscheidung erfordert eine kontinuier‐ liche, transparente Information und Aufklärung der Bevölkerung zur Wirksamkeit der Impfung und den möglichen Risiken. Um Impfrisiken frühzeitig zu erkennen und zu minimieren, muss ein System zur zeit‐ nahen Erfassung und Bewertung von unerwünschten Ereignissen in zeitlichem Zusammenhang mit der Impfung etabliert werden. Die dazugehörigen Impfziele sind beschrieben, mit der Verhinderung schwe‐ rer COVID-19-Verläufe (Hospitalisation) und Todesfälle, dem Schutz von Personen mit besonders hohem arbeitsbedingten SARS-CoV-2-Expositions‐ risiko (berufliche Indikation), der Verhinderung von Transmission sowie Schutz in Umgebungen mit hohem Anteil vulnerabler Personen und in sol‐ chen mit hohem Ausbruchspotenzial und der Aufrechterhaltung staatlicher Funktionen und des öffentlichen Lebens. Die Empfehlung weist in ihrer Einleitung ausdrücklich darauf hin, dass den Aspekten Selbstbestimmung, Gerechtigkeit, Wohltätigkeit, Nichtschä‐ digung, Integritätsschutz, Rechtsgleichheit, Dringlichkeit, Notwendigkeit, Solidarität, Sicherheit und Transparenz zu begegnen ist. Es ergeben sich drei, in der zeitlichen Rangfolge nacheinander zu berücksichtigenden Gruppen. Die Gruppeneinteilung orientierte sich an dem Risiko zu erkranken und daran zu sterben, dem Risiko der Exposition und an Personen, die zur gesellschaftlichen Daseinsfürsorge erforderlich sind. Hieraus ergeben sich unterschiedliche ethische Konflikte. Die Zuteilung eines Beatmungsplatzes oder auch die der Impfung nach dem Kriterium der besten Überlebenschance führt zur Minimierung der Todesfälle. Es benachteiligt jedoch insbesondere alte und chronisch erkrankte Menschen. Werden erst die jüngeren Menschen behandelt, so haben diese prinzipiell mehr Lebensjahre vor sich, die durch ihre Genesung gesichert werden könnten. Es werden damit älteren Menschen weniger Wert zugesprochen. Werden andererseits die Kränksten zuerst behandelt, so vermindert diese 5.5 Impfung 95 <?page no="96"?> die Heilungsrate insgesamt, da dieses Merkmal mit einer geringeren Wahr‐ scheinlichkeit auf Genesung einhergeht. Eine reine Warteliste nach Anmel‐ dung führt nicht zur maximalen Heilung, da auch Personen mit geringen Überlebenschancen behandelt werden. Es benachteiligt auch diejenige Men‐ schen, die am Anmeldeverfahren nicht teilnehmen oder auch nicht teilneh‐ men können. Erfolgt eine Stratifizierung nach den potentiellen verlorenen Lebensjahren, bevorzugt dies Personen mit potentiell längerer Lebenszeit, insbesondere unter dem Aspekt, mehr für die Gesellschaft leisten zu können. Komorbiditäten werden nicht adressiert und benachteiligt diese, neben dem Alter. Andere Priorisierungsoptionen orientieren sich an Teilhabe an sys‐ temrelevanten Tätigkeiten, ehemals freiwillige oder auch aktuelle Beiträge an die Gesellschaft oder eigenes risikoreiches Verhalten. Auch bei einem reinen Losverfahren, was als eine gerechte Form betrachtet werden kann, kommt es zur Benachteiligung, da gezielte Maßnahmen zur Reduktion von Todesopfern nicht umgesetzt werden können oder der Schutz medizinischen Personals nicht einkalkuliert wird. Ausgehend von der Impfung im Rahmen der COVID-19-Pandemie ist zu erkennen, dass ein Verteilungsproblem entsteht, wenn nicht genügend Impfstoffe zur Verfügung stehen, bzw. sich Verteilungsschwierigkeiten ergeben. Es bedarf der staatlichen Regulation. Dabei darf der Staat nicht so verstanden werden, als dass er den Individuen Rechte gewährt, von diesen aber nichts abverlangen darf. Staatliches Handeln dient in solchen Fragen dem Schutz der Schwachen der Gesellschaft. Dies beinhaltet, dass sich die Bürgerinnen und Bürger an die damit verbundenen Regeln halten. Der Staat kann abverlangen, dass Individuen sich an diese Regeln zu halten haben. Es gilt, wie in der Sozialisation in der Familie, ein Zusammenspiel von Rechten und Pflichten was auch für das Staatsbürgertum gilt. Wie im gesamten Staatsgefüge hat sich im Gesundheitswesen jedoch auch eine Kultur der Konsumentenhaltung entwickelt. Patienten gehen teils mit dem Gesundheitssystem einen Vertrag auf Leistung ein und Anbieter von Gesundheitsleistungen bedienen dieser Haltung. Einerseits wird ein Vier-Sterne-Ambiente im Hinblick auf Komfort und medizinischer Qualität eingefordert und andererseits sind die Kostenträger gerade mal dazu bereit, die Kosten für eine Jugendherberge zu begleichen. Unternehmerseitig ist dies nur durch Leistungsverdichtung und Reduktion von Personalkosten zu erzielen. Selbst rehabilitative Einrichtungen reduzieren den Pflegeanteil in der Nacht auf ein oder zwei Pflegepersonen für die gesamte Klinik und bedienen sich somit der eher gesunden Rehabilitanden. Eine solche erlösori‐ 96 5 Priorisierung <?page no="97"?> entierte Vorgehensweise geht aber zu Lasten der kostenaufwändigen Grund- und Notfallversorgung, verschlechtert die Art und Dauer der medizinischen Versorgung und benachteiligt alte und chronisch erkrankte Menschen. Auf dieser Basis kann man langfristig keinen Staat machen. Der Staat ist darauf angewiesen, dass die Menschen ein Verantwortungsgefühl für sich und auch für die Gemeinschaft haben. Solidaritätsgemeinschaft orientiert an Tugenden und Pflichten. Der freiheitlich demokratische Staat ist an Einsich‐ ten und Fürsorge gebunden, die Grundlage der Sozialisation darstellen. Es braucht die „soft skills“ von Moral und Ethik, es braucht Menschen, die gütig sind und am Gemeinwohl orientiert sind, damit das Gesundheitssystem funktioniert. Die COVID-19-Pandemie hat wie ein Brennglas auf diese Probleme hingewiesen. Take-Home-Message | Förderung von Gemeinwohl, Empathie und Rücksicht auf die Schwächeren stehen einer ökonomischen Konditionie‐ rung mit Optimierung des Gewinns gegenüber. Es entwickelt sich eine Kultur, in der der Egoismus gefördert und Altruismus geschwächt wird. Eine solche Haltung setzt sich irgendwann fest und diese Gleichung geht nicht auf. Das Gesundheitssystem erfüllt eine solidarische Fürsor‐ gepflicht, bei der alle Akteure eine Eigenverantwortung tragen, Pflichte und Rechte haben und sich nicht gegenseitig auszuspielen haben. 5.5 Impfung 97 <?page no="99"?> 6 Triage Fallbeispiel (Szenario Militäreinsatz) | Militärgebiet in hügeliger Landschaft. Gut getarnt wird über Funk die Organisationszentrale informiert. Ein Trupp wurde angegriffen. Es gibt Verwundete. Von nun an muss alles schnell gehen. Sofort wird Alarm ausgelöst. Men‐ schenleben sind in Gefahr. Rettung einer versprengten Einheit im Kriegsgebiet. Eine Ausnahmesituation. Aber eine, die täglich in den aktuellen Einsatzgebieten vorkommen kann. Ziel der Aktion ist es, die versprengten Soldaten und Soldatinnen zu identifizieren, sie zu finden und letztendlich wieder zur Basis zu bringen. Gemeinsam wird in der Zentrale der Einsatz von Aufklärungs- und Kampfflugzeugen, Helikoptern und Bodentruppen geplant. Ein Ope‐ rationsplan wird erstellt. Etwa vier Stunden werden die Vorbereitun‐ gen dauern. Stunden, in denen die Verbliebenen auf sich allein gestellt sind. Blinder Aktionismus hilft nicht, nur ein kontrolliertes Handeln. Aktivismus ist angesagt. Nur wer gut vorbereitet ist, wird später Erfolg haben. Als erstes startet eine AWACS-Maschine, sie wird den Luftraum kontrollieren und die Verbindung zu den Versprengten aufrechterhalten. Kampfflugzeuge starten. Sie sichern den Luftraum ab und leisten auf Anforderung Luftnahunterstützung. Dann ist das bodengebundene Rettungsteam an der Reihe. Sie starten als Letztes. Mit zwei Hubschraubern geht es in das 120 Kilometer entfernte Ein‐ satzgebiet. Über Funk werden die Soldaten an Bord über die Situation am Boden am Laufenden gehalten. Die Lage hat sich verschlechtert. Feindliche Kräfte wurden in der Nähe des Einsatzgebietes gesichtet. Die rettenden Soldaten werden auf dem Boden abgesetzt. Die Hub‐ schrauber verschwinden wieder, sie sind ein leichtes Ziel für den Feind. Schüsse fallen und die Soldaten verteilen sich im Gelände. Mit Feuer wird der Feind niedergehalten, eine Sicherung wird aufgebaut. Die eingeteilten Sanitäter haben die Verletzten gefunden. Es sind bereits zwölf Verletzte vom Kontrollzentrum identifiziert worden. Medizinische Maßnahmen werden eingeleitet. <?page no="100"?> 66 Wirtz S; Harding U: Terroranschläge weltweit und in Europa - Historie, Überblick, aktuelle Lage. In: Notfall Rettungsmedizin 2018 (21): S.-553-559 6.1 Taktische Lage Rettung Verletzter in taktischen Lagen stellen für die Helfer eine Herausfor‐ derung dar. Die Rahmenbedingen sind extrem und es ist nicht einfach. Die medizinische Erstversorgung von Schwerverletzten erfolgt unter ständiger Bedrohung, eine permanente Gefahr für Patienten und Helfer. Im militä‐ rischen Einsatz sind humanitäre Hilfe im Flüchtlingslager, medizinische Notfälle der Einheimischen und schwere Kampfhandlungen mit mehreren Verletzten nur wenige Straßenzüge voneinander entfernt. Trotz optimaler Planung wird das Ergebnis nicht wie im Heimatland sein. Dennoch wird alles unternommen, es so gut wie möglich zu machen. Friedenssituationen erlauben in der Rettung einen hohen Personaleinsatz bei nahezu unbegrenzten Ressourcen. Das sieht in Bedrohungslagen anders aus. Die Arbeit ist mit einer Bedrohung für Helfer und Patienten in Dreck, Chaos und Unübersichtlichkeit verbunden. Regelmäßig müssen mehrere Patienten von wenigen Helfern und begrenztem Material versorgt werden. Die Verletzungen sind häufig schwer, akut lebensbedrohlich und eher durch penetrierende Traumata, Explosionen und Verbrennungen gekennzeichnet. Extremmedizin in extremen Situationen. Der Terroranschlag auf dem Breit‐ scheidplatz in Berlin 2016 führte zu 12 Verstorbenen und 56 Verletzten. Knapp hundert Einsatzkräfte aus Polizei und Feuerwehr meldeten ein seelisches Trauma an. 66 Der Begriff der Taktischen Medizin basiert auf zivilen Versorgungskon‐ zepten und setzt dies konsequent für Arbeiten in Bedrohungslagen und für spezifische Verletzungsmuster um. Für Rettungskräfte gilt der Grundsatz der eigenen Sicherheit am Einsatzort und der Schutz der eingesetzten Kräfte. Im feindlichen Beschuss bedeutet dies, die Feuerüberlegenheit zu erzielen. Das kann im Extremfall dazu führen, dass der Schwerpunkt darin liegt, auf die Bedrohung zu reagieren und medizinische Maßnahmen zunächst ganz zu unterlassen. In solchen Situationen ist eine Erstversorgung lediglich durch ein Abbinden großer Verletzungen möglich. Es kostet nicht viel Zeit und ist effektiv. Vorrangiges Ziel ist es, die Gefährdung zu beenden oder durch Evakuierung in einen weniger gefährdeten Bereich auszuweichen. Erst im nachgelagerten Bereich der ersten Deckung kann eine medizinische Versorgung erfolgen. In dieser Gefahrensituation gelten die Regeln, keine 100 6 Triage <?page no="101"?> 67 Neitzel, C.; Versorgung von Notfallpatienten in Bedrohungslagen: In: Notfall Rettungs‐ med 2018 (21): S560-567 Zeit zu verschwenden, sich auf das Notwendigste zu begrenzen und es nicht noch schlimmer zu machen. Weder gilt es, sich selbst noch den Patienten zu gefährden. Jede Maßnahme ist lageabhängig. Immer muss die Lage kontrolliert werden. Wissen | Kriegserfahrungen Im Zweiten Weltkrieg und auch im Vietnamkrieg sind etwa 20 % der Soldaten gefallen. Die Zahl ging in den Folgekriegen durch verbes‐ serte Effizienz der Versorgung und fortschreitende Technisierung im Irakkrieg auf 13,5 % zurück. Hier bestand ein enges Netz an chirurgi‐ schen Behandlungseinrichtungen und Luftrettungsmitteln. Todesursa‐ chen sind in mehr als der Hälfte der Fälle auf Verletzungen von Kopf und Rumpf begründet. Sie hätten nicht gerettet werden können. Ein weiterer Teil hätte gerettet werden können, es war aber im verbliebenen Zeitfenster nicht zu realisieren. Tragisch ist es, wenn ein Verwunderter an einem Problem verstirbt, das leicht hätte behoben werden können. Das betrifft am häufigsten die Blutung aus verletzten Extremitäten. Durch eine schnelle Maßnahme, der Anlage eins Tourniquets, also dem Abbinden einer blutenden Extremität ist diese Gefahr zu mindern. Die zweithäufigste Ursache ist die Entwicklung eines Spannungspneumo‐ thorax. Durch die Verletzung der Lunge kommt es zur Ansammlung von Luft zwischen Lunge und Brustwand. Mit steigendem Volumen an Luft kommt es zur Verdrängung des Herzens und zum Tod des Patienten. Lebensrettende Maßnahme ist die Entlastungspunktion oder die chirurgische Anlage einer Thoraxdrainage. Dabei wird über einen Stichkanal ein Schlauch eingeführt, der die Luft aus dem Brustraum entwichen lässt. Diese Maßnahme braucht Zeit und ein gewisses Maß an Ruhe. In Gefahrenlagen gibt es Verwundete, die sterben werden, egal was für sie getan wird und andere überleben, egal ob ihnen geholfen wird. Es gilt jene zu adressieren, die ohne Hilfe sterben würden. 67 Bei einem Massenanfall von Verwundeten besteht eine erhebliche Diffe‐ renz zwischen Patientenaufkommen, Schweregrad der Verwundungen und 6.1 Taktische Lage 101 <?page no="102"?> Helfern. Eine individualmedizinische Betreuung ist nicht mehr realisierbar. Es gilt, das bestmögliche für die größte Anzahl zu erzielen. Hier ist es ethisch schwer vertretbar, einem besonders Bedürftigen die Hilfe zu verwehren. Andererseits würde der damit verbundene erhöhte Aufwand dazu führen, dass mehrere andere Patienten nicht behandelt werden können. Oberstes Ziel muss es sein, die Gefahrenlage zu beherrschen, um schnellstmöglich wieder individualmedizinische Versorgung herzustellen. 6.2 Triage Das geeignete Mittel, um die Entscheidungen über die optimale Verteilung der begrenzten Ressourcen auf möglichst objektiver Basis zu treffen, ist die Sichtung oder die Triage. Je nach Schadensereignis ist der erste ent‐ scheidende Schritt, die Feststellung einer Überforderung des bestehenden helfenden Systems. Es gilt, hierauf vorbereitet zu sein und entsprechende Szenarien zu entwickeln und regelmäßig zu üben. Dabei ist der Aufbau einer effektiven Führungsstruktur entscheidend für die bestmögliche Be‐ wältigung. Die beste Planung und die beste Raumordnung scheitern an einer misslungenen Kommunikation. Wissen | Triage I Die Sichtung bzw. die Triage ist definiert als die ärztliche Beurteilung und Entscheidung über die Priorität der Versorgung von Patienten hinsichtlich Art und Umfang der Behandlung sowie über Zeitpunkt, Art und Ziel des Transportes. Es geht nicht um die Entscheidung, ob jemand behandelt oder transportiert wird. Triage setzt die Reihenfolge fest. Sie muss immer wieder reevaluiert und auf die Veränderungen von Patienten oder Situation angepasst werden. Im Extremfall kann in einer solchen Situation auf dem Operationstisch entschieden werden, einen Eingriff abzubrechen. Bei Triage geht es um die optimale Nutzung des vorhandenen Personals, des Materials und der vorhandenen Kapazitäten. Dies erfordert eine genaue Präzisierung. Eine Untertriage führt zu einer Verschlechterung des Einzel‐ nen und möglicherweise auch der Gesamtheit. Eine Übertriage führt zu 102 6 Triage <?page no="103"?> 68 Neitzel, C.; Ladehof K.; Taktische Medizin. In Springer-Verlag Berlin 2015: DOI 10.1007/ 978-3-642-39689-2: S.-233-235 einer Verschlechterung der Gesamtversorgung, da Ressourcen verwendet werden, die an anderer Stelle dringender benötigt werden. Bei einem sicher, nicht rettbarem Kind und der vergleichenden Sichtung des schwerverletzten Täters gegenüber dem mäßig verletzten Polizisten entstehen bereits emo‐ tionale Konflikte. Im militärischen Kontext treten Fragen der potenziellen Kampffähigkeit in die Bewertung hinzu. Zur Differenzierung stehen unterschiedliche Kategorisierungsmuster zur Verfügung. Grundsätzlich ist von einer hohen oder niedrigen Priorität zu unterscheiden, wobei eine ständige Wiederholung der Sichtung unverzicht‐ bar ist. Es lassen sich die Patienten der hohen Priorität von Patienten niedriger Priorität unterscheiden. Problemstellung sind jene Patienten, die sich in der intermediären Gruppe befinden. In der Praxis hat sich die Kennzeichnung nach Ampelfarben nahezu einheitlich etabliert. Die Farbe „rot“ bedeutet dabei, das maximale Hilfe zur Rettung unmittelbarer Gefahr erforderlich ist. Ressourcen sind gezielt einzusetzen und ein zügiger Transport ist einzuleiten. „Grün“ bedeutet, dass die Verwundeten stabil sind. Sie brauchen nur wenig Unterstützung und können sich gegenseitig helfen. Die intermediäre Gruppe „gelb“ ist stärker gefährdet. Hier finden sich labile Gesundheitssituationen, die schwer einzuschätzen sind und je nach Entwicklung der Verletzungsfolgen in eine höhere oder niedrigere Gefährdung geraten können. Sie benötigen medizinische Hilfe. Die Katego‐ rie der „Expectant“, also der Hilfeerwartenden, jedoch nicht-bekommenden, wird teilweise auch in Katastrophen nicht offiziell abgebildet und kann dann abweichend mit den Farben grau, schwarz oder weiß gekennzeichnet werden Es sind jene die keine Überlebenschancen haben. Andere werden mit blau abgebildet, sie können sich selbst helfen. Im militärischen Kontext sind auch jene zu bedenken, die eine unter‐ schiedliche Transportpriorität aufweisen. Verwundete müssen einen Ope‐ rationssaal innerhalb von 90 Minuten unmittelbar erreichen oder die Be‐ handlungseinrichtung wäre innerhalb von 4 Stunden erreichbar. Patienten, die innerhalb von 24 Stunden eine entsprechende Versorgung in einem Zentrum benötigen, werden der Routineversorgung zugeführt. Diese Ein‐ teilung berücksichtigt den Bedarf an benötigten Transportmitteln, was in einer militärischen Situation besonders zu adressieren gilt. 68 6.2 Triage 103 <?page no="104"?> Wissen | Triage II Eine Triage muss schnell, dynamisch, möglichst objektiv und damit reproduzierbar sein. Erst dann erfüllt sie ihren Effekt. Zudem sollten Triage-Systeme leicht verständlich und einem erinnerbaren Schema folgen. Mit der Sichtung soll eine zielgerichtete Zusammenarbeit bei möglichst geringem Abstimmungsbedarf erzielt werden. Es gilt, dabei die Grünen früh in Sicherheit zu bringen, die Roten zu finden und die Gelben nicht zu vergessen. Es ist schwierig solche Algorithmen aufzustellen. Als Reaktion auf einen Reizgasanschlag in München im November 2011 zeigte sich, dass Inhalationstraumata sich in den eta‐ blierten Systemen nicht ausreichend abbildeten. Andererseits kann es sinnvoll sein, die Erstversorgung eines Schwerstverletzten erst hintan‐ zustellen, um ihn erst aus dem einsturzgefährdeten Gebäude zu retten, damit die medizinische Hilfe nicht in Gefahr gerät. Medizinethische Ansprüche auf Wohltun gegenüber dem Patienten, des Nichtschadens, dem Respekt der Autonomie und dem Prinzip der Gerech‐ tigkeit werden in diesem Kontext auf eine Probe gestellt. Diese ethischen Ansprüche an das medizinische Handeln gilt in der Notfallambulanz, auf der Intensivstation, in der Neonatologie und der Geriatrie oder auch der Psychiatrie. Die Umstände mögen sich unterscheiden, jedoch die medizini‐ sche Ethik nicht. Man kann dazu neigen, Militärmedizin bzw. die Medizin in sicherheitsrelevanten Bereichen hier einzupflegen und die Betroffenen als eine weitere Patientengruppe zu betrachten, die nach diesen ethischen Aspekten zu adressieren sind. In Friedenszeiten ist dies auch der Fall. Militärangehörige und ihre Familien erfahren in den unterschiedlichen Län‐ dern die gleiche medizinische Versorgung wie die Zivilisten entsprechend den jeweiligen Gesundheitssystemen. Ganz anders stellt sich jedoch die Situation in Kriegszeiten und insbesondere unter Feuerbeschuss dar. Hier kann das Prinzip der militärischen Notwendigkeit mit dem Prinzip der medizinischen Notwendigkeit kollidieren. Wissen | Taktische Medizin Militärische Notwendigkeiten sind dahingehend ausgerichtet, Metho‐ den und Mittel zu verwenden, um den Feind zu überwältigen, ohne 104 6 Triage <?page no="105"?> gegen das Völkerrecht zu verstoßen. In dieser Definition nach der Genfer Konvention wird die Rechtmäßigkeit einer kriegerischen Aus‐ einandersetzung nicht zum Gegenstand einer militärischen Lage. Dies ist zunächst eine politische Frage und auch eine politische Entscheidung. Moralisch gibt es gute Gründe, die militärische Notwendigkeit auf Kriegsteilnehmer anzuwenden, die einer gerechten Sache dienen. Im Verteidigungsfall des eigenen Staates oder der Staatengemeinschaft, die sich in gemeinsamer Verantwortung sieht, erscheint dies einsichtig. Die Verteidigung fremder Staatsangehöriger, die schweren Menschen‐ rechtsverletzungen unterliegen und von ihrer eigenen Regierung be‐ droht sind, fügt sich in diese Betrachtung ein. Es verbleibt immer der Konflikt zwischen militärischer und medizinischer Notwendigkeit und es ergibt sich die Frage, ob es unter bestimmten Umständen zulässig ist, Soldaten nach ihrer Staatsangehörigkeit zu behandeln. 6.3 Genfer Konvention Die militärische Notwendigkeit stellt die kollektiven Interessen des Staates über die individuellen Interessen der meisten Staatenbürger. In der Rettung geht es um die Frage des Überlebens der Soldaten und der Staatenbürger, während im rein medizinischen Kontext das Leben aller Patienten adressiert ist. Nach individualmedizinischen Kriterien geht es um das gesundheitli‐ che Wohlbefinden, Wiedererlangung der Funktion und Verbesserung der Lebensqualität. In Friedenszeiten muss das nationale Gesundheitssystem ausreichende Mittel zur Verfügung stellen, damit alle Bürger entsprechend ihren medizinischen Bedürfnissen versorgt werden können. Dies fügt sich ein, in die weiteren gesellschaftlichen Themen von Bildung, Sicherheit und Ernährung. Im Krieg ist der Staat gezwungen, Soldaten für die Rettung von Zivilisten und für die Verteidigung der Nation zu opfern, während die medizinische Notwendigkeit hier keine Unterscheidung trifft. Im Krieg geht es um Sicherheit, Wahrung des Hoheitsgebietes, Freiheit und Ehre der Nation. 6.3 Genfer Konvention 105 <?page no="106"?> 69 Gross, M.L.; Kameraden zuerst? Militärische vor medizinischer Notwendigkeit In: Ethik und Militär (https: / / www.ethikundmilitaer.de/ ausgabe/ 2015-01/ article/ kameraden-zue rst-militaerische-vor-medizinischer-notwendigkeit) Wissen | Genfer Konvention I Die Genfer Konvention weist darauf hin, dass jede Kriegspartei verwun‐ dete Gegner so zu behandeln hat, wie sie die Verwundeten ihrer eigenen Armee behandeln würde. Es gibt aber auch die militärische Vorgabe, nach der die Versorgung von Landsleuten vorgeht. Der Grund liegt darin, die Kampffähigkeit wieder zu erlangen und das Leben der eigenen Landsleute zu bewahren. Im Gefechtsfeld bei knappen medizinischen Ressourcen erscheint es sinnvoll, dies zuerst den Soldaten zur Verfügung zu stellen, damit sie schnell wieder an die Front können. Häufig zitiert ist die „Penicillin-Triage“ im Zweiten Weltkrieg. Die Kran‐ kenhausbetten waren überfüllt von verwundeten Männern. Viele waren in Schlachten schwer verletzt worden, ihre Wunden und offenen Knochenbrü‐ che hatten sich infiziert. Viele Soldaten hatten sich aber auch in Bordellen infiziert und litten an der Gonorrhoe, einer Geschlechtskrankheit. Bei allem was gerecht ist, würde das knappe Penicillin an die Helden gehen, die ihr Leben riskiert haben. Sie haben es aber nicht getan. Es wurde denen gegeben, die sich in den Bordellen infiziert haben und dies hatte wichtige Gründe: an der Front fehlte es an kampffähigen Soldaten. Die in den Lazaretten lie‐ genden, verwundeten Soldaten brauchten eine lange Zeit der Rehabilitation und es war fraglich, ob sie überhaupt wieder an die Front gehen konnten. Das sah bei den an Tripper erkrankten Soldaten anders aus. Sie konnten unmittelbar an die Front zurückkehren. Auf diese Weise wurde 1943 das Penicillin zu 85 % an die US-amerikanischen Truppen verteilt und zu 15 % an die amerikanische Zivilbevölkerung. Die deutschen Kriegsgefangenen erhielten keine Zuteilung. Die militärische Notwendigkeit verlangt, weniger schwer erkrankte Soldaten früher zu behandeln, da sie einen aktiven Beitrag zum Kriegsgeschehen leisten können. 69 Für die im Irak und Afghanistan bestehenden Auseinandersetzungen existierte auf US-amerikanischer Armeeseite ein Versorgungssystem auf mehreren Ebenen. Der Sanitätsstelle des Bataillons ist eine mobile Operati‐ onseinheit mit drei Chirurgen nachgegliedert, dem dann ein größeres Feld‐ lazarett mit Möglichkeiten der Reanimation, der rekonstruktiven Chirurgie 106 6 Triage <?page no="107"?> 70 Gross, M.L.; Kameraden zuerst? Militärische vor medizinischer Notwendigkeit In: Ethik und Militär (http: / / www.ethikundmilitaer.de/ de/ themenueberblick/ 20151-medizinethi k/ gross-kameraden-zuerst-militaerische-vor-medizinischer-notwendigkeit/ ) und der Intensivmedizin zur Verfügung stehen. Auch die psychiatrische Behandlung ist in dieser frühen Phase etabliert. Falls erforderlich, erhalten die Verwundeten eine hochmoderne Behandlung in Deutschland im Traum‐ azentrum in Landstuhl oder direkt im Walter Reed Hospital in den USA. Die Streitkräfte kümmern sich auch um einheimische Soldaten und Zivilisten, die bei amerikanischen Maßnahmen verletzt werden. Im Folgenden werden diese aber wieder der einheimischen Versorgung zugeführt, meist in ein schlecht funktionierendes Gesundheitssystem. In diesem Kontext erfahren schwere Defektverletzungen an den Extremitäten bei den Armee-Angehöri‐ gen einen besseren Zugang prothetischer Versorgung. Streitkräfte unterhal‐ ten prinzipiell keine Versorgungseinrichtungen für Zivilisten am Einsatzort und sehen sich auch gezwungen, Patienten abzuweisen. Dennoch werden ins Kreuzfeuer geratene Zivilisten insoweit versorgt, als dass „Leben, Leib und Augenlicht“ gerettet werden. 