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Avantgarden in Zentraleuropa

Andere Räume, andere Bühnen

0814
2023
978-3-8385-6016-8
978-3-8252-6016-3
UTB 
Wolfgang Müller-Funk
Vera Faber
Dietmar Unterkofler
Karoly Kokai
10.36198/9783838560168

Publikationen zum Thema ,Avantgarde' erscheinen in der Regel in verschiedenen Nationalsprachen und sind so Teil von nationalen Diskussionen, die von außen schwer zu verfolgen sind. Dieses Studienbuch erschließt die avantgardistische Kultur Zentraleuropas in einer Gesamtschau. Die Region Zentraleuropa findet sich auf keiner Landkarte - sie bildet aber eine spezifische Einheit, die sich insbesondere historisch und kulturgeschichtlich als geschlossenes Biotop anschauen lässt. Verhandelt werden als bedeutend erachtete Künstlerpersönlichkeiten, sogenannte Zentren, sogenannte Peripherien und als paradigmatisch geltende Bewegungen.

9783838560168/Errata.html
<?page no="0"?> W. Müller-Funk | V. Faber D. Unterkofler (Hrsg.) Avantgarden in Zentraleuropa Andere Räume, andere Bühnen <?page no="1"?> utb 6016 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Brill | Schöningh - Fink · Paderborn Brill | Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen - Böhlau · Wien · Köln Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Narr Francke Attempto Verlag - expert verlag · Tübingen Psychiatrie Verlag · Köln Ernst Reinhardt Verlag · München transcript Verlag · Bielefeld Verlag Eugen Ulmer · Stuttgart UVK Verlag · München Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld Wochenschau Verlag · Frankfurt am Main UTB (M) Impressum_03_22.indd 1 UTB (M) Impressum_03_22.indd 1 23.03.2022 10: 23: 51 23.03.2022 10: 23: 51 <?page no="3"?> Wolfgang Müller-Funk / Vera Faber / Dietmar Unterkofler (Hrsg.) Avantgarden in Zentraleuropa Andere Räume, andere Bühnen Unter Mitarbeit von Károly Kókai Narr Francke Attempto Verlag · Tübingen <?page no="4"?> DOI: https: / / www.doi.org/ 10.36198/ 9783838560168 © 2023 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Ver‐ vielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: in‐ nen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: siegel konzeption | gestaltung CPI books GmbH, Leck utb-Nr. 6016 ISBN 978-3-8252-6016-3 (Print) ISBN 978-3-8385-6016-8 (ePDF) ISBN 978-3-8463-6016-3 (ePub) Umschlagabbildung: Vadym Meller: Monach [Mönch]. Kostümskizze. Aus „Mazepa“ nach Juliusz Słowacki. © Museum of Theatre, Music and Cinema Arts of Ukraine, Kyiv. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> I. 7 1. 7 2. 11 3. 16 4. 20 5. 22 6. 27 7. 29 II. 35 1. 35 2. 55 3. 62 71 III. 73 1. 73 2 96 3 107 121 IV. 123 1. 123 2. 133 3. 138 156 Inhalt Einleitung und Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Für eine Geschichte der Avantgarden der kleinen Länder . Theorien der Avantgarde nach Peter Bürger . . . . . . . . . . . . Vier Phasen der Avantgarde, vier historische Avantgarden Zentrum und Peripherie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Moderne und Avantgarde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufbau des Buches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jugoslawien und der postjugoslawische Raum Dietmar Unterkofler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Manifeste und Programmatisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personen und Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chronologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Österreich Wolfgang Müller-Funk / Alexandra Millner . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Manifeste und Programmatisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personen und Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chronologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Polen Kalina Kupczyńska / Beata Śniecikowska . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Manifeste und Programmatisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personen und Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chronologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> V. 159 1. 159 2. 168 3. 175 196 VI. 197 1. 197 2. 213 3. 228 237 VII. 239 1. 239 2. 253 3. 260 273 VIII. 275 1. 275 2. 289 3. 293 311 313 333 339 Rumänien Imre Balazs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Manifeste und Programmatisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personen und Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chronologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tschechoslowakei, Tschechien und Slowakei Zuzana Říhová . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personen und Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Manifeste und Programmatisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chronologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ukraine Vera Faber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Manifeste und Programmatisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personen und Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chronologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ungarn Károly Kókai . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Manifeste und Programmatisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personen und Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chronologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> I. Einleitung und Rahmen 1. Für eine Geschichte der Avantgarden der kleinen Länder Die Zahl der Publikationen zum Thema Avantgarde ist schon lange nicht mehr überschaubar. Zu denken ist hierbei zunächst an die Erforschung der ‚klassischen‘ historischen Avantgarden in Ländern wie Russland bzw. dem sowjetischen Nachfolgestaat, Frankreich, Italien oder auch an das Deutschland der Weimarer Republik. Diese Länder mit ihren jeweils sehr un‐ terschiedlichen nationalen Entwicklungen sind maßgebliche Bezugspunkte für eine längst kanonisch gewordene Avantgarde, um die sich dann - so die dominierende wissenschaftliche Darstellung - kreisförmig die avantgardis‐ tischen Strömungen anderer Länder gruppieren. Die Erforschung der individuell sehr verschiedenen Entwicklungen dieser „anderen Länder“ erfolgt in ebenfalls national-kulturell orientierten Studien über die jeweiligen modernistischen und avantgardistischen Strömungen und steht zumeist im Schatten der Studien über die oben erwähnten großen europäischen Länder und deren prominente Avantgarden. Die Publikatio‐ nen über die Avantgarden ‚kleiner‘ Länder erscheinen nicht selten in den einzelnen Nationalsprachen, also Serbisch, Kroatisch, Ungarisch, Deutsch, Slowakisch, Tschechisch, Polnisch, Ukrainisch, Rumänisch, um nur Zentral‐ europa zu erwähnen. Es gibt dazu jeweils eine entsprechende nationale Diskussion, die von außen schwer zu verfolgen ist. Dabei kommen in all diesen Studien über die „großen“ und kleinen“ Länderentwicklungen nicht selten ihre transnationalen Bezüge, die für alle avantgardistischen Strömungen so konstitutiv sind, einigermaßen zu kurz. Verhandelt werden vor allem als bedeutend erachtete Künstlerpersönlichkeiten, sogenannte Zentren und Peripherien und als paradigmatisch geltende Bewegungen. Die geographische Komponente wird dabei als grundlegend berücksichtigt, allerdings viel zu oft auf ein meist statisch missverstandenes Schema von Zentrum und Peripherie reduziert. Es finden sich indes auch Darstellungen, die grenzübergreifend größere Regionen zu überblicken versuchen. Zwei großangelegte - und sehr unterschiedlich geartete - Projekte der letzten fünfzehn Jahre waren Piotr Piotrowskis 2009 erschienene Publikation mit dem Titel In the Shadow of Yalta. Art and the Avant-garde in Eastern <?page no="8"?> 1 Piotrowski, Piotr. In the Shadow of Yalta. Art and the Avant-garde in Eastern Europe 1945-1989. London: Reaktion Books. 2009. 2 A Cultural History of the Avant-Garde in the Nordic Countries 1925-1950. Brill: https./ / brill.com/ view/ title/ 38041? / language=en. Die bislang letzte Band 36 erschien 2019. Herausgegeben wird die Reihe von Benedikt Hjartarson, Andrea Kollnitz, Per Sounbjerg und Tanja Ørum. 3 Asholt, Wolfgang / Fähnders, Walter (Hrsg.). Manifeste und Proklamationen der euro‐ päischen Avantgarde (1909-1938). Stuttgart: J.B. Metzler. 1995. Europe 1945-1989  1 und die 2004 gestarteten Nordic Network of Avant-Garde Studies. Das erste fasste die Forschungen eines polnischen Kunsthistorikers zusammen, das zweite war ein internationales Forschungsprojekt, dessen Ergebnisse in mehreren Sammelbänden der Serie A Cultural History of the Avant-Garde in the Nordic Countries vorliegen. 2 Ein die Region Zentraleuropa überblickendes, die gesamte Epoche der Avantgarden umfassendes Werk existiert nicht. Eine nicht-hegemoniale Überschau über die Manifeste der europäischen Avantgarde zwischen 1909 und 1938 haben 1995 Wolfgang Asholt und Walter Fähnders vorgelegt, in der den Avantgarden im östlichen Teil Europas ein breiter Platz eingeräumt wird. 3 Dabei wird deutlich, dass das Thema von Avantgarde und Peripherie eine ganz andere Bedeutung hat, ist doch die Avantgarde in einem nicht rein räumlich gedachten Konzept von Zentrum und Peripherie durch eine dezentrale und zunächst margina‐ lisierte Position charakterisiert. Die Erfolgsgeschichte lässt sich demzufolge auch dadurch beschreiben, dass im Prozess der modernen Kultur wichtige Momente, Elemente und Gedanken der Avantgarde von der Peripherie ins Zentrum der jeweiligen kulturellen Räume gerückt sind. Zahlreiche Ausstellungen und Konferenzen thematisieren die Avantgarde ebenfalls. Nach der Wende von 1989 gab es einige große Sammelausstellun‐ gen, die sich der osteuropäischen Kunst widmeten. Sehr wichtig die von Bojana Pejić und David Elliott konzipierte After the Wall-Ausstellung, die 1999 im Moderna Museet Stockholm gezeigt wurde und anschließend nach Budapest (Ludwig Museum) und Berlin (Hamburger Bahnhof) weiterwan‐ derte, sowie im deutschsprachigen Raum die von Lóránd Hegyi kuratierte Ausstellung Aspekte/ Positionen - 50 Jahre Kunst aus Mitteleuropa 1949-1999, die in Wien und Budapest gezeigt wurde. So wird im Wiener Museum für Moderne Kunst einerseits die eigene Sammlung, andererseits die seit dem Jahr 2007 als Schenkung einen eigenständigen Teil bildende Sammlung Bogner wiederholt neu aufgestellt, was jeweils frische Blicke auf die Avant‐ garde ermöglicht. Seit 2008 finden zweijährlich die European Network for 8 I. Einleitung und Rahmen <?page no="9"?> 4 Vgl. www.eam-europe.be (10.7.2022). Avantgarde and Modernism Studies-Konferenzen statt, begleitet von einer Buchreihe, die ausgewählte Beiträge enthält. 4 All diese Initiativen machen deutlich: die Diskussion bezüglich der Avantgarden ist alles andere als abgeschlossen. Dies gilt auch bezogen auf ein nächstes zentrales Element der Avantgarden selbst, auf die Multi- und Intermedialität, respektive auf die medialen Innovationen der Avantgarden. Betrachtet man die klassische Einteilung der Kunstsparten, dann fällt auf: Aufmerksamkeit wird vor allem der bildenden Kunst und ihren medialen Erweiterungen geschenkt. Literatur wird zwar berücksichtigt, aber bereits mit einer wesentlich geringeren Intensität. Film findet Erwähnung. Bühne und Musik stehen noch weiter am Rand der Aufmerksamkeit, obwohl das Performative als zentrales Element der Avantgarde gilt und obwohl Avantgarden dezidiert die gesamte Kultur zu erneuern antreten. Die Region Zentraleuropa findet sich auf keiner Landkarte. Sie bildet aber eine spezifische Einheit, die sich insbesondere historisch und kul‐ turgeschichtlich als geschlossenes Biotop betrachten lässt - indem sie beispielsweise als Ort des Kulturtransfers zwischen den anderen europä‐ ischen Regionen, etwa dem Osten und dem Westen, angesehen wird. Die Region wird von einer Reihe von Klein- und Mittelstaaten gebildet, deren Grenzen im 20. Jahrhundert wiederholt neu gezogen wurden. Die Region zeichnet sich durch Diversität, Pluralität und eine intensive Dynamik aus, die in kultureller Hinsicht als Laboratorium von Tradition und Erneuerung angesehen werden kann. Was also in der Kulturgeschichtsschreibung von Zentraleuropa fehlt, ist eine Gesamtschau der avantgardistischen Bewegungen in den oftmals neuen nach 1918 entstandenen Nationalstaaten, von denen einige auf dem Boden der ehemaligen Österreichisch-Ungarischen Monarchie entstanden sind. Einen überschaubaren geographischen Bereich wie Zentraleuropa zu wählen und sich auch auf Bereiche zu konzentrieren, die bestimmte historische Erfahrungen - und diese freilich aus verschiedenen Perspektiven und oft mit gegensätzlichen Wertigkeiten - teilen, erlaubt ein möglichst konsistentes Bild, einen Zugang, der sich mit dem Anspruch auf Vollstän‐ digkeit seinem Gegenstand nähert. Im vorliegenden Band wird dieser also insofern angestrebt, als eine Region in ihrer Gesamtheit überblickt wird. Zweitens werden unterschiedliche künstlerische Disziplinen samt ihren medialen Grenzüberschreitungen berücksichtigt. Es wird ein Kanon der 1. Für eine Geschichte der Avantgarden der kleinen Länder 9 <?page no="10"?> 5 Kundera, Milan. Einleitung zu einer Anthologie oder Über drei Kontexte. In: Chvatík, Kvĕtoslav. Die Prager Moderne. Erzählungen, Gedichte, Manifeste. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 1991, S.-7-23, hier S.-21. wichtigsten Werke, Protagonisten, Bewegungen und Ereignisse präsentiert. Ziel ist eine einheitliche Darstellung, die als Basis für die weitere - nationale und internationale - Forschung dienen kann. Dieser Einführungsband, der an mehrere Ringvorlesungen an der Uni‐ versität Wien anschließt, möchte die vorhandenen Lücken schließen und die oftmals übersehenen Leistungen und die Bedeutung von Avantgarde- Strömungen im zentraleuropäischen Raum gebührend herausstellen. Die Tendenz der Avantgarde zur Zentrenbildung führt nicht selten dazu, die genuinen Leistungen der Avantgarden in der ehemaligen Tschechoslowakei, im ehemaligen Jugoslawien, in Ungarn, Österreich, Polen, der damaligen Sowjetrepublik Ukraine und Rumänien zu marginalisieren und diese als peripher anzusehen, eben als schwächer ausgeprägte Versionen der „gro‐ ßen“ klassischen Avantgarden etwa in Ländern wie Deutschland, Frankreich oder Italien. Durch die Interaktionen mit diesen Zentren und infolge ganz spezifischer kultureller Bedingungen haben sich allerdings eigene und eigensinnige Formen des Avantgardismus ausgebildet, die im Überblick auch anhand konkreter Beispiele dargestellt werden. Das Buch möchte einen wichtigen Beitrag zur internationalen Avantgar‐ deforschung leisten, zugleich aber auch als Einführung für Studierende und Interessierte dienen. Das Buch ist kein übliches heterogenes Sammelwerk, sondern ein kompakter und konsistenter Band, der von einem Team von Expertinnen und Experten nach bestimmten Vorgaben gestaltet wurde. Dadurch wurde zum ersten Mal ein Überblickswerk geschaffen, das zwar auf den jeweiligen nationalen Kontext Bezug nimmt, aber von seinem Verständnis transnational ist, indem sie die jeweiligen Avantgarden in eine komparatistische Perspektive stellt. Abgewandelt gilt auch für die Geschichte der internationalen Avantgarde das, was Milan Kundera in einem Vorwort zu einem Band über die Prager Moderne geschrieben hat. „Das was die kleineren Literaturen daran hindert, sich als Weltliteratur zu begreifen,“ ist, dass sie sich bewusst sind, sich die Überheblichkeit nicht leisten zu können, mit ihrer Nationalliteratur die Weltliteratur ersetzen zu wollen. 5 10 I. Einleitung und Rahmen <?page no="11"?> 6 Bürger, Peter. Theorie der Avantgarde. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 1971, S.-76. 7 Bürger, Theorie der Avantgarde, S.-82. 2. Theorien der Avantgarde nach Peter Bürger Es gehört zur Eigenart wissenschaftlicher Begriffe, dass ihre Bedeutung nicht stabil bleibt. Sie unterliegt Schwankungen, die mit veränderten Dis‐ kurslagen und Kontexten zusammenhängen. Im deutschsprachigen Raum haben sich jene Zuschreibungen, Bestimmungen und Definitionen als be‐ sonders langlebig und bestimmend erwiesen, die Peter Bürger in seinem 1971 erstmals erschienenen Buch Theorie der Avantgarde entwickelt hat. Der zeitliche Abstand eines halben Jahrhunderts hat daran wenig geändert, auch wenn Bürgers Studie, die, zuweilen auch kritisch, an ästhetische Über‐ legungen von Adorno, Benjamin und Marcuse anschließt, natürlich selbst historisch geworden ist. So lässt sie sich heute selbst als wichtiges Dokument einer verspäteten Rezeption einer kontinentaleuropäischen Avantgarde verstehen. Bürger hebt einen Aspekt hervor, dem bei Adorno, etwa in seiner post‐ hum erschienenen Ästhetischen Theorie kaum Augenmerk geschenkt wird, die Tatsache nämlich, dass „in den historischen Avantgardebewegungen Formen der Aktivität entfaltet worden sind, die sich in keiner Weise mehr adäquat unter die Werkkategorie fassen lassen: z. B. die dadaistischen Veranstaltungen, die die Provokation des Publikums zu ihrem erklärten Ziel machen.“ Es gipfelt in der „Liquidierung der Kunst als einer von der Lebens‐ praxis abgespaltenen Tätigkeit.“ Und: „[…] der Akt der Provokation selbst nimmt die Stelle ein.“ 6 Insofern propagiert sie eine Kunst jenseits der bür‐ gerlichen Welt und ihrer individuellen Produktions- und Rezeptionsformen. Bürgers Paradebeispiel ist Marcel Duchamps 1917 erstmals ausgestelltes Readymade Urinoir. In diesem eher strukturellen Charakteristikum sieht Bürger „die Radikalität des Bruchs mit dem bisher Geltenden.“ 7 Diese Beschreibung bleibt in Bürgers Studie vor allem der ‚klassischen‘ Phase der Avantgarde vorbehalten, die man zeitlich im Sinne von Asholt und Fähnders auf die Jahre 1909 bis 1938 datieren kann, also auf den Zeitraum zwischen dem ersten futuristischen Manifest Marinettis und dem Zweiten Weltkrieg, der mit der Besetzung großer Teile Europas durch das nationalsozialistische Großdeutsche Reich beginnt, das avantgardistische Aktivitäten rigoros unterbindet. Provokation, Manie des Neuen, Absage an das geschlossene organische Kunstwerk, Bruch und Fragment, Sinnauflö‐ 2. Theorien der Avantgarde nach Peter Bürger 11 <?page no="12"?> 8 Bürger, Theorie der Avantgarde, S.-78. 9 Bürger, Theorie der Avantgarde, S.-79. sung und Fokussierung auf Zufall und Kontingenz sind Bürger zufolge jene charakteristischen Momente, die sich in Dada, Futurismus und Surrealismus nachweisen lassen - auf den Konstruktivismus, der als Avantgarde im nachrevolutionären Russland, im weimarischen Deutschland aber auch in den in diesem Band besprochenen kleinen Ländern eine maßgebliche Rolle spielte, geht Bürger nicht eigens ein, ebensowenig wie auf die immer wieder diskutierte Frage, nachdem Verhältnis zwischen Strömungen wie Expressionismus und Neue Sachlichkeit, zwei deutschen Phänomenen, und der Avantgarde. Modernistische Strömungen wie Kubismus oder Informel inspirierten die Avantgarde, begleiteten sie oder nutzten Errungenschaften von diesen. Sie zeigen an, wie weit Avantgarde Teil der Moderne geworden ist. So gilt diese Beeinflussung auch umgekehrt. Im modernistischen Werk von Paul Celan haben seine Erfahrungen mit den Surrealisten in Bukarest in den Jahren 1945 bis 1947 ihre Spuren nachhaltig hinterlassen. Den Kontrast zwischen historischer Avantgarde und den Neoavantgarden nach 1945, die nunmehr auch Länder wie z.-B. die USA und Japan erfassen, sieht der Autor darin, dass in letzterer die Werkkategorie „restauriert wor‐ den ist und die von der Avantgarde in antikünstlerischer Absicht ersonnenen Verfahrensweisen zu künstlerischen Zwecken gebraucht wurden.“ 8 Diese Gegenüberstellung scheint nicht ganz plausibel, hat doch schon Duchamp seine Readymades als künstlerisch wie antikünstlerisch verstanden. Und dass das neoavantgardistische Werk des seinerzeit der Fluxus-Bewegung nahestehenden Künstlers Daniel Spoerri (Ungarische Gemüsekiste, 1964) ähnlich wie jenes von Duchamp das traditionelle ‚bürgerliche‘ Kunstwerk in Frage stellte, lässt sich wohl schwerlich bestreiten. Was bei Bürger insgesamt zu kurz kommt, ist die Tatsache, dass die Kulturkämpfe im Gefolge der 1968er-Bewegung das bürgerliche Kunstverständnis nachhaltig erschüttert haben. „Daß die Avantgarde heute (1971, A. d. V) historisch ist“ 9 , muss also andere Gründe haben. Dieser Umstand ist wohl viel eher auf einen historischen Transzendenzverlust zurückführen, denn die von Bürger zu Recht ins Feld geführte Suspendierung des klassischen Kunstwerks ist eingebettet in das Projekt der Überwindung einer ‚falschen‘ bürgerlichen Gesellschaft. Die neue, oft sozialistisch gedachte Gesellschaft, soll die schmerzhafte Trennung von Kunst, Leben und Politik überwinden, ‚transzendieren‘. Die 12 I. Einleitung und Rahmen <?page no="13"?> 10 Vgl. hierzu auch: Klinger, Cornelia / Müller-Funk, Wolfgang (Hrsg.). Das Jahrhundert der Avantgarden. München: Fink. 2004. 11 Groys, Boris. Gesamtkunstwerk STALIN. Die gespaltene Kultur in der Sowjetunion. München: Hanser. 1988, insb. S.-19-38. avantgardistische Praxis ist demnach nicht zuletzt eine Antizipation einer zukünftigen Welt. Die Parallelität zwischen den avantgardistischen Kunst‐ bewegungen und jenen revolutionär-antikapitalistischen ist sinnfällig, etwa im italienischen Futurismus wie auch in seinen gesamtrussischen Varianten oder im Surrealismus. Damit ist aber ein Zusammenhang benannt, der in der Studie von 1971 ausgespart geblieben ist, aber im Vorwort der schon mehr‐ fach erwähnten Dokumentation der Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde eine maßgebliche Rolle spielt, ein revolutionärer Impetus, der nicht nur auf die Veränderung der Stellung der Kunst in der Gesellschaft abzielt, sondern auf die radikale Veränderung aller relevanten sozialen und kulturellen Verhältnisse. Von den politischen Programmen antikapitalistischer Bewegungen unterscheiden sich diese Manifeste durch ihren performativen Gestus, der Hypertrophie, Ironie und spielerische Momente einschließt. Bekanntlich hat die Liaison diverser Avantgarden mit den antibürgerlichen Bewegungen nicht lange gehalten. Das gilt für das Kapitel Futurismus-Faschismus ebenso wie für die avantgardistischen Bewegungen im bolschewistischen Russland. 10 Interessant ist es, an dieser Stelle Boris Groys Buch Gesamtkunstwerk Stalin zu erwähnen, das den Stalinismus ironisch überspitzt als beinahe perfekte Verwirklichung der Avantgarde, also der Überführung von Kunst ins Leben, liest. 11 Peter Bürgers Studie aus 1971 spiegelt die mehr als fünf Jahrzehnte nach Auftreten der Avantgarde immer noch spürbare Irritation der bürgerlichen Kulturwelt. Das von ihm auch formulierte moralisierende und als Diskredi‐ tierung gemeinte Urteil, dass die Kunst der Avantgarde jetzt in den Museen hänge, die sie niederbrennen wollte, begleitete die Neoavantgarde mit und verschloss für weite Kreise von Kulturwissenschaftlern den Weg zu einer adäquaten Rezeption eines ihnen zeitgenössischen Phänomens. Bürgers ironischer Kommentar macht noch einmal sinnfällig, wie stark die Avantgarde von der utopischen Erzählung der Überwindung der Kluft von Kunst und gesellschaftlichem Leben geprägt war und bis zu einem gewissen Grad noch immer ist. Bereits Friedrich Schlegels berühmtes ro‐ mantisches, prae-avantgardistisches Mini-Manifest enthält hundert Jahre vor den Manifestanten der Avantgarde bereits einige Elemente, die sich 2. Theorien der Avantgarde nach Peter Bürger 13 <?page no="14"?> 12 Schlegel, Friedrich. Schriften zur Literatur. München: dtv. 1972, S.-37. 13 Zit. nach Asholt/ Fähnders, Manifeste und Proklamationen, S.-318f. 14 Fischer-Lichte, Erika. TheaterAvantgarde. Wahrnehmung - Körper - Sprache. Tübin‐ gen / Basel: Francke. 1995. in den Manifesten von linken bzw. rechten Futuristen, Konstruktivisten und Surrealisten finden, so die Überwindung der Trennung von Kunst und Leben, den holistischen Blick auf den Gesamtzustand der zu überwindenden Kultur, die Proklamation einer ganz neuen Welt, das Zusammenspiel der Künste, eine Utopie des Metapolitischen und ein unübersehbares Unbehagen an der entstehenden rationalisierten kapitalistischen Welt: Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen. 12 Im poetistischen Manifest von Karel Teige (→ Kapitel VI) aus dem Jahr 1924, das übrigens den Konstruktivismus ausdrücklich einschließt, wird die „reguläre Liquidierung der bisherigen künstlerischen Abarten“ verkündet, „um die Herrschaft der reinen Poesie herzustellen“. Und auch hier ist davon die Rede, die Genres, Gattungen und Künste zu vermischen, die Kunst lebendig und das Leben ästhetisch zu machen. Eine juvenile Aufbruchsstim‐ mung ist hier wie dort unüberhörbar ebenso wie die Idee einer neuen Ästhetik, die die „Poesie der sonntäglichen Nachmittage“ „zu alten (m) Eisen werden soll“. 13 Die Kulturrevolution, die bei Teige angepeilt wird, soll alle Bereiche des menschlichen Lebens erfassen, die Organisation der Lebensumstände wie die der Politik. In den Manifesten schimmert durch, was die künstlerischen Aktionen der diversen Avantgardisten von Anfang an und lange vor dem Wiener Aktionismus (→ Kapitel III) versinnbildlichen: den Willen zur Performanz, zur Selbstdarstellung, in dem der Künstler selbst zum Schauobjekt und -subjekt wird. 14 Liest man die Manifeste der ‚klassischen‘ Avantgarden aus heutiger Warte, so sind in diesen eine Reihe einander bedingende Momente wirksam: die Schaffung einer jungen und dynamischen Welt zunächst im Gefolge der gelungenen oder wie im Fall der Ukraine zunächst misslungenen Nationsbildung (vgl. dazu Kapitel III), die ödipale Abwendung von der 14 I. Einleitung und Rahmen <?page no="15"?> 15 Šnajder, Slobodan. Die Reparatur der Welt. Deutsch von Mirjana und Klaus Wittmann. Wien: Zsolnay. 2019. Elterngeneration, deren Lebensdaten ins 19. Jahrhundert zurückreichen, die medialen Revolutionen, die Teil einer neuen technisch-wissenschaftli‐ chen Welt sind sowie die große Erzählung vom Fortschritt hin zu einer völlig neuen nach-bürgerlichen und einheitlichen Welt, die nicht selten den Namen ‚Sozialismus‘ trägt. Insofern sind, philosophisch betrachtet, alle historischen Avantgarden futuristisch, d. h. auf die Zukunft gerichtet. Die von Marinetti initiierte Bewegung hat diesem Selbstgefühl, eine Elite der und für die Zukunft zu sein, nur den passenden und prägenden Ausdruck verliehen. Avantgarde ist ästhetisch wie politisch der selbststimulierende Anspruch, der Vortrupp der Zukunft in allen Bereichen von Kultur und Gesellschaft zu sein. Dieses offensive Selbstbild hat das Jahr 1945 nicht ungebrochen überdauert. Das damit verbundene, oftmals selbstironisch gebrochene Pathos lässt sich nach den katastrophalen historischen Ereignissen zwischen 1933 und 1945 nicht mehr aufrecht erhalten. Kollektive Geschehnisse wie ein tech‐ nischer Massenvernichtungskrieg, die Shoah, die Schrecken des stalinis‐ tischen Terrors, die Vertreibung von Millionen von Menschen und die neue Dimension des atomaren Krieges gehen an den Begründern neuer avantgardistischer Bewegungen und Strömungen nicht spurlos vorüber. Neoavantgarde bedeutet ein Neuaufleben eines Phänomens, das auf den ver‐ schiedensten Ebenen von Kultur und Gesellschaft selbst traditionsbildend wurde. Die Kontexte haben sich jedoch verschoben. Die Zukunft, die in den Manifesten der Zwischenkriegszeit, so offen stand, ist von den Schatten der Vergangenheit verhängt. Das Projekt einer radikalen Verwandlung von Kultur, Politik, Gesellschaft und Leben wird nach und nach stillschweigend begraben. An die Stelle von Transzendenz und Überwindung tritt der Gestus der immanenten Intervention in die bestehende Gesellschaft und Irritation, eine um den Titel eines renommierten kroatischen modernistischen Autors zu bemühen „Reparatur der Welt“. 15 Bürgers Darstellung des Verhältnisses von Avantgarde und Neoavantgarde wäre auch dahingehend zu korrigieren, dass sie den ästhetischen und metapolitischen Leistungen der Neoavant‐ garde nach 1945 nicht gerecht wird und deren Reflexionsleistung auch im Hinblick auf die Avantgarden der Zwischenkriegszeit unterschlägt. Spezifisch ist die Situation avantgardistischer und modernistischer Künst‐ lerinnen und Künstler in den Ländern des realen Sozialismus. Während, 2. Theorien der Avantgarde nach Peter Bürger 15 <?page no="16"?> etwa in der Tschechoslowakei, viele Avantgardisten ihre einstigen Positio‐ nen revidieren und sich der staatlich vorgeschriebenen Kunst annähern, gerät die Avantgarde der nachfolgenden Generation in die Nähe des politi‐ schen Samisdat, der sich dem realen Sozialismus entgegenstellt und die Idee von der großen Umwälzung aufgegeben hat. In den marktkapitalistischen und oftmals sozialstaatlich organisierten Ländern des Westens tritt nun eine, wenn man so will, demokratische Seite der Avantgarde zutage, wobei auch sichtbar wird, dass sich offene Gesellschaften mit ästhetischer Subversion besser vereinbaren lassen als mit autoritären oder totalitären Regimen. Von dieser schwierigen Situation des Avantgardismus nach 1945 in den von der Sowjetunion abhängigen Staaten berichten die Kapitel über Polen, Rumä‐ nien, Tschechoslowakei und Ungarn (→ Kapitel IV, V, VI, VIII) in diesem Band. Aber auch in Jugoslawien (→ Kapitel II) sah sich die Avantgarde er‐ heblichen Widerständen gegenüber. Überspitzt formuliert, hat es im Gefolge von Krieg und Nationalsozialismus und danach durch den Stalinismus und Poststalinismus eine gewisse Diskontinuität gegeben. Innere und äußere Emigration sind - zu denken ist hier etwa an Ungarn, wo bedeutende avantgardistische Entwicklungen sich außerhalb des Landes abspielten (→ Kapitel VIII) - plastische Beispiele dafür, dass eine ganze Generation von Künstlerinnen und Künstler ihr heimisches Publikum verloren hat. Auch das ist als gemeinsames Merkmal vieler Länder im Zwischenraum Europas festzuhalten. 3. Vier Phasen der Avantgarde, vier historische Avantgarden Dem vorliegenden Buch liegt ein vier Phasen-Modell der Geschichte von Avantgarde und Avantgardismus zugrunde, das sich zum einen auf Selbst‐ aussagen der Künstlerinnen und Künstler stützt, dass zum anderen aber auch das Ergebnis ihrer Rezeptionsgeschichte ist. Dieses Vier-Phasen-Modell ist idealtypisch, eine Orientierungshilfe und kein Dogma. Es hat den Vor‐ teil, dass es die Avantgarde womöglich entgegen ihrer programmatischen Absicht kulturgeschichtlich einordnet und damit eine Fokalisierung auf Phänomene einschließt, die im Zentrum des avantgardistischen Argwohns stehen: Kontinuität und Tradition. Die vier Phasen der Avantgarde sind Prae- oder Proto-Avantgarde (19. Jahrhundert), klassische Avantgarde (1909-1939), Neoavantgarde 16 I. Einleitung und Rahmen <?page no="17"?> (1945-1989), Transavantgarde (bzw. Postmodernismus, seit den 1980er Jah‐ ren, spätestens aber seit 1989). Dieses Modell ist idealtypisch im Sinne von Max Weber, das heißt, es geht nicht davon aus, dass alle europäischen Länder auf die gleiche Weise diese Phasen durchlaufen haben. Es lässt sich auch im Hinblick auf die Länder des mittleren und östlichen Europas, also zwischen dem deutschen und dem russischen Einflussbereich, sagen, dass sich deren Kunst ungleichzeitig vollzogen hat. Auch das Verhältnis der Avantgarde zu anderen Formen der modernen Kunst ist in den ausgewählten Ländern durchaus unterschiedlich ausgeprägt, wie die Beispiele der Ersten Republik in Österreich oder der Tschechoslowakei Masaryks sinnfällig machen (→ Kapitel III und VI). Vorläufer avantgardistischer Kunstausübung sind zweifelsohne die kurze Phase der deutschen Frühromantik und des französischen Symbolismus, die etwa durch eine Figur wie Charles Baudelaire intertextuell miteinander verwoben sind und bestimmte Themen des Surrealismus - das Andere der Vernunft, die Entdeckung des Unbewussten als eines prinzipiell Fremden - antizipiert haben. Auch hier spielt die Idee eine Rolle, eine Vorhut der kulturellen Entwicklung zu sein. Das Neue, das auf die Leinwand der Zukunft projiziert wird, ist positiv besetzt. Es ist das, was erhofft und nicht befürchtet wird. Es ist das, was kommen soll. Im Hinblick auf die historische Avantgarde hat sich in der Forschung weithin ein Modell durchgesetzt, das von vier unabhängigen und zugleich miteinander korrespondierenden Avantgardismen ausgeht, dem Futuris‐ mus, dem Dadaismus, dem Konstruktivismus und dem Surrealismus. Ob der Expressionismus und die Neue Sachlichkeit, zwei Sonderentwick‐ lungen der deutschen Moderne, genuine und eigenständige Avantgarden sind, darüber lässt sich streiten, spielt aber für dieses Einführungswerk eine eher untergeordnete Rolle. Expressionismus und Neue Sachlichkeit erfüllen einige Kriterien, die für Avantgarden maßgeblich sind (Programmatik, Gruppenbildung, politische Dimension); man könnte sie deshalb auch als Semi-Avantgarden oder als modernistische Strömungen begreifen, deren Wirkungskreis im Unterschied zu den vier internationalen Avantgarden eher national beschränkt geblieben ist, im Falle des vorliegenden Buches auf die Tschechoslowakei und auch auf Österreich - für diese Länder war Berlin insbesondere nach 1918 ein maßgeblicher Orientierungspunkt. Die verschiedenen Länder in diesem Überblickswerk unterscheiden sich auch im Hinblick auf ihre Präferenzen voneinander, aber es ist zugleich auffällig, wie sich in Kunstpraxis und in den diversen avantgardistischen 3. Vier Phasen der Avantgarde, vier historische Avantgarden 17 <?page no="18"?> 16 Faber, Vera. Die ukrainische Avantgarde zwischen West und Ost. Intertextualität, Inter‐ medialität und Polemik im ukrainischen Futurismus und Konstruktivismus der späten 1920er-Jahre. Bielefeld: transcript. 2019, S.-135-150. Zeitschriften - siehe hier zum Beispiel die Ukraine 16 oder Ungarn - Misch‐ ungen und Kombinationen diverser avantgardistischer Paradigmen zeigen (→ Kapitel VII und VIII). In Rumänien (→ Kapitel V) ist der Integralismus, also eine Synthese von verschiedenen avantgardistischen - und modernistischen - Strömungen, sogar bestimmend für die Periode der Zwischenkriegszeit. Die dritte Phase der Avantgarde ist im Zusammenhang der ausgewähl‐ ten Länder die wohl schwierigste, aber auch interessanteste. Während in Westeuropa sich spätestens seit den 1960er-Jahren und dann darüber hinaus Neoavantgarden etablieren, die die demokratischen Gestaltungsräume und die Freiräume bürgerlicher Gesellschaften für ihre ästhetischen und meta‐ politischen Aktivitäten und Provokationen nutzen, ist dies weiter östlich nur in einem geringeren Ausmaß der Fall, meistens sehen sich die Erben der klassischen Avantgarden im realen Sozialismus mit Zensur, Verbot und Repressionen konfrontiert. Durch diese völlig offensichtliche Gegen‐ überstellung von staatlicher und offizieller einerseits und nichtstaatlicher und verbotener Kultur andererseits wird aber ein zentraler Bestandteil der Avantgarde für alle Beteiligten und für die wissenschaftliche Forschung gleichermaßen spürbar: die subversive Kraft, die die Kulturentwicklungen formal und inhaltlich prägt. Das bestimmt auch die Beschaffenheit ihrer transnationalen Netzwerke, die für die Avantgarden so wichtig und wesent‐ lich sind. Die Avantgarde in den Ländern des ‚realen Sozialismus‘ werden oft in private Nischen zurückgedrängt oder agieren in der Diaspora. Titos Jugoslawien, das nach dem Bruch mit Stalin bereits früh das ästhetische Dogma des sozialistischen Realismus hinter sich gelassen hat, kann hier als Ausnahme von der Regel erscheinen. Die Neoavantgarde hatte im Kalten Krieg durchaus eine unterschiedliche Funktion. Sowohl im Westen als auch im Osten war Neoavantgarde strukturell Teil des Widerstandes gegen die herrschenden Kulturverhältnisse. In den westlichen Ländern trug sie zur demokratischen Öffnung bei, die weit über das Feld der Kunst hinausging und wie das Beispiel des Wiener Aktionismus zeigt, bestimmte Entwicklungen nach 1968 vorwegnahm. In den autoritären Regimen des Ostens blieb die Neoavantgarde bis zum Schluss eine Rand‐ erscheinung. Dabei kommt es, wie sich an der Tschechoslowakei zeigen lässt, zu Überlappung von avantgardistischen Strömungen und solchen, die 18 I. Einleitung und Rahmen <?page no="19"?> nicht avantgardistisch, sondern modern bzw. modernistisch sind (→ Kapitel VI). Ein gemeinsamer Nenner der heterogenen Avantgarde-Erscheinungen im mittel-osteuropäischen Kontext liegt demnach auch in einer kritischen Hinterfragung der bestehenden künstlerischen Praktiken sowie der Kunst und ihrer Formensprache im Allgemeinen. Im Unterschied zur Institutio‐ nenkritik der westeuropäischen und US-amerikanischen Neoavantgarden, welche sich in erster Linie der zunehmenden Kapitalisierung des gesamten Kunstbereichs entziehen wollten und in der Objektfixiertheit der modernen Kunst eine Apologie des kapitalistischen Systems und seiner Institutionen erkannten, ist die Institutionskritik ihrer ost- und südosteuropäischen Pen‐ dants anders gelagert. Neben den Kunstinstitutionen stellt die Ubiquität des Institutionellen dort per se eine Reibungsfläche dar. Da die staatlichen Institutionen dasselbe Ziel, nämlich die Wahrung und Verbreitung der sozialistischen Idee verfolgten, beschränkte sich die Kritik nicht nur auf die staatlichen Einrichtungen, sondern stellte auch eine umfassende Ablehnung des Einflusses der Machthaber auf den Bereich und die Inhalte der Kunst dar. Unterschiede in den einzelnen Kapiteln lassen sich auch hinsichtlich verschiedener Kunstgattungen finden. In der Avantgarde-Forschung hat sich die Praxis durchgesetzt, diese vornehmlich über zwei Fokussierungen ins Licht zu setzen und zu analysieren, über die zumeist der Bildenden Kunst zugeordneten Werke und über die reiche, oftmals literaturwissenschaftlich kommentierte Textsorte von Manifesten und Proklamationen. Dass zum Beispiel Events und Happenings der Bildenden Kunst und nicht dem Theater zugeordnet werden, ist ebenso wenig selbstverständlich wie die Integration der avantgardistischen Textsorten in den Korpus der Literaturwissenschaft, widerstreben doch diese semiotischen Mischformen oftmals im Medium von Film und Photo formatierten Manifestationen, Aktionen und Zeitschriften programmatisch einer solch eindeutigen Zuordenbarkeit. In den einzelnen Kapiteln wird, die unterschiedlichen Gegebenheiten in den einzelnen Ländern berücksichtigend, auch auf Bereiche wie Film, Photographie und Musik Bezug genommen. Auch hier ist der Unterschied zwischen Moderne und Avantgarde schlagend, besteht doch ein unüberseh‐ barer Unterschied zwischen avantgardistischen Experimenten, die Differenz zwischen Musik, Lärm und Lautlichkeit zu subvertieren und der Musik der zweiten Wiener Klassik (Zwölftonmusik) und ihres Pendants in Budapest (→ Kapitel III und VIII), die beide viel eher einer Form einer Moderne repräsentierten, die ästhetische Innovation und nicht so sehr eine revoluti‐ 3. Vier Phasen der Avantgarde, vier historische Avantgarden 19 <?page no="20"?> 17 Bürger, Theorie der Avantgarde, S.-79. 18 Bürger, Theorie der Avantgarde, S.-73. onäre Erneuerung der Kultur in den Mittelpunkt stellen. Aber zugleich ist ihre partielle Berücksichtigung hilfreich, um ein kulturelles Panorama des jeweiligen Landes zu entwerfen. Diese Einführung in die Geschichte der zentraleuropäischen Avantgarden konzentriert sich naturgemäß auf die zweite und dritte Phase, während die beiden anderen eher ‚horizontale‘ Größen sind. Die Avantgarden konstitu‐ ieren sich nicht zuletzt durch die Abstoßung eines so wirkungsmächtigen Größenphänomens wie der Wiener Moderne und dem fin de siècle, so wie ja die polemische Kampfstellung gegenüber der vorangegangenen Kunstströmung und die Orientierung an anderen kulturellen Metropolen (z.-B. Paris) zum Markenzeichen der Avantgarde gehört. Die vierte, ‚postmoderne‘ Phase der Avantgarde ist wiederum durch Selbstauflösung bestimmt. Die ästhetische Energie, die in den diversen Manifesten der Avantgarden der Zwischenkriegszeit beschworen wird, ist versiegt, auch deshalb, weil viele kulturelle Mechanismen, die sie hervor‐ brachte, Chok, spektakuläre Inszenierung, das theatralische Erfindung des Selbst, der Skandal, der paradoxe kollektive Kult des Einzigartigen, längst zum Alltag der Massen- und Protestkultur geworden sind, wie Bürger bereits 1971 hellsichtig diagnostizierte. Das Publikum hat gelernt, relativ unaufgeregt mit solchen entgrenzenden Inszenierungen umzugehen. In Abwandlung einer Sentenz von Peter Bürger ließe sich also behaupten, dass auch die Neoavantgarde - vom Wiener Aktionismus (→ Kapitel III) bis zu Marina Abramović (→ Kapitel II) - „heute bereits historisch ist.“ 17 In dieser Situation wird sichtbar, wie der Kunstbetrieb, der alle die Nicht- Kunstwerke der Avantgarde als Kunstwerke integriert hat, avantgardisti‐ sche Strategien zum unverzichtbaren Teil seiner Geschäftslogik gemacht hat. „Unterhaltungsliteratur und Warenästhetik“ werden, so schrieb Bürger, „als Formen der falschen Aufhebung der Institution Kunst“ „faßbar“. 18 4. Zentrum und Peripherie Kulturelle Besonderheiten des zentraleuropäischen Raums sind eine be‐ stimme Ausformung von Heterogenität, die den Zusammenbruch des Habs‐ burgerreiches überdauert, die mittlere und kleinere Größe der Staaten, die 20 I. Einleitung und Rahmen <?page no="21"?> 19 Lotman, Jurij. Die Innenwelt des Denkens. Aus dem Russischen von Gabriele Leupold und Olga Radetzkaja. Berlin: Suhrkamp. 2010, S.-174-190. imperiale Vergangenheit und damit verbunden eine Nationalstaatenbildung nach 1918, die oftmals krisenhafte Züge etwa im Hinblick auf das Zusam‐ menleben verschiedener ethnischer, sprachlicher und religiöser Entitäten und, wie im gesamten Europa, die Instabilität demokratischer Strukturen zeigte. Dass derlei politische und metapolitische Konstellationen sich auf die Befindlichkeit und die Dynamik der avantgardistischen Bewegungen niedergeschlagen haben, liegt auf der Hand. In vielen Ländern finden sich in der Zwischenkriegszeit nicht selten je nach sprachlicher Zugehörigkeit parallele Avantgarden, so in der Tschechoslowakei - deutschsprachig, tsche‐ chisch und slowakisch - oder auch in Rumänien - rumänisch, ungarisch, deutsch (→ Kapitel VI und V). Was umgekehrt die Kommunikation dieser mitteleuropäischen Avantgarden erleichtert haben mag, war die Tatsache, dass Deutsch auch nach dem Zusammenbruch des Habsburgischen Reiches weithin ein funktionierendes, transnationales Kommunikationsmittel blieb, das heute durch ein exterritoriales Englisch ersetzt worden ist. Avantgarden sind dem semiotischen Modell Lotmans zufolge selbst wenigstens zu Beginn peripher, aber gleichwohl gibt es auch innerhalb der transnationalen Netzwerke der Avantgarden Zentren und Periphe‐ rien, Hauptorte und Nebenschauplätze. 19 Zugleich aber besteht für die zentraleuropäischen Nebenschauplätze die Möglichkeit, die transnationale Dimension dieser Netzwerke zu nutzen und sich in ihnen zu profilieren. Avantgarde bedeutet für kleinere Länder stets die Möglichkeit, sich zu positionieren und zu präsentieren und sich damit im nationalen Maßstab als Ausweis von internationaler Anerkennung zu profilieren. Das statische Konzept von Zentrum und Peripherie wird im Falle der Avantgarden insbesondere dadurch aufgelöst, dass die Migration in ihr gewichtige Rollen spielt. So werden am sogenannten Rand entwickelte Ideen in traditionellen Zentren umgesetzt, es bilden sich neue Zentren heraus - Zürich als Geburtsort von Dada -, diverse Versionen einer Kunstströmung entwickeln sich einerseits parallel andererseits mit deutlichen auch forma‐ len, inhaltlichen und politischen Eigenständigkeit, so mit den Züricher, Pariser und Berliner Versionen von Dada, die sich jeweils durch internatio‐ nale Beteiligung ausformten, miteinander interagieren und jeweils an neue Peripherien ausstrahlten. Einige Künstler wie die Rumänen Tristan Tzara und Paul Neagu schufen so gut wie ihr gesamtes Werk außerhalb ihres 4. Zentrum und Peripherie 21 <?page no="22"?> Geburtslandes. Freiwillige und unfreiwillige Migration und Diaspora spielen also im Feld des Avantgardistischen eine ganz besondere Rolle. 