70 Wissen | Genfer Konvention II Die Genfer Konvention fordert ein, dass die Besatzungsmacht die Pflicht hat, die Ernährung und die medizinische Versorgung der Bevölkerung sicher zu stellen, insbesondere sind die eigenen Ressourcen bereitzu‐ stellen, wenn diese im Besatzungsgebiet nicht oder im nicht ausrei‐ chenden Maße bereitstehen. Insbesondere der komplette medizinische Handlungsbedarf ist gemeinsam mit den nationalen Behörden und Einrichtungen zu gewährleisten. Dies betrifft auch die Bekämpfung der Ausbreitung ansteckender Krankheiten und Epidemien. Umfassende rehabilitative Maßnahmen oder psychiatrische Versorgung gehen in diesem Kontext nicht mit ein. Jeder Kriegführende muss auch die Gefangenen wie die Verwundeten seiner eigenen Armee behandeln. Bei knappen Ressourcen ergeben sich Aspekte einer möglichen Diskrimi‐ nierung. Die Frage der Versorgung von Kindern oder Verbündeten, von Angehörigen der eigenen Nation oder von Häftlingen kann zu unterschied‐ lichen Handlungsweisen führen und bergen ein ethisches Konfliktpotenzial. Es ergibt sich, dass es nicht immer möglich ist, die Verletzten nach streng 6.3 Genfer Konvention 107 <?page no="108"?> medizinischen Kriterien zu behandeln. Während Autoren die Pflicht zur Wahrung der Neutralität einfordern, stellen andere dies in Frage. Bei knappen Ressourcen kann sich die Pflicht ergeben, die eigenen Soldaten zu behandeln, damit sie wieder am Kriegsgeschehen teilnehmen können. Das medizinische Personal andererseits verspürt eine besondere Verpflichtung den eigenen Landsleuten gegenüber, die als Ethik der Kameradschaft, als Fürsorgeethik verstanden werden kann. Fallbeispiel (Thoraxdrainage) | Ein US-Soldat und ein verbündeter Soldat der irakischen Armee erleiden beide eine Schussverletzung in der Brust. Beide weisen eine geringe Sauerstoffsättigung des Blutes auf. Das Lidocain für die Lokalanästhesie reicht nur für einen Pati‐ enten und es gibt nur einen Katheter zum Einführen in die Brust. Üblicherweise erhält einer der Patienten einen Thoraxkatether mit lokaler Betäubung, der andere eine Nadeldekompression des Thorax in Verbindung mit einer Betreuung durch einen Sanitäter. Welcher Patient erhält den Thoraxkatheter und die lokale Betäubung und warum? In dieser Frage neigen amerikanische Workshop-Teilnehmer, ihrem ameri‐ kanischen Kollegen zu helfen, weil er der „Bruder“ ist. Er gehört als Kamerad zu ihnen und braucht den Schutz der Truppe. In einer Befragung aus Israel erklärten Mediziner, dass sie einem mäßig oder leicht verwundeten Kamera‐ den eher helfen würden als einen schwer verwundeten feindlichen Soldaten oder Zivilisten. Medizinische Bedürfnisse sind nicht immer Entscheidungs‐ grundlage für die Zuweisung medizinischer Ressourcen. Dieser aus einem Solidaritätsgefühl entstandene Wille die Fürsorge eher der eigenen Gruppe zukommen zu lassen, geht aus einer emotionalen Bindung hervor. Sie orientiert sich und lebt durch Loyalität und Leidenschaft, als auch auf die Einzigartigkeit geliebter Menschen, was persönliche Sorge einfordert. Es wird als eine stärkere Pflicht wahrgenommen, die eigenen Leute bestmög‐ lich zu versorgen. Sie sind in den Krieg gezogen, um zu gewinnen. Damit das gelingt, bedarf es einer gesunden Truppe. Deshalb ist es nur korrekt, bei knappen Ressourcen, diese auf die eigenen Landsleute zu verteilen. Medizinische Fachkräfte kümmern sich um diejenigen, die am schnellsten an die Front können. Dementsprechend versterben Patienten, denen eigentlich 108 6 Triage <?page no="109"?> hätte geholfen werden können. Die Logik dahinter erscheint utilitaristisch und taktisch korrekt. Die Niederlage ist das schlimmst vorstellbare Ereignis. Dies gilt es, zu verhindern. Bei den beiden im Beispiel genannten Soldaten handelt es sich um Ver‐ bündete. Der militärisch-taktische Nutzen wäre gleich. Dennoch sprechen sich die medizinischen Fachkräfte eindeutig für den eigenen Landsmann aus. Dies begründet sich in der inneren Bindung, in Vertrauen, Loyalität, in den gemeinsamen Zielen, in der gegenseitigen Hilfe und Aufopferung. Kleine Einheiten stellen nicht nur gut konditionierte Individuen dar. Sie sind Kampfgefährten. Die bevorzugte Behandlung von Kameraden unterstützt moralischen Halt und die Kampfkraft der gesamten Einheit. Mitgliedern der Familie und Freunden besonders fühlt man sich besonders verpflichtet. Von Eltern wird nicht erwartet, dass sie anderen an Not leidenden Menschen helfen, bevor sie ihre eigenen Kinder sicher versorgt haben. Es ist die innere Verpflichtung zwischen Menschen, die in einer besonderen Beziehung zueinanderstehen. Diese emotionale Bindung geht über die vertragliche Vereinbarung hinaus. Es erscheint absurd, bei der Rettung eines geliebten und nahestehenden Menschen gleichzeitig an die Rettung von Fremden zu denken. Wenn Militäreinheiten wie Familienmitglieder erlebt werden, impliziert dies die bedingungslose einseitige Pflicht einander zu helfen. Die Neigung ist groß, bei gleich großen Verletzungen dem eigenen Kameraden mehr Zuwendung zuteilwerden zu lassen. Bei ungleichen Verlet‐ zungen wird eher der eigene Kamerad zuerst stabilisiert, bevor man sich dem schwerverletzten Soldaten zuwendet. Zwei Leben zu retten ist wichtiger, als ein Leben zu retten. Leben zu retten ist wichtiger als Gliedmaßen zu retten. Dennoch kann sich eine andere Entscheidung entwickeln. Der Preis, seinen Kameraden zu verlieren oder ihn zu schädigen wird als zu hoch empfunden. Das eigene Kind zu verlieren, nachdem man sich um Fremde zuerst gekümmert hat, verzeiht sich nicht. Soldaten und Landsleute gliedern sich in dieser Empfindung ein wie Eltern und Kinder. In der konkreten Ausgestaltung zeigt sich aber auch hier keine scharfe Trennung. Die Situationen sind gekennzeichnet durch eine erhebliche emotionale Dynamik. Zwar besteht womöglich die prinzipielle Neigung den eigenen Landsleuten zuerst zu helfen. Eine begonnene Behandlung, eine begonnene Operation eines gegnerischen Soldaten wird nicht unbedingt zu‐ gunsten neu eingetroffener Landsleute abgebrochen. In diesem prozessualen Verlauf hat sich eine tiefe innere Bindung der Beteiligten aufgebaut, die sich in dieser Situation gegenüber anderen auch wieder abgrenzt. Dies bringt 6.3 Genfer Konvention 109 <?page no="110"?> neue, deutlich wahrgenommen Fürsorgepflichten mit sich, die sich in einem akuten medizinischen Behandlungskomplex entwickeln. Take-Home-Message | Im militärischen Bereich als auch in der taktischen Medizin besteht eine Konfliktsituation hinsichtlich militäri‐ scher Notwendigkeiten und besonderem Fürsorgeempfinden, was zu Ungleichheit von Behandlung führen kann. Triagierung versucht eine Hierarchie aufzubauen, vermag Dilemmata nicht vollständig zu lösen. Es gibt keine Handlungsoption, die ohne Zweifel bleibt. 110 6 Triage <?page no="111"?> 7 Notfallmedizin Katastrophenschutzübung im Frühjahr. Ein Busunfall auf der Landstraße. Die Retter müssen sich zuerst einen Überblick verschaffen und dann die Patienten sichten. Wer ist nur leicht verletzt? Wer braucht dringend Hilfe und vor allem … bei wem geht es um Leben und Tod? Das ist ein Massenan‐ fall von Verletzten. Rettungsdienste vor Ort sichten die Situation. Weitere Rettungswagen und Notärzte sind auf dem Weg. Ein Rettungshubschrauber wird angefordert. Plätze in den umliegenden Krankenhäusern sind zu organisieren. Fallbeispiel (Einsatzleiter) | Unsere Einsatzkräfte waren sehr be‐ troffen, weil die Mutter verstorben ist. Die Kinder sind jetzt alle Vollwaisen. Die Mutter war mit ihren 5 Kindern ungebremst in ein Stauende gefahren. Es kam zu einer Massenkarambolage mit drei weiteren Fahrzeugen, die teils in Flammen aufgingen. Die Mutter von vier Kindern starb noch an der Unfallstelle, ihr elfjähriger Sohn wenig später im Krankenhaus. Die anderen Kinder konnten von Unfallbeteiligten gerettet werden und wurden an eine nahegelegene Bushaltestelle gebracht. Davon hat von den Helfern keiner etwas gewusst. Sie wurden erst später entdeckt. 7.1 Massenanfall von Verletzten Szenenwechsel. Die Schleusentore der Feuerwehren und Rettungsdienste öffnen sich. Eine Baustelle am Südbahnhof. Ein Kran ist umgefallen und hat die Oberleitung der Bahn beschädigt. Dort sind zwei Verletzte. Der Kranwa‐ gen steht in Brand, ein Verletzter liegt auf dem Boden. Atemschutzmasken sind erforderlich. Zwei Feuerwehrleute sind von einer Explosion getroffen worden und liegen verletzt auf dem Boden. Der ankommende Zug muss durch die Schädigung der Hochspannungsleitung eine Notbremsung durch‐ führen. Der Zug ist mit 120 Personen besetzt. Viele sind hingefallen. Im Zug sind Fußballfans, die auf ein Spiel wollen und entsprechend angetrunken <?page no="112"?> sind. Die Problematik besteht darin, dass Sicherheitsvorschriften auf dem Bahngelände zu beachten sind. Die Gleise sind erst freizugeben, wenn der Strom geerdet ist. Erst dann können die Rettungskräfte zum Zug vordringen. Es sind behinderte Menschen dabei. Die Verletzten müssen den Schienen‐ wegen entlang geholfen bekommen. Der Polizeidienst muss einschreiten. Renitente Fußballfans sind zu beruhigen, einige sind abzuführen. Vor Ort wird ein Sanitätsplatz eingerichtet. Zumeist sind es nur Prellun‐ gen, die es zu behandeln gilt. Viele sind aufgeregt und benötigen psycholo‐ gische Unterstützung. Eine ältere Dame hat sich den Arm gebrochen. Andere haben Wunden am Oberschenkel oder am Unterarm. Die Krankenhäuser sind alarmiert und nehmen die Verletzten auf. Einer der beiden Arbeiter ist noch am Unfallort verstorben. Wissen | Massenanfall von Verletzten (MAV) Ein Massenanfall von Verletzten ist dadurch gekennzeichnet, dass es sich um mehrere, zeitgleich Verletzte handelt, bei denen der Bedarf größer ist als die aktuell zur Verfügung gestellten Ressourcen. In dieser Situation muss entschieden werden, wie die Verteilung zu erfolgen ist. Zwar können Mittel weiter eingefordert werden. Dennoch verbleibt die Situation, dass manche Bedürfnisse in keinster Form befriedigt werden können. Der häufigste Großschadensfall ist ein Verkehrsunfall. Es macht etwa zwei Drittel aller Großschadensereignisse aus. Im Mittel finden sich vier verletzte Personen. Es können aber auch mehr sein. Es ist ein lokales Event, bei dem die Ereignisse an einem Platz stattfinden. Mit weiteren Ereignissen, sog. second events oder auch second hits genannt, ist in nicht zu rechnen. Die umliegende Infrastruktur und auch die Kommunikationswege sind intakt. In aller Regel sind die Straßen- und Verkehrswege nutzbar. Bei der Amokfahrt in Trier am 1. Dezember 2020 war der Täter mit einem Sportgeländewagen durch die Fußgängerzone gerast. Bei der Tat wurden fünf Menschen getötet, darunter ein Säugling und 24 Menschen verletzt. Auf ganzen Straßenzügen fanden sich die Verletzten und Verstorbenen. Weitere rund 300 Menschen sind psychisch verletzt. Teilweise war der mutmaßliche Amokfahrer mit mehr als 80 Stundenkilometer durch die Fußgängerzone in 112 7 Notfallmedizin <?page no="113"?> 71 Juncken, K.; Heller, A.R.; Cowjdzinski, D.; Disch A.C.; Kleber, C.; Verteilung der Sichtungskategorien bei Terroranschlägen mit Massenanfall von Verletzten. In: Unfall‐ chirurg 2019 (122): S.-299-308 Trier gerast. Aus der gesamten Region waren die Rettungswagen im Einsatz, die versuchten, Menschenleben zu retten. Anfangs war nicht bekannt, ob es sich entweder um einen terroristischen Anschlag handeln würde oder um die Tat eines Einzelnen. Alle umliegenden Schulen wurden geschlossen, weil zu diesem Zeitpunkt noch nicht gesagt werden konnte, was noch passieren würde. Zwischen Alarmierung der Polizei bis zur Verhaftung des Täters vergingen lediglich vier Minuten. Beispiel (Terroristische Anschläge) | Nach den Anschlägen auf das World-Trade-Center 2002 in New York ist die Bevölkerung für Bedro‐ hungslagen durch Terroranschläge auch in Europa sensibilisiert. Neu war das Mittel, nämlich dass eines Verkehrsflugzeuges, was eingesetzt worden war. Bei dem Anschlag starben rund 3.000 Menschen und die Zahl der Verletzten wird auf etwa 6.000 geschätzt. Unter den Opfern waren viele professionelle Helfer. Von den etwa 10.000 Helfern starben über 400 Feuerwehrleute, Polizisten und Sanitäter. Weitere erlitten Verletzungen, Erkrankungen der Lunge und hatten erhebliche Au‐ genprobleme. Depression, posttraumatische Belastungsstörung und Panikstörungen kamen bei den Helfern hinzu. Sprengstoffanschläge in den folgenden Jahren in den Großstädten Madrid, 2004 und London, 2005 führten auf ein neues Szenario von Gewaltanschlä‐ gen. Hierbei wurden Bomben in zeitlicher Nähe an unterschiedlichen Orten der Stadt zur Detonation gebracht. Nach einem Anschlag kann die Lage für die Rettungskräfte nicht mehr als sicher gelten, da Folgeereignisse nicht auszuschließen sind. Die Schadensereignisse befinden sich nicht mehr an einem Ort, sie sind an verschiedenen Stellen nahezu gleichzeitig anzutreffen. Die Konzentration von Rettungsmitteln an einem Ort musste überdacht werden. Die Schaffung eines oder mehrere Behandlungsplätze erscheint nicht sinnvoll. Ein zügiger Transport in Krankenhäuser oder andere Versor‐ gungseinrichtungen erscheint angebracht. Dies konnte sich jedoch nicht durchsetzen, da sich eine Stabilisierung vor Ort mit dann durchzuführendem Transport als effektiv erweist und sich positiv auf das Überleben auswirkt. 71 7.1 Massenanfall von Verletzten 113 <?page no="114"?> 72 Bannenberg, B.; Bauer P.; Amoktaten - Phänomenologie und Hintergründe. In: Rechts‐ medizin 2017 (27): S.-154-161 Beispiel (Amoklauf) | Der Einsatz von Schusswaffen durch Einzel‐ täter stellt eine weitere Herausforderung dar. Am Gutenberg-Gymna‐ sium in Erfurt tötete ein Schüler 2002 insgesamt 16 Personen und anschließend sich selbst. An der Albertville-Realschule in Winnenden tötete der Täter 11 Personen und verletzte neun weitere Schülerinnen und eine Lehrerin schwer. Nach den Erfahrungen aus dem Amoklauf in Erfurt wartete die Streifenpolizei nicht bis zum Eintreffen durch Spezialkräfte ab, sondern gingen in das Gebäude, um die Handlungs‐ zeit des Täters zu verkürzen. Der Täter flüchtete. Unter Androhung von Gewalt bezwang er einen Autofahrer ihn wegzubringen. Die Fahrt führte nach Wendlingen in ein Autohaus. Etwa 100 km vom ehemali‐ gen Tatort kam es zum Gemetzel in einem Autohaus, an denen zwei weitere Menschen starben. Schlussendlich nahm sich der Täter selbst das Leben. Diesem Amoklauf folgte der Anschlag in München am Olympiazentrum im Jahr 2016, der vornehmlich politisch-rassistisch geprägt war und 9 Menschenleben einforderte. Hier wurde gezielt auf Menschen mit Migrationshintergrund geschossen. 72 Am Tag genau fünf Jahre zuvor kamen auf der norwegischen Insel Utøya nahe Oslo 69 Menschen durch den Einsatz von Schusswaffen 2011 ums Leben. Im Januar 2015 stürmten zwei Maskierte Personen die Redaktion Charlie Hebdo in Paris und töteten 11 Menschen. Im gleichen Jahr kam es zu Bombenanschlägen an verschiedenen Orten in Paris, an der 130 Menschen getötet und 683 Menschen verletzt wurden. Weitere ähnliche Sprengstoffanschläge ereigneten sich in Sankt Petersburg 2017 und London 2017. Der Rettungsdienst hatte sich neuen Herausforderungen zu stellen. Die Schädigungen dauerten eine längere Zeit an und sie erstrecken sich über eine größere Fläche oder auch an verschiedenen Orten einer Stadt. Ein begrenztes Geschehen, ein abgeschlossenes Ereignis gab es nicht mehr. Vorgehensweisen von Sichtung, Priorisierung und Zuteilung in die weiteren Versorgungseinheiten nach festen Verteilungsmustern entsprachen nicht dem situativen Kontext. Notfallmedizinische Versorgung vor Ort wird 114 7 Notfallmedizin <?page no="115"?> unter solchen Rahmenbedingungen unmöglich und erlaubt lediglich das Notwendigste am Geschehensort mit zügigem Transport in die Klinik. Beispiel (Anschläge mit Fahrzeugen) | Während der Feierlich‐ keiten zum französischen Nationalfeiertag raste ein LKW auf der Promenade in Nizza durch die Menschenmenge. Etwa 86 Menschen wurden getötet und mehr als 400 Personen teils schwer verletzt. Ein anderer LKW für im Dezember 2019 in einen Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin. 12 Personen verloren ihr Leben und 56 Menschen wurden verletzt. Bei beiden Ereignissen - wie auch in Trier - war unklar, ob noch weitere Ereignisse folgen. Wie für die Sicherheitskräfte war die Ausgestaltung und Schwere der Folgen auch für die Rettungskräfte nicht einzuschätzen. Das Verhältnis von schwerzu leichtverletzten Personen verschob sich. Opfer, die als Fußgänger von Anschlägen mit Fahrzeugen betroffen waren, hatten eine signifikant höhere Verletzungsschwere im Vergleich zu Fußgän‐ gern, die bei einem Unfall von einem Fahrzeug erfasst wurden. Die Szenarien von Terroranschlägen und Amokgeschehen haben sich ver‐ ändert. Die Sensibilität hat zugenommen. Sie finden an verschiedenen Orten statt, dauern unterschiedlich lang und sind nicht kalkulierbar. Es bleibt für die Rettungskräfte unklar, ob eine gesicherte Lage für die eigenen Sicherheit gegeben ist oder die Bedrohung für die Beteiligten fortbesteht. Die Einrichtung von Behandlungsplätzen wird in solchen Situationen nach taktischer Erwägung nicht mehr für sinnvoll gehalten. Ausgewählte Rück‐ zugsorte können erneutes Ziel von Anschlägen darstellen. Erfahrungen der taktischen Medizin erscheinen hier wertvoll. Blutstillung und ein möglichst schneller Kliniktransport erscheinen als eine Option. Der Anteil der Toten und der Schwerverletzten unter den Betroffenen ist bei diesen Anschlagss‐ zenarien im Vergleich zu einem Massenanfall von Verletzten als höher einzustufen. Sind bei Terroranschlägen und Amoktaten Aspekte der taktischen Medi‐ zin zu adressieren, ergeben sich neue und weitere Aspekte hinsichtlich der Traumaursache. Bei einem Massenanfall von Verletzten liegt ein Ungleich‐ gewicht von benötigten und vorhandenen personellen und materiellen Res‐ sourcen vor. Diese Beobachtung ist in den Kontext einzubetten, in dem das 7.1 Massenanfall von Verletzten 115 <?page no="116"?> Geschehen stattfindet. Auf einem ländlichen Gebiet sind die bestehenden Ressourcen der Regelversorgung eher aufgebraucht als in den städtischen Versorgungsgebieten. Hierzu zählen Krankenhauskapazitäten und das Vor‐ handensein von Spezialdisziplinen. Unter den vielfachen Aspekten sind Rettungsdienstträger aufgefordert, für ihre Rettungsbereiche die entspre‐ chende Ressourcenplanung durchzuführen und fortlaufend zu aktualisieren, um strukturiert vorgehen zu können. Zur bestmöglichen Bewältigung von Großschadensanlage ist eine Risikobewertung erforderlich. Bei Naturkata‐ strophen durch Erdrutsch versterben Zweidrittel der betroffenen Bevölke‐ rung, während bei einem Tornado nahezu alle Beteiligten leicht verletzt sind. Zugentgleisungen oder Flugzeugunglücke weisen im Vergleich zu einem Brand oder Reizgasunfall eine höhere Anzahl von Schwerverletzten auf. Im Flugbereich sind es Starts und Landungen Ursache der Katastrophe. Bei den Verletzten der Massenpanik der Loveparade in Duisburg 2010 handelte es sich zur Hälfte um schwerverletzte Personen, also weitaus deutlich mehr als bei Katastrophen zu erwarten steht. Bei Terroranschlägen werden zumeist Bomben und Sprengkörper benutzt, wobei diese die geringste Todes- und Schwerstverletztenrate aufweist. Bei Gebrauch von Schusswaffen kommt es zu mehr Toten und Schwerstverletzten. Geht man von der Planung aus, dass bei Großschadenereignissen etwa ein Fünftel der Betroffenen versterben, ein weiteres ein Fünftel schwer verletzt werden, so lässt sich eine Vorsorgeplanung treffen, die auch die Versorgung von Amokfahrten und sog. „combined hits“, also Ereignisse an verschiedenen Orten gut abbildet. Insgesamt sind Amokfahrten, Massenpanik und Flugzeugunglücke beson‐ ders zu betrachten. Eine besondere Herausforderung stellt ein Großbrand in Mehrfamilienhäusern, öffentlichen Gebäuden oder Industrieanlagen dar. Beispiel (Flugkatastrophe Ramstein) | Das mutmaßlich größte Ereignis einer Brandkatastrophe stellt das Feuer-Inferno von Ramstein 1988 dar. Zwei italienische Kampfjets sind bei einem Kunstflug zusam‐ mengestoßen und ins Publikum gestürzt. Die Rettungsmaßnahmen gestalteten sich schwierig und die Gründe hierzu konnten nicht vollständig aufgeklärt werden. Während die deutsche Katastrophen‐ medizin erst eine Sichtung und Stabilisierung anstrebte, so waren nach den amerikanischen Vorschriften die Patienten so schnell als möglich in die Kliniken zu transportieren. Noch Stunden später irrten Busse mit Verletzten durch die umliegenden Städte, mit unterschied‐ 116 7 Notfallmedizin <?page no="117"?> 73 Juncken, K.; Heller A,R,; Cwojdzinski, D.; Disch, A.C.; Kleber C.; Verteilung der Sichtungskategorien bei Terroranschlägen mit einem Massenanfall von Verletzten. In: Unfallchirurg 2019 (122): S.-299-308 lich schwer verletzten Patienten, um ein Krankenhaus aufzusuchen. Die deutschen und amerikanischen Infusionssysteme waren nicht kompatibel, so dass es die Versorgung mit Infusionslösungen und Transfusionen erschwerte. Hinzu kamen erhebliche Einschränkungen der Kommunikation. Das zur Verfügung stehende Festnetz war über‐ fordert. Funkamateure bauten einen Notfunkverkehr auf. 73 Einsatztaktische und notfallmedizinische Überlegungen adressieren zu‐ nächst Sichtung der Lage. Besondere Gefahren wie Atemgifte, Strahlung, Chemische Stoffe und der jeweiligen Ausbreitungswege sind zu beachten. Durch Explosionen entstehen unterschiedliche und schwere Verletzungs‐ muster, Gebäude können einstürzen und zu neuen Gefahren führen. Elektri‐ sche Ströme müssen gesichert und unterbunden werden. Die Gefahren sind also zu erkennen, die Einsatzstelle abzusichern und die Menschenrettung unter Eigenschutz durchzuführen. Bei Brandereignissen ist es primär die Aufgabe der Feuerwehr, Menschen aus dem Gefahrenbereich zu retten. In Bedrohungslagen ist es die Aufgabe der Polizei oder des Militärs die Patienten in sichere Bereiche zu verbringen. An der Grenze des Gefah‐ renbereiches werden die Patienten an den Rettungsdienst zur weiteren medizinischen Versorgung übergeben. Als oberstes Ziel gilt es, vermeidbare Todesfälle zu verhindern. Es gibt in solchen Szenarien Menschen, Patienten mit Erkrankungen oder Verletzungen, die trotz optimaler Versorgung keine Überlebenschance haben. Bei knappen Ressourcen können hier Kapazitäten und Materialien verwendet werden, die anderen Patienten nicht zu Verfü‐ gung stehen, jedoch hätten alternativ erfolgreich behandelt werden können. Dies zu erkennen, erfolgt in aufeinanderfolgenden Sichtungsprozessen. Im unmittelbaren Gefahrenbereich erfolgt die orientierende Ersteinschätzung durch diejenigen, die direkten Patientenkontakt haben, also auch durch Po‐ lizei oder Feuerwehr. Nach der Rettung aus dem Gefahrenbereich erfolgt die Vorsichtung durch Ärztinnen und Ärzte sowie Rettungspersonal. Atemwege freihalten und Blutungen stillen sind die entscheidenden, lebensrettenden Maßnahmen in diesem zeitlichen Rahmen. Auf Algorithmen basierend 7.1 Massenanfall von Verletzten 117 <?page no="118"?> erfolgt die Evaluation und auch die Re-Evaluation. Zweifelsfrei ist die Phase auch von Unsicherheiten geprägt. Sichtungskategorien orientieren sich an Vitalfunktionen und adressieren nur bedingt, thermische, chemische oder strahlungsbedingte Notfälle. Das Ausmaß einer Verbrennung und die damit verbundene vitale Gefährdung stellt eine besondere Herausforderung dar. Bei Inhalationstraumata sind die Gefahren einer Intoxikation, also der Vergiftung durch Gase oder Flüssigkeiten zu beachten. Nach dieser Phase schließt sich die individualmedizinische Betreuung un‐ ter Hinzuziehung etwaig zusätzlich eingetroffener oder erreichter Ressour‐ cen an. Dieser Übergang ist fließend und dient dazu, Folgeschäden für die Betroffenen zu reduzieren. Hierzu zählen Maßnahmen der Gewährleistung der Atmung, Reduktion von Schmerzen, Bilanzierung des Flüssigkeitshaus‐ haltes, Versorgung von Wunden und großflächigen Verbrennungsarealen, Wärmemanagement. Im Gesamtkontext ist der ein Übergang aus der Kata‐ strophenmedizin in die individualtherapeutische Behandlung so frühzeitig als möglich zu etablieren. Merkmale einer guten Kommunikation zwischen den Akteuren sowie der Aufbau und Gewährleistung einer Logistik zur Heranführung und Abtransport sind wesentliche Module. Die medizinische Versorgung in Großschadenslagen hat nicht die gleiche Güte, wie sie bei der Versorgung eines einzigen Patienten zu erwarten ist. Dies muss leider akzeptiert werden. Alle Maßnahmen dienen dazu, diese Lücke klein zu halten. 7.2 Chancengleichheit Gedankenexperiment | Es kommt die Frage auf, wie die Verteilung der Ressourcen zu gestalten ist. Nehmen wir an, Menschen leben auf einer Insel, welche einen Vulkan aufweist. Dieser Vulkan trennt den kleineren nördlichen Anteil vom größeren südlichen Anteil der Insel. Der südliche Anteil ist vom Flugverkehr erschlossen. In dieser Situation ist ex ante der nördliche Anteil benachteiligt. Chronisch Erkrankte haben prinzipiell eine schlechtere Überlebenschance als Gesunde, sollte der Vulkan ausbrechen. Es besteht keine Gleichheit der zu Versorgenden. 118 7 Notfallmedizin <?page no="119"?> Jeder für sich würde eine Chancengleichheit einfordern. Dies würde bedeu‐ ten, dass für jede Person der gleiche Zugang zum Verteilungsverfahren von Hilfe besteht. Bei begrenzten Ressourcen, also im in der Allokations‐ problematik werden Kriterien erforderlich, die eng mit Beurteilung und Wertung des Einzelnen assoziiert sind. Ist Chancengleichheit nicht gegeben, so müssen weitere Beurteilungskriterien eingepflegt werden. Hier wird der utilitaristische Ansatz des größtmöglichen Nutzens für Alle oder möglichst Vieler angeführt. Es ist zu verstehen, als das größtmögliche Glück für alle. Die Summe des Schmerzes der Einzelnen ist auf eine minimale Größe des Schmerzes in der Summe der Gemeinschaft zu führen. Das Prinzip des nicht Schadens wird vom Individuum auf die Gemeinschaft übertragen. Das Prinzip, die Stärkeren zu versorgen stellt ebenso einen utilitaristi‐ schen Ansatz dar, wie das Prinzip die Schwächeren zuerst zu adressieren. Den Stärkeren soll die Hilfe nicht verwehrt werden. Sie haben aber das Potentat, die physischen Kräfte, sich selbst versorgen zu können. Eine solche Sichtweise mag bei dem Untergang der Titanic zutreffen, die am späten Abend des 14. April 1912 gegen einen Eisberg geprallt war. Männer dürften deutlich mehr Kraft und Ausdauer haben und möglicherweise länger als Frauen und Kinder schwimmen können. Dieses Vorgehen ist aber auch kritisch zu werten. Teils sind Frauen in Extremsituationen durch‐ haltefähiger als Männer. Mit Frauen und Kindern und auch mit Greisen und Alten erfahren wir ein höheres Mitleid. Sie erscheinen hilfloser und des Schützens würdiger. Dieses Pathos entspricht der Emotionale. Für die gesellschaftliche Regeneration von Kindern benötigt es weniger Zeit als für die die Rekrutierung des Wissens und Könnens der Menschen im mittleren Alter. Ein gesellschaftlicher Konsens findet sich diesbezüglich nicht. Die systematische Bevorzugung einer bestimmten Personengruppe ist nicht etabliert. Diese Verantwortung wird den Ärzten übertragen. Sie richtet sich nach der Lebensrettung des Einzelnen. Es stellt sich jedoch die Frage, ob die prinzipielle Fähigkeit, Leben zu retten, genügt. Es stellt sich auch die Frage, ob die Delegation einer solchen Entschei‐ dungskompetenz an eine bestimmte Personengruppe gesellschaftlich kor‐ rekt ist. Nicht ohne Grund obliegt die Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Handlungsweise der Judikativen. Ärztinnen und Ärzte sind im Umgang mit Krankheit, Leiden und Tod erfahren. In der Notfall- und Rettungsmedizin werden die dafür erforderlichen Kenntnisse vermittelt, um verantwortlich damit umzugehen, die Verantwortung zu tragen. 7.2 Chancengleichheit 119 <?page no="120"?> 7.3 Notstand Zusätzlich ergibt sich der Aspekt, inwieweit die Betroffenen hinsichtlich der Verteilung von Ressourcen dem Solidaritätsprinzip verpflichtet sind. Wo es ums Überleben geht, verschwinden Vorschriften aus dem Blickfeld. Statt dem Streben nach Gemeinwohl bestimmt der Trieb sich selbst, oder die emotional Engsten in Sicherheit zu bringen. Hilfe gebührt denen, denen man sich verpflichtet fühlt. Man vermag es sich nicht vorstellen, wie die Überlebenden im Chaos und unter Traumatisierung einander gezerrt, gestoßen und getrampelt habend, um sich selbst und die Angehörigen zu schützen. Für die betroffenen Personen entsteht Straffreiheit für die dabei ergangen Taten, was als entschuldigender Notstand bezeichnet wird. Wissen | Notstand „Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Le‐ ben, Leib oder Freiheit eine rechtswidrige Tat begeht, um die Gefahr von sich, einem Angehörigen oder einer anderen ihm nahestehenden Person abzuwenden, handelt ohne Schuld. Dies gilt nicht, soweit dem Täter nach den Umständen, namentlich weil er die Gefahr selbst verursacht hat oder weil er in einem besonderen Rechtsverhältnis stand, zugemutet werden konnte, die Gefahr hinzunehmen […].“ (§ 35 StGB) Im Unterschied zum rechtfertigenden Notstand, bei denen die betroffe‐ nen Rechtsgüter in ihren widerstreitenden Interessen abzuwägen sind, lässt der entschuldigende Notstand die Schuld entfallen. Sämtliche Indi‐ vidualrechtsgüter sind notstandsfähig. Im Rahmen der Interessenabwä‐ gung scheitert der Notstand nach der herrschenden Rechtsauffassung bei der Rechtfertigung von Tötungen. Das oberste Rechtsgut zu Leben ist der quantitativen und qualitativen Abwägung entzogen. Das Leben ist niemals wägbar. Sind jedoch eigener Leib, Leben und Freiheit des Einzelnen und das der nahen Angehörigen oder anderer nahestehender Personen gefährdet, findet keine Güterabwägung mehr statt. Erst in einer solchen extremen Situation darf Leben gegen Leben verrechnet werden. Dabei bleibt die Tat vorsätzlich und rechtswidrig. Es erfolgt keine Strafzumessung, weil es einem persönlichen Vorwurf fehlt. 120 7 Notfallmedizin <?page no="121"?> Der übergesetzliche Notstand ist demzufolge eine Konstruktion, die sich auf ganz außergewöhnliche und unauflösbare Gewissenskollisionen bezieht, zu dem es kein Gesetz gibt. Sie leitet sich aus einem übergeordneten Recht ab, bei denen unauflösbare Pflichtenkollisionen bestehen. Ärzte, die in Zeiten des Nationalsozialismus Geisteskranke im Euthanasiegeschehen selektioniert haben, um andere Geisteskranke zu retten, haben einige vor der Ermordung geschützt. Das wäre so, als wenn ein Fährmann Menschen aus einem Boot, das unterzugehen droht, wirft und dadurch die übrigen Insassen zu retten. Die Rechtsprechung konnte und kann sich einer solchen Sichtweise nicht anschließen, da die Würde des Menschen unantastbar ist und durch die Ewigkeitsklausel nochmals einen besonderen Schutz erlangt. Die staatliche Pflicht, die Tötung unschuldiger Menschen zu unterlassen, wird höher eingestuft als die Pflicht zur Lebenserhaltung. Im Entführungsfall Jakob Metzler im Jahr 2002 drohte der damalige Poli‐ zeipräsident dem Beschuldigten mit Folter, wenn er nicht den Aufenthaltsort seines Opfers bekanntgeben würde. Dieser als „Schutzfolter“ bezeichnete Vorgehensweise konnte sich das Gericht nicht anschließen. In einem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes ging man der Frage nach, ob es gerechtfer‐ tigt ist, ein entführtes Flugzeug und damit als Waffe zweckentfremdetes Passagierflugzeug abzuschießen. Zusammenfassend ergab sich bei der Prü‐ fung keine Notwehr, da sich dies lediglich an die Entführer richtet. Ein rechtfertigender Notstand war auch nicht erfüllt, da ein Aufzählen von Leben gegen Leben aufgrund des Schutzes der Menschenwürde nicht mög‐ lich ist. Der entschuldigende Notstand scheitert an der dazu erforderlichen interpersonellen Nähe. Es verbleibt der übergesetzliche Notstand, wofür eine Rechtsgrundlage nicht geschaffen werden kann. Dabei war seitens des Gerichtes jedoch nicht zu entscheiden, wie ein gleichwohl vorgenommener Abschuss strafrechtlich zu bewerten wäre. Ein anderer Gedanke wäre, wenn etwa eine wahllos ausgesuchte Person, die mittels einer irgendwie gearteten Kanone von Tätern abgeschossen wird und ihrerseits als unmittelbare Waffe genutzt wird, um in eine Men‐ schengruppe zu gelangen. Die an dieser Person festgemachten Sprengsätze würden das Leben vieler Menschen gefährden, es ist von vielen Toten auszugehen. Es fällt schwer, die Entscheidung zu treffen, dies nicht zu tun, da ja davon auszugehen ist, dass der dann noch lebende Mensch beim Aufschlag und der folgenden Detonation sterben würde. Ebenso fällt es schwer, die Situation dieses einzelnen Menschen von der Situation der Passagiere im Flugzeug gleichzustellen oder auch zu unterscheiden. 7.3 Notstand 121 <?page no="122"?> Ferdinand von Schirach hat mit seinem Buch „Terror“ und dem späteren Fernsehfilm „Terror - Ihr Urteil“ eine gesellschaftliche Diskussion eingelei‐ tet. Die Zuspitzung des Falles war dramaturgisch begründet und es fehlt an der erforderlichen juristischen Detailgenauigkeit. Die Diskussion der elementaren Frage ist gelungen. Beispiel (Terror von Ferdinand Schirach) | Ein islamistischer Terrorist hat eine Lufthansa-Maschine mit 164 Passagieren gekapert und hat vor, diese in ein voll besetztes Fußballstadion zu steuern. Im Stadion halten sich zu diesem Zeitpunkt 70.000 Menschen auf.- Zwei eigens für solche Zwecke trainierte Kampfjetpiloten werden ausgesandt, um die Maschine zur Landung zu zwingen, was jedoch misslingt. Ein Warnschuss zeigt keine Wirkung. Es kommt kein neuer Befehl und das Flugzeug nähert sich bedrohlich dem Stadion. Einer der beiden Piloten, Lars Koch, handelt selbstständig und befehls‐ widrig und schießt das Flugzeug ab. Keiner der Passagiere überlebt den Absturz. Nach seiner Landung wird Lars Koch festgenommen. Er muss sich für seine Tat verantworten. Der Kampfjetpilot Lars Koch befindet sich nun auf der Anklagebank, denn er hat 164 Menschen durch seine Aktion getötet. Der Vorsitzende wendet sich an das Publikum und erklärt ihm, dass es in dieser Verhandlung als Schöffe fungieren soll. Am Ende sollen also die Zuschauer bzw. Leser darüber entscheiden, ob sie Lars Koch verurteilen oder freisprechen. In der mit der Fernsehsendung verbundenen Abstimmung sprachen sich mehr als 4/ 5 der sich an der Abfrage beteiligten Zuschauer für eine Freilassung des verantwortlichen Kampfpiloten aus. Auch im selbst besuchten Theaterstück sprachen sich etwa vier von fünf für dessen Freispruch aus. Das Leben ist rechtswissenschaftlich nicht verrechenbar, gesellschaftlich erscheint dies jedoch möglich. 7.4 Nutzen In Katastrophenfällen erscheint der Utilitarismus, das Wohle des Ganzen oder „the best for most“ eine geeignete Option zu sein, Lösungsmodelle 122 7 Notfallmedizin <?page no="123"?> zu entwickeln, zumal sie gesellschaftlich eine hohe Akzeptanz erfahren. Es verbindet rationale, nachvollziehbare Methoden mit inhaltlichen, konkre‐ ten Werten. Zweifelsfrei steht es im Widerspruch das Wohl des einzeln betroffenen Menschen, des Individuums zu steigern. Es geht hierbei um den Gesamtnutzen. Eine Steigerung des Gesamtwohls kann auch mit einer Zunahme des Individualwohls verbunden sein. Dies ist aber nicht der Kernzweck dieser Option, es ist mehr denn ein Nebeneffekt. Die Schädigung einiger weniger wird akzeptiert zugunsten des Gemeinwohls. Es existiert aber keine Definition, was das Beste für das Gemeinwohl bedeutet, es fehlt an einer gesellschaftlich akzeptierten und vereinbarten Definition. Gleichwohl steht Utilitarismus im Widerspruch des ärztlichen und huma‐ nitären Prinzips des „Nicht-Schaden-Wollens“. Im Allokationsproblem geht es um die Ressourcenverteilung und nicht darum, dem einen zu nehmen, um anderen zu geben. Der Utilitarismus als Zuteilungsprinzip verstößt zuweilen gegen ärztlich-humanitäre Grundwerte. Zudem bedarf es der Entwicklung einer Werteskala, eines Scores, der wissenschaftlich zu begründen wäre. Viele Ansätze reduzieren auf die Maximierung der Überlebenszahlen. Damit wird der qualitative Begriff des Lebens auf eine quantitative, messbare Größe reduziert. Das Leben des Einzelnen verkehrt sich entgegen der Rechtsauffassung zu einer Rechengröße und erniedrigt das Subjekt des Individuums zum Objekt. Gedankenexperiment | Nehmen wir an, dass der Transporter brennt, und es ergibt sich die Gefahr, dass sechs für das Museum wichtige Gemälde verbrennen würden. Gleichzeitig habe ich aber die Möglichkeit fünf dieser Bilder sicher zu bergen, ich kann aber nicht alle sechs Gegenstände herausholen. Jedes dieser Gemälde hat in der Betrachtung des Museums einen bestimmten Wert. Wenn es sich ergibt, dass alle sechs Gemälde den gleichen Wert haben, werde ich natürlich eher die fünf Gemälde retten statt des einen. Die fünf Kunstwerke zusammen haben in meinen Augen fünfmal mehr wert als das eine Gemälde. Auf einer kleinen ländlichen AIDS-Station in Kenia befinden sich sechs Patienten, die schwer erkrankt sind. Sie benötigen ein bestimm‐ tes Medikament unmittelbar, um zu überleben. Neue Medikamente werden erst wieder in einer Woche geliefert und können auch nicht wegen der Regenfälle organisiert werden. Einer dieser sechs Patienten 7.4 Nutzen 123 <?page no="124"?> 74 Lübbe, W.; Veralltäglichung der Triage? In: Ethik Med 2001 (13): S.-148-160 benötigt die gesamt zur Verfügung stehende Menge des Medikamen‐ tes, während bei den anderen fünf Patienten 20 % der Dosis genügen würden, um zu überleben. John M. Taurek (1936-2003) betrachtet hier die Sicht der Opfer und die Wertschätzung für das eigene Leben. Diese Betrachtung richtet sich auf den Wert des Lebens an sich, ohne Berücksichtigung des Wertes für andere. Immer wird ein Beteiligter sein Leben verlieren. Es ist der Verlust für das Individuum und nicht der Verlust des Individuums. Wenn einer der fünf sein Leben verliert, ist sein Verlust nicht größer für ihn, weil andere ihr Leben verlören. Jeder verliert den größten Wert. Wenn jedes Individuum sein Leben verliert, ist es das Erleben des eigenen Verlustes. In der Betrachtung von außen hingegen ist man verleitet, den Wert des Lebens für andere zu beschreiben. Nutzen und Zweck eines Menschen geht hierbei über den Selbstzweck hinaus. Für den Einzelnen ist es irrelevant, ob er oder auch noch andere versterben. Es gibt nur das eigene Leben, dass er verlöre. Jedes Opfer hat nur ein Leben. 74 Take-Home-Message | Wenngleich der Ansatz bewegt, sich in die Situation des Betroffenen zu begeben, erscheint es bei begrenzten Res‐ sourcen gerechtfertigt, in besonderen Bedrohungslagen ein Verteilungs‐ verfahren zu etablieren. Wie diese Verteilungsverfahren zu gestalten ist, bedarf der gesellschaftlichen Vereinbarung und hat sich auf den Kontext zu beziehen, der sich teils erheblich unterscheiden kann. Bei einem Mas‐ senfall von Verletzten bei einem Verkehrsunfallereignis, einer Eisen‐ bahnkatastrophe, in taktischen, militärischen Bedrohungslagen oder auf einem Raumgleiter als auch bei einer weltweiten Pandemie unterschei‐ den sich die Verteilungsaspekte. Utilitaristische Ansätze konkurrieren mit Gerechtigkeitsprinzipien, die verbundene Nutzenmaximierung darf sich nur auf die betrachtete Gruppe beziehen und Prinzipienhierarchien ordnen sich humanitären und ärztlichen individuellen Prinzipien unter. 124 7 Notfallmedizin <?page no="125"?> 8 Intensivmedizin Fallbeispiel | Hohenberg-Klinik, Station A 46, operative Intensiv‐ medizin, Wilhelm K. (70). Vor drei Tagen ist er beim Baumschnitt vermutlich von der Leiter gestürzt, nachdem der Ast gebrochen war. Er war nicht mehr ansprechbar und musste vor Ort reanimiert werden. Auch heute noch ist er nicht richtig wach. Die Untersuchung gibt Klarheit: die Halswirbelsäule ist gebrochen und ein Knochensplitter ragt in das Rückenmark. Wilhelm K. kann seine Arme und Beine nicht bewegen. Durch die Lähmung kann er auch nicht mehr aktiv atmen. „Wenn er sich nicht erholt, und davon ist wohl am ehesten auszugehen …“ berichtet der Oberarzt, „… wird er dauerhaft ein schwerster Pflegefall bleiben.“ Mit den Lippen und den Augen kann er sich noch bemerkbar machen. Ein Sprechen wird ihm wegen der Atemlähmung nicht mehr möglich sein.“ Hintergrund: In Deutschland stehen aktuell in etwa 1.300 Kliniken etwa 23.500 Intensivbetten zur Verfügung. Etwa 85-90 % der Betten sind belegt. Es gibt viele Schicksalsgeschehen auf deutschen Intensiv‐ stationen. Immer geht es um die Frage um Leben und Tod, immer geht es darum, gut aus der schweren Erkrankung herauszukommen und wieder eine Teilhabe am Leben zu haben. Immer wieder geht es aber auch um die Frage der Sinnhaftigkeit medizinischer Maßnahmen. Intensivmediziner und Intensivmedizinerinnen arbeiten oft an den Grenzfragen ethisch-moralischen Handelns. 8.1 Kontextfaktoren Medizinischer Fortschritt führt zu einer Steigerung der mittleren Lebens‐ erwartung. Die demographische Entwicklung zeigt einen höheren Anteil alter Menschen, in den vergangenen Jahren zunehmend. Das hohe Alter ist begleitet mit einer erhöhten Anzahl relevanter Begleiterkrankungen wie Diabetes mellitus, Adipositas, Nierenfunktionsstörungen, dementielles <?page no="126"?> Syndrom sowie Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems und der Lunge. Das diagnostische und therapeutische Spektrum hat sich erweitert und es bestehen mehr, aber auch kostenintensivere Möglichkeiten, Menschen in Krankheit und Leiden zu helfen und zu unterstützen. Mit steigender Lebenserwartung haben die Patientinnen und Patienten auch mehrere Erkrankungen durchlebt, Erkrankungen, an denen sie noch vor wenigen Jahrzehnten gestorben wären, weil man keine Möglichkeiten hatte, Ihnen zu helfen. Die Kostensteigerung im Gesundheitswesen ist vorprogrammiert. Die Gesellschaft und die Politik haben sich darauf einzustellen, dass es mehr kosten wird. Krankenhäuser und Kliniken sind zu Unternehmen geworden, die sich auf dem Markt zu behaupten haben. Klinisch tätige Ärzte berichten und es besteht der generelle Eindruck, dass aus ökonomischen Gründen zu viel operiert wird und aufwändige technologische Untersuchungen zu häufig eingesetzt werden. Die Anzahl an medizinischen Behandlungen in Kliniken nimmt ständig zu, aufwändige und finanziell gut entlohnte Behandlung sind vermehrt zu beobachten. Klinisch tätige Ärzte berichten von ökonomischen Zwängen in ihrem Arbeitsalltag, in dem sie auf Auslastung und Verweildau‐ ersteuerung getrimmt werden. Tabellenkalkulationen werden zum Maßstab der Effizienz herangezogen. Gesellschaftlich besteht im Hinblick auf den Stellenwert ökonomischer Ziele und deren Gewichtung gegenüber medizi‐ nischer und sozialer Ausgabenstruktur eine mangelnde Transparenz. Es verbleibt unklar, wieviel Gewinn wieder in die Kliniken reinvestiert oder als Dividende an die Aktionäre ausgeschüttet werden. Fallbeispiel | In diesem Kontext tritt Walter K. mit seiner Quer‐ schnittslähmung auf. Die Schwere der Erkrankung und die zu erwar‐ tende Lebenssituation stellen für ihn, die betroffene Familie aber auch für die Beteiligten eine besondere Herausforderung dar, in der die moralischen Aspekte der Behandlung hinterfragt werden können. Jedenfalls ist eine individuelle Bewertung aus der unterschiedlichen Perspektive der Beteiligten zulässig. Unterschiedliche Einschätzungen und moralische Bewertungen fragen nach Sinn und Nutzen von Behandlungsmaßnahmen. Die Fragen nach den Vorstellungen um ein gutes und gelingendes Leben, um die ganz persönliche Vorstellung über die Lebensqualität und auch die Fragen um die individuellen Überzeugungen zur eigenen Rolle und Ethik werden aufgeworfen und 126 8 Intensivmedizin <?page no="127"?> stellen für alle daran Beteiligten eine individuelle, ganz unterschied‐ liche Belastung dar. 8.2 Werte Im Unterschied zu den großen Naturwissenschaften und Mathematik sind diese unterschiedlichen Aspekte von Ethik und Moral nicht messbar und be‐ dürfen eines gegenseitigen Verständigungsprozesses. Sowohl in der indivi‐ duellen Mikroebene als auch in der gesellschaftlich-politischen Makroebene treffen hier unterschiedliche Wertevorstellungen und auch Einschätzungen aufeinander. Die Medizin kann ihren Beitrag leisten, über evidenzbasierte Erkenntnisse Aussagen zu treffen, inwieweit eine Stabilisierung, ein Über‐ leben oder eine Rehabilitation erzielt werden können. Therapieoptionen haben unterschiedliche Erfolgsaussichten und sind wissenschaftlich hinter‐ legt, so dass eine Prognose wenigstens abgeschätzt werden kann. Auf der anderen Seite stellt sich aber für Patientinnen und Patienten und deren Angehörigen die Frage, ob denn das Therapieziel überhaupt erstrebenswert ist. Das dauerhafte Gebundensein an Gerätemedizin oder das Wachkoma zählen zu den gefürchtetsten Sorgen. Aus medizinischer Sicht wird eine Behandlung dann sinnlos, wenn sie als aussichtslos eingeschätzt wird. Eine ausreichende und plausible Einschätzung, ob denn mit den Maßnahmen ein Überleben oder eine Stabilisierung zu erreichen ist, stellt in sich eine wertende Begrifflichkeit dar. Es kommt hinzu, dass die einzelnen Beteiligten, wie Angehörige, ärztlicher Dienst und pflegerisches Team und andere Involvierte zu unterschiedlichen Zeitpunkten das Gefühl haben könnten, dass es nicht mehr zielführend und sinnvoll ist, die intensivmedizinischen Bemühungen fortzuführen. Der erforderliche Verständigungsprozess prüft die Frage der Fortführung oder auch der Eskalation der Therapie. Er prüft aber auch die Frage der Deeskalation der Maßnahmen und Überführung in ein palliativmedizini‐ sches Setting. Die Beteiligten beschäftigen sich in einer ethisch-moralischen Konfliktsituation mit der Klärung der Frage der Notwendigkeit einer Thera‐ piezieländerung und welches der richtige Zeitpunkt dafür ist. Es verbleibt in diesem Verständigungsprozess eine Prognoseunsicherheit. Die Gegenpole, inwieweit eine Deeskalation der Therapiemaßnahmen dazu führen können, dass gewinnbringende Option verfrüht unterlassen werden oder die Aus‐ 8.2 Werte 127 <?page no="128"?> sichtslosigkeit verspätet akzeptiert wird, müssen ausbalanciert, verhandelt werden. Wissen | Patientenwille Ausschlaggebend in einer solchen Situation ist der Patientenwille eines informierten Patienten bzw. einer informierten Patientin. In Situationen, in denen es Kinder, schwer geistig beeinträchtigte Menschen, demen‐ tielle Patientinnen und Patienten und bei intubiert und beatmeten, nicht einwilligungsfähigen Menschen trifft, ist auf den mutmaßlichen Willen abzustellen. Es verbleibt in dieser Vertretungsfunktion eine epistemische Unsicherheit, jene unsichere Gewissheit der Erkenntnis des mutmaßlichen und auch wirklichen Willens. Äußerungen in ge‐ meinsamen Gesprächen insbesondere in belastenden oder fordernden Lebensphasen der Verwandten können hilfreiche Indizien sein. Eine individualisierte Patientenverfügung aber auch Vorsorgevollmacht und Betreuungsvollmacht sind Instrumente, die eine bessere Gewissheit bereiten können. Die ethische Herausforderung ist besonders groß, wenn sich zeigt, dass trotz einer indizierten medizinischen Maßnahme der Patientenwille eine lebenserhaltende Therapie ausschließt. Auf die eigene emotionale Einschätzung und ethische Beurteilung ist zu achten, dass sie nicht zum Bestandteil des mutmaßlich erklärten Willen des betroffenen Patienten oder der betroffenen Patientin wird. Die Beteilig‐ ten haben in diesem Prozess nicht ihre eigenen Wertevorstellungen so weit einzubringen, als dass es den Erkenntnisgewinn über den mutmaßlichen Willen des Betroffenen oder der Betroffenen verschleiert und zu Fehlinterpretationen führt. Es stellt sich die Frage, ob in einem solchen Verständigungsprozess die Beteiligten ausreichend über den individuellen Willen informiert und zu‐ sätzlich auch noch überzeugt sind. Werden etwaig eigene, individuellen Erwartungen und Befürchtungen eingebracht, die das Ergebnis der Bera‐ tungen verfälschen? Reichen die Hinweise über den mutmaßlichen Willen aus, um zu einer abschließenden Entscheidung oder bedarf es einer weiteren Kommunikation und Verständigung? So anstrengend es auch sein mag, so ist es nochmals zu evaluieren, inwieweit ein gemeinsamer Bewertungshorizont erarbeitet werden konnte 128 8 Intensivmedizin <?page no="129"?> oder ob bestehende Wertekonflikte nochmals geklärt werden müssen, um eine einvernehmliche Änderung des Therapieziels zu vereinbaren, was eine Indizierung invasiver Therapiemaßnahmen betrifft oder zu einem Therapieabbruch führt. 