5. Moderne und Avantgarde Das Verhältnis von Moderne und Avantgarde ist nicht einfach zu bestimmen. Überdies dürfte es je nach dem kulturellen und historischen Kontext variie‐ ren. Im Deutschen überlagern zwei Bedeutungen von ‚Moderne‘ einander. Moderne ist einerseits die Bezeichnung für eine historische Epoche, die kleiner ist als die im 16. Jahrhundert beginnende Neuzeit. Sie bezeichnet dramatische Veränderungen der Gesellschaft spätestens seit der Industria‐ lisierung und der Französischen Revolution. Moderne ist andererseits - der Begriff der Wiener Moderne macht das anschaulich - auch der Name für eine bestimmte moderne Haltung auf dem Feld der Kultur, in der das Modern-Sein-Müssen mit der Nobilitierung des Neuen und der Abschaffung der Regelästhetik einhergeht. Um dieses Phänomen modernen ästhetischen Bewusstseins zu beschreiben, verwenden einige vom Lateinischen beein‐ flusste Sprachen dafür den von Moderne abgeleiteten, im deutschen eher ungebräuchlichen Terminus Modernismus bzw. Modernität (modernism, modernismo, französisch modernité). Der mögliche Umgang mit den beiden Begrifflichkeiten Avantgarde und Moderne reicht vom Vorschlag, diesen Unterschied zu neutralisieren (Mo‐ derne ist Avantgarde und umgekehrt), bis zur Proposition, sie als inkompa‐ tibel und ausschließend zu interpretieren einzustufen (Avantgarde ist gegen die Moderne aufgetreten). Im heutigen Jargon des Kulturjournalismus wird Avantgarde in einem unspezifischen Sinn und ganz analog zu progressiv und innovativ verwendet. Auch im Kapitel über die Tschechoslowakei (→ Kapitel VI) sowohl in der Zwischenkriegszeit als in der Ära des Kommunismus rücken Moderne und Avantgarde nahe zueinander, überlagern sich doch in der Kultur der ersten tschechoslowakischen Republik Moderne und Avantgarde ästhetisch und politisch, während sie im realen Sozialismus gleichermaßen ästhetisch und politisch verfemt sind, die an Existenzialismus und absurdem Theater geschulte Dramatik eines Václav Havel und die sprachlichen Experimente einer Bohumila Krögerová. Umgekehrt besteht zwischen der ästhetisch stilisierten décadence der Wiener Moderne und den militärisch-aktivisti‐ schen Metaphern der futuristischen Kampfschriften ein unübersehbarer 22 I. Einleitung und Rahmen <?page no="23"?> Kontrast. Es gibt eine Form von Moderne, für die die Vergangenheit und die damit verbundene Melancholie oder Skepsis maßgeblicher sind als der optimistische Marsch der historischen Avantgarde in die Zukunft. Robert Müller mag mit seiner experimentellen Prosa und seinen Versionen vom zukünftigen Menschen, einem technisch-archaischen Mann-Frau-Wesen sich im Nahbereich diverser Avantgarden befinden (→ Kapitel VIII), sein Freund Robert Musil mit seiner verhältnismäßig traditionellen Ästhetik und seinem zutiefst skeptischen Blick auf die moderne Welt ganz bestimmt nicht. Eine andere Variante, die in diesem Einführungswerk wenn auch - auf Grund der kulturellen Unterschiedlichkeit der einzelnen Länder und auch den Standorten der jeweiligen Avantgarde-Forschung - nicht durchgängig Anwendung findet, läuft darauf hinaus, Moderne als Oberbegriff zu verwen‐ den und Avantgarde als eine spezifische und zugleich symptomatische Form des Modernismus bzw. der Moderne zu begreifen und die Moderne bzw. den Modernismus als eine andere, komplementäre wie kontrastive Ausformung, in der so charakteristische Zuschreibungen der Avantgarde wie radikaler Bruch mit der Tradition, Gruppenbildung, Manifestantismus, Bruch mit dem Gesamtkunstwerk, Pathos der Zukunft, Experiment mit dem sprachli‐ chen oder bildnerischen Material, Verkoppelung von Genres, Gattungen und Künsten fehlen. Insbesondere der Kanon der modernen europäischen Literatur ist durch Namen wie Joyce, Broch, Musil, Kosztolányi, József, Kafka, Seifert, Pessoa, Gombrowicz, Thomas Mann oder Pirandello geprägt, die allesamt keine Avantgardisten, wohl aber Repräsentanten einer mittler‐ weile klassisch gewordenen Moderne sind, wiewohl sie, mehr oder minder, Impulse des Experimentellen und Avantgardistischen aufgenommen haben. Dass die ‚klassische‘ Moderne viel vielschichtiger und weniger eindeutig ist, als es die Eindeutigkeit der Zuweisung suggeriert, lässt sich auch an zwei Ästhetikern, nämlich Theodor W. Adorno und Walter Benjamin zeigen, die nicht nur für Peter Bürger zentrale Figuren des Diskurses über Moderne und Avantgarde sind. Sowohl bei Benjamin als auch bei Adorno spielt, vom Surrealismus einmal abgesehen, die Avantgarde in einem präzisen histori‐ schen Sinn eine eher untergeordnete Rolle. Für Adorno, der in die Nachfolge Benjamins eintritt, sind es Autoren wie Proust, Kafka, Beckett oder Joyce, die die böse und unheimliche Gegenwart radikaler Weltentfremdung les- und nachvollziehbar machen. In seinem nachgelassenen Werk Ästhetische Theo‐ rie finden sich lediglich neun Registereinträge zum Stichwort ‚Avantgarde‘. Sie zeugen von einem tiefen Misstrauen des Philosophen gegenüber einem ‚unreflektierten‘ Umgang mit dem Neuen. Adorno formuliert einen kriti‐ 5. Moderne und Avantgarde 23 <?page no="24"?> 20 Adorno, Theodor W. Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 1970, S.-44. 21 Lukács, Georg. Gelebtes Leben. Autobiographische Texte und Gespräche, herausgege‐ ben von Frank Benseler und Werner Jung. Werke Bd. 18. Bielefeld: Aisthesis. 2009, S.-92-94, 107. 22 Broch, Hermann. Schriften zur Literatur. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 1975, S. 63- 94, vgl. auch: Müller-Funk, Wolfgang. Reading Joyce. Broch’s Concept of Classical Modernism. Austrian Cultural Forum, London 11.1.2012, www.wolfgangmuellerfunk. wordpress.com, heruntergeladen am 15.7. 2021 um 10: 14. schen Einwurf, wenn er davon spricht, dass der „Begriff der Avantgarde“, der über Jahrzehnte als Ausweis von Fortschrittlichkeit galt, „etwas von der Komik gealterter Jugend“ habe. 20 Dass zwischen den Vertretern der ‚klassischen Moderne‘ und jene der historischen Avantgarde ein Spannungsverhältnis besteht, dafür gibt es zahlreiche Beispiele. So in den zwischen 1969 und 1971 geführten Gesprä‐ chen zwischen György Lukács, in seiner Jugend eine maßgebliche Figur der ungarischen Moderne, und seinem Schüler, dem Schriftsteller István Eörsi. Dabei betont Lukács an mehreren Stellen sein distanziertes Verhältnis zu Lajos Kassák, der in den 1920er Jahren wie Lukács im Wiener Exil lebte. Das ist nicht nur eine Frage des persönlichen Temperaments, sondern markiert auch eine unüberbrückbare theoretische, ästhetische und lebensphilosophi‐ sche Distanz. 21 Auch Broch betont in seinem essayistischen Werk - zu denken ist bei‐ spielsweise an seinen Aufsatz über James Joyce - den Unterschied zwischen Avantgarde und Moderne, wenn er Joyce und Picasso unter den Begriff der Moderne fasst, von dem er den Manifestantismus der Avantgarde, die er ganz offenkundig ähnlich wie Adorno geringer einstuft als die klassische Moderne, absetzt. 22 Moderne selbst ist dabei freilich auch voll mit Gegensätzen und Abgren‐ zungen. So findet sich eine gewisse Abgrenzung der ‚klassischen‘ Moderne zu modischen Kunstströmungen in dem prominenten Text Die tschechische Moderne - ein Manifest von 1895, das unter anderem von František Václav Krejči, František Šalda, Jasoslav Svatopluk Machar und Otakar Březina unterzeichnet wurde. In ihm heißt es an einer Stelle dezidiert: Wir wollen eine Kunst, die kein Luxusgegenstand ist und nicht den wechselnden Launen der literarischen Mode unterliegt. Unsere Moderne ist nicht das gerade in Mode ist: vorgestern Realismus, gestern Naturalismus, heute Symbolismus, 24 I. Einleitung und Rahmen <?page no="25"?> 23 Chvatík, Kvĕtoslav (Hrsg.). Die Prager Moderne. Erzählungen, Gedichte, Manifeste. Mit einer Einleitung von Milan Kundera. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 1991, S.-26. 24 Paz, Octavio. Die andere Zeit der Dichtung. Deutsch von Rudolf Wittkopf. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 1989. 25 Franck, Georg. Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. München: Hanser. 1998. Dekadenz, morgen Satanismus, Okkultismus, all diese ephemeren Parolen, die stets für einige Monate die Literatur nivellieren […]. 23 Aufschlussreich sind zudem die Überlegungen Octavio Paz’, eines klassi‐ schen Modernisten mit stark essayistischen und auch avantgardistischexperimentellen Einschlägen. Paz definiert die Moderne durch das Paradox einer Tradition des Bruchs. Er geht indes über Bürger hinaus, wenn er diese Tradition nicht auf die Avantgarde als die radikalste und expliziteste Ausprägung der Moderne beschränkt, sondern sie auf den Einspruch der modernen Kunst-Kultur gegen die moderne rationale kapitalistische Welt bezieht. Am Ende werden Moderne und Avantgarde von ihrer eigenen Tradition aufgezehrt und verschlungen. Der ästhetische und metapolitisch in vielen Manifesten verkündete Bruch richtet sich am Ende gegen eine Kunst, die am Ende den Bruch mit sich selbst verkündet. Dieses Stadium, das in der Auflösung der Figur des klassischen Avantgardisten kulminiert, ist für Paz die Postmoderne und parallel zum Ende der Geschichte ein Ende der Kunst. 24 Womöglich lässt sich aber der Begriff der Avantgarde in einem präziseren Sinn durch die Abgrenzung von Moderne und Modernismus schärfen. Es ließen sich Kriterien anführen, die für die Avantgarden insgesamt charak‐ teristisch sind, auch wenn sie nicht für alle historischen Ausformungen gleichermaßen bestimmend sind. Da ist zunächst einmal ein mehr oder minder fest umrissenes, wenn auch fluides Programm, das in verschiedenen Proklamationen, Manifestation und exemplarischen Aktionen vorgeführt wird. In diesen kommen rhetorische (Pa‐ thos, Ironie, Hyperbolik) und performative Aspekte zum Tragen. Man könnte in diesem Zusammenhang von einer Ökonomie der Aufmerksamkeit spre‐ chen. 25 Aus heutiger Sicht erscheinen all diese Strategien und Techniken mit der Kultur und dem Kunstbetrieb des postmodernen Kapitalismus vereinbar, wie ihn schon Georg Simmel, ein maßgeblicher Theoretiker der Moderne, als „Verdichtung der rein formalen Kulturenergie, die jedem beliebigen In‐ 5. Moderne und Avantgarde 25 <?page no="26"?> 26 Simmel, Georg. Philosophie des Geldes (1901), Gesamtausgabe, Band 6, herausgegeben von David P. Frisby und Klaus Christian Köhnke. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 1989, S.-608. 27 Hegel, Georg W. F. Vorlesungen über die Ästhetik II, Werkausgabe in 20 Bänden, Bd. 14, herausgegeben von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 1986, S.-245-265. halt zugesetzt werden kann“ beschrieben hat. 26 Die avantgardistischen Pro‐ gramme beschränken sich nicht auf ästhetische Präferenzen und Imperative, sondern enthalten ein utopisches Potenzial, das die Veränderung von Kultur und Gesellschaft und den Lebensvollzug einschließt. Utopie ist im Falle der Avantgarden wörtlich zu verstehen. Beim Entwurf ihrer Zukunftspläne sind deren reale Chancen zur Verwirklichung nebensächlich. Die Manifeste sind umfassend und holistisch. Dabei wird die Idee des geschlossenen, autonomen Kunstwerkes programmatisch in Frage gestellt. Die avantgardistische Kunst, die die Einheit von Kunst und Leben restituiert, ist Antizipation einer zukünftigen Welt. Die Avantgarde operiert programmatisch wie in der ästhetischen Praxis mit Elementen der Entgrenzung, der Provokation und des Choks. Die historischen Avantgarden sind undenkbar ohne ein bestimmtes post-religiöses Sendungsbewusstsein. Avantgarde bedeutet die Auflösung und Überwindung der Grenzen und Unterschiede zwischen verschiedenen Genres, Zeichensystemen und Kunstgattungen, wie sie beispielsweise in Hegels Äs‐ thetik systematisch und hierarchisch herausgearbeitet worden sind, als Aufstieg von den Formen der Bildenden Kunst über die Musik bis hin zur Poesie. 27 Sie steht der bestehenden bürgerlichen Ordnung tendenziell feindselig gegenüber. Ganz entscheidend für das Selbstverständnis von Avantgarden ist der Gruppenaspekt, das Kollektiv, das in einem unübersehbaren Wider‐ spruch zu einem genuin individualistischen Freiheitsanspruch steht, der die Kurzlebigkeit und Fragilität von Avantgarden mit erklärt. Schließlich gibt es im Fall der Avantgarden eine eigentümliche, dynamische Beziehung zwi‐ schen nationalen und transnationalem Rahmen und Netzwerk. Avantgarden haben offenkundig eine nationale Funktion, die aber ohne den Anspruch von Trans- und Internationalität nicht geltend gemacht werden kann. Avantgarden wollen direkt, und das heißt auch, in ihrem unmittelbaren Umfeld wirken, was üblicherweise aber national bestimmt ist. Avantgarden nützen vorhandene oft auch persönliche Netzwerke, die durch die massive Migrations- und Diaspora-Phänomene des 20. Jahrhunderts auch durch nationale Bände entstanden sind. 26 I. Einleitung und Rahmen <?page no="27"?> 28 Wittgenstein, Ludwig. Philosophische Untersuchungen, § 67, in Ludwig Wittgenstein, Werkausgabe, Bd.-1, Frankfurt am Main: Suhrkamp. 1984, S.-278. Ein solcher Kriterienkatalog, der auf den ersten Blick etwas pedantisch erscheinen mag, ist ein hilfreiches Instrument der Orientierung, mittels dessen etwa synchron die Eigenarten der vier historischen Avantgarden anschaulich gemacht werden können. Vermutlich erfüllt keine avantgardis‐ tische Strömung all die hier aufgezählten Kriterien in gleicher Weise. Und im diachronen Vergleich lassen sich mit Hilfe dieser zentralen Merkmale die Unterschiede zwischen Avantgarde und Neoavantgarde herausarbeiten, in der die pathetischen utopischen Zukunftsansprüche deutlich zurückgefah‐ ren werden, ohne aber die Grundidee des Utopischen vollständig aufgegeben zu haben. Mit Verweis auf diese konstituierenden Eigenschaften treten auch die Differenzen und Gemeinsamkeiten zwischen Avantgarde und Modernismus zutage. Im Seitenblick auf die Proto- und Semiavantgarden wird deutlich, welche Momente des Avantgardistischen Strömungen wie die deutsche Frühromantik und der Symbolismus vorweggenommen haben. Was bei einem solchen Verfahren entsteht, lässt sich mit Ludwig Witt‐ gensteins Konzept der Familienähnlichkeit fassen. Da sind auf einem Famili‐ enphoto viele Menschen versammelt, von denen jeder und jede in zumindest einer Hinsicht Ähnlichkeit aufweist, die aber keineswegs von allen geteilt wird. Wittgenstein wählt noch einen anderen Vergleich, den Faden, bei dem „viele Fasern einander übergreifen“. 28 6. Aufbau des Buches Der Band Avantgarden in Zentraleuropa erzählt, beschreibt und analysiert die Geschichte der Avantgarden benachbarter und doch auf Grund ihrer Geschichte und Traditionen verschiedener Länder. Einen solchen „Faden“ zu spinnen, ist ein riskantes Unterfangen, zumal es keinen Forscher und keine Forscherin gibt, die in allen einschlägigen Sprachen - ungarisch, tschechisch, slowakisch, polnisch, ukrainisch, rumänisch, den Sprachen bzw. Sprachvarianten des ehemaligen Jugoslawiens sowie deutsch - hei‐ misch ist. Hinzu kommt, dass es in vielen Staaten im Dazwischen Europas historische und territoriale Brüche gegeben hat. Als die Budapester Moderne in den 1900er Jahren das Licht der Welt erblickte, war Ungarn gewichtiger Teilstaat eines Imperiums, später freilich ein Kleinstaat in der umstrittenen 6. Aufbau des Buches 27 <?page no="28"?> Mitte Europas. Gleiches gilt für Österreich. Polen wiederum erschien nach über zweihundert Jahren als Folge desselben Kataklysmus wieder auf der Landkarte. Zwei Jahrzehnte später wurde es auf Drängen Stalins von Osten nach Westen verschoben, was unter anderem dazu führte, dass die einstige Provinz der Habsburgermonarchie, Galizien, nach 1945 Teil der ukrainischen Teilrepublik der Sowjetunion wurde. Die Ukraine wiederum, die nach dem Ersten Weltkrieg nur für eine kurze Zeit und nur auf einem Teil ihres heutigen Territoriums ein souveräner Staat gewesen ist, wurde erst 1991 zu einem souveränen europäischen Land. Die Tschechoslowakei, die in der Zwischenkriegszeit faktisch ein mehrsprachiger Staat aus Tschechen, Slowaken, Deutschen, Ungarn, Ruthenen, Juden und Roma war, existiert heute nicht mehr. Auch zwischen Rumänien und Ukraine hat es Gebietsver‐ schiebungen zugunsten der damaligen Sowjetunion gegeben. Jugoslawien wieder hat sich nach 1989 als ein gescheiterter Staat erwiesen, dessen Avantgarde freilich ohne diesen jugoslawischen Rahmen undenkbar wäre. Österreich wiederum ist erst nach 1945 zu einem unbestritten eigenen und unabhängigen Land geworden, das freilich schon über Jahrhunderte unge‐ achtet vieler Gemeinsamkeiten mit dem gesamten deutschsprachigen Raum über eigene kulturelle Traditionen und Mentalitäten zu anderssprachigen Regionen und Ländern verfügt. Was diesen Saaten gemein ist, das ließe sich als eine freilich ganz anders gelagerte, oft ungewollte Tradition des Bruchs und der Diskontinuität fassen. Der Aufbau der einzelnen Kapitel ist, soweit das auf Grund der Unter‐ schiedlichkeiten und auch des Umfangs des Materials und Corpus möglich war, einheitlich gestaltet und folgt dem Prinzip der Wittgensteinschen Familienähnlichkeit. Wie schon erwähnt, ist das Verhältnis von Moderne und Avantgarde - die Tschechoslowakei wurde hier bereits erwähnt - in den jeweiligen Ländern verschieden gewesen. Jedes Kapitel enthält eine Chronik mit Daten aus der Geschichte und der Kulturgeschichte. Behandelt werden die Perioden der historischen Avantgarden und der Neoavantgarden. Der Zeitraum entspricht demnach mehr oder weniger jenem des kurzen 20. Jahrhunderts von 1914/ 18 bis 1989. Jedes Kapitel enthält einen Gesamtüberblick, Kurzporträts ausgewählter Künstlerinnen und Künstler, einzelne im Buch sichtbare Werke sowie Ausschnitte und Kommentare zu wichtigen programmatischen Texten. Am Ende steht eine Auswahlbibliographie, die einen ersten Einblick in die mentale Landkarte der avantgardistischen Künste der betreffenden Länder geben soll. 28 I. Einleitung und Rahmen <?page no="29"?> 29 Jurij Lotman, Die Innenwelt des Denkens, S.-190. Das Buch ist als Einführung für Laien und für Studierende konzipiert, die beginnen, sich mit der vielfach spannenden und erhellenden Geschichte der Avantgarden in der Region zu beschäftigen. 7. Überblick In Abschnitt 5 wurde das Theoriemodell der Wittgensteinschen Familien‐ ähnlichkeit kurz angerissen. Es lässt sich für die Darstellung der Avantgar‐ den in den einzelnen Ländern fruchtbar machen. Zwischen allen Ländern besteht ein Geflecht von Ähnlichkeiten und Unterschieden. Alle Länder dieser europäischen Großregion haben dramatische politische, kulturelle und kollektive psychische Brüche und Diskontinuitäten durchlaufen, in allen spielt sprachliche und kulturelle Heterogenität eine maßgebliche Rolle. Die Sprachen, deren sie sich bedienen, überlappen sich vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Alle diese Avantgarden sind im doppelten Sinn peripher, peripher als Avantgarden per se und sodann als Avantgarden, die sich am Rand jener avantgardistischen Zentren befinden, die oft für die Avantgardisten selbst aber vor allem für die wissenschaftliche Forschung eine bestimmende Rolle besitzen, etwa Paris, Berlin und Moskau, Frankreich, das Weimarische Deutschland, das revolutionäre Russland, Italien nach 1918. Wie Jurij Lotman gezeigt hat, sind derlei Asymmetrien nicht statisch. Sie kehren sich nicht selten um. Die Geschichte der Avantgarde ist reich an solchen Beispielen. Die Avantgarde ist die selbstbewusste Peripherie, die Anspruch auf Zentralität erhebt. Der „äußerste Rand der Semiosphäre ist ein Ort des permanenten Dialogs.“ 29 Die Anordnung der einzelnen Kapitel folgt diesem Modell der Ähnlich‐ keit. Jedes Land in diesem Teil Europas hat dabei seine eigene Geschichte. Bei der Abfolge der Kapitel sind wir, analog zu Lexika, dem alphabetischen Anordnungsprinzip gefolgt und beginnt daher mit (dem früheren) Jugosla‐ wien. Die länderübergreifende Gesamtchronik folgt der zeitlichen Linearität des Datums und beginnt mit der Ukraine. Alle anderen Kriterien hätten womöglich eine Wertung suggeriert, die wir vermeiden wollten. Die Avantgarden Jugoslawiens (Kapitel II) präsentieren sich als komplexes und reichhaltiges Geflecht von internationalen und lokalen Ausformungen avantgardistischer Strömungen in allen künstlerischen Sparten und folgen 7. Überblick 29 <?page no="30"?> im Wesentlichen den westlichen Narrativen der historischen Avantgarden (Futurismus, Expressionismus, Konstruktivismus, Dada, Surrealismus) und Neobzw. Postavantgarden (Fluxus, Neo-Dada, Happening, Konzeptkunst, Performance u. a.), folgen dabei aber spezifischen chronologischen und pro‐ grammatischen Entwicklungen, u. a. auch bedingt durch den politischen und historischen Kontext des sich verändernden jugoslawischen Kulturraums. Bereits ab ca. 1909 gab es vereinzelt avantgardistische Stimmen, so wurde z. B. 1909 über den Futurismus berichtet, Dimitrije Mitrinović veröffentlichte 1913 in Sarajevo seine „Ästhetischen Kontemplationen“ unter dem Einfluss des deutschen Expressionismus. In Serbien antizipierte Stanislas Vinaver mit seinen telegrafski soneti 1911 Expressionismus, Futurismus und Kubismus. Als erstes genuines Avantgarde-Magazin gilt Svetokret, das 1921 von Branko Ve Poljanski in Eigenregie in Ljubljana herausgegeben wurde. Die wichtigste und eigenständigste Ausformung der historischen Avantgarde in Jugosla‐ wien aber ist ZENIT (ab 1921), das für sechs Jahre (anfangs in Zagreb, später in Belgrad) erschien und von Ljubomir Micić, einer genuinen Avantgarde-Fi‐ gur herausgegeben wurde. Die jugoslawische Nachkriegsavantgarde ist - in Übereinstimmung mit den internationalen Phänomenen ihrer Zeit - geprägt von Pluralismus, Eklektizismus, Vielstimmigkeit und dem Nebeneinander verschiedenster künstlerischer Ausdrucksmittel, die sich im Kontext der 68er-Sphäre entwickelten und deren Protagonisten eine Neuverhandlung und Neuordnung der gesamten Kunstwahrnehmung forderten. Neoavant‐ garde und Konzeptkunst sind in diesem Kontext also nie nur kunstimma‐ nente Erscheinungen, sondern gleichzeitig immer auch eine Provokation und Subversion des bürokratisch-technokratischen Gesellschaftsvertrags im posttotalitären Realsozialismus. Österreich (Kapitel III) als Rest eines einstmaligen mittleren Imperiums und ein Bindeglied zwischen West und Ost ist das Paradebeispiel für die Kulturgeschichte eines einstmaligen Zentrums in Gestalt seiner Hauptstadt Wien, die in Gestalt der Roten Wiens zum Fremdkörper in einem konserva‐ tiv-ländlichen Kleinstaat, dessen Zukunft als „failed state“, als gescheiterter Staat, schon um 1930 absehbar ist. Der kulturelle Schwerpunkt liegt in Wien eindeutig im Bereich einer praktischen Moderne, in der Architektur, Volksbildung und Urbanität im Zentrum stehen. Wien hat natürlich, wie neuere Forschung zeigen, zu dieser Zeit dank Migration und Ausstellungs‐ projekten Anteil am transatlantischen Geschehen, lässt sich aber nicht als ein europäisches Zentrum der Avantgarde beschreiben. In der Zweiten Republik, einer nachgeholten und gelungenen Nationsbildung, kommt es in 30 I. Einleitung und Rahmen <?page no="31"?> der dritten Phase des Avantgardismus mit der Wiener Gruppe im Bereich des Literarischen und mit dem Wiener Aktionismus und seinen Ausläufern (dazu gehören auch Film und Photographie) zu einer bemerkenswerten Entwicklung in der österreichischen Beitrag, der eine Peripherie - wieder - ins Zentrum rückt. Die Wiener Gruppe und die Konkrete Poesie haben einen wichtigen internationalen Beitrag in diesem Bereich geleistet, und im Hinblick auf den Wiener Aktionismus lässt sich sagen, dass es kaum ein renommiertes Museum für moderne Kunst gibt, in dem nicht Vertreter des österreichischen Aktionismus vertreten sind. Der Anspruch des kleinen neutralen Landes, ungeachtet seiner bescheidenen internationalen Machtposition, eine kul‐ turelle Großmacht zu sein, beruht heute nicht mehr allein auf seinem klassischen Erbe, sondern kann sich auch auf eine Form von Modernität berufen, in der Avantgarde und Transbzw. Post-Avantgarde eine nicht unmaßgebliche Rolle spielen. Polen (Kapitel IV), das lange Zeit als Schmelztiegel unterschiedlicher Kulturen fungierte, war auch ein wichtiges Zentrum der historischen Avantgarde. Experimentaltät und Innovativität der polnischen Avantgarde fungierten auch als Impulsgeber für andere Kulturen, wie die 1917 in Kra‐ kau dem Expressionismus zugeschriebene Ausstellung zeigte. Kurz darauf folgten bereits zahlreiche futuristische und konstruktivistische Aktivitäten. Der Anfang der polnischen Avantgarde ist zeitlich somit ein wenig später als etwa in Russland, in Italien oder auch in der Ukraine anzusiedeln. Ungeachtet eines staatlich vorgeschriebenen Sozialistischen Realismus, der jedoch in Polen nicht sehr lange dominierte, konnte sich nach 1945 eine sehr aktive polnische Neoavantgarde etablieren, die den experimentellen und innovativen Charakter der historischen Avantgarde fortführte und die mit Konzept- und Aktionskunst einen wichtigen Beitrag zu den europäischen Nachkriegsavantgarden geleistet hat. Im Umfeld der Solidarność-Bewegung erlebte die polnische Avantgarde schließlich in den 1980er-Jahren ein erneutes Aufflammen und war somit schließlich in den 1980er-Jahren auch ein wichtiges Zentrum. Die rumänische Avantgarde (Kapitel V) erschien mit dem Sprachkünstler Urmuz sehr früh, integrierte internationale Bewegungen wie den Konstruk‐ tivismus und den Surrealismus und war international einflussreich. Die international bekanntesten rumänischen Avantgardisten, so der Dadaist Tristan Tzara, der Surrealist Paul Celan, und Paul Neagu, eine Schlüsselfigur der Neoavantgarde, arbeiteten großteils in der Emigration. In Rumänien 7. Überblick 31 <?page no="32"?> selbst war in der Zwischenkriegszeit die Schaffung eines Groß-Rumäniens, in der Nachkriegszeit der Ostblocksozialismus die bestimmende, auch kul‐ turpolitisch relevante zentrale Ideologie. Die Avantgarde hat sich auch in diesem Umfeld behaupten müssen, was ihre jeweilige spezifische Ausprä‐ gung bestimmte. Es entstanden Bewegungen wie der Integralismus und der Onirismus. Ein wesentliches Element der rumänischen Avantgarde ist ihre Internationalität, geprägt vor allem durch enge Beziehungen zur französischen Kultur und durch zahlreichen im Land selbst wirkenden Minderheiten. In der rumänischen Kultur scheint die Avantgarde bis in die Gegenwart wirksam zu sein. So können etwa die Anfänge von Mircea Cărtărescu auch in der Tradition eines nationalen Surrealismus gestellt werden. Die gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten in der Tschecho‐ slowakei (Kapitel VI) zwischen 1918 und 1939 unterscheiden sich grundle‐ gend von jenen ihrer Nachbarn. Im Unterschied zu allen anderen Ländern konnte sich trotz aller Schwierigkeiten und Konflikte eine demokratische Ordnung erhalten und diese erwies sich als durchaus stabil. Überwiegend von linken Parteien bestimmt, erwies sich diese stabile Grundkonstellation als fruchtbarer Boden für die Entwicklung moderner Literatur und Kunst sowie der Entfaltung avantgardistischer Strömungen. Auffällig ist dabei die Überlappung von Avantgarde und Moderne sowie der vergleichsweise enge Bezug von Kunst und Politik. Schon sehr früh ist es darüber hinaus zur en‐ gen Zusammenarbeit tschechischer Künstler mit führenden Vertretern des Futurismus, Konstruktivismus, Dadaismus und Surrealismus gekommen. Der Zusammenbruch der Tschechoslowakischen Republik und ihrer Kultur, deren integraler Bestandteil Modernismus und Avantgarde bildeten, erfolgte gewaltsam und von außen, durch die Zerstörung des einheitlichen Staates und die Besetzung tschechischen Staatsgebiets. Die Nachkriegszeit ist durch eine zunehmende Stalinisierung von Staat, Kultur und Gesellschaft gekennzeichnet, die eine bruchslose Fortsetzung der zumeist linken avantgardistischen Traditionen unmöglich gemacht hat. Diese lebten vornehmlich im Untergrund und in Nischen weiter. Erst in den 1960er Jahren erfolgte eine Öffnung von Kultur und Gesellschaft, die durch die Ereignisse des Jahres 1968 wiederum einen schweren Rückschlag erfuhren und avancierte moderne und avantgardistische Kunst wieder an den Rand gedrängt haben. In der Ukraine (Kapitel VII), die zum Zeitpunkt des Aufbruchs der Avant‐ garden freilich noch nicht als eigenständiger Staat existierte, formierten sich 32 I. Einleitung und Rahmen <?page no="33"?> bereits sehr früh konstruktivistische und futuristische Bewegungen. Die erste als dezidiert futuristisch deklarierte Proklamation erschien bereits im Jahr 1914 und zählt somit zu den frühen Manifestationen der europäischen Avantgarde. Die ukrainische Avantgarde entstand nicht nur vor dem Hin‐ tergrund eines regen kulturellen Austauschs mit den damaligen russischen Zentren, sondern war auch besonders stark durch die Rezeption westeu‐ ropäischer Bewegungen geprägt. Vor allem der italienische Futurismus und der französische Kubismus spielten hier eine wichtige Rolle. Dennoch stellte sie eine sehr eigenständige und zugleich vielfältige künstlerische Erscheinung dar, die zudem in den 1920er-Jahren wesentlich in die pole‐ misch geführten Identitäts- und Nationsdiskurse der damals noch jungen Sowjetukraine involviert war. Obwohl sie zu den am längsten bestehenden Vertreterinnen der historischen Avantgarde in Europa zählt und zudem eine starke Vernetzung sowohl mit Ost als auch mit West aufwies, ist sie bis heute die wohl am wenigsten bekannte Vertreterin der europäischen Avantgarde geblieben. Hierfür verantwortlich ist neben ihrer dezentralen Lage an einer sowjetischen Peripherie auch der mehrere Jahrzehnte bestehenden sowjetische Bann gegen abstrakte und formalistische Kunstrichtungen, der eine Erforschung innerhalb der Sowjetunion praktisch verunmöglichte. Die Entfaltung einer Neoavantgarde, wie sie in einigen anderen damals ebenfalls kommunistisch regierten Ländern durchaus existierte, wurde in der Ukraine durch das Dogma des Sozialistischen Realismus weitgehend verhindert. Von Bedeutung ist hierbei auch, dass inoffizielle Kunst im Kontext der Sowjetunion in den großen Zentren am ehesten der Zensur entgehen konnte und somit eher in Moskau denn in Kiew vertreten war. Relevant werden neoavantgardistische Strömungen schließlich in den Phasen unmittelbar vor und nach dem Zerfall der Sowjetunion. Im Rahmen der Transformationspro‐ zesse erfolgte von Seiten der Kunst ein starker Rückgriff auf die historische Avantgarde, durch den zugleich wichtige Impulse für die wissenschaftliche Auseinandersetzung gegeben wurden. Das Erscheinen der Avantgarde erfolgte in Ungarn (Kapitel VIII) nicht nur früh - einerseits zeitlich parallel zur Ausbildung des Konstruktivismus in Russland und gleichzeitig mit dem Erscheinen von Dada in Zürich, andererseits mit weniger als zehn Jahren relativ rasch nach dem Erscheinen der Moderne in Ungarn -, sondern auch gleich deutlich, intensiv, ausge‐ prägt. Ähnlich wie in Österreich hatte sie im Ungarn selbst große Schwie‐ rigkeiten sich zu entfalten. Umso bedeutender waren die Entwicklungen außerhalb des Landes in den migrantischen Minderheiten-Gemeinschaften. 7. Überblick 33 <?page no="34"?> Hervorzuheben ist insbesondere die führende Rolle dieser Avantgarde an der Entstehung des internationalen Konstruktivismus. In der Periode der Neoavantgarde war es mit Budapest, Novi Sad und Paris ein Netzwerk von Zentren, das die dynamische Entwicklung bestimmte. So war die Bewegung gleichzeitig international und national, konnte sich Zensur und Kontrolle erfolgreich entziehen und zugleich auch zahlreiche Bezugslinien zu paral‐ lelen Entwicklungen des Ostblocks aufrechterhalten. Trotz bedeutender Einzelergebnisse der wissenschaftlichen Forschung schafft es die ungarische Avantgarde bis heute nicht, die nationale und internationale Anerkennung zu bekommen, die ihr nach ihrer Leistung gebühren würde. Um so wichtiger ist es, sie im Rahmen der Diskussion über die Avantgarden Zentraleuropas in diesem Band gebührend zu würdigen. 34 I. Einleitung und Rahmen <?page no="35"?> II. Jugoslawien und der postjugoslawische Raum Dietmar Unterkofler 1. Überblick Die Geschichte der Avantgarden in Jugoslawien ist gekennzeichnet von einer Vielfalt von transgressiven, experimentellen, intermedialen und exzes‐ siven künstlerischen Ausdrucksformen an der Schnittstelle zwischen Bild‐ ender Kunst und Literatur im südslawischen Staatenbund von Slowenien, Kroatien, Serbien, Montenegro und Bosnien-Herzegowina. Die historischen Avantgarden manifestieren sich dabei zwischen 1918 und 1935 in unter‐ schiedlichen programmatischen Bewegungen. Die Nachkriegsavantgarden bzw. Neoavantgarden und Postavantgarden der zweiten Jahrhunderthälfte des 20. Jahrhunderts bieten eine äußerst vielschichtige und lebhafte ge‐ samtjugoslawische Erneuerungsbewegung, deren Beginn bereits mit 1951 angesetzt werden kann und deren Ende mit 1980, der Auflösung der letzten genuin avantgardistischen Künstlergruppe in Belgrad, zusammenfällt. Die kulturhistorischen Bedingungen dieses spezifischen geopolitischen Raums im 20. Jahrhundert sind komplex und gekennzeichnet von einer Reihe von Brüchen, Konflikten und unterschiedlichen politischen Modellen und Staatsformen. Entstanden aus den Trümmern des osmanischen und des Habsburgerreichs nach dem Inferno des Ersten Weltkriegs als Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, durchläuft Jugoslawien während des 20. Jahrhunderts verschiedene Staatsformen, von der Monarchie bis hin zum föderalen Staatssozialismus des „Dritten Weges“, bevor das Ende des 20. Jahrhunderts mit nationalistisch motivierten blutigen Zerfallsprozessen zu Ende geht, an deren Ende die Schaffung eine Reihe von postjugoslawi‐ schen Kleinstaaten steht. In kultureller Hinsicht ist die Situation zu Beginn des vorigen Jahrhun‐ derts ebenfalls komplex und von unterschiedlichen Einfluss- und Transfer‐ prozessen gekennzeichnet. Während in Serbien der Einfluss der französi‐ schen Kultur besonders ausgeprägt war, waren es in den Nachfolgegebieten des Habsburgerreiches, also in Kroatien und Slowenien, aber auch in <?page no="36"?> der Vojvodina und in Teilen Bosniens, die kulturellen Einflüsse aus den mitteleuropäischen urbanen Zentren (Wien, Prag, Budapest), welche einen großen Einfluss ausübten. Das Projekt der Vereinigung der südslawischen Völker in einem gemein‐ samen Staat und die Bildung einer gemeinsamen nationalen Identität in diesem heterogenen Gebiet sowie die daraus resultierenden Spannungen und Reibungen bilden den Grundtenor des neu geschaffenen Staatengebil‐ des in der ersten Hälfte des 20.-Jahrhunderts. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts und damit die Produktionsbedin‐ gungen der mannigfaltigen Avantgarde-Spielarten nach dem Zweiten Welt‐ krieg vollziehen sich vor dem Hintergrund des sozialistischen Sonderweges des Staates Jugoslawien unter der Führung von Josip Broz Tito. Seit dem Austritt aus dem Kominform (Informationsbüro der Kommunistischen und Arbeiterparteien) am 28. Juni 1948 war Jugoslawien der „andere“ sozialisti‐ sche Staat. Für die Länder des Westens eine Verwirklichung des Sozialismus mit menschlichem Antlitz, Liebkind und Vorbild für viele, v. a. linke Intel‐ lektuelle im Umkreis der Frankfurter Schule. In den realsozialistischen Staaten Ost- und Südosteuropas stellte Jugoslawien ein Ideal der Freiheit dar, ein Land, in dem Reisefreiheit herrschte und wo es Meinungsfreiheit gab. Kulturell nach Westeuropa und den USA ausgerichtet und politisch nach der sogenannten Dritten Welt, kam dem Land unter Josip Broz Titos Herrschaft die Rolle eines Pufferstaates zwischen dem Ostblock und dem Westen zu, die sich ab 1961 in der Bewegung der „Blockfreien Staaten“ manifestierte. Das Kernstück dieses jugoslawischen Wegs war das sogenannte Prinzip der Selbstverwaltung, d. h. die Idee vom Absterben des Staates und dem Aufbau der sozialistischen Gesellschaft, was zu neuen Modellen der gesell‐ schaftlichen Organisation führen sollte. Trotz eines gewissen Pluralismus auf gesellschaftlicher Ebene, blieb der umbenannte „Bund der Kommunisten Jugoslawiens“ aber die alleinige Macht im Land, die für den Zusammenhalt des Landes und die ideologische Richtigkeit des Systems verantwortlich war. Die Geschichte der jugoslawischen Avantgarden verläuft im Wesentli‐ chen entlang westlicher Narrative der historischen Avantgarden (Futuris‐ mus, Expressionismus, Konstruktivismus, Dada, Surrealismus) und Neobzw. Postavantgarden (Fluxus, Neo-Dada, Happening, Konzeptkunst, Per‐ formance, Konkrete Poesie, experimenteller Film, Neue Musik u. a.), folgt dabei aber spezifischen chronologischen und programmatischen Entwick‐ lungen, mitbedingt durch den politischen und historischen Kontext des sich verändernden jugoslawischen Kulturraums. Während die südslawischen 36 II. Jugoslawien und der postjugoslawische Raum <?page no="37"?> Avantgarden während der Zeit des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen stark geprägt ist vom jeweiligen nationalen Kontext ihrer Entste‐ hung, es also klare Bruchlinien zwischen der slowenischen, der kroatischen oder der serbischen Avantgarde gibt, ist die Neoavantgarde ein gesamtju‐ goslawisches Phänomen, welches in allen damaligen Teilrepubliken (in erster Linie Kroatien, Slowenien, Serbien, in Teilen auch Mazedonien, Bosnien, Montenegro) in unterschiedlichen Manifestationen nachweisbar ist. Eine fundierte Rezeption der Geschichte der Avantgarden, die erst nach dem Zerfall des Staatenbundes einsetzt, vollzieht sich hingegen unter den veränderten Perspektiven des postjugoslawischen Raums und folgt nicht selten den konstruierten nationalen Narrativen der einzelnen jugos‐ lawischen Nachfolgestaaten, tendenziell dahingehend, dass sie in den sich neu etablierten nationalen Geschichtsschreibungen einen wichtigen Platz einnehmen, der das Jugoslawische ihrer Entstehungszeit zugunsten einer nationalen Perspektive in den Hintergrund treten lässt. 1.1 Historische Avantgarden Das Aufkommen der ersten avantgardistischen, d.-h. radikalen und revolu‐ tionären Stimmen gegen die „alte“ Kunst und Literatur in Jugoslawien kann bereits ab ca. 1909 angesetzt werden, als die ersten Berichte von Friderik Juvančič über den italienischen Futurismus in der Zeitschrift Ljubljanski zvon erschienen. Der Dichter, Anarchist und Mitglied von Mlada Bosna ( Junges Bosnien), Dimitrije Mitrinović, veröffentlichte in der Folge 1913 in Sarajevo seine „Ästhetischen Kontemplationen“, die stark vom deutschen Expressionismus und italienischen Futurismus beeinflusst sind und in de‐ nen eine neue ästhetisch-ethische Vision der neuen Kunst skizziert wird. Im kroatischen Zadar wurde geplant, ein futuristisches Magazin namens Zvrk herauszugeben, das aber nie erschienen ist und von dem nur einige Skizzen erhalten sind, und in Serbien veröffentlichte Stanislas Vinaver seine telegrafski soneti 1911 mit Elementen von Expressionismus, Futurismus und Kubismus. Als erstes genuines Avantgarde-Magazin gilt Svetokret: List za ekspediciju na severni pol čovekovog duha (Magazin für die Expedition zum Nordpol des menschlichen Geistes) 1921, das von Branko Ve Poljanski in Eigenregie in Ljubljana herausgegeben wurde und höchst eklektisch zwischen expressio‐ nistischer und futuristischer Rhetorik changierte. 1. Überblick 37 <?page no="38"?> Abb. 1: Branko Ve Poljanski: Svetokret. Ljubljana, 1921 (Zeitschrift). 38 II. Jugoslawien und der postjugoslawische Raum <?page no="39"?> Die wichtigste und eigenständigste Ausformung der historischen Avant‐ garde in Jugoslawien aber ist die von Ljubomir Micić begründete Bewe‐ gung Zenit. Zenit ist die langlebigste und kontroverseste programmatische Avantgardebewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die den Anspruch verfolgte, eine neue Balkan-Avantgarde zu begründen. Zenit bestand zwischen 1921 und 1926 anfangs in Zagreb und anschließend in Belgrad. Das gleichnamige Magazin veröffentlichte Essays, Gedichte und Manifeste in zwei Alphabeten (Lateinisch und Kyrillisch) und fünf Sprachen, darunter auch Esperanto, damit den Anspruch der Internationalität dieser als Bewegung verstandenen Avantgardegruppe verfolgend. In den fünf Jahren seines Bestehens erschienen 43 Ausgaben des Magazins (von Februar 1921 bis Mai 1923 in Zagreb und von Juni 1923 bis Dezember 1926 in Belgrad). Ljubomir Micić, der Übervater und Gründer von Zenit ist dabei eine Avantgarde-Figur par excellence: provokativ, überbordend, ausschließlich und radikal in seinen Auftritten und Ansprüchen, sorgte dieser streitbare Aktivist auch dafür, dass der Kreis um Zenit immer kleiner wurde und am Ende im Wesentlichen nur noch aus seinem Bruder Branko Ve (oder Virgil) Poljanski und seiner Frau Anuška (Pseudonym Nina-Naj) bestand. 1. Überblick 39 <?page no="40"?> Abb. 2: Ywan Goll: Zenitistisches Manifest, Zenit Nr.-5, Zagreb, 1921 Zenit wollte eine dialektische Opposition zur klassischen europäischen Kultur sein, ein lebhaftes, anarchisches und vitalistisches Gegenstück zur 40 II. Jugoslawien und der postjugoslawische Raum <?page no="41"?> dekadenten und in Trümmern liegenden Nachkriegskultur der europäischen Moderne. An der zentraleuropäischen Avantgarde hingegen, die ihrerseits selbst die Schaffung eines neuen Menschen und die Zerstörung der alten Ordnung proklamierte, fand Zenit durchaus Gefallen. Als internationalis‐ tische und kosmopolitische Bewegung gibt es zahlreiche Beispiele für Zusammenarbeiten und dem Austausch mit anderen europäischen Avant‐ gardisten. Besonders bemerkenswert ist hier der Kontakt zu F.T. Marinetti und dem italienischen Futurismus, an dessen destruktiv-anarchische Poetik sich manche von Zenits Manifesten und Poemen anlehnen. Einer der wichtigsten Vermittler der osteuropäischen Avantgarde war außerdem der deutsch-französische Expressionist und Surrealist Yvan Goll, der auch als Mitherausgeber von Zenit fungierte und bereits in der ersten Ausgabe einen Brief veröffentlichte, in dem er seine Begeisterung für diese neue Bewegung ausdrückte. Das Ende von Zenit im Jahr 1926 in Belgrad war hingegen wenig ruhmreich: Auf wenig mehr als eine Ein- Personen-Bewegung zusammengeschrumpft, kippten Micićs Angriffe und Forderungen immer stärker ins Nationalistische, bevor er ins Exil nach Paris ging. Im Jahr 1940, nach seiner Rückkehr nach Belgrad, veröffentlichte Micić noch eine Einzelausgabe eines kruden, obskuren, nationalistischen Magazins namens Srbijanstvo, bevor seine Stimme verstummte und er bis zu seinem Tod im Jahr 1971 abseits der Öffentlichkeit vollends in Vergessenheit geraten war. Wenn Ljubomir Micić als Personifikation von Zenit gilt, so gilt für Dragan Aleksić dasselbe für die jugoslawische Ausformung von Dada. Dada in Jugoslawien hat eine kurze Geschichte und besteht hauptsächlich aus den Magazinen Dada Tank und Dada Jazz (1922 in Zagreb erschienen) sowie aus einigen Soiréen, die Aleksić im kroatischen Vinkovci organisiert hatte. In Kontakt mit der europäischen Avantgarde gekommen war Aleksić während seines Studiums in Prag, wo er Karel Teige (→ Kapitel VI) kennengelernt hatte, der bereits 1920 dadaistische Soiréen organisiert hatte. In der Folge etablierte Aleksić Kontakte zu führenden europäischen Dadaisten wie Kurt Schwitters, Raoul Hausmann, Walter Mehring, Richard Hülsenbeck (Berlin), Max Ernst (Köln) und Tristan Tzara (Paris). In Wien besuchte er Lajos Kassák und veröffentlichte das Gedicht Taba ciklon II in der ungarischen Avantgardezeitschrift Ma (→ Kapitel VIII). Nachdem er 1921 nicht mehr nach Prag zurückkehrte, ließ Aleksić sich in Zagreb nieder, wo er an der Herausgabe von Kinofon mitwirkte, dem ersten jugoslawischen Magazin, das sich ausschließlich dem Film widmete und von Branko Ve Poljanski, 1. Überblick 41 <?page no="42"?> dem Bruder von Ljubomir Micić, herausgegeben wurde. Zu Beginn gab es auch eine enge Zusammenarbeit Aleksićs mit Zenit, das auch zahlreiche dadaistische Artikel und Poeme veröffentlichte, bevor es zum Zerwürfnis mit Micić kam. Die Geschichte des Surrealismus in Jugoslawien ist haupsächlich in Belgrad verortet und mit einer Gruppe von jungen Dichtern, Journalisten und Künstlern rund um Marko Ristić, dem Gründer und der Vaterfigur des jugoslawischen Surrealismus, verbunden. Es gab enge Verbindungen der Belgrader Surrealisten zu André Breton in Paris und einen regen Austausch zwischen den Gruppierungen. Das ide‐ engeschichtliche Fundament dieser Gruppierung ist der Freudomarxismus und speist sich aus Marx’ Gesellschaftskritik sowie Freud’s Subjektbegriff. Dies enstpricht durchaus der Erkenntnis, dass eine radikale Veränderung der Kunst und Gesellschaft, die nur innerhalb der Grenzen dieser Kunst selbst artikuliert wird, wie es den Dadaisten vorgeworfen worden war, zum Scheitern verurteilt sei und es deshalb notwendig sei, den Begriff der Avantgarde selbst zu erweitern und neu zu bestimmen, ihn auf neue theoretische Fundamente zu stellen. Das Zitat, die Collage und die Montage sind die Ausdrucksmittel, de‐ rer sich die Surrealisten bedienen, um die innerern Bewusstseinsströme abzubilden. Eine Reihe von Texten in Manier der écriture automatique gehören ebenfalls zum surrealistischen Œuvre, so etwa Đorđe Kostićs Text Automatski tekst oder Vane Bors Beiträge. Die erste kollektiv herausgege‐ bene Publikation dieser losen Gruppierung erschien 1930 unter dem Titel Nemoguće - L’Impossible als Almanach, der Manifeste, theoretische Texte, Gedichte, automatische Texte, Photogramme und Collagen enthielt. Die meisten Mitglieder der Belgrader Surrealisten verließen das Feld der Kunst und Literatur im Anschluss an die Einsetzung der Königsdiktatur in Jugos‐ lawien 1929 und engagierten sich aktiv für das revolutionäre Programm der jugoslawischen kommunistischen Partei. 