8.3 Dialog Um einen strukturierten Dialog zu führen, stellt die von Tom Beauchamp und James F. Childress 1979 eingeführte prinzipienorientierte Falldiskussion ein geeignetes Modul dar. Mit den Merkmalen Autonomie, Schadensvermei‐ dung, Führsorge und Gerechtigkeit lässt sich die Sinnhaftigkeit einer medi‐ zinischen Intervention bzw. des gesamten Handlungskonzeptes betrachten (siehe Kapitel 2.2.) Die zugrunde liegende Erkrankung ist Ursache des erforderlichen in‐ tensivmedizinischen Aufenthaltes. Sei es ein schwerer Verkehrsunfall mit mehreren knöchernen Verletzungen mit aufwändigen Rekonstruktionen, schweren Quetschverletzungen der Weichteile und innerer Organe. Mög‐ licherweise aber auch eine Patientin mit einer Entfernung des gesamten Magens und Rekonstruktion mittels Dünndarmschlinge oder ein Patient mit einer schweren Sepsis, ausgehend von einer Blasenentzündung, die zu einem Versagen mehrerer Organsysteme, wie Lunge, Kreislauf, Nierenfunktion und Gerinnung führen. Um eine gemeinsame Gesprächsebene zu erzielen, ist es wichtig sowohl auf Fachebene aber auch im Gespräch mit den Angehörigen die medizi‐ nische Situation für alle verständlich aufzuarbeiten. Hierbei fließen die bisherige Krankheitsgeschichte und Begleiterkrankungen, die aktuellen Befunde und die erhobenen Diagnosen in die Betrachtung gemeinsam ein. Zugleich ist aber auch zu berücksichtigen, dass die Teilnehmenden nicht mit Fachinformation überfordert werden und wie Seminaristen dem Vortrag gespannt folgen, ohne diesen aktiv replizieren zu können. Wichtig ist es, die Situation einzuordnen und die daraus folgenden Handlungsoptionen mit ihren Chancen und Risiken darzulegen. Ist diese Sachebene geklärt, kann der Frage nachgegangen werden, welche Verpflichtungen in dieser exorbitanten Situation gegenüber dem Patienten denn bestehen. Einerseits gilt es das Wohl zu fördern und nicht zu schaden und andererseits ist der eigene Wunsch des Patienten oder der Patientin zu evaluieren und in Begrifflichkeiten zu führen, die alle verstehen. Eine solche 8.3 Dialog 129 <?page no="130"?> Vorgehensweise adressiert die Autonomie des betroffenen Menschen. In diesem Diskurs ist darauf zu achten, die eigene und persönliche Sichtweise weitgehend auszublenden, um das Bild nicht zu verzerren. Das die einzelnen Akteure ihre persönliche Auffassung nicht ausblenden können, ist nur zu menschlich und möglicherweise ist es aber auch erweiternd und konstruktiv, um miteinander in das Verständnis zu kommen. Sind diese internen und externen Aspekte betrachtet und analysiert, folgt die Synthese der Betrachtung. Es wird geklärt, inwieweit die sich daraus Möglichkeiten und Verpflichtungen in einer Divergenz oder in eine Konvergenz münden. Zeigt sich hier ein Konflikt, dann muss es weiter durchdacht werden und es müssen die einzelnen Argumente erneut beleuch‐ tet und begründet abgewogen werden. Mit all diesem Wissen und der daraus resultierenden Erkenntnis können die Fragen der Notwendigkeit oder auch der Sinnhaftigkeit einer ausgewählten Option beantwortet werden. Es vermag erscheinen, dass eine solche Vorgehensweise als sehr langwie‐ rig und auch schwierig empfunden wird. Alle Beteiligten müssen in einem solchen Kontext auf die gleiche Gesprächsebene geführt werden, denn nur dann kann eine konsensfähige Entscheidung herbeigeführt werden. Es muss sich klar sein, dass es um das Leben eines Menschen geht, dass es um die Frage geht, in dieser für diesen Menschen schwierigen Situation, ein gelingendes Leben zu führen. Dieser Verantwortung sollten und müssen alle gerecht werden. Wichtig ist auch zu erkennen, dass insbesondere die Angehörigen mit dem Prinzip der Hoffnung umzugehen haben. Die Hoffnung ist ein abstraktes Gefühl und unterscheidet sich von einer begründeten Hoffnung, was in sich eine konkretisierte Erwartung darstellt. Hoffnung korreliert nicht unbedingt mit den Wahrscheinlichkeiten, sie betrachtet die Möglichkeit und nicht die kalkulierte Perspektive. 8.4 Konflikte Im Entscheidungsprozess sind die zwei wichtigen Aspekte der Überver‐ sorgung und der Unterversorgung zu beachten. Überversorgung ist der mögliche Kampf um ein nur hypothetisches Ziel, die Angst um ein mögliches Versagen oder die Bestimmtheit, dass sich der Aufwand unbedingt lohne. 130 8 Intensivmedizin <?page no="131"?> 75 Janssens, U.; Ökonomie in der Intensivmedizin - ein Widerspruch? In: Med Klein Intensivmed Notfmed 2015 (110: S.-264-271) Interessanterweise sind insbesondere ältere und hochbetagte Patienten hiervon betroffen. Man möchte diesem nahen Angehörigen, der so viel für die Kinder und Kindeskinder getan hat, vor dem Tod bewahren. Es besteht nahezu eine innere Verpflichtung aus der für die Angehörigen erbrachten Leistungen, die dieser schwerstkranke Vater oder Mutter, Großvater oder Großmutter zeitlebens erbracht habe. Teils ist es aber ein Ausdruck der Tabuisierung des Sterbens und die Ängste um den Tod. Der Tod ist mit der Geburt definiert. Dieses zu akzeptieren, fällt zuweilen schwer. Es ist der Wunsch groß, dass die bisherige Lebensqualität wiedererlangt werden kann und die Furcht, dass es damit vorbei ist. Unterversorgung ist die mögliche Sorge darum, Patientinnen und Pati‐ enten als auch die Angehörigen vor dem Irrsinn zu schützen, fatalistisch betrachtet, es lohne sich nicht mehr. Auch hier betrifft es eher die alten und hochbetagten Menschen. Man möchte den schwerstkranken Menschen von seinem Leid befreien. Die doch so schweren Begleiterkrankungen haben es diesem Menschen so schwer gemacht und die Aussicht auf Erfolg ist gering. Das Sterben wird dann als Erlösung verstanden, eine Lebensqualität sei nicht mehr gegeben. Im historischen Kontext stellt dies eine Herausforderung dar. Es gibt aber weitere, zu beobachtende Risikofaktoren, die auch als gefährlich einzustufen sind, da sie möglicherweise zu einem verfrühten Abbruch dann doch erfolgversprechender Maßnahmen führen können. Alleinstehende Personen sind hiervon betroffen, da sich niemand um sie kümmern, sich für sie einsetzen. Das höhere Alter, weibliches Geschlecht, der sozioökonomische Status, die Zugehörigkeit zu ethnischen Minderhei‐ ten, psychische Erkrankungen, dementielle Syndrome, Multimorbidität und eine vorab oder zu erwartende erhöhte Pflegeintensität sind Faktoren, die als Risikofaktoren für eine Unterversorgung zu beschreiben sind. 75 In einem solchen Verständigungsprozess stellt der Begriff der Lebens‐ qualität eine Kernkomponente der Diskussion dar. Hier fließen unter‐ schiedliche persönliche Wertevorstellungen mit ein. Bei einer schweren und chronischen Erkrankung wie bei der Multiplen Sklerose kann die Lebens‐ qualität dahingehend verstanden werden, als dass die Erkrankung nicht das Leben bestimmt. Die Selbstbestimmung kann dann als der entscheidende Faktor der Lebensqualität interpretiert werden. Eine einheitliche Definition der Lebensqualität existiert nicht. Zumeist werden Faktoren bezeichnet, die 8.4 Konflikte 131 <?page no="132"?> vorwiegend den Grad des subjektiven Wohlbefindens beschreiben. In diesem Kontext werden wirtschaftliche Sicherheit, Bildung, Berufschancen, sozialer Status oder Natur benannt. Es gibt also materielle und auch immaterielle Faktoren, die beschreiben, was für uns Lebensqualität bedeutet. Grundlage einer solchen Betrachtung ist die allgemeine Gesundheits‐ definition der Weltgesundheitsorganisation, die die Lebensqualität als übergeordnetes Ziel der Gesundheitsförderung betrachtet. Der Nutzen einer medizinischen Maßnahme muss also umso höher eingeschätzt werden, je mehr sie zu einer Lebensverlängerung oder zu einer Verbesserung der Lebensqualität führt. Es verbleibt schwierig, diesbezüglich eine einheitli‐ che Definition zu erarbeiten. Aspekte der körperlichen Beschwerden oder die psychische Verfassung sowie Leistungsfähigkeit als auch die Alltags‐ tauglichkeit, die zwischenmenschliche Interaktion sind Parameter, dies zu beschreiben. Sie können aber das Erlebnis von persönlichem Glück oder Zufriedenheit nicht komplett erfassen. Neuere medizinische Verfahren und Möglichkeiten erlauben eine andere Beurteilung über das, was als Verbes‐ serung der Lebensqualität zu verstehen ist. In einer solchen Konstellation geht es um die Festlegung des Therapie‐ zieles. Wichtig erscheint es, darauf zu achten, dass die geplante Maßnahme evidenzbasiert ist und auch geeignet ist, den Therapieerfolg zu erzielen. Je geringer der Nutzen ist, desto höher muss die Evidenz eingefordert werden. Dieser Evidenzgrad ist dann für den individuellen Nutzen zum Erreichen des Therapiezieles nochmals zu überprüfen, bevor es eingesetzt wird. The‐ rapiebegrenzung oder auch Therapiezieländerung beschreibt jeweils dahin‐ gehend, dass lebenserhaltende Maßnahmen nicht weiter durchzuführen sind, eine Beatmung nicht einzuleiten ist, eine künstliche Ernährung nicht eingeleitet oder andere invasive Maßnahmen nicht durchgeführt werden sollen. Es beschreibt auch die Situation, an denen von diesen Maßnahmen auch wieder Abstand genommen werden soll. Die Gründe für die Begren‐ zung der Maßnahmen sind hinsichtlich medizinischer Indikation als auch unter Berücksichtigung des individuellen Patientenwillens darzulegen. Die Basisbetreuung sowie palliativmedizinische und -pflegerische Maßnahmen bleiben davon unberührt. Dies bedeutet nicht nur die Gewährung von Nahrung, Flüssigkeit, Pflege und persönlicher Zuwendung. Weitgehende medizinische Übereinstimmung besteht dahingehend, dass keine Indikation zu stellen ist, wenn sich der Patient oder die Patientin in einem beginnenden und unaufhaltsamen Sterbeprozess befindet bzw. die Therapie aussichtslos ist oder keine ausreichende Stabilisierung trotz aller 132 8 Intensivmedizin <?page no="133"?> Bemühungen zu erzielen ist. Inwieweit eine dauerhafte Intensivtherapie nur noch dazu dient, das reine Überleben zu erhalten und nicht doch noch kurativ zu sein, kann eine für die Beteiligten schwere Entscheidung sein und birgt in sich ein hohes Konfliktpotenzial. Der Wunsch des Patienten oder der Patientin ist ein hoch zu wahrendes Gut und ist in sich bindend für die Behandelnden. Dies kann zuweilen eine schwierige Situation sein. 8.5 Versorgungsstruktur An bundesdeutschen Kliniken standen im zweiten Quartal 2020 etwa 30.000 Betten in der Intensivmedizin zur Verfügung. Im August 2020 gab es einen abrupten Rückgang der Intensivkapazitäten. Etwa 23.500 belegbare Betten stehen aktuell zur Verfügung. Etwa 85 % der Intensivbetten sind belegt. Die Reduktion der Bettenkapazitäten hat mehrere Gründe. Zu Beginn der Corona-Pandemie in Deutschland wurden die Personalunterstandsgrenzen ausgesetzt, die dann wieder im August 2020 eingesetzt worden waren. Personalmangel führt zu einer erheblichen Reduktion intensivmedizinischer Kapazitäten. Der Personalschlüssel hat sich den medizinischen Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten angepasst. Komplexe Behandlungsregimes binden mehr Personal, die Anzahl freier Betten nimmt ab. Ein willentlicher Abbau der Kapazitäten ist nicht zu erkennen. Entscheidender Faktor ist der faktische Mangel an medizinischem Fachpersonal. Kontinuierlich wird auf der Intensivstation eine Notfalleinheit freige‐ stellt. Jederzeit kann ein Notfall, ein Herzinfarkt, ein Schlaganfall oder ein Unfall auftreten. Die Menschen benötigen das Intensivbett nicht in ein, drei oder sechs Stunden. Sie benötigen es unmittelbar. Im Durchschnitt stehen auf den Intensivstationen etwa 10-12 betreibbare Betten zur Verfügung. Ein freier Bettenanteil von 15 % ist nicht ungewöhnlich. Problematisch wird es, wenn diese Schwelle unterschritten wird und auf unter 10 % fällt. Verlegungsmöglichkeiten auf nachgeordnete Einheiten der Klinik, die als Puffer dienen, sind schnell ausgereizt. Kommen krankheitsbedingte lange Verweildauern hinzu, verschärft sich die Situation. Um regionale Engpässe zu vermeiden und rechtzeitig auf schnelle Verän‐ derungen reagieren zu können, wurden im Rahmen der COVID-19-Pande‐ mie übergeordnete und sodann auch akzeptierte Koordinationsstrukturen aufgebaut. Schwerstkranke Patientinnen und Patienten sind teils nicht mehr verlegungsfähig, so dass ein Transport in eine andere Versorgungseinheit 8.5 Versorgungsstruktur 133 <?page no="134"?> 76 Pfenninger, E.G.; Naser, J.; Träger, K. et al. Die Pandemie bewältigen - Verlegungs‐ konzept von COVID-19-Intensipatienten und Non-COVID-19-Intensivpatienten in Baden-Württemberg. In: Anaesthesist 2021 (70): S.-951-961 77 Referentenentwurf des Bundesministeriums für Gesundheit zur Neufassung des § 5c IfSG zu BT-Drucksache 20 / 3877 (vom 10.10.2020) eine Gefährdung darstellen würde. 76 Eine Allokationsentscheidung setzt voraus, dass zuvor alle materiellen und personellen Behandlungskapazitäten regional und überregional ausgeschöpft worden sind. Dies kann insbeson‐ dere durch organisatorische Maßnahmen erfolgen, wie zum Beispiel durch die Verschiebung planbarer, nicht zeitkritischer Operationen oder die Ver‐ teilung betroffener Patientinnen oder Patienten in andere Krankenhäuser nach dem sog. Kleeblattkonzept. Um Patientinnen und Patienten auch in Überlastungssituationen weiterhin adäquat zu versorgen, können deutsch‐ landweit strategische Verlegungen von Patientinnen und Patienten nach dem Kleeblattkonzept durchgeführt werden. Die Bundesländer sind in fünf sogenannte Kleeblätter unterteilt worden, die je an einer zentralen Stelle ko‐ ordiniert werden. Diese Stellen stehen in regelmäßigem Austausch mit ihren Bundesländern und stimmen sich untereinander ab. Bei drohender Überlas‐ tungssituation in einem oder mehreren Regionen kann das Kleeblatt-System aktiviert werden. Zudem sollten vor einer Zuteilungsentscheidung auch internationale strategische Verlegungen geprüft werden. 77 Sollten weitere Ressourcen nicht erreichbar sein, ergibt sich das Problem, hier eine Reihenfolge, eine Triagierung vorzunehmen. Dies bedeutet eine erhebliche Einschränkung der gebotenen patientenzentrierten Behandlung, da in diesem Moment keine intensivmedizinischen Ressourcen zur Verfü‐ gung stehen. Im Rahmen der COVID-19-Pandemie wurde diese Fragstellung nochmals konkretisiert und ein Algorithmus formuliert, wie mit dieser Frage umzugehen ist. Einhellige Formulierung ist, dass die mit dem Algorith‐ mus verbundene Entscheidung transparent, in sich begründet und ethisch vertretbar ist, um möglichst vielen Patientinnen und Patienten eine medi‐ zinische Versorgung in Krisensituationen zu ermöglichen. Diese Situation wird dahingehend verschärft, als dass Entscheidungen getroffen werden, bei welchen Patientinnen und Patienten intensivmedizinische Maßnahmen begonnen werden und andererseits bei welchen Patientinnen und Patienten intensivmedizinische Maßnahmen zu beenden sind. Mit der Neueinführung des § 5c IfSG wurde ein Mehraugenprinzip bei der Entscheidung über die Zuteilung pandemiebedingt knapper inten‐ sivmedizinischer Kapazitäten bei gegebener Indikation und bestehendem 134 8 Intensivmedizin <?page no="135"?> Patientenwillen eingepflegt. In einem Szenario könnte es dazu kommen, dass sich zwei gleichwertige Handlungspflichten bestehen, jedoch nur eine erfüllt werden kann. Bei dieser Pflichtenkollision erscheint es erlaubt, nur das eine Leben zu retten, da beide Leben nicht gerettet werden können, sich die Handlungspflicht auf Kosten der anderen erfüllt. Bereits zugeteilte überlebenswichtige Behandlungskapazitäten stehen in dieser Konstellation nicht mehr zur Disposition, solange eine intensivmedizinische Behandlung noch indiziert ist und dem Patientenwillen entspricht. An dieser Stelle kommt die Frage auf, welcher Aspekt denn in dieser Situation zum Tragen kommt, jene Frage nach der normativen Begrenzung der Zuteilung von Ressourcen-Effizienz in Konflikt-Situationen. Der indi‐ vidualmedizinische Aspekt hebt sich auf und es tritt eine gesellschaftlich festgelegte Normative auf. Es ergibt sich die Frage, welche Normative eintritt und ob sie gerecht, vielleicht auch fair ist. Bei konkurrierendem Problem er‐ scheint der Losentscheid als gerecht. Eine Warteliste führt auch zu Behand‐ lung von Patienten mit geringen Überlebenschancen. Eine Berücksichtigung der Jüngeren und Gesünderen benachteiligt die Alten und Gebrechlichen. Die Orientierung am Verhalten, etwa hinsichtlich der Bereitschaft an Impf‐ programmen teilzunehmen, benachteiligt jene lebensbedrohlich Erkrankte, deren Behandlung vorenthalten wird. Selbstverschuldung ist im Erkran‐ kungsfall schwierig zu beurteilen. So hat eine sportliche Betätigung einen gesundheitsfördernden Einfluss, wenngleich auch zu beobachten ist, dass hierdurch versorgungspflichtige Verletzungen entstehen. Die Grenzziehung ist schwer und es ist auch die Frage danach zu stellen, wer diese Grenze zu beurteilen hat. Die im Infektionsschutzgesetz verankerte Vorgehensweise schließt eine andere als die aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrschein‐ lichkeit insofern aus, als sich bei gleichwertiger Handlungspflicht, diese auf Kosten der anderen erfüllt. Es gibt also eine ganze Anzahl von Beurteilungskriterien, die zu einer Priorisierung gesundheitlicher Dienstleistungen bei knappen Ressourcen angewendet werden können. Es findet sich bei jedem Versuch der Eingrup‐ pierung aber auch das Dilemma der Diskriminierung. Eine Benachteiligung von Personen und Personengruppen verbleibt. In solchen Konfliktsituatio‐ nen, bei der unterschiedliche potenzielle Nutznießer um knappe Ressour‐ cen konkurrieren, geht es um Ressourceneffizienz im interpersonellen Vergleich. Sie können sich an Anzahl der Überlebenden oder auch an der Qualität des Überlebens orientieren. Wenn also eine medizinische Maßnahme zu einem Überleben führt, bei der auf der einen Seite eine 8.5 Versorgungsstruktur 135 <?page no="136"?> Person überleben würde und auf der anderen Seite fünf Personen gerettet werden können, so entwickelt sich schnell eine Meinung, wie zu verfahren wäre. Würde diese eine Person aufgrund der Maßnahme 20 Jahre überleben und die anderen fünf Personen in unterschiedlicher Weise zwei bis fünf Jahre überleben, entwickelt sich eine neue und vielleicht auch andere Einschätzung der Zuteilungsmodalitäten. Für die Betroffenen egalisiert sich das Problem, denn es ist für jeden oder jede besser gerettet zu werden, als zu sterben. Für die jeweilig Beteiligten ist es, individuell betrachtet, nicht fünffach besser, wenn die größere Gruppe überlebt. Der Tod bleibt ein singuläres und abschließendes Ereignis und betrifft das Individuum existentiell. Moralische Bewertungen können auf die alleinige Handlung, dem Retten eines Menschenlebens oder auf das Handlungsergebnis, dem Nutzen bezogen werden. Der Begriff des Nutzens wird deutlicher, wenn die Anwendung „nützlich“ oder „nutzbar“ mit eingeführt werden. Es geht also um den Nutzen, den die Entscheidung mit sich bringt. Dieser Nutzen kann für sich selbst bewertet werden, es dient dazu, das empfundene individuelle Glück zu fördern. Diese individuelle Präferenzzuordnung unterscheidet sich möglicherweise von der gesellschaftlichen Präferenzordnung. Diese ist abhängig von den alternativen Handlungsmöglichkeiten, den Ansprüchen an ein gelingendes gesellschaftliches Leben, dem situativen Kontext und den Wertevorstellun‐ gen einer Gesellschaft. Wirtschaftliche Entscheidungen bei knappen Ressourcen orientieren sich an einem „Mehr“ gegenüber einem „Weniger“, wobei zunächst unklar bleibt, womit sich dies inhaltlich füllt. Möglicherweise und häufig orientiert sich der Nutzen an dem monetären Wert, der sich mit einer Handlung verbindet oder an dem Steigerungsempfinden der Nutzung, der eingesetzten Güter, womit beispielsweise ein höherer Gewinn erwirtschaftet werden kann. Nun gibt es aber viele nichtmonetäre oder nicht skalierbare Probleme mit unterschiedlichen Ergebnissen aus unterschiedlichen Gesichtspunkten. Taktische Medizin in kriegerischen Auseinandersetzungen hat das Ziel der Aufrechterhaltung der Kampffähigkeit, um das Land und die Freiheit des eigenen Volkes zu verteidigen. Bei der Zuteilung von Intensivkapazitäten bei knappen Ressourcen finden sich unterschiedliche Zielsetzungen, die auch in einem gewissen Widerspruch zueinanderstehen können. Es besteht also das Problem der Messbarkeit und Vergleichbarkeit von Nutzen. Hierzu kann der wohlinformierte, unparteiische Beobachter herangezogen werden. Die zugrundeliegende Präferenzzuordnung ist gesellschaftlich zu definieren, ist 136 8 Intensivmedizin <?page no="137"?> in der Regel ordinal skaliert und erlaubt somit nur eine schwache, nämlich ordinale, interpersonelle Vergleichbarkeit alternativer Handlungen. Wissen | Skalierung Nominalskalen stellen das niedrigste Skalenniveau dar und beschrei‐ ben eine Gruppenzugehörigkeit. Ausprägungen können beschrieben werden, ihr unterliegt aber keine Rangfolge. Kategorisierungen kön‐ nen erfolgen und Häufigkeitsverteilungen können beschrieben werden. Beispiele sind die Blutgruppenzugehörigkeit, das Geschlecht oder die Berufszugehörigkeit. Mathematische Operationen erscheinen hier nicht sinnvoll. Ordinalskalen beschreiben eine Rangfolge von Merkmalen im Sinne von Größe, Menge, Stärke und anderem. Zwischen den Merkmalsau‐ sprägungen besteht eine Rangordnung. Über die Größe der Merkmals‐ unterschiede lässt sich keine Aussage treffen. Schweregrade von Tumor‐ erkrankungen oder eines Herzleidens können so beschrieben werden. Vertraut sind die Vergabe von Schulnoten, die nach Merkmalsausprä‐ gungen erfolgen. Mathematische Operationen sind hier nicht sinnvoll, wenngleich bei Schulnoten die Angabe einer Durchschnittsnote gängig ist. Die Ausprägungen unterscheiden sind nach qualitativen Kriterien, die jedoch untereinander vergleichbar sind. Intervallskalen unterliegen einer metrischen Messgröße und die Aus‐ prägungen lassen sich quantitativ mit Zahlen erfassen. Der Rangun‐ terschied ergibt sich aus dem Abstand der gemessenen Werte. Die Temperaturbestimmung nach Celsius stellt ein solches System dar. Es existiert ein definierter Nullpunkt und die Abstände der Gradzahlen und damit die Änderung der Energiedichte sind gleich. 20° C Außen‐ temperatur werden als angenehm, während 40° C teils als extrem unangenehm empfunden werden. Die Aussage, dass es damit doppelt so heiß geworden ist, kann nicht getroffen werden. Dahingehend sind Differenzen, Summationen und Durchschnittswerte erlaubt, während Multiplikationen nicht erlaubt sind. Verhältnisskalen stellen das höchste Skalenniveau dar. Hier existiert ein absoluter Nullpunkt und die Merkmalsausprägungen werden als Zahl dargestellt. Die Maßeinheit kann dabei willkürlich festgelegt wer‐ 8.5 Versorgungsstruktur 137 <?page no="138"?> den. Preise sind damit darstellbar und auch verrechenbar. Das Lebens‐ alter oder Körpergewicht sind messbar und miteinander mathematisch operationalisierbar. Absolutskalen stellen die Merkmalsausprägung als Zahl dar und es existiert ein natürlicher Nullpunkt. Die verwendete Maßzahl ist gegeben, es handelt sich um eine natürliche Einheit. Für das Merkmal „Belegung eines Krankenhauses“ ist die Anzahl der Patientinnen und Patienten das natürliche Maß mit dem natürlichen Nullpunkt „keine Patienten“. Ebenso wie ein Massenanfall von Verletzten oder Erkrankten in der Notfall- und Katastrophenmedizin verursachte die COVID-19-Pandemie weltweit Situationen, an denen die Anzahl der Respiratoren nicht mehr im Verhältnis standen, den Mehrbedarf zu decken. In der Triagesituation wurde als gerechtigkeitsethische Überlegung das Kriterium der klinischen Erfolgsaus‐ sicht und damit das der höheren Überlebenswahrscheinlichkeit etabliert, wenngleich es seinerzeit an einer gesetzlichen Grundlage und damit an einer demokratischen Legitimation fehlte. Diese Vorgehensweise adressiert alle intensivpflichtigen Patientinnen und Patienten und nicht nur jene, die an COVID-19 erkrankt sind. Alter der Patientinnen und Patienten, deren soziale Merkmale, Grunderkrankungen oder Behinderung werden nicht als Kriterium herangezogen. Die Anzahl vermeidbarer Todesfälle durch Ressourcenknappheit soll dadurch minimiert werden können. Von den dazu gehörenden Fachgesellschaften wurde ein Ablaufplan erstellt, wie Entscheidungen über die Zuteilung intensivmedizinischer Res‐ sourcen im Kontext der COVID-19-Pandemie zu treffen sind. In fachüber‐ greifenden Teams mit Vertretern der Notaufnahme bzw. der Aufnahmesta‐ tion, der Intensivstation und der Pflege soll eine konsensuelle Entscheidung getroffen werden. Ausgehend davon, dass nicht immer dieser Konsens getroffen werden kann, soll eine individuelle, klinikinterne Regelung bei Dissens getroffen werden. Wichtig und auch zwingend sollen die Entschei‐ dungen transparent und offen gegenüber Patientinnen und Patienten, deren Angehörigen und ggf. rechtlichen Vertretungen kommuniziert und auch dokumentiert werden. Der aktuelle klinische Zustand, der bestehende, bereits dokumentierte Patientenwille, die Begleiterkrankungen als auch der anamnestische und klinische Allgemeinzustand vor der Erkrankung werden 138 8 Intensivmedizin <?page no="139"?> hierbei evaluiert. Laborparameter und deren kinetische Entwicklung sowie prognostisch relevante Scores fließen in die Entscheidung ein, die sich vor dem aktuellen Wissenstand, um die COVID-19-Erkrankung zu messen hat. Die Indikation zur intensivmedizinischen Behandlung wird geprüft und es wird die klinische Erfolgsaussicht eingeschätzt, um dann bei vorbesteh‐ ender, anzunehmender oder mutmaßlicher Einwilligung die Priorisierung nach dem Mehr-Augen-Prinzip durchzuführen. Je nach Konsens wird die intensivmedizinische Therapie eingeleitet bzw. fortgeführt oder die inten‐ sivmedizinische Therapie wird nicht eingeleitet, eine palliativmedizinische Versorgung wird gewährleistet. Dieser Prozess ist in sich iterativ und wird beständig reevaluiert. Ein solches Vorgehen stellt einigermaßen klar erkennbare Kriterien auf und ist durch die damit verbundene Dokumentation auch öffentlich zugänglich. Es findet sich hierbei eine nachvollziehbare und detaillierte Begründung für das Vorgehen, wobei die Zuteilungsentscheidung die ver‐ fügbare Evidenz hinsichtlich des gesundheitlichen Nutzens überprüft. Die Zuteilungskriterien und Bewertungsstandards sind weitgehend gleich, so dass Patientinnen und Patienten in vergleichbaren medizinischen Situatio‐ nen auch die gleiche Behandlung erhalten. Die Priorisierungsentscheidung ist nunmehr gesetzlich legitimiert, erfüllt die Empfehlung. Bestehende Inter‐ essenkonflikte und Widerspruchsmöglichkeiten unterliegen klinikinternen Regelungen. Eine konsequente Beachtung der ethischen Grundprinzipien, eine daran ausgerichtete Indikationsstellung, die Einhaltung einer evidenzbasierten Medizin und die Berücksichtigung des Patientenwillens scheinen zu einer besseren Gerechtigkeit, Reduktion von Kosten und zu einer Fairness gegen‐ über Individuum und Sozialgemeinschaft zu führen. Fallbeispiel | Wilhelm K. zeigt in den folgenden Tagen eine weiter‐ gehende Stabilisierung, jedoch ist er vollumfänglich pflegebedürftig und dauerhaft beatmungspflichtig. Er sorgt sich um seine Frau, die er jetzt mit all ihren Belangen alleinlassen muss. Es muss sich fragen, weiterleben zu wollen. Diese Situation ist belastend für das Team und fordert eine ehrliche und offene Kommunikation mit allen daran Beteiligten. 8.5 Versorgungsstruktur 139 <?page no="140"?> Take-Home-Message | Medizinischer Fortschritt führt zu einer Stei‐ gerung der mittleren Lebenserwartung. Insbesondere die Intensivme‐ dizin zählt zu den kostenintensivsten Einheiten einer Klinik und ist zugleich mit besonderen Fragen von Leben und Tod, von Ethik und Moral konfrontiert. Für die erfolgreiche Umsetzung für die sich auf der Intensivstation fokussierenden Aspekte ist ein intensiver Verstän‐ digungsprozess aller Akteure erforderlich. Über- und Unterversorgung sind zu vermeiden, individuelle Therapieziele sind zu definieren. Bei begrenzten Ressourcen sind transparente Verteilungsstrukturen zu eta‐ blieren. Unterschiedliche Erwartungen müssen ausbalanciert werden. 140 8 Intensivmedizin <?page no="141"?> 9 Rehabilitation Fallbeispiel | Horst J. (53) hatte vor zwei Jahren einen Motorradunfall, bei dem er sich hüftgelenksnah einen Oberschenkelbruch auf der rechten Seite zugezogen hatte. Seinerzeit wurde dies mit einem Nagel versorgt. Zwischenzeitlich ist der Bruch geheilt, er hat jedoch immer mehr Schmerzen und wendet sich an einen Orthopäden. Er beklagt wiederkehrende Schmerzen an der rechten Hüfte und sei auf die Einnahme von Schmerzmitteln täglich angewiesen. An Wanderungen des Vereins könne er seit dem Unfall nicht mehr teil‐ nehmen. Beim Tennisverein hat er sich abgemeldet. Er ginge noch ins Sportstudio. Da habe er wenigstens noch ein paar Kontakte außerhalb der Arbeit in seinem Leben. Für den Gartenverein fühlt er sich nicht geeignet und im Kirchenchor sind die Männer zwischen 70 und 90 Jahre alt. Sein Leben sei einsamer geworden. Als Finanzberater müsste er zwar nicht so viel Laufen und dennoch spürt er seine Hüfte im Bürostuhl. Er verspüre auch mehr und mehr Rückenschmerzen. Durch die lange Rehabilitation nach dem Unfall wurde die avisierte Abteilungsleitung an einen anderen Bewerber vergeben. Aufgrund der Schmerzen käme es immer wieder zu Zeiten der Arbeitsunfähigkeit. Das stört ihn selbst und auch seinen Arbeitgeber. Die Ehe sei schwierig. Sie mögen beide das Motorradfahren über die Landstraßen. So ein bisschen Freeclimbing war ihr Ding. Sie hatten viel Spaß, den sie nun nicht mehr so haben. Er spüre selbst, wie dünnhäutig er geworden ist. Immer wieder käme es zu Streitigkeiten mit seiner Partnerin. Der Orthopäde untersucht den Patienten und erkennt ein Schonhin‐ ken der rechten Hüfte mit einer Beinverkürzung um 15 mm. Die Bewegung der Hüfte ist eingeschränkt und auch in alle Richtungen schmerzhaft. Im Röntgenbild erhärtet sich der Verdacht einer post‐ traumatischen Arthrose. Infolge des Unfalles und der erforderlichen Behandlung ist zwar der Bruch gut abgeheilt, aber der Hüftkopf und die Hüftpfanne sind deutlich verschlissen. <?page no="142"?> 9.1 Sozialmedizinischer Kontext Es ergeben sich bei genauer Betrachtung mehrere Problemlagen, die eine Gefährdung zu einer Teilhabe am Arbeitsleben aber auch im gesellschaft‐ lichen Kontext zu berücksichtigen sind. Sind es zunächst Rücken- und belastungsabhängige Hüftgelenksschmerzen, so haben diese Leiden Einfluss auf sein Leben. Als Finanzberater hat er beim Wandel zur Digitalisierung im Finanzsektor gut mithalten können. Große Erfolge konnten erzielt werden, so dass er sehr auf die Abteilungsleitung gehofft hatte. Durch den Unfall kam es aber zu einer längeren Pause und sein berufliches Ziel wurde ihm nicht erfüllt. Die Abteilungsleitung wurde an einen anderen Bewerber vergeben. Habe er früher wegen beruflicher Ereignisse mal nicht gut schlafen können, so sind es jetzt die Schmerzen, die ihm den Schlaf rauben. Hinzu kommen ein erhöhter Blutdruck und ein beginnender Diabetes, was ihn sehr belastet. Er habe auch an Antrieb und Ausdauer verloren. Zwar sei sein Arbeitsplatz ergonomisch gut ausgerüstet und er könne die Position seines Arbeitstisches immer seinen Bedürfnissen anpassen, jedoch könne er nicht mehr so lange und zügig am Stück arbeiten. Auch im Alltag fällt ihm das Tragen von Getränkekisten und das Treppensteigen zunehmend schwerer. Freizeit- und Hobbyaktivitäten sind deutlich eingeschränkt, wenngleich er noch Autofahren könne und auch das Trike benutzen könne. Anfangs habe er die Beschwerden verdrängt, nahm mehr Medikamente gegen die Schmerzen ein und habe auch vermehrt Alkohol getrunken. Er habe sich immer weniger getraut, sich zu bewegen, was auch zu einer deutlichen Gewichtszunahme geführt hatte. Auch fühle er sich nicht mehr so attraktiv wie früher. Er habe Angst, dass - wenn es weiter so läuft - er seine Frau und den Job verlieren würde. Seine vorhandenen Bewältigungs‐ kompetenzen sind zunehmend überfordert. In dieser komplexen Betrachtung erscheint es zweifelhaft, dass ein neues künstliches Hüftgelenk die Problemlage ausreichend adressiert. Es zeigen sich eine ganze Anzahl an therapeutischen Ansätzen, hier eine Verbesserung zu erzielen. Dabei kann ein neues künstliches Hüftgelenk eine Option dar‐ stellen. Dieser Eingriff stellt eine Möglichkeit dar, wenn unter konservativen Maßnahmen keine Besserung zu erzielen ist. Der typische Fall kennzeichnet sich durch mittelgradige bis stärkere körperliche Schädigungen, die in Zusammenhang mit der vorliegenden Gesundheitsstörung stehen. Privat wie beruflich liegen keine bis geringere psychosoziale Belastungen vor. Es zeigen sich keine belastenden Konflikte in 142 9 Rehabilitation <?page no="143"?> 78 Westphal, S.; Schäfer, S.; Steinmetz A.; Zurück ins Leben trotz Schmerzen - Rehabilita‐ tion. In: Manuelle Medizin 2022 (60): 136-142 79 Wolff, S.V.; Willburger, R. et al. Avoidance-Endurance-Fast-Screen (AE-FS). In: Schmerz 2018 (32): S.-283-292 der Familie oder im Freundes- und Bekanntenkreis. Ebenso existieren keine Arbeitsplatzkonflikte. Die entscheidende psychosoziale Belastung ergibt sich jedoch aus der Diskrepanz zwischen gewohnter beruflich-sozialen Aktivität und den vorhandenen körperlichen und sozialen Kompetenzen mit Beeinträchtigung der Teilhabe im Erwerbs- und Privatleben. Der Lei‐ densdruck ergibt sich durch die Ungewissheit, wie es gesundheitlich und damit auch beruflich und sozial weitergeht. Finden sich hier grundsätzlich Stress- und Konfliktbewältigungsstrategien zeigen sich dennoch maladap‐ tive Krankheits- und Schmerzbewältigungsstrategien. Schmerzchronifizie‐ rung ist die Folge. Die subjektiv wahrgenommene Schmerzintensität und -beeinträchtigung fällt hoch bis sehr hoch aus. Wissen | Avoidance-Endurance-Modell des Schmerzerlebens 78 , 79 Biographische Ereignisse, Lebenserfahrung und persönliche Lernpro‐ zesse formen Schmerzverständnis und -verarbeitungsmuster. Im Um‐ gang mit Stress finden sich konstruktiv-adaptive als auch nega‐ tiv-maladaptive Verarbeitungsmuster. Das Avoidance-Endurace-Modell identifiziert unterschiedliche Verhaltensmuster bei Schmerz. ● Furcht-Vermeidungs-Typ (fear-avoidance-responses) Ausgelöst durch bedrohliche Interpretation der Schmerzen sowie die Aufmerksamkeitsverlagerung auf den Schmerz kommt es zur Vermeidung von Aktivitäten. Die Angst vor dem Schmerz führt zur Bewegungsvermeidung. Situationen, die Schmerzen auslösen können werden frühzeitig abgebrochen oder ganz vermieden. ● Depressiv-suppressiver Typ (distress-endurance-responses) Gedanken an Schmerz und Schmerzerleben werden unterdrückt, um so weit als möglich Arbeits- und Sozialleben aufrecht zu erhalten. Trotz depressiv-gereizter Stimmungslage zeigt sich ein ausgepräg‐ tes Durchhalteverhalten trotz starker Schmerzen. 9.1 Sozialmedizinischer Kontext 143 <?page no="144"?> ● Depressiv-heiterer Typ (eustress-endurance-responses) Fokussierte Ablenkung und Aufrechterhaltung zeigt sich ein Durch‐ halteverhalten trotz starker Schmerzen. Mit Zuversicht und po‐ sitiver Stimmung wird versucht, den Schmerz zu unterdrücken oder zu ignorieren. Scheinbar zeigt sich eine schnellere Erholung. Langfristig kommt es zu kompliziertem Behandlungsverlauf bei suboptimaler Belastung. ● Adaptiver Typ Unterschiedliche Coping-Strategien stehen zur Verfügung. Flexibel können Vermeidungs- und Durchhaltestrategien angewendet wer‐ den, die zu nachhaltigen Verhaltensstrategien und zu einer langfris‐ tigen Schmerzreduktion führen. Das Prinzip der Rehabilitation baut hierbei auf die vorhandenen Fähig‐ keiten und Ressourcen auf, mit dem Ziel sowohl im individuellen Ansatz als auch im Sinne der Solidargemeinschaft das eigene Potenzial zu aktivieren und zu stärken, Bewältigungsstrategien zu entwickeln sowie die Effektivität im täglichen Leben zu fördern. Bestehende Beeinträchtigungen sind zu adressieren, um die soziale Rolle im gesellschaftlichen Lebenskontext wieder zu gewinnen. Rehabilitation versteht sich als Instrument zur Versorgung und Reintegration chronisch erkrankter Menschen oder Menschen mit Be‐ hinderungen und hat eine wesentliche Funktion zum Nutzen des Einzelnen als auch der Solidargemeinschaft. Sie dient auch der Prävention weiterer Krankheitsentwicklungen. Zeigt sich in der Medizin das Bestreben auf eine Abheilung einer Erkrankung ohne bleibende Schäden (Restitutio ad integrum), so ergeben sich auch Aspekte, in der individuellen Situation eine Besserung im Krankheitsleiden zu erzielen (Resitutio ad optimum). Grundlage zur Beurteilung einer Rehabilitationsbedürftigkeit sind mehr die individuellen Krankheitsauswirkungen und Krankheitsfolgen auf allen bio-psychosozialen Ebenen der Internationalen Klassifikation der Funktionen (ICF - International Classifikation of Functioning) als die alleinige Beurteilung von Diagnose (ICD - International Statistical Classi‐ fication of Diseases and Related Health Problems) und Prozedur (ICPM - International-Classification of-Procedures in-Medicine). 144 9 Rehabilitation <?page no="145"?> 80 Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG); Bun‐ desqualitätsbericht 2022 vom 28. Oktober 2022 (QS-Verfahren 15: Knieendoprothesen‐ versorgung QS TEP) Exkurs: Die Beschreibung einer Funktion beschreibt nicht die Aktion, die damit verbunden ist. In der Knieendoprothetik spielt das Bewe‐ gungsausmaß eine wichtige Rolle. Bei etwa 150.000 endoprothetischen Primär-Versorgungen des Kniegelenkes wird als wesentlicher Indikator für das Outcome, also für das Ergebnis nach einem Jahr eine erreichte Kniegelenksbeugung (Flexion) von 90° zum Zeitpunkt der Entlassung angesetzt. Dabei konnten im Erfassungsjahr 2021 insgesamt 92,35 % eine Beugefähigkeit von 90° erreichen. Die mit dem Bewegungsausmaß einhergehende Aktion stellt die Geh‐ fähigkeit dar. Die Rate derer, die nach der Operation gehunfähig waren war um 22 % erhöht, als es anhand der Vorjahresergebnisse zu erwarten gewesen wäre, bei gleicher Grundgesamtheit der operier‐ ten Patientinnen und Patienten. Gründe hierfür könnten in einer pandemiebedingten verfrühten Krankenhausentlassung zum Schutz vor Ansteckung oder in einer verspäteten Versorgung durch Aufschub planbarer Operationen während der Pandemie liegen. Offen bleibt weiterhin die Frage, ob der Gelenkersatz zur Verbesserung von Lebensqualität und der Schmerzen der Patientinnen und Patienten geführt hat und die Erwartungen an das neue Gelenk erfüllt werden, da es an einem Assessment hierzu fehlt. 80 Rehabilitation ist dann angezeigt, wenn bestehende gesundheitliche Beein‐ trächtigung (körperlich, geistig oder seelisch) einer mehrdimensionalen und interdisziplinären Versorgung bedürfen, um Beeinträchtigung zur Teilhabe am gesellschaftlichen und beruflichen Leben zu vermeiden, zu verbessern, zu beseitigen, auszugleichen oder eine Verschlimmerung zu verhüten und das unter Berücksichtigung der individuellen Kontextfaktoren. Fallbeispiel | Natalia K. (56) ist als Produktionshelferin in einem kunststoffverarbeitenden Betrieb zur Herstellung von Bauteilen von Staubsaugern tätig. Hierbei stanzt sie Bauteile aus, entgratet diese und übernimmt einzelne Montagearbeiten. Aufgrund eines jahrzehn‐ telangen Rückenleidens und zunehmender Schulterleidens ist sie 9.1 Sozialmedizinischer Kontext 145 <?page no="146"?> seit 10 Monaten arbeitsunfähig erkrankt. Die Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit ist gefährdet. Seit dem Tod ihres Ehemannes vor vier Jahren ist sie alleinstehend und lebt in einer 3-Zimmer-Mietwohnung. Sie erfährt Unterstützung durch ihre beiden erwachsenen Kinder, die im gleichen Ort wohnen. 9.2 Voraussetzungen Entscheidende Voraussetzung für eine Rehabilitation ist es, als Rehabilitand oder Rehabilitandin konstruktiv und aktiv mitwirken zu wollen und dies auch zu können. Die Rehabilitationsfähigkeit beinhaltet sowohl somati‐ sche als auch psychische Kompetenz zur erfolgreichen Teilnahme am Reha‐ bilitationsprozess. Angesichts des Bestrebens einer möglichst frühzeitigen Verlegung hat dies bei der Anschlussrehabilitation etwa nach Operationen an Hüft- oder Kniegelenken als auch nach stattgehabter Wirbelsäulenope‐ ration eine Bedeutung. Die Rehabilitationsvoraussetzungen können je nach Träger und den damit verbundenen Rehabilitationszielen sowie auch von Indikation und Alter unterschiedlich sein. Bei langandauernder Arbeitsunfä‐ higkeit ergibt sich die Fragestellung einer dauerhaften Erwerbsunfähigkeit, die es im Rahmen einer Rehabilitationsmaßnahme einzuschätzen gilt. Die Rehabilitationsziele unterscheiden sich je nach Sozialleistungst‐ rägern entsprechend ihrer Hauptaufgabe. Bei der Krankenversicherung dient die Maßnahme vorrangig dazu, Behinderung oder Pflegebedürftigkeit abzuwenden oder ihre Folgen zu mildern. Rentenversicherungen haben das Ziel einer Erwerbsunfähigkeit entgegenzuwirken. Gesetzliche Unfall‐ versicherungen haben den Unfallverletzten beruflich und sozial zu integrie‐ ren. Pflegeversicherungen möchten Pflegebedürftigkeit vermeiden oder ihr Fortschreiten verhindern. Arbeitslosenversicherung strebt die Wieder‐ erlangung einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit an. Es existieren weitere Träger mit unterschiedlichen Bedürfnissen an die Rehabilitation. Die Rehabilitationsprognose dient zur Einschätzung der Wahrschein‐ lichkeit, inwieweit das jeweilige Ziel erreicht werden kann. Konstruktive Re‐ habilitationsziele sind im individuellen Arzt-Patienten-Verhältnis in einem gemeinsamen Abstimmungsprozess zu konkretisieren, um eine positive Rehabilitationsprognose zu erlangen. Übergeordnetes und für die Solidar‐ 146 9 Rehabilitation <?page no="147"?> gemeinschaft erstrebenswertes Ziel ist, eine verlängerte Erwerbsfähigkeit zu gewähren. Wissen | Versorgungsstruktur Rehabilitation Etwa 1100 stationäre Versorgungseinrichtungen behandeln knapp 1,6 bis 2 Millionen Rehabilitandinnen und Rehabilitanden. Die mittlere Verweildauer beträgt etwa 25 bis 30 Tage und die durchschnittliche Bettenauslastung beträgt etwa 80 %. Etwa 600 Kliniken befinden sich in privater Trägerschaft, gut 300 Kliniken in freigemeinnütziger und etwa 200 Kliniken in öffentlicher Trägerschaft. Hauptanliegen sind Erkrankungen des Muskelskelett-Systems und des Bindegewebes, ge‐ folgt von psychiatrischen Erkrankungen und Verhaltensstörungen. Es folgen Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems und der Lunge sowie Krebserkrankungen. Die Kliniken refinanzieren sich in der Regel durch indikationsspezi‐ fische Tagessätze zuweilen auch durch Fallpauschalen. Bundesweit fallen Kosten von etwa 40 Milliarden Euro an, geleistet von den unter‐ schiedlichsten Kostenträgern, Tendenz steigend. Mehr als die Hälfte der Kosten leisten Träger der Eingliederungshilfe, die in erster Linie Maßnahme für die Teilhabe behinderter Menschen finanzieren. Auf die Rentenversicherung entfallen knapp 20 % der Gesamtkosten, um vor‐ nehmlich eine Wiedereingliederung in das Berufsleben zu ermöglichen. Gesetzliche Unfallversicherung, gesetzliche Krankenversicherung und die Bundesagentur für Arbeit sind weitere Kostenträger. 9.3 Gesundheitsökonomische Aspekte Die für die Rehabilitationsmaßnahmen zuständigen Sozialleistungsträ‐ ger refinanzieren sich zu weiten Teilen paritätisch aus Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteilen. Die gesetzliche Unfallversicherung finanziert sich ausschließlich durch Arbeitgeberbeiträge. Die gesetzliche Rentenversiche‐ rung erhält zusätzlich einen Bundeszuschuss. Leistungen zur medizinischen Rehabilitation werden durch den zuständigen Rehabilitationsträger bewil‐ ligt. Das Antragsverfahren für geriatrische Rehabilitation und Anschluss‐ rehabilitation ist vereinfacht worden, somit ist es ein niederschwelliges 9.3 Gesundheitsökonomische Aspekte 147 <?page no="148"?> 81 Diehl; C., Kreiner; C.; Diehl R.; Kurs- und Lehrbuch Sozialmedizin. Deutscher Ärzte‐ verlag 2021, S.-325 Angebot geworden. Ein neues Verfahren stellt das Persönliche Budget dar, bei dem Leistungsempfänger die bewilligte Leistung als Geldbetrag erhält und somit über Inhalt und Art frei verfügen kann. Dies kann auch als trägerübergreifendes Angebot im Sinne einer Komplexleistung umgesetzt werden und grundsätzlich alle Leistungen zur Teilhabe beinhalten. Infolge des demographischen Wandels werden im Rentensystem Anpas‐ sungen vorgenommen, insofern einerseits das Renteneintrittsalter schritt‐ weise erhöht wird und andererseits die Möglichkeit der Frühberentung begrenzt wird. Dies erfordert in Fragen der Rehabilitation eine verbesserte Behandlungseffizienz und einen optimalen Behandlungserfolg, der auch dadurch definiert ist, Erwerbsminderung zu vermeiden. Stationäre Rehabi‐ litationsmaßnahmen refinanzieren sich bereits dadurch, als dass eine Früh‐ rentenzahlung bei Erwerbsminderung um etwa 3 - 4 Monate hinausgezögert wird. 81 Wissen | Erwerbsminderungsrente Liegen bei einem Beschäftigten oder einer Beschäftigten eine schwere oder chronische Erkrankung vor, die es nicht mehr oder nur stun‐ denweise erlauben, einer Beschäftigung nachzugehen, dann zahlt die gesetzliche Rentenversicherung unter bestimmten Voraussetzungen eine Rente wegen Erwerbsminderung. Zu den allgemeinen Voraus‐ setzungen gehört, dass die Beitragsleistungen erzielt worden sind und die Regelarbeitsgrenze noch nicht erreicht worden ist. Zudem gilt der Grundsatz „Reha vor Rente“. Durch medizinische oder berufliche Rehabilitation kann womöglich die Erwerbsfähigkeit wiederhergestellt werden. Ist dies nicht möglich, wird geprüft, in welchem Umfang ein Leistungsvermögen in der letzten sozialversicherungspflichtigen Tätig‐ keit und auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gegeben ist oder ob eine Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung zu bewilligen ist. Insbesondere Personen mit einer niedrigen sozialen Position, die durch niedrigen Bildungsgrad, geringes Einkommen oder niedrige Position im Berufsleben gekennzeichnet sind, unterliegen höheren gesundheitlichen 148 9 Rehabilitation <?page no="149"?> 82 Götz, S.; Dragano N.; Wahrendorf M.; Soziale Ungleichheiten der Erwerbsminderung bei älteren Arbeitnehmern.In: Z Gerontol Geriat 2019 (52, Suppl 1): S 62 - 69 83 Brzoska, P.; Razum, O.; Inanspruchnahme medizinischer Rehabilitation im Vorfeld der Erwerbsminderungsrente. Vergleich ausländischer und deutscher Staatsangehöriger unter besonderer Berücksichtigung von (Spät-)Aussiedler/ -innen. In: Z Gerontol Geriat 2019 (52, Suppl 1): S 70-71 84 Dannenmaier, J.; Tepohl, L.; Immel, D. et al. Effekt der Rehabilitation auf den verzöger‐ ten Eintritt in die Berentung aufgrund von Erwerbsminderung. In: Rehabilitation 2020 (59): S.-10-16 85 Schöer, S.; Mayer-Berger, W.; Pieper C.; Weniger Erwerbsminderungsrenten nach der kardiologischen Rehabilitation durch intensivierte Nachsorge? In: Rehabilitation 2021 (60): S 273-280 Belastungen sowohl im Arbeitsleben als auch hinsichtlich des Gesundheits‐ verhaltens. 82 Es steht zu erwarten, dass sich durch eine Anhebung der Altersgrenze für die Altersrente die Problematik verschärft, wenn sich die Rahmenbedingungen für Arbeit im Alter nicht verändern. Mehrere Studi‐ enlagen zeigen, dass nach schwerer Erkrankung eine Rückkehr in das Er‐ werbsleben von sozioökonomischen Faktoren, wie niedrige soziale Schicht, niedriges Einkommen, geringerer Bildungsgrad und angehörig einer Berufs‐ gruppe mit geringer Qualifikation und hoher körperlicher Beanspruchung abhängig ist und dadurch erschwert ist. Die Problematik verschärft sich für jene, die zwar prinzipiell über das mittlere Alter der Frühberentung hinaus arbeiten könnten, jedoch aus gesundheitlichen Gründen nicht über die Regelaltersgrenze arbeiten können. Dies betrifft vorwiegend Menschen im 5. Lebensdezennium, Menschen, die prinzipiell mitten im Leben stehen und einen Beitrag für die Solidargemeinschaft insbesondere durch ihre jahrzehntelange Erfahrung leisten können. Ausländische Staatsangehörige nehmen Rehabilitation im Vorfeld der Erwerbsminderungsrente seltener als deutsche Angehörige in Anspruch. Es ergeben sich Schnittstellenprobleme zwischen den Akteuren. 83 Andererseits gibt es positive Ergebnisse zu berichten. Rehabilitanden beziehen bei chronischem Rückenschmerz nach einer Maßnahme im Mittel 7,1 Monate später die Rente als Nicht-Rehabilitanden. 84 In einer kardiolo‐ gischen Gruppe zeigte sich, dass eine über die Rehamaßnahme hinausge‐ hende Teilnahme an Nachsorgeprogrammen, die insbesondere einer engen persönlichen Unterstützung unterliegen, den Effekt unterstützen, um eine Erwerbsminderungsrente zu vermeiden. 85 Bei psychischen Erkrankungen stellt sich die Problematik schwieriger dar. Eine alleinig symptomorien‐ tierte Rehabilitation führt bei Patientinnen und Patienten mit einer vollen 9.3 Gesundheitsökonomische Aspekte 149 <?page no="150"?> 86 Kobelt, A.; Grosch; E; Hesse, B.; Gebauer, E.; Gutenbrunner C.; Wollen psychisch erkrankte Versicherte, die eine befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung beziehen, wieder ins Erwerbsleben eingegliedert werden? In: Psychother Psych Med 2009 (59): S 273-280 87 Bethge, M; Rehabilitation und Teilhabe am Arbeitsleben. In: Bundesgesundheitsbl 2017 (60): S.-427-435 88 Schöwe, L.; Kröger, C.; Kobelt-Poenicke A.; Berentung wegen voller Erwerbsminde‐ rung: Erfüllen psychiatrische Gutachten die Qualitätskriterien für die sozialmedizini‐ sche Begutachtung? In: Rehabilitation 2022 DOI: 10.1055/ a-1932-3079 Erwerbsminderungsrente nicht zu einer erhöhten Wiedereingliederungs‐ quote. Es erscheint sinnvoll hier ein individualisiertes Case-Management aufzubauen und eine enge Begleitung zu ermöglichen, um doch noch eine Wiedereingliederung in die Arbeitswelt zu erzielen. 86 Insgesamt zeigen randomisierte, kontrollierte Studien, deren Übersichten und Metaanalysen das multidisziplinäre Rehabilitationsprogramme bei Erkrankungen wie chronische Rückenschmerzen, Depression und Krebserkrankung die Teil‐ habe am Arbeitsleben und die berufliche Wiedereingliederung verbessern sowie Fehlzeiten reduzieren. 87 Andererseits zeigen die abschließenden Gutachten eine zuweilen unzu‐ reichende Darstellung der Funktions- und Teilhabeeinschränkungen, die dem tatsächlichen Sachverhalt nicht gerecht werden, so dass der Beweis einer Gesundheitsstörung mit den entsprechenden Leistungseinschränkun‐ gen nicht zweifelsfrei erbracht werden kann, wie sich dies beispielsweise bei psychischen Störungen aufweisen lässt. 88 Bei somatischen Indikationen wird hier kein besserer Befund zu erheben sein. Fallbeispiel | Zu einem Hüftgelenkersatz konnte sich der Patient Horst J. (53) nicht entschließen. Mit seinem Hausarzt hat er sich mit den Themen Bewegung, Ernährung und Gewichtsreduktion ausein‐ andergesetzt. Rehasport und Ernährungsberatung zeigten ihm neue Wege. In einer stationäre Rehamaßnahme wurde eine multimodale Schmerztherapie nach dem bio-psychosozialen Modell durchgeführt, wovon er sehr profitierte. Zugleich konnte er sich in Einzel- und Gruppengesprächen mehr und mehr bewusstwerden, welche Ziele er weiterverfolgen möchte. Perspektiven haben sich aufgebaut. Nach vier Monaten der Arbeitsunfähigkeit konnte er gemeinsam mit der Sozialarbeiterin einen Plan zur stufenweisen Wiedereingliederung 150 9 Rehabilitation <?page no="151"?