1932 wurden deshalb Đorđe Jovanović und Oskar Davičo zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt, was auch in französischen Surrealistenkreisen für Empörung sorgte. 42 II. Jugoslawien und der postjugoslawische Raum <?page no="43"?> Abb. 3: Dragan Aleksić: Dada Tank, Zagreb, 1922 (Zeitschrift). 1. Überblick 43 <?page no="44"?> Abb. 4: Magazin Nemoguće - L’Impossible, Belgrad, 1930 (Zeitschrift). 44 II. Jugoslawien und der postjugoslawische Raum <?page no="45"?> Die ungarischsprachige Avantgarde versammelte sich in erster Linie um das in der Vojvodina (in Novi Sad und Subotica) erscheinende Magazin ÚT (1922-1925, dt. die Straße) und die Zeitung Hírlap (Zeitung) und wurde zum Großteil von Exil-Ungarn getragen, die vor dem Horthy-Regime in Ungarn geflüchtet waren (→ Kapitel VIII). ÚT stand dem Aktivismus-Konzept von Lajos Kassák sehr nahe, während in Subotica vor allem dadistische Soirées organisiert wurden, die an Sándor Bartas Dada angelehnt waren und deren Vertreter in direktem Kontak mit Micićs Zenitismus und Aleksićs Dada standen. Für die historische Avantgarde in Slowenien sind neben Poljanskis Ma‐ gazin Svetokret auch das von Anton Podbevšek herausgegebene Magazin Rdeči Pilot (1922, dt. Roter Pilot) und Ferdo Delaks Novi order (1924, dt. Neue Ordnung) sowie vor allem Tank (1927-28) von Bedeutung. Tank erschien in zwei Ausgaben (Nr. 1 1/ 2 und 1 1/ 2-3) in Ljubljana mit Beiträgen der wich‐ tigsten slowenischen Avantgardisten, unter ihnen der in Triest geborenen Maler und Konstruktivist Avgust Černigoj, der Komponist Marij Kogoj und der Architekt Dragotin Fatur. Tank bot eine Plattform für unterschiedliche poetologische und ästhetische Programme, doch war der Konstruktivismus die wichtigste Inspirationsquelle, was vor allem an Černigoj selbst lag, der am Bauhaus mit Wassily Kandinsky und László Moholy-Nagy studiert hatte und stark vom Konstruktivismus beeinflusst war. Da das Erscheinen der 3. Ausgabe von Tank per Gericht verboten wurde, erschienen einige dafür vorgesehen Artikel in der 10. Ausgabe von Der Sturm in Berlin (1929), ein weiteres Indiz für die Verflechtung der südosteuropäischen Avantgardebewegungen mit ihren zentraleuropäischen Mitstreitern. Der gemeinsame Nenner der unterschiedlichen jugoslawischen avantgar‐ distischen Gruppierungen und Initiativen liegt in der Wahl ihrer Ausdrucks‐ mittel, in der Art und Weise, wie Text und Bild sich am Schnittpunkt zwischen Literatur und Kunst überlappen und zueinander in Bezug gesetzt werden. Die jugoslawischen historischen Avantgardebewegungen sind folg‐ lich gekennzeichnet durch Magazine, Manifeste, Soiréen, vereinzelt auch Ausstellungen, wobei formelle Gruppierungen oft in Kaffeehäusern (z. B. das Hotel Moskva in Belgrad) zusammenkamen. Weiters gibt es zentrale Figuren, die, ähnlich der internationalen Avantgarde, eine klare Führerrolle einnehmen, ja bisweilen als Personifikationen der jeweiligen Bewegung gelten: Ljubomir Micić für den Zenitismus, Dragan Aleksić für den Dadais‐ mus, Marko Ristić für den Surrealismus. Internationalismus ist weiters ein wesentliches Kennzeichen dieser verschiedenen avantgardistischen Grup‐ 1. Überblick 45 <?page no="46"?> 1 Šimičić, Darko. From Zenit to Mental Space. In: Djurić, Dubravka / Šuvaković, Miško. Impossible Histories: Historical Avant-Gardes, Neo-Avant-Gardes, and Post-Avant- Gardes in Yugoslavia, 1918-1991. Cambridge, Mass: MIT Press. 2003, S.-298. pierungen und es gab zahlreiche Kontakte zu europäischen Künstlern und Schriftstellern in den Städten Paris, Berlin, Wien, Prag, auch zu russischen und italienischen Kollegen. Eine weitere Gemeinsamkeit der vielfältigen jugoslawischen Avantgar‐ debewegungen besteht darin, dass sie - ausgehend von literarischen Expe‐ rimenten - intertextuelle und genreübergreifende Ausdrucksformen entwi‐ ckelten, die in erster Linie durch Magazine und Manifeste ihre Verbreitung fanden. Die Genealogie der Avantgarde zwischen 1921 bis 1932 lässt sich also ablesen an den vielzähligen Magazinen, wie etwa: Svetokret, Zenit, Dada Tank, Dada Jazz, Dada-Jok, Út, Hipnos, 50 u Evropi, Rdeči Pilot, Novi order, Tank bzw. der Almanache Nemoguće und Nadrealizam danas i ovde. In weiten Teilen sind die hier angeführten Avantgarde-Gruppierungen also „Magazin-Avantgarden“, d. h. bis auf wenige Ausnahme treten die involvierten Künstler nicht durch das Schaffen von eigenständigen künst‐ lerischen Arbeiten hervor, sondern sie nutzen die jeweiligen Magazine als Sprachrohre für die Verbreitung ihrer ästhetischen und poetischen Programme, bzw. stellten die typographische und grafische Gestaltung der Magazine die künstlerische Arbeit dar. Die Magazine selbst sind demnach genuine avantgardistische Arbeiten, experimentelle Arbeiten intertextueller und interpiktorialer Art und damit eine Rolle spielend, die über die eines Kommunikationsmediums oder literarischen Werks hinausgehen. Darko Šimičić sieht in ihnen die einzig wirklichen „Produkte“ der jugoslawischen Avantgarde dieser Jahre: Therefor avant-garde magazines and other publications are the only form of communication with the international art world and the only true products of the avant-gardes in Yugoslavia that are available. 1 Es lassen sich drei zugrundeliegende Konzepte hinter der Collage/ Mon‐ tage-Technik der Magazine bestimmen: erstens ein ironisch-destruktiver Impetus, der sich dem utilitaristischen Gebrauch von Sprache und Bild verweigert, bzw. diesen ironisiert oder zerstört, wie in den Dada-Magazinen, zweitens eine eklektische Montage von dadaistischer und konstruktivisti‐ scher Ästhetik mit Elementen der Populärkultur (Werbung, Radio, Film) als Sinnbild einer progressiv-technologischen Poetik (Futurismus, Zenitis‐ 46 II. Jugoslawien und der postjugoslawische Raum <?page no="47"?> mus und Konstruktivismus) und drittens Interpretationen anti-logischer, automatisierter und onirischer visuell/ textueller Montagen als Ausdruck des Unbewussten, des Traums und unterdrückter Bedürfnisse, wie in den Magazinen der Surrealisten. Das Ende der historischen Avantgarde in Jugoslawien kann mit dem Jahr 1929 angesetzt werden, als König Aleksandar I. das Parlament auflösen ließ und eine Königsdiktatur installierte. Das Land hieß fortan „Königreich Jugoslawien“ und sollte den Prozess der nationalen und kulturellen Einigung der unterschiedlichen Teilrepubliken beschleunigen. Für die Avantgarde be‐ deutete dies, dabei durchaus ähnlich wie in anderen europäischen Ländern, das Ende eines relativ freien und toleranten kulturellen Umfelds. 1.2 Nachkriegsavantgarden Das erneute Aufkommen einer avantgardistischen Bewegung in Jugosla‐ wien nach dem 2. Weltkrieg kann bereits in den 1950er-Jahren angesetzt werden. Zum einen gab es Versuche, an die Vorkriegsavantgarden (wie etwa Zenit oder Dada) anzuknüpfen, zum anderen wandte man sich von der geometrisch-abstrakten Kunst des „sozialistischen Ästhetizismus“ sowie von der Ideologie des „Sozialistischen Realismus“ ab (der allerdings nur bis etwa 1959 gültig war) und versuchte eine Erweiterung der Kunst in Richtung Lebenswirklichkeit sowie eine Synthese der Ausdrucksformen im Sinne von Mixed-Media zu erreichen. Das Ende des Sozialistischen Realismus wird dabei angesetzt mit dem Kongress des jugoslawischen Schriftstellerverbandes in Ljubljana und der Rede von Miroslav Krleža 1952, bei der er eindeutig der kreativen Freiheit der Künste das Wort redete und die Ästhetik des Sozrealismus als wertlos und inhaltsleer verwarf. Die Wiederentdeckung der historischen Avantgarde ist auch eine Wiederaufnahme von genuin avantgardistischen Strategien, die historisch nie wirklich realisiert werden konnten, doch in ihrer Form radikal avantgardistisch waren. Trotz der Aufnahme und Adaptierung bestimmter Avantgarde-Techniken, wie etwa die Betonung der Materialität von Sprache und die Forderung der Synthese von Kunst und Leben sowie nach der Überwindung der traditionellen Kunst-Disziplinen, ist die Neoavantgarde eine authentische und eigenständige Erscheinung, die in Jugoslawien von beeindruckender Vielfalt ist und alle Disziplinen umfasst, von der Bildenden Kunst zur Literatur, von der Neuen Musik zur Architektur. Neoavantgarde und Konzeptkunst sind in diesem Kontext also nie nur kunstimmanente 1. Überblick 47 <?page no="48"?> Erscheinungen, sondern gleichzeitig immer auch eine Provokation und Subversion des bürokratisch-technokratischen Gesellschaftsvertrags im Re‐ alsozialismus. Auch wenn es im Land selbst keine offizielle Zensur bzw. Verbote der neuen Kunst gab, wurde diese oft als dekadent und zersetzend betrachtet und in eigens geschaffene „Reservate“ der Jugendkulturzentren zurückgedrängt. Wenngleich es keine direkten politischen Eingriffe auf den Kunstbetrieb in Form einer eigenen Zensurbehörde gab, die Kunst sich also vermeintlich frei und in verschiedene Richtungen entwickeln konnte, wurde trotzdem Einfluss darauf genommen, wenn auch nicht mit drastischen Maßnahmen wie in den totalitären Staaten des Ostblocks unter Moskauer Einfluss. Dies geschah in erster Linie durch die Unterstützung oder Ablehnung bestimmter Initiativen und Künstler. Der Überzeugung von Jugoslawiens Machthabern als Machern des „Dritten Wegs“ entsprechend, sich als wahre Alternative sowohl zum Kapitalismus westlichen Zuschnitts als auch zum Kommunismus sowjetischer Prägung sehend, galt dieses Spiel entlang der Ideologie von Zuckerbrot und Peitsche auch für die Künste. Einerseits Freiheit und Offenheit gegenüber internationalen Tendenzen und Erschei‐ nungen, andererseits schroffe Unterweisung bis hin zur Repression und zu Gefängnisstrafen, sollte die vermeintliche Freiheit zu weitgehend definiert werden und sich in direkter Kritik an der Macht und ihren Repräsentanten manifestieren. Jener kulturelle Bereich, der am stärksten unter der politischen Kontrolle litt, war jener des Films und ab 1963 gibt es zahlreiche politische und bürokratische Maßnahmen zum Verbot und zur Unterbindung der Verbrei‐ tung der Filme dieser so genannten „Schwarzen Welle“, die ihren Namen dadurch erhalten hatte, weil sie die (sozialistische) Wirklichkeit schwarz, also negativ darstellen würde. Themen wie Sex, Orientierungslosigkeit, Drogen und v. a. die Problematisierung der sozialen Situation in erster Linie der verarmten Landbevölkerung waren den Machthabern ein Dorn im Auge. Den Regisseuren wurde „nahegelegt“ keine derartigen Filme mehr zu produzieren, zahlreiche Auswanderungen nach Frankreich, Deutschland und die USA waren die Folge. Als klassisches Beispiel gilt Želimir Žilniks Rani Radovi (Frühe Werke), der in Berlin den Goldenen Bären gewann, in Jugoslawien aber verboten wurde und zum Ausschluss des Regisseurs aus der Kommunistischen Partei und schließlich zu seiner Ausreise nach Deutschland geführt hat. Stojanović verbüßte wegen seines scheinbar staatsfeindlichen Filmes Plastićni Isus (1971) eine Haftstrafe, Makavejevs 48 II. Jugoslawien und der postjugoslawische Raum <?page no="49"?> M. R. - Misterije Organizma (1971) wurde gar verboten und der Regisseur aus der Partei ausgeschlossen, mit der Begründung er schade durch sein Filmwerk den „Kämpfern und der Revolution“. Abb. 5: Želimir Žilnik: Rani radovi (Frühe Werke). Novi Sad/ Belgrad, 1969 (filmstills). Die jugoslawische Neoavantgarde ist trotz der angeführten Beispiele keine Erscheinung des Underground oder des Dissidententums, wie in jenen osteuropäischen Ländern, die unter direktem Einfluss der Sowjetunion standen, sondern sie ist eine marginalisierte Erscheinung der Alternativ‐ kultur, die sich in den Zwischenräumen der Kulturinstitutionen abspielte. Neben den kulturellen Veranstaltungen wie den Nove Tendencije (1961- 1973), die ausschließlich der Neuen Kunst der Neoavantgarde, des Neo‐ konstruktivismus, der Computer-Art bis hin zur Konzeptkunst gewidmet war, den internationalen Musikbzw. Theaterfestivals FEST (ab 1971) und BITEF (Beogradski internacionalni teatarski festival, ab 1967) waren es die 1. Überblick 49 <?page no="50"?> so genannten studentischen Kulturzentren (Studentski Kulturni Centar), in denen sich die Avantgardekunst der 1970er Jahre konzentrierte. Die kroatische Gruppe Exat (steht für Experimentalni atelje) 51 ist die erste Avantgarde-Gruppe nach dem 2. Weltkrieg, welche die Fragen nach der Funktion der Kunst der Nachkriegsgesellschaft stellte und eine Synthese der Künste anstrebte. Die Grundlage bilden dabei die rationalistische Tradition der historischen Avantgarden sowie die neue postsowjetische jugoslawische Gesellschaftsordnung. Geometrische Abstraktion, Konstruktivismus und das Bauhaus können als Eckpunkte der Poetik dieser Gruppe von Künstlern und Architekten angeführt werden. Mit Exat 51 öffnete sich auch eine so genannte „konstruktivistische“ Linie in der jugoslawischen Nachkriegs‐ avantgarde, welche mit den „Neuen Tendenzen“ (Nove Tendencije) der 1960er und 70er Jahre weitergeführt wurden und die gleichzeitig den Versuch darstellten, an die konstruktivistischen Tendenzen der historischen Avant‐ garden anzuschließen. Die Gruppe wurde offiziell am 7. Dezember 1951 beim Jahrestreffen der kroatischen Künstlervereinigung (ULUPUH) gegründet, bei der auch ihr Manifest verkündet wurde. Die Gruppe bestand aus Malern und Architekten (Vjenceslav Richter, Aleksandar Srnec, Božidar Rašica, Ivan Picelj und Vlado Kristl). Die Nove Tendencije fanden in Zagreb zwischen 1961 und 1973 statt und stellten eine Fortführung der von Exat 51 begonnenen Bestrebungen dar. Die dezidiert internationale Ausrichtung dieser um die städtische Galerie für zeitgenössische Kunst in Zagreb organisierten Ausstellungen und Sympo‐ sien ist gekennzeichnet von einem wissenschaftlichen und programmierten Kunstverständnis: Kinetische Kunst, Lichtinstallationen, erste Beispiele von Computerkunst sowie das Experimentieren mit neuen Stoffen und Techni‐ ken kennzeichnen die Neuen Tendenzen, deren letzte Ausgabe im Jahr 1973 bereits zu einem guten Teil der aufkommenden Konzeptkunst gewidmet waren. Die letzte Ausstellung 1973 (Tendencije 5) versuchte den Bogen hin zur zeitgenössischen konzeptuellen Kunst zu schlagen und versammelte einige der mittlerweile international bekanntesten Vertreter dieser Richtung wie John Baldessari, Douglas Huebler, Sol LeWitt, Daniel Buren, Gilbert & George sowie On Kawara, um nur einige zu nennen. Von jugoslawischer Seite waren neben Bosch+Bosch auch Radomir Damnjanović-Damnjan, Braco Dimitrijević, Goran Trbuljak, Nuša und Srečo Dragan vertreten, sodass sich von lokaler Seite eine der eher seltenen Möglichkeiten ergab, mit den internationalen Konzeptkünstlern der Zeit in direkten Kontakt zu treten. Ein weiteres, vielleicht sogar wichtigeres Ereignis war die Teilnahme 50 II. Jugoslawien und der postjugoslawische Raum <?page no="51"?> junger Avantgardisten an der Biennale Junger Künstler in Paris, die in den Jahren von 1971 bis 1977 immer auch die jugoslawische junge Avantgarde im Programm hatte. Mit der von Josip Vaništa begründeten Gruppe Gorgona, die sich von 1959-1966 in Zagreb fand und aus Künstlern, Architekten und Theoretikern bestand, rückte die Frage nach dem „System Kunst“ in den Mittelpunkt des Interesses. Dies ist ein Gegenpol zum technologisch-rationalistischen Fortschrittsprogramm der Neuen Tendenzen. Gorgona war nicht an der Produktion von künstlerischen Objekten und Arbeiten interessiert, sondern verstand Kunst - eine radikal antikünstlerische Haltung - in erster Linie als kontextuelle Handlung, bei der die Kommunikation maßgeblich ist. Gorgona war auch eine Antwort auf den Fetisch des Materialismus in der Kunst und setzte die Kommunikation, das Ephemere anstelle eines Produkts. Das zentrale Sprachrohr für die Aktionen, mentalen Übungen sowie die teilweise absurden und radikalen Gesten von Gorgona ist das gleichnamige Anti-Kunst-Magazin Gorgona, das zwischen 1961-1966 in elf Nummern erschien und in dem etwa Julije Knifer seine Mäanderformen (eine Form, der er Zeit seines Lebens treu blieb) veröffentlichte, und wo Mangelos’ (Dimitrije Bašičević) Vorschlag für eine immaterielle Ausgabe des Magazins erscheinen hätte sollen (Nr. 9 von Gorgona, die konsequenterweise unveröffentlicht blieb). 1.3 Neue künstlerische Praxis Der Begriff der „Neuen künstlerischen Praxis“ (nova umjetnička praksa) bezeichnet eine Vielzahl von künstlerischen Praktiken und Ausdrucksfor‐ men ab ca. 1965 die sowohl neoavantgardistische als auch konzeptuelle Arbeiten und künstlerische Haltungen einschließen. Performance, Body Art, Installationen, Land Art, Konkrete und Visuelle Poesie, Arte Povera und Konzeptkunst sind darunter zu verstehen. Dabei steht die „Realität“ oder „Wirklichkeit“ im Zentrum der künstlerisch-aktivistischen Praxis. Das gemeinsame Ziel dabei ist die Schaffung einer Gegenkultur, welche alle Bereiche des Lebens und der Gesellschaft in die Kunst integrieren sollte, d. h. die alte avantgardistische Losung von der Aufhebung der Trennung zwischen Kunst und Leben wird in einem neuen Kontext reaktualisiert. Museen, Institutionen, Akademien werden abgelehnt, die Suche nach neuen, nicht „verunreinigten“ Räumen rückt in den Mittelpunkt. Im weitesten Sinn lässt sich diese „Neue Kunstpraxis“ als post-objekthafte Kunst bezeichnen, 1. Überblick 51 <?page no="52"?> und sie folgt damit den internationalen Erscheinungen der späten 1960er- Jahre, wie sie vor allem in der Konzeptkunst formuliert wurden. Die Charakteristik dieser prozesshaften und ephemeren Kunst sollte zu keinem Augenblick als abgeschlossen und vollendet erscheinen, um dann statisch konserviert werden zu können. So wurden nie „fertige Werke“ zur Kontemp‐ lation ausgestellt, sondern Dokumente, die bewusste Materialisierungen mentaler Operationen sind. Fundamentale Fragen nach der (sozialen) Funk‐ tion der Kunst führten zur Erweiterung, ja Sprengung des herkömmlichen Kunstbegriffes. Gattungs- und Disziplinengrenzen, formalistische Vorgaben und Produktionsabläufe wurden zunehmend kritisch hinterfragt und erwei‐ tert. Dem akademischen Dreieck des Kunstbetriebes, Akademie-Galerie- Museum, wurde vom „Nicht-Künstler“, dessen Schauplatz der öffentliche Raum ist, d. h. die Straßen der Städte, die Flächen der Natur, eine Absage jeglicher Legitimation erteilt. Anstelle des Elfenbeinturms des institution‐ ellen Kunstbetriebes traten die Gesellschaft und die Funktionsweise der Kunst als Teil von dieser in den Mittelpunkt des Interesses. Die Losung der Einheit von Kunst und Lebenswirklichkeit, wie sie bereits in den historischen Avantgarden der ersten Jahrhunderthälfte des zwanzigsten Jahrhunderts formuliert wurde, erfährt, nicht zuletzt im Geist der ’68er- Bewegung, eine enthusiastische Reaktualisierung. Das Aufkommen dieser „Neuen Kunstpraxis“, die als zweite avantgardistische Linie neben der neokonstruktivistischen (Neue Tendenzen in Kroatien), vollzog sich nicht - wie man vermuten könnte - in den großen städtischen Zentren des Landes, Belgrad, Zagreb, Ljubljana, Sarajevo, sondern zwischen den Provinzstädten im Norden, Novi Sad, Zrenjanin und Subotica, am äußeren Rand nahe der ungarischen Grenze gelegen. Schlüsseldaten für die neue Kunst in der Vojvodina sind die Gründungsdaten der ersten Künstlergruppen im Geist der Neuen Kunstpraxis: Am 27. August 1969 riefen Slavko Matković und Bálint Szombathy in der Konditorei Triglav in Subotica die Künstlergruppe Bosch+Bosch ins Leben und am 8. April 1970 formiert sich in Novi Sad die Gruppe Kôd. 52 II. Jugoslawien und der postjugoslawische Raum <?page no="53"?> Abb. 6: Miroslav Mandić (Grupa KOD): Dunav. Novi Sad, 1970. (Intervention) 1. Überblick 53 <?page no="54"?> 2 Aus einem Interview mit Goran Ðorđević. In: Prelom 8, 2006, 253: „SKC was de facto a kind of cultural ghetto. Informations on its activities were either ironic or malicious or disdainful, or there was no information at all.“ Abb. 7: Attila Csernik, (Bosch+Bosch-Gruppe): Telopis. Novi Sad, 1975. (Performance). In der Hauptstadt Belgrad ist das Studentische Kulturzentrum (SKC) das Epizentrum der Neuen Avantgarde der 1970er Jahre. Die Gründung und Etablierung dieser studentischen Kulturzentren in den verschiedenen städ‐ tischen Zentren des titoistischen Jugoslawiens ist eine Besonderheit der Kulturpolitik im Selbstverwaltungssozialismus und in Belgrad als eine der direkten Folgen der Studentenunruhen von 1968 zu sehen. Als Ersatz für die Auflösung der Studentenproteste wurden die sogenannten Jugend-Kul‐ turzentren begründet. In diesen relativ autonomen Zentren konnte Kritik am vorherrschenden Modell des Staatssozialismus und dessen Bürokratie und Passivität formuliert werden, doch wurde diese von den Institutionen als jugendlicher Übermut, als exotisch und somit als ungefährlich abgetan. Die Kulturzentren waren gleichzeitig ein Hort der freien künstlerischen und gesellschaftlichen Ideen sowie ein „Ghetto“ 2 im sozialistischen Alltagsleben. Den staatlich propagierten progressiv-modernistischen Tendenzen, die als Sozialistischer Modernismus gefördert wurden, wurden modernismuskri‐ tische und selbstbestimmte Haltungen im Geist der Neuen Kunstpraxis gegenübergestellt, die sich an den aktuellsten internationalen Tendenzen der Neoavantgarde und Konzeptkunst orientierten. Sie waren Initiatoren zahlreicher internationaler Ereignisse, darunter die internationalen April Meetings of Expanded Media (1972-1978) oder Konferenzen wie die erste feministische Konferenz in Jugoslawien Comrade 54 II. Jugoslawien und der postjugoslawische Raum <?page no="55"?> 3 Die bemerkenswertesten Beispiel sind: Teilnahme von OHO an Information im MOMA, New York, OHO und Braco Dimitrijević im Aktionsraumu 1 in München, 1971, Goran Trbuljak, Goran Đorđević, Marina Abramović, Raša Todosijević, Zoran Popović, Mladen Stilinović, Andraž Šalamun und die Gruppe 143 nahmen an der Biennale Junger Künstler in Paris zwischen 1973 und 1977 teil, Braco Dimitrijević stellte auf der Documenta 5 und Documenta 6 in Kassel 1972 und 1977 aus, Marina Abramović nahm an der Biennale von Venedig 1976 und an der Documenta 6 in Kassel 1977 teil. Woman: Women’s Question - A New Approach? (Drug-ca Žena: Žensko Pitanje - Novi Pristup? ) im Jahr 1978. Die zwei Ausstellungen Drangularijum ( Juni 1971) und die von Nena Balijković und Braco Dimitrijević kuratierte Konzeptkunst-Präsentation In another moment (September 1971) sind die zwei großen Ereignisse im ersten Jahr des Belgrader Kulturzentrums, die das Profil der nachfolgenden Aktivitäten maßgeblich mitprägten. Drangula‐ rijum stellt eine Post-Duchampsche Strategie der Hinterfragung und Prob‐ lematisierung untypischer Kunst-Objekte dar. Die teilnehmenden Künstler, unter ihnen Marina Abramović, Raša Todosijević, Zoran Popović, Neša Paripović u. a., stellten mitgebrachte liebgewonnene Objekte aus, unter anderen eine Fahne des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens, Stiefel, Handschuhe, eine Freundin, ein Brief über künstlerisches Schaffen u.s.w. In Another Moment, die vorher bereits in Zagreb (am 23. April 1971) im Haustor der Frankopanska-Straße 2a als außerinstitutionelles Ereignis und gleichzeitiges Kunst-Konzept zu sehen war, ist ein frühes Beispiel für die gemeinsame Präsenz internationaler Konzept-Größen (Sol LeWitt, Daniel Buren, Joseph Beuys, Lawrence Weiner, Barry Flanagan) und jugoslawischer Vertreter dieser Richtung (OHO-Gruppe, З-Kôd). Die jungen experimentellen Künstler der Nachkriegsavantgarde agierten auf Augenhöhe mit westeuropäischen und US-amerikanischen Vertretern dieser Erneuerungsbewegung und standen in engem Kontakt mit Künstlern, Theoretikern, Kuratoren aus unterschiedlichen Ländern. Wichtig zu beto‐ nen ist die Tatsache, dass der internationale Austausch nicht nur einseitig erfolgte, sondern gegenseitig war, wovon eine Reihe von gemeinsamen Ausstellungen, Initiativen und Kollaborationen zeugt. 3 2. Manifeste und Programmatisches In den sechs Jahren seines Bestehens spielte Zenit eine zentrale Rolle als Sprachrohr der jugoslawischen Avantgarde, mit einem totalen Anspruch der 2. Manifeste und Programmatisches 55 <?page no="56"?> 4 In deutscher Übersetzung in: Siegel, Holger (Hrsg.). In unseren Seelen flattern schwarze Fahnen Serbische Avantgarde 1918-1939. Leipzig: Reclam. 1992, S.-124. Vernichtung der alten (eurozentristischen) Weltordnung und deren Ersatz durch das „balkanische Genie“. Zenit verweigerte sich einem Kunstverständ‐ nis, das von westlichen Ideen gespeist wurde und sah die Kultur des Balkans an dessen Stelle treten. In der ersten Nummer von Zenit, erschienen im Februar 1921 in Zagreb, holte Micić, der Pazifist und Kriegsgegner, in einem pamphletartigen Einleitungstext folglich zu einem Rundumschlag gegen die Dekadenz Europas aus: MENSCH - das ist unser erstes Wort. (…) Wir treten heute in ein neues Jahrzehnt ein und müssen über die Grenzen Jugoslawiens hinaus. Im vergangenen Jahrzehnt lebten wir, Soldaten des Krieges und des Mordes für die ‚Freiheit der Völker‘, jenseits aller Grenzen, von heute an wollen wir Soldaten der universalen Kultur, Liebe und Brüderlichkeit sein. Wir treten gequält und verwandelt hervor. Wir treten hervor als Menschen, die verkrüppelt und verwundet sind, aber wir besitzen die Kraft derer, die gelitten haben, die erniedrigt wurden, die gesteinigt wurden auf dem Pranger Europas.  4 Die Ästhetik von Zenit speiste sich aus Versatzstücken des deutschen Expressionismus, von Nietzsche, des Russischen Modernismus, von Futuris‐ mus und Dadaismus und Konstruktivismus und vermengte diese zu einem polyphonen Aufruf zur Schaffung des balkanesischen Barbarogenius, der an die Stelle des alten, verrotteten und dekadenten Europas, das für die Leiden und Zerstörungen des Ersten Weltkriegs verantwortlich gemacht wurde, treten sollte. Im kulturellen Sinn verweigerte sich Zenit der Annahme eines als kolonial und hegemonial verstandenen europäischen Kulturexports - ein Aspekt, der in den marginalen „kleinen Kulturen“ abseits der großen europäischen Zentren zu unterschiedlichen Zeiten eine wichtige Rolle spielte: Man wollte nicht nur Empfänger aktueller Trends und Moden sein, die ihre Wirkung vom Zentrum in die Peripherie entfalten, sondern - im Gegenteil - diesen ein authentisches und genuines Moderne-Konzept eigener (manchmal nationaler) Prägung entgegenstellen. 1922 veröffentlichte Dragan Aleksić in der ungarischen Avantgarde- Zeitschrift MA, die in Wien herausgegeben wurde (→ Kapitel VIII), das dadaistische Laut-Poem Taba Zyklon II, das dem poetischen Prinzip der Si‐ multanismus folgte, bei dem der Dichter nicht mehr selbst als sinnstiftendes Subjekt fungiert, das für Harmonie und Einheitlichkeit sorgt, sondern bei 56 II. Jugoslawien und der postjugoslawische Raum <?page no="57"?> dem simultane und zufällige Elemente in unstrukturierter Weise aneinan‐ dergefügt werden - als Sinnbild einer sich ebenfalls in Chaos und Auflösung befindlichen Wirklichkeit. Aleksić propagierte den kulturellen Null-Punkt, den kulturlosen Zustand als Ideal des Dadaismus und sah den „nackten Menschen im ersten Lebensjahr“ deshalb als idealen Dadaisten an. Die Destruktion machte auch vor der Sprache nicht halt, und während Micić und der Zenitismus dies in einem verzweifelten Aufschrei kundgetan haben, ähnelten die dadaistischen Poeme eher einer ironisch-grotesken Bestätigung der erlebten Weltkatastrophe. Das „Exat 51 Manifest“ wurde am 7. Dezember 1951 bei der Jahresver‐ sammlung des kroatischen Künstlerverbandes vorgelesen und läutete die jugoslawische Nachkriegsavantgarde ein. Im Manifest wurde eine Synthese aller künstlerischen Formen gefordert, die Grenzen zwischen angewandter und bildender Kunst wurden für obsolet erklärt und die Wichtigkeit des so‐ zialen Kontextes der Kunst sowie die zentrale Rolle des Experiments wurden hervorgehoben. Dies stellte eine offene Ablehnung des vorherrschenden ju‐ goslawischen ästhetischen Programms des „sozialistischen Ästhetizismus“ dar, da dieser die soziale Wirklichkeit nicht abbilden könne und keinen produktiven Beitrag zum gesellschaftlichen Fortschritt darstelle. Exat 51 hingegen sah sich in der konstruktivistischen Tradition der historischen Avantgarde und verstand die grundlegende Aufgabe ihrer Kunst darin, die soziale Wirklichkeit mit einer neuen visuellen Sprache zu verbinden, um einen wahren Fortschritt in allen menschlichen Aktivitäten zu erreichen. Vladan Radovanovićs frühe Arbeiten, die noch im Umfeld der modernis‐ tischen Gruppierung von Mediala entstanden waren, können als protokon‐ zeptualistisch bezeichnet werden. Seine umfassende Theorie der „Vokovi‐ sualität“ liefert eine vollständige theoretische Beschreibungsmöglichkeit sprachlicher Abläufe, eine Semiotik ähnlich der Saussurschen. Wichtig sind seine „taktilozonen“ Arbeiten, die auf eine direkte Empfindung durch Berührung abzielen, weiters konzeptuelle „Projekte“, die viele Elemente der späteren Konzeptkunst beinhalteten. Radovanovic vertritt die Position, dass das „Vokovisuelle“ eine eigenständige Richtung wäre, die sich durch die Synthese aus Poesie und visueller Kunst zusammensetze. In seinem Künstlerbuch Pustolina (dt. etwa „Ödland“, entstanden 1956- 1962, erschienen 1968) präsentierte er die Synthese von Sprache (Wort), Laut und dem Bild auf einer zweidimensionalen Fläche, bei dem das linearchronologische Konzept zugunsten einer räumlichen Lesart aufgegeben wird. 2. Manifeste und Programmatisches 57 <?page no="58"?> Abb. 8: Vladan Radovanović: Pustolina. 1956-1962. Zwischen 1969 und 1970 gab Bora Čosić das Rok-Magazin, welches auf der Idee von Mixed-Media basierte, also auf der Synthese verschiedener Disziplinen wie Literatur, Konkrete Poesie, Bildende Kunst und Musik in drei Ausgaben in Belgrad heraus. Das Magazin war gleichzeitig eine Zeitschrift über Kunst und ein Kunstprodukt, in der Selbstdarstellung der Herausgeber „eine Zeitschrift für Literatur und das ästhetische Studium der Realität“ genannt. Man wandte sich dezidiert gegen das intimistischindividualistische Schreiben, welches den Einzelnen „glücklich machte“, ohne eine Rückkoppelung an die sich verändernde Wirklichkeit. In der ersten Nummer wurden zahlreiche Arbeiten der slowenischen OHO-Gruppe vorgestellt sowie die internationale Fluxus-Bewegung (Maciunas, George Brecht, Ben Vautier). Weiters gab es ein verstärktes Interesse für die lokalen historischen Avantgardebewegungen (Zenit, Dada-Tank) sowie natürlich für die aktuellen lokalen Vertreter der Neoavantgarde. Die dritte (und letzte) Ausgabe von Rok bestand ausschließlich aus einem Gesamtabdruck des Drehbuches sowie von Fotografien der Dreharbeiten von Želimir Žilniks Rani Radovi („Frühe Werke“, 1969), welches als Schlüsselwerk der so ge‐ nannten Schwarzen Welle im jugoslawischen Film gilt, jener kritischen und 58 II. Jugoslawien und der postjugoslawische Raum <?page no="59"?> 5 Zit. nach: Milenković, Nebojša. Ich bin Künstler Slavko Matković. Retrospektive. Novi Sad: Muzej savremene umetnosti. 2004, 45. 6 Idem, 49. anti-idealistischen filmischen Darstellung der sozialistischen Realität Jugos‐ lawiens also, die auch mit den Mitteln der Zensur und der Aussprechung von Berufsverboten versucht wurde zu unterbinden. Am 26. November 1974 erscheint in der deutschen Regionaltageszeitung „Hartzberger Presse“ eine Kleinanzeige von Slavko Matković mit der Aus‐ sage „Ich bin Künstler - Slavko Matković“ (in deutscher Sprache). Das Projekt mit dem Titel „Ich bin Künstler“ (Ja sam umetnik) sollte das wich‐ tigste Kunst-Projekt von Matković werden, wie er Bálint Szombathy in einem Brief vom 12. November desselben Jahres mitteilte. Dort heißt es: I want this announcement published through all leading papers worldwide! The project is in progress already - including so far, Canada, West Germany, France, England. 5 Diese relativ simple Aktion kann als paradigmatisch für die Poetik von Slavko Matković bezeichnet werden, der wie wenige andere seine Existenz mit seinem Verständnis als Künstler verwoben hat. Matkovićs Ich-bin- Künstler-Anzeige stellt einen radikalen Schlusspunkt einer Reihe von Über‐ legungen dar, in denen er sich mit den Möglichkeiten auseinandersetzte, wie eine Existenz als Künstler möglich sein könnte. 1974 verschaffte er dem Unvermögen Luft, eine adäquate, im Einklang mit dem Puritanismus des internationalen Konzeptualismus stehende Haltung zu finden, die den Prinzipien der Ideen-Kunst entspräche. Er schrieb: I could no longer work and create, for each of my works - provided it was carried out or recorded in some way - would automatically turn inadequate to my principles and attitudes; I could no longer justify myself as an artist through my artistic output. 6 Slavko M. personifizierte in seiner Biographie das universelle tragische Schicksal eines Künstlers, der an den Rändern der großen zentraleuropäi‐ schen kulturellen und gesellschaftlichen Zentren arbeitete. Schriftsteller, Bohème, Künstler, von der Kunst sich verraten sowie sein Schicksal durch diese bestimmt Empfindender, oszillierte sein Leben zwischen den extremen Polen existenziellen Mangels und des Bestrebens der Synthese von Kunst 2. Manifeste und Programmatisches 59 <?page no="60"?> 7 Slavko Bogdanovićs Brief an Jaša Zlobec ist die Antwort auf dessen Text „Dosta nam je! “ (Es reicht uns! ), der in Student Nr. 23 von 1971 erschienen war und der auf einer Diskussionsveranstaltung vom 22.01.1971 beruht, bei der Zlobec das zunehmende repressive Klima der Novi Sader Behörden gegen die alternative Szene kritisiert hatte. 8 Bogdanović, Slavko. Pesma underground tribina mladih novi sad. In: Student, Sonder‐ ausgabe, 1971. Zit. nach: Milenković, Nebojša. Ich bin Künstler Slavko Matković. Retrospektive. Novi Sad: Muzej savremene umetnosti. 2005. und Leben. Subotica als nicht zu änderndes fatum war ihm Gefängnis und Rückzug in Einem, Inspiration und Verzweiflung. Slavko Bogdanović (1948), der Mitglied der Novi Sader Kod-Gruppe war, sah in der Dekonstruktion der pragmatischen Alltagssprache der Kultur und Politik keine sich selbst genügende ästhetische Operation, sein Ziel war der direkte Angriff auf den institutionellen Bereich der Kulturpolitik. In einem kämpferischen Brief-Poem 7 an seinen slowenischen Freund Jaša Zlobec schlug er einen Kurs der offenen Konfrontation ein und kritisierte nicht nur die konterrevolutionären und konservativen Jugendorganisationen der Kommunistischen Partei, die „gar nicht existieren würden“, sondern auch dem bürokratischen Partei-Organisationsapparat als „verkalktes Gehirn“ dienen würden. Er rief zur offenen Revolution auf, da die Partei, von der in bedeutendem Maße die Zukunft des Landes abhänge, nicht in der Lage sei, sich zu reformieren. Bogdanović prangerte in seinem Text das zunehmend repressive Klima an, das seit 1968 immer stärker wurde. Andersdenkende und „linke Abweichler“ würden mit Gewalt zum Schweigen gebracht und in ihrer Lebensgrundlage bedroht, wobei es keinerlei Raum für offen aus‐ getragene Polemiken geben würde, sondern sofort mit Repressionen und Verboten reagiert würde. Aufgrund seines Textes Pesma underground tribina mladih novi sad (The Poem of the Underground Youth Stands Novi Sad), der in der Studentenzeitung Index abgedruckt werden hätte sollen (die Nummer wurde verboten), wurde Bogdanović schließlich aufgrund des Verstoßes gegen das Medien- und Pressegesetz zu acht Monaten Haftstrafe verurteilt. In dem Text, der den Höhepunkt der Konfrontation zwischen der Staats‐ macht und der alternativen Szene markierte, heißt es unter anderem: […] It is now clear, that in this fuck-up town whoever thinks up a clever and decent thing and just tries to do something about it - gets screwed up, and the only real chance for the guys is to foster social-realist kitsch, commercial underground surrealism […] this disgusting city regularly shows its dark soul. 8 60 II. Jugoslawien und der postjugoslawische Raum <?page no="61"?> Die grafische Anordnung des Textes ist „lyrischer Art“, d. h. Sätze machen Zeilensprünge, einzelne Wörter sind hervorgehoben, Teile von Wörtern werden in die nächste Zeile übertragen und links- und rechtsbündig ange‐ ordnete Textstellen lassen insgesamt den Eindruck entstehen, es handle sich um einen poetischen und keinen faktischen Text. Mit dieser bewussten Operation, die Bogdanović bereits bei anderen Texten angewandt hatte, soll offensichtlich die Diskrepanz zwischen der Welt der Kunst und der Realität überwunden, die Kategorisierung zwischen den scheinbar getrennt vonei‐ nander existierenden Sphären soll unmöglich gemacht und ad absurdum geführt werden. Die Folgen dieses Prozesses führten zudem zur Entlassung der gesamten Redaktionsmannschaft des Jugendkulturzentrums Tribina Mladih und somit auch zum Ende der experimentellen und konzeptuellen Kunst in Novi Sad. Eine der bekanntesten Arbeiten des Belgrader Künstlers Neša Paripović (1942), der anfangs im Kreis der sechs „Künstler“, später als Mitglied der Grupa 143 aktiv war, ist Examples of analytical sculpture aus dem Jahr 1978, bestehend aus 42 Fotografien sowie dem dazugehörigen Text. Die Fotoserie zeigt close-ups von Lippenberührungen, die Paripović an einem nackten Frauenkörper, ausgehend vom Kopf (weiter zu Ohr, Wange, Schulter, Rücken, Bauch, Hüfte, Beine) in spiralförmiger Abwärts‐ bewegung ausführt. Die Lippenbewegungen sind keine Küsse, sie sind nicht leidenschaftlicher oder erotischer Ausdruck eines Begehrens, sondern distanzierte, kühle und taxierende Berührungen. Dem Thema dieser Arbeit liegt ein typischer Topos der frühen Moderne zugrunde: das Verhältnis Maler/ Bildhauer und Modell, das sich anhand klar definierter Rollenbilder zwischen „aktivem Künstler“ und „passivem objektartigem Modell“ zu vollziehen scheint. Dem Motiv des weiblichen Aktes liegt in der Moderne eine hierarchische Konstruktion von Blick und Begehren zugrunde, in Paripovićs analytischer Skulptur wird hingegen die übliche Situation der Atelierintimität von einem dynamisierten und fragmentierten Künstler- Modell-Verhältnis abgelöst. Die Momentaufnahmen sind Dokumentationen eines geschlossenen Prozesses, dessen Ende vom Modell/ der Statue selbst vorgegeben wird. Durch die Verbindung von geschriebenem Text und Bildern (die selbst als Text gelesen werden können) weist Paripovićs Ar‐ beit eine konzeptuell-analytische Struktur auf, sodass der Titel auf einen formalisierten Rahmen für die Ausführung der Arbeit hinweist. Es kann auch als ironischer Seitenhieb auf den rigiden logischen und visuellen Puritanismus der Konzeptkunst gesehen werden, dass die eindeutig erotisch 2. Manifeste und Programmatisches 61 <?page no="62"?> aufgeladene Szenerie scheinbar in den Hintergrund rückt zugunsten des kalten Verfahrens der Registrierung durch Berührungen. Abb. 9: Neša Paripović: Primeri analitičke skulpture. Belgrad, 1978. (Fotoserie). 3. Personen und Werke Ljubomir Micić (1895-1971) war der Begründer von Zenit und die prägendste Avantgarde-Figur der jugoslawischen historischen Avantgarde. Nachdem er sich wegen einer vorgetäuschten Geisteskrankheit vom Kriegsdienst 62 II. Jugoslawien und der postjugoslawische Raum <?page no="63"?> an der galizischen Front entzogen hatte, versuchte er sich zunächst, nach Verbüßung einer Haftstrafe, als Schauspieler am Osijeker Stadttheater, bevor er sich ab 1921 ausschließlich dem Aufbau von Zenit widmete. Nach dem Verbot von Zenit im Jahr 1926 in Belgrad gelang es ihm, auf Intervention von F. T. Marinetti nach Italien auszureisen und ab 1927 weiter nach Paris zu reisen, wo er mit Yvan Goll zusammenarbeitete. Der streitbare Micić überwarf sich im Laufe der Zeit mit beinahe allen seinen Mitstreitern und sah in der Umsetzung des Zenitismusgedanken eine Lebensaufgabe. Durchaus vergleichbar mit Karl Kraus’ Fackel ist Zenit eine singuläre Erscheinung innerhalb der europäischen Avantgarde, die ihresgleichen sucht. Die 43 Hefte, drucktechnisch auf hohem Niveau, mit Beiträgen der renommiertes‐ ten Avantgarde-Vertreter der Zeit, oft unter widrigen Bedingungen produ‐ ziert, sind der eindrucksvollste Beitrag der südosteuropäischen Avantgarde- Bewegung der 1920er Jahre. Anfangs noch Mitglied von Zenit, wo auch das 1. dadaistische Manifest (Zenit Nr. 3, 1921) erschien, kam es alsbald zum Konflikt mit Dragan Aleksić (1901-1958), der zentralen Dada-Figur Jugoslawiens. Nachdem dieser wäh‐ rend seines Studiums der Slawistik in Prag Kontakte zu Tristan Tzara, Raoul Hausmann, Karel Teige und auch Lajos Kassák aufgenommen hatte, machte er sich daran, Dada in Jugoslawien aufzubauen. Aleksić sah in seiner Dada- Ausformung einen genuin jugoslawischen Beitrag zum internationalen Dada und er lehnte sich stark an seine westeuropäischen Vorbilder an (er publizierte teilweise sogar auf Deutsch), womit er ein radikales Gegenstück zum antizivilisatorischen Balkan-Konzept von Zenit darstellt. Leonid Šejka (1932-1970) war der Sohn eines russischen Landvermessers und einer Opernsängerin aus dem serbischen Valjevo. Šejka studierte Archi‐ tektur und lebte als Künstler in Belgrad. 1957 begann er mit seinen Aktionen auf den Müllhalden, wo er gefundene Dinge ohne Funktion und Bedeutung zu Kunstobjekten deklarierte, z. B. das Dysfunktionale Objekt Flasche als Erweiterung des Handlungsbereiches der Kunst hin zu den „Abladeplätzen“ der sich entwickelnden Konsumgesellschaft. Dies bedeutete eine Öffnung der Kunst hin zu konzeptuellen Verfahren der nächsten Jahrzehnte. Seine „Ästhetik des Mülls“, die Abladeplätze in den Hinterhöfen der Metropole öffnen einen neuen Bereich der künstlerischen Betätigung, woraus eine immanente Konsumkritik der Zeit abgeleitet werden kann. Seine Bilder und Objekte sind Stationen auf der Flucht aus der chaotischen Stadt, über die wuchernden Müllhaufen hin zu einem unerreichbaren Schloss. Mit seinen 3. Personen und Werke 63 <?page no="64"?> Werken provozierte er die sozialistische Kulturbürokratie ebenso wie die Adepten westlicher Abstraktion. Die slowenische OHO (oko=Auge, Uho=Ohr)-Gruppe entstand 1963 aus der Schülerzeitung Plamenica (Fackel), die von den damaligen Schülern Marjan Čiglič, Iztok Geister und Marko Pogačnik herausgegeben wurde. In den unterschiedlichen Phasen ihres Bestehens arbeiteten die Mitglieder des Kollektivs v. a. im Bereich von konzeptuellen Eingriffen und Aktionen, die ihnen bald auch zu internationaler Beachtung verhelfen sollten. Im Laufe ihres Bestehens durchlief OHO drei unterschiedliche Schaffens‐ phasen: Die erste Periode ist jene des Reismus, mit dem Anspruch einer extremen Verdinglichung der Kunst, um eine radikale andere Beziehung zur Welt zu erreichen. Anstelle einer humanistischen Position, die eine vom Subjekt beherrschte Objektwelt impliziert, wollten sie eine Welt der Dinge erreichen, in der es keine hierarchischen Unterschiede zwischen Menschen und Dingen geben würde. OHO verwendete eine Vielzahl von Medien: Zeichnungen, Texte, Film, Fotografie, Musik und auch die Art, wie sich die Mitglieder kleideten, wie sie lebten und sich verhielten wurde als Kunst begriffen. Das Ziel war es dabei, ähnlich wie bei anderen Avantgarde-Gruppen, die Trennung von Kunst und Leben zu überwinden (indem die Kunst ihrer Aura entledigt wird und mit kleinen Dingen des alltäglichen Lebens in Verbindung gebracht wird), sowie den Prozess des bewussten Kunstschaffens durch den Zufall zu ersetzen. In der zweiten Phase gab es einen Dialog mit anderen Avantgarde- Bewegungen der Zeit; die Prinzipien der italienischen Arte Povera, von Land Art und Body Art wurden aufgenommen. In der dritten Phase kommt es zu einer Verbindung von Konzeptualismus, Esoterik und ökologischen Ansätzen, die sich in letzter Konsequenz in der Abkehr vom städtischen Leben und in der Gründung einer Kommune auf dem Land manifestiert, um dem Prozess der Musealisierung zu entgehen, als man sich am Beginn einer internationalen Karriere befand. Diese Poetik des „Reismus“ (von lat. res = Ding) ist eine besondere Spielart zur Ent-Semantisierung von Text und bezeichnet eine der Schaffensphasen in der Arbeit der OHO-Gruppe, deren Einfluss auf andere Kunst-Initiativen in Jugoslawien kaum überschätzt werden kann. Die Reduktion des sprach‐ lichen Zeichens auf seine Materialität und die Loslösung des sprachlichen Bildes von seinem Verweischarakter zieht sich wie ein roter Faden durch 64 II. Jugoslawien und der postjugoslawische Raum <?page no="65"?