> erstellen und mit dem Arbeitgeber noch während der Rehabilitation vereinbaren. 9.4 Gesellschaftliche Bedeutung In Fragen der Rehabilitation ergibt sich eine umgekehrte Allokationsprob‐ lematik. Es geht in dieser Frage um den Erhalt von Arbeitsfähigkeit und Teilhabe am System der sozialversicherungspflichtigen und somit auch steuerlichen Gemeinschaftsaufgabe. Begrenzte Ressource ist die Teilhabe am Arbeitsleben und Gemeinschaftsleben. Insofern müssen Rahmenbedin‐ gungen geschaffen werden, um eine Arbeitsfähigkeit zur erhalten und auch altersentsprechende Rahmenbedingungen zu schaffen. Angesichts einer Verlängerung der Lebensarbeitszeit, stellt dies für die Gesellschaft eine besondere Herausforderung dar. Es erscheint, dass somatisch bedingte Einschränkungen in der Abwägung, früher aus dem Arbeitsleben auszuscheiden, von nachrangiger Bedeutung sind. Gesundheit und Krankheit werden multidimensional im sozioökono‐ mischen Kontext interpretiert. Subjektive Bewertung der persönlichen Leis‐ tungsfähigkeit, persönliche Einstellung zur chronischen Erkrankung und in‐ dividuelle Bewältigungs- und Anpassungskompetenz vor dem Hintergrund einer den Bedürfnissen einer älterwerdenden Generation nicht gerecht wer‐ denden Arbeitswelt haben einen Einfluss auf die individuelle Entscheidung. Studienlagen zeigen, dass der subjektive Bewertungsprozess durch ärztliche Beratung und soziale Unterstützung positiv beeinflusst werden kann. Inso‐ fern erscheinen eine zeitnahe und transparente Aufklärung der Patientinnen und Patienten im Rehabilitationsprozess, eine gemeinsame Betrachtung medizinischer und beruflicher Rehabilitation und Berücksichtigung der individuellen multidimensionalen Bilanzierung erfolgversprechend. In einer für die Patientinnen und Patienten belastenden Situation, sich krankheitsbedingt nicht mehr leistungsfähig zu fühlen und auch zu sein, stellt die Erwerbsminderungsrente eine Option dar, um eine vermeintliche finanzielle Sicherheit zu erlangen, sich eines wesentlichen Stressfaktors zu entledigen. Die Folge ist das soziale Abseits, bei dem weder eine ausrei‐ chende finanzielle Sicherung noch eine soziale Aufwertung erzielt werden. Das Gefühl, nicht mehr leistungsfähig zu sein, sich isoliert zu fühlen, kann zu Gefühlen von Angst, Scham, Einsamkeit führen, das Gefühl von der 9.4 Gesellschaftliche Bedeutung 151 <?page no="152"?> Welt nicht mehr verstanden zu werden. Inaktivität und sozialer Rückzug verstärken Krankheit und Einsamkeit. Take-Home-Message | Aus individueller, medizinischer und sozioöko‐ nomischer Sicht stellen Teilhabe am Leben und Teilhabe am Arbeits‐ leben wichtige Faktoren für individuelle und gesellschaftliche Gesund‐ heit dar. Partizipation am gesellschaftlichen Leben, aktiv auf andere Menschen zuzugehen, Erwartungen realistisch einschätzen und soziale Unterstützung stellen wichtige patientenseitige Faktoren dar, individu‐ elle Resilienzfaktoren zu stärken. Zugleich sind auf dem Arbeitsmarkt Rahmenbedingungen, wie Räume für Lebenslanges Lernen, den Be‐ dürfnissen älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer angepasste Arbeitsplätze, Besserung der Sozialkompetenz in den Betrieben sowie altersgerechte Arbeitszeitmodelle neu zu denken und umzusetzen. 152 9 Rehabilitation <?page no="153"?> 89 Thelen, M.; Scheidt-Nave, C.; Schaeffer, D. et al. Nationales Gesundheitsziel „Gesund älter werden“. Handlungsfeld II: Medizinische, psychosoziale und pflegerische Versor‐ gung älterer Menschen. In: Bundesgesundheitsbl 2012 (55): S.-991-997 10 Geriatrie Alter ist in Deutschland eine Frage des Geldes. Ein wachsender Teil der Bevölkerung hat zu wenig, um über die Runden zu kommen. „Ich habe nur 250 € im Monat zur Verfügung. Für alles. Das ist so bitter. Es geht nicht …, dass man teilweise wirklich damit nicht auskommt. Auf der anderen Seite der Gesellschaft ist Geld dagegen kein Problem. Hier hat man genug zu einem Lebensabend. „Ich habe knapp 40 Quadratmeter, das Fenster geht nach Osten, wenn die Sonne aufgeht, lacht sie mir ins Gesicht. Wir haben im Grunde den ganzen Tag zur freien Verfügung.“ Das Leben im Alter ist mit einem Segen oder einem Fluch gesegnet. 10.1 Ausgangslage Noch schwieriger wird es, wenn man im Alter auf Pflege angewiesen ist. Ein Schicksal, dass immer mehr Menschen treffen wird. „Ich denke, dass immer größere Probleme auf uns zukommen werden. Das ist für mich nur die Spitze des Eisberges. So viele Leute haben keine Angehörigen.“ Mit dem Prozess der demographischen Entwicklung ergeben sich Veränderun‐ gen von Gesundheit und Krankheit einer älter werdenden Gesellschaft. Gesundheitsrelevante Handlungsfelder von Prävention, Übergang in den beruflichen Ruhestand sowie Gesundheitsförderung bis hin zur medizini‐ schen, psychosozialen und pflegerischen Versorgung stellen die Gesellschaft vor besondere Herausforderungen. Wissen | Faktenübersicht 89 Herzerkrankungen stellen die häufigste Diagnose für Krankenhausbe‐ handlung und für den Todesfall im Alter dar. Etwa jede zehnte stationäre Behandlung in der älteren Bevölkerung erfolgt wegen einer Krebser‐ <?page no="154"?> krankung. Im Jahr erleiden 130.000 bis 140.000 Personen, hauptsächlich Patientinnen und Patienten im hohen und höchsten Alter eine hüftge‐ lenksnahe Fraktur, was zu einer dauerhaften Pflegbedürftigkeit führen kann, aber auch mit einer hohen Sterberate verbunden ist. 3 von 5 Patienten leiden an 2 bis 4 Erkrankungen. Jeder fünfte Patient und jede fünfte Patientin an 5 und mehr Erkrankungen. Ein Viertel der betroffenen Personen über 65 Jahren leiden an psychi‐ schen Erkrankungen. Jede zehnte Person leidet an einer Depression. Die Häufigkeit von Demenzen liegt bei den 65bis 69-Jährigen bei etwa 1,5 %, verdoppelt sich im Abstand von jeweils etwa 5 Altersjahren und steigt bei den 90-Jährigen und Älteren auf über 30 % an. In vergangenen Jahren fehlten bei den 65bis 74-jährigen Frauen durchschnittlich 14,9 Zähne und den Männern durchschnittlich 13,3 Zähne (ohne die Weisheitszähne). 25,2 % der Frauen und 19,6 % der Männer waren vollständig zahnlos. Etwa jede vierte Person zwischen 75 und 84 Jahren gibt an, aufgrund von Sehproblemen selbst mit Brille Schwierigkeiten beim Lesen einer Zeitung zu haben. Rund jeder vierte Mann zwischen 75 und 84 Jahren berichtet über Schwierigkeiten mit dem Hören beim Telefonieren, auch dann, wenn ggf. ein Hörgerät benutzt wird. Etwa ein Drittel der Frauen im höheren Lebensalter (ab 80 Jahren) gaben an, von Harninkontinenz betroffen zu sein, Männer nur geringfügig seltener. Zweifelsfrei wird von einem zunehmenden Bedarf an Betreuung und Versorgung einer älter werdenden Gesellschaft auszugehen sein. Hieraus ergeben sich neu zu denkende gesundheitliche, psychosoziale und pfle‐ gerische Versorgungsstrukturen, bei der alle Professionen und Akteure eingebunden sind. Präventive, therapeutische, rehabilitative Maßnahmen sowie beratende Dienste sind in einem patientenkonzentrierten Konzept sektorenübergreifend zu strukturieren. Gesundheit im Alter ist hierbei ein mehrdimensionales Geschehen: Krankheit, funktionaler Status, aktive Lebensgestaltung, Umgang mit Belas‐ tungen, medizinisch pflegerische und soziale Versorgung sind Kenndaten, die in der Prävention vor und im Alter zu adressieren sind. 154 10 Geriatrie <?page no="155"?> Fallbeispiel | Anneliese F. (74) wird zur Anschlussrehabilitation nach einer stationären Behandlung bei einem chronischem Rückenleiden aufgenommen. Die Neurochirurgische Klinik hat eine Operation einer Spinalkanalstenose im unteren Rücken abgelehnt, weil sich in der Gesamtbetrachtung ein erheblich erhöhtes Risikoprofil für den ope‐ rativen Eingriff aufzeigt. Es bestehen erhebliche Begleiterkrankungen, wie ein insulinpflichtiger Diabetes mellitus, eine arterielle Hyperto‐ nie, die mit mehreren Medikamenten schwierig einzustellen ist, als auch eine Niereninsuffizienz höheren Grades. Bei einer Körpergröße von 172 cm hat sie ein Körpergewicht von 127 kg, es besteht eine Adipositas III°. Sie ist ständig auf die Verwendung eines Rollators angewiesen. Die Patientin ist völlig überrascht, und fragt sich, wie es weitergehen soll. Bis zu jenem Tag der stationären Einweisung sei alles gut gelau‐ fen. Sie habe sich immer zusammengenommen und alles geschafft. Als Fleischereifachverkäuferin, war sie sich zu keiner Arbeit zu schade und hat immer die Vertretung übernommen. Zwar hat sich die Fami‐ lie überlegt, eine behindertengerechte Wohnung einzurichten. Jetzt sei aber alles so schnell gekommen. Für die Wohnung benötigt es noch zwei Monate, bis sie hergestellt ist. Nach der Rehabilitation ist eine Kurzzeitpflege zur Überbrückung angedacht. Die Kranken- und Pflegekasse bewilligt jedoch eine Kurzzeitpflege nicht, da die Rehabilitationsmaßnahme doch der Wiederherstellung diene. 10.2 Alter Mit dem Alterungsprozess, der bereits mit dem 40. Lebensjahr beginnt, kommt es zu einer zunehmenden Verletzlichkeit und Einschränkung der Funktionsfähigkeit des Organismus. Realitäten des 80-Jährigen Menschen: Gehirndurchblutung und Nervenleitgeschwindigkeit nehmen ab. Die Herz‐ leistung beim alten Menschen vermindert sich um die Hälfte und das Schlagvolumen vermindert sich um ein Drittel. Die Vitalkapazität der Lunge vermindert sich auf die Hälfte der ursprünglichen Leistung, Die Sauerstoffaufnahmekapazität ist um mehr als die Hälfte eingeschränkt. Die Nierenfunktion nimmt um ein Drittel ihrer ursprünglichen Funktion ab, in 10.2 Alter 155 <?page no="156"?> 90 Kruse, A.; Alterspolitik und Gesundheit. In: Bundegesundheitsbl Gesundheitsforsch Gesundheitsschutz 2006 (49): S 513-522 91 Kruse, A.; Alterspolitik und Gesundheit. In: Bundegesundheitsbl Gesundheitsforsch Gesundheitsschutz 2006 (49): S 513-522 gleicher Weise vermindert sich die Muskulatur. Seh- und Hörverlust nehmen in erheblichem Maße zu. Diese Veränderungen sind physiologisch und sind auch krankmachend. Dabei stehen die zu beobachtenden Veränderungen in einer Wechselwirkung. Es kommt zu Bildung von Krankheitsketten, früher kommt es zu einer Dekompensation. Zu der körperlichen Leistungs‐ einschränkung kommt es zu einer Störung des seelischen Gleichgewichtes. 90 Eine bleibende Behinderung nach Eintreten chronischer Erkrankungen verbleibt insofern unvermeidbar, deren Ausprägung eng mit dem soziode‐ mographischen Kontext korreliert. Sind die Rahmenbedingungen schlecht, so zeigt sich eine höhere Krankheitslast. Ist etwa ein Drittel der Bevölkerung im 80-Jährigen und etwa die Hälfte der über 90-Jährigen pflegebedürftig, so sagt dies im Umkehrschluss aus, dass ein erheblicher Anteil älterer Menschen bis ins höchste Alter nicht pflegebedürftig ist. Auch bis in das hohe Alter bestehen Rehabilitationspotenziale. Schnitt‐ stellenprobleme zwischen Krankenversicherung und Pflegeversicherung aber auch zwischen ambulanter und stationärer Versorgung sind zu über‐ winden. Fallpauschalen, werden insbesondere bei der Generation im hohen und höchsten Altem nicht gerecht. Es ist zu erkennen, dass nach Einführung der Fallpauschalen Patientinnen und Patienten mit einem geringeren Grad an Selbstständigkeit aus den Kliniken und Rehabilitationseinrichtungen entlassen werden. 91 Exkurs: Perdasdefogu ist als Dorf der Hundertjährigen bekannt und hat es damit in das Guinness-Buch der Rekorde geschafft. „Record mondiale sella longevita familiare“ findet sich am Eingangsschild der kleinen Stadt. Ein kleines Dorf im Bergland auf Sizilien gelegen, mit knapp 2000 Einwohnern. Hier finden sich wohl die meisten der über 100-Jährigen. Annuziata Stori sei die wohl jüngste der 100-Jährigen im Ort. Lebhaft und fröhlich lebe sie im Ort und koche ihre Minestrone immer noch mit selbst gemachter Frigola. Es heißt, dass die Menschen ein hartes Leben hätten, jedoch viel weniger Stress. Sie folgten der 156 10 Geriatrie <?page no="157"?> 92 Tagesspiegel, Berlin vom 05.10.2022: https: / / www.tagesspiegel.de/ politik/ langes-leben -in-italien-das-dorf-der-100-jahrigen-auf-sardinien-8716222.html 93 Rott, C.; Jopp D.S.; Das Leben der Hochaltrigen. In: Bundesgesundheitsbl 2012 (55): S 464-480 94 Doblhammer, G.; Kreft, D.; Länger leben, länger leiden? Trends in der Lebenserwartung und Gesundheit. In: Bundesgesundheitsbl 2011 (54): S 907-914 Natur. Die Gene seien das eine, die gesunde Ernährung aus dem eigenen Garten wohl das andere. 92 Der Rückgang der Sterblichkeit im hohen Alter liefert mittlerweile den größten Beitrag zum Anstieg der Lebenserwartung. Es gibt viele Hinweise dafür, dass die Hälfte, der zur Jahrtausendwende Geborenen zur folgenden Jahrhundertwende noch am Leben sein werden. Infolge der insgesamt verbesserten Lebensumstände und des medizinischen Fortschritts erlan‐ gen nicht nur besonders robuste Individuen ein höheres Alter. Der Tod erfolgt infolge der Ausschöpfung der Ressourcen, nachdem Unfall, Suizid, Degeneration und Krebserkrankung überstanden sind. Erkrankungen des Bewegungsapparates und des Herz-Kreislauf-Systems werden im höchsten Alter als besonders belastend empfunden. Ein zentrales Thema scheint die Multimorbidität zu sein. Mit dem höheren Alter erhöht sich die Anzahl der Krankenhausaufenthalte. In jungen Jahren zeigte diese Kohorte jedoch weniger die Notwendigkeit einer stationären Heilbehandlung. Wenn sie dann erforderlich waren, so waren diese Zeiten kürzer gewesen. In absoluten Werten steigt mit der Lebenserwartung auch die Zahl der Jahre, die ohne Beeinträchtigungen verbracht werden. Der Anteil an gesunden Lebensjah‐ ren entwickelt sich stabil bis leicht positiv. Im höchsten Alter zeigen sich bei der Hälfte der Personen keine Zeichen einer Demenz. Auch zeigen sich noch erhebliche Ressourcen in den Aktivitäten des täglichen Lebens. Etwa ein Drittel der heute 100-Jährigen lebt selbstständig. Das sind ermutigende Werte. Das Wohlbefinden der Ältesten wird als hoch beschrieben, trotz dessen, dass Sie Angehörige, eigene Kinder, Freunde und Bekannte verloren haben. Bei den Hundertjährigen handelt es sich um eine sehr spezielle Gruppe, der es besonders gut gelingt, Wohlbefinden und Lebenswert zu erleben. Sie scheinen sich gut mit ihrer Lebenssituation zu arrangieren und eine besondere, eigenartige Lebenszufriedenheit nicht nur auszustrahlen, sondern auch zu erleben. 93 Die letzten Jahrhunderte sind durch eine höhere Lebenserwartung gekennzeichnet. 94 Maßgeblich ist die Senkung der Sterblichkeit. In der ersten 10.2 Alter 157 <?page no="158"?> 95 Kostner, L.; Über die hohe Lebenserwartung der japanischen Bevölkerung - Faktoren und mögliche Ursachen, In: Deutsche Zeitschrift für Akupunktur 2021 (4): S.-280-282 Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigte sich ein Rückgang der Kinder- und Säuglingssterblichkeit. Besseres Verständnis über Infektionskrankheiten, die Trennung von Trink- und Abwasser, Verbesserung der sozioökonomi‐ schen Bedingungen sowie Ernährung waren ausschlaggebend. Es zeigten sich jedoch auch interessante Konvergenz und Divergenzeffekte in den industrialisierten Bereichen. Entscheidend scheinen Grad an Bildung, Er‐ nährungssituation und die Umsetzung neuer hygienischer Standards infolge der Aufklärung zu sein. Diese Effekte zeigten sich zunächst in den nord- und westeuropäischen Ländern, um sich dann auf die süd- und osteuropäi‐ schen Länder, zuletzt auf Japan auszuweiten. Mit der Einführung medizi‐ nisch-technischer Innovationen - zunächst in den westlich orientierten Ländern - kam es zu einer zweiten Divergenzphase. In diesem Kontext zeigten sich Veränderungen im individuellen Verhalten mit Veränderung des persönlichen Lebensstils. Das Phänomen der stagnierenden, gar rückläufi‐ gen Lebenserwartung in den kommunistischen Ländern Osteuropas und der ehemaligen Sowjetunion wird in der Literatur als „Ost-West-Sterblichkeit“ beschrieben. Ökonomische Kontextfaktoren, problematisches Gesundheits‐ verhalten und unterfinanzierte Gesundheitssysteme stellen ergänzende Faktoren dar. Mit der Destabilisierung der osteuropäischen Systeme zeigte sich zunächst eine Divergenz der Lebenserwartung, die bei sich erholenden Rahmenbedingungen wieder mit den westlich orientierten annäherten. Die Lebenserwartung der japanischen Bevölkerung gehört zu den höchs‐ ten der Welt. Als Gründe werden das modern ausgebaute Gesundheitswe‐ sen, eine gute Infrastruktur, die stabile politische Lage, das gemäßigte Klima, die hohen Hygienestandards und die ausgewogene Ernährung benannt. 95 Die globale Pandemie COVID-19 hat deutliche Auswirkungen auf die Lebenserwartung. Die retrospektive Analyse aus Kalifornien zeigte einen deutlichen Rückgang der mittleren Lebenserwartung um mehrere Jahre. Es zeigte sich auch, dass sich der Abstand zwischen dem ärmsten Perzentils und dem wohlhabendsten Perzentils im Verlauf der Pandemie stetig erweiterte. Für die Unterschiede machen die Autoren systemische, sozioökonomische Hindernisse und mangelnder Zugang zu Gesundheits‐ fürsorge dafür verantwortlich. Es gibt viele gute Gründe dafür, dass sich 158 10 Geriatrie <?page no="159"?> 96 Schwandt, H.; Currie, J.; von Wachter, T.; Changes in Relationship Between Income an Life Expectancy Before an During the COVID-19 Pandemic, California, 2015-2021. In: JAMA 2022; 328(4): S.-360-366 97 Staeck, F.; Lebenserwartung in der EU um 1,2 Jahre gesunken. In: ÄrzteZeitung 05.12.2022 (https: / / www.aerztezeitung.de/ Politik/ OECD-Lebenserwartung-in-der-EUum-12-Jahre-gesunken-434799.html) 98 Stelter R.; Croix, David de la.; Myrskylä, M; Leaders and Laggards in Life Expectancy Among European Scholars From the Sixteenth to the Early Twentieth Century. In: Demography (2021) 58(1): S 111-135 99 Reitz, A.; Altern Männer anders? In: Heilberufe 2008 (4): S.-16-21 ähnliche oder gleiche Effekte weltweit zeigen. 96 Europaweit ist nach einem OECD-Bericht zufolge durch die COVID-19-Pandemie das Lebensalter um 1,2 Jahre gesunken. 97 In den zahlreichen vorliegenden Studien zeigt sich, dass verbesserte sozioökonomische Rahmenbedingungen hinsichtlich Bildung, Zugang zu Gesundheitswesen und Ernährung zu einem verlängerten Leben führen und das auch bereits vor der industriellen Revolution, wie sich das auch an dem Altersspektrum von Gelehrten des 16. bis zum frühen 20. Jahrhundert aufgezeigt hatte. 98 Einhellig erscheint die Beobachtung, dass Männer weniger Zeit zum Leben übrigbleibt als Frauen. Männer scheinen sich hier durch Risikobe‐ reitschaft, ungesünderen Lebensstil und verminderte Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen aktiv um eine Verkürzung der Lebenszeit um mehrere Jahre zu bemühen. Andererseits sind sie mehr an kriegerische Auseinandersetzung und Gefahrensituationen ausgesetzt oder setzen den Entschluss zur Beendigung des eigenen Lebens entschiedener um. Sie wei‐ sen eine höhere Rate an Herz-Kreislaufproblemen und Herzinfarkten auf. Erektionsstörungen sind da eher als ein Symptom von schwerwiegenden systemischen körperlichen und seelischen Leiden zu verstehen. 99 In Kloster‐ studien zeigt sich eine Erhöhung der Lebenserwartung lediglich um 2 Jahre. Vom Klosterkontext profitieren hauptsächlich die Männer. Das Vorliegen des Y-Chromosoms wird als eine höhere Ursache für Säuglingssterblichkeit, eine höhere Anfälligkeit für X-chromosomal vererbte Erkrankungen und für die etwas geschwächte Immunreaktion gesehen. Testosteron auf der einen Seite und Östrogen auf der anderen Seite scheinen Begleiter der Divergenz der Lebenserwartung zu sein. Zusammenfassend scheint die Langlebigkeit von Frauen gegenüber Männern ein Phänomen, das unter dem Begriff 10.2 Alter 159 <?page no="160"?> 100 Berger, U.; Männer sterben früher, Frauen leiden mehr. In: Psychotherapie 2022 (67): S.-288-295 101 The Desert News, Salt Lake City, Utah (21. Februar 1995): S.-1 102 Pyrkov, T.V.; Avchaciv K.; Tarkov A.E. et al. Longitudinal analysis of blod markers reveals progressive loss of resilience an predicts human lifespam limit. In: Nat Commun 12, 2765 (2021). https: / / doi.org/ 10.1038/ s41467-021-23014-1 „Gender Health Paradox“ bekannt ist, und dessen Ursache hauptsächlich im sozialisierten und nicht nur aber auch im biologischen Geschlecht liegt. 100 Wissen | Jeanne Calment (Supercentenarian) Als erster Mensch vollendete Jeanne Calment aus Frankreich ihr 122. Lebensjahr und gilt als wissenschaftlich hinterlegter ältester Mensch. Die in Arles geborene Südfranzösin war die Tochter eines Schiffbauers. Es wird berichtet, dass sie Vincent van Gogh begegnet sei und ihm Farbstifte verkauft habe. Zu ihrem 120. Geburtstag trafen mehr als 5.000 Geburtstagskarten ein. Zuletzt lebte sie in einem Altenpflegeheim in Arles, dem Ort, wo sie auch geboren wurde. Sie selbst sagt von sich, nicht athletisch oder gesundheitsbewusst zu sein. Sie sei an allem interessiert aber nicht wirklich leidenschaftlich. 101 Wichtig erscheint die Frage, ob es eine limitierte Altersbegrenzung des Menschen gibt. Berücksichtigt man das Leben der ältesten Menschen zeigt sich wohl, dass sich die Zahl der Menschen, die ein besonders hohes Alter erreichen, in den kommenden Jahren steigern wird. Studienlagen zufolge ist ein Alter von 130 Jahren noch in diesem Jahrhundert denkbar. Durch das Zusammenspiel eines gesunden Lebensstils, der richtigen Genetik und einer Portion Glück ist es durchaus möglich, ein Alter jenseits der 100 Jahre zu erreichen. Mit zunehmendem Alter nehme aber die sogenannte Resilienz fortlaufend ab. Zwischen 120 und 150 Jahren sei diese Resilienz komplett verschwunden. „(…) das stellt ein natürliches Limit der menschlichen Le‐ bensspanne dar.“ 102 160 10 Geriatrie <?page no="161"?> 103 Derwall, M.; Coburn, M.; „Frailty“ als potenzieller Indikator des perioperativen Risikos alter Patienten. In: Anaesthesist 2020 (69): 151-158 10.3 Gebrechlichkeit Fallbeispiel | Seit zwei Jahren lebt die Bewohnerin Sarah M. (85) wegen ihrer dementiellen Erkrankung im beschützenden Wohnbereich des Altenheimes. Ihr ganzes Leben hatte sie einen großen Haushalt geführt. Ihr Zimmer verlässt sie nur, wenn ein Korb Bügelwäsche bereitsteht. In der Ecke des Gemeinschaftsraumes steht ein Bügelbrett und sie zieht den Korb mit Wäsche durch den Raum, was ihr viel Kraft abverlangt. Sie bügelt sodann stundenlang die Wäsche, wobei sie immer wieder kleine Pausen einlegen muss. Das heiße Bügeleisen stellt eine mögliche Gefahr für die kleine, zierliche Frau dar. Es zeigte sich jedoch, dass an Demenz erkrankte Menschen, alte Fähigkeiten und Fertigkeiten erhalten bleiben und noch gut durchgeführt werden können. Wenn die Gesundheit im Alter zum Problem wird, Leistung und Beweg‐ lichkeit mehr und mehr nachlassen, das Gedächtnis immer öfter einen Streich spielt, die Zeiten zwischen den Pausen immer kleiner werden, die Muskelkraft immer mehr nachlässt, dann sprechen wir über Frailty. Gebrechlichkeit oder auch vermehrte Hilfsbedürftigkeit im Alter ist keine Krankheit. Der Begriff „Frailty“ ist weiterhin ein unscharfer und weit interpretierbarer Begriff. Zu Fragen von Lebensqualität und Gebrechlichkeit ist es nicht einfach, objektive Parameter zu bestimmen. Im medizinischen Kontext ist eine Orientierung angesichts des steigenden Durchschnittsalters und der wachsenden Anzahl an operativen Eingriffen notwendig. Chrono‐ logisches Alter und allgemeine Risikostratifizerungssysteme beschreiben das Risiko hinsichtlich Krankheit, Überleben oder Pflegebedürftigkeit nur unzureichend. Der Grad der Gebrechlichkeit ist im Sinne des bio-psychoso‐ zialen Modells als eine herabgesetzte Resilienz im körperlichen, geistigen und sozialen Kontext zu verstehen und zu würdigen. Es liegt nahe, dass eine Verbesserung des Frailty-Status zu einem besseren postoperativen bzw. einem besseren postinterventionellen Ergebnis führt, wenngleich dies nur für wenige Bereiche wissenschaftlich belegt zu sein scheint. 103 10.3 Gebrechlichkeit 161 <?page no="162"?> 104 Körtner, U.; Frailty - Medizinethische Überlegungen zur Gebrechlichkeit des alten Menschen. In: Ethik Med 2006 (18): S.-108-119 105 Berner, F.; Altersbilder im Bereich der gesundheitlichen Versorgung älterer Mensche. Erkenntnisse und Empfehlungen aus dem Sechsten Altersbericht. In: Bundesgesund‐ heitsbl 2011 (54): S.-927-932 106 Bundesministerium für Gesundheit; Zahlen und Fakten zur Pflegeversicherung (Stand: April 2022). In: https: / / www.bundesgesundheitsministerium.de/ fileadmin/ Dateien/ 3_D ownloads/ Statistiken/ Pflegeversicherung/ Zahlen_und_Fakten/ Zahlen_und_Fakten_St and_April_2022_bf.pdf Es erscheint jedoch ethisch-moralisch erforderlich, einerseits zwischen den realen Problemen altersspezifischer Gebrechlichkeit, deren möglichen Vermeidung oder Bewältigung von gesellschaftlichen Bildern von Altersge‐ brechlichkeit im gesellschaftlichen und sozialpolitischen Kontext zu unter‐ scheiden. Gebrechlichkeit und die mit dem Alter verbundenen spezifischen Krankheitsrisiken sind nicht schön zu reden, jedoch sind Gebrechlichkeit, Leiden und Hilfebedürftigkeit in die Sicht des Menschseins zu integrieren. Hilfsbedürftigkeit, Angewiesenheit und Verletzlichkeit finden mit der Ge‐ burt beginnend in allen Phasen des Lebens, so auch im hohen und höchsten Alter statt. Die letzte Phase des Lebens kann eine Phase des Reifens sein und muss nicht ausschließlich defizitär erlebt werden. Selbstbestimmtheit und Autonomie dürfen nicht mit völliger Unabhängigkeit und Autarkie verwechselt werden. Der Umgang mit Gebrechlichkeit stellt individuell und gesellschaftlich eine Herausforderung dar. 104 Alter entwickelt eigene Chancen und Potenziale. Krankheit und Alter sind dementsprechend voneinander zu trennen. Gesundheitsversorgung älterer Menschen hat sich an den gesundheitlichen Bedürfnissen und Notwen‐ digkeiten zu orientieren. 105 Pflegerische und sozialpädagogische Ansätze orientieren sich an den Ressourcen, währenddessen zur Erlangung sozial‐ rechtlicher Leistungen regelhaft Mangel und Unvermögen zu beschreiben sind. Diese sozialrechtliche Vorgehensweise trägt zur negativen Sichtweise des Alters und der damit verbundenen Gebrechlichkeit bei und erschwert die differenzierte Sicht auf das Alter. Wissen | Faktencheck/ Pflegesituation 106 Knapp 5 Millionen Menschen werden in Deutschland als pflegebedürftig eingestuft, von denen sich etwa 900.000 in stationären Einrichtungen befinden. Damit hat sich die Anzahl der Leistungsempfänger aus dem 162 10 Geriatrie <?page no="163"?> 107 Raiber, L; Fischer, F.; Boscher C. et al. Wer kann sich vorstellen von Angehörigen gepflegt zu werden? Z Gerontol Geriat 2022: https: / / doi.org/ 10.1007/ s00391-022-02073 -z Pflegerecht mit dessen Einführung 1995 verfünffacht. Die aktuellen Ausgaben belaufen sich auf gut 50 Milliarden Euro pro Jahr. In jeweils etwa 15.000 stationäre und ambulante Pflegeeinrichtungen sind gut 1,2 Millionen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt. Etwa 1,2 Millionen Angehörige sind in der gesetzlichen Rentenversicherung pflichtversichert. Die Pflegewahrscheinlichkeit beträgt zwischen 60 und 80 Jahren etwa 8,4-%, die der über 80-Jährigen etwa 41,6-%. 10.4 Versorgungsstruktur Der überwiegende Anteil der 65-75-jährigen Bevölkerung präferiert eine pflegerische Versorgung im häuslichen Umfeld, zumeist mit pflegerischer Unterstützung. Alternative Wohnformen wie Mehrgenerationenhäuser oder Wohngemeinschaften stehen die Befragten positiv gegenüber. Für über 90 % der Betroffenen erscheint Pflege durch professionelle Dienste vorstellbar, während die Pflege durch Angehörige von knapp der Hälfte der Befragten präferiert wird. Männer favorisieren wohl mehr die pflegerische Versorgung durch Angehörige, ebenso jene mehr, die in einem in einem Mehrpersonen‐ haushalt leben, als jene, die allein leben. Ebenso scheinen Personen ohne Berufsabschluss die häusliche Pflege eher zu präferieren als Akademiker. Die eigene Bereitschaft zur Pflege der Eltern ist mit einer Präferenz einer familiären Pflege assoziiert. 107 Pflegeversorgung in der eigenen Häuslichkeit von nahen Familienmitgliedern wird mit Autonomie und Individualität assoziiert und präferiert. Vertrautheit, Sicherheit und Beibehaltung von Gewohnheiten scheinen prädiktive Marker zu sein. Eine stationäre Pflege wird nur selten einer häuslichen Versorgung vorgezogen. Langzeitpflege in stationären Einrichtungen wird in der Bevölkerung stark negativ konno‐ tiert und zählt zu den größten Sorgen der älteren Bevölkerung. Größtes Hindernis stellt neben dem Wunsch nach Autonomie die Unsicherheit der Refinanzierung für die stationäre Pflege dar. Es bedarf der stärkeren Sensibi‐ lisierung dafür, dass die Kosten der Pflege in speziellen Pflegeeinrichtungen die hierfür bereitgestellten Leistungen der Pflegeversicherung in der Regel 10.4 Versorgungsstruktur 163 <?page no="164"?> 108 Heuchert, M.; König H.-H.; Lehnert T.; Die Rolle von Präferenzen für Langzeitpflege in der sozialen Pflegeversicherung - Ergebnisse von Experteninterviews. In: Gesund‐ heitswesen 2017 (79): 1052-1057 109 Schneider, U.; Schröder, W.; Stilling, G.; Paritätischer Armutsbericht 2022; Juni 2022 deutlich übersteigen und private Vorkehrungen für eine präferenzgerechte pflegerische Versorgung unerlässlich sind. 108 Wissen | Armutsbericht 2022 Gemäß dem Paritätischem Armutsbericht 2022 hat die Armut in Deutschland mit einer Armutsquote von 16,6 % einen traurigen Höchst‐ stand erreicht, das sind 13,8 Millionen Menschen in Deutschland. Die Pandemie hat zu einem rasanten Wachstum der Armut geführt. Alleinerziehende, Kinder und Rentner sind besonders gefährdet. Es ist davon auszugehen, dass sich die Lage verschärft. 109 Sozialrechtliche Entlastungen wie eine Anpassung von Grundsicherung, Wohngeld und BAföG sind erforderlich. Erhöhung des Mindestlohnes und gezielte Hilfe tragen zur Entlastung bei. Andere sehen die Lösung in der Einlösung des ökonomischen Aufstiegsversprechens. Der Anteil betagter Patientinnen und Patienten im Klinikalltag nimmt aufgrund der demographischen Entwicklung sowohl in absoluter Anzahl als auch im relativen Anteil zu und ist gekennzeichnet durch chronische Begleiterkrankungen, Multimorbidität und demenzielle Begleitumstände. In Grenzsituationen des Lebens sind diese Patientinnen und Patienten auf eine schnelle und effektive medizinische Hilfe angewiesen, da bei nicht altersgerechter medizinischer Versorgung ein rapider Verfall und eine bleibende Verschlechterung des Allgemeinzustandes und somit von Auto‐ nomie und Selbstständigkeit droht. Andererseits ist aber auch zu prüfen, inwieweit die medizinische Hilfe indiziert und auch gewünscht ist und ob es sich bei den Maßnahmen nur um eine Verlängerung des Leidens handelt. Entscheidungen im medizinischen Kontext haben sich an den Prinzipien der Fürsorge, der Schadensvermeidung, der Autonomie und Gerechtigkeit zu orientieren. Würde respektiert die individuellen Wertevorstellungen des konkreten Menschen unter Anerkennung der jeweiligen Biografie und Emotionen im individuellen bio-psychosozialen Kontext. 164 10 Geriatrie <?page no="165"?> 110 Simon, A.; Alte Patienten in der Intensivmedizin. In: Med Klein Intensivmed 2022 (106): S 24-28 Wesentliche Voraussetzung für alle medizinische Maßnahmen ist das Vor‐ liegen einer medizinisch begründeten Indikation. Es handelt sich über eine fachlich begründete Einschätzung über Nutzen einer Therapiemaßnahme, die geeignet ist, das avisierte Behandlungsziel zu erreichen. Die Maßnahme kann dazu dienen, um das Leben eines Patienten zu retten, bestehende Krankheit zu heilen oder zu lindern. Aber auch die Begleitung Sterbender zählt zu den ärztlichen Aufgaben. Die Indikationsstellung ist Kernaufgabe ärztlichen Handelns. Ergibt sich bei der Abwägung die Überzeugung, dass die bedachte Methode mehr Nutzen als Schaden bringt, so wird dieser Behandlungsvorschlag vorzutragen sein. Ergeben sich Zweifel so wird von einer Durchführung abzuraten sein und es ist nach Alternativen zu suchen. Infolge chronischer Erkrankung, Multimorbidität und abgeschwächter Resi‐ lienz sind insbesondere betagte und hochbetagte Patientinnen und Patienten gefährdet durch Über- oder Unterversorgung Schaden zu erleiden. Zeigt sich ein unumkehrbares Leiden und können durch intensivmedizinische Maßnahmen keinerlei Verbesserungen erzielt werden, erscheint es ethisch vertretbar und angebracht eine palliativmedizinische Versorgung einzulei‐ ten und fortzuführen. 110 Fallbeispiel (Patientenverfügung) | Heinrich K (84) wurde we‐ gen einer Durchfallerkrankung im Krankenhaus einer Mittelstadt aufgenommen. Wenige Tage zuvor ist er von einer Kreuzfahrtreise zurückgekommen. Auch ansonsten ist er immer sehr agil gewesen und besuchte seine Freunde im Club. Er fuhr regelmäßig mit dem Auto dorthin. Es stellte sich heraus, dass auf dem Schiff eine Noro‐ virus-Infektion ausgebrochen war, die noch nicht bekannt war, als der Patient von Bord ging. Komplizierend erlangte er eine schwere Lungenentzündung, die dazu führte, dass er am nächsten Tag intubiert und beatmet werden musste. Bei weiterer Verschlechterung wurde er - nachdem er in ein Krankenhaus der Maximalversorgung gelegt worden war - an eine künstliche Lunge angeschlossen. Noch vor der Beatmungspflichtigkeit hatte der Patient gegenüber dem Arzt betont, dass er auf keinen Fall die Beendigung einer Therapie wünsche. 10.4 Versorgungsstruktur 165 <?page no="166"?> 111 Krones, T.; Spickhoff, A.; „Eine Patientenverfügung brauche ich nicht, ich will nicht abgeschaltet werden.“ Einschließlich Kommentar I und II. In: Ethik Med 2022 (34) S.-697-707 Bewusst habe er keine Patientenverfügung geschrieben, um nicht dem Automatismus einer Therapiebegrenzung ausgesetzt zu sein. Nach mehreren Wochen der intensivmedizinischen Behandlung mit einer künstlichen Lunge und Maximaltherapie zeigt sich in den Un‐ tersuchungen, dass die Lunge unwiederbringlich zerstört ist und keine Aussicht auf eine Erholung der Lunge besteht. Der Patient konnte durch die erforderliche Sedierung nicht befragt werden. Prinzipiell könne er zwar erwacht und somit selbst befragt werden. Dies scheidet aber daher aus, als dass dies für den Patienten zu anstrengend wäre und ein unmittelbarer Erstickungstod drohe. Die Frage der Lungen‐ transplantation war im Transplantationsteam vorgestellt worden. Das Pflegeteam hatte zunehmend Schwierigkeiten mit der Situation umzugehen und es bat um eine Ethik-Konferenz. In diesem Gespräch unter Teilnahme der Angehörigen erklärten die Ärzte, dass sie keine Indikation für die Fortführung der Therapie mehr sahen. Es ergibt sich die Frage, wie in dieser speziellen Situation die medizinische Indikation und der Wille des Patienten gegeneinander abzuwägen sind. Die medizinische Indikation beschreibt eine Risiko-Nutzen-Abwägung, geht von Wahrscheinlichkeiten für zu erwartende Ergebnisse aus und verbleibt jeweilig mit einem gewissen Grad an Unsicherheit, auch unter dem Aspekt, dass jedem Zweifel Schweigen zu bieten wäre und das erwartete Ergebnis mit an Sicherheit grenzender Wahrheit zu erwarten steht. Andererseits bedarf das Leben als zulässiges Behandlungsziel keiner eigenen, gesondert zu formulierender Indikation. Es erscheint aber auch geboten der Frage nachzugehen, ob denn das patientenseitige Ziel des Lebens als Solches überhaupt noch möglich ist, denn Unmögliches wird nicht geschuldet. 111 Bei begrenzten Ressourcen verschärft sich die Problemlage. 166 10 Geriatrie <?page no="167"?> 112 Langmann, E.; Vulnerability, ageism, and health: is it helpful to label older adults as a vulnerable group in health care? In: Medicine, Health Care and Philosophy 2022: http s: / / doi.org/ 10.1007/ s11019-022-10129-5 113 Schweda, M.; Coors, M.; Mitzkat, A. et al. Ethische Aspekte des Alter(n)s im Kontext von Medizin und Gesundheitsversorgung: Problemaufriss und Forschungsperspektiven. In Ethik Med 2018 (30): S.-5-20 114 Reither-Theil, S.; Schleger H.A.; Alter Patient - (k)ein Grund zur Sorge? In: Notfall Rettungsmed 2007 (10): S.-189-196 10.5 Ageism Trotz der Vielfalt des Alters mit all seinen zahlreichen Facetten werden ältere Menschen von Gesellschaft und Wissenschaft als gefährdete Gruppe bezeichnet. Der Begriff der Vulnerabilität wird oft bedeutungsgleich für Gebrechlichkeit, Abhängigkeit oder Autonomieverlust verwendet und ver‐ weist auf Defizite im Alter. Die Identifizierung älterer Menschen als durch‐ weg gefährdete Gruppe ist eng mit Altersdiskriminierung (Ageism) ver‐ bunden. Ein paternalistisches Wohlwollen oder eine übermäßige Fürsorge können in Verbindung gebracht werden. Obwohl ältere Menschen sich aufgrund ihres potenziell höheren Bedarfs an Gesundheitsversorgung in Situationen erhöhter Anfälligkeit befinden, werden ältere Mitbürgerinnen und Mitbürger hauptsächlich durch Altersdiskriminierung zu einer gefähr‐ deten Gruppe. 112 Begriffe wie „Baby-Boomer-Welle“ oder „Alterstsunami“ stellen alte Menschen als eine gesellschaftliche Bedrohung dar. Unterschei‐ dungen zwischen den „jungen Alten“ und den „alten Alten“ unterstützen Altersdiskriminierung. Der Ausschluss älterer Patienten aus klinischen Studien, also jener Gruppe mit dem höchsten Verbrauch an Arzneimitteln, führt zu einer unzulänglichen Evidenzlage bezüglich Risiken und Nebenwirkungen und somit zu Arzneimittelsicherheit bei der älteren Bevölkerung. 113 In einer Fallvignettenstudie wurden Notfall- und Rettungsteams in prob‐ lemzentrierten Interviews zu ihrem altersabhängigen Verhalten bezüglich Reanimation in unterschiedlichem Alter der Patientinnen und Patienten be‐ fragt. Es zeigte sich, dass das „Alter“, vornehmlich die Jugend eines Patienten durchaus als ein Kriterium für die Entscheidung über eine Reanimation angewendet wurden. Dabei wurde sowohl vom Rettungspersonal als auch von den Notärzten differenziert, ob, wie intensiv und wie lange reanimiert wird. 114 10.5 Ageism 167 <?page no="168"?> 115 ebda. 116 ebda. 117 Nachtigal, G.; Chirurgie im Alter aus Sicht der Krankekassen. In: Chirurg 2005 (76): S.-19-27 In Fragen der Therapieentscheidung am Lebensalter haben zu etwa drei Viertel befragter Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegekräfte unter Mitwirkung klinischer Abteilungen der Geriatrie und Intensivmedizin sich dahingehend geäußert, dass hohes Lebensalter mit Multimorbidität, eine Akuterkrankung mit fortgeschrittener degenerativ-progredienter Grunderkrankung oder das Fehlen von Angehörigen zu einer Therapiebegrenzung beitragen. Jüngere Patienten würden insgesamt eine bessere Prognose haben, währenddessen ältere Menschen von der Leistungsgesellschaft eher ausgegrenzt sind und zur gesellschaftlichen Wortschöpfung nicht beitragen. Das verbliebene Viertel distanziert sich deutlich vom Alter als Kriterium zur Therapiebe‐ grenzung 115 Wird nach den Kriterien gefragt, inwieweit nützliche Maßnahmen vor‐ enthalten werden, wurden ein gering zu erwartendem Vorteil für den Patienten, geringe Erfolgschancen, Lebenserwartung bei niedriger Lebens‐ qualität und das Alter in mehr als 70 % als Kriterium herangezogen Es gibt dabei länderspezifische Unterschiede. In der Schweiz wird es konnotiert mit illegaler Auswanderung, in Norwegen mit kognitiver Beeinträchtigung und in Großbritannien mit den Kosten. 116 Es zeigt sich eine intersubjektive Fragestellung, was wir uns als Menschen gegenseitig schulden, welche Rechte und Pflichten wir im gesellschaft‐ lichen Kontext haben. Das Schreckgespenst ansteigender Kosten durch eine überalterte Gesellschaft ruft diskriminierend nach Forderungen einer Rationierung medizinischer Leistungen besonders im Alter. Potenziale der Rationalisierung mit einer Verbesserung von Kooperations- und Versor‐ gungsstrukturen, Ausrichtung gesundheitsbezogener Leistung nach medi‐ zinischer Indikation und Verbesserung medizinischer Kompetenz stellen Teilaspekte dar. Präventionsmaßnahmen lassen Verletzungen und Erkran‐ kungen mit ihren Folgen nicht entstehen. Wesentliches Merkmal erscheint, dass Menschen gesünder alt werden. Rationalisierungs- und Präventions‐ maßnahmen bieten gute Chancen ein langes Leben in Gesundheit und Selbstständigkeit zu verbringen. 117 168 10 Geriatrie <?page no="169"?> Take-Home-Message | Es bestätigt sich der Verdacht einer altersab‐ hängigen Ressourcenallokation vornehmlich durch implizite, individu‐ elle Rationierung. Aus dem Gebot der Würde des Menschen verbieten sich solche Aspekte auch bei Ressourcenbegrenzung. Geht man davon aus, dass nicht die medizinische Kompetenz vor Ort, sondern die Gesellschaft in Verantwortung steht, wie eine gerechte Priorisierung auszusehen hat, bedarf es einer gesellschaftlichen Entscheidung, wie mit diesen Situationen mit Prinzipien der Menschenwürde und der Grundrechte umzugehen ist. 10.5 Ageism 169 <?page no="171"?> 11 Perspektiven Allokation im Gesundheitswesen - Zuteilung von Gesundheitsleistungen bei begrenzten Ressourcen - adressiert die Frage eines gebotenen Verhal‐ tens, bei dem durch extrem ungünstige Umstände und stark begrenzte Mittel das Dilemma besteht, einige Personen gegenüber anderen gravierend zu benachteiligen. Aus der historischen Beobachtung heraus, dass sich angesichts einer stark anwachsenden Bevölkerung und einer Begrenztheit der Ressourcen eine Ungleichheit aufzeigt, entwickelte sich die Metapher des Rettungsbootes, in dem Einzelschicksal mit der die Welt im Ganzen betrachtet wird. Wissen | Rettungsboot von Garrett Hardin (1915-2003) In einem Rettungsboot befinden sich 50 Personen, wobei das Boot noch weitere 10 Personen aufnehmen könnte. Ebenso hat es genügend Nahrung, Flüssigkeit und weitere Versorgungsgüter an Bord. Im Meer befinden sich aber viele andere Boote, die überfüllt sind und einige Menschen von diesen fallen aus den überfüllten Booten in das Wasser. Sie schwimmen für eine Weile in der Hoffnung, in ein Rettungsboot aufgenommen zu werden, in dem noch Platz ist oder anderweitig von den Gütern zu profitieren. Im Wasser befinden sich weitere 100 Personen, die um Aufnahme ins Boot oder Hilfsgüter bitten. Wie sollen die Insassen des Bootes reagieren? Wissen | Rettungsboot von Onora O’Neill (1941) Auf einem Rettungsboot befinden sich sechs Überlebende. Hinsichtlich der Versorgung mit Vorräten gibt es zwei mögliche Situationen. Zum einen sind nach allen vernünftigen Berechnungen zufolge, genügend Vorräte vorhanden. Entweder befindet sich das Boot in der Nähe der Küste, hat genügend Versorgungsgüter an Bord oder genügend Mittel, um sich aus dem Meer mit Nahrung und Trinkwasser zu versorgen. Zum anderen ist es nach allen vernünftigen Berechnungen zufolge unwahr‐ scheinlich, dass die Vorräte für alle sechs Personen des Rettungsbootes <?page no="172"?> bis zu ihrer Rettung reichen. In diesem Boot sind Todesfälle unvermeid‐ bar. Vorgestellt, dass in einem Bereich des Bootes eine VIP-Lounge besteht, in der Nahrung und Wasser für alle Passagiere verstaut sind, ergibt sich eine Ungleichverteilung. Die Szenarien unterscheiden sich, trotz der sich gleichenden Requisiten. Bei Harding gibt es Boote mit genügend Ressourcen und auf anderen Booten gibt es eine Unterversorgung. Gründe für Ungleichheit sind in dieser Betrach‐ tung irrelevant. Auf einigen Booten sterben Menschen, weil nicht genügend Ressourcen vorhanden sind, oder sie bitten um Rettung auf ein anderes Boot. Bei O’Neill geht es um ein einziges Boot mit Ungleichverteilung der Ressourcen. Der Fokus der Betrachtung geht nicht der Frage nach, wen man mit den verfügbaren Ressourcen versorgen soll, sondern in welcher Situation man durch Mangelbedingungen berechtigt sein darf, jemanden zu töten. 11.1 Ressourcenverteilung Bei begrenzten Ressourcen ist nicht allen zu helfen. Falls jedoch Ressourcen für alle vorhanden, jedoch ungleich verteilt sind, ist jeder herbeigeführte Tod ungerechtfertigt. Es ist dafür zu sorgen, dass die Ressourcen gerecht verteilt werden. Sollten die Vorräte nicht für alle reichen, so müssen Kriterien festgelegt werden, wie diejenigen bestimmt werden, die sterben müssen. Beide Szenarien adressieren ein globales Problem der Weltbevölkerung mit zu vielen Menschen und Ungleichverteilungen der Ressourcen. Den Personen verbleibt nur wenig Handlungsspielraum. Möglichkeiten der Ver‐ änderungen oder Verbesserung der Kontextfaktoren sind nicht gegeben. Bei begrenzten Ressourcen ergeben sich Fragen der Gestaltung und Einbrin‐ gung von Ideenreichtum und Innovationen, mit dem Ziel für den Einzelnen als auch für die Gesamtheit eine Verbesserung zu erzielen. Demographischer Wandel und medizinisch-technischer Fortschritt bei begrenzten finanziellen, personellen oder sachlichen Mitteln führen zum Allokationsproblem. Der Gesundheitssektor konkurriert mit den weiteren Sektoren der Kritischen Infrastruktur. Einerseits treten Betriebe und Indus‐ trieanlagen in die Verantwortung und andererseits besteht eine staatliche, 172 11 Perspektiven <?page no="173"?> 118 Miller, C.; Allokation von einmalig zu applizierenden Arzneimitteln bei Kindern in globalen Compassionate Use-Programmen. In: Ethik Med 2022 (34: S.-497-514) also gesellschaftliche Verantwortung zur Gewährleistung der für das Indi‐ viduum und die Gemeinschaft wesentlichen Infrastruktur. Wissen | Onasemnogenum abeparvovecum (Zolgensma®) Bei der spinalen Muskelatrophie kommt es zum Untergang bestimmter Nervenzellen des Rückenmarks, die für die Bewegung und Steuerung der Muskeln zuständig sind. Ohne diese Reize kommt es zu Muskel‐ schwund und Lähmungen. Es ist eine fortschreitende Erkrankung, die zuletzt, die Sprech-, Kau- und Schluckfunktion und später die Atmung betreffen. Säuglinge, die von der Erkrankung in den ersten Wochen betroffen sind, können nicht sitzen oder krabbeln und müssen später beatmet werden. Unbehandelt sterben diese Kinder nach 1-2 Jahren. Ursache dieser seltenen Erkrankung ist eine Veränderung der Erbinfor‐ mation. Der Wirkstoff wird einmalig als Infusion verabreicht und die Krankheit kann gestoppt werden. Unter „Compassionate Use“ (Anwendung aus Mitgefühl) versteht man den Einsatz nicht zugelassener Arzneimittel an Patienten in besonders schweren Krankheitsfällen. Das 2020 gestartete Programm um das Präparat Zolgensma® (mit einem Preis von gut 2 Mill. Euro) erfuhr besondere mediale Aufmerksamkeit. Grund dafür war die Allokationsmethode in Form einer Lotterie. Staaten, in denen das Präparat nicht zugelassen war, konnten somit profitieren. Aus Kapazitätsgründen könne das Pharmaunternehmen nicht mehr als 100 Dosen pro Jahr weltweit zur Verfügung stellen. Die Allokationsmethode der Randomisierung sei durch ein eigens gegründetes Ethikkommitee vorgeschlagen worden. Eine verblindete Abgabe war vor‐ gesehen. 118 Das Allokationsverfahren wurde als ungerecht kritisiert. Betroffene könnten sich als Kontrahenten verstehen. Der Kreis der Begünstigten ist nicht objektivierbar nachvollziehbar. Teilnehmer der Placebogruppe gehen leer aus, obgleich sie die prinzipiellen Risiken der Studie eingegangen waren und ihr Engagement unberücksichtigt bleibt. Individuelle Aspekte bleiben durch Randomisierung unberücksichtigt. Losentscheid lässt Men‐ 11.1 Ressourcenverteilung 173 <?page no="174"?> schenwürde und moralische Werte unberücksichtigt. Das Verfahren übt einen Druck auf alle Beteiligten auf der Empfängerseite aus und das Ergebnis wird als willkürlich empfunden. Das individuelle Leben ist dadurch gekennzeichnet, dass trotz bester Bemühungen und Sorgfalt Ereignisse eintreten, die außerhalb der eigenen Kontrolle liegen, was als Schicksal zu bezeichnen ist. Individuelle Ziele können durch harte Arbeit und Fleiß oder durch ein geschicktes Manöver, im Alleingang oder im Team, zaghaft oder mutig erlangt werden. Eigene Leistung begünstigt einen individuellen Handlungserfolg. Es besteht jedoch keine Garantie, dass der Erfolg dann auch eintritt. Glück und Pech können das Leben durchkreuzen, obgleich alle Vorkehrungen getroffen werden, um Leid abzuwenden: Fallbeispiel | Jörg S. (40) springt leidenschaftlich aus dem Flieger, genießt das damit verbundene Gefühl von Freiheit und Glück. Er ist ein erfahrener Fallschirmspringer … und macht dennoch einen verhängnisvollen Fehler. Nach mehreren Operationen ist auch für ihn klar: Das Bein kann nicht erhalten werden. Hannah K. (42) lebte in einer glücklichen Familie und erfuhr plötzlich die Dunkelheit der Seele. Familie und Kinder geben ihr immer weniger emotionalen Halt. Auf der Arbeit kann sie die gewohnte Leistung nicht bringen. Es kommt immer wieder zu Konflikten, bis sie es nicht mehr aushält. Der Versuch misslingt und sie überlebt. Winfried L (62), selbst Strafrichter, geht zur Bank, um seine Kontoaus‐ züge abzuholen. Plötzlich kommt es zum Überfall und der Bankräuber sticht ihn mit dem Messer in den Bauch. Es folgen mehrere Operatio‐ nen und es zeigt sich ein langwieriger Heilverlauf. Schicksalsschläge sind Realitäten des menschlichen Seins. Leistung, Acht‐ samkeit und Kontrolle geben keine Garantie für das angestrebte Ziel. Oftmals ist es nicht klar, ob Leistung oder Glück zu einem positiven Ergebnis geführt haben oder ob es Unfähigkeit oder Pech sind, die für ein negatives Ergebnis verantwortlich sind. Es verbleibt das Unberechenbare … das Unkontrollierbare, das das Drama des Lebens ausmacht. Und das Leben ist dabei nicht immer fair. 174 11 Perspektiven <?page no="175"?