> eine Vielzahl künstlerisch-literarischer Aktionen dieser Zeit - und dies nicht nur im östlichen Europa, sondern auf einer globalen Ebene. Tomislav Gotovac (a.k.a. Antonio Lauer, 1937-2010) war ein Pionier des frühen Happenings und ein experimenteller Filmemacher, eine wahre Avantgarde-Figur, die die Einheit von Kunst-Leben personifizierte. In seinen frühen Happenings bzw. Aktionen aus den 1950er Jahren ging es darum, alltägliche Situationen in den öffentlichen Raum zu tragen und damit zu Ereignissen zu transformieren, so etwa in The action of taking 120 pills (1957), Breathing the Air (1962) und Showing the Elle Magazine (1962). Seine oft exzessiven und provokativen Auftritte waren ein ständiges Ausloten auch der legalen Möglichkeiten von Kunst im Ein-Parteien-Staat Jugoslawien und frühe Beispiele von (männlicher) Nacktheit im öffentlichen Raum. Sein ers‐ ter Auftritt als „Streaker“ fand 1971 im Rahmen der Dreharbeiten zu Dušan Makavejevs Plastični Isus in Belgrad statt und zeigte ihn, wie er nackt auf den Straßen von Belgrad kroch und dabei die Aufmerksamkeit der Ordnungs‐ hüter hervorrief, die mit der Aussage, dass es sich dabei um Kunst handelte, überfordert waren. Diese Kontextverschiebung von privat-öffentlich, von Kunst-Nicht-Kunst sowie von männlicher und weiblicher Nacktheit (die Toleranz gegenüber weiblicher Nacktheit war viel größer) ist ein zentrales Element der kritischen Hinterfragungen in Gotovacs Kunst. Die Bosch+Bosch-Gruppe (1969-1976) aus Subotica war ursprünglich als Malerei-Abteilung des lokalen Jugendkulturzentrums Tribina Mladih gegründet worden und die Gruppenmitglieder hatten auch alle eine Ausbil‐ dung in der Klassischen Malerei erhalten. Doch dauerte es nicht lange, bis sie sich den damals aktuellen Trends, ausgehend von der Konkreten und Visuellen Poesie, anschlossen, bis sich das Feld ihrer Aktivitäten, beeinflusst von Arte Povera, Land Art, Conceptual Art, auf den öffentlichen Raum erweiterte. Insgesamt können zehn Künstler und Künstlerinnen genannt werden, die mit Bosch+Bosch mehr oder weniger eng assoziiert werden können: Bálint Szombathy, Slavko Matković, László Szalma, Zoltán Magyar, Edit Basch, István Krekovics und Slobodan Tomanović bilden dabei die Anfangsbesetzung der Gruppe; 1971 trat László Kerekes bei (er verlies die Gruppe 1974 wieder) und ab 1973 nahmen Katalin Ladik und Attila Csernik an den gemeinsamen Aktivitäten teil, während Ante Vukov 1975 zur Gruppe stieß. Ein wichtiges Ereignis im Vorfeld der Gründung von Bosch+Bosch war der Tod des ungarischen Avantgardisten und Aktivisten Lajos Kassák im Jahr 1967, eine der zentralen Identifikationsfiguren der zentraleuropäischen 3. Personen und Werke 65 <?page no="66"?> Avantgardebewegungen, der auch maßgeblichen Einfluss auf die künstler‐ ische Haltung der Exponenten der Neuen Kunstpraxis der 1970er-Jahre hatte (→ Kapitel VIII). Das Interesse an der Figur Kassáks wurde u. a. durch einige im ungarischsprachigen Magazin Ùj Sjmposion veröffentlichte Abhandlungen über ihn geweckt. Insgesamt existierte die Gruppe für sieben Jahre, was sie zu der am längs‐ ten bestehenden Nachkriegs-Avantgarde-Gruppe im ehemaligen Jugosla‐ wien macht. Neben der in Novi Sad aktiven Kôd-Gruppe ist Bosch+Bosch die zweite Künstlergruppe in Serbien, die im Zentrum der Neuen Kunst steht, wobei die „Arbeitssprache“ von Bosch+Bosch zum Großteil das Un‐ garische war und die Mitglieder (bis auf Slavko Matković) der ungarischen Volksgruppe in der Vojvodina angehörten. Die Tatsache, dass es in der provinziell geprägten Kleinstadt Subotica, am buchstäblichen Rand des Landes, aber auch abseits der kulturellen Zentren Belgrad und Novi Sad, bereits sehr früh zu einer vollen Annahme der Ideen der Neuen Kunstpraxis und eben zur Gründung dieser Gruppe gekommen ist, die auf vehemente Weise für einen radikalen Bruch mit der traditionellen Kunst eintritt, ist von besonderer Bedeutung und höchst bemerkenswert. In dem von Slavko Mat‐ ković herausgegebenen Magazin Kontaktor 972, das zwischen 1972 und 1973 insgesamt dreimal erschien und als offene intellektuelle Plattform konzipiert war, wurde unter anderem die Arbeit der ungarischen Neoavantgarde- und Konzept-Künstler dem jugoslawischen Publikum nähergebracht. So war es erstmals möglich, sich mit den Arbeiten von u. a. Gabor Tóth, István Haraszty, Sándor Pinczehelyi und Tamás Szentjóby vertraut zu machen und einen direkten Einblick in das Schaffen der ungarischen Avantgarde jener Zeit zu erhalten (→ Kapitel VIII). Die Zusammenarbeit und der intellektuelle Austausch, die sich zwischen Jugoslawien, Ungarn und der Vojvodina auf zahlreichen Ebenen vollzogen, fanden in einer Phase des sich verschärfenden Klimas während des Kalten Krieges statt - eine Tatsache, die diese transnationalen (und über den Eisernen Vorhang hinweg sich abspielenden Kooperationen) umso wertvoller machte und die Rolle von Bosch+Bosch als Vermittlerin und Verbindung herausstreicht. Als Höhe‐ punkt der Zusammenarbeit können dabei die Bosch+Bosch-Ausstellungen in Balatonboglár von 1972 und 1973 gelten. Marina Abramovićs (geb. 1946) internationale Karriere als Performance- Künstlern nahm ihren Anfang im Umfeld des Studentischen Kulturzentrums Belgrad, wo sie, als Mitglied der informellen Gruppe der „6 Künstler“ (Raša Todosijević, Era Milivojević, Zoran Popović, Neša Paripović und Gergelj 66 II. Jugoslawien und der postjugoslawische Raum <?page no="67"?> Urkom) seit Anfang der 1970er Jahre ihre ersten Versuche im Genre der Body-Art und Performance unternahm, bevor sie Mitte der 1970er Jahre nach Amsterdam und später nach New York ausgewandert ist, wo sie zu einer Ikone der extremen Körperkunst und Performance wurde. In ihren frühen Belgrader Performance-Arbeiten trieb sie die eigenen Grenzen der physischen und psychischen Belastbarkeit an ihr Limit und experimentierte mit Schmerz, pharmakologischen Substanzen, mit extremer Hitze und extremer Kälte. In Rhyhm 5, das Teil der Rhythm-Serie (1973-74) war und während der April Meetings of Expanded Media 1975 im Studentischen Kulturzentrum Belgrad realisiert wurde, setzte sie einen überdimensionalen fünfzackigen Stern aus Holz in Feuer und legt sich in die Mitte desselben, um die Reaktion des Körpers (und des Publikums) zu testen, sobald das Feuer den gesamten Sauerstoff zum Atmen aufgebraucht hat. Die nicht verifizierbare Erzählung besagt, dass es Joseph Beuys, dessen Teilnahme an den April Meetings als großes Ereignis gefeiert wurde, gewesen sei, der die bewusstlose Abramović aus den Flammen gerettet habe. In ihrer radikalsten Performance, Rhythm 0, die 1974 im Studio Morra in Neapel umgesetzt wurde, forderte Abramović das anwesende Publikum dazu auf, eine Auswahl aus 74 am Tisch liegenden Gegenständen vorzuneh‐ men, um diese an ihrem Körper anzuwenden. Unter den Gegenständen befand sich auch eine Pistole, und als einer der Zuschauer sich daran machte, diese auf die Künstlerin zu richten, wurde die Performance abge‐ brochen. Die frühen Performance-Arbeiten von Abramović folgten keinen komplexen theoretischen Prädispositionen, sie waren vielmehr Ausdruck eines direkten und unmittelbaren Existenzialismus, der sich mit Fragen der Körperlichkeit, des Schmerz und der Grenzverschiebung auseinander‐ setzte, in letzter Konsequenz also das nackte Leben selbst zum Thema hatte. In der nachträglichen Bewertung wurden diese Arbeiten oft mit symbolischer Bedeutung aufgeladen, es wurde ihnen ein implizit politischer und aktivistischer Hintergrund zugesprochen, aber auch mythologische und feministische Bedeutungsebenen wurden in diesen Arbeiten erkannt. Die wiederholte Verwendung von kommunistischen Staatssymbolen (wie fünfzackiger Stern, Partisanenkappe, Uniform u. a. m.) sind so auch nicht in erster Linie als kritische Bemerkungen an einer gesellschaftlichen Ordnung zu sehen, sondern als persönliche Erinnerungselemente, deren Spuren in der Biographie der Künstlerin lesbar sind. Goran Trbuljak (1948) und Braco Dimitrijević (1948) formten 1969 in Zagreb gemeinsam die Gruppe Penzioner Tihomir Simčić, indem sie den 3. Personen und Werke 67 <?page no="68"?> 9 In: Camnitzer, Luis (Hrsg.). Global Conceptualism. Points of Origin 1950-1980s. New York: Distributed Art Publishers. 1999, S.-49. 10 Šuvaković, Katalin Ladik, S.-105. Namen einer unbekannten Person annahmen, die sie zufällig getroffen hatten. Das Prinzip des Zufalls und der Kontextualisierung, das Hinterfragen und Bloßlegen von Strukturen der Selektion im Kunstbetrieb bildete das Fundament der weiteren künstlerischen Arbeit der beiden Künstler, die in ihren Arbeiten das modernistische Konzept des Künstler-Ichs und -Genies radikal in Frage stellten und dekonstruierten. Während Dimitrijević vor allem mit seiner Casual passerby-Serie, bekannt wurde, arbeitet Trbuljak mit dem Konzept des „anonymen Künstlers“ und hinterfragte das Verhältnis von Künstler und Kunstsystem auf erhellende Weise. Eine seiner frühen Aktionen in Zagreb 1969 bestand demnach aus der Aussage: „Von Zeit zu Zeit stecke ich den Finger durch ein Loch in der Eingangstür der Galerie der modernen Kunst, ohne dass die Leitung davon weiß.“ 9 Seine Arbeiten sind ironische Reflexionen über die Position des Künstlers in der Gesellschaft, über die Machtstrukturen im Kunstbereich und über die Rolle der Institutionen. Katalin Ladiks (1942) Kunst ist durch und durch von Transgressionen ge‐ kennzeichnet. Ihr Anspruch war es von Anfang an, die vorgegebenen Pfade des Kunst- und Literaturbetriebes zu durchbrechen und zu überschreiten. Ihre mittlerweile mehr als vier Jahrzehnte andauernde Karriere konnte so als kontinuierliches Streben nach Überwindung und Neuinterpretation von Poesie und Kunst-Identität gesehen werden. Es gibt bei Ladik eine stetige innere Notwendigkeit, nach einer Einheit zwischen Kunst und Leben zu stre‐ ben. Ihre polymedialen Stimm-Körper-Poesie-Events sind deshalb als genui‐ ner und einzigartiger Versuch dieses Strebens zu lesen - und dies machte Ladik zu einer prototypischen Vertreterin des neoavantgardistischen Ak‐ tionismus, der keine Trennung zwischen ästhetischer und existenzieller Emanzipation kennt. „Ladiks literary output - comprising written, ‘verbal poems’, graphic music scores, public poetry readings, performances with verbal or phonic scores, and phonic poetry bordering literature, music, and performance art - was governed by the concept of the open work“ 10 , so Šuvaković über Ladiks Poetik, der ihr Werk damit in Zusammenhang mit dem Konzept des offenen Kunstwerkes bringt, wie es Umberto Eco 1962 beschrieben hat. Damit würde ein Kunstwerk - und Eco meinte damit das „neue“ experimentelle und untypische Kunstwerk, das nicht mehr in 68 II. Jugoslawien und der postjugoslawische Raum <?page no="69"?> 11 Vgl.: Eco, Umberto. Opera aperta. Milano: Bompiani. 1962; dt.: Das offene Kunstwerk, übersetzt von Günter Memmert. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 1973. die gängigen ästhetischen und literarischen Kategorisierungen passt - des impliziten Prozesses der Rezeption (also der Komplizenschaft des „Lesers“) bedürfen, um seine Realisierung zu erfahren (durch Lesen, Hören, Schauen), die sich von Rezipient zu Rezipient unterscheidet. 11 Im Umfeld des SKC gab es weitere kollektive und auch individuell agierende Konzeptkünstler, deren Positionen sich von jenen der „Gruppe der 6 Künstler“ abhoben. Eine dieser Gruppen war in jedem Fall der Zusammenschluss von jungen Künstlern und Theoretikern, der 1975 unter dem Namen Grupa 143 (die Bezeichnung bezieht sich auf das Gründungs‐ datum, also den 14. März) auf Initiative von Biljana Tomić ins Leben gerufen wurde. Das Ziel war es, jungen interessierten Kunstschaffenden und Theoretikern eine gemeinsame Plattform zur Vertiefung und Ausarbeitung ihrer künstlerisch-intellektuellen Kompetenzen in Form einer alternativen Ausbildung anzubieten. Die Gruppe 143 (Biljana Tomić, Miško Šuvaković, Jovan Čekić, Maja Savić, Paja Stanković, Neša Paripović u.a). kann nicht im klassischen Sinn als Künstlergruppe bezeichnet werden, die an die Produktion künstlerischer Objekte gebunden ist; die Mitglieder waren vielmehr an analytisch-theoretischen Fragestellungen aus dem Bereich der späteren Konzeptkunst interessiert sowie an einer stetigen Weiterent‐ wicklung der eigenen kritischen Positionen. Zu den Gruppen-Aktivitäten gehörten deshalb neben den gemeinsamen Präsentationen der Arbeiten die regelmäßigen Gruppendiskussionen, die Abhaltung von Seminaren sowie die Lektüre von Texten - Aktivitäten, die oft im Umfeld des Belgrader Studentischen Kulturzentrums (SKC) stattfanden, sehr oft aber auch in privaten Wohnungen sowie auch in freier Natur. Fragestellungen nach den Funktionsweisen des Systems Kunst, nach dem Verhältnis von Kunst und Wissenschaft und nach strukturellen Bedingungen des Kunstschaffens stan‐ den dabei im Zentrum ihres erkenntnistheoretischen Zugangs, der sich vor dem Hintergrund aktueller theoretischer Felder wie Poststrukturalismus, Sprachphilosophie (Wittgenstein) und Mixed-Media vollzog. Das Verdienst der Gruppe 143 besteht darin, eindrucksvoll aufgezeigt zu haben, dass Theorie und Kunst zwei Kategorien sind, die nicht unabhängig voneinander existieren. Mit ihrem streng systematischen und analytischen Credo stellte sie eine Ausnahme im jugoslawischen Kunstbetrieb dar. Die Offenlegung der Komplexität semantischer Zeichensysteme, der Struktur syntaktischer 3. Personen und Werke 69 <?page no="70"?> Abb. 10: Ausstellungseröffnung Grupa 143: Biljana Tomić, Darko Hohnjec, Miško Šuvako‐ vić, Paja Stanković, Vladimir Nikolić, Mirko Dilberović i Maja Savić. SKC Galerie. Belgrad, 4. Mai 1979. 70 II. Jugoslawien und der postjugoslawische Raum <?page no="71"?> Systeme sowie die Bewusstmachung der Konstruiertheit von ästhetischen Bedeutungen stellten den gemeinsamen Ausgangspunkt in den analytischen Modellen der Gruppe dar. Ziel war es, den mythenumrankten Künstler der Moderne von seinem Podest des Welten-Erklärers zu stoßen, seine Konzepte von Intuition, Metaphysik und Genietum zu demaskieren und durch trans‐ parente und strukturierte Verfahren einer theoretischen Praxis abzulösen. Der allgemeinen Theoriefeindlichkeit der spätsozialistischen Moderne wurde dergestalt ein eindrucksvolles epistemologisches Modell gegenüber‐ gestellt, das in seiner Komplexität und Wissenschaftlichkeit aber ein haupt‐ sächlich elitäres Projekt blieb. Chronologie 1918 Ausrufung des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen 1921 Branko Ve Poljanskis Svetokret erscheint in Ljubljana/ Slowenien 1921 Gründung von Zenit in Zagreb/ Kroatien 1922 Dada-Tank und Dada Jazz erscheinen in Zagreb/ Kroatien 1926 Ljubomir Micić geht ins Exil nach Paris 1927 Konstruktivistisches Magazin Tank erscheint in Ljubljana/ Slowenien 1929 Ausrufung der Königsdiktatur durch Aleksandar I. und Umbenennung in „Königreich Jugoslawien“ (bis 1949) 1930 Surrealistischer Almanach Nemoguće - L’Impossible erscheint in Bel‐ grad/ Serbien 1934 Ermordung König Alexanders in Marseille/ Frankreich 1941 Angriff und Besetzung Jugoslawiens durch Hitler-Deutschland 1948 Austritt Jugoslawiens aus dem Kominform 1951 Gründung von Exat 51 in Zagreb/ Kroatien 1959 Gründung von Gorgona in Zagreb/ Kroatien 1963 Ausrufung der Sozialistischen föderativen Republik Jugoslawien (SFJR) (bis 1992) 1961 1. Ausstellung Nove Tendencije in Zagreb/ Kroatien 1966 Gründung der OHO-Gruppe in Kranj/ Slowenien Chronologie 71 <?page no="72"?> 1968 Studentenproteste in mehreren jugoslawischen Städten 1969 Želimir Žilniks Rani Radovi gewinnt den Goldenen Bären in Berlin - Gründung von Bosch+Bosch in Subotica/ Vojvodina, Serbien 1971 Eröffnung des Studentischen Kulturzentrums Belgrad/ Serbien 1974 Neue Verfassung führt zur Stärkung der Rechte der einzelnen Teilrepub‐ liken 1975 Gründung der Grupa 143 in Belgrad/ Serbien 1978 The New Art Practice erscheint in Zagreb/ Kroatien 1980 Tod von Josip Broz Tito in Ljubljana/ Slowenien 1991 Slowenien und Kroatien erklären ihre Unabhängigkeit von Jugoslawien 72 II. Jugoslawien und der postjugoslawische Raum <?page no="73"?> 1 Müller, Martin Anton / Pias, Claus / Schnödl, Gottfried (Hrsg.). Hermann Bahr. Ös‐ terreichischer Kritiker internationaler Avantgarden. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A, Nr. 118, 2014; Zand, Helene. Identität und Gedächtnis. Die III. Österreich Wolfgang Müller-Funk / Alexandra Millner 1. Überblick - 1.1 Modernismus und Avantgarde nach 1918 Will man die Geschichte von Modernismus und Avantgarde in Österreich nach 1918 beschreiben, so wird man unweigerlich auf einige grundsätzli‐ che Schwierigkeiten gestoßen. So gehört die Wiener Moderne vor dem Ersten Weltkrieg ganz zweifelsohne - in Literatur, Bildender Kunst oder Architektur - zum Gesamtbestand der europäischen Moderne, ohne indes, wie etwa der italienische Futurismus, der bereits vor dem Schwellenjahr 1914 das Licht der Welt erblickte, dem Attribut des Avantgardistischen zu entsprechen. Auch wenn man Hermann Bahrs Schriften als program‐ matisch bezeichnen kann, fehlen im Fall der Wiener Moderne die für Avantgarden so wichtigen Merkmale wie Gruppenbildung, Manifeste, das Pathos von Revolution und Lebensreform oder die Idee der Auflösung der Grenzen innerhalb der verschiedenen Künste, aber auch jener zwischen Kunst, Politik und Lebenswelt. In den 1980er Jahren wurde die Wiener Moderne nicht selten als eine Antizipation der Postmoderne begriffen. Kurzum die Geschichte der Moderne in Österreich ist durch Brüche und Diskontinuitäten gezeichnet. Hermann Bahr, Propagandist, umtriebiger Netzwerker, Projektemacher und Analytiker in einer Person, ist mit seinen programmatischen Texten zur Überwindung des Naturalismus und seiner zeitweiligen Stellungnahme für den (französischen) Symbolismus unstrittig eine Vorläufer- und Gegen‐ figur der europäischen Avantgarden und der durch sie in Gang gesetzten kulturellen Energie. 1 Summarisch gesprochen lassen sich die Kunst- und <?page no="74"?> Ausdifferenzierung von repräsentativen Diskursen in den Tagebüchern Hermann Bahrs. Kultur, Herrschaft, Differenz. 3, Tübingen / Basel: Francke. 2003. 2 Jutz, Gabriele. Expanded Cinema. In: Badura-Triska, Eva / Klocker, Hubert (Hrsg.). Wiener Aktionismus. Kunst und Aufbruch im Wien der 1960er Jahre. Köln: König. 2000, S.-158-161. 3 Müller-Funk, Wolfgang / Seidler, Andrea (Hrsg.). Wien 1918 - ein kulturelles Labora‐ torium der Moderne. Verflechtungen und Interferenzen im zentraleuropäischen Raum. Bd.-9. Wien: Praesens. 2022. 4 Vgl. hierzu den Beitrag von Karoly Kokái in diesem Band. Literaturbestrebungen als voravantgardistisch verstehen. In Österreich ha‐ ben die Literaten von Jung-Wien, die die Zwölftonmusik der sog. zweiten Wiener Schule, Adolf Loos programmatisch anti-ornamentale Architektur oder die Malerei von Kokoschka, Klimt und Schiele oder die Sprachskepsis eines Mauthner und eines Hofmannsthals den Boden für spätere explizit (neo-)avantgardistische Strömungen wie den Wiener Gruppe, den Wiener Aktionismus und das Expanded Cinema bereitet. 2 Die avantgardistischen und modernistischen Strömungen nach 1918 sind durch die Erfahrung des Bruchs gekennzeichnet, durch die Reduzierung österreichischer Staatlichkeit auf eine kleine Republik, durch den neuen politischen Einfluss der Sozialdemokratie im Roten Wien, durch die fragile politische und ökonomische Situation. Unter diesen Bedingungen sind, wie neuere Untersuchungen zeigen, die nach 1918 einsetzenden Strömungen in vielen Bereichen fragmentarisch geblieben. Das Rote Wien war ein vor‐ nehmlich sozialreformerisches Projekt, in dem wenig Platz für radikale und elitäre Avantgardismen blieb. Nichtsdestotrotz bot der Austromarxismus mit seinem pointierten Bekenntnis zur Moderne über sozialen Wohnungs‐ bau, Erwachsenenbildung und politisches Theater genügend Freiraum für einen kulturellen Neubeginn, der spätestens 1934 sein Ende erfuhr. 3 Insgesamt ist davon auszugehen, dass im Österreich der ersten Nach‐ kriegszeit eher traditionelle Formen der Kunstausübungen dominierten, wenn sich auch eine kritische Masse des Modernen, Innovativen und Avantgardistischen nachweisen lässt, wie der Kunsthistoriker Dieter Bogner am Beispiel der Zwölftonmusik, der Gestalttheorie, der strukturorientierten Kunstgeschichte, der analytischen Philosophie, der Psychoanalyse, des Konstruktivismus und des Kinetismus (einer Spielart des Futurismus) her‐ vorhebt und dabei Namen wie Arnold Schönberg und Josef Matthias Hauer, Lajos Kassák und die Avantgardegruppe Ma (→ Kapitel VIII) 4 , Adolf Loos 74 III. Österreich <?page no="75"?> 5 Primus Heinz Kucher, Verdrängte Moderne, vergessene Avantgarde, S.-14. 6 Arturo Larcati, Zur Rezeption des italienischen Futurismus in während der 1920er und 1930er Jahre, Zur Rezeption des italienischen Futurismus in Wien. In: Primus Heinz Kucher, Verdrängte Moderne, vergessene Avantgarde, S.-99. 7 Zum Modell der vier ‚klassischen‘ Avantgarden vgl. die Einleitung zu diesem Band. und Friedrich Kiesler, Otto Neurath und Rudolf Carnap oder Sigmund Freud und Christian von Ehrenfels ins Spiel bringt. 5 In dieser modernistischen und modernen Gegenwelt zum traditionellen Österreich gibt es einzelne avantgardistische Konfigurationen wie etwa die vor der Gegenrevolution in Ungarn nach Wien geflüchtete Avantgar‐ degruppe Ma mit ihren wechselnden Positionen und Perspektiven oder Einzelkämpfer wie Friedrich Kiesler, Levy Moreno, Franz Cizek und Erika Giovanna Klien oder literarische Außenseiter wie Emil Szittya, Hugo Son‐ nenschein oder Robert Müller, der mit seinem Aufsatz Der Futurist (1914) das einschlägige Wiener Publikum mit der italienischen Avantgarde vertraut machte. 6 Wie das Beispiel des Konstruktivisten Kiesler, der für Karel Čapeks Roboterstück R.U.R. (1923) das Bühnenbild entwarf, zeigt, manifestieren sich diese avantgardistischen Bestrebungen nicht selten im angewandten Bereich von Theater und Bühnengestaltung. Darüber hinaus war Kiesler, der mit Ferdinand Leger und der Stijl-Gruppe (Theo van Doesburg, Piet Mondrian u. a.) in regem Austausch stand, ein kongenialer Kommunikator und Projektant, der indes schon bald Wien in Richtung USA verlassen sollte. Einen Höhepunkt avantgardistischer Präsenz in Wien stellt zweifelsohne die Theaterausstellung von 1924 dar, an der namhafte italienische Futuristen (F.T. Marinetti, Ruggero Vasari, Enrico Prampolini, Fortunato Depero) teil‐ nahmen und bei der wiederum Kiesler, der 1925 und 1926 weitere derartige Ausstellungen in Wien und in New York organisierte, eine maßgebliche Rolle spielte. Möchte man ein Resümee des Avantgardismus in Wien zwischen 1918 und 1930 ziehen, so ließe sich sagen, dass dieser im Kontext der neben- und gegenläufigen ‚klassischen Avantgarden (Futurismus, Dadaismus, Konstruktivismus, Surrealismus) 7 ein Nebenschauplatz, eine Relaisstation insbesondere konstruktivistischer und futuristischer Bestrebungen gewe‐ sen ist. Der phantastische Realismus der unmittelbaren Nachkriegszeit lässt sich demgegenüber als eine zeitlich versetzte Reaktion auf den Surrealismus begreifen, während etwa im Wiener Aktionismus, aber auch schon in der Wiener Gruppe, ähnlich und anders wie in der westdeutschen Fluxus-Bewegung und in der Happening-Kunst, Anleihen des performa‐ 1. Überblick 75 <?page no="76"?> 8 Badura-Triska, Eva / Klöcker, Hubert, Der Wiener Aktionismus und sein Kontext, in Badura-Triska / Klöcker, S.-9-11. 9 Ebd. tiven und theatralischen Erbes von Dada zu verzeichnen sind. Mit dem Expanded Cinema (Peter Kubelka, Marc Adrian, Kurt Kren), der dritten neoavantgardistischen Strömung in Österreich nach 1945 kommt ein Medium ins Spiel, das schon in der Zwischenkriegsavantgarde - etwa bei Kiesler, den Kinetisten aber auch bei Bela Balázs eine nicht unwesentliche Rolle gespielt hat. - 1.2 Avantgarden in Österreich nach 1945 Die Nachkriegsjahre von 1945 bis in die 1960er Jahre hinein sind nicht selten unter den Generalverdacht einer so konservativen wie provinziellen Engstirnigkeit gestellt geworden. 8 Ein solches Narrativ, das nebenbei be‐ merkt Erklärung und Legitimation der beiden wichtigsten österreichischen Neoavantgarden liefert, hat ganz zweifelsohne seine Berechtigung. Der erfolgreiche Wiederaufbau und der damit verbundene Wohlstand gingen Hand in Hand mit dem Kalten Krieg, der Renaissance eines europäischen Wertekonservatismus, die neutrale Sonderstellung und damit verbunden die Hintanstellung der Erinnerung an die Jahre zwischen 1938 und 1945. 9 Aber dabei darf nicht übersehen werden, dass es von Anfang an intellektuelle und ästhetische Bestrebungen und damit eine kritische Gegenöffentlichkeit gab, gegen den 1945 geschaffenen Status quo eines stillschweigenden Neu‐ anfangs im Namen eines entlastenden Opfer-Narrativs Protest einzulegen. Zu erwähnen sind hier auch die ‚Archive‘ der Psychoanalyse, kritische Traditionen der Sprachphilosophie und der Architektur. In diesem, wenn auch nicht eigentlich politischen Sinn, sind die Wiener Gruppe, der Wiener Aktionismus und das Expanded Cinema (Peter Weibel, Valie Export, Ernst Schmidt jr.) zu verstehen, die ihren jeweils unterschiedlichen Ausgangs‐ punkt von Literatur, Bildender Kunst bzw. vom Film nehmen. Zwischen diesen drei avantgardistischen Gruppen bestanden zuweilen sehr enge Beziehungen, und sie haben sich auch wechselseitig beeinflusst. Im Falle des experimentellen Films sind hier Valie Exports frühe Installationen und Aktionen wie das Tapp und Tastkino (München 1968) zu erwähnen. Ob das 76 III. Österreich <?page no="77"?> 10 Oliver Jahraus, Die Aktion des Wiener Aktionismus. Subversion der Kultur und Dispositionierung des Bewußtseins. München: Wilhelm Fink. 2000. freilich die These eines gemeinsamen semiotischen Programms rechtfertigt (Oliver Jahraus), steht auf einem anderen Blatt. 10 Abb. 1: VALIE EXPORT: Genitalpanik / Hose, 2011 © VALIE EXPORT, Bildrecht Wien, 2022. Courtesy VALIE EXPORT. Foto © Markus Retter All diese avantgardistischen Gruppen sind vor dem magischen Jahr 1968 und den damit verbundenen politischen Protestbewegungen entstanden. Anders als im Falle der klassischen Avantgarden der 1910er, 1920er und 1930er Jahre fehlt zumeist eine manifeste gesellschaftspolitische und kulturelle Utopie. An deren Stelle treten die radikale Bloßstellung der Verhältnisse und das Experimentieren mit dem menschlichen Körper, mit verschiedenem Material (von der Schrift bis zum Müll) und Apparaturen. 1. Überblick 77 <?page no="78"?> 1.3 Die Wiener Gruppe Als literarische Avantgarde in Österreich nach 1945 schlechthin gilt bis heute die sogenannte Wiener Gruppe, die mit den Namen H. C. Artmann, Gerhard Rühm, Konrad Bayer, Oswald Wiener und Friedrich Achleitner verknüpft ist. Doch handelt es sich dabei weder um eine Formation, deren Wirkungsdauer durch ein Gründungsmanifest und einen Auflösungsakt zeitlich definiert ist, noch um einen klar umrissenen Personenkreis. Viel‐ mehr kann von einer informellen Gruppierung überhaupt nur in Bezug auf den Zeitraum von 1952 bis 1959 bzw. 1964 gesprochen werden. Abb. 2: Wiener Gruppe: zweites literarisches cabaret 1959 Die oben erwähnten Autoren können dabei allerdings nicht ohne ihr literarisches Umfeld - u. a. René Altmann, Andreas Okopenko, Friederike Mayröcker, Ernst Jandl, Gerald Bisinger oder Elfriede Gerstl - gedacht werden. Diese fanden von 1968 bis 1991 in Heimrad Bäckers Zeitschrift neue texte, einem Forum für experimentelle Dichtung und konkrete Poesie, und der gleichnamigen „edition“ wichtige Publikationsmöglichkeiten, mit deren Hilfe es gelang, die Brücke zur jüngeren Generation zu schlagen. 78 III. Österreich <?page no="79"?> 11 Zur Entstehungsgeschichte und den Zusammenhang von Forum Stadtpark, manu‐ skripte und der „Grazer Gruppe“ vgl. Miesbacher, Harald. Die manuskripte zwischen 1995 und 2020. Ein Rückblick auf die Entwicklung der Grazer Literaturzeitschrift in den vergangenen 25 Jahren. In: manuskripte 230. Wie es mit der Literatur weitergeht. 60 Jahre Literaturzeitschrift-manuskripte. 2020, S.-14-30. 12 Pechmann, Paul. H. C. Artmann und die „Grazer Gruppe“. In: Millner, Ale‐ xandra / Schuster, Marc-Oliver (Hrsg.). Acht-Punkte-Proklamation des poetischen Actes. Weiteres zu H.C. Artmann. Würzburg: Königshausen & Neumann. 2018, S.-95-115, hier S.-96. 13 Vgl. Rühm, Gerhard. Vorwort. In: Die Wiener Gruppe. Achleitner - Artmann - Bayer - Rühm-- Wiener. Texte - Gemeinschaftsarbeiten - Aktionen. Hrsg. v. Gerhard Rühm. Erweiterte Neuausgabe. Reinbek: Rowohlt. 1985, S.-5-36, hier S.-8. Dazu zählten etwa Franz-Josef Czernin, Reinhard Priessnitz, Ferdinand Schmatz oder Liesl Ujvary; ab den späten 1980er-Jahren machten mit Peter Waterhouse, Oswald Egger oder Brigitta Falkner wiederum jüngere experimentelle AutorInnen auf sich aufmerksam. 1959 hatte sich rund um den Künstlerverein Forum Stadtpark auch in Graz eine experimentelle Literaturszene herausgebildet, deren Publi‐ kationsorgan die von Alfred Kolleritsch von 1960 bis 2020 herausgege‐ bene Literaturzeitschrift manuskripte war. 11 Neben Beiträgen der Wiener Gruppe fanden sich darin vor allem Texte von Wolfgang Bauer, Helmut Eisendle, Gunter Falk, Barbara Frischmuth, Reinhard P. Gruber, Peter Handke und Klaus Hoffer, die in einer losen Verbindung zu einander standen. Diese heterogenen jungen AutorInnen wurden von Kolleritsch als „Grazer Gruppe“ bezeichnet. Den ,Grazern‘, so Pechmann, „diente die Wiener Gruppe zwar als wichtiger Bezugspunkt, ihre Texte seien jedoch ,postexperimentell‘ ausgerichtet“ 12 . In weiterer Folge wären hier u. a. auch Wilhelm Hengstler, Elfriede Jelinek, Gert Jonke, Peter Rosei, Gerhard Roth, später auch Lucas Cejpek oder Günter Eichberger zu nennen. Allen gemeinsam ist der experimentelle und sprachkritische Zugang zur literarischen Produktion, wobei die konkreten ästhetischen Ausformungen der Texte ein sehr breites Spektrum umfassen. Einen ersten Überblick über die Entstehung und Entwicklung der Wiener Gruppe, über ihre „Texte, Gemeinschaftsarbeiten und Aktionen“ lieferte die Anthologie Die Wiener Gruppe. Achleitner - Artmann - Bayer - Rühm - Wiener, die von Gerhard Rühm 1967 herausgegeben wurde. Im Vorwort führt Rühm den Ursprung der Gruppe auf den Art Club zurück, wo einander im Jahr 1952 vier der fünf Mitglieder der Gruppe begegneten. 13 Dabei darf nicht außer Acht gelassen werden, dass sich in der brüchigen Land‐ 1. Überblick 79 <?page no="80"?> schaft der kurzlebigen Literaturzeitschriften der Nachkriegszeit bereits ein loser Kreis junger AutorInnen herauskristallisiert hatte, der aufgrund avancierter Schreibästhetik immer wieder Aufmerksamkeit erregt hatte. H. C. Artmann, der mehr als zehn Jahre älter war als die anderen vier Mitglieder, war Teil dieses größeren Kreises. Er hatte Kontakt zu René Altmann, der ihn 1949 zur Zeitschrift Neue Wege (Kulturzeitschrift für junge Menschen / junger Menschen) brachte. Diese war 1948 aus dem 1945 gegründeten Mitteilungsblatt des Theaters der Jugend hervorgegangen und bot jungen AutorInnen die Möglichkeit der Erstveröffentlichung - so auch Artmann, der mit seinen Texten erstmals 1947 über das Radio an die Öffentlichkeit getreten war. In dem relativ offiziösen Rahmen der Neuen Wege traf ein Teil der dort publizierenden jungen LiteratInnen regelmä‐ ßig zu einem Arbeitskreis, einer Art Subredaktion, zusammen. Zu dem Kreis zählten neben René Altmann ab 1949 Gerhard Fritsch und Andreas Okopenko, ab 1951 Kurt Klinger, Wieland Schmied, Friederike Mayröcker und ab 1952 Ernst Jandl. Sehr bald wurden von den Jungen neue Zeichen gesetzt, die zu Spannungen mit den konservativen AbonnentInnen, den Schülereltern, führten: Im Jänner 1950 fand unter der Leitung von Friedrich Polakovics, dem neu bestellten Leiter des Jugendteils, eine Autorentagung zum Thema Surrealismus statt. Damit reihte sich die Zeitschrift Neue Wege in die Foren der Avantgarde ein, zu denen die 1945 bis 1948 von Otto Basil herausgegebene Zeitschrift Plan und die Surrealistischen Publikationen (1950-1954) von Max Hölzer und Edgar Jené zählten. Auch Artmann hatte sich nach Kriegsende in einer Privatbibliothek mit surrealistischer Literatur vertraut gemacht. Die darauffolgende Publikation von André Bretons Mani‐ fest des Surrealismus (1924) und Artmanns Gedicht Vorsommerliches Rondo in Neue Wege löste den ersten starken Publikumsprotest aus, der sogar eine parlamentarische Anfrage nach sich zog. Aus dieser Krise resultierte 1950 Artmanns Projekt, Texte der AutorInnen aus dem Arbeitskreis (H. C. Artmann, Renè Altmann, Gerhard Fritsch, Ernst Kein, Helene Diem, Elfriede M. Hauer, Hanns Weißenborn, Andreas Okopenko) unter dem Titel Der Wiener Keller in einer Anthologie herauszugeben, was jedoch erst 1994 durch Max Blauelich geschah. Schließlich kam es 1951 zum endgültigen Bruch des Kreises mit der Zeitschrift, was die Gründung der Zeitschrift publikationen einer wiener gruppe junger autoren (1951-1953), herausgegeben von Andreas Okopenko, als neues, wenn auch kurzlebiges Forum für die Jungen zur Folge hatte. 80 III. Österreich <?page no="81"?> Das kulturelle Klima der Zeit war konservativ bis reaktionär, zudem war durch Austrofaschismus und Nationalsozialismus der Zugang zu internati‐ onalen kulturellen Entwicklungen verhindert gewesen und als ,entartet‘ geltende Kunstwerke und Bücher vernichtet worden. Die Jungen holten nach dem Krieg die versäumte Rezeption nach, integrierten diese in ihr künstlerisches Schaffen und entwickelten neue ästhetische Formen und künstlerische Haltungen, mit denen sie häufig auf Unverständnis und Ablehnung stießen. Umso größere Bedeutung kam allen Möglichkeiten zu, Gleichgesinnte zu treffen. Eine für die Entwicklung der Nachkriegsavantgarde bedeutende Vereinigung stellte eben der Art Club dar, der 1947 von Gustav Kurt Beck als österreichische Sektion des 1945 in Rom gegründeten Internationalen Art Club ins Leben gerufen wurde. Der Beiname der Sektion lautete Avantgarde der neuen Freiheit, Präsident war der Maler und Schriftsteller Albert Paris Gütersloh. Vorerst weitgehend den bildenden KünstlerInnen vorbehalten, wurden schon bald andere Kunstsparten integriert, insbesondere ab dem Zeitpunkt, als dem Art Club 1951 ein eigenes Clublokal im Keller der Loos-Bar in der Wiener Innenstadt zur Verfügung stand. Der aufgrund seiner Wandverkleidung aus Schilf „Strohkoffer“ genannte Ort fungierte als allabendlicher Treffpunkt, in dem eine rasche Vernetzung möglich war. Unter den jungen Musikern befand sich bereits 1951 Gerhard Rühm, der gemeinsam mit dem Pianisten Hans Kann mit der Geräuschmontage Geräuschsymphonie und 1952 mit der ein-ton-musik für Klavier Aufsehen erregte. Artmann, wurde nach einem längeren Aufenthalt in Bern 1952 von René Altmann, Wieland Schmied, Andreas Okopenko und Hanns Weissenborn in ihren literarischen Kreis im Art Club aufgenommen und beeindruckte den ebenfalls dort verkehrenden Konrad Bayer mit einer Lesung, die vom Komponisten Gerhard Lampersberg am Klavier begleitet wurde. Über Artmann lernte Bayer Rühm kennen, Bayer wiederum brachte den erst 17-jährigen Oswald Wiener mit, der damals eine Karriere als Jazztrompeter anstrebte. Somit gab es drei Faktoren, die zur Herausbildung der Gruppierung führten: Zum einen wirkten die allgemeine Ablehnung und Skandalisierung sowie die Ausgrenzung aus dem offiziösen Literaturbetrieb gruppenbildend und führten zur Notwendigkeit der Eigeninitiative, wenn man weiterhin publizieren wollte. Zum anderen entstanden nach 1945 über Zeitschriften‐ redaktionen und Kaffeehausrunden häufig zweckorientierte Netzwerke, deren gemeinsames Ziel in Publikationsmöglichkeiten und Zugängen zu 1. Überblick 81 <?page no="82"?> 14 Vgl. Millner, Alexandra. Kontextualisierende Präambel zur Acht-Punkte-Proklamation des poetischen Actes von H.C. Artmann. In: Millner, Alexandra / Schuster, Marc-Oliver (Hrsg.). Acht-Punkte-Proklamation des poetischen Actes. Weiteres zu H.C. Artmann. Würzburg: Königshausen & Neumann. 2018, S. 15-25; dies.: Der „poetische Act“. Symptom der Avantgarde(n). In: Millner, Alexandra (Hrsg.). Lovecraft, save the world! 100 Jahre H. C. Artmann. Literarisches und Wissenschaftliches, die gleichnamige Ausstellung begleitend. Klagenfurt / Graz / Wien: Ritter. 2021, S.-15-31. literarischen Kreisen bestand. Schließlich darf die Rolle einzelner Mentoren im informellen Literaturbetrieb der Nachkriegsjahre nicht unterschätzt wer‐ den. Neben den ästhetisch weitaus konventioneller orientierten Hermann Hakel, Hans Weigel und Friedrich Torberg trat im Umfeld der Avantgarde vor allem Artmann als Mentor und Initiator hervor. Die Wiener Gruppe hatte in dem von Haltung und Ästhetik eher konser‐ vativen Heimito von Doderer einen Förderer, der in ihrer Entstehungsge‐ schichte eine nicht unwesentliche Rolle spielte: Vergeblich versuchte er, ihre Texte in der Tageszeitung Kurier zu veröffentlichen. Schließlich machte die Schriftstellerin Dorothea Zeemann in einem Zeitungsartikel im Neuen Kurier vom 23. Juni 1958 die Bezeichnung „Wiener Dichtergruppe“ für die fünf Literaten bekannt, was Rühm als Geburtsstunde des Gruppennamens darstellt, während Achleitner dies auf eine spätere Veranstaltung, ein für Basel geplantes weiteres ,literarisches cabaret‘ mit Bayer, Rühm und Wiener bezog, für deren Ankündigung man sich aus Platzmangel auf den Namen „Wiener Gruppe“ einigte. Die Übersiedlung des Art Club in den oberen Stock des Domcafés 1952/ 53 ließ einen nunmehr engeren Kreis von Literaten ins Café Glory ausweichen, wo die Literatur des Expressionismus, Dada, Surrealismus und Konstruktivismus in gemeinsamer Lektüre und Diskussion erkundet wurde. Von Letzterem, nach Eugen Gomringer als „Konkrete Poesie“ bezeichnet, zeigte sich speziell Rühm fasziniert. Im April 1953 verkündete Artmann die für die Gruppe programmatische Acht-Punkte-Proklamation des Poetischen Actes  14 , in der dem poetischen Einfall mehr Bedeutung beigemessen wird als seiner Umsetzung - ein Kerngedanke, der vor allem in Bezug auf die Gemeinschaftsarbeiten der Gruppe eine zentrale Rolle spielte. In diesem Sinne folgte am 22. August desselben Jahres der erste poetische act in Form einer „soirée aus amants funèbres“, einer schwarzromantischen Prozession durch die Wiener Innenstadt, die von Makabrem, von Morbidem und von Melancholie geprägt war. Es wurde aus Werken von Charles Baudelaire, Edgar Allan Poe, Gérard de Nerval, Georg Trakl und Ramón Gómez de la 82 III. Österreich <?page no="83"?> 15 Vgl. Bayer, Konrad. hans carl artmann und die wiener dichtergruppe. In: ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. von Gerhard Rühm. Überarbeitete Neuausgabe. Stuttgart: Klett-Cotta. 1996, S.-714-723, hier S.-717. Serna vorgetragen. Konrad Bayer schreibt von 150 bis 200 Personen, die dem Zug folgten. 15 In einem labyrinthischen Keller in der Innenstadt, dessen weitverzweigte Gänge in die Katakomben Wiens führten, gründete Artmann das literarische Theater „die kleine schaubühne“ und den „franciscan catacombes club“. Dort fanden makabre Feste - wie etwa jenes zu Ehren der französischen Revolution mit Guillotine, jakobinischer Kleidung und Jazz - und weitere poetische acte statt: „in memoriam to a crucified glove“ (9. Jänner 1954), in der die „new orleans band“ zum ersten Mal auftrat, bei der Oswald Wiener mitwirkte; die schwarze Messe „das fest des hl. simeon, quasie una fantasmagoria“ (5. Februar 1954) und eine „soirée mit illuminierten vogelkäfigen“ (20. Februar 1954). Auf Drängen der Polizei musste der Club allerdings aufgelöst und der Keller geschlossen werden. Nun begann eine literarisch äußerst produktive Phase. Im Atelier des Bildhauers und späteren Avantgardefilmers Marc Adrian wurde der Goldene Schnitt auf die Dichtung übertragen, was zur Erfindung des „Methodischen Interventionismus“ führte, demzufolge Verbarien nach mathematischen Reihen angeordnet werden. In der zweiten Nummer der von Kurt Klinger und Hanns Weissenborn herausgegebenen Zeitschrift alpha. neue dichtung (1954-1956, 1959-1960), bei der Artmann von Anfang an dabei war, wurden ,Konstellationen‘ von Eugen Gomringer veröffent‐ licht - Gedichte, in denen wenige Worte so gesetzt werden, dass sich eine gedanklich-stoffliche Beziehung ergibt. Auch Rühm produzierte zu jener Zeit Konstellationen. Wiener verfasste das bald darauf wieder vernichtete „Coole Manifest“ (1954). Am 13. Dezember 1954 gründeten Artmann, Bayer, Rühm und Wiener in Anspielung auf ihre Außenseitersituation im österreichischen Kulturleben den Club „exil“, der in der „Adebar“ im Zentrum Wiens einen Veranstal‐ tungsraum fand. Wie bereits im „Strohkoffer“ versammelten sich dort binnen kürzester Zeit KünstlerInnen aller Sparten. Die Veranstaltungen umfassten u. a. Vorträge über Musik (Wiener über afrikanische Musik, Ernst Kölz über Barockmusik) und Ausstellungen (u. a. von Adrian, Freiberger, Hundertwasser, Lassnig, Lehmden, Rainer). Rühm stellte zum ersten Mal seine „Wort- und Lautgestaltung“ aus. Doch bereits Ende des Jahres musste 1. Überblick 83 <?page no="84"?> das Lokal wieder geräumt werden, was in Form einer Demonstration erfolgte. Zwei Tage nach Unterzeichnung des österreichischen Staatsvertrags, durch den die Republik Österreich nach siebenjähriger nationalsozialisti‐ scher Herrschaft und zehnjähriger Besatzung durch die Alliierten als souve‐ räner und demokratischer Staat wiederhergestellt wurde, verfasste Artmann am 17. Mai 1955 das „Manifest gegen die Wiederbewaffnung Österreichs“, das von 25 Personen unterzeichnet wurde; an der Demonstration nahmen allerdings nur sieben Personen teil, sie endete auf einem Polizeikommissa‐ riat. Im selben Jahr stieß der junge Architekt Friedrich Achleitner über Gerhard Rühm zur Gruppe. Dieser zeigte sich von den ,Konstellationen‘ begeistert und besuchte mit Rühm 1956 Eugen Gomringer in Ulm; auch war er an Dialektgedichten interessiert, für die Artmann und Rühm eine eigene phonetische Schreibung entwickelt und in der Jännernummer der Zeitschrift Alpha in Form eines Schwerpunkt-Heftes zum Thema Wiener Lieder 1956 veröffentlicht hatten. Achleitner begann die Dialektgedichte bald mit seinem eigenen oberösterreichischen „odaennsa“ („ob der Ennser“) Dialekt zu ergänzen. So entstand später die Gemeinschaftsarbeit hosn rosn baa (1959). Am Dialekt interessierte sie im Sinne der Konkreten Poesie vor allem das Lautmaterial, das viel mehr Nuancen als die Standardspra‐ che zuließ, und die Verfremdung des Schriftbilds durch die phonetische Schreibung. Mit Volksdichtung hatten diese Gedichte nichts gemein. Die inhaltlichen Tabubrüche sollten 1959 bei der Lesung aus dem Band im Wiener Konzerthaus zu einem Riesenskandal führen. Im neuen Stammlokal, dem Café Hawelka, wurde nicht nur über Literatur diskutiert, sondern es entstanden auch erste gemeinsame (methodisch-)in‐ terventionistische Montagen - vorerst aus dem Fundus von Artmann, der ein Faible für fremdsprachige Wörterbücher, Grammatiken und Lehrbücher hatte. Rühm und Artmann schrieben zu jener Zeit auch kurze Stücke. Als Reaktion auf einen Protest der AbonnentInnen gegen den Abdruck experimenteller Lyrik von Jandl, Kein und Rühm in der Zeitschrift Neue Wege gab Artmann im März und Juni 1957 noch einmal zwei Nummern von Okopenkos Zeitschrift unter dem nunmehr verkürzten Titel publikationen heraus, in denen neben Artmann und Bayer u. a. Jandl, Kein, Mayröcker, Okopenko und Schmied mit Texten vertreten waren. Im Editorial grenzte Artmann sich von anderen Projekten ab, welche die Dichtung „unkonventioneller Prägung“ nicht berücksichtigten. Er wollte die Mannigfaltigkeit „unseres wiener kreises“ aufzeigen, die er 84 III. Österreich <?page no="85"?> 16 Vgl. Wiener, Oswald. das ,literarische cabaret‘ der wiener gruppe. In: Die Wiener Gruppe, S.-401-418. im Editorial mit den Begriffen „neo-surrealismus, magischer realismus und folklore-primitivistische dichtungen“ sowie „laut- & wortgestaltung, die mechanische und die intuitive Montagerie, sowie graphisch gestaltete miniaturlyrik“ umriss. Wiener, Rühm und Achleitner distanzierten sich al‐ lerdings von dieser Publikation. Am 20. Juni 1957 fand im „intimen theater“ der beiden Komponisten und Kabarettisten Gerhard Bronner und Georg Kreisler die erste gemeinsame Lesung der Wiener Gruppe in Form einer mehrstündigen Veranstaltung (,Monsterlesung‘) statt, in der sie in Einzel- und Simultanlesungen literarische wie theoretische Texten multimedial - mit Tonbändern und Projektionen - präsentierten. Allerdings zeichneten sich wenig später bereits erste gruppeninterne Entfremdungsprozesse ab: Artmann landete mit seinem Gedichtband med ana schwoazzn dintn 1958 einen großen Erfolg und war ab diesem Zeitpunkt nur mehr am Rande der Gruppe dabei. Als Rühm, Achleitner, Bayer und Wiener in einer von der Sozialdemo‐ kratischen Partei Österreichs (SPÖ) finanzierten Diskussionsrunde von KünstlerInnen angesichts ihrer steten hämischen Kritik dazu aufgefordert wurden, selbst eine Veranstaltung zu machen, wurde ein Konzept erstellt, das einerseits nach dem Ursprungsort des DADA im Zürcher Cabaret Voltaire „cabaret“ genannt wurde, andererseits durch die Bezeichnung „li‐ terarisch“ eine Gegenposition zu Helmut Qualtingers äußert beliebtem Ka‐ barettprogramm „Brett’l vorm Kopf “ markieren sollte. Das „erste literarische cabaret“ fand am 6. Dezember 1958 im Vereinslokal der Künstlervereinigung „Alte Welt“ unter Mitwirkung von Freundinnen und Freunden der Literaten statt. Das Programm basierte u. a. auf den Grundgedanken, das Publikum als Gegenstand zu betrachten, sich selbst etwas Sehenswertes zu bieten und durch die Darstellung von Realitäten Kritik zu üben, und bestand aus Chansons, Dichtung, Witzen, Polemiken und Happenings. Allerdings wurde die mehrstündige Veranstaltung trotz guter Aufnahme bei einem großen Publikum durch die Veranstalter vorzeitig beendet. 16 Das „zweite literarische cabaret“ fand am 15. April 1959 in dem von der Gewerkschaft betriebenen Porr-Haus statt und sollte das Programm des ersten Abends noch weiter ausbauen. Es wurden noch mehr Mitwirkende organisiert, und man wollte so lange spielen, bis alle ZuschauerInnen 1. Überblick 85 <?page no="86"?> 17 Vgl. ebd., S.-413. 18 Vgl. Millner: Der „poetische Act“: Symptom der Avantgarde(n), S.-29. 19 Vgl. Bayer: hans carl artmann und die wiener dichtergruppe, S.-722. 20 Rühm nennt als wichtige Informationsquellen Albert Soergels Anthologie Dichtung und Dichter der Zeit. eine Schilderung der deutschen Literatrur der letzten Jahrzehnte. Neue Folge: Im Banne des Expressionismus (1925) und Carola Gideon-Welckers Anthologie der Absteitigen (1946). Vgl. Rühm: vorwort, S.-9. 21 Ebd. vertrieben waren - Wiener gab deren Zahl mit ca. 700 an. 17 Wieder wurde die Rolle des Publikums und der Darsteller vertauscht, wieder gab es Chansons und Polemik, zudem kurze Auftritte mit langen Pausen („phasen“), eine Meinungsumfrage, das Spiel auf offener Bühne, artistische Einlagen, theore‐ tische Beiträge etc. Als Achleitner mit Rühm auf seinem Motorroller auf die Bühne fuhr und die beiden dort einen Klavierflügel zertrümmerten, war der Fluxus vorweggenommen. 18 Die anwesenden Polizeibeamten verhinderten einige Nummern, andere Vorhaben waren wegen mangelnder Organisation nicht umsetzbar, manche Dinge gingen einfach schief. Das alles wurde jedoch in das „cabaret“ integriert, was sowohl den offenen Werkcharakter als auch den poetischen act als zentrale Idee der Gemeinschaftsarbeiten zeigt, denn es war vor allem der Einfall, der zählte. Andere unrealisiert ge‐ bliebene Gemeinschaftsideen umfassten die Erfindung einer neuen Schrift, die Entwicklung des totalen Theaters, eine Lesung im Riesenrad oder das „flagellomechanische Manifest“, bei dem die Tastatur einer fahrenden Schreibmaschine mit einer neunschwänzigen Katze gepeitscht werden sollte. 19 Trotz der Fülle an Ideen war mit dem „zweiten literarischen cabaret“ ein Wendpunkt erreicht. Das Studium des Expressionismus und Dadaismus 20 sowie des Surrealismus - Rühm nennt: „holz, scheerbart, carl einstin, stramm, schwitters, nebel, behrens, r[a]oul hausmann serner, arp, gertrude stein“ 21 - hatte sich als Quelle erschöpft, mit den Reduktionsversuchen war man an die Grenze des Möglichen gelangt. Wiener, der Theoretiker der Gruppe, wandte sich in seiner Auseinandersetzung mit Sprachphilosophie vom Frühwerk Wittgensteins ab und Fritz Mauthners Sprachtheorie zu und vernichtete seine literarischen Arbeiten. Artmann, dessen Methode im Gegensatz zum Konstruktivismus der anderen „Sprachingenieure“ immer eine literarische blieb, beschritt neue Wege. Zudem hatte sich trotz der Ge‐ meinschaftsarbeiten eine gruppeninterne Lagerbildung herauskristallisiert: Artmann und Bayer waren stärker vom Surrealismus, Manierismus, von der schwarzen Romantik und der französischen Kultur beeinflusst als Rühm und 86 III. Österreich <?page no="87"?> Achleitner, die material-orientiert schrieben und sich an Expressionismus, Bauhaus, Wittgenstein, an Musiktheorie und mathematischen Reihen sowie der Konkreten Poesie Gomringers orientierten. Vielleicht waren es auch die Angebote einer Tournee und einer Schallplattenproduktion, die als Zeichen einer möglichen Institutionalisierung der avantgardistischen Gruppe als Bedrohung empfunden wurden und zur allmählichen Auflösung der Gruppe führten. Es gab nach 1959 noch einige Gemeinschaftsarbeiten - etwa das Stück SU‐ PER REKORD EXTRA 50+50 (Achleitner / Rühm, 1961), die Monsteroperette schweißfuß (Bayer/ Rühm, 1959-1962) oder starker toback (Bayer / Wiener, 1962). Bayer begann die vom Komponisten Gerhard Lampersberg finanzierte und den Publikationen der Wiener Gruppe vorbehaltene Zeitschrift edition 62 (1962/ 63) herauszugeben. Die vereinzelten Auftritte - etwa eine Gemein‐ schaftslesung in einer Ausstellung von Adrian, ein Chansonsabend und die Uraufführung der kinderoper (Achleitner / Bayer / Rühm / Wiener, 1958) anlässlich der Eröffnung des Nachtlokals Chattanooga des Jazzmusikers Uzzi Förster im April 1964 - wurden vor allem von Wiener als Wiederbele‐ bungsversuche bzw. als Nachruf auf eine vergangene und abgeschossene Phase empfunden, während vor allem Bayer immer wieder an die Möglich‐ keit der Weiterführung glaubte. Die Wege der Mitglieder begannen sich nach 1960 relativ rasch zu trennen: Achleitner wandte sich der Architekturkritik zu. Artmann übersiedelt 1961 nach Stockholm, lebte jedoch phasenweise und ab 1965 ständig in Berlin, wo damals auch andere österreichische SchriftstellerInnen wie Gerald Bisinger und Elfriede Gerstl wohnhaft waren. Auch Rühm kam 1964 nach Berlin. Bayer verbrachte 1962 längere Zeit in der Schweiz, wo er an einem Film mitwirkte. 1964 beging er Selbstmord. Wiener wandte sich der Kybernetik zu, leitete eine Abteilung für Datenverarbeitung bei Olivetti; künstlerisch orientierte er sich am Wiener Aktionismus, bevor er 1969 nach Berlin floh. Die intensivste Zeit der „Wiener Gruppe“ dauerte von 1953 bis 1959. Das Besondere an diesen Jahren sind die gemeinsame Erarbeitung von Themen und Methoden, der trotz unterschiedlicher Perspektiven partiell gleiche literarische Stil und die Laborsituation der Gemeinschaftsarbeiten, in der die Autorschaft in den Hintergrund rückt. Der Rückgriff auf die Avantgarden 1. Überblick 87 <?page no="88"?> 22 Vgl. Bayer, Konrad. The Vienna Group [1964]. In: ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. von Gerhard Rühm. Überarbeitete Neuausgabe. Stuttgart: Klett-Cotta, 1996, S.-724-725. 23 Schwanberg, Johanna. Geschlecherverhältnisse und Geschlechter(de)konstruktion. In: Badura-Triska / Klocker, S.-204-220. der Vergangenheit war notwendig, so Bayer, um die Vorvergangenheit, die sie zu verschlingen drohte, abwehren zu können. 22 Die Gruppe wurde durch die 1967 von Gerhard Rühm herausgegebene Anthologie Die Wiener Gruppe dokumentiert und mit der Retrospektive anlässlich der Biennale in Venedig (1997) sowie mit einer großen Ausstellung in der Wiener Kunsthalle (1999) geehrt. - 1.4 Wiener Aktionismus Die Konstitution des Wiener Aktionismus hat sich zeitlich verschoben, etwa zehn Jahre nach der Wiener Gruppe vollzogen. Als Namensgeber gilt Peter Weibel, Begleiter und Theoretiker der Gruppe. Sie umfasst eine Periode von etwa 15 Jahren (1960-1975), wobei die Jahre zwischen 1963 und 1970 das Kernstück bilden. Wie die Wiener Gruppe - und damit anders als die klassischen Avantgarden - war auch der Aktionismus keine deklarierte und fixe Organisation, keine ‚Bewegung‘, sondern ein loser Zusammenschluss von vier Individualisten ohne gemeinsames Manifest: Günter Brus, Otto Mühl, Hermann Nitsch und Rudolf Schwarzkogler. Um diesen Kern herum gruppierten sich Freunde und Mitstreiter des Quartetts (so Photographen und Filmemacher wie Ludwig Hoffenreich, Siegfried Klein oder Kurt Kren), ein Beziehungsgeflecht von Freunden (Adolf Frohner, Alfons Schilling, Anestis Logothetis), die Protagonisten der Wiener Gruppe (Oswald Wiener, Gerhard Rühm), diverse Künstlerkollegen (Ludwig Attersee, Franz Kalte‐ nbäck, Dominik Steiger, Arnulf Rainer), theoretische Wegebegleiter wie Josef Dvorak und Peter Gorsen, jüngere Künstler wie Valie Export und Peter Weibel sowie eine weibliche Komparserie von zumeist ‚stummen‘ Schülerinnen, Ehefrauen und Lebensgefährtinnen (Anna Brus, Friedl Mühl, Eva Nitsch, Beate Nitsch, Hanel Koeck, Edith Adam), deren Rolle als ‚Models‘ bei den zum Teil überaus extremen Körper-Aktionen aus heutiger Sicht nicht ohne Grund kritisch kommentiert worden ist. 23 Die meisten Wiener Aktionisten und ihr Umkreis begannen ihre künst‐ lerische Karriere im Gefolge der abstrakten Kunst (etwa auch des für viele Aktionisten wichtigen abstrakten Expressionismus in New York), die in nahezu allen ‚klassischen‘ Avantgarden mit Ausnahme des Surrealismus do‐ 88 III. Österreich <?page no="89"?> 24 Badura-Triska, Eva: Die kulturelle Ausgangslage. Rahmenbedingungen und Referenz‐ punkte des Wiener Aktionismus in Österreich. in: Badura-Triska/ Klocker, S.-15-21. minierte und die auch im Wien nach 1945 für die jüngere Künstlergeneration bestimmend gewesen ist. Aber dabei wollten die jungen Wiener Künstler nicht stehenbleiben. Insbesondere die unter anderem in der Galerie nächst St. Stephan und im Theater am Fleischmarkt (mit Künstlern wie Marcus Prachensky oder George Mathieu) organisierten Malaktionen besaßen hier eine Vorbildwirkung, wurden doch durch diese gestisch-informelle Malerei der Formalismus der abstrakte Kunst überschritten. 24 Damit ändert sich aber auch das Selbstbild des Künstlers, der sich nicht mehr ausschließlich und primär durch seine Malerei erfindet und konstituiert, sondern durch ein exemplarisches ästhetisches Handeln in einem mehr oder minder öffentli‐ chen, nämlich prinzipiell für alle zugänglichen Raum: Galerie, geöffnete Privatwohnungen, Theater, Straße, Universität. Der Künstler gestaltet die Aktion, aber er wird erst durch sie zu dem, was er sein will: Künstler eines ganz neuen Typs. Er wird zum Künstler, Selbst-Schauspieler, der sich in und durch die Aktion konstituiert. Diesen performativen Aspekt der diversen Malaktionen hat die Künstler‐ gruppe in verschiedene Richtungen ausgeweitet. Die lose und pragmatische Organisationsweise verschafft jedem der vier Künstler einen entsprechen‐ den Freiraum. Rudolf Schwarzkoglers ‚ruhige‘ Bilder loten die Abgründe der menschlichen Seele aus, Hermann Nitsch theatralisches Gesamtkunstwerk präsentiert Kunst als Kultus und Mythos und rückt den Künstler in die sinnstiftende Funktion des fiktiven Hohepriesters. 1. Überblick 89 <?page no="90"?> Abb. 3: Hermann Nitsch: 31. Aktion, 1969 Günter Brus präsentiert in seinen physischen Selbstoffenbarungen Arbeit am eigenen oder am fremden Körper und Otto Mühls performance orientiert sich am toten wie am lebendigen Material. 90 III. Österreich <?page no="91"?> Abb. 4: Günter Brus: Selbstbemalung, 1964 Das sind durchaus unterschiedliche Positionen innerhalb des gemeinsamen Rahmens der unzähligen Aktionen, die die Künstler seit 1963, einzeln und zusammen, durchgeführt und inszeniert haben. Gemeinsam ist ihnen auch der für alle Avantgarden charakteristische Drang zur Grenzüberschreitung der Genres innerhalb der bildenden Kunst aber auch zwischen den Künsten oder zwischen diesen und dem lebensweltlichen Alltag, wie Günter Brus, Wiener Spaziergang von 1965, in dem die Straße zum Kunstraum mutiert, sinnfällig macht. Dass diese und ähnliche aktionistische Grenzüberschrei‐ tungen - verfremdete Bekleidung oder Nacktheit - polizeiliche Reaktionen nach sich ziehen, liegt auf der Hand und ist Teil des ästhetischen Kalküls, das 1. Überblick 91 <?page no="92"?> in den 1960er-Jahren mit einer leicht zu irritierenden Öffentlichkeit rechnen kann, die dem avantgardistischen Künstler eine unschätzbare mediale und symbolische Ressource einbringt: Skandal und Aufmerksamkeit. Abb. 5: Günter Brus: Wiener Spaziergang, 1965 Der Künstler, der sich nicht durch sein von ihm getrenntes Kunstwerk, sondern durch seine körperliche Anwesenheit präsentiert, sich ‚offen‘ zur Schau stellt, operiert mit einer letztendlich künstlichen ‚Authentizität‘. Jede Aktion verweist auf sich selbst und lädt den Betrachter ein, die eigene Lebenserfahrung zu intensivieren. Das gilt nicht nur für Hermann Nitschs’ späteres Orgien- und Mysterientheater, vielmehr arbeiten auch Mühls und Brus’ Aktionen letztendlich mit einem kathartischen Effekt, wenngleich 92 III. Österreich <?page no="93"?> dieser bei ihnen nicht religiös und mythologisch gerahmt ist wie bei Nitsch, sondern im Sinn einer psychotherapeutischen Befreiung von Tabus und Zwängen konzipiert ist. Der existenziellen-religiösen Erlösung bei Nitsch steht die individuelle und soziale bei Mühl, der später eine eigene, sehr problematische Kommune gründen wird, gegenüber. In den Aktionen von Mühl, Nitsch, Brus und partiell auch von Schwarz‐ kogler werden Material und Materie zum Gegenstand der Kunst sowie die Darstellung zum gestalterischen Akt mutiert. Die daraus entstehende inszenierte, oftmals in ‚Partituren‘ vorbereitete Aufführung (performance) bedarf einer Reihe von Akteurinnen und Akteuren, Schauspieler und Schauspielerinnen, die sich von den zu Regisseuren mutierten Künstlern entsprechend aufstellen, verpacken, ‚beschmieren‘ und entkleiden lassen, eines Publikums, das dabei mitspielt und vor allem auch von Menschen, die diese Aktionen künstlerisch-photographisch festhalten. Das in der Aktion aufgelöste und ‚aufgehobene‘ Kunstwerk wird nämlich durch die filmische Dokumentation ironisch restituiert. Durch die Dokumentation wird die Aktion zum zweiten Mal Kunst. Die Bedeutung der oftmals hervorragenden Photographen und Filmer (wie zum Beispiel Kurt Kren) provoziert die Frage, wer denn nun eigentlich der Schöpfer dieses Gesamtkunstwerks ist, auf keinen Fall ist es nur der aktionistische Künstler. Die Funktion des Photographen beschränkt sich dabei keineswegs auf die passive Dokumentation. Dass die Aktion gefilmt wird, verändert diese von Anfang an. Sie gibt überdies dem Künstler mit der Kamera die Möglichkeit, eigene Akzente zu setzen. Die performances der Wiener Aktionisten sind also nicht nur Gesamtkunstwerke, weil sie bestimmte Genregrenzen sprengen, sondern auch deswegen, weil alle Be‐ teiligten, die eigentlichen Künstler, das Schauspielteam, das Publikum und die Kameraleute, schöpferisch an ihnen beteiligt sind. Höhepunkte der Gruppe waren das Jahr 1963 mit dem Programm zum Fest des psychophysischen Naturalismus und die Aktion zum Abschluss der Wiener Festwochen am 28. Juni 1963, die Totalaktion (1966), die Teilnahme am Direct Art Festival (1967), die zum medialen Skandal mutierende Aktion an der Universität Wien (Kunst und Revolution, 1967) und die daran anschließende Konstituierung der Gruppe als Exilregierung sowie die diversen Zock-Akti‐ onen. 1. Überblick 93 <?page no="94"?> Abb. 6: Günter Brus: Kunst und Revolution, 1968 Mitte der 1970er Jahre hat die Gruppe bereits den Höhepunkt ihres gemein‐ samen Tuns überschritten, Schwarzkogler starb, psychisch krank 1969, Brus beendete bereits 1970 seine Karriere als Aktionskünstler und arbeitet seither als Maler und Zeichner, Mühl führte seine letzte öffentliche Aktion 1973 an der Columbus University in Ohio durch und widmete sich dann seinem neuen Projekt einer Aktions-analytischen Kommune in Friedrichshof im Burgerland, Hermann Nitsch schaffte sich 1973 im niederösterreichischen Schloss Prinzendorf einen exklusiven und eigenen fixen Ort für sein Mys‐ terientheater. Neben dem Unbehagen an den engen gesellschaftspolitischen Verhältnis‐ sen stand vor allem die intensive Körpererfahrung und, damit verbunden, das performative Experimentieren mit weiblicher und männlicher Sexualität im Vordergrund der Aktionen. Als gemeinsame Formel all dieser ästheti‐ schen Energien lassen sich Grenzüberschreitung und individuelle Exposi‐ tion des Intimen auf allen Ebenen - gesellschaftspolitisch, existenziell und ästhetisch - als gemeinsamer Nenner der über 200, zwischen 1960 bis 1975 94 III. Österreich <?page no="95"?> 25 Vgl. den Film von Schulmeister, Therese, Ungehorsam, Österreich 2016 (https: / www.thereseschulmeister.at). Therese Schulmeister war lange Jahre die Weggefährtin von Otto Mühl. durchgeführten Aktionen der Gruppe festhalten. Die Bewegung von 1968 hat dem Wiener Aktionismus einen neuen gesellschaftspolitischen Schub verliehen und seine Rezeption in Nachbarländern wie der Bundesrepublik Deutschland, Großbritannien, den USA und Italien befördert. Der Aktionis‐ mus wiederum hat auf die nachfolgende Entwicklung der Gegenwartskunst weit über Österreich hinaus einen nachhaltigen Einfluss ausgeübt und damit auch zu einem erweiterten Kunstbegriff beigetragen. Unübersehbar ist aber auch der potentielle Umschlag von Grenzüberschreitung und sexueller Re‐ volution in ein geschlossenes totalitäres Regiment wie im Falle der von Otto Mühl gegründeten Kommune Friedrichshof. Was ästhetisch als Innovation und Provokation, als experimentelles Austasten neuer Erfahrungen auf dem Feld der Kunst gedeutet werden kann, erwies sich lebenspraktisch als ein System von Repression und Regression. 25 Die Bedeutung des Wiener Aktionismus auf die heutige Kunstszene lässt sich eigentlich nur unterschätzen. Seine Protagonisten haben in Österreich eine Tradition geschaffen, in der die Thematisierung des Körperlichen, von Sexualität und Körper bis heute eine enorme Rolle spielen. In diesem Zusammenhang ist zunächst Valie Export zu erwähnen, die, wenn auch in geringerem Umfang als Peter Weibel, an Aktionen der Gruppe beteiligt gewesen ist. Viel wichtiger erscheint indes, dass ihre feministisch orientierte Kunst auch Kritik, Einspruch und Revision enthält. Denn der blinde Fleck des Wiener Aktionismus ist doch ungeachtet seiner witzigen Subversion der Kultur und Gesellschaftsbestände der Nachkriegsära sein traditionelles Bild von Frau und Weiblichkeit. Das andere Geschlecht wird zumeist auf einen sexuellen Objektstatus reduziert und die jeweiligen Partnerinnen finden sich in der Doppelrolle des Models und der ordnenden mütterlichen Hand im Hintergrund oder wie im Falle von Nitsch auch als Mäzenin wieder. Deshalb ist das Tapp und Tastkino, Exports berühmteste Kunstaktion im Kontext des Expanded Cinema, nicht nur als ein Protest gegen eine spießige männliche Sexualmoral, sondern auch als ein Einspruch gegen ihre männlichen Kolle‐ gen im Umkreis des Wiener Aktionismus zu dekodieren. Insofern stehen feministische Künstlerinnen, die sich wie mit dem Thema des eigenen und enteigneten Körpers beschäftigten (zu denken ist an Marina Abramović oder an Maria Lassnig und Elke Krystufek), in der Tradition 1. Überblick 95 <?page no="96"?> 26 Vgl. Rühm: Vorwort, S.-10. und im Widerspruch zur vielleicht namhaftesten und wirkungsmächtigs‐ ten österreichischen Avantgardegruppe. Es war nicht nur das bürgerliche Patriarchat zu Hause, sondern auch der Machismo der 1960 und ’70er Jahre mitsamt seinen ästhetischen und politischen Revolteuren, der den feministischen Eigensinn hervorgebracht hat. Mit Blick auf den Wiener Aktionismus und mit ihm pragmatisch aber auch inhaltlich verbundenen Wiener Gruppe und das Expanded Cinema lässt sich behaupten, dass es einen allgemeinen Befund hinsichtlich der Zweiten Republik bestätigt, wonach die unruhigen 1960er Jahre in Paris, Mailand und Berlin politisch, in Wien aber ästhetisch bestimmt gewesen sind. Jene Avantgarden, die sich schon vor 1968 herausgebildet haben, stellen, über das Feld der Kunst hinaus, das die Avantgardisten der körperlichen Aktion, der Sprache und des experimentalen Filmes nachhaltig erweitert haben, den wichtigsten Beitrag Österreichs zu den tiefgreifenden Veränderungen dar, die Kultur und Gesellschaft der westlichen Welt in den letzten zwei Generationen erfahren haben. 2 Manifeste und Programmatisches - 2.1 Manifeste und Programmatisches der Wiener Gruppe Als zentraler programmatischer Text der Wiener Gruppe gilt H. C. Art‐ manns Acht-Punkte-Proklamation der poetischen Actes (April 1953), der als Weiterführung der Frühromantik und des Surrealismus mit dem Satz beginnt: „Es gibt einen Satz, der unangreifbar ist, nämlich der, daß man Dichter sein kann, ohne auch irgendjemals ein Wort geschrieben oder gesprochen zu haben.“ 26 Poesie wird primär als Tätigkeit des Geistes denn als Ausdrucksmittel betrachtet, als ein Moment des Vor-Sprachlichen und des A-Logischen. Dem schöpferischen Akt kommt größere Bedeutung als dem fertigen Werk zu, außerpoetische Vermittlung durch Erklärungen wird abgelehnt. Die Autonomie des Kunstwerks äußert sich darin, dass der poetische Act weder an das geschriebene Wort noch an eine (symbolische) Ordnung gebunden ist, Kunst und Leben sind entgrenzt. In der Folge wurden mehrere poetische acte in Form von Prozessionen, Demonstrationen und 96 III. Österreich <?page no="97"?> 27 Vgl. Wiener, das ,literarische cabaret‘ der wiener gruppe, S.-403. 28 Vgl. Rühm, Vorwort, S.-18-20. 29 Vgl. Rühm, Vorwort, S.-20. 30 Vgl. Rühm, Gerhard. grundlagen des neuen theaters [1962]. In: ders.: Ophelia und die Wörter. Gesammelte Theaterstücke 1954-1971. Darmstadt: Neuwied. 1972, S. 269-278. makabren Festen veranstaltet, deren Ästhetik schwarzromantisch genannt werden kann, deren Poetik sich an Themen wie „a crucified glove“ oder „illuminierte Vogelkäfige“ äußerte und Autoren der schwarzen Romantik, des Surrealismus und Expressionismus huldigte. Mit den Prozessionen rückt der performative Charakter des poetischen actes in den Blickpunkt. 1954 verfasste Oswald Wiener das bald darauf wieder vernichtete Coole Manifest, in dem die allgemeine Enthaltung von Stellungnahmen gefordert, die Unmöglichkeit ernsthafter Auseinandersetzungen konstatiert und an‐ gesichts eines nur durch Beschluss feststellbaren „Ereignisses“ die Verwen‐ dung einer Skala von „aufgesetzten“ Empfindungen als „Schmuckstücke“, keineswegs aber als sozial-politisches „Werkzeug“ angeregt wurde. 27 Nur zwei Tage nach Unterzeichnung des Staatsvertrags veröffentlichte Artmann am 17. Mai 1955 das „Manifest gegen die Wiederbewaffnung Österreichs“ 28 , in dem er sich vehement und metaphernreich gegen die Wie‐ dereinführung der Wehrdienstpflicht in der gerade unabhängig gewordenen und zu immerwährender Neutralität sich verpflichtet habenden Zweiten Republik Österreich zur Wehr setzt. Das Manifest wurde in Form eines Pro‐ testmarsches mit Transparenten publik gemacht. Da nur sieben Personen teilnahmen und die Demonstration nach kurzer Zeit von der Polizei beendet wurde, blieb dieser poetische act folgenlos. Er beweist allerdings, dass das Poetische der Wiener Gruppe mitunter durchaus politisch motiviert war. Anlässlich der ersten Publikation von Dialektdichtungen aus der Feder Artmanns und Rühms in der Zeitschrift alpha (1956) verfasste Rühm den programmatischen Text „Dialektdichtung“, in dem der lautliche Reichtum vor allem des Wiener Dialekts und die damit verbundene Möglichkeit des nuancierten Ausdrucks und der „Individualisierung” des einzelnen Wortes durch unterschiedliche Tönung hervorgehoben werden. Rühm erachtete es als eine Erweiterung des Surrealismus, die Wirklichkeitsnähe und Unmit‐ telbarkeit des dialektalen Ausdrucks zur Verfremdung und Neuwertung der Wörter zu nutzen. 29 Gerhard Rühms Text „grundlagen des neuen theaters“ (1962) 30 , in dem die Methoden der Konkreten Poesie auf das Drama angewandt werden, kann als nachträgliche Dokumentation der theoretischen Basis des „Kon‐ 2 Manifeste und Programmatisches 97 <?page no="98"?> 31 Badura-Triska, Eva / Millautz, Manuel. Chronologie der Aktionen 1960-1975. In: Ba‐ dura-Triska / Klocker, 276. 32 Badura-Triska / Millautz. In: Badura-Triska / Klocker, 278. 33 Badura-Triska / Millautz. In: Badura-Triska / Klocker, S.-279-282. kreten Theaters“ betrachtet werden. Dabei wird die Sprache in Laut- und Schriftzeichen, das gesprochene Wort in Klänge (Vokale) und Geräusche (Konsonanten) unterschieden, wobei die Wortsemantik nicht außer Acht gelassen wird. Menschen werden im Theater als Individualitäten eingesetzt und von ihrer Stimme entfremdet, wodurch Sprache als autonomes Objekt in den Blickpunkt rückt. Der Mensch wird in seinen Beziehungen bzw. seiner Selbstbezüglichkeit thematisiert, zugleich aber als ein Element des Theaters betrachtet, wie es die Gegenstände, die Puppen und Requisiten auch sind. Diese Gleichberechtigung der Elemente soll eine maximale Differenzierung ermöglichen. Neben Lichteffekten, Raum, Bewegung und den Wahrneh‐ mungsmöglichkeiten in unterschiedlichen Theatertypen fokussierte Rühm vor allem auf die ZuschauerInnen, auf die das Geschehen wirken sollte. Es ist ein Theater, das weder vortäuscht, noch beschreibt, noch erzählt, da die DarstellerInnen und das Dargestellte identisch sind. - 2.2 Manifestationen des Wiener Aktionismus Es gehört zur Eigenart der theatralischen Vorführungen des Wiener Ak‐ tionismus, dass Manifeste, Zeitschriftenprojekte (Marais, Schastrommel), Flugblätter, Aussendungen und Plakate Teil der Aktionen bildeten und ihre Bedeutung erst in deren Kontext entfalteten. So trug die 7. Malaktion der Gruppe vom 4. Juni 1962, die in Otto Mühls Atelier im 12. Wiener Gemeindebezirk stattfand, den Titel Die Blutorgel und wurde in einer Pres‐ seaussendung als „Manipulieren mit seelischem Sprengstoff “ bezeichnet. 31 Die dritte, gemeinsame Aktion von Mühl und Nitsch vom 28. Juni 1963 stand unter dem Titel Fest des psychophysischen Naturalismus. 32 Besonders in den Aktionen Mühls wird das sexuelle, nicht selten auch sadomasochistische und obszöne Moment hervorgehoben: Versumpfung eines weiblichen Körpers - Versumpfung einer Venus, Kreuzigung eines männlichen Körpers, Verschnü‐ rung eines weiblichen Körpers, Destruktion eines weiblichen Körper. 33 98 III. Österreich <?page no="99"?> Abb. 7: Otto Muehl: Materialaktion Nr.-1, Versumpfung eines weiblichen Körpers - Ver‐ sumpfung einer Venus, September 1963 Hand in Hand mit der schon erwähnten Ausstellung Die Blutorgel geht ein Manifest, das bemerkenswerterweise kein gemeinsamer Text ist, sondern Standortbestimmung der vier an der Aktion Beteiligten, Josef Dvorak, Adolf Frohner, Otto Mühl und Hermann Nitsch enthält. Jeder der Beteiligten hat seine eigene Handschrift. Während Nitsch zum ersten Mal sein Konzept des Orgien-Mysterientheaters (O.M.-Theater), das religiös-ekstatische Spiel, Ritual und Fest, Sadomasochismus und Opfer als elementare, über die Kunst vermittelte Existenzerfahrung pries „apppariert“ Otto Mühl „das Demolierte, Niedergeschlagene, Zerschossene, Verfallene, Explodierte, Ver‐ 2 Manifeste und Programmatisches 99 <?page no="100"?> 34 Dvorak, Josef / Frohner, Adolf / Mühl, Otto / Nitsch, Hermann. Manifest Die Blutorgel. 1962, 60 ff zit. nach: Badura-Triska / Klocker, S.-46f. 35 Schwarzkogler, Rudolf. DAS ÄSTHETISCHE PANORAMA. Typoskript (mumok). zit. nach Badura-Triska / Klocker, S.-197. rostete, das aus den Fugen Geratene.“ Den gemeinsamen Rahmen der Aktion bildete die Verkündigung „unserer neuen Mythologie“ (Dvorak). 34 Abb. 9: Josef Dvorak, Adolf Frohner, Otto Muehl, Hermann Nitsch: Manifest Die Blutorgel, 1962 Der an der Aktion nicht teilnehmende Rudolf Schwarzkogler, der in der Rezeptionsgeschichte der Gruppe mit insgesamt nur sechs Aktionen (die bekannteste ist die erste Aktion Hochzeit vom 6.Februar 1965) ein wenig die Rolle des ruhigen ästhetischen Hinterbänklers einahm (wobei natürlich auch sein früher Tod 1969 eine Rolle spielt), griff in seinen Überlegungen auf das Konzept des Gesamtkunstwerks zurück. Unter der Formel des ästhetischen Panoramas plädierte er für eine neue Kunst der „regenierten Erlebnisfähigkeit“, das „aus der logischen struktur des materials und der skala der empfindungen“ entsteht. Und handschriftlich fügte er dem 1967/ 68 entstandenen Text hinzu: „dass die ganze Person davon ergriffen wird“. 35 100 III. Österreich <?page no="101"?> Abb. 10: Rudolf Schwarzkogler: 1. Aktion „hochzeit“, Malaktion am 6.2.1965 Das ist eine beinahe schon nachträgliche Positionsbestimmung einer Kunst, die sowohl den klassischen mimetischen Kunstbegriff als auch die Formel Kants vom interesselosen Wohlgefallen hinter sich lässt. Die Wirklichkeit, die Schwarzkogler aber auch seine Mitstreiter im Sinn hatten, ist eine psy‐ chisch-existenzielle. Die aktionistische Kunstausübung möchte den Abstand zwischen Betrachter und Akteur prinzipiell beseitigen und ersteren in das psychische Geschehen mit einbeziehen. Die Kunst wird zum Medium einer Bewusstmachung „psychischer Gegenwart“. Das kann durch Destruktion wie bei Mühl oder durch eine Katharsis wie bei Nitsch geschehen, die ihre Energie aus einer religiösen Form des Libidinösen bezieht. In der 2 Manifeste und Programmatisches 101 <?page no="102"?> 36 Ebd. 37 Millautz, Manuel. Fest des psychophysischen Naturalismus. In: Badura-Triska / Klo‐ cker, S.-76f. 38 Mühl, Otto. Die Destruktion. In: Millautz, S.-78. Terminologie Freuds ließe sich sagen, dass es sich beiden Fällen um ein Spiel zwischen Libido und Aggression handelt, das Nitsch indes religiös überhöhte. Zugang zur „psychischen Gegenwart“ eröffneten indes auch die ein‐ schneidenden Eingriffe am eigenen Körper, die Günter Brus an sich vorn‐ ahm, das „Purgatorium der Sinne“ wie bei Schwarzkogler, der übrigens wie Brus vornehmlich den eigenen, oftmals einbandagierten Körper zum Ausgangspunkt nahm. Dabei waren die nicht selten verbundenen Augen Indiz für eine instatische Bewegung der Empfindungswahrnehmung. 36 Ein Programm zum Fest des psychophysischen Naturalismus ergänzte die Aktion am 28. Juni 1963, die in einer unverwechselbaren Mischung aus Ironie und Aggression als „Abschluss“ der damals eher konventionell gehalt‐ enen Wiener Festwochen angekündigt wurde. Hermann Nitsch, zeremoniell gekleidet, zerstörte programmatisch den Spiegel, Sinnbild mimetischer Kunst, und führte die Besucher in das Kelleratelier. Nitsch lag mittlerweise auf einer Bettstatt. Von der Decke herunter hing ein abgehäutetes und ausgeweidetes Lamm, das mit Eisenkrampen traktiert wurde. Daneben befand sich ein Kübel mit tierischen Eingeweiden. Weitere Materialien waren Blutwasser und Teerosen. Es fanden Malaktionen statt. Zu der Aktion Versumpfung einer Venus sowie zum Fenstersturz einer Küchenkredenz aus dem 4. Stockwerk kam es indes nicht mehr, da um 19.00 Uhr ein polizeiliches Aufgebot einschritt und die Veranstaltung nach einer Stunde vorzeitig ihr jähes Ende fand. 37 Bereits 1962 hatte Otto Mühl die Destruktion zum theoretischen Mantra der Gruppe erhoben. Rhetorisch erinnerte dieser Text in der Tat an ‚klassi‐ sche‘ avantgardistische Manifeste, etwa wenn es heißt: Die Dekonstruktion ist die bewusste schöpferische Zerstückelung von Körpern, Vorstellungen, Ideologien, Meinungen, Institutionen und Denkmälern. Der Sinn der Destruktion besteht im Vernichten von Gerümpel, sie wird dadurch zum Geburtshelfer einer neuen Wirklichkeit. 38 Der Terminus ‚Destruktion‘ entstammt dem begrifflichen Inventar der Heideggerschen Philosophie, die sich als Zerstörung abendlichen Denkens 102 III. Österreich <?page no="103"?> 39 otto mühl, materialaktion. In: LE MARAIS, THE MARSH, LA PALUDE, DER SUMPF. SONDERNUMMER Wien 1965 (mumok), zit. nach Badura-Triska, S.-132. 40 Millautz, Manuel. Destruction in Art Symposion. In: Badura-Triska / Klocker, S.-169. 41 Ebd., S.-173. und Abrechnung mit diesem versteht. Diese Kategorie wurde als „destruk‐ tive Liebe zum Material“ auf die Kunst übertragen, dabei radikalisiert und mit einem psychoästhetischen Fundament versehen. Destruktion war nicht länger ein abstrakter Vorgang der Widerlegung der philosophischen Tradition, sondern bedeutete auch eine mehr oder weniger sublimierte Zer‐ störungslust, psychoanalytisch die Demonstration eines Triebgeschehens: „Weil ich in einer technisch zivilisierten Welt lebe, habe ich manchmal das Bedürfnis mich wie eine Sau im Schlamm zu wälzen.“ Wie Hermann Nitsch in einem programmatischen Aufsatz in Marais, der zeitweiligen Zeit‐ schrift der Gruppe verkündete: „materialaktion ist dargestellte malerei.“ 39 Auf Vermittlung von Ernst Jandl, der der Wiener Gruppe nahestand und in England durch seine Konkrete Poesie bekannt geworden ist, wurden Günter Brus, Kurt Kren, Otto Mühl, Hermann Nitsch und Peter Weibel 1966 zu dem von dem Kurator Gustav Metzger organisierten Symposion Destruction in Art eingeladen, bei dem Nitsch wieder einmal sein Orgien- Mysterientheater propagierte, während Brus und Mühl ihre destruktiven Energien durch Keuchen, Schreien, Brüllen, Schnalzen und Umherlaufen vorführten. 40 Die Veranstaltung war mit Künstlern wie Dieter Roth, Bazon Brock, Wolf Vostell oder Yoko Ono und anderen Größen der Neoavantgarde (auch ein tschechoslowakischer Künstler namens Milan Mnizok scheint auf) international prominent besetzt und verschaffte den Wiener Aktionisten zum ersten Mal einen internationalen Auftritt und damit die Möglichkeit, Aktionen im Ausland zu gestalten. Unübersehbar sind nun nicht nur die Einflüsse der Wiener Gruppe und anderer avantgardistischer Akteure. Vielmehr waren die Aktionisten mit der Serie Zock auch im Popzeitalter und in der anarchischen Revolte angelangt. Wiederum gingen Manifeste, Aktionen und Feste Hand in Hand, die diesmal die „Totalrevolution“ verkündeten und einen lange als Graffito wirksamen Spruch auf den Weg brachten: Für ZOCK es gab nur einen Verbrecher, den STAAT, und ein Verbrechen, mit ihm zusammenzuarbeiten. 41 An die Stelle von Begriffen wie ‚Aktion‘ und Destruktion‘ trat die Verkün‐ dung einer direkten Kunst und damit die Gründung von Otto Mühls Direct Art Group und die Organisation des Direct Art Festivals (1967) - wiederum 2 Manifeste und Programmatisches 103 <?page no="104"?> 42 Ebd., S.-176. 43 Kandutsch, Kazuo. Die Veranstaltung Kunst und Revolution. In Badura-Triska / Klo‐ cker, S.-184. waren die Kontrastfolie die Wiener Festwochen. Im Zentrum des Festes standen dabei auch blasphemische, pornographische und obszöne Texte wie Aspekte einer Totalrevolution, der die Massenvergewaltigung einer Leiche phantasierte, durch die der Bezirksfriedhof wieder stärker „aufgewertet“ und ein Wettbewerb dazu geplant werden sollte. 42 Einen Höhepunkt an prekärer Bekanntheit erlangte die Veranstaltung Kunst und Revolution, die der Sozialistische Österreichische Studentenbund am 7. Juni 1968 Neuen Institutsgebäude der Universität Wien organisierte, die das Format der Diskussions- und Vortragsveranstaltung durch ein inszeniertes Aktionsprogramm von Brus durchbrach. Wiederum wurde die Aktion filmisch gut dokumentiert und von programmatischen Kommenta‐ ren in der Zeitschrift Die Schastrommel begleitet: Im Rahmen des nunmehrigen Simultanprogramms zeigte sich folgendes Bild: Günter Brus führt eine körperanalytische Aktion durch, bei der er auf einen Vortragstisch stieg, seiner Brust und den Oberschenkeln mit einer Rasierklinge Schnitte versetzte, in die Hand urinierte, den Harn trank und sich erbrach. Während er die Bundeshymne anstimmte, begann er, mit dem Gesäß zum Publikum, in der Hocke zu defäkieren. Danach erbrach er sich wieder, legte sich mit dem Rücken auf den Tisch und begann zu onanieren. Oswald Wiener analysierte die ‚Input-Output-Relation zwischen Sprache und Denken und schrieb dabei die Formeln kybernetischer Modelle mit Kreide auf die Tafel des Vortragssaales […]. 43 Der Ablauf dieser Veranstaltung machte gerade wegen seiner zeitlichen Nähe zu den Studentenunruhen in Westeuropa noch einmal eine Differenz sichtbar. So provokant die Veranstaltung sich selbst heutzutage ausnehmen mag, politisch war sie - in einem konzisen Sinn des Wortes - nicht. Allenfalls anarchisch und kulturrevolutionär. Vermutlich stellte die Zusam‐ menarbeit zwischen politisierter Studentenschaft und den performativen künstlerischen Profis ein Missverständnis dar. In dem neuen politischen Rahmen, zu dem auch die programmatische Ablehnung und Verhöhnung der handgreiflichen Politik und ihrer Vertreter gehört, fand sich jene sub‐ versive Logik, die so viele andere Aktionen der Gruppe charakterisierte. Es sollte nicht die letzte sein, wie die Aktion Brus’ in Berlin (1969) Mühls 104 III. Österreich <?page no="105"?> 44 Badura-Triska/ Millautz, Manuel. In: Badura-Triska/ Klocker, S.-339-344. 45 Klocker, 187. in Frankfurt am 19. Oktober 1969 (Scheißkerl, unter Beteiligung von Hanel Koeck, Kurt Kren, Waltraud Stieglitz und Peter Gorsen) und jene von Hermann Nitsch Maria Empfängnis am 8. Dezember 1969 in München (unter Beteiligung Ludwig Hoffenreich, Peter Kubelka, Christian d’Orville, Peter Gorsen, Hanel Koeck, Peter Mueller-Preuss), die 32. am 28. Februar 1970 (mit ähnlicher Entourage und mit Weggefährten wie Günter Brus, Franz Kaltenbäck und Heinz Cibulka) sinnfällig machten. Letztere wurde übrigens vom Hessischen Rundfunk und vom Badischen Fernsehen aufgenommen und dokumentiert. 44 Die vermehrten Auftritte in Deutschland waren nicht ganz freiwillig, Brus entzog sich einer halbjährigen Haftstrafe durch Flucht nach Berlin, Nitsch lebte zu dieser Zeit aus privaten Gründen in München und Mühl zog sich aus dem öffentlichen Diskurs zurück - dieser Rückzug leitete auch sein neues Projekt einer Kommune im Burgenland ein, in dem, was bisher erweiterte Kunst war, gemeinsames Leben werden sollte. In der Schastrommel Nr. 1, 1969 wird die Zeitschrift der Gruppe als „Organ der österreichischen Exil‐ regierung“ bezeichnet, die sich im Ausland als Gegenregierung zu „klaus und kreisky“ gebildet habe, die „mit hilfe ihrer organisierten schlägerbanden die macht in österreich an sich gerissen“ haben. Als die - sic- fünf Kaiser im Exil schienen Gerhard Rühm (Kaiser für Verkehr und Volksbildung), Hermann Nitsch (Kaiser für Religion und andere Fragen), Oswald Wiener (Kaiser für Justiz und Wiedergutmachung; Militärkaiser), Otmar Bauer (Kaiser für Polizei und Volksgesundheit) sowie Günter Brus selbst (Kaiser für Inneres und Äußeres) auf. 45 2 Manifeste und Programmatisches 105 <?page no="106"?> Abb. 11: Günter Brus: Die Schastrommel Nr.-1, Organ der österreichischen Exilregierung, 1969 106 III. Österreich <?page no="107"?> 3 Personen und Werke - 3.1 Wiener Gruppe Friedrich Achleitner (1930-2019) stammte aus dem oberösterreichischen Innviertel und studierte an der Akademie der Bildenden Künste in Wien Architektur bei Clemens Holzmeister, später auch Bühnenbild bei Emil Pri‐ chan. 1955 stieß Achleitner zur Wiener Gruppe und war bis 1958 freischaff‐ ender Architekt, bis 1962 freier Schriftsteller. In seinen Textarbeiten stellte er das Konzeptuelle, die Kurzform und Sprachkritik in den Vordergrund. Viele seiner Arbeiten sind Montagen von sprachlichem found footage-Material, etwa die gute suppe (1958), in dem Lehrsätze aus einem Deutschlehrbuch für U.S.-amerikanische Besatzungssoldaten zu einem in kurze Kapitel un‐ terteilten, absurden Prosatext montiert wurden. Als Schriftsteller bekannt wurde er durch seine kurzen und pointierten Dialektgedichte (hosn rosn baa, 1959, gem. m. Artmann und Rühm), in denen er sprachspielerisch mit der Innviertler Dialektlautung arbeitete, und durch den quadratroman (1973), in dem sich der Formwille des Architekten am strengen, quadra‐ tisch erscheinenden Satzspiegel abbildete. In beiden Schreibprojekten sind die Techniken der Konkreten Poesie, in der Sprache vor allem als Laut- und Formmaterial verwendet wird, deutlich erkennbar. Ab 1961 schrieb Achleitner Architekturkritiken für die österreichische Tagespresse, wobei er als Begründer dieses journalistischen Genres in Wien gilt. Ab 1963 lehrte Achleitner als Dozent an der Akademie der Bildenden Künste in Wien Geschichte der Baukonstruktion, von 1983 bis 1998 hatte er den Lehrstuhl für Geschichte und Theorie der Architektur an der Universität für angewandte Kunst in Wien inne. Von 1965 bis 2010 arbeitete er an seinem opus magnum: Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert, einem Architekturführer in vier Bänden, der auf der persönlichen Sichtung jedes einzelnen beschriebenen Gebäudes beruht. Achleitner war Gründungsmit‐ glied der Österreichischen Gesellschaft für Architektur (seit 1965). Nach seiner Emeritierung widmete er sich wieder der Literatur und verfasste mehrere Kurzprosabände - einschlafgeschichten (2003), wiener linien (2004), und oder oder und (2006), der springende punkt (2009) und wortgesindel (2015). Die Textideen entzündeten sich an so unterschiedlichen Themen wie der Subjektivität der Wahrnehmung, dem Urknall oder absurden Aspekten der Wissenschaft, wobei das Philosophische an das Groteske 3 Personen und Werke 107 <?page no="108"?> 46 Vgl. Schönthaler, Philipp. Am Nullpunkt der Gattungen. Friedrich Achleitners „quad‐ ratroman”. In: Modern Austrian Literature 44 (2011), H. 1/ 2, S.-37-55, hier S.-37. angenähert wird. Häufig wird dabei der idiomatische Sprachgebrauch seiner mangelnden Reflektiertheit überführt. Achleitner erhielt sowohl für sein literarisches als auch für sein architekturhistorisches bzw. -kritisches Werk zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Österreichischen Staatspreis für Kulturpublizistik (1984), das Goldene Ehrenzeichen für Verdienste um das Land Wien (2002) und den Preis der Stadt Wien für Literatur (2007). Der Architekturführer und sein literarisches Spätwerk dominieren die heutige Wahrnehmung seines Gesamtœuvres. Friedrich Achleitner legte mit seinem quadratroman eine Einzelpublika‐ tion vor, die erst 1973 und damit etwa neun Jahre nach dem endgültigen Auseinandergehen der Wiener Gruppe im Rowohlt Verlag veröffentlicht wurde. In dem Text werden seine beiden Schwerpunkte, die Architekt und die Literatur, enggeführt. Bereits der Titel und die im Innentitel genannten Etikettierungen als Bildungs- und Entwicklungsroman deuten das Spiel mit Kategorisierungen, Gattungsformen und Erwartungshaltungen an. Haupt‐ figur dieses ,Romans‘ ist dessen Form, ein Quadrat, das auf 176 Seiten konsequent variiert wird und - in Form des Satzspiegels, als Text, als Wort, als Textbild, als Bild, als Rahmen, als Thema etc. - auf abstrakte wie mimetische Weise seine Wirkung entfaltet. Damit werden die Beziehung von Text und Bild und die Transmedialität von sprachlichen Zeichen thematisiert. Achleitner nähert sich dem Quadrat mit allen methodischen Mitteln an, die ihm im Medium Sprache zur Verfügung stehen. Der qua‐ dratroman ist somit die Summe seines bisherigen literarischen Schaffens, das sich aus Verfahren der Konkreten Poesie, aus Konstellationen, dem Einsatz des phonetischen und grafischen Zeichenrepertoires des Innviert‐ ler Dialekts, aus Wiederholungen, Sprachspiel und Ironie zusammensetzt. Über das Quadrat wird der Diskurs der Mathematik als Regelsystem in den literarischen Diskurs eingeführt, wodurch die Zeichen als Operatoren zur a-referentiellen Bedeutungsgenerierung lesbar werden. 46 Die daraus resultierenden selbstreferentiellen Sprachexperimente stellen zugleich die Funktionsweisen aller Zeichensysteme aus. Durch die finale Entlarvung des Quadrats als vermeintlich gleichseitiges Rechteck erfolgt freilich die Ironisierung der autoritären Funktionsweise beider - und somit aller - Diskurse. 108 III. Österreich <?page no="109"?> Hans Carl Artmann (1921-2000), in der Wiener Vorstadt (Breitensee) aufgewachsen, verbrachte den Zweiten Weltkrieg wegen einer schweren Verletzung und mehrerer Desertionsversuche hauptsächlich in Lazaretten und Gefängnissen. 1947 wurden seine Gedichte zum ersten Mal im Radio Wien veröffentlicht. 1950 gründete er einen literarischen Zirkel im Ester‐ hazy-Keller. Artmann hatte Kontakt zu diversen Zeitschriften (Neue Wege, publikationen einer wiener gruppe junger autoren) und zum Art Club, dem damaligen Treffpunkt der jungen avantgardistischen Kulturszene. Dort kam es zu den ersten Begegnungen der Mitglieder der nachmaligen Wiener Gruppe. 1953 verfasste er die für die Gruppe programmatische Acht-Punkte- Proklamation des Poetischen Actes, in der Folge kam es zu (poetischen) Prozessionen und Gemeinschaftsarbeiten. Seine Vorliebe für Fremdsprachen und Grammatiken und seine Kenntnis der surrealistischen, expressionisti‐ schen und barocken Literatur sowie deren literarischen Textformen waren dabei eine große Anregung. Mit dem erfolgreichen Gedichtband med ana schwoazzn dintn (1958) begann er sich von der Gruppe zu emanzipieren. Nach weiteren Buchpublikationen (Der Schlüssel des Heiligen Patrick, Von den Husaren und anderen Seil=Tänzern) sowie der Verfilmung des Dramoletts Donauweibchen lebte Artmann von 1960 bis 1965 in Schweden, dann in West-Berlin, Graz und Rennes. Er setzte sich mit Populärkultur (das suchen nach dem gestrigen tag oder schnee auf einem heißen brotwecken, 1964) und Trivialmythen (dracula, dracula, 1968) auseinander. Beinahe im Jahresrhyth‐ mus veröffentlichte Artmann Texte: schaurige Kinderreime (Allerleirausch, 1967), Prosa, Gedichtbände (ein lilienweißer brief aus lincolnshire, 1969), Dramen (die fahrt zur insel nantucket, 1969) und Übersetzungen (Villon, Lovecraft, Goldoni). Erfolg erzielte er mit dem Prosaband How much, schatzi (1971). Der deutsche Literaturwissenschaftler Klaus Reichert gab den Band The Best of H. C. Artmann (1970), die gesammelte Prosa Grammatik der Rosen (1979) sowie das gesamte Poetische Werk in zehn Bänden (1993-1994) heraus. 1973 wurde Artmann Gründungspräsident der „Grazer Autorenvereini‐ gung“ (GAV), die sich in Opposition zum konservativen Österreichischen P.E.N. formiert hatte. Von 1972 bis 1995 lebte Artmann mit seiner dritten Ehefrau, der Schriftstellerin Rosa Pock, und ihrer gemeinsamen Tochter Emily in Salzburg. Ab 1995 lebte er mit seiner Familie in Wien, wo er an der „schule für dichtung“ lehrte. Artmann erhielt zahlreiche Auszeichnungen u. a. 1974 den Großen Österreichischen Staatspreis für Literatur und 1997 den Georg-Büchner-Preis. Artmanns Werk zählt nicht nur innerhalb der 3 Personen und Werke 109 <?page no="110"?> Wiener Gruppe zu den stilistisch vielfältigsten und innovativsten und hat die folgenden Autorengenerationen nachhaltig beeinflusst. H. C. Artmanns erste Buchpublikation med ana schwoazzn dintn. gedichta r aus bradnsee (1958) brachte ihm nach einem Jahrzehnt verstreuter un‐ selbstständiger Publikationen und Gemeinschaftsarbeiten großen Erfolg, der wohl zum Teil dem Missverständnis geschuldet war, Artmann würde damit an die volkstümliche Dialektdichtung anschließen. Mit den 52 Gedich‐ ten, in denen die an den Wiener Dialekt angenäherte Lautung buchstäblich - in Form einer abseits der Sprachwissenschaft entwickelten phonetischen Schreibung - zu Papier gebracht wurde, werden die dabei entstehenden Verfremdungseffekte gezielt eingesetzt, um sowohl die Lautung als auch das typografische Bild der sprachlichen Zeichen im Sinne der Konkreten Poesie als poetisches Material per se auszustellen. Das Dialektale war für die Wiener Gruppe vor allem auch deshalb von Bedeutung, weil es eine weitaus feiner nuancierte Lautqualität und differenziertere Semantik aufwies. Inhaltlich griff Artmann Märchenstoffe (König Blaubart), Dingge‐ dichte („liad“), schwarzromantische Motive, das Motiv des Unheimlichen, Figuren der Popliteratur (Tom Shark/ „dom schak“) und zeitgenössische All‐ tagskultur („des neiche blagad“) sowie Wiener Topografien auf und brachte darin eine grundlegende Melancholie, eine makabre Stimmung, schwarzen Humor und das Gefühl unerfüllbarer Sehnsucht zum Ausdruck. Zum Teil waren dies wohlbekannte Ingredienzien der Wiener Kultur, insbesondere des Wiener Lieds, doch erscheinen sie in Artmanns Gedichten durch die Ein‐ sprengsel zeitgenössischer Phänomene (Radio, Comichefte, Werbeplakate etc.) in ihrer archaischen Wirkung kontrastiv verstärkt. Daraus entfaltet sich die Grundspannung der Gedichte, die bis heute immer wieder neu vertont und interpretiert werden und einen wichtigen Bezugspunkt der späteren Dialektwelle in Österreich bis hin zum Austropop darstellen. Eines der großen Verdienste dieses Gedichtbands besteht darin, den Dialekt für die moderne Dichtung zugänglich gemacht zu haben. Konrad Bayer (1932-1964) wuchs in Wien auf, absolvierte nach dem Gymnasium eine einjährige Büroausbildung und arbeitete bis 1957 als Bankangestellter. Sein Psychologiestudium brach er nach kurzer Zeit ab. 1952 lernte er Artmann und Rühm im Art Club und Wiener über den Jazz kennen - er selbst spielte Banjo. 1955 verfasste er seinen ersten Prosatext (der capitän). Er spielte in dem Experimentalfilm Mosaik im Vertrauen (Regie: Peter Kubelka, Kamera: Ferry Radax) mit. Nach einem Roulettegewinn fuhr er nach Paris, kündigte seine Anstellung und leitete für einige Monate die 110 III. Österreich <?page no="111"?> Galerie des Malers Ernst Fuchs, dem Mitbegründer der Wiener Schule des Phantastischen Realismus. 1958/ 59 folgten intensive Arbeiten an den abend‐ sprengenden literarischen cabarets, in denen er u. a. Textmontagen auf der Basis mathematischer Konstruktionspläne und serielle Texte vortrug. Der an den Dadaismus angelehnte Text der vogel singt. eine dichtungsmaschine in 571 Bestandteilen war seine erste größere Arbeit. 1959/ 60 verbrachte er mit Radax in Monterosso bei Genua, um an dem Experimentalfilm sonne halt! mitzuwirken. Er spielte beide Hauptrollen und steuerte Textmaterial aus seinem Romanprojekt der sechste sinn bei. 1961 folgte nach einem längeren Frankreichaufenthalt im Haus von Friedensreich Hundertwasser das Filmprojekt am rand (Regie, Kamera: Radax) in der Schweiz. 1962 und 1963 gab er je eine Nummer der vom Komponisten Gerhard Lampersberg finanzierten und für die Publikationen der Wiener Gruppe bestimmten Zeitschrift edition 62 heraus. 1963 und 1964 las er auf den Tagungen der Gruppe 47 aus dem noch unfertigen Roman der sechste sinn, den Rowohlt sofort unter Vertrag nahm. Bayer versuchte auf dem Schloss des Künstlers und Jazzmusikers Padhi Frieberger im niederösterreichischen Hagenberg den Roman zu vollenden. Dort nahm er sich das Leben. Von seinen Theatertexten wurden nur die begabten zuschauer (1961) und bräutigall & anonymphe (1963) in Wien zur Aufführung gebracht. Der für sein dramatisches Werk zentrale Text kasperl am elektrischen stuhl (1962) wurde 1968 im Rahmen der Wiener Festwochen uraufgeführt. Darin werden die Autonomie der Kunst, die Isolation des Experimentellen in der restaura‐ tiven Nachkriegszeit, Sprache als Mittel der Macht sowie die Unmöglichkeit gelingender Kommunikation thematisiert und in Form von Sprachspielen und -reflexionen sowie Verfahren der Konkreten Poesie zum Ausdruck gebracht. Die einzige zu Lebzeiten des Autors fertiggestellte Publikation ist der Band der stein der weisen (1963), in dem der Bewusstseinsdiskurs von sprachphilosophischer wie naturwissenschaftlicher Seite kontroversiell beleuchtet wird. Bayers vielschichtiges Werk umfasst Gedichte, Chansons, Sketches, Theaterstücken, Prosa, konkrete Texten und Nachdichtungen und wurde von Rühm gesammelt herausgegeben. Als zentraler Text in Konrad Bayers Schaffen gilt der Prosatext der kopf des vitus bering (1965). Den groben Bezugsrahmen bilden biografische Eckdaten des Seefahrers und Polarforschers Vitus Bering (1680-1741), doch werden auch mögliche Momente seines Lebens zur freien Gestaltung herangezogen und als Stationen seines Lebenswegs nachgezeichnet. Dabei wird Bering anhand der wenigen Details, die man über ihn erfährt - seiner 3 Personen und Werke 111 <?page no="112"?> Verschlossenheit, seines Alkoholkonsums, seines Schachspiels -, kaum greifbar. Auf dem Schachbrett scheinen sich Ereignisse der Weltgeschichte vom grausamen Timur über Ludwig XIV. bis zum Revolutionsjahr 1848 zu verdichten, was zu Exkursen über Tötungsarten, Kriegsverbrechen und Kannibalismus Anlass gibt. Somit dient Bering nur als „standort“ dieser „summarischen biographie“, in der alle Zeiten gleichzeitig erfahrbar werden. Beschreibungen vom Überlebenskampf im Eis und von schamanistischen Ritualen werden durch Zeitberechnungen, physikalische Erklärungen des Sehvorgangs und des Vereisens, einer subjektiven „theorie der schiffahrt“ und einzelnen Gedankenfetzen Berings unterbrochen, der sich durch Mes‐ sung diverser Koordinaten vor allem seiner selbst zu vergewissern wollen scheint. In zunehmendem Ausmaß rückt Berings kritischer körperlicher Zustand in den Blickpunkt, der immer deutlichere Symptome der Epilepsie aufweist. Der Text endet mit der knappen Schilderung eines epileptischen Anfalls Berings, der - mit der Theorie der Schifffahrt zusammengeführt - in einen kosmischen Zusammenhang gestellt wird. Das zentrale Thema der Zeit bzw. Simultaneität macht sich auch in Parataxen und nach dadaistischer Manier ineinandergeschobenen Sätzen bemerkbar. Nicht zuletzt durch den Anhang in Form eines wissenschaftlichen Apparats wird der Text als Montage erkennbar; seine Intertextualität weist auf die gleichzeitige Präsenz unterschiedlichster Texte aus allen Zeiten im Werk hin. Der leitmotivische Kopf, das Köpferollen sowie das vorangestellte Foto des vom Statuenrumpf stürzenden Kopfs Mussolinis rücken den Text freilich in den Kontext des Politischen im Augenblick des Umsturzes. Gerhard Rühm (*1930) wuchs in einer Musikerfamilie in Wien auf; sein Vater war Kontrabassist bei den Wiener Philharmonikern. Rühm studierte Klavier bei Bruno Seidlhofer und Komposition an der Akademie für Musik und Darstellende Kunst in Wien, nahm 1953/ 54 beim Zwölftonkomponisten Josef Matthias Hauer Privatunterricht und begann früh mit experimentellen Kompositionen. 1952 lernte er Artmann kennen. Vom Konstruktivismus bzw. der Konkreten Poesie zeigte sich Rühm im Speziellen fasziniert. Ab 1954 war er freier Schriftsteller und Komponist, später auch bildender Künst‐ ler und begann Lautgedichte, visuelle Poesie, Fotomontagen, bildnerische Werke (automatische, gestische Zeichnungen, Buchobjekte) sowie Musik (Chansons, dokumentarische Melodramen, Vokalensembles, Klavierstücke, Text-Ton-Transformationen) zu produzieren, wobei er in allen Kunstsparten streng konzeptuell arbeitet und gerne deren Grenzen überschritt. In dem Schlüsselwerk rhythmus r (1958) werden Laut- und Schriftbilder eingesetzt, 112 III. Österreich <?page no="113"?> um den Tast- und Bewegungssinn der RezipientInnen zu fordern. Rühm gab 1967 die Anthologie der Wiener Gruppe und nach Bayers Tod dessen Werke heraus. Er verwaltet den Nachlass des deutschen expressionistischen Dichters Franz Richard Behrens, auf den das Lautgedicht zurückgeht. U.a. erschienen 1972 die gesammelten Theaterstücke (ophelia und die wörter), 1980 Chansons, Romanzen, Gedichte (geschlechterdings), 1993 der utopi‐ sche Roman textall, 2000, Gedichte, Sprechtexte, Chansons, Theaterstücke, Prosa (Um zwölf Uhr ist es Sommer) und 2019 Erzählungen und Gedichte (Lügen über Länder und Leute). In den 1970er-Jahren begann er sich mit radiophoner Poesie, streng konzeptuellen Hörstücken, zu beschäftigen und gilt als Pionier des „Neuen Hörspiels“. Zudem verfasste er experimentelle Poesie für zwei Stimmen, die er gemeinsam mit seiner Frau, der Musikpub‐ lizistin Monika Lichtenfeld, vorträgt. Aufgrund der Intermedialität seines künstlerischen Schaffens wird Rühms umfangreiches Werk nicht nur in Buchform, sondern auch in Form von Ausstellungen, Theateraufführungen und Rundfunkproduktionen präsentiert, sowie in performativen Lesungen und Konzerten meist in eigener Interpretation. Von 1964 bis 1977 lebte Rühm in West-Berlin, er war von 1972 bis 1995 zuerst Dozent, dann Professor für Freie Kunst an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg und im Anschluss an Artmann (1978-1982) Präsident der „Grazer Autorenver‐ sammlung“ (GAV). 2009 leitete er eine Meisterklasse an der „schule für dichtung“ in Wien. Er lebt in Köln und Wien. Für sein Werk wurde Rühm vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Karl-Sczuka-Preis (für Radiokunst; 1977, 2015), dem Großen Österreichischen Staatspreis für Literatur (1991) sowie dem Österreichischen Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst (2007). Im Herbst 2017 präsentierte das Kunstforum Wien Gerhard Rühm als einen der letzten Universalkünstler. Gerhard Rühms Theaterstück ophelia und die wörter (1968) ist der Ver‐ such, die literarischen Verfahren der Konkreten Poesie auf das dramatische Genre zu übertragen. Das Parasitärdrama basiert auf dem Wortmaterial von Shakespeares Drama Hamlet, konzentriert sich dabei aber auf den Part der Ophelia. Diese ist als einzige Figur auf der Bühne zu sehen, während die Rollen der anderen durch einzelne Nomina und Verben aus Ophelias Part ersetzt wurden. Diese aus einem Lautsprecher ertönenden Wörter sind allerdings in umgekehrter Reihenfolge angeordnet, sodass Ophelias erste Worte eine Reduktion ihrer letzten Worte zur ,Antwort‘ bekommt und der Eindruck eines Kreislaufs oder einer auf dem Kopf stehenden akustischen Spiegelung entsteht. Zusätzlich werden einzelne Wörter aus Ophelias Rede 3 Personen und Werke 113 <?page no="114"?> hervorgehoben, indem sie auf einer Metaebene durch Projektion eines Schriftbilds oder Bilds, durch Zeigen eines Requisits, durch Darstellungen zweier Akteurinnen oder durch Licht- oder Geruchseffekte erfolgen, wobei die Art der Umsetzung der Regie freisteht. Der Theatertext führt als eine Art Partitur alle drei Ebenen von links nach rechts nebeneinander an. In der Kombination von konventioneller Figurenrede, Off-Stimme/ Lautsprecher und direkten sinnlichen Eindrücken erweist sich das Stück als plurimedial. Im Titel wird durch die Verwendung des Begriffs „Wörter“ die Sprache als ei‐ gentliches Thema des Stücks angedeutet: „Wörter“ machen das Inventar des abstrakten Systems Sprache/ Langue aus, während „Worte“ die konkreten Realisierungen der Sprache/ Parole bezeichnen. Ophelias Worte stehen den Wörtern der deutschen Sprache gegenüber. Von links nach rechts gelesen setzt das Stück den Prozess der Rezeption - von der parole über die langue zur Vorstellung des außersprachlichen Signifikats - in Szene, umgekehrt jenen des Sprechens. ophelia und die wörter kann als transmediale Übersetzung des Saussure’schen Kommunikationsmodells in das Medium des Theaters verstanden werden, mit dem Effekt, die Kompatibilität von Gegenstand und Beschreibung, von Signifikat und Signifikant zu hinterfragen. Oswald Wiener (1935-2021) wuchs in Wien auf und studierte Rechtswis‐ senschaft, Mathematik, Musikwissenschaften und afrikanische Sprachen. In den 1950er-Jahren war er Jazztrompeter. Er kam über Konrad Bayer Ende 1952 zur Wiener Gruppe. Er spielte in Walter Terharens New-Orleans- Band Jazzband Jesus Christbaum und bei der Wirklichen Jazzband bei den makabren Festen und poetischen acten. Wiener formulierte 1954 das verloren gegangene Coole Manifest, er verfertigte Konstellationen, war an Gemein‐ schaftsarbeiten beteiligt, vernichtete seine frühen Werke jedoch nach den „literarischen cabarets“. Wiener lieferte die theoretische Untermauerung der literarischen Arbeiten: Er beschäftigte sich mit Sprachphilosophie und -theorie (Wittgenstein, Mauthner), Denkmethoden, Neopositivismus und Kybernetik. Seine theoretische Auseinandersetzung wird in seinem literari‐ schen opus magnum verbesserung von mitteleuropa, roman (1969) deutlich. Innerhalb der Wiener Gruppe war seine Aktivität mehr auf das Performative (die „literarischen cabarets“, kinderoper) gerichtet. Aufgrund seines profun‐ den kybernetischen Wissens wurde Wiener 1958 von der Wiener Niederlas‐ sung des Olivetti-Konzerns für den Bereich Organisation angestellt, bis 1967 leitete er dort die Abteilung Datenverarbeitung. Ab 1967 nahm er an Akti‐ onen teil und erfand mit Otto Muehl die ZOCK-Aktionen. Mit Günter Brus und Hermann Nitsch galt Oswald Wiener als Initiator der Aktion „Kunst 114 III. Österreich <?page no="115"?> und Revolution“ (von der Boulevardpresse als „Uni-Ferkelei“ bezeichnet), die am 7. Juni 1968 im Hörsaal Eins des NIG der Wiener Universität stattfand. Wiener wurde festgenommen und saß zwei Monate in Untersuchungshaft. Nach dem Freispruch floh er angesichts drohender Klagen nach West-Berlin. Dort eröffnete er gemeinsam mit seiner Frau, der Künstlerin Ingrid Wiener (geb. Schuppan) das Lokal Exil, Anfang der 1970er Jahre das AX Bax. Er unternahm viele Reisen, u. a. nach Kanada, Island, Italien, auch um an seinem theoretischen Werk weiterzuarbeiten oder Vorträge zu halten. Von 1980 bis 1985 studierte er in Berlin Mathematik und Informatik, danach ließ er sich eine Zeit lang in Dawson City, Yukon/ Kanada, nieder, wo das Paar wieder ein Restaurant betrieb, Wiener jedoch auch als Privatgelehrter an seiner Maschinentheorie und Künstlicher Intelligenz weiterarbeitete. Von 1992 bis 2004 war Wiener Professor für Poetik und künstlerische Ästhetik an der Kunstakademie Düsseldorf und lebte in Krefeld, danach in Wien und in der Steiermark. Er forschte und publizierte u. a. im Bereich der Erkenntnistheorie, Künstlichen Intelligenz und Neurowissenschaften. 1989 erhielt er den Großen Österreichischen Staatspreis für Literatur, 1992 den Grillparzer-Preis, 2006 den manuskripte-Preis des Landes Steiermark.- 1969 erschien Oswald Wieners die verbesserung von mitteleuropa, roman - ein Werk, das heute zu den Klassikern der Avantgarde gezählt wird. Der Band umfasst diverse Textgenres wie ein ,Inhaltsverzeichnis‘ in Form eines ausgewählten Personen- und Sachregisters, ein langes aphoristisch geprägtes „vorwort“, eine „hymne an den erzengel“, „allah kherim! die erscheinungen sind gerettet. reportage vom fest der begriffe“, „PURIM ein fest (für heimito dr. von doderer)“, „zwei studien über das sitzen“ und die „notizen zum konzept des bioadapters, essay“. Mit den Fußnoten, dem Anmerkungsapparat, den drei Appendices und den umfangreichen Literaturhinweisen gleicht der Text in seinem äußeren Erscheinungsbild einem wissenschaftlichen Werk. Formal sprengt dieser ostentativ Roman genannte Text also die Grenzen der Gattung, wie sie sich in unserem Gattungsverständnis eingebürgert hat, tatsächlich entspricht er jedoch dem Typus des Romans der Romantik, der fragmentarisch und formal nicht eingeengt war, sondern Elemente verschiedener Gattungen sowie literari‐ sche Darstellungen, philosophische Reflexionen und rhetorische Praxis in sich vereinen konnte. Wieners Roman weist eine ähnliche Heterogenität an Formen und Inhalten auf, vor allem aber bildet die Entwicklung des Autors bzw. des Text-Ich in der Auseinandersetzung mit der Welt den inneren Kern dieses Projekts: Steht anfangs noch die „Determinierung des 3 Personen und Werke 115 <?page no="116"?> 47 Eder, Thomas. Nachwort. In: Wiener, Oswald: die verbesserung von mitteleuropa, roman. Hrsg. und mit einem Nachwort von Thomas Eder. Salzburg: Jung und Jung. 2013. 48 Ebd. Denkens durch Sprache“ 47 in der affirmativen Rezeption Wittgensteins im Blickpunkt, so verlagert sich die Zielsetzung - u. a. durch Ironisierung des eigenen Standpunkts - hin zu einem Beschreiben-Wollen von Denken und Verstehen. Der Mensch wird nun im behavioristischen Verständnis als ein - auch durch die Sprache, Zivilisation und Gesellschaft - außengesteuertes und in seinem Individualismus eingeschränktes Wesen betrachtet. Dies führt zum Konzept des „bio-adapters“, einer Fusion von Mensch und Maschine, die durch das völlige Ersetzen der Welt zur Lösung aller Weltprobleme beitragen soll. Das Anarchische, das wie Grausamkeit, Hass und Gewalt große Teile des Romans prägt, wird in den Bereich der Kybernetik hineingetragen. Der Roman wird somit als „ein Stück Bewusstseinsphilosophie“ 48 lesbar. - 3.2 Wiener Aktionismus Günther Brus, Jahrgang 1938, wurde in Ardning in der Steiermark geboren. Er studierte an der Kunstgewerbeschule Graz und studiert ab 1956 an der Akademie für angewandte Kunst Gebrauchsgraphik. Er wechselte später in die Meisterklasse für Malerei (Eduard Bäumer) und freundete sich mit dem Schweizer Studenten und späteren Kollegen Alfons Schilling an. Wichtiges Vorbild war für ihn auch Arnulf Rainer. Er wandet sich einer gestischinformellen Malerei zu. 1960 schloß er Bekanntschaft mit Otto Mühl. 1961 nahm er an der von Monsignore Otto Mauer organisierten Ausstellung Geist und Form in der Galerie nächst St. Stephan teil. Dabei lernte er Hermann Nitsch und Adolf Frohner kennen. Im gleichen Jahr stellten Brus und Schilling ihre gestisch-abstrakten Bilder in der Galerie Junge Generation aus. In diesem Jahr lernte er auch seine spätere Frau Anna Steiner kennen, die er 1966 heiratete. 1964 kam es auf Otto Mühls Initiative hin zur ersten Aktion von Günter Brus (Ana, nach dem kroatischen Namen seiner Frau) in dessen Wohnatelier im zweiten Wiener Gemeindebezirk. Von Anfang an konzentrierte sich Brus darauf, den eigenen Körper ins Zentrum der Aktion zu setzen. In der darauffolgenden Aktion Selbstbemalung bemalte er indes nicht nur den eigenen Körper, sondern auch den seiner Frau, die dabei als Model posierte. Weitere Aktionen zum Thema Selbstbemalung und Selbstverstümmelung (1965) schlossen sich an. 1966 entwickelten Brus 116 III. Österreich <?page no="117"?> 49 Klocker, Hubert. Günter Brus. In: Badura-Triska / Klocker, S.-375. 50 Zit. nach Klocker, S.-376. und Mühl die Idee der Totalaktion, mittels deren eine direkte Begegnung von Unterbewusstsein und Wirklichkeit herbeigeführt werden sollte. Er beteiligte sich an dem Symposion Destruction in Art mit verschiedenen Einzel- und Gruppenbeiträgen. In dieser Zeit arbeitete er intensiv mit Rudolf Schwarzkogler zusammen. 1967/ 68 arbeitete er, von Kurt Kren am Konzept einer Körperanalyse, in deren Zentrum körperliche Ausscheidungen stehen. Dieses Projekt wurde dann bei der Veranstaltung Kunst und Revolution realisiert. Brus floh angesichts der drohenden Gefängnisstrafe nach Berlin. 1969 fand seine letzte Aktion in München statt (Zerreißprobe), in der der Künstler noch einmal mit vollem körperlichem Einsatz agierte („Keuchatem, Achselschweiss und Sehstörungen mit geröteten Augen“ 49 ). Noch einmal trat dabei ein Narrativ und Selbstbild zutage, bei dem der sich selbst opfernde Künstler gleichsam in die Nachfolge Christi eintritt. Nach dieser extremen Aktion erfolgte 1970 Brus’ radikale Abwendung von der Körperanalyse. Brus, zu dieser Zeit 32 Jahre alt, wendete sich der Literatur und der Zeichnung zu. Otto Mühl wurde 1925 in Grodnau im Burgenland geboren und 1943 als 18jähriger in den Reichsarbeitsdienst und ein Jahr als Soldat an die Front ge‐ schickt. 1952 begann er ein Studium an der Akademie der Bildenden Künste bei dem Wotruba-Schüler Heimo Kuchling. Bei dem Studium lernte er unter anderem Adolf Frohner kennen. Mühl arbeitete als Zeichentherapeut mit entwicklungsgeschädigten Kindern. Unter dem Einfluss von Günter Brus wendete sich Mühl der gestischen Abstraktion zu und propagierte die „Überwindung des Tafelbildes“ durch die Darstellung seines Vernichtungsprozesses“ 50 Ende des Jahres 1961 lernte er Hermann Nitsch kennen. Ergebnis der neuen Bekanntschaften war die Ausstellung Die Blutorgel ( Juni 1962). Mühl entwarf dabei sein ästhe‐ tisches Konzept einer obszönen und aggressiven Kunst (Der M-Apparat) und kooperierte mit Nitsch in dessen Mysterientheater. 1963 kam es zu weiteren spektakulären Aktionen wie dem freilich durch Polizeiintervention abgebrochenen Fest des psychophysischen Naturalismus und der Aktion Versumpfung eines weiblichen Körpers - Versumpfung einer Venus, bei der ein nacktes weibliches Modell mit Farbschlamm und Abfall beworfen wird. Mühl entwickelte sein Konzept der Materialaktion weiter, 1964 präsentierte er eine dieser performances im benachbarten Deutschland (Düsseldorf). 3 Personen und Werke 117 <?page no="118"?> In diesem Jahr heiratete er seine Lebensgefährtin Friederike Neiss, seine zweite Ehefrau. Zunehmend begann sich der Künstler für die Zusammenar‐ beiter mit Experimentalfilmern wie Ernst Schmidt jr. zu interessieren und entwickelte 1966 zusammen mit Brus das Konzept der Totalaktionen. Der unternehmerische Mühl nahm auch an dem Londoner Symposion Destruc‐ tion in Art teil. Im gleichen Jahr, 1966, gründete er das Institut für Direkte Kunst und organisierte in der Galerie nächst St. Stephan ein spektakuläres Aktionskonzert für den amerikanischen Happening-Künstler Al Hansen. Mühl betätigte sich als Filmproduzent (Grimuid, 1967) und entwickelte unter dem Eindruck der allgemeinen Politisierung das popularkulturelle Veranstaltungsformat Zock. Da Mühl in Österreich nicht mehr auftreten konnte, führte er 1968 bei der öffentlichen Präsentation seiner Filme sogenannte Pissaktionen durch und wurde in der Bundesrepublik Deutschland polizeilich gesucht. 1969 intensivierte er die Zusammenarbeit mit dem Experimentalfilmer Kurt Kren, der seine psychodramatischen Aktionen filmte. 1969 löste die Aktion Oh Tannenbaum in Braunschweig einen Skandal aus, als angesichts der „Kampfpause in Vietnam“ öffentlich ein Schwein geschlachtet und eine nackte Frau mit Blut, Urin und Kot beschüttet wurde, was eine Protest- und Unterschriftenaktion wütender Brauschweiger Bürger auslöste. Nach weiteren Aktionen im Jahr 1970 wendete sich Mühl vom Aktionismus ab. Er habe, schrieb er seinem Freund Oswald Wiener 1971, „keinen Spaß mehr Kunst zu produzieren“. Unter dem Einfluss der Schriften von Wilhelm Reich entwickelte er das Konzept der „Aktionsanalyse“, die er seit 1972 in einem verlassenen Anwesen im Rahmen einer Lebenskommune praktizierte. We‐ gen des Missbrauchs an Minderjährigen, vor allem Mädchen, geriet er in Konflikt und wurde rechtskräftig verurteilt. Hermann Nitsch (1938-2022) war gebürtiger Wiener, studierte zwischen 1953 und 1958 an der Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt Wien in der Klasse für Gebrauchsgraphik und arbeitete danach als Graphiker am Technischen Museum. Sein lebenslanger Freund war Rudolf Schwarzkogler, der durch ihn in Kontakt mit den anderen zukünftigen Aktionisten kam. In den Jahren von 1958 bis 1960, also vor den gemeinsamen Aktionen der vier Künstler, entwickelte er sein Konzept des Orgien-Mysterientheaters und damit verbunden die Technik seiner sog. Schüttbilder und begann schon 1960 mit seiner ersten Malaktion. In Frohner und Mühl später auch in Brus fand Nitsch Wegegefährten für seine neue Form theatralischer Kunst, was 1962 in Aktionen wie Die Blutorgel seinen Niederschlag fand. Noch im selben 118 III. Österreich <?page no="119"?> 51 Badura-Triska, Rudolf Schwarzkogler. In: Badura-Triska / Klocker, S.-392. Jahr fand in einer Aktion in Mühls Wohnung eine symbolische Selbstkreu‐ zigung des Künstlers statt. Seit 1964 fanden seine Aktionen im Rahmen des von ihm entworfenen Orgien-Mysterientheaters statt. Auch wenn Mühl und Nitsch weiter kooperierten, wurde doch deutlich, dass sich die Konzepte der beiden Künstler deutlich voneinander unterschieden, verstand doch Nitsch seine Materialschlachten etwa an Tieren im Sinne eines Opfers, während Nitsch seine Aktionen ironisch-destruktiv gedeutet sehen wollte. Dieser Unterschied charakterisierte auch das Auftreten der beiden Künstler bei dem Symposion Destruction in Art (1966): Während Nitsch in einem Vortrag sein Mysterientheater vorstellte, führten Brus und Mühl ihre Aktionen vor. Nitsch hielt sich auch von den gesellschaftspolitischen Aktionen fern, die Mühl und Brus organisierten. Für eine Zeitlang wurde München zum Dreh- und Angelpunkt seines künstlerischen Schaffens, ehe er 1973 seine 41. Aktion zu Pfingsten in dem von seiner Frau und ihm erworbenen Schloss in Prinzendorf durchführte, mit anhaltender öffentlicher und medi‐ aler Resonanz. Zu seinen Lebzeiten wurde von der Niederösterreichischen Landesregierung und seinem Freund, dem langjährigen Landeshauptmann Erwin Pröll, eigens ein Museum für ihn in Mistelbach eingerichtet. Rudolf Schwarzkogler, Jahrgang 1940 und wie Nitsch in Wien geboren, war der jüngste der vier Aktionskünstler. Von 1957 bis 1961 besuchte er wie dieser die Höhere Graphische Lehr- und Versuchsanstalt (Klasse für Gebrauchsgraphik). Sein Klassenkamerad war Heinz Cibulka, der später bei mehreren Aktionen des Künstlers und auch denen seines Freundes Nitsch als Modell agierte. Schwarzkogler, von Lucio Fontana, Yves Klein und Piero Manzoni beein‐ flusst, wirkte an mehreren Aktionen seines Freundes Hermann Nitsch mit und realisierte 1965 in der Wohnung seines Freundes Heinz Cibulka und dessen Frau Franziska, die ebenfalls in diversen Aktionen mitwirkte, seine erste eigene Aktion Hochzeit. Dabei fällt die intensive Zusammenarbeit mit verschiedenen Photokünstlern auf, die von essentieller Bedeutung für das Konzept der inszenierten Photographie sind. Parallel dazu entstanden Objektbilder, von denen nur das Sigmund-Freud-Bild erhalten geblieben ist - alle anderen hat der Künstler selbst zerstört. 51 Seine eigenständigen Akti‐ onen führte der Künstler fast im Rahmen eines einzigen Jahres durch, danach beteiligte er sich nur mehr an einigen Aktionen wie dem Aktionskonzert für Al Hansen. 1967/ 68 schloss er sich eng an Günter Brus und dessen Frau 3 Personen und Werke 119 <?page no="120"?> Anna an. Die dabei entwickelten Konzepte wurden freilich nie realisiert. Das hing wohl auch mit seiner zunehmenden psychischen Erkrankung und akuten depressiven Schüben zusammen. Er starb 28-jährig am 20. Juni 1969 nach einem Sturz aus dem Fenster seiner Wohnung in der Heumühlgasse im vierten Wiener Gemeindebezirk, wobei nicht geklärt ist, ob es sich um einen Suizid oder um einen Unfall handelte. Durch die Präsentation einiger Photographien im Rahmen der von Harald Szeemann kuratierten documenta 5 (1972) wurde ihm eine erste posthume Ehrung zuteil. 1992 erschien ein von Eva Badura-Triska und Hubert Klocker herausgegebener Band über das Werk von Rudolf Schwarzkogler. Valie Export, geb. Waltraud Lehner, 1940 in Linz geboren, studierte an der Kunstgewerbeschule in Linz und bildete sich zur Designerin aus. Seit 1965 arbeitet sie auch im filmischen Bereich. 1967 nahm sie den Künstler-Namen VALIE EXPORT an. Schwerpunkte ihres Schaffens waren seit Ende der 1960er Jahre Aktionskunst, Feminismus und Expanded Cinema. 1968 Tapp und Tastkino (zusammen mit ihrem Partner Peter Weibel). 1977 Teilnahme an der Kassler documenta, 1980 vertrat sie zusammen mit Maria Lassnig Österreich bei der Biennale in Venedig, 1985 Nominierung ihres Spielfilms Die Praxis der Liebe (Kategorie Buch und Regie) für den Berliner Bären (Filmfestspielel Berlin). Hochschullehrerin u. a. in Wisconsin, Berlin und Köln. 2015 erwarb die Stadt Linz ihr Archiv und eröffnete am 11. November 2017 in der Tabakfabrik Linz das Valie Export Center. Ihr Vorlass gelangte damit in eine ehemalige Produktionsstätte des Unternehmens, dessen Marke (Smart Export) sie ihren Künstlernamen entnommen hat. Vor allem in ihren Anfängen war die Künstlerin mit dem Wiener Ak‐ tionismus verbunden und kannte deren Protagonisten auch persönlich. So war sie bei Film Action Text (1969) dabei. 1970 legte sie zusammen mit ihrem damaligen Partner Peter Weibel eine erste Dokumentation des Wiener Aktionismus vor. In ihrem persönlichen Stil und ihren dezidiert feministischen Positionen wie auch in ihrem Interesse für die technischen Aspekte von Film und Kommunikation unterschied sie sich freilich dezidiert von den Wiener Aktionisten. Kunstgeschichtlich wird sie vor allem den Anfängen feministischer Kunst in Österreich sowie dem Expanded Cinema zugerechnet. 120 III. Österreich <?page no="121"?> Chronologie 12. November 1918 Gründung der Republik Österreich (seit 21. Oktober offiziel‐ ler Name des Staates) 1920-1934 Vorherrschaft der Christsozialen Partei in Österreich, der Sozialisten im ‚Roten Wien‘. 1920 Übersiedlung der Budapester Avantgardegruppe Ma nach Wien. Zusammenarbeit mit Friedrich Kiesler und den Wiener Kinetisten. 1924 Internationale Ausstellung neuer Theatertechnik, Wien, or‐ ganisiert von Friedrich Kiesler unter Beteiligung italienischer Futuristen (weitere Ausstellungsprojekte Kieslers 1925 und 1926 in Paris und New York). 1926 Erika Giovanna Klien Das Kinetische Theater. 15. Juli 1927 Großdemonstration sozialdemokratischer Arbeiter wegen eines umstrittenen Gerichtsurteils. Justizpalastbrand. 9. November 1930: Bei der letzten Nationalratswahl der Ersten Republik wird die SDAP stimmenstärkste Fraktion. 4./ 7. März 1933 „Selbstausschaltung des Parlaments“ durch Bundeskanzler Engelbert Dollfuß. Der Ministerrat erlässt ein Versamm‐ lungs- und Aufmarschverbot und führt die Pressezensur ein. 10.-Mai 1933 die Regierung verordnet die Aussetzung aller Wahlen auf Bundes-, Landes- und Gemeindeebene. Es folgt das Verbot von KPÖ und NSDAP. 15. Jänner 1934 Hermann Bahr, der Programmatiker der Wieder Moderne, stirbt in München. 1.-Mai 1934 Mit der neuen Verfassung wird der Ständestaat (1934-1938) begründet. 25. Juli 1934 Ermordung von Engelbert Dollfuß. Niederschlagung des nationalsozialistischen Putsches. Februar/ März 1935 Ausstellung Italienische futuristische Luft- und Flugmalerei. 12.März 1938 Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Österreich. „An‐ schluss“ Österreichs an das Dritte Reich. 27./ 29. April 1945 Proklamierung eines unabhängigen Österreichs. Konstituie‐ rung einer Konzentrationsregierung und Karl Renner (Sozi‐ aldemokraten, ÖVP, KPÖ, Unabhängige) 1947 Gründung des Art Club in Wien Chronologie 121 <?page no="122"?> April 1953 H. C. Artmanns Acht-Punkte-Proklamation des Poetischen Actes 15. Mai/ 26. Okto‐ ber 1955: Österreich erhält seine vollständige Unabhängigkeit zurück und deklariert sich als neutraler Staat. 17. Mai 1955 H. C. Artmanns Manifest gegen die Wiederbewaffnung Öster‐ reichs 1958 med ana schwoazzn dintn von H. C. Artmann 6. Dezember 1958 „erstes literarisches cabaret” von Oswald Wiener, Konrad Bayer, Gerhard Rühm und Friedrich Achleitner 15. April 1959 „zweites literarisches cabaret“ 18. November 1960 Hermann Nitsch, 1. Malaktion, Technisches Museum, Wien 1.-5. Juni 1962 „Exerzitien“ Die Blutorgel 28. Juni 1963 Fest des psycho-physischen Naturalismus, Atelier Mühl 1964 Uraufführung der kinderoper von Oswald Wiener, Konrad Bayer, Gerhard Rühm und Friedrich Achleitner 9.-11. September 1966 Destruction in Art Symposium, London, unter Beteiligung von Nitsch, Mühl, Brus und Weibel. April 1967 Beginn des Veranstaltungsprojektes Zock-Aspekte einer To‐ talrevolution (Otto Mühl) 9. November 1967 Direct Art Theatre Direct Art Happening. (Mühl/ Brus) 7. Juni 1968, Kunst und Revolution, Univ. Wien (Günter Brus, Hermann Nitsch, Oswald Wiener) 1968 Valie Export, Tapp- und Tastkino 1968, München. 1. Mai 1970: Wahlsieg der SPÖ unter Bruno Kreisky 26./ 27. Juli 1975, 50. Aktion (Hermann Nitsch), Staatsgalerie Stuttgart. 122 III. Österreich <?page no="123"?> IV. Polen Kalina Kupczyńska / Beata Śniecikowska 1. Überblick Die Vielfalt der Gruppierungen der polnischen Avantgarde machte Polen zu einem wichtigen Zentrum künstlerischer Experimente und Innovationen. Wegen ihrer geografischen Lage und der ethnischen und kulturellen Durch‐ mischung innerhalb der mitteleuropäischen Kunstszene spielte sie eine doppelte Rolle: Zum einen diente sie als Resonanzraum für künstlerische Ideen aus Ost und West, zum anderen brachte sie durch eigene künstlerische Interventionen Impulse für die Entwicklung alternativer Kunst in der Region hervor. Die Phase der „Großen Avantgarde“ in Polen begann in den Wirren des Ersten Weltkriegs und der neu erlangten Unabhängigkeit Polens mit der Gründung der Polnischen Expressionisten (1917, seit 1919 „Formiści“ - Formisten, Krakau), der Gruppe „Bunt“ (Revolte; 1918-1920, Poznań) und der Formation „Jung Jiddisch“ (1919-1921, Łódź). Darauf folgte eine kurze Aktivitätsphase der Futuristen (ca. 1919-1923, Warschau und Krakau), Etablierung der Krakauer Avantgarde (1922 bis Anfang der 1930er) sowie der sogenannten zweiten Avantgarde (Gruppe „Reflektor“ in Lublin, ca. 1923-1928) und die Aktivitäten der Konstruktivisten (Gruppe „a.r.“, 1929- 1936). Die Entwicklung der Neoavantgarde wurde durch die Dynamik politi‐ scher Ereignisse geprägt - nach vereinzelten Versuchen künstlerischer Aktivitäten in den 1940er Jahren, folgte ab 1955 ein kurzes Tauwetter. Vor dem Hintergrund einer gewissen Entspannung formierten sich polni‐ sche Varianten der Strömungen Tachismus und Informel. In den 1960er Jahren dominierte die von den kommunistischen Behörden tolerierte neo‐ konstruktivistische Richtung; in den 1970er Jahren konnte sich dank reger Ausstellungstätigkeit von international renommierten Galerien (Foksal in Warschau, Akumulatory 2 in Poznań) der polnische Konzeptualismus ent‐ wickeln. Im Anschluss an die Solidarność-Bewegung sowie das daraufhin <?page no="124"?> ausgerufene Kriegsrecht in den Jahren 1981-1983 kam es zu einem Einfrie‐ ren der legalen künstlerischen Tätigkeit und zur Herausbildung eines Un‐ dergrounds, des sog. „zweiten Umlaufs“ (drugi obieg). Ab Anfang/ Mitte der 1980er formierten sich die politisch-künstlerischen, neodadaistischen Grup‐ pierungen des sogenannten „dritten Weges“ („Pomarańczowa Alternatywa“ - Orangene Alternative in Wrocław, die Warschauer „Neue Bieriemiennost“, „Koło Klipsa“ - Kreis Klipsa in Poznań). - Die „Große Avantgarde“: 1910er-, 1920er-, 1930er-Jahre Als Herwarth Walden 1913 in Lviv die Ausstellung der Futuristen, Kubisten und Expressionisten organisierte, war die lokale Resonanz gering. Dass die expressionistische Kunst dennoch ein gewaltiges Potenzial für die Erneue‐ rung auch der polnischen Kunst hatte, zeigte sich einige Jahre später in Krakau, Poznań und in Łódź. Die Formisten (Formiści) - Tytus Czyżewski, Leon Chwistek, Stanisław Ignacy Witkiewicz (Witkacy), Zbigniew und Andrzej Pronaszko - verzichteten zwar 1919 auf die Bezeichnung ‚Expres‐ sionismus‘ im Gruppennamen, aber die Inspiration durch den deutschen Expressionismus und polnische Volkskunst war klar erkennbar. Literaten, visuelle Künstler und Architekten, die zu dieser Gruppe gehörten, waren von dem Primat der Form in der Kunst und der Notwendigkeit der Abkehr von naturalistischer Abbildung der Wirklichkeit überzeugt. Die Vernissage der Ausstellung der polnischen Expressionisten in der Krakauer Gesellschaft der Freunde der Schönen Künste im November 1917 gilt als Anfang der Avantgarde in Polen. Die Zeitschrift Formisten war eine der ersten und wichtigsten Publikationsorgane der Avantgarde. Zu den besonders produktiven Formisten zählte Stanisław Ignacy Wit‐ kiewicz (Witkacy), dessen Œuvre neben expressionistisch angehauchten Gemälden, Theaterstücken, Romanen auch ästhetische Konzeptionen wie teoria Czystej Formy (Theorie der reinen Form, 1919) umfasst. Witkacys „reine Form“ war zum einen ein Effekt des Überdrusses an der ästhetischen Produktion des Jungen Polen, einer polnischen Facette der Moderne Ende des 19. Jahrhunderts, und zum anderen Ausdruck einer tiefen Kulturkrise und der Notwendigkeit einer ‚Entschlackung‘ der Kunst durch radikalen Bruch mit dem Realismus. Der Expressionismus manifestierte sich stark in der radikalen, sozial engagierten Posener Gruppe Bunt (u. a. mit dem Maler und Redakteur der „Bunt“-Zeitschrift Zdrój (Quelle) Jerzy Hulewicz, dem Bildhauer August 124 IV. Polen <?page no="125"?> Zamoyski, dem Dichter und Publizisten Stanisław Kubicki sowie der Künst‐ lerin Margarete Kubicka). Die Bunt-Künstler, die zum Teil in Berlin studiert hatten, unterhielten Kontakte mit den deutschen Expressionisten, vor allem mit Die Brücke. Die Einflüsse aus Deutschland zeigten sich in der Vorliebe für Holzschnittkunst, wo sich neben biblischen Motiven Akte und Porträts, wie auch dynamische Formen finden lassen. Eine andere Facette des Expressionismus zeigte sich im Schaffen der Lodzer Gruppe Jung Jiddisch (1919-1921), wo formale Ansätze aus dem deutschen Expressionismus mit Akzenten der jüdischen (Volks-)Kunst kom‐ biniert wurden. Auch die Jung-Jiddisch-Künstler - u. a. Moische Broderson (Dichter, Grafiker), Jankiel Adler (Maler), Henryk (Henoch) Barczyński (Maler, Grafiker), Henryk Berlewi (Maler, Grafiker) - lernten die neue Ausdruckskunst teilweise in Deutschland kennen. Darüber hinaus galt für sie auch der russische Konstruktivismus als wichtige Referenz. Die künstlerische Aktivität von Jung-Jiddisch zeichnete sich durch eine große kulturelle wie formale Heterogenität aus. Parallel zu den expressionistisch inspirierten Gruppierungen kamen futu‐ ristische Dichter zu Wort (1919-1923) - und zwar in zwei unterschiedlichen kulturellen Zentren Polens, in Warschau (Anatol Stern, Aleksander Wat) und in Krakau (Bruno Jasieński, Stanisław Młodożeniec, Tytus Czyżewski). 1921 kam es zu einer Vereinigung der beiden Gruppen, der polnische Futurismus blieb dabei sehr heterogen. Die Dichter experimentierten mit der Syntax, mit Wortschöpfung und Wortmusikalität, sie ließen sich von der heimischen Folklore, aber auch vom russischen und, deutlich weniger, vom italienischen Futurismus und dem Dadaismus inspirieren. Die Künstler manifestierten ihre künstlerische Freiheit und ihre Abkehr von jeglichem sozialpolitischen Engagement, die in der Semantik und in schockierender Poetik ihrer Texte sichtbar war. In den 1920er Jahren war auch die Krakauer Avantgarde aktiv (Tadeusz Peiper, Julian Przyboś, Jalu Kurek, Jan Brzękowski) - eine Gruppierung mit einem kohärenten konstruktivistischen Programm, das die polnische Avant‐ garde und Neoavantgarde besonders geprägt hat. Die Poesie, fern jeglichem „Exhibitionismus“, sollte eine präzise, rigorose Konstruktion sein, deren Metaphern sich zu „schönen Sätzen“ formen sollten. Ihr Publikationsorgan hieß Zwrotnica (Die Weiche, (1922-1923, 1926-1927), ihr Gründer und Re‐ dakteur war Peiper. In Zwrotnica erschienen neben den programmatischen und literarischen Texten der konstruktivistischen Künstler Gedichte der polnischen Futuristen, Übersetzungen der Texte von Vladimir Majakovskij 1. Überblick 125 <?page no="126"?> und Sergei Esenin, Tristan Tzara und Filippo Tommaso Marinetti, Repro‐ duktionen der Werke u. a. von Léger, Giacomo Balla, Umberto Boccioni, Kasimir Malewitsch sowie Theatertexte von Witkacy. Die Bedeutung des konstruktivistischen Gedankens in den bildenden Künsten und in der Literatur manifestierte sich außerdem in der Gruppe a.r. (1929-1936) mit Władysław Strzemiński, Katarzyna Kobro, Julian Przy‐ boś und Henryk Stażewski. Die Abkürzung „a.r.“ lässt sich als „artyści rewolucyjni“ (revolutionäre Künstler) oder „awangarda rzeczywista“ (reale Avantgarde) dechiffrieren. Den Impuls gab vor allem das Interesse an Er‐ kundung des konstruktivistischen Potentials in Wort und Bild. Die Aktivität der a.r.-KünstlerInnen bestand weniger im Erstreben einer einheitlichen ästhetischen Linie als in der Erarbeitung theoretischer Konzepte auf der Grundlage des Konstruktivismus bzw. Unismus. Ihr großes Verdienst war die Gründung der Internationalen Sammlung Moderner Kunst in Lodz, die später zur Etablierung des Lodzer Kunstmuseums (Muzeum Sztuki w Łodzi) beigetragen hat. Neben den großen Avantgardezentren in Warschau, Krakau und Poznań ist es notwendig, auch die Lubliner Gruppe zu erwähnen, die sich um die Zeitschrift Reflektor (Scheinwerfer) bildete (1923-1925). Es war das Schaffen des Dichters Józef Czechowicz, das den literarischen Ton der Zeitschrift wesentlich bestimmte. Obwohl sie durch die avantgardistische Produktion der Futuristen sowie der Konstruktivisten angespornt war, war die literarische Erneuerung bei Reflektor vor allem durch die Hinwendung zum magischen Symbolismus geprägt. In Lviv versammelten sich progressive MalerInnen in der Gruppe Artes, zu der u. a. Aleksander Krzywobłocki, Margit Reich-Sielska, Henryk Streng (eig. Marek Włodarski) gehörten. Die Bezeichnung „Artes“ spiegelt die Intention der Inklusion aller Kunstsparten wider; in der Praxis bedeutete dies die gleichwertige Behandlung von Malerei, Grafik und architektonischen Projekten. Inspiriert waren die Artes-KünstlerInnen vor allem von franzö‐ sischen Malern wie Léger sowie von den Surrealisten. Als surrealistisch wurden alle Formen der Verzerrung der realistischen Darstellung verstan‐ den, darunter Groteske, Primitivismus und die Verbindung von realen und phantastischen Motiven. 126 IV. Polen <?page no="127"?> Neoavantgarde 1945-1989 Nach dem Zweiten Weltkrieg sind zuerst Bemühungen Tadeusz Kantors zu vermerken, den Surrealismus in den polnischen Boden zu verpflanzen. Noch während des Krieges organisierte Kantor private Aufführungen u. a. von Cocteaus Orpheus, und initiierte eine Künstlergruppe (Grupa Młodych Plastyków, Gruppe Junger Maler), die 1945 und 1946 Ausstellungen in Krakau zeigte. 1948 gelang es Kantor, die Erste Ausstellung Moderner Kunst in Krakau zu organisieren, die sich als Präsentation der avantgardistischen Strömungen Polens verstand. Die Ausstellung wurde nach einem Monat geschlossen, nachdem die sozialrealistischen Imperative in der Kunst ein‐ geführt wurden. Ein erstes „Tauwetter“ erfolgte kurz nach Stalins Tod im Jahr 1953. Man bemühte sich um eine neue Perspektive auf das literarische Leben der Zwischenkriegszeit, die die Vielfalt der Strömungen umfassen sollte. Zum anderen setzte sich in Polen die Informel durch, in der Warschauer Kunstgalerie Zachęta wurde 1957 die Zweite Ausstellung Moderner Kunst organisiert, u. a. mit Tadeusz Kantor, Oskar Hansen, Henryk Stażewski, Alina Szapocznikow und Erna Rozenstein (Abb. 1). 1. Überblick 127 <?page no="128"?> Abb. 1: Tadeusz Kantor bei Dreharbeiten zum Film Uwaga - malarstwo! (Achtung - Male‐ rei! ) 1957 128 IV. Polen <?page no="129"?> 1957 gründete Kantor die Krakauer Galerie Krzysztofory, um die sich die Tätigkeit der Zweiten Krakauer Gruppe (u. a. mit Jerzy Bereś, Erna Rozen‐ stein, Alfred Lenica) organisierte. Im Keller der Galerie war seit 1955 Kantors Theater Cricot-2 tätig. In dieser Zeit (bis zum Ende der 1950er Jahre) wurde die Zeitschrift Przegląd Artystyczny (Kunstschau) zu einem wichtigen Forum der progressiven Kunst (die Zeitschrift war auch in der Tschechoslowakei erhältlich, was für den internationalen Austausch wichtig war). Parallel dazu entwickelte sich in Polen der (Neo-)Konstruktivismus - er wurde seit den 1960ern (wieder) zu einer Visitenkarte der polnischen Kunst im Ausland. Das von Strzemiński entwickelte konstruktivistische Konzept wurde nach dessen Tod in den 1950er Jahren von Künstlern wie Henryk Stażewski und seit Anfang der 1960er Jahre auch von Roman Opałka weiterentwickelt. In Stażewskis architektonischen Kompositionen wurden in die monochrome Bildfläche reliefartig geometrische Elemente eingebaut, die Kompositionen blieben streng in einem vertikalen oder horizontalen Raster gefangen. Eine Faszination für die weiße und graue Farbe teilte Stażewski mit Roman Opałka, der 1965 sein lebenslang realisiertes Projekt der gezählten Bilder (Obrazy liczone) initiierte. Opałka, beeinflusst durch die analytische Denkweise Strzemińskis, erweiterte diese konzeptuell - etwa durch den Versuch, die Lebenszeit in seinem Werk zu visualisieren, indem er jedem seit 1972 gemalten Bild ein Prozent weißer Farbe zugab. Das Ziel war ein „Malen im Weiß“ - eine Präfiguration des Todes, und zugleich eine durch die kommunistische Parteiregierung akzeptierte Form der Abstraktion. Die Ästhetik der weißen Leinwand ließ die konstruktivistisch inspirierten Künstler an der universellen Kulturentwicklung partizipieren und war eine willkommene Flucht vor der verordneten sozialistischen Doktrin. Diese Doktrin manifestierte sich in realen Direktiven: 1958 wurde be‐ kanntgegeben, die bildende Kunst dürfe ab sofort nur noch 15 Prozent Abstraktion enthalten. Anfang der 1960er-Jahre griffen die Behörden durch - die progressive Zeitschrift Struktury (Strukturen, 1959-1961) der Lubliner Gruppe Zamek (Schloss) musste nach elf Heften eingestellt werden. Es entwickelten sich dennoch (und deshalb) diverse Formen des Experiments - Kantor organisierte in Krzysztofory Wystawa Popularna (Populäre Ausstel‐ lung, 1963), in deren Rahmen er seine Faszination für „arme“ „degradierte“ Objekte und zugleich für alle Formen der Verpackung (Emballage, 1967) zeigte. Ein Ausbruch aus der Fläche der Leinwand manifestierte sich in den Happenings von Włodzimierz Borowski, einem Künstler aus der Lubliner 1. Überblick 129 <?page no="130"?> Gruppe Zamek, der in der Tradition Marcel Duchamps bereits Ende der 1950er Jahre eine eigene Form der Objektkunst entwickelte. In den 1960er und 1970er Jahren organisierte auch Tadeusz Kantor spektakuläre Happe‐ nings mit einer theatralischen Note, explizit politisch waren die Performan‐ ces von Jerzy Bereś. Aus dieser Zeit (1970er Jahre) erwähnenswert ist die Tätigkeit des Künstlerpaares Kwiekulik (Zofia Kulik und Przemysław Kwiek), die in ihren Performances Alltag und Politik thematisierten. Was die künstlerische (und aktionistische) Aktivität in Polen auch jenseits der vorgezeichneten Grenzen des Erlaubten möglich machte, war eine Vielzahl von privaten Galerien, die seit den 1960er-Jahren entstanden und die Sonderstellung Polens innerhalb des sogenannten „Ostblocks“ mitbeeinf‐ lussten. 1966 wurde die bereits erwähnte Warschauer Galerie Foksal eröff‐ net, in Wrocław wurde die Galerie Pod Moną Lizą (Zu Mona Lisa, 1967-1971) gegründet, in Lublin Labirynt (Labyrinth, seit 1956), ebenfalls in Warschau Repassage (in den 1970er Jahren mit Schwerpunkt in Performance-Kunst) und in Poznań Akumulatory 2 (1972-1990). In den 1970er-Jahren konnte die polnische Neoavantgarde dank des Personalwechsels an der Parteispitze im Rahmen der sog. Gierek-Ära eine gewisse Freiheit für sich beanspruchen, zumindest solange sie sich nicht offen zur Tagespolitik äußerte. Die konzeptuelle Kunst bekam in Polen einen starken Auftakt mit dem Kunstsymposion (Sympozjum plastyczne) in Wrocław 1970, sowie, im selben Jahr, mit dem VIII. Treffen der Künstler und Kunsttheoretiker in Osieki. Osieki war in den Jahren 1963 bis 1981 ein wichtiger Treffpunkt neoavant‐ gardistischer Kunstschaffender, es vereinte künstlerische Interventionen mit Diskussionen über aktuelle Phänomene in der progressiven Kunst. In Osieki war u. a. Jarosław Kozłowski aktiv - angefangen mit sprachkritischen Arbeiten in den 1970er Jahren (u. a. Ćwiczenia z semiotyki, Übungen in Semiotik, 1977), dekonstruierte er in den 1980ern in einer Serie von Arbeiten (Zeichnungen, Installationen) idealistische Vorstellungen, bezogen auf die Rolle des Künstlers und der Kunst (Mitologie sztuki; Mythologien der Kunst, 1980er Jahre). In die Konzeptkunst schreibt sich auch das Schaffen von KünstlerInnen wie Krzysztof Wodiczko und Natalia LL ein, um die markantesten zu nennen. Wodiczko führte die von Kozłowski vertretene Tendenz der konzeptuellen Kunst teilweise mit anderen Mitteln weiter, er arbeitete im Bereich der Video- und Objektkunst, der Installationen und Zeichnungen. Bekannt sind seine Objekte Pojazd-Platforma und Pojazd-Podium (Fahrzeug-Plattform, Fahrzeug-Podium, 1973); das Letztere bewegte sich, wenn man sprach. 130 IV. Polen <?page no="131"?> Wodiczko bezog sich damit kritisch auf die ritualisierten mehrstündigen Vorträge der Parteigenossen. Seit 1977 im Westen (Toronto, New York), realisierte Wodiczko Arbeiten, die das Leben der Marginalisierten thema‐ tisierten (u. a. Pojazd dla bezdomnych, Fahrzeug für Obdachlose, 1988- 89), sowie gesellschaftskritische großflächige Videoprojektionen im öffent‐ lichen Raum (The Border Projection, in San Diego und Tijuana, 1988). Die Arbeiten von Natalia LL (Lach-Lachowicz) dagegen sind als ein Beitrag zur feministischen Kunst der frühen 1970er-Jahre bekannt. Die heute bekannt‐ esten Installationen Sztuka konsumpcyjna (Konsumkunst, 1972) und Sztuka postkonsumpcyjna (Post-Konsum-Kunst, 1975) bestehen aus einer Fotoserie und einem Video und zeigen Frauen beim Essen von Bananen, Würsten und Fruchtgelees, wobei unmissverständlich erotische Konnotationen in den Vordergrund rücken. Eine wichtige Erscheinung im Bereich des filmischen Experiments war „Warsztat Formy Filmowej“ (Werkstatt der Filmform, 1970-1977) in Łódź. Ursprünglich eine AG der Studenten und Absolventen der Lodzer Filmhoch‐ schule, entwickelte sich die Gruppe zu einer kritischen und kreativen Ge‐ meinschaft. Zum Kern der Gruppe gehörten u. a. Wojciech Bruszewski (Mul‐ timediakünstler, Fotograf, Filmregisseur), Józef Robakowski (Kunstkritiker, Filmregisseur, Konzept- und Videokünstler), Ryszard Waśko (Multimedia‐ künstler, Kurator). Józef Robakowski, spiritus rector der Gruppe, strebte eine Reinigung der Filmsprache an - durch eine in Kurzfilmen vorgenommene Analyse der Filmsprache wollte er zu einer eigenständigen Betrachtung der medialen Besonderheit der Filmästhetik anregen. In den minimalistischen Filmen Idę (Ich gehe, 1973) und O palcach (Über Finger, 1979) konzentrierte sich Robakowski darauf, die Körperlichkeit des Filmautors zu zeigen. In der Literatur der 1960er- und 1970er-Jahre machte sich die Neue Welle bemerkbar (mit Stanisław Barańczak, Julian Kornhauser, Ryszard Krynicki) - eine neue Generation von Dichtern debütierte u. a. in der Literaturzeitschrift Twórczość (Schaffen, gegründet 1945). Symptomatisch war die frühe Dichtung von Krynicki und Kornhauser - der Gedichtband G (1971, Eigenverlag) von Krynicki bestand aus postdadaistischen Fotomon‐ tagen und Collagen von Zitaten aus der Tagespresse, die neue semantische Verbindungen eingingen und durch die visuelle Komponente (Typographie) die Fremdheit der Sprachbausteine demonstrierten. In den Manifesten der Neuen Welle fiel bei der Diversität der programmatischen Positionen die anti-ästhetische Haltung auf, die Bestandsaufnahme einer Sprachkrise, die 1. Überblick 131 <?page no="132"?> auf die Universalisierung der öffentlichen Kommunikation durch realsozia‐ listisch gesteuerte Medien zurückging. Die 1980er Jahre brachten mit der Entstehung von Solidarność, dem Kriegszustand und der Delegalisierung der Gewerkschaft 1981 einige mark‐ ante Phänomene mit sich: Im Bereich der Literatur organisierte sich der sog. drugi obieg (Untergrundverlage und -presse), es formierten sich künst‐ lerische Aktionsgruppen, die Happenings veranstalteten; zugleich, relativ unbehelligt von der staatlichen Zensur, entwickelte sich die polnische Kon‐ zeptkunst. 1979 entstand die bis heute aktive neoavantgardistische Gruppe Łódź Kaliska (der Name der Gruppe war provokativ - Łódź Kaliska war da‐ mals ein bahntechnisch wichtiger, aber zugleich ein obskurer Bahnhof), die fotografisches und filmisches Experiment in den Bereich der Performance und des programmatischen Klamauks überführte. Einen explizit spielerischen Charakter hatten die Happenings der aus Wrocław stammenden Gruppe Pomarańczowa Alternatywa (Orangene Al‐ ternative, 1982-1990), deren Gründer Waldemar Fydrych (aka Major) die Be‐ wegung als „sozialistischen Surrealismus“ bezeichnete. In den Happenings wurden die Absurditäten des real existierenden Sozialismus ausgelacht - „Alternatywa“ organisierte eigene kommunistische Feiern (Tag der Arbeit, Frauentag, Tag der Miliz, etc.). Seit Ende der 1990er Jahre propagierten Zenon Fajfer und Katarzyna Bazarnik „Liberatura“, das Konzept einer „totalen Literatur“, das sich in die Reihe neoavantgardistischer Experimente einschrieb, in denen die konkrete Materialisierung der Elemente der literarischen Produktion (Typographie, Buchform, Layout, Papierqualität) durch Verfremdungsverfahren eine Re- Semantisierung erfuhren. „Liberatura“ spielte mit dem Sinn der Worte libertas (lat. Freiheit), liber (lat. Buch) und libra (lat. Waage, im Sinn von: Schreiben-Wiegen von Buchstaben), was darauf hinauslief, dass das Medium Buch nicht ein Container für künstlerische Inhalte war, sondern selber zum künstlerischen Produkt avancierte (als Buch-Flasche, Buch-Ziegelstein). Die genannten Tendenzen - Aktionskunst bzw. Performance, konzeptu‐ elle Kunst, weniger (Neo-)Konstruktivismus - waren nach der Wende 1989 weiterhin prägend für die polnische Neoavantgarde und wurden u. a. von KünstlerInnen bzw. Künstlergruppen wie Zbigniew Libera (Konzeptkunst), Łódź Kaliska (Aktionskunst), Marek Chlanda (Performance, Skulptur), Mag‐ dalena Abakanowicz (Installation, Environment), Jerzy Bereś (Performance), Jerzy Grotowski (Theater-Experiment, Aktionskunst) weitergetragen. 132 IV. Polen <?page no="133"?> 1 Gga. Pierwszy polski almanach poezji futurystycznej. Dwumiesięcznik prymitywistów (Gga. Erster polnischer Almanach futuristischer Poesie. Zweimonatsschrift der Primi‐ tivisten). Warszawa: Futur Polski. 1920, S.-45-48. 2 Ebd. 3 Ebd. 2. Manifeste und Programmatisches Die Manifeste der polnischen Avantgarde nehmen verschiedene literarische Formen an - von skandalträchtigen Ansprachen über subtile meta-künstler‐ ische Traktate bis hin zu knappen Erklärungen und Gedichten. Im Folgenden werden einige der wichtigsten programmatische Texte der Avantgarde und der Neoavantgarde dargestellt. In der Zeit der Großen Avantgarde wurden die meisten und auch die mannigfaltigsten programmatischen Texte von den Futuristen und den Konstruktivisten verfasst. Eines der ersten Avantgarde-Manifeste hieß pry‐ mitywiści do narodów świata i do polski (Primitivisten an die Nationen der Welt und an Polen), von den Warschauer Futuristen Anatol Stern und Aleksander Wat 1920 im Almanach Gga publiziert. 1 Im Manifest finden sich Leitmotive aus programmatischen Auftritten der italienischen Futuristen und der Züricher Dadaisten; sie werden (bisweilen ironisch) variiert und umgeformt. Die jungen Warschauer schickten, wie Marinetti, „die Zivilisa‐ tion, die Kultur, mit ihrer Krankhaftigkeit - auf den Müllhaufen“, waren aber von einer Apotheose des Krieges oder der Maschine weit entfernt. Anklänge an den Dadaismus sowie an russischen Futurismus fand man dagegen im Lob des Primitiven und des Nonsens sowie in „der Beliebigkeit der grammatischen Formen, der Rechtschreibung und Zeichensetzung“ („dowolności form gramatycznych, ortografii i przestankowania“) 2 . Unver‐ hohlen parodistisch in Bezug auf die Kunst der Jahrhundertwende und auf den Ernst der Aussagen von innovativen Künstlern waren Formulierungen wie „Vom Lachen wird die Seele dick und kriegt starke fette Waden“ („Od śmiechu dusza tyje i dostaje silne grube łydy“). 3 Stern und Wat kombinierten nicht zueinander passende Themen und widersprüchliche Thesen - zum Beispiel „liquidierten“ sie sowohl „die Geschichte“ („historia“) als auch „die Nachkommenschaft“ („potomność“). Im Manifest - dessen Lettern unterschiedlich groß, fett wie auch nicht einheitlich gestaltet sind - findet man ebenfalls eine für die gesamte junge Avantgarde sehr bedeutende metaliterarische Erklärung: „Worte haben ihr Gewicht, ihren Klang, ihre 2. Manifeste und Programmatisches 133 <?page no="134"?> 4 Ebd. 5 Abdruck und kritische Kommentare - Jaworski, Krzysztof. Natychmiastowa futuryzacja życia! Manifesty, odezwy, wypowiedzi programowe polskich futurystów 1919-1939. Kraków: Attyka. 2017, S.-58-92. Die vollständigen Texte in deutscher Übersetzung: Lam Andrzej. Die literarische Avantgarde in Polen. Dichtungen - Manifeste - Theoretische Schriften. Übers. von. Zbigniew R. Wilkiewicz. Tübingen: Gunther Narr Verlag. 1990. Die folgenden Zitate wurden von K. Kupczynska übersetzt, da die Übersetzung von. Z. R. Wilkiewicz eine korrekte Rechtschreibung nutzte, was unserer Meinung nach dem Originaltext nicht entspricht. Farbe, ihre Form, sie nehmen Platz im Raum ein“ („słowa mają swą wagę, dźwięk, barwę, swój rysunek, zajmują miejsce w przestrzeni“) 4 . Weitere wichtige Manifeste des polnischen Futurismus (veröffentlicht bereits nach der Allianz der Warschauer und Krakauer Futuristen) erschienen im Juni 1921 in Krakau. Gedruckt wurden sie in „futuristischer Schreibweise“ bei Vernachlässigung der Rechtschreibung in Jednodńuwka futurystuw. Ma‐ ńifesty futuryzmu polskiego  5 (Ein-Tageß-Blat der Futuristen. Manifeste des polnischen Futurismus), auf einem langen Papierbogen und kolportiert auf den Straßen von Krakau. Der Text von Bruno Jasieński Do narodu polskiego. Mańifest w sprawie natychmiastowej futuryzacji żyća (An das polnische Volk. Manifest in Sachen der sofortigen Futurisierung des Lebens) thematisierte die Krise der polnischen Kunst und nannte Wege der künstlerischen Erneuerung. Jasieński wusste die romantische Dichtung aus der Zeit der Teilungen Polens zu schätzen, er fand jedoch, dass ihre Zeit vorbei war, ihre „Gespenster“ („widma“) sollte man „gnadenlos jagen und dann abmurksen“ („bez litości szczuć i dobijać“). Dem italienischen und russischen Futurismus folgend, postulierte er eine komplette Revision der Kulturtradition - scharf rechnete er mit der nicht mehr zeitgemäßen Kunst der Nationaldichter ab. Er schrieb über den „Außverkauf des alten Gerrümpels“ („wypszedaży starych rupieći“), über das Loswerden der „angefaulten Mumien der Mickiewicz’ und Słowa‐ ckis“ („nieświeżych mumii mickiewiczuw i słowackich“). Das Manifest pries dagegen die Menschenmasse, die Demokratie und die Maschine als Vorbilder eines vollkommenen Kunstwerks, nach den Prinzipien der Ökonomie und Zweckmäßigkeit gestaltet. Nicht zuletzt forderte das Manifest eine absolute Egalität der Kunst: die Kunst gehörte auf die Straße, futuristische Poesie- Konzerte sollten in Zügen, Straßenbahnen, Fabriken, Bahnhöfen und Parks stattfinden. Den neuen Menschen sollte außerdem Vitalität sowie „einfacher, klarer und sonniger“ („prosty, jasny i słoneczny“) Erotismus formen. Die Frau war (wie bei Marinetti) eine „vollkommene Fortpflanzungsmaschine“ 134 IV. Polen <?page no="135"?> 6 Erstdruck: „Zwrotnica“ 1922, Nr. 2, Juli, S. 23-31 (Abdruck in: Peiper, Tadeusz. Pisma wybrane. Jaworski, Stanisław (Hrsg.). Wrocław: Zakłąd Narodowy im. Ossolińskich, S. 7-34). In deutscher Übersetzung: Peiper, Tadeusz. Stadt. Masse. Maschine. In: Lam, Andrzej (Hrsg.). Die literarische Avantgarde in Polen…, S. 252-278 (Wir zitieren teilweise von den Seiten: 258, 26, 267, 268, teilweise in der Übersetzung von K. Kupczynska). 7 „dojrzeć piękno w prostych, długich, potrzebami życia wykreślonych bulwarach […].W płynnej jeździe automobilu widzieć tę samą słodycz, co w linii opadającego ptaka.” („doskonała maszyna rozrodcza“), die dennoch volle Gleichberechtigung genießen sollte. Von großer Bedeutung für die polnische Avantgarde war auch der Text Miasto. Masa. Maszyna  6 (Stadt. Masse. Maschine) des konstruktivistischen Dichters und Theoretikers Tadeusz Peiper aus dem Jahr 1922. Die Titeltriade - „Miasto. Masa. Maszyna“ - funktioniert bis heute als ein Synonym künstlerischer und zivilisatorischer Modernität. Peipers Text war im Grunde ein komplexer ästhetisch-anthropologischsoziologischer Essay fokussiert auf die drei titelgebenden Phänomene. Der Autor erklärte die Ursachen der historisch variierenden Wahrnehmung von Stadt und Maschine. Die Stadt, jahrhundertelang als hässlich empfunden, ästhetisch minderwertiger als Naturerscheinungen, sollte als ein Kunstwerk betrachtet werden. Peiper schrieb, man solle neue ästhetische Kriterien anwenden, mit dem Ziel, „die Schönheit [zu] erschauen in geraden, langge‐ zogenen, durch die Bedürfnisse des Lebens gezeichneten und wie Saiten gespannten Boulevards […]. In der dahinfließenden Fahrt eines Automobils die gleiche Süβe erblicken wie in der abfallenden Flugbahn eines Vogels“. 7 Ähnlich veränderte sich die Wahrnehmung der Maschine. Peipers Manifest brachte bedeutende Umwertungen in Bezug auf die Auffassung von Kunst, die bei ihm als eine Strukturierung des Chaos erschien. Es hieß, in der Zukunft würden die Menschenmasse und die Maschine sie am stärksten formen. Das postulierte Gestaltungsprinzip des Kunstwerks war somit das Organische, d.-h. eine wechselseitige funktionale Abhängigkeit der Elemente der Komposition - wie in der maschinellen Funktionierung des „wunderbarsten Organismus“ („najcudowniejszego organizmu“): der gesell‐ schaftlichen Masse. Die Maschine selbst sollte zu einem „Diener der Kunst“ („sługą sztuki“) werden. Es ging dabei nicht um eine Fetischisierung oder Nachahmung der Maschine, sondern um ihre Anwendung in der künstleri‐ schen Produktion - z. B. um eine Skulptur oder ihre Teile in Bewegung zu bringen. Die Kunst sollte also durch die Maschine erneuert werden. 2. Manifeste und Programmatisches 135 <?page no="136"?> 8 Komunikat (Die Verlautbarung) wurde dem ersten Band der „a.r.“-Bibliothek beigelegt - Z ponad (Sponad) von J. Przyboś in typografischer Gestaltung von W. Strzemiński (Cieszyn 1930). In demselben Jahr erschien sie in der Zeitschrift „Europa“ (September 1930) und - gekürzt - in der dritten Nummer von „L’Art Contemporain“. Abdruck: Zagrodzki, Janusz (Hrsg.). Władysław Strzemiński - in memoriam, Łódź: Sztuka Polska. 1988, S.-177. 9 „a. r. propaguje plastykę, w której każdy mm 2 i mm 3 jest zorganizowany”, „głosi poezję, w której każde słowo jest najważniejsze”. Ebd. Wenn nicht anders angegeben wurden diese und folgende Zitate von K. Kupczyńska übersetzt. 10 Ebd. Sehr wichtig für den polnischen Konstruktivismus war der 1930 publizierte Text Komunikat grupy a.r. nr 1  8 (Verlautbarung der Gruppe a.r. Nr. 1). Es war eine Kriegserklärung an die „Antiquiertheit” und „Senilität der Pseudomodernisten“ („starzyźnie“, „starczemu uwiądowi pseudomodernistów“), die Proklamation einer künstlerischen Gestaltung mit logischer, organischer Struktur. Das Mani‐ fest verkündete die Gemeinsamkeit der Ziele konstruktivistischer Architektur, Malerei und Literatur, mit dem Argument, dass die grundlegenden Gestaltungs‐ prinzipien in diesen Bereichen identisch sein sollten. Als Schlüsselbegriffe findet man Knappheit, Konzentration, Reduktion. Die Postulate konvergierten im großen Maße mit den Doktrinen des von W. Strzemiński formulierten Unismus. In der Verlautbarung lesen wir, dass „‚a.r.‘ eine bildende Kunst propagiert, in der jedes Mm 2 und Mm 3 organisiert ist“ und „verkündet eine Dichtung, in der jedes Wort am wichtigsten ist“. 9 Die Autoren stellten fest, dass die moderne Kunst nicht eine weitere Neuigkeit, nicht ein neuer Kunststil ist, sondern dass sie alle früheren Strömungen negiert und „das Verhältnis des Menschen zu allen Produkten seiner Tätigkeit verändert“ („zmienia stosunek człowieka do wszystkich dzieł jego ręki“). 10 Die Manifeste der Neoavantgarde lassen sich dagegen schwer auf einen Nenner bringen, auch ist die stilistische und formale Vielfalt sehr groß. Die Bandbreite reicht von seriösen programmatischen Verkündungen bis hin zu Meta-Manifesten und Parodien auf die Manifeste - im Folgenden werden mit den Manifesten der Werkstatt der Filmform (Warsztat Formy Filmowej) und der Gruppe Łódź Kaliska zwei dieser extremen Positionen vorgestellt. Programmatische Texte der Werkstatt der Filmform - ob Manifeste, Flug‐ blätter, Statements in der Presse - wurden von den Künstlern als Plattform der Darlegung der ästhetischen Ziele behandelt und damit ernst genommen. In Bruszewskis wie auch in Robakowskis programmatischen Texten fällt die Rhetorik der „Reinigung“ auf - Bruszewski verwendete sie im Manifest der Werkstatt der Filmform 1975 zur Veranschaulichung des Bruchs mit dem 136 IV. Polen <?page no="137"?> 11 Wojciech, Bruszewski: „politykowanie, moralizowanie, estetyzowanie, i bawienie widza.” Manifest Warsztatu Formy Filmowej, 1975. Online: https: / / artmuseum.pl/ pl/ archiwum/ wojciech-bruszewski-2/ 2408 (Zugriff: 16.08.2019). 12 Wojciech Bruszewski: „podejmujemy działalność para-naukową; zimną i wykalkulo‐ waną teorio-praktykę artystyczną”. Ebd. 13 Wojciech Bruszewski: „kanał czysty, nie obarczony naleciałościami z zewnątrz“. Ebd. 14 Robakowski Józef. Jeszcze raz o „czysty film. „Polska” 1971, nr 10„Robotnik Sztuki” 1972, nr 4. Online: http: / / robakowski.eu/ teksty.html (Zugriff: 31.03.2021). 15 „Jestem przekonany, że artysta to rodzaj perfidnego szalbierza, wrzodu społecznego, którego witalnościa jest właśnie manipulacja na własne konto jako wyraz samoobrony przed unicestwieniem czyli publiczną akceptacją i uznaniem.” Robakowski Józef. Manipuluję! Flugblatt, Einladung zur Ausstellung Kąty energetyczne. Warszawa: Mała Galeria. 1988. Online: http: / / www.robakowski.eu/ tx4.html (Zugriff: 16.08.2019). „Dienst am Wort“. Die Werkstatt verwarf jede Funktionalisierung, die dem Kino selbst äußerlich war, d. h. „Politisierung, Moralisierung, Ästhetisierung und Unterhaltung des Zuschauers“. 11 Die künstlerische Herangehensweise der Gruppe war „parawissenschaftlich“ - eine „kalte, kalkulierte künstleri‐ sche Theorie-Praxis“, 12 die das literarische Kino ablehnte zugunsten eines Kinos der technischen Apparatur, welche als „reiner Kanal“ 13 zu verstehen war. Robakowskis Diktum war radikal - jede Erzählung, jede Anekdote war für ihn Zeichen einer „Archaisierung“ der Filmsprache. 14 Ein anderer wichtiger programmatischer Aspekt war die Ablehnung des „Geniekults“ im Kino - Robakowski bekannte sich zur „Manipulation“ als einer konsequenten Praxis der Verhüllung des künstlerischen Selbstbildes zur Abwehr gegen Vereinnahmung: Ich bin davon überzeugt, dass der Künstler eine Art perfider Betrüger, gesellschaftli‐ ches Geschwür ist, dessen Vitalität darin besteht, auf eigenes Konto zu manipulieren, als Abwehr gegen Vernichtung d. h. gegen öffentliche Akzeptanz und Anerkennung. 15 Łódź Kaliska wurde 1979 von einer Gruppe von Fotografen, Performern und Medienkünstlern, darunter Marek Janiak, Jerzy Koba, Andrzej Kwietniewski, Adam Rzepecki, Andrzej Świetlik, Andrzej Wielogórski (Makary) gegründet. Ähnlich wie die Zürcher wie auch die Berliner Dadaisten verfassten die Künstler programmatische Texte, die performativ wirkten, d. h. zugleich Verkündung der künstlerischen Ziele und deren Realisierung waren. Die Flut der Manifeste - u. a. IDIOTIC ART - manifest I, IDIOTIC ART - manifest II, II (i ostatni) Manifest Sztuki Żenującej (II (und letztes) Manifest der Peinlichen Kunst), Praca bez skupienia (Arbeit ohne Konzentration) - begleitete zahlreiche Happenings. Im Manifest II Sztuki Żenującej (Manifest II der Peinlichen Kunst, 1980) hieß es u.a.: 2. Manifeste und Programmatisches 137 <?page no="138"?> 16 Marek Janiak: „2. Sz. Ż. jako żenada opisuje swoją miarę upodlenia jednostki przez społeczeństwo. 4. Nie polecam szczerego i głębokiego uprawiania sztuki żenującej, bowiem przerasta to wytrzymałość psychiczną jednostki. / z. p. 2/ . 5. Ze względu na punkt 4 sztuka żenująca nie może być wiarą ani ideologią / chyba/ . 6. może być tylko próbą / ? / . 7. Na szczęście jednym z jej aksjomatów jest niekonsekwencja / gówno prawda/ . 9. Przyszła wiosna / kolejna/ . In: Lubiak Jarosław (Hrsg.). Szczerość i blaga. Etyka prac Łodzi Kaliskiej w latach 1979-1989./ Frankness and Blague. The Ethics of Lodz Kaliska’s Works 1979-1989. Łódz: Muzeum Sztuki w Łodzi. 2010, S. 37. Das ganze Manifest sowie die englische Übersetzung von den Autoren online unter: http: / / www. kulturazrzuty.pl/ tworcy-janiak.php (Zugriff: 27.05.2021). 17 „Praca bez skupienia jest aktywnością wywołaną przymusem produktywności jed‐ nostki / jej przydatności społecznej.” In: Praca bez skupienia. http: / / www.kulturazrzut y.pl/ tworcy-janiak.php (Zugriff: 16.08.2019). 2. P. K. beschreibt als Peinlichkeit das Maß der Erniedrigung des Einzelnen durch die Gesellschaft. (…) 4. Ich empfehle nicht eine ehrliche und tiefsinnige Praktizierung der peinli‐ chen Kunst weil sie die psychische Widerstandsfähigkeit des Einzelnen über‐ steigt / siehe Punkt 2./ (…) 6. Sie kann nur ein Versuch sein / ? / . 7. Zum Glück ist Inkonsequenz eines ihrer Axiome / Schwachsinn / . (…) 9. Frühling ist da / wieder / . 16 Die „Peinlichkeit“ manifestierte sich in Vorliebe für schräge Erotik, Łódź Kaliska zeigte sich ostentativ infantil, anti-künstlerisch, auch anti-avantgar‐ distisch. Belächelt wurde der sozialistische Kult der Arbeit - sowohl in den Performances, als auch in den Manifesten. Im Text Praca bez skupienia (Arbeit ohne Konzentration, M. Janiak 1983) hieß es zu Beginn „Arbeit ohne Konzentration ist eine Aktivität, die durch die erzwungene Produktivität des Einzelnen / ihre soziale Nützlichkeit / erzeugt wird“. 17 3. Personen und Werke Tytus Czyżewski (1880-1945) war einer der vielfältigsten polnischen Künst‐ ler der Großen Avantgarde. Tätig als Maler (Absolvent der Krakauer Kunst‐ akademie), Dichter, Dramaturg, Kunstkritiker, war Czyżewski Mitglied der literarischen Gruppe der Futuristen und der Künstlergruppe „Formiści“. Er war einer der wenigen polnischer Avantgardekünstler der auf seinen vielen Reisen in Westeuropa die Möglichkeit hatte, die Arbeiten von Cézanne sowie von Kubisten, Futuristen, Expressionisten und Surrealisten „aus 138 IV. Polen <?page no="139"?> erster Hand“ kennen zu lernen. Was ihn faszinierte war aber auch die jahrhundertealte Kunsttradition, u.-a. die heimische Volkskunst. Zu seinen interessantesten Werken gehören die seit den frühen 1920er Jahren entstehenden vieldimensionalen Kompositionen, die, in Form von Kästen mit bildlichen Darstellungen und aus Holz oder Metall geschnitte‐ nen abstrakten Formen, Malerei und Skulptur vereinigten. Assemblagen - heute nur noch auf schwarz-weißen Fotografien überliefert - erinnern an dadaistische und kubistische Kompositionen, aber auch an „naive“ Arbeiten autodidaktischer Volkskünstler. In Czyżewskis Schaffen lassen sich Parallelen zwischen literarischer und bildgestalterischer Aktivität erblicken, und zwar sowohl im Hinblick auf die Verwendung der Motive als auch auf Nutzung ähnlicher Verfahren (u. a. Fragmentierung der Darstellung, surreale Zusammenstellung deformierter Ele‐ mente, Simultaneität, deformierte jugendstilhafte Ornamentik). Czyżewski war zugleich Autor von Kompositionen, die linguistische und visuelle Elemente verbanden, deren Rezeption u. a. wegen vereinfachten visuellen Strukturen stark de-automatisiert war. Ein Gegenpol dazu bildeten poetische Pastorałki (Hirtendichtung, 1925), kongenial an die Volkstradition anknüpfend, bei einer starken dadaistischen Umformung des folkloristischen Klangkörpers. Czyżewski ist nicht zuletzt wegen seiner Faszination für Zusammenstellung vom Organischen und Mechanischen erwähnenswert. Ein Beispiel dafür kann der verbal-visuelle Text Hymn do maszyny mojego ciała (Hymne an die Maschine meines Körpers) sein, zum ersten Mal 1921 in phonetischer Schreibweise veröffentlicht. Die präzise symmetrische Struktur spiegelt die rhythmische Arbeit der Körper-Maschine. Die Geometrie der Komposition betont die verti‐ kale Trennlinie zwischen beiden Teilen des Gedichts; diese Zweiteilung kann man mit der Doppelheit mancher Organe oder auch der Zweiteilung des im Text beschriebenen Gehirns assoziativ verbinden. Die Konstruktion - beinahe kreisförmig - negiert die Linearität und lässt an ein perpetuum mobile denken. Die in Teilen des Gedichts angewandte Technik der „Worte in Freiheit“ gibt das Tempo der ununterbrochenen, eiligen Arbeit wieder, zahlreiche Wiederholun‐ gen rhythmisieren Teile der Text-Maschine. Hymn lässt sich als ein Beispiel moderner visueller Poesie lesen, wo nicht nur die Form des thematisierten Objekts erkennbar ist, sondern vielmehr sein Funktionsschema sichtbar und hörbar wird. 3. Personen und Werke 139 <?page no="140"?> 18 T. Czyżewski, Hymn do maszyny mojego ciała. In: Lam Andrzej (Hrsg.). Die literarische Avantgarde in Polen…, S.-189. Hymne an die Maschine meines Körpers 18 Blut Pepsin Blut Magen Herz Blut es pulsen schlagen angespannt die Windungen meiner Därme - - Gehirn Kabel zu meinen Adern - eins eins eins gewundener Draht Lei‐ tung - schlägt mein Herz in eins zu meinem Herzen - elektrisches Herz eins - - - sei meiner gnädig - Transmissionsriemen mein Herz - meiner Därme Dynamo-Herz - zwei zwei zwei elektrische Lungen - - magnetisches Zwerchfell - seid meiner gnädig - - eins zwei - Telefon meines Gehirns - - Dynamo-Gehirns - - drei drei drei - - eins zwei drei - - Maschine meines Körpers - - funktioniere drehe dich - - lebe - T. Czyżewski: Hymn do maszyny mojego ciała, 1921 140 IV. Polen <?page no="141"?> 19 Wadley Nick, Lines from Life. In: Wadley Nick (Hrsg.). The Drawings of Franciszka Themerson. Amsterdam: Gaberbochcus Press. 1991, S.-9. Franciszka Themerson (1907-1988) und Stefan Themerson (1910-1988) waren ein polnisches Künstlerpaar jüdischer Abstammung, bekannt für sein vielfältiges künstlerisches Schaffen. Franciszka, geb. Weinles, war Malerin, Illustratorin und Bühnenbildnerin; Stefan schrieb Romane, Theaterstücke, poetische und metakünstlerische Texte. Gemeinsam arbeiteten die The‐ mersons an Avantgardefilmen, gestalteten avantgardistische Kinderbücher, bereiteten eine Publikation der Texte von Stefan Themerson mit Franciszkas Layout vor, und nicht zuletzt eröffneten sie 1948 den Verlag Gaberbocchus Press, in dem sie bis 1979 Bücher herausbrachten - eher „best lookers“ als „best sellers“. 19 Auf dem Gebiet der Kinderliteratur zeichneten sich ihre Arbeiten (in den 1930er) durch große Originalität aus - die Bücher waren in verbal-visueller Hinsicht sehr sorgfältig gestaltet; die konventionelle, für die damaligen Stan‐ dards typische Trennung von Text und Illustration wurde oft aufgehoben. Sie wollten die Überzeugung vermitteln, dass man jedes Phänomen sinnvoll erklären kann - so thematisierten ihre teilweise populärwissenschaftlichen Bücher u. a. die Entwicklung der Schrift (Narodziny liter, Die Geburt der Buchstaben, 1931 oder 1932), moderne Erfindungen (im Roman Jacuś w zaczarowanem mieście, Jacuś in der Zauberstadt, 1931) sowie Methoden der Fernkommunikation (Poczta, Post, 1932). In den Jahren 1930 bis 1945 experimentierten die Themersons im Filmbereich, sie haben insgesamt sieben Filme realisiert (ein achter, un‐ vollendeter Film wird in der Forschung erwähnt). Nachdem sie einen „Tricktisch“ konstruiert haben, dessen Hauptelement eine horizontal platzierte, von oben durch bewegliche Lampen beleuchtete Scheibe war, wurde ihr Atelier zu einer autonomen künstlerischen Manufaktur, wobei durch das Schattenspiel ein Bewegungseffekt erzeugt wurde. Diese Me‐ thode der Erzeugung von Lichtbildern hat gewisse Ähnlichkeiten mit den Fotogrammen, wie sie u. a. von László Moholy-Nagy, Christian Schad und Man Ray eingesetzt wurden. Einige Filme bestanden ausschließlich aus komponierten Lichtbildern - Sequenzen von bewegten, autonomen avantgardistischen Bildern. Besondere Aufmerksamkeit verdient der Film The Eye and the Ear (1944- 1945) realisiert in London, wo die Themersons bis zu ihrem Lebensende geblieben sind. Es ist eine visuelle Transposition der Lieder von Karol 3. Personen und Werke 141 <?page no="142"?> Szymanowski, die als Vertonung der „urslawischen“, archaisierten Neolo‐ gismen des poetischen Zyklus Słopiewnie (Wortsingen) von Julian Tuwim konzipiert wurden. Das Ziel war, wie es im Vorspann heißt, „Erzeugung […] solcher optischen Effekte, die der akustischen Wahrnehmung ähnlich sind“ („to create for the eye an impression comparable to that experienced by the ear“, Englisch im Original). Die Bilder entwickelten sich zum Rhythmus der Musik von Szymanowski, ein wesentlicher Bestandteil der Komposition war auch das Wort. Semantik und Stilistik von Słopiewnie waren in der Auswahl und der Art und Weise der Zusammenstellung ähnlich wie Fotogramme stark von geometrischen und darstellenden Elementen geprägt. Ein anderes intermediales Werk von Themersons war die Oper (Text und Musik von S. Themerson, Zeichnungen und typografische Gestaltung von F. Themerson) St. Francis and the Wolf of Gubbio or Brother Francis’ Lamb Chops (entstanden 1954-1960, publiziert 1972) (Abb. 2). Die Druck‐ version besteht nicht aus einer einfachen Niederschrift der Noten und des Librettos. Das Seitenlayout und die Zeichnungen von F. Themerson visualisieren den Inhalt und lassen sich als ein grafischer Kommentar zum Text verstehen. Abb. 2: Stefan Themerson: St. Francis and the Wolf of Gubbio or Brother Francis’ Lamb Chops. An Opera in 2 Acts 142 IV. Polen <?page no="143"?> 20 „malarstwa napięć dramatycznych, malarstwa sił” Strzemiński, Władysław. Dualizm i unizm. In: Ders. Pisma. Baranowicz, Zofia (Hrsg.). Wrocław: Zakład Narodowy im. Ossolińskich. 1975, S.-41. 21 „każdy cm 2 obrazu jest tak samo wartościowy i w takim samym stopniu bierze udział w budowie obrazu […], [a] natężenie formy powinno być rozmieszczane jednolicie.” Ebd., S.-45. 22 Władysław Strzemiński: „system wiążący i wzajemnie od siebie uzależniający wszystkie części budowy”, [Aussage in „Katalog Salonu Modernistów”]. In: Ders. Pisma, S.-61. Władysław Strzemiński (1893-1952) war einer der wichtigsten polnischen Avantgardekünstler, Maler, Theoretiker der Kunst wie der Stadtplanung, Didaktiker, Mitglied zahlreicher Künstlergruppierungen (der Kubisten, der Konstruktivisten und Suprematisten „Blok“; der Gruppe „Praesens“; der Gruppe „a.r“). Die von Strzemiński formulierte Konzeption des Unismus setzte einen Bruch mit der Tradition der „Malerei der dramatischen Spannungen, der Kräfte-Malerei“ 20 , deren Ursprung er im Barock sah und die bis hin zum Schaffen von Cézanne und dem Kubismus fortdauerte, voraus. Strzemiński lehrte, man solle aus dem Bild jede zentrale Orientierung, die Unabhängig‐ keit der Farbe von der Linie, alle Richtungsspannungen, jeden Bewegungsef‐ fekt, alle Form- und Farbkontraste sowie Kontraste der Oberflächenstruktur tilgen. Die Unismus-Doktrin verkündete: „jeder Quadratzentimeter des Bildes hat denselben Wert und nimmt denselben Anteil an der Komposition des Bildes […], die Formintensität soll gleichmäßig verteilt werden“. 21 Die Farben der auf der Leinwand dargestellten Formen sollten mit der Form des Blendrahmens korrespondieren; es galt, auf jede Handlung, jede Dyna‐ mik und jegliche Zeitelemente zu verzichten. Die Kunst sollte frei von Ästhetisierung sein, denn Schönheit war „ein System, das alle Strukturteile miteinander bindet und aufeinander bezieht“ 22 . Künstler ist aus seiner Sicht ein zurückhaltender Konstrukteur. 3. Personen und Werke 143 <?page no="144"?> Abb. 3: Władysław Strzemiński: Kompozycja unistyczna 12 (Unistische Komposition 12), 1932 Strzemiński hat nur ein Dutzend Bilder produziert, die den Prinzipien der rigorosen Doktrin gehorchen (Unistische Kompositionen aus den Jahren 1929-1934) (Abb. 3). Es sind beinahe monochrome Bilder, voller gleichmäßig verteilter, fast identischer kleiner Formen (Wellenlinien, organisch anmu‐ tender Formen). Es findet sich hier keine Spur von Mimesis. Strzemiński malte auch prä-unistische geometrische Architektonische Kompositionen (1926-1930) sowie zwischen Abstraktion und Figuration oszillierende „Erholungsbilder“: Pejzaże łódzkie (Lodzer Landschaften) und Pejzaże morskie (Meereslandschaften, 1930er Jahre). Gemeinsam mit Katar‐ zyna Kobro arbeitete er Anfang der 1930er Jahre intensiv an einer Theorie der Raumkomposition und schrieb eine Theorie des funktionalen Drucks (ihrem Erscheinen ging u. a. die typografische Gestaltung des avantgardis‐ tischen Poesiebandes von Julian Przyboś Sponad, 1930, voran) (Abb. 4). Als ein Anti-Vorbild für den modernen Druck galt Strzemiński der Renaissance- Druck. Das entscheidende Merkmal sollte die Überschaubarkeit des Layouts sein, den Drucker sah Strzemiński als einen kompetenten Interpretator des literarischen Werks, der auf jede überflüssige Zierde verzichtet zugunsten einer inhaltbezogener Teilung des Textes in semantische Einheiten. 144 IV. Polen <?page no="145"?> Abb. 4: Julian Przyboś, Strzemiński Władysław: Sponad [Erstdruck: Z ponad] (etwa: Über hinweg). Serie „a.r.“-Bibliothek. Cieszyn [keine Angabe zum Verlag]. 1930, S.-26-27. Während des Zweiten Weltkriegs malte Strzemiński Zyklen von ergreifen‐ den, mit biomorphischen Formen operierenden Zeichnungen und Collagen (u. a. Deportacje, Deportationen, 1940; Moim przyjaciołom Żydom, Meinen jüdischen Freunden, 1945). Später interessierte er sich zunehmend für die Physiologie des Sehens (Zyklus von Solarbildern Powidoki, Nachbilder, 1948-1949) sowie für historisch variierende Mechanismen der Wahrneh‐ mung und Abbildung der Welt (das Buch Teoria widzenia, Die Theorie des Sehens, 1958 posthum erschienen). Stets befasste er sich auch mit Fragen aus dem Bereich der Architektur und Stadtplanung (Projekt Łódź sfunkcjonalizowana, Funktionalisiertes Lodz, 1947). Katarzyna Kobro (1898-1951) - war Bildhauerin (studierte an der Mos‐ kauer Hochschule für Malerei, Bildhauerei und Architektur), Kunsttheore‐ tikerin, Lehrerin, Mitglied der Künstlergruppen Blok, Praesens, a.r., Abstrac‐ tion-Création. Das Hauptthema ihres Schaffens war das Funktionieren der Skulptur in Raum und Zeit. Diesem Phänomen widmete sie das gemeinsam mit Strzemiński verfasste Buch Kompozycja przestrzeni. Obliczenia rytmu czasoprzestrzennego (Raumkomposition. Berechnungen des raumzeitlichen Rhythmus, 1931), in dem über die Sphäre der Malerei hinausgehenden Prinzipien des Unismus ausgeführt wurden. Ein Heilmittel gegen die in der Skulptur (bis Umberto Boccioni) herrschende „vollständige Ohnmachts‐ 3. Personen und Werke 145 <?page no="146"?> 23 Kobro, Katarzyna / Strzemiński, Władysław. Kompozycja przestrzeni. Obliczenia rytmu czasoprzestrzennego. „Sztuka i Filozofia” 1997, Nr.-13, S.-91. starre“ („martwotę całkowitą“) sollte die unistische Skulptur sein, bei der „alle Punkte im Raum gleichwertig sind“ („każdy punkt przestrzeni posiada takie samo znaczenie, jak wszystkie inne“) 23 . Der Raum wurde als einheit‐ lich aufgefasst, die Unterscheidung in Skulptur und ihre Umgebung sollte aufgehoben werden. Die räumliche Einheit sollte die Nutzung bestimmter Farben garantieren: Rot, Blau, Gelb, achromatisches Schwarz, Weiß und Grau. In der zweiten Hälfte der 1920er und in den 1930er Jahren entstanden geo‐ metrische Kompositionen, in denen Kobro die Prinzipien unistischer Skulptur verwirklichte. Die Künstlerin schuf auch architektonische Projekte, die wie die unistische Skulptur auf raumzeitlichen Prinzipien basierten. Ankündigun‐ gen solcher Kunstprojekte sah man bereits in den frühen Arbeiten, z. B. in Konstrukcje wiszące (Hängende Konstruktionen 1921-1922, rekonstruiert nachträglich von Janusz Zagrodzki) - dynamischen, geometrischen im Raum schwebenden Gebilden. In Konstrukcja wisząca (2) (Hängende Konstruktion 2) erkennt man das Streben nach einer Vereinigung der Skulptur mit dem Raum in einem besonderen raumzeitlichen Rhythmus (Abb. 5). Die Künstlerin verzichtete hier auf einen geschlossenen Raumkörper, das Kunstwerk und die Umgebung durchdringen einander, je nach der Perspektive ist die Sicht auf die Skulptur anders. 146 IV. Polen <?page no="147"?> 24 Kantor, Tadeusz. „jest to teatr aktorów, szukających w kontaktach z awangardą malarzy i poetów możliwości nowej, radykalnej metody gry scenicznej”. In: Kantor, Tadeusz. Powstanie teatru Cricot 2. Rok 1955. In: Ders. Metamorfozy. Teksty o latach 1934-1974. Pleśniarowicz, Krzysztof (Hrsg.). Wrocław-Kraków: Zakład Narodowy im. Ossolińskich. 2005, S.-132. Abb. 5: Katarzyna Kobro: Konstrukcja wisząca (2) (Hängende Konstruktion 2), 1921- 1922/ 1971-79 (rekonstruiert). Kobro hat die geschlossene Skulptur nicht vollständig aufgegeben - in der Zwischenkriegswie in der Nachkriegszeit schuf sie auch kubistisch anmutende weibliche Akte. Tadeusz Kantor (1915-1990) war Regisseur, Bühnenbildner, Maler, Hap‐ pening-Künstler, Schauspieler, Professor an der Krakauer Akademie der Künste, Theoretiker und Reformator des Theaters. Kantor ist als Gründer der bis heute aktiven Galerie Krzysztofory (1957) und des Theaters Cricot 2 (seit 1955) bekannt. In Cricot 2 realisierte Kantor ein totales Kunstwerk - d. h. er bemühte sich um die Aufhebung der Grenzen zwischen einzelnen Kunstbe‐ reichen. Seine Inspiration schöpfte er aus der internationalen Entwicklung der Neoavantgarde, er erhoffte sich die Etablierung eines „Theaters der Schauspieler“, das eine „neue, radikale Methode des Bühnenschauspiels“ 24 3. Personen und Werke 147 <?page no="148"?> entwickeln sollte. Eine Quintessenz dieser Phase war Antywystawa, czyli Wystawa Popularna (Anti-Ausstellung oder die Populäre Ausstellung; 1963 in der Galerie Krzysztofory) - ausgestellt wurden Artefakte, die den Prozess der Kunstproduktion begleiten, d. h. Manifeste, Notizen, Zeichnungen, sowie Alltagsgegenstände. In den Jahren 1962-64 realisierte er das Konzept des Null-Theaters („teatr zerowy“), das auf jede Handlung verzichten sollte (in diesem Sinn inszenierte Kantor u. a. Witkacys Wariat i zakonnica, Der Narr und die Nonne, 1963). Nach seiner Rückkehr aus New York 1965 veranstaltete Kantor ein Happening, das manche Forscher als das erste polnische Happening be‐ trachten. Es fand in einem Warschauer Café statt und bestand aus nicht zusammenhängenden Geschehen; 1966 realisierte Kantor eine Emballage- Aktion in Basel. Die Faszination für die Emballage, d. h. für alle Formen der Verpackung, die Kantor als Maßnahme der Beschützung und Verbergung von (kostbaren) Objekten auffasste, manifestierte sich auch im Happening List (Brief; 1967). Sieben Briefträger holten aus einem Warschauer Postamt einen riesigen Briefumschlag ab und brachten diesen in die Galerie Foksal, wo er dem Publikum übergeben (und spontan zerstört) wurde. Zeitgleich arbeitete Kantor an der Aufführung von Witkacys Kurka Wodna (Das Wasserhuhn), das 1967 im Café der Galerie Krzysztofory erfolgte - die Inszenierung zeigte, wie intensiv die Happening-Aktivität des Künstlers sein Theaterkonzept prägte. Die Schauspieler führten verschie‐ dene Tätigkeiten vor, die inhaltlich nur entfernt oder kaum auf Witkacys Stück rekurrierten, sprachen dabei aber den Text von Wasserhuhn, gele‐ gentlich bezogen sie das Publikum ein. In den 1960er und 1970er Jahren realisierte Kantor weitere Happenings, u.-a. Panoramiczny Happening Mor‐ ski (Das panoramatische Meeres-Happening; Łazy 1967), Lekcja anatomii według Rembrandta (Anatomiestunde nach Rembrandt; Warschau 1969, Dourdan 1971, Høvikodden 1971). 1974 schrieb Kantor das Manifest Teatr Niemożliwy (Das unmögliche Theater) - die „Unmöglichkeit“ im Titel bezog sich auf die Herstellung von Illusion im Theater. Die Einsicht in diese Unmöglichkeit verursachte beim Künstler eine Hinwendung zum Todestheater („teatr śmierci“), einer Auseinandersetzung mit seiner jüdischen Biografie, mit dem Problem der Vergänglichkeit und der Erinnerung. In dieser Phase entstanden die inter‐ national preisgekrönten Stücke Kantors, u. a. Umarła klasa (Die tote Klasse, 1975), Wielopole, Wielopole (1980). 148 IV. Polen <?page no="149"?> 25 „Jakże się cieszę, / że jesteś niebem i kalejdoskopem, / że masz tyle sztucznych gwiazd, / że tak świecisz w monstrancji jasności, / gdy podnieść twoje wydrą‐ żone / pół-globu / dokoła oczu, / pod powietrze. / Jakżeś nieprzecedzona w bogact‐ wie, / łyżko durszlakowa! ” Zit. nach: Białoszewski, Miron. Utwory zebrane. Band 1, Sokołowska, Marianna (Hrsg.). Warszawa: Państwowy Instytut Wydawniczy. 2016, S.-55. Miron Białoszewski (1922-1983) war Dichter, Dramatiker, Autor von Kurzfilmen, Theaterregisseur und Schauspieler. Er gehörte zur sog. Gene‐ ration Współczesność (dazu gehörten Dichterinnen und Dichter, die mit der Zeitschrift Wspólczesność (Zeitgenossenschaft) verbunden waren) oder Generation ’56, deren VertreterInnen im Tauwetter nach Stalins Tod debü‐ tierten (u.-a. Zbigniew Herbert, Marek Hłasko, Urszula Kozioł). Der erste Poesieband Obroty rzeczy (Läufe der Dinge, 1956) kündigte ein literarisches Schaffen an, das sich diametral von der bisherigen lyrischen Tradition unterschied: eine Dichtung, die eine intime, die Wahrnehmung entautomatisierende Alltagserfahrung fokussierte. So galt beispielsweise das Gedicht Szare eminencje zachwytu (Graue Eminenzen der Begeisterung) einer gehobenen Apostrophe an einen Schaumlöffel. Wir lesen: Wie ich mich freue, / dass du ein Himmel und ein Kaleidoskop bist, / dass du so viele künstliche Sterne hast, / dass du so leuchtest in heller Monstranz, / hebt man deinen ausgehöhlten / Halb-Globus/ vor Augen, / unter die Luft. / So undurch‐ schlagen in Fülle, / du Schaumlöffel! 25 . In Läufe der Dinge knüpfte Białoszewski an literarische und bildkünstleri‐ sche Formen an, wie Ballade, Ode, Chronik, Fabel, Testament, Autoporträt, Triptychon, Akt. Er schuf Neologismen, nutzte sprachliche Fehler, Kollo‐ quialismen, Versprechen. Von Anfang an griff er auf die Praktiken der polnischen Dichteravantgarde (vor allem der Futuristen und der Krakauer Avantgarde) zurück, er blieb in seinem kreativen Schaffen dennoch originell. Die Merkmale des ersten Gedichtbandes lassen sich größtenteils in den späteren Publikationen des Autors wiedererkennen. Białoszewski war auch in experimentellen, privaten, nicht-institutionel‐ len Avantgardetheatern tätig (Teatr na Tarczyńskiej, Theater in Tarczyńska Straße - 1955-1958, Teatr Osobny, Eigenes Theater - 1958-1963). Die Aufführungen fanden in privaten Häusern und nur für geladene Gäste statt. Den Künstlern ging es um Sprachexperimente und innovative Bühnenbilder sowie um eine unmittelbare Einwirkung auf den Zuschauer. Die Autoren bezogen sich dabei u. a. auf Erfahrungen des futuristischen Theaters, des 3. Personen und Werke 149 <?page no="150"?> 26 Hanusek, Jerzy. O polityczności sztuki Jerzego Beresia na tle politycznym. „Sztuka i Dokumentacja” 2017, Nr.-16, S.-63-79, hier S.-64. Puppentheaters und auf die Schriften von Witkacy. Ein weiteres Experi‐ mentierfeld galt der Phonografie und den Techniken der audiovisuellen Aufzeichnung. Überzeugt von der Bedeutung des gesprochenen Wortes nahm Białoszewski seit Mitte der 1960er Jahre seine Stimme auf. Seit Mitte der 1970er bis Ende der 1990er Jahre praktizierte er das sog. Filmchenmachen (filmikowanie) - zusammen mit Freunden realisierte er kurze, improvisierte Amateurfilme. Białoszewski war auch Autor von Pamiętnik z powstania warszawskiego (Erinnerungen an den Warschauer Aufstand, 1970), in dem die Wirklichkeit des Aufstands aus der Perspektive eines auf banale obwohl manchmal überlebenswichtige Dingen konzentrierten Zivilisten gezeigt wird, was sich von den bisherigen Darstellungen in der Kriegsliteratur radikal unterschied. Schockierend war allein schon die Sprache - alltäglich, voller Wiederholun‐ gen, jenseits von Pathos und Erhabenheit. Jerzy Bereś (1930-2012) war Bildhauer und eine wichtige Figur der politischen Performance in Polen. Seine ersten Skulpturen aus Gips und Stahlbeton zeigte Bereś auf einer Ausstellung 1958; später arbeitete er mit Holz sowie anderen unbearbeiteten Materialien wie Steinen, Hanfschnü‐ ren, Jutesäcken. So entstand die Serie Zwidy (Hirngespinste, 1960-1970) - Holzkonstruktionen, die in ihrer materiellen Schlichtheit an primitive, längst vergessene Werkzeuge erinnerten; sie vermittelten eine Aura von magischen, totemartigen Gegenständen bzw. „archäologischen Artefakten“ („archeologiczne artefakty“). 26 Seit Anfang der 1960er Jahre mit Kantor bekannt, trat Bereś in dessen Happenings auf, bis er in der aufgeheizten Atmosphäre des Jahres 1968 in der Galerie Foksal seine erste Performance Przepowiednia I (Prophezeiung I) präsentierte. Er trat zum ersten Mal selbst als Subjekt und Objekt seiner Kunst auf, sein nackter Körper wurde von nun an in den Kontext der politischen Manifestationen gestellt. Nachdem diese erste Performance in der parteinahen Zeitung „Kultura“ (Kultur) verspottet wurde, realisierte der Künstler prompt eine Fortsetzung - Przepowiednia II (Prophezeiung II), in deren Verlauf er in Krzysztofory die Zeitung „Kultura“ anzündete (Abb. 6). 150 IV. Polen <?page no="151"?> Abb. 6: Jerzy Bereś: Przepowiednia II (Prophezeiung II). Galerie Krzysztofory, Krakau, Februar 1968. Es folgten im selben Jahr, als Reaktion auf den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in Prag, Chleb malowany na czarno (Schwarz bemaltes Brot, Galerie Krzysztofory), bei der Bereś geschnittenes Brot schwarz bemalte, in eine Zeitung einwickelte und mit einem Messer durchstach. Bereś nutzte öfters die Farben der Nationalfahne (weiß-rot), mit denen er seinen Körper bestrich, ein häufiges Requisit war eine Zeitung sowie eine feste Schnur, die er während der Performance verknotete - die Knoten symbolisierten die Verpflichtung, sich an Fakten und historische Ereig‐ 3. Personen und Werke 151 <?page no="152"?> nisse zu erinnern (gemeint war die polnische Vergangenheit, geprägt durch Fremdherrschaft, und ihr Fortdauern in der Volksrepublik Polen). Die Vergegenständlichung seines Körpers war ein wichtiges Leitmotiv - der Körper war ein zentraler Bedeutungsträger, und die konsequente Nackt‐ heit ein Beharren auf der Kreatürlichkeit des Einzelnen in der Konfrontation mit dem oppressiven System. Obwohl Bereś in seinen Performances die verbale Kommunikation einsetzte - einzelne Worte malte er auf seinen Körper oder auf die Artefakte, die er dabei hatte, er sprach auch die Zuschauer an -, war seine Sprache fern jeder offenen politischen Mitteilung. Oskar Hansen (1922-2005) und Zofia Garlińska-Hansen (1924-2013) - ArchitektInnen und ArchitekturtheoretikerInnen. Gemeinsam haben sie mehrere Architekturprojekte vorbereitet, von denen allerdings nur fünf realisiert wurden. Hansens’ Konzept der Offenen Form (1959) knüpfte an das Schaffen und die Kunsttheorie von K. Kobro und W. Strzemiński an. Im Mittelpunkt stand das menschliche Maß der Architektur und die Integration menschlicher Erzeugnisse und der sie umgebenden Natur, des Innen und Außen des architektonischen Kunstwerks. Die Tätigkeit jedes Menschen behandelten die Hansens als eine eigene, dynamische räumliche Form. Die Aufgabe des Architekten war, diese Formen zu exponieren und ihnen eine äußere Gestalt zu geben - im Einvernehmen mit den zukünftigen Bewohnern. Ein Vorstoß in die Anwendung der Theorie der „Offenen Form“ war u. a. Hansens’ Ent‐ wurf der Wohnsiedlung Przyczółek Grochowski in Warschau (1969-1974) - über 20 Wohnblocks, durch Außengalerien miteinander verbunden, mit der Möglichkeit, die Wände umzustellen und den Raum je nach Bedürfnissen der Bewohner zu modellieren. Die Theorie des Linearen Kontinuierlichen Systems übertrug die Idee der Offenen Form in den Bereich der Stadtplanung. Die Hansens brachen mit dem Konzept der Stadt, die um ein Zentrum herum organisiert ist. Die Stadt sollte, wie ein lebendiger Organismus, aus streng organisierten Teilen - Streifen - bestehen, die durch querverlaufende Kommunikation verbunden sein sollten (zum Hauptstreifen gehörten Wohnungen, Dienst‐ leistungen und leichte Industrie; einen weiteren Streifen bildeten Wälder, Ackerfelder, Bergbauindustrie; im letzten Streifen war die Schwerindustrie angesiedelt). Das Projekt der Künstler sollte das ganze Land umfassen - sie postulierten die Anlegung von vier Parallelstreifen im Großstadtraum, die von Norden nach Süden Polens entlang der Flusstäler verlaufen sollten. 152 IV. Polen <?page no="153"?> Zwischen den Großstadtstreifen sollten sich große Wald-, Landwirtschafts- und Erholungsgebiete befinden. Eines der interessantesten und wichtigsten nichtrealisierten Projekte der Hansens (vorbereitet mit einem Mitarbeiterteam) war der Entwurf des Mahnmals für die Opfer des KZ Auschwitz-Birkenau (1957-1958). Das Projekt mit dem Titel Droga (Der Weg) schrieb sich in die Idee der „Offenen Form“ ein - es verband den vorgefundenen Raum mit architektonischer Innovation, ließ aber zugleich Raum für Erlebnisse der Rezipienten. Der Entwurf war ein Bruch mit dem Konzept eines geschlossenen Mahnmals, das Anti-Mahnmal sollte ein 70 Meter langer asphaltierter Weg sein, der symbolisch durch das Gelände der KZ-Lager hindurch verlief. Jeglicher Eingriff in die KZ-Baustruktur sollte ausbleiben - Häftlingsbaracken, Krematorien, Zäune sollten, der Wirkung der Zeit ausgesetzt, langsam zerfallen, mit der umliegenden Natur eins werden. Das Projekt hat im in‐ ternationalen Wettbewerb für die Erinnerung an die Opfer des Faschismus in Auschwitz gewonnen, wurde allerdings als zu kontrovers dennoch nicht realisiert. Alina Szapocznikow (1926-1973) war polnische Grafikerin und Bildhau‐ erin jüdischer Abstammung, verbrachte ihre Jugend im Ghetto (in Pabi‐ anice und Łódź) und in den KZ-Lagern Auschwitz, Bergen-Belsen und Theresienstadt. In den 1950er Jahren arbeitete sie an mehreren Skulptur- Wettbewerben, u. a. für das Denkmal der Warschauer Helden (auch: Krzyk, Der Schrei; 1957), Denkmal für die Opfer des KZ-Auschwitz (1957). Keines der Projekte wurde realisiert; zugleich entwickelte die Künstlerin ihre eigene Formsprache, indem sie intimere Skulpturen aus Gips und Zement anfertigte - Pierwsza milość (Erste Liebe, 1954), Kochankowie (Die Liebenden, 1956). Auffallend war schon in dieser Etappe eine Fokussierung auf menschliche Gestalten (Akte), die mit der Zeit immer reduzierter wurden; allmählich zeichnete sich ein Übergang zu hybriden Wesen ab (Ludzie-drzewa, Men‐ schen-Bäume 1957; Maszyna-zwierzę, Maschine-Tier 1957). In den 1960er Jahren zog die Künstlerin 1963 nach Paris, sie verkehrte u. a. im Umkreis der nouveaux réalistes um Pierre Restany. Die Verfremdung und Verzerrung der Körperformen erfuhr eine Potenzierung in den Arbeiten, in denen die Fragmentierung des Körpers ein zentrales Formmerkmal war. Bukiet II (Der Blumenstrauß II, 1966) stellt Mundabdrücke dar, die, aus dem Kopf einer Frauenfigur wachsend, sich durch Vervielfältigung in Blumen verwandeln; Ventres (Bäuche, 1968-69) ist eine Serie von Abgüssen, die in unterschiedlichen Kompositionen und Größen mehrere Bäuche zeigt. Es 3. Personen und Werke 153 <?page no="154"?> veränderten sich damit auch die Materialien - Szapocznikow verwendete nun neben Gips Plastikfolie, Polyester, Polyurethan, auch Marmor. 1966 entstanden Autoportret-I (Polyester und Marmor), Autoportret-II (Bronze), in Portret wielokrotny (Vielfältiges Porträt, 1965-1967) wurden die in Polyester, Granit und Bronze abgegossenen untere Gesichtspartie und die Brüste der Künstlerin zweifach und vierfach „aufgefächert“. Diese Arbeiten wurden in der Forschung mit Szapocznikows Brustkrebs-Diagnose (1967) in Verbin‐ dung gebracht - die Bildhauerin suchte nach einer Formsprache für die eigene Grenzerfahrung (Abb. 7). Abb. 7: Alina Szapocznikow: Portret wielokrotny (Vielfältiges Porträt), 1965-67. 154 IV. Polen <?page no="155"?> 27 Vgl. Piotrowski, Piotr. Awangarda w cieniu Jałty. Sztuka i polityka w Europie Środkowo- Wschodniej 1945-1989. Poznań: Rebis. 2005, S.-375. Wie Piotrowski bemerkte, hat Szapocznikow die Erfahrung der Sterblichkeit in ihre individuelle Formästhetik gegossen, damit schuf sie eine Spannung zwischen der biologischen Empfindung, der Materialität der Stoffe und der Komposition und entkam einer exhibitionistischen, veristischen Darstel‐ lung. 27 Noch deutlicher wurde es in der Serie Tumeurs (Tumoren, 1969-1971), in der aus der formlosen Polyestermasse frühe Fotos der Künstlerin den Betrachter anschauten. Andrzej Partum (1938-2002) war Multimediakünstler, Dichter, Performer, Maler, Autor von Installationen und Filmregisseur, Kritiker und Kunstthe‐ oretiker. Als Autodidakt praktizierte er eine Verflechtung von Kunst und Lebenspraxis, dabei beachtete er kaum die materiellen Effekte seiner Arbei‐ ten. Er agierte sowohl jenseits des offiziellen Kunstbetriebs als auch fern von Independent art. Partum debütierte in den 1950er Jahren als Musiker und Dichter. Er war Vorreiter des verlegerischen „zweiten Umlaufs“ - in den 1960er und 1970er Jahren gab er seine Lyrikbände selbst heraus. Seine Gedichte, auf die avantgardistische Tradition (Futurismus, Dadaismus) zurückgreifend, demontierten die Semantik und die grammatischen Strukturen, grafisch unkonventionell gestaltet, näherten sie sich konkreter Poesie. 1971 gründete Partum in seinem Warschauer Dachzimmer in der Poznańska Straße 38 das Poesiebüro (Biuro Poezji). Die ironische Bezeichnung bezog sich auf die institutionalisierte, zentralisierte „Verwaltung von Kultur“. Das Ein- Mann-Büro (bis 1985 im Betrieb), konzipiert als eine Parodie auf Kunstins‐ titutionen, förderte unabhängige, offiziell nicht anerkannte Kunsttätigkeit (die riesige, von Partum angelegte Dokumentation umfasste das Schaffen solcher KünstlerInnen wie John Cage, Dick Higgins, Andy Warhol, das Duo KwieKulik, Jerzy Bereś, Józef Robakowski). Das Dachzimmer diente auch als Kunstgalerie; es war nicht zuletzt ein wichtiges Organ von mail art, die, nach Partums Worten, das Problem der Trennung zwischen dem Autor und dem Adressaten der künstlerischen Interventionen aufhob. An seine Adresse kam Post von vielen polnischen wie ausländischen Kunstschaffen‐ den (u. a. von Fluxus-Künstlern), die auf diese Art einen unabhängigen Ideenaustausch führten. Im Poesiebüro entstanden zahlreiche Manifeste und metakünstlerische Statements von Partum, die anschließend per Post weiter geleitet wurden. 3. Personen und Werke 155 <?page no="156"?> Partum kombinierte konzeptuelles Schaffen und sensuelle Erfahrung auf unterschiedliche Art und Weise, entscheidend war für ihn die Relation zwi‐ schen dem Künstler und dem Ort und den Rezipienten konkreter künstler‐ ischer Interventionen. Die Aktion Akupunktura (Akupunktur, 1973 Elbląg, V Biennale räumlicher Formen) fand während der Vorführung eines Films von Robakowski statt. Partum saß auf einer Leiter und schlug Nähnadeln in die Filmleinwand, so dass sie das Wort „AKUPUNKTUR“ ergaben, der marokkanische Regisseur Kader Lagtan hielt vor dem Filmprojektor einen Spiegel, so dass das Bild auf die Decke der Galerie projiziert wurde. Partum wollte auf diese Weise den physischen, mechanischen Aspekt des Kinos sowie die Möglichkeit einer nachträglichen Einwirkung auf Filmprodukte und auf deren desautomatisierte Rezeption betonen. 1977 stellte Partum in der Warschauer Galerie Repassage die Skulptur Smród (Gestank) aus - unter einer Tischdecke legte er für den Zuschauer nicht sichtbares Schwefelerz, das einen intensiven unangenehmen Geruch ausströmte. 1984 übersiedelte Partum nach Kopenhagen, wo er zwei ephemere Kunstinstitutionen - Szkoła Pozytywnego Nihilizmu (Schule des Positiven Nihilismus) und Światowe Hospicjum Sztuki (Welthospiz der Kunst) ins Leben gerufen hat. Chronologie 1909 - erste Informationen über den italienischen Futurismus in der polnischen Presse 1917 - die Eröffnung der Ersten Ausstellung der Polnischen Expres‐ sionisten (späterer „Formiści“ - Formisten) in Krakau (gilt als Anfang der Avantgarde in Polen) 1918 Polen erlangt die Unabhängigkeit nach 123 Jahren Fremdherr‐ schaft 1918-1919 - erste Publikationen der polnischen Futuristen (Flugblätter, Gedichtbände) 1918-1920 - Tätigkeit der expressionistischen Gruppe „Bunt“ in Posen 1919-1921 - Tätigkeit der Lodzer Gruppe „Jung Jiddisch“ 1922-1923, 1926-1927 - in Krakau erscheint die Zeitschrift Zwrotnica (die Weiche), he‐ rausgegeben von Künstlern der konstruktivistischen Avantgarde aus Krakau 156 IV. Polen <?page no="157"?> 1923-1925 - Tätigkeit der Lubliner Gruppe „Reflektor“ (Scheinwerfer), der sog. Zweiten Avantgarde 1927 - die theoretische Schrift Dualizm i unizm (Dualismus und Unismus) von W. Strzemiński 1929-1936 - Tätigkeit der Gruppe „Artes“ aus Lviv 1929-1936 - Tätigkeit der Gruppe „a.r.“ 1930-1945 - filmisches Schaffen von Franciszka und Stefan Themerson / Po‐ len und England 1948 - Erste Ausstellung Moderner Kunst in Krakau (initiiert von T. Kantor und M. Porębski) 1953-1956 Tauwetter-Periode nach Stalins Tod, größere Freiheit im kultur‐ ellen Bereich 1956 - Gedichtband Obroty rzeczy (Kreise der Dinge) von M. Białos‐ zewski 1957 - Zweite Ausstellung Moderner Kunst in Galeria Zachęta in Warschau 1959 - O. Hansen und Z. Garlińska-Hansen formulierten ihre archi‐ tektonische Theorie der Offenen Form 1955-1991 - Tätigkeit des Theaters Cricot 2 in Krakau 1963-1981 - Treffen der KünstlerInnen und KunsttheoretikerInnen in Osieki 1968-2012 - Happenings und Performances von J. Bereś 1970-1977 - Tätigkeit der „Werkstatt der Filmform“ (Warsztat Formy Film‐ owej) 1971-1987 - Tätigkeit des KünstlerInnen-Duos KwieKulik (P. Kwiek und Z. Kulik) 1980 - Gründung der Gewerkschaft Solidarność 1981-1983 - Kriegsrecht unter Wojciech Jaruzelski 1982-1990 - Happenings der Gruppe „Pomarańczowa Alternatywa“ (Oran‐ gene Alternative) in Wrocław, Warszawa, Łódź, Lublin Von 1979 bis heute - Tätigkeit der Gruppe „Łódź Kaliska“ Chronologie 157 <?page no="159"?> 1 Bei der allgemeinen Charakterisierung der rumänischen Avantgardekünstler stütze ich mich auf folgende Arbeiten: Pop, Ion. Avangarda în literatura română. Bucureşti: Atlas. 2000 (Pop 2000); Mincu, Marin (Hrsg.). Avangarda literară românească. Bu‐ cureşti: Minerva. 1983. (Mincu 1983); Morar, Ovidiu. Avatarurile suprarealismului românesc. Bucureşti: Univers. 2003; Morar, Ovidiu. Avangardismul românesc. Iaşi: Ideea Europeană. 2005; Gulea, Dan. Domni, tovarăţi, camarazi. O evoluţie a avangardei române. Piteşti: Paralela 45. 2007; Krisztina, Passuth. Avantgarde kapcsolatok Prágától Bukarestig 1907-1930. Budapest: Balassi. 1998; Cârneci, Magda. Artele plastice în România 1945-1989. Iaşi: Polirom. 2013; Crohmălniceanu, Ovid S. Evreii în mişcarea de avangardă românească. Bucureşti: Hasefer. 2001; Piotrowski, Piotr. In the Shadow of Yalta. The Avant-garde in Eastern Europe, 1945-1989. Transl. Anna Brzyski. London: Reaktion Books. 2009. V. Rumänien Imre Balazs 1. Überblick Die Position der rumänischen Avantgarde in der Kultur zwischen den Weltkriegen ist eine eher marginale. Die großen zeitgenössischen literatur‐ geschichtlichen Arbeiten konzentrierten sich auf die nationalen Klassiker und die Autoren des sich herausbildenden Modernismus. Auch die kultur‐ ellen Institutionen beschäftigten sich im Allgemeinen überhaupt nicht mit der Avantgarde. Das rumänische Staatsgebiet vergrößerte sich mit den Friedensverträgen, die den Ersten Weltkrieg beendeten. In Groß-Rumänien wurde in diesem Zusammenhang der Aufbau der nationalen Kultur zu einem Teil der auf Modernisierung ausgerichteten Politik. Die rumänischen Avantgardekünstler arbeiteten generell im Kontext dieses optimistischen und expansiven Aufbaus der Nation, also in einem Umfeld, in dem linke politische Aktionen keine Massenbasis und keine bedeutende Tradition hat‐ ten. Die in Rumänien arbeitenden Avantgardekünstler vertraten in großer Mehrheit linke und gesellschaftskritische Positionen und viele von ihnen gehörten Minderheiten an: Sie waren Juden, Deutsche oder hatten ungari‐ sche Wurzeln. Bei ihrer Marginalisierung spielen all diese Erwägungen eine Rolle. 1 <?page no="160"?> In der kurzen Zeitspanne vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis 1947 entwickelte sich in Rumänien eine lebendige Avantgardeszene. Nach der Stalinisierung der Kultur ab 1948 wurde bis in die 60er Jahre der sozialisti‐ sche Realismus hingegen zum allein bestimmenden Element in der Kunst in Rumänien. Darauf folgte während einem graduellen Tauwetter und einer Liberalisierung der Kultur die nachträgliche Kanonisierung der historischen Avantgardekunstwerke, sowie parallel dazu die Entstehung von experimen‐ tellen Kunstwerken und deren Anerkennung. Diese experimentellen Werke entstanden jedoch im Vergleich mit der Zwischenkriegszeit in einem von Grund auf veränderten institutionellen Kontext. Wenn wir Peter Bürgers Betonung der Bedeutung der Institutionalisierung der Kunst berücksich‐ tigen, dann lässt sich sagen, dass es zwischen der Zwischenkriegszeit- und der Nachkriegsavantgarde in Rumänien keine Kontinuität gab, auch wenn einige bedeutende Zwischenkriegsavantgardekünstler während der 1960er und 1970er Jahre noch aktiv waren. Die rumänische Kunstgeschichte verwendet den Ausdruck Neoavantgarde für die neue, experimentelle Kunst selten, obwohl während der Periode der Liberalisierung eine Neubewer‐ tung der Zwischenkriegszeitavantgarde erfolgte. Ab der zweiten Hälfte der 1960er Jahre wurde die Avantgarde durch Anthologien, Ausstellungen, Theateraufführungen, Monografien und kunstgeschichtliche Arbeiten in der rumänischen Kultur immer präsenter. Die Bedeutung der rumänischen Avantgarde wuchs zweifellos in den letzten Jahrzehnten. Das zeigt sich daran, dass einige Künstler internationales Ansehen gewannen: Tristan Tzara und Gherasim Luca sind auch in der französischen Dichtung bekannte Künstler; in den bildenden Künsten Marcel Iancu ( Janco), Victor Brauner und Hans Mattis-Teutsch; in der Neoavantgarde sind die Künstler Dumitru Ţepeneag oder Ion Grigorescu weltweit bekannt. Auch Paul Celan hatte eine Verbindung zur rumänischen Avantgarde: Am Anfang seines Schaffens lebte er kurz in Bukarest (1945‒1947) und schrieb Gedichte in rumänischer Sprache. Das gilt auch für Benjamin Fondane (Fundoianu), der, nach dem Beginn seiner Laufbahn in Rumänien, während seines Aufenthaltes in Paris (1923‒1944) Anschluss an den Surrealismus und den Existenzialismus fand. Auch die genannten Namen zeigen, dass zahlreiche rumänische Avantgar‐ disten mehrere Zugehörigkeiten hatten. Es gibt unter ihnen mehrsprachige Künstler, Emigranten sowie Künstler, die in Rumänien als Teil einer Minder‐ heit lebten. In diesem Verständnis übersteigen ihre Arbeiten von vornherein eine Interpretation innerhalb einer monolitischen Nationalkultur. 160 V. Rumänien <?page no="161"?> Die rumänische Avantgarde ist dadurch charakterisiert, dass die „großen“ westeuropäischen Richtungen (Futurismus, Dada, Surrealismus), die es mehr oder weniger schafften, eine einheitliche Poetik herauszubilden, in der rumänischen Kultur nicht programmatisch präsent waren. Vielmehr charakterisiert eine Art „moderne Synthese“ die Kunstszene zwischen den Weltkriegen. Der „Integralismus“ wurde in den 20er Jahren auch als Be‐ zeichnung einer eigenen Richtung verwendet. Dieser Begriff stammt aus dem Namen der Zeitschrift Integral (1925‒1928), deren Name schon die Aufmerksamkeit auf den zusammenfassenden Charakter lenkt. Die Kritiker stimmen großteils darin überein, dass die rumänische Avantgarde zwei maßgebliche Richtungen habe: den Konstruktivismus (dessen Eigenschaften teilweise auch als Synthesen herausbildend verstanden werden) und den Surrealismus. Zeitschriften und Künstlergruppen bezeichneten sich schon nach kurzer Zeit in ihren Namen mit diesen Richtungen: Beispielsweise bezeichneten sich die Zeitschriften Contimporanul und Punct (1924‒1925) einige Zeit auf ihrem Titelblatt als konstruktivistische Zeitschriften; oder die surrealistische Künstlergruppe, die zwischen 1940 und 1947 in Bukarest tätig war, und die mit Bretons Pariser Gruppe zusammenarbeitete. Die Gruppen der Neoavantgarde konnten in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg als eigene Richtung den Oneirismus herausarbeiten. Die darauffolgenden expe‐ rimentellen Künstler hingegen schufen isoliert und ohne programmatischen Auftritt in ihren Ateliers. Die Geschichte der rumänischen Avantgardebewegung beginnt eigent‐ lich 1924, mit Ion Vineas Manifest Manifest activist către tinerime (Aktivisti‐ sches Manifest an die Jugend), das in Contimporanul erschien. Doch ihre Vorgeschichte kann man bis in die Mitte der 1910er Jahre zurückverfolgen. Schon 1912 erschien Ion Vineas und Tristan Tzaras Zeitschrift Simbolul. In den rumänischsprachigen Gedichten von Tristan Tzara aus dieser Zeit taucht bereits die Zufälligkeit der Bildschöpfung und die Neigung zu spielerischen „antiliterarischen“ Redewendungen auf, die später in Tzaras dadaistischer Zeit noch stärker hervortreten. Die jungen Autoren im Umfeld der Zeitschrift schufen, beeinflusst von Rimbauds Modernismus und Mor‐ gensterns Galgenliedern, ironische Werke. 1915 verließ Tzara Rumänien und lebte in Zürich, wo er mit dem Maler Marcel Iancu zusammentraf und zum Begründer des Dada wurde. Die zweite wichtige Person der rumänischen Vor-Avantgarde ist Urmuz (bürgerlicher Name: Dem. Demetrescu-Buzău), der schon 1907 begann absurde Kurzprosa zu schreiben, die einen außergewöhnlichen schwarzen 1. Überblick 161 <?page no="162"?> 2 s.n., […Pour collaborer a 75 HP il faut…], 75 HP 1 (1924), p.-2. Humor hat und aus launenhaften Assoziationen konstruiert ist. Diese Werke wurden zuerst handschriftlich in Bukarest verbreitet und ab 1922 begannen sie in Zeitschriften zu erscheinen. Urmuz beging 1923 Selbstmord - die Avantgardekünstler erkannten in seinen Texten und Gesten eine „rumänische Jarry-“ oder „rumänische Jacques Vaché-“ Figur. In den Avant‐ gardezeitschriften der 1920er Jahre erschienen zahlreiche Urmuz-Pastichen. Autoren und Redakteure sahen in ihm einen möglichen Begründer der Sprache der Avantgardeprosa. Ab den beginnenden 20er Jahren bestimmten Zeitschriften wie die Buka‐ rester Contimporanul (1922-1932), 75 H.P. (1924), Punct (1924-1925), Integral (1925-1928) oder Unu (1928-1932) das Erscheinungsbild der rumänischen Avantgarde. Die bedeutendste Zeitschrift, die in einer der Sprachen der rumänischen Minderheiten erschien, war die in Arad auf Ungarisch erschei‐ nende Zeitschrift Periszkop (1925-1926). Diese Zeitschriften ermöglichten die Zusammenarbeit der Avantgardekünstler in Gruppen und die gemein‐ same Arbeit von Schriftstellern und bildenden Künstlern. Gleichzeitig war eine ihrer bedeutenden Funktionen die Vermittlung der Positionen und Richtungen der Erneuerung in der internationalen Kunst. Als Vermittler spielten Tristan Tzara und andere Künstler, die in den Westen gegangen waren, eine wichtige Rolle. Die Richtungen in der Kunst betreffend befanden sich Contimporanul, Punct, Integral und die ungarische Periszkop im Einflussbereich des Kon‐ struktivismus. Für das Bildmaterial in 75 H.P. war auch der Konstruktivismus bestimmend, während Kritiker die Texte der Zeitschrift als dadaistisch be‐ trachten. Diese Zuordnung kann nicht nur in den aleatorisch konstruierten und gesetzten Texten erkannt werden, sondern auch in Gesten, wie der selbstironischen Abfassung von Werbungen. Beispielsweise wurden bei Victor Brauners Ausstellungen Besucher aus folgenden Bereichen erwartet: Künstler, Athleten, Kinder, Friseure, Leberkranke, Akrobaten, Gastanks, Akademiker, Feuerwehrleute usw. Die Redaktion entschied mit ähnlicher Großzügigkeit, welche Texte ins Blatt kommen konnten. Wer Mitarbeiter des Blattes werden wollte, musste gut tanzen können, musste bereit sein zu Pissen, musste seine Eltern achten, musste bei einem Flugzeugunfall abgestürzt sein und es war nicht erlaubt Literatur zu machen. 2 Es geht also um eine grundsätzlich fröhliche und unbeschwerte Äußerung, was 162 V. Rumänien <?page no="163"?> 3 Yaari, Monique. Infra-Noir, un et multiple: Un groupe surréaliste entre Bucarest et Paris, 1945-1947. Bern: Peter Lang. 2014. allerdings nicht für die Schablonen des düsteren Ausdrucks hinter den Dada- Clown-Gewändern gültig war. Der französische Surrealismus spielte zuerst in der Zeitschrift Unu eine entscheidende Rolle. Die hier publizierenden Autoren werden als die erste Welle des rumänischen Surrealismus betrachtet. Die zweite Welle des rumänischen Surrealismus wurde auf Initiative der aus Paris nach Bukarest zurückkehrenden Gellu Naum und Gherasim Luca 1940 ausgelöst. Zwischen 1945 und 1947 gelangte ihre hauptsächlich französische Publikationsreihe Infra-Noir zu Bekanntheit. 3 Durch ihre rumänischen und französischen Publikationen und Ausstellungen bildender Kunst erkämpften sie sich die Anerkennung der Pariser und osteuropäischen Surrealisten. Sie unterhielten in dieser Zeit einen regen Briefwechsel und Publikationsaustausch mit der ungarischen Európai Iskola, der tschechischen Skupina Ra und mit der Gruppe der französischen Surrealisten. In der bildenden Kunst übten im Ausland lebende Künstler rumänischer Herkunft entscheidenden Einfluss auf die rumänische Avantgarde aus. Arthur Segal oder Konstantin Brâncuşi führten auch im Ausland ihre Beschäftigung fort, die sich in entscheidenden Teilen aus den Umbrüchen der künstlerischen Moderne ergab. Von ihnen beeinflusst, arbeiteten M. H. Maxy, Marcel Iancu, Miliţa Petraşcu und viele weitere in Rumänien der 20er Jahre wirkende Avantgardekünstler mit den Merkmalen der abstrakten (der späte Kubismus und dann der Konstruktivismus) und „primitiven“ Kunstformen. Ihre internationale Vernetzung bestimmte die Konzeption der internationalen Ausstellung, die die Zeitschrift Contimporanul 1924 in Bukarest organisierte. Diese Ausstellung, deren Hauptorganisator M. H. Maxy war, sehen viele Kritiker als Ereignis der rumänischen Avantgarde mit dem größten Einfluss an. Maxys Werk in Rumänien war während der 1920er Jahre von einem Aufenthalt in Berlin (zwischen 1922 und 1923) bestimmt. Dort arbeitete er in Arthur Segals Atelier und damals stellte er auch den Kontakt zur Galerie Der Sturm (wo einige seiner Werke ausgestellt wurden) und zum Weimarer Bauhaus her. 1924 taucht in seinem Manifest Bildliche-Zeitmessung (Cronometraj-pictural) der Begriff „konstruktivistischer Kubismus“ auf, der als Bezugspunkt der späteren rumänischen bildenden Kunst bestimmt werden kann. Die Kritiker seiner Bilder charakterisieren seine damaligen Werke nicht nur durch den Einfluss 1. Überblick 163 <?page no="164"?> 4 Chiriac, Alexandra. Myth, making and modernity: the Academy of Decorative Arts and Design Education in Bucharest. Caietele Avangardei 12/ 2018, S.-96-107. der kristallenen Werke Segals, sondern auch durch eine Art abstrakter Synthese von Konstruktivismus und Kubismus. Neben Maxy waren die weiteren wichtigen rumänischen Akteure der Contimporanul-Ausstellung: Marcel Iancu (der konstruktivistische und dadaistische Werke ausstellte); Mattis Teutsch, der mit seinen charakteristischen abstrakten Kompositionen vertreten war; die damals im Ausland arbeitenden Constantin Brâncuşi und Miliţa Petraşcu sowie der junge Victor Brauner, der 1924 genauso mit den Merkmalen der Bildwelt des Konstruktivismus arbeitete, die die Techniken der dadaistischen Provokationen und der Collage vereint. Bei der internationalen Ausstellung waren auch herausragende Künstler aus Polen, Ungarn, Holland, Belgien, der Tschechoslowakei, Deutschland und Schweden präsent. Unter ihnen Karel Teige, Lajos Kassák, Hans Arp, Kurt Schwitters, Paul Klee, Hans Richter oder Viking Eggeling. Zum Verständnis der Aufzählung der Namen ist wichtig zu erwähnen, dass der Mitorganisator der Ausstellung, Marcel Iancu, nach der Auflösung der Züricher Dada- Gruppe in Paris und Deutschland arbeitete. Schon in der Zeit des Dada schuf er geometrisch abstrakte Reliefs, und ganz grundsätzlich sind seine Arbeiten von den Prinzipien der Abstraktion bestimmt. 1922 nahm er am ersten internationalen Konstruktivisten-Kongress in Weimar teil und kehrte anschließend nach Bukarest zurück, um mit Ion Vinea zum Mitgründer der Zeitschrift Contimporanul zu werden. Iancus Netzwerk und seine internati‐ onale Bekanntheit waren natürlich entscheidend bei der Konzeption der Contimporanul-Ausstellung. Charakteristisch, und parallel zu den internationalen Entwicklungen, ist für die rumänische Avantgarde ihr zentrales Moment die Gründung einer Akademie für Kunstgewerbe 1924 in Bukarest. Ihre Leitung übernahm ab 1926/ 1927 bis zu ihrer Auflösung 1929 M. H. Maxy. Für sie waren die Berliner Schule Reimann und das Weimarer Bauhaus die Vorbilder aus Westeuropa. 4 Der Einfluss der rumänischen avantgardistischen bildenden Kunst setzte sich im Kunstgewerbe fort und nach dem Zweiten Weltkrieg lassen sich sogar persönliche Kontinuitäten zwischen ihr und dem sozialistischen Realismus beobachten. M. H. Maxy war zwischen 1950 und 1971 Direktor des Nationalen Kunstmuseums in Bukarest und in dieser Funktion konnte er aus dem Blickpunkt eines nachträglichen Dokumentierens in den 1960er 164 V. Rumänien <?page no="165"?> 5 Alexandrian, Sarane. Victor Brauner. Paris: Oxus. 2004, S.-30. 6 Zu den Begriffen vgl. Prügel, Roland. Im Zeichen der Stadt, Avantgarde in Rumänien 1920-1938, Köln u.a.: Böhlau. 2008, S.-154-157. 7 Zum Begriff vgl. Păun, Paul. Brevet Lovaj (Lovaj Patent), Dada/ Surrealism 20 (2015). h ttps: / / doi.org/ 10.17077/ 0084-9537.1309. und 1970er Jahren der Avantgardekunst eine herausgehobene Bedeutung geben. Für die Präsenz des Surrealismus in der rumänischen bildenden Kunst waren Victor Brauners Aufenthalte in Paris (1925-1926, 1930-1935 und ab 1938 mit kurzen Unterbrechungen bis zu seinem Tod 1966) entscheidend. Daneben war die Vermittlerrolle der Zeitschrift Unu, deren Redaktionsmit‐ glied Brauner ebenfalls war, bedeutend. Zwischen 1930 und 1935 arbeitete Brauner im Umkreis von André Bretons Pariser surrealistischer Gruppe, der 1934 sogar die Einleitung für den Katalog von Brauners Ausstellung in der Galerie Pierre schrieb. 1935 kehrte Brauner nach Bukarest zurück, wo seine Ausstellung im Bukarester Mozart-Saal entscheidenden Einfluss auf Gellu Naum ausübte. Naum, der schon ein wichtiger Dichter der „zweiten rumänischen surrealistischen Welle“ war, wurde später zum Gründer der Bukarester Surrealistengruppe. „Ich möchte so schreiben, wie Sie malen“ - bekennt Naum im zur Legende gewordenen Satz auf der Ausstellung 1935. 5 Und diese Ausrichtung bestätigte sich im Nachhinein durch Naums sich entfaltendes Lebenswerk. Brauner wurde neben Jacques Hérold, der eben‐ falls Mitglied der Surrealistengruppe war, zur wichtigsten Kontaktperson und Mentor für die jungen Künstler der Bukarester Surrealistengruppe. In den 1940er Jahren erarbeiteten Gherasim Luca, D. Trost und Paul Păun neuartige surrealistische Techniken in den bildenden Künsten: Kubomanie (frz. Cubomanie), objektiv dargebotenes Objekt (Gherasim Luca), Vaporisa‐ tion (Trost) 6 und lovaj 7 (Paul Păun). Diese machten sie in Ausstellungen, Katalogen und illustrierten Büchern publik. Die Techniken wurden auch im internationalen Surrealismus einflussreich. 1947 plante die Bukarester Surrealistengruppe an der internationalen Ausstellung Le Surréalisme en 1947 in der Pariser Galerie Maeght teilzunehmen, aber letztlich gelang es ihnen nicht aus Rumänien auszureisen. Mit ihrem kollektiven Text Le sable nocturne, der sich im Grenzgebiet zwischen bildender Kunst, Performance und Literatur bewegt, waren sie aber im Ausstellungskatalog vertreten. Dieser gemeinsame Auftritt bildete den Schlusspunkt ihrer Aktivitäten als Gruppe. 1. Überblick 165 <?page no="166"?> 8 Motzan, Peter (Hrsg.). Vînt potrivit pînă la tare. Zece tineri poeţi germani din România. Bucureşti: Kriterion. 1982. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, nach einem kurzen Aufblühen, wurde die Avantgardekunst in Rumänien bis 1947 sukzessive und schließ‐ lich vollständig in den Hintergrund gedrängt. Ab Mitte der 1960er Jahre wurde die Zeit der Alleinherrschaft des sozialistischen Realismus von einer vorsichtigen und stufenweisen Pluralisierung der Kunst abgelöst. In der Literatur entstand die onirische Gruppe, die zwischen 1964 und 1971 mit der Neuauslegung der ästhetischen Basis des Surrealismus experimentierte. Um das Jahr 1968 herum entwickelte sich in der Gruppe (hauptsächlich Dumitru Ţepeneag und Leonid Dimov) eine intensive theoretische Ausei‐ nandersetzung über die Interpretation des Traumes und die Beziehung zum Surrealismus. Forscher, die sich mit der rumänischen Kultur auseinan‐ dersetzen, behandeln den Oneirismus normalerweise nicht als Teil der Avantgarde, sondern als Teil des Experimentalismus. Als experimentellen Nachklang des Surrealismus kann der Versuch interpretiert werden, die Resultate des französischen Nouveau Romans an die Eigenschaften des frühen Surrealismus anzunähern. Ţepeneag lebte ab dem Anfang der 1970er Jahre in Frankreich und schrieb auch mehrere Bücher auf Französisch. Damit gehörte er der Gruppe zweisprachiger Autoren an, die sowohl in der Zeit zwischen den Weltkriegen als auch nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs (beispielsweise Isidore Isou, der die Strömung des Lettrismus begründete, oder Gherasim Luca, der später als wichtiger Vertreter der Lautdichtung bekannt wurde). Eine der bedeutendsten Gruppen, die avantgardistische Aktivitäten verfolgten, war die zwischen 1972 und 1975 in Timișoara tätige Aktions‐ gruppe Banat. Diese vereinigte die auf Deutsch schreibenden Autoren der deutschen Minderheit im Banat. Charakteristisch für deren Texte ist ihre widerstrebige und politische Auseinandersetzung mit der Gegenwart. Als literarische Vorbilder kann man neben den Arbeiten von Bertolt Brecht die amerikanische Beatgeneration und die Wiener Gruppe (Kapitel III) ausma‐ chen. Obwohl die spätere Nobelpreisträgerin Herta Müller kein Mitglied der Aktionsgruppe im engeren Sinn war, schöpfte sie aus denselben Er‐ lebnissen und Wertvorstellungen das Grundmaterial ihrer späteren Prosa. Die rumänische Anthologie Vînt potrivit pînă la tare (Starker bis mäßiger Wind) der Aktionsgruppe Banat, die 1982 erschien, übte großen Einfluss auf die junge rumänische Dichtung der 80er Jahre aus. 8 In der Literatur 166 V. Rumänien <?page no="167"?> 9 Balázs, Imre József. Neoavangarda în receptarea generaţiilor Forrás. Caietele Avan‐ gardei 12/ 2018, S.-60-64. 10 Cârneci, Magda. Artele plastice în România 1945‒1989. Iași: Polirom. 2013, S.-76. 11 Idem, S.-97. der ungarischen Minderheit können wir ab dem Ende der 60er Jahre in den Arbeiten junger Autoren der Reihe Forrás und junger Dichter im Umkreis der Zeitschrift Echinox aus Timișoara, neoavantgardistische Züge ausma‐ chen, wie etwa die Orientierung an konkreter und visueller Dichtung oder die Verwendung von sprachlichen Collagen. 9 Ab der zweiten Hälfte der 80er Jahre verließen wegen der wachsenden politischen Verfolgung viele der deutsch- und ungarischsprachigen Experimentalkünstler Rumänien und ersuchten um Asyl in verschiedenen europäischen Ländern. In der bildenden Kunst sicherte ab der Mitte der 1960er Jahre die Zeit‐ schrift Arta Plastică die Möglichkeit zur schrittweisen Anerkennung der verschiedenen Richtungen experimenteller Kunst in Rumänien. Symboli‐ sche Augenblicke der neuerlichen Rezeption früherer Experimentalkunst stellen unter anderem das 1967 in Bukarest organisierte internationale Brâncuşi-Kolloquium dar (seine Texte wurden im folgenden Jahr publiziert); oder eine Ausstellung mit Werken von Gorky, Pollock, de Kooning, Rau‐ schenberg, Lichtenstein, Warhol und anderen amerikanischen Künstlern (The Disappearance and reappearance of the Image), die 1969 in Bukarest veranstaltet wurde. 10 Diese Wanderausstellung der Smithsonian Institution (Washington, DC) wurde in Rumänien, in der Tschechoslowakei und Belgien gezeigt. Zuerst festigten sich in der rumänischen bildenden Kunst die über die Grenzen der figurativen und realistischen Kunst hinausgehenden Varian‐ ten, aber auch experimentelle Versuche. Diese werden von der Kunstge‐ schichte als meist westlich inspirierte Adaptionen mit formal-ästhetischem Schwerpunkt angesehen. Die Varianten wurden mit folgenden Begriffen bezeichnet: experimenteller Realismus, dokumentarischer Neorealismus, urbaner Expressionismus, object art, bionische Kunst, Neokonstruktivis‐ mus, Konzeptkunst, psychoökologische Kunst oder palp-art. Diese Art des Experimentalismus/ der Neoavantgarde unterscheidet sich mit ihren normalerweise sanften und auf eine Integrierung der Moderne ausgerichte‐ ten Eigenschaften von der westlichen politischeren Avantgarde, 11 und das obwohl ihr politischer Kontext eine strenge Diktatur war, der Rahmen der Ceauşescu-Zeit. Gleichzeitig fällt auf, dass ab der zweiten Hälfte der 1960er 1. Überblick 167 <?page no="168"?> 12 Mincu 1983, S.-548-549. Jahre eine parallele Form der Öffentlichkeit die rumänische bildende Kunst- Szene bestimmte. Einige Richtungen (wie etwa die mail art) existierten lange Zeit nur in dieser zweiten Öffentlichkeit. Zusätzlich wurden in dieser Zeit aus Rumänien emigrierte bildende Künstler international bekannt. Beispielsweise wurde Paul Neagus Kunst im Rahmen einer Art Anthropo‐ kosmologie verstanden. Für Neagu muss die Rezeption der Kunst durch die Sinnesorgane das Visuelle übersteigen. Diese Konzeption entwickelte er in seinen immer komplexer werdenden Arbeiten ab dem Ende der 1960er Jahre in Großbritannien weiter. International bekannt wurden in den letzten Jahrzehnten die neoavant‐ gardistischen body-art Arbeiten von Ion Grigorescu. Ihre Besonderheit ist, dass sie zu bedeutenden Teilen in den 1970er und 1980er Jahren ent‐ standen und eng im Kontext des Ceauşescu-Systems stehen, das durch Körperkontrolle funktionierte. Diese Arbeiten bekamen erst nachträglich eine Öffentlichkeit. Eine Künstlerin, die eine mit Grigorescu vergleichbare Bedeutung hat, ist die mit diesem zusammenarbeitende Geta Brătescu. Ihre Bedeutung liegt im Bereich der Fotokunst, Objektkunst und des Happenings. In der Zeit nach dem Systemwechsel 1989 wiesen die Manifeste des Transzentrismus (1993) und das frakturistische Manifest „Generation 2000“ (1998) („kétezres nemzedék“) junger ungarischer Künstler aus Rumänien darauf hin, dass auch in der neuen demokratischen Umgebung der Auftritt von Gruppen, die sich nach der avantgardistischen Logik organisieren, eine Daseinsberechtigung habe. Derartige Entwicklungen der zeitgenössischen Kultur legitimieren die institutionell verankerte Forschungsrichtung, die in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten diese Entwicklungen betonend und bestärkend, die besonderen Beziehungen der rumänischen Avantgarde untersucht hat. 2. Manifeste und Programmatisches 1924 erschien in Contimporanul das erste bedeutende Manifest der rumäni‐ schen Avantgarde, Ion Vineas Manifest activist către tinerime (Aktivistisches Manifest an die Jugend). 12 Zur Umschreibung des hier verwendeten Begriffs „Aktivismus“ ist wichtig zu erwähnen, dass Vinea und Tristan Tzara früher von einer Position ausgingen, die mehr oder weniger identisch mit der 168 V