> Wenn das Drama des Lebens nicht fair ist, dann soll es wenigstens beim Spiel sein. Beim Spiel handelt es sich um ein Wechselverhältnis von Leistung und Zufall, was letztendlich auch den Reiz des Spiels ausmacht und zu den Emotionen von Glück und Pech führt. In diesem Kontext unterliegen alle Beteiligten den gleichen Bedingungen und verfügen über ein gemeinsames Regelwerk. Das Ende des Spiels ist definiert und bei Unklarheiten gibt es möglicherweise einen Schiedsrichter. Ein Spiel wird dadurch zerstört, wenn Einzelne nicht mehr fair sind, den Anstand verloren haben oder sich nicht gerecht verhalten und dies zu spüren und zu erleben ist. Ein Spiel ist dann fair, wenn Unrecht vermieden wird. Im gesellschaftlichen Kontext und bei der Verteilung begrenzter Ressour‐ cen kann Unfairness verstanden werden mit dem Ausmaß einer systemati‐ schen Diskriminierung aufgrund von Gruppenzugehörigkeit. John Rawls beschreibt Verfahrensgerechtigkeit und überhaupt Gerechtigkeit als die erste Tugend. Nach ihm hat jede Person den unabdingbaren Anspruch auf ein völlig adäquates System gleicher Grundfreiheiten, die unabänderlich zu erhalten sind. Soziale und ökonomische Ungleichheiten bedarf einer fairen Chancengleichheit, den am wenigsten begünstigten Angehörigen der Gesellschaft ist der größte Nutzen zuzuordnen. Fairness erscheint wesentlich in der Akzeptanz. Handlungsweisen betref‐ fen alle an der Gesellschaft Teilhabenden gleichermaßen und gleichzeitig besetzt mit Emotionen der Solidarität. Insofern keine Konfliktsituationen entstehen, mag es im gesellschaftlichen Diskurs gelingen. Schaffung fairer Chancen und Vermeidung von Ungerechtigkeit der Verteilung stellen die Gesellschaft vor eine Herausforderung. Aspekte von Würde, Freiheit und Selbstbestimmung in Bezug auf gerechte Verteilung bei begrenzten Ressour‐ cen stellen eine gesellschaftliche Krisis dar. Extern verursachte Krisensituationen, wie ein Busunfall oder ein Ter‐ roranschlag, verhalten sich anders als strukturell und gesellschaftlich festgelegte Knappheitssituationen. Tugendethische oder individualethische Grundsätze stoßen hier an ihre Grenzen, denn strukturelle Defizite bedürfen struktureller Lösungsstrategien. Die Frage der gerechten Verteilung darf sich dabei nicht ressourcenorientiert ausrichten, sondern muss personen‐ orientiert sein. Eine Verrechnung, eine Saldierung wird nicht zu verhindern sein. Was Politik und Gesellschaft in dieser Hinsicht leisten müssen, ist eine gesellschaftlichen und ethischen Kriterien standhaltende Festlegung dessen, 11.1 Ressourcenverteilung 175 <?page no="176"?> 119 Mack, E.; Rationierung im Gesundheitswesen - ein wirtschaft- und sozialethisches Problem. In: Ethik Med 2001 (13): S.-17-32 120 World Health Organization (1986) Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung. https: / / w ww.euro. who.int/ __data/ assets/ pdf_file/ 0006/ 129534/ Ottawa_Charter_G.pdf was als gerechtes Maß einer gesundheitlichen Versorgung gelten kann, und insbesondere, was als notwendige medizinische Versorgung gelten muss. 119 Es verbleibt bei der ethischen Forderung, dass der ausreichende Einsatz von Mitteln und Rationalisierung sozialpolitische Maxime darstellt und bestehende Rationierung sowie Priorisierung mit den Methoden der evi‐ denzbasierten Prävention und Gesundheitsförderung zu vermeiden sind. 11.2 Morbidität Grundlegende Bedingungen und konstituierende Momente von Ge‐ sundheit sind Frieden, angemessene Wohnbedingungen, Bildung, Er‐ nährung, Einkommen, ein stabiles Öko-System, eine sorgfältige Ver‐ wendung vorhandener Naturressourcen, soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit. Die 5 Handlungsfelder der Ottawa Charta für Ge‐ sundheitsförderung ergeben sich demnach auf folgende Felder: gesund‐ heitsförderliche Lebenswelten schaffen, eine gesundheitsfördernde Ge‐ samtpolitik entwickeln, gesundheitsbezogene Gemeinschaftsaktionen unterstützen, persönliche Kompetenzen entwickeln und die Gesund‐ heitsdienste neu orientieren. 120 Wissen | Aktuelle Kontextfaktoren Die Situation jedoch ist bedrohlich. Die Pandemie ist für gesundheitliche und soziale Ungleichheit ein Risiko bzw. ein Verstärker. Insbesondere ohnehin benachteiligte Gruppen (Wohnungslose, sozioökonomisch be‐ nachteiligte Personen) sowie Kinder und Jugendliche sind besonders betroffen. Die Lage von Kindern, Jugendlichen und Familien während der Pandemie wurde erst (zu) spät in den Fokus gerückt. Die Klimakrise wurde durch den Krieg in der Ukraine und die Pandemie in den Hinter‐ grund gerückt, sollte uns aber weiter beschäftigen, da sie weitere Krisen bzw. Kriege auslösen kann und schon jetzt gesundheitliche Nachteile 176 11 Perspektiven <?page no="177"?> 121 Janella, M.; Amler M.; Bollmann, J. et al. Der Kongress Armut und Gesundheit 2022 vor dem Hintergrund der aktuellen Krisen. In: Bundesgesundheitsbl 2022 (65): S.-917-924 erzeugt. Frieden ist eine unverzichtbare Grundlage für Gesundheit. Die Zivilgesellschaft ist heute wichtiger denn je. 121 James Fries (1938-2021), Professor für Rheumatologie und Immunologie der Stanford Universität, Kalifornien vertrat die Auffassung, dass ein gesunder Lebensstil die Langlebigkeit geringfügig verlängert, verbunden damit, als dass dies chronischen Alterskrankheiten effektiver vorbeugt und die Anzahl der Jahre der Behinderung, Abhängigkeit und Schmerzen reduziert. Die Anfang der 1980er-Jahre formulierte These der Morbiditätskompression beschreibt eine positive Entwicklung. Prävention, gesünderer Lebensstil und verbesserte Lebensbedingungen führen zu einer Senkung der Erkran‐ kungsraten und verschieben Krankheit und Behinderung in spätere Le‐ bensphasen. So zeigt sich in Ländern mit einem hohen Einkommen, dass alle Arten von Herz-Kreislauf-Erkrankungen über die Zeit abgenommen haben und sich ihr Auftreten in die höheren Altersgruppen verschob. Auch das Risiko, einen Schlaganfall zu erleiden oder an einer Lungenkreb‐ serkrankung zu erleiden sind durch entsprechende Verhaltensänderungen im gesellschaftlichen Kontext gesunken. Demenzerkrankungen treten erst in einem höheren Lebensalter auf und dauern auch insgesamt kürzer an. Auch die Selbsteinschätzung, ein sensibler Marker für Gesundheit für ein gesundes und gelingendes Leben, fällt besser aus. Dagegen besagt die von Ernest M. Gruenberg (1915-1991), Psychiater und Epidemiologe der John-Hopkins-Universität, Baltimore, formulierte These der Morbiditätsexpansion, dass die gewonnen Lebensjahre durch die steigende Lebenserwartung überwiegend in Krankheit verbracht werden. Der Typ-2-Diabbetes stellt die häufigste Erkrankung der erwachsenen Bevölkerung dar und es zeigt sich mit der Zeit eine zunehmende Rate an Diabetes mellitus in der Bevölkerung. Ebenso stiegen die damit verbundenen Begleiterkrankungen sowohl bei Männern als auch bei Frauen an. Dieser Zustand der Multimorbidität steigt stärker an als die Lebenserwartung. Die Erkrankungsraten sind sozial ungleich verteilt. Insgesamt zeigt sich etwa für den akuten Myokardinfarkt ein deutliches Absinken der Inzidenzrate. Bei Trennung der Altersgruppe oberhalb des 70. Lebensjahres und unterhalb des 50. Lebensjahres zeigt sich, dass in 11.2 Morbidität 177 <?page no="178"?> 122 Geyer S, Eberhard S: Compression and expansion of morbidity—secular trends among cohorts of the same age. Dtsch Arztebl Int 2022; 119: 810-5 123 Hummel, K., Wrzeziono, S.: „Medikalisierungs- und Kompressionsthese“, in „Monitor Versorgungsforschung“ (04/ 22), S.-46-48 der älteren Gruppe eine Kompression und in der jüngeren Altersgruppe eine Expansion zu beschreiben ist. Ähnliche Beobachtungen finden sich in der Greifkraft, einem Marker für die allgemeine körperliche Konstitution. Jüngere verlieren an Greifkraft bzw. stagniert diese in der longitudinalen Betrachtung. Auch hier zeigt sich eine Divergenz der Befunde. In den USA zeigte sich, dass die Sterberate in den beruflich aktiven Altersgruppen angestiegen ist. Als Ursache werden die Folgen einer zunehmenden Adi‐ positas, Opioide und Drogenmissbrauch, Suizid und Veränderungen der Arbeitsbedingungen benannt. 122,123 Aufbauend auf diesen Thesen ergeben sich Aspekte, dass Menschen bei längerer Lebenserwartung länger krank seien, jedoch weniger an der Teil‐ habe beeinträchtigt sind oder sich auch eine parallele Zunahme gesunder, aktiver und gesundheitlich beeinträchtigter Menschen gibt. Hinsichtlich der Prävention ergibt sich der Aspekt, neben dem notwendigen medizinischen Fortschritt, Resilienzfaktoren im Rahmen des bio-psychosozialen Modells zu stärken. 11.3 Resilienz Hinsichtlich der zunehmenden Langlebigkeit der Menschen ergibt sich die Frage, ob neben den rein biologischen Aspekten spezifische psychosoziale Aspekte hinzutreten und zu relevanten Vorteilen zu Lebenserwartung füh‐ ren: das Konzept der Resilienz. Resilienz kann mit Spannkraft, Widerstands‐ fähigkeit oder Elastizität beschrieben werden. Resilienzfaktoren finden sich sowohl auf individueller psychomentaler Ebene als auch im sozialen Kontext, einem Kontext, der die Fähigkeit besitzt, externe Störungen zu ver‐ kraften. Resilienz ist als ein multidimensionales und situationsspezifisch-va‐ riabel reagierendes System sowohl psychomental als auch somatisch zu verstehen. Akkommodative Verhaltensweisen beziehen sich auf Anpassung, assimilative Vorgehensweise haben das Bestreben Veränderungen zuguns‐ ten der eigenen Ziele zu verändern. Daneben finden sich Verhaltensweisen 178 11 Perspektiven <?page no="179"?> 124 Friedrichs, E.; Kärner, T.; Schellinger, B.; Sembill, D.; Zusammenhänge zwischen ver‐ haltensbezogenen und somatischen Facetten von Resilienz bei Arbeitnehmern/ -innen der Automobilzuliefererindustrie. In: Präv Gesundheitsf 2021 (16): 2006-14 125 Jocham, D.; Reslilienz - lohnt die Beschäftigung? In: Uro-News 2020 (24): S.-7-8 126 Blüher, S.; Wenzel A.; Eggert, S.; Suhr, R.; Dräger, D.; Handlungsbezogene Resilienz bei Langledigen - eine sozialohische Annäherung. In: Z Gerontol Geriat 2020 (53: S.-552-557) dahingehend, sich gegenüber den Erwartungen anderer abzugrenzen und bei eigenen Zielvorstellungen zu verweilen. 124 Wissen | Resilienzforschung Emmy Werner (1929-2017), Entwicklungspsychologin an der University of Nebraska, beobachtete in einer Längsschnittstudie über drei Jahr‐ zehnte Kinder auf der Insel Kaua‘i, der viertgrößten Insel Hawaiis. Zwar finden sich auf der Insel paradiesische Verhältnisse, jedoch ein Drittel der Kinder wuchsen unter schwierigsten sozialen Bedingungen mit Armut, Gewalt, Sucht und Vernachlässigung auf. Lern- und Verhaltens‐ probleme sowie Konflikt mit dem Gesetz oder psychische Krankheiten waren die Folge. Es zeigten sich aber auch Kinder, die trotz ihrer fortbestehend schwierigen Rahmenbedingungen zu selbstbewussten, fürsorglichen und leistungsfähigen Erwachsenen heranwuchsen und in stabile soziale Strukturen eingebunden waren. Grund für die positive Entwicklung sah Werner in bestehender sozialer Bindung und Struk‐ tur. 125 Auf der Basis eines semistrukturierten Interviews zeigte sich bei Hundert‐ jährigen, dass die Betroffenen als Resilienzmerkmal eine Handlungsfähig‐ keit aufzeigten. Eigene Präferenzen können gesetzt werden, so dass ein konstruktiver Umgang mit Herausforderungen bis ins hohe Alter möglich ist. Trotz erforderlicher Hilfe und Bereitstellung externer Ressourcen ver‐ mögen sie ihre aktuelle Situation anzunehmen, sich anzupassen und zu einer überwiegend positiven Bewertung zu kommen. 126 Somatische Aspekte der stressbezogenen Anpassungsfähigkeit kann als Selbstregulationsfähigkeit des Organismus verstanden werden, vornehm‐ lich im vegetativen Nervensystem. Diesem System, dem Spiel von Sym‐ pathikus und Parasympathikus kommt eine besondere Bedeutung der Stressregulation zu. Es kann schnell auf externe und interne Stressoren 11.3 Resilienz 179 <?page no="180"?> 127 Kiesewetter, J.; Glumann, N.; Lin L.; Resilienz - eine Einführung für Assistenzärztinnen und Assistenzärzte. In: Urologe 2020 (59, Suppl. 2): S 161-164 ohne willentlichen Einfluss reagieren, bedient sich aber zugleich den will‐ kürlichen Modulen des Organismus. Beide Systeme treten als Gegenspieler auf, sind aber nicht als „Gaspedal“ und „Bremse“ zu verstehen. Der Sym‐ pathikotonus ist aktiviert, wenn man von einem Tiger verfolgt wird und sich maximal zu aktivieren hat, was eine extreme Stress-Situation darstellt. Parasympathikusaktivierung erlaubt einen Rückzug und Erholung mit dem Gefühl sich wohlzufühlen, sozialer Kontaktfähigkeit und Empathie. Extrem‐ varianten sind Ohnmacht oder Shutdown. Andauernde Extremzustände gehen auf Dauer mit chronischen Krankheitszuständen einher. Können jedoch beide Gegenspieler in einem freien Spiel zueinander sein, ohne Extremsituationen ausgesetzt zu sein, ist wohl eine Anpassungsfähigkeit des Individuums gegeben. Die fünf Resilienzkomponenten aus Reivich und Shatté, definiert nach Kiesewetter und Dimke: 127 ● Anpassungsfähigkeit gilt als die Fähigkeit, Veränderungen der Ar‐ beitsbedingungen akzeptieren zu können und die professionelle Arbeit mit hoher Leistungsstärke fortzusetzen. Anpassungsfähige Personen sind z. B. in der Lage, Kritik anzunehmen und Verbesserungsvorschläge ggf. direkt zu implementieren, um positivere Ergebnisse zu erzielen. ● Selbstkontrolle gilt als die Fähigkeit, Urteile und Entscheidungen von eigenen Emotionen oder Wünschen unbeeinflusst zu lassen. Diese Kom‐ ponente ist wichtig, da sie über die Fähigkeit einer Person entscheidet, auch in schwierigen Situationen rationale Entscheidungen zu treffen. Zusätzlich kann das Maß an Selbstkontrolle ein Indikator dafür sein, ob jemand bei Aufgaben, die als uninteressant wahrgenommen werden, konzentriert bleiben wird. ● Durchhaltevermögen gilt als die Fähigkeit einer Person, Schwierig‐ keiten zu bewältigen und beinhaltet den Willen, hart zu arbeiten und zusätzliche Anstrengungen in Kauf zu nehmen, sofern diese notwendig sind. Um Erfolge in der Karriere verwirklichen zu können, müssen teils auch große Herausforderungen und damit einhergehende Enttäuschun‐ gen durchgestanden werden, weshalb diese Komponente v. a. für ein berufliches Vorankommen wichtig ist. 180 11 Perspektiven <?page no="181"?> ● Optimismus gilt als die individuelle Interpretation von verschiedenen Ereignissen und die Wahrscheinlichkeit, mit welcher diese als positive Situationen bewertet werden. Optimistische Personen sehen bei schwie‐ rigen Situationen (eher) Hoffnung, was in der Konsequenz wiederum zu einem gesteigerten Durchhaltevermögen führen (und somit schließlich tatsächlich eher ein Erfolgserlebnis mit sich bringen) kann. ● Selbstwirksamkeit gilt als die Überzeugung einer Person, auch schwierige Situationen und Herausforderungen aus eigener Kraft er‐ folgreich bewältigen zu können. Subjektiv kann so die Kontrolle über das eigene Arbeitsergebnis auch unter potenziell belastenden Umstän‐ den behalten werden. 11.4 Abwägung Bei begrenzten Ressourcen entstehen komplexe Abwägungsentscheidun‐ gen. Sie sind nicht alleinig auf den Sachverhalt bezogen oder medizinisch, naturbzw. sozialwissenschaftlich zu beurteilen. In erheblichen Maß sind Fragen von Ethik und Moral als auch rechtlich relevante Güter und Optio‐ nen in die Gesamtbeurteilung aufzunehmen, um einen Kriterienkatalog von Maßnahmen zu spezifizieren. Der Erhalt der größtmöglichen Freiheit, von Würde und Gerechtigkeit stellt ethisch und in verfassungsrechtli‐ cher Hinsicht eine grundlegende Maxime dar. Selbstbestimmung ist der konkret-individuelle Ausdruck von Freiheit. Die gerechte Verteilung von Ressourcen ist ein kontrovers zu diskutierendes Thema. Rationalisierungs‐ maßnahmen ohne Abstriche des Leistungsniveaus erscheinen ausgeschöpft. Medizinische Notwendigkeit, Dringlichkeit der Behandlung, Wirksamkeit des Verfahrens sowie Kosteneffektivität stellen distributive Kriterien dar. Diskriminierung ist in diesem Kontext nicht erlaubt. Medizinische Versorgung ist von Bedarf und Bedürftigkeit geprägt. Es steht eine allgemeinfinanzierte Gesundheitsversorgung, die Ressourcen al‐ ler Mitglieder der Gesellschaft zugunsten derer ohne Ressourcen umverteilt, einem Verbund von Menschen, die einem gemeinsamen Wertehorizont unterliegen. Die Effektivität des Gesundheitssystems kommt nicht nur aber insbesondere in Katastrophensituation an ihre Grenzen. Bei Knappheitsbe‐ dingungen stellt sich der Konflikt des Vorrangs des Gemeinwohls gegenüber dem Individualwohl. Naturalistisch betrachtet, stellt sich möglicherweise die Frage einer größeren Akzeptanz des Todes und eine größere Bescheidenheit 11.4 Abwägung 181 <?page no="182"?> 128 Buyx, A; Eigenverantwortung als Verteilungskriterium im Gesundheitswesen. In: Ethik Med 2005 (17): S 269-283 im Kampf mit Krankheit. Das Streben nach Gesundheit ist wesentlicher Aspekt des gesellschaftlichen Verständnisses. Die Grenzziehung erfolgt individuell. Hohe Priorisierung sehr teurer High-Tech-Medizin führt dazu, dass seltene und komplexe Erkrankungen mehr und mehr erfolgreich adressiert werden können. Hohe Priorisierung Präventiv-, Palliativ- und Rehabilitationsmedizin führen dazu, dass Leiden nicht entstehen, Leiden begleitet oder Leiden gelindert werden. Krankheit und Krankheitsgeschehen sind komplexe Ereignisse, selten monokausal, zeitweilig in ihrem Verlauf sich langsam aufbauend, sich im multimorbiden Kontext verstehend und immer von bio-psychosozialer Bedeutung. Kausalität von Erkrankung und die Zuweisung von begleiten‐ den Faktoren, wie Individualverhalten, soziodemographische Faktoren und Umweltfaktoren stellen ein epistemisches Problem dar. Gesundheitsstörung oder Krankheit stellen sich als eine Störung von Körperfunktion bzw. -struk‐ turen dar und schränken auch krankheitstypisch Aktion und Aktivitäten ein, haben Einfluss auf Teilhabe und sind im Kontext von Umweltfaktoren und personbezogenen Faktoren zu interpretieren. Alle Aspekte haben Ein‐ fluss auf den individuellen Verlauf. Wissenschaftlich basierte Kenntnisse erlauben eine Zuordnung über Krankheitsursache und -verlauf, können das individuelle Geschehen nur verorten. Auch in anderen Lebensbereichen des öffentlichen Lebens lässt es sich nicht vermeiden, Entscheidungen angesichts nicht vollständiger epistemischer Sicherheit zu fällen. 128 Es kann davon ausgegangen werden, dass gesellschaftlicher Bedarf und biomedizinischer Fortschritt dazu führen, dass trotz steigender Refinanzie‐ rung insgesamt zu wenig Mittel zur Verfügung stehen und ein Allokations‐ problem verbleibt. Es erscheint auch, dass - gesellschaftlich - das gegenwär‐ tige Gesundheitssystem trotz der Kostenentwicklung als bewahrenswert erscheint. Take-Home-Message | Es muss sich ein gesellschaftlicher Konsens entwickeln über das, was im medizinischen Kontext „wichtig“ erscheint. Solidarität ist das entscheidende und tragende Prinzip des deutschen Gesundheitssystems. Solange eine individualmedizinische Versorgung unter ausreichender Bereitstellung von Mitteln gewährleistet ist, stellt 182 11 Perspektiven <?page no="183"?> sich in der Versorgung kein Problem dar. Jedes Mitglied der Gemein‐ schaft bekommt Hilfe und Unterstützung in dem Moment, wo es dies braucht. Wir sorgen im Solidarprinzip aber auch füreinander, es folgt die Verpflichtung des Einzelnen für die Gemeinschaft. Bei begrenzten Ressourcen ergeben sich Fragen der Rationierung und Priorisierung, deren Kriterien - aus dem Solidarprinzip begründet - gesellschaftlich zu determinieren sind. 11.4 Abwägung 183 <?page no="185"?> Epilog Zuteilungsbegrenzungen bei limitierten Ressourcen stellen eine Realität im medizinischen Kontext dar und sind allgegenwärtig. Jeder Bereich definiert sich an unterschiedlichen Kenngrößen und bedient sich unterschiedlicher ethisch-moralischer Ansätze. Moral ist das zugrundeliegende Normsystem und Ethik deren Reflexion. Normative Vorschriften stellen einen gesell‐ schaftlichen Konsens, eine Vereinbarung dar, bezeichnen aber nicht immer das, was „gut“ ist. Sie müssen stets reflektiert und überdacht werden, um zentralen Aspekten von Würde, Gerechtigkeit und Selbstbestimmung zu entsprechen. Individuelle und gesellschaftliche Förderung von Resilienzfaktoren, wie die Fähigkeit der Anpassung an sich veränderte Rahmenbedingungen, die Fähigkeit Urteile und Entscheidungen von eigenen Wünschen und Emotionen zu trennen, die Fähigkeit Verantwortung zu übernehmen, die Fähigkeit Schwierigkeiten zu bewältigen und Handlungsfreiheit zu erlan‐ gen, die Fähigkeit positive Aspekte zu erkennen und zu adressieren sowie die Überzeugung als Individuum und als Gesellschaft, auch schwierige Situationen und Herausforderungen aus eigener Kraft zu bewältigen, stellen Lösungsmöglichkeiten eines Umgangs mit begrenzten Ressourcen dar, um Ungerechtigkeit so weit als möglich zu vermeiden. <?page no="187"?> Register Absolutskala-138 Abwägung-181 Ageism-167 Allokation-65f. Allokationsproblem-65 Alter-155 Amoklauf-114 Anpassungsfähigkeit-180 Armutsbericht-164 Aufklärung-43, 58 Aufklärungsgespräch-59 Autonomie-42, 51 Barmherziger Samariter-22 Beauchamp, Tom L.-15, 41, 60 Bentham, Jeremy-19 Betreuungsprinzip-62 Big Data-52 Boccaccio, Giovanni-31 Calment, Jeanne-160 Chancengleichheit-118 Childress, James F.-15, 41, 60, 129 Clinical Frailty Scale-88 Contergan-Skandal-18 COVID-19-Erkrankung-20 Dialog-129 Differenzierungsprinzip-22 Durchhaltevermögen-180 Dysmelien-18 Effizienz-71 Effizienzsteigerung-72 Engelhardt, H. Tristram-77 Entlassungsmanagement-82 Erhard, Ludwig-66 Erwerbsminderungsrente-148 Ethik-13, 15, 35 Exposition-21 Fairness-22 Fake News-53f. Feyerabend, Paul-33 Foot, Philippa-47 Fries, James-177 Fürsorge-23, 25 Gebrechlichkeit-161 Gemeinsamer Bundesausschuss (GBA)-70 Genfer Gelöbnis-38 Genfer Konvention-105 Gerechtigkeit-22, 37, 43 Geriatrie-153 Gesundheitsdefinition-132 Gesundheitsmarkt-69 Gewissenhaftigkeit-16 Gleichheit-27 Glück-19 Gruenberg, Ernest M.-177 Impfkampagne-23 Impfstoffentwicklung-71 Impfung-94 Infodemie-53 Intensivkapazitäten-24 Intensivmedizin-125 <?page no="188"?> Intervallskala-137 Kant, Immanuel-38, 46 Kleeblattkonzept-134 Knappheit-65 Konflikte-130 Konsumentensouveränität-69 Kontextfaktoren-125 Krankenversicherung-29, 67 Kriegserfahrungen-101 kritische Infrastruktur-29 Lebenserwartung-157 Lebensqualität-131 Leistungsbegrenzungen-78, 80 Lenz, Widukind-18 Lockdown-54 Makroallokation I-77 Makroallokation II-77 Marktmechanismus-66 Markttheorie-28 Massenanfall-112 Mikroallokation I-77 Mikroallokation II-77 Militäreinsatz-99 Mill, John Stuart-19, 51 Mittelknappheit-24, 69 Model for End-Stage-Liver-Disease (MELD)-92 Moral-13, 15 Morbidität-176 Morbiditätsexpansion-177 Morbiditätskompression-177 Müller-Armack, Alfred-66 Nichtschaden (Prinzip)-42 Nikolausurteil-79 Nominalskala-137 Normen-61 Notfallmedizin-111 Notstand-120 Nutzen-122 Ökonomie-13 Optimismus-181 Ordinalskala-137 Osteoporose-73 Pandemie-31 Parasympathikus-179 Patientenverfügung-165 Patientenwille-128 Pflichtenprinzip-19 philosophische Aspekte-19 Prinzipienethik-15 Priorisierung-87, 93, 95 Ramstein-116 Rationalisierung-81 Rationalisierungsmaßnahmen-24 Rationierung-28, 76 Rationierungen-24 Rawls, John-27 Rehabilitation-141, 144, 146f. Resilienz-178 Resilienzforschung-179 Resilienzkomponenten-180 Ressourcenverteilung-172 Schirach, Ferdinand-122 Schleier des Nichtwissens-21f. Scores-91 Selbstkontrolle-180 Selbstwirksamkeit-181 Sen, Amartya-45 188 Register <?page no="189"?> Skalierung-137 Solidarität-25 Solidaritätsprinzip-26 Soziale Marktwirtschaft-66 soziale Mobilität-20 soziale Ungleichheit-20 soziale Unterschiede-25 Sozialleistungsträger-147 Sympathikus-179 taktische Medizin-100 Taurek, John M.-124 Thalidomid-18 Therapieziel-132 Thoraxdrainage-108 Toleranz-51 Toleranzparadoxon-51 Tragik der Postmodernen-34 Transplantation-92 Triage-48, 102 Trolley-Problem-47 Überversorgung-130 Ultra-Fast-Track-Chirurgie-82 Unfallversicherung-29 Ungleichheit-20 Ungleichheiten-20 Unterversorgung-131 vegetatives Nervensystem-179 Verhältnisskala-137 Versicherung-67 Versorgung-21 Versorgungsstruktur-133, 163 Versprechen-16 Verteilung-27 Vertrauen-16 Verweildauer-81 von Bismarck, Otto-67 Vulnerabilität-21 Weltärztebündnis-38 Werner, Emmy-179 Werte-127 Wissenschaftsjournalisten-57 Wohltun (Prinzip)-41 Zahnersatz-18 Zweitmeinungsverfahren-74f. Register 189 <?page no="190"?> ISBN 978-3-8252-6009-5 Thomas Stockhausen Allokation im Gesundheitswesen Lösungsstrategien für eine gerechte Verteilung Knappe Mittel richtig verteilen Wie lassen sich Bedarf und Ressourcen miteinander in Einklang bringen und welche Grundsätze müssen bei der Allokation gelten? Thomas Stockhausen wendet sich genau diesen Fragen zu: Er geht auf die ökonomischen Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen ein und skizziert, welche Grundsätze der Gerechtigkeit hier gelten. Vorhandene Allokationsprobleme diskutiert er und behandelt beispielsweise aktuelle Fragen der Triage und der Allokation in der Intensivmedizin. Das Buch richtet sich an Studierende der Gesundheits- und Pflegewissenschaften sowie der Medizin. Es ist ebenso für Praktiker: innen geeignet, die etwa in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen arbeiten oder sich mit gesundheitspolitischen Fragen beschäftigen. Gesundheits- und Pflegewissenschaften | Medizin Allokation im Gesundheitswesen Stockhausen Dies ist ein utb-Band aus dem UVK Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehr- und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel Mit Praxisbeispielen 2023_09_20_6009-5_Stockhausen_M_6009_PRINT.indd Alle Seiten 2023_09_20_6009-5_Stockhausen_M_6009_PRINT.indd Alle Seiten 21.09.23 10: 02 21.09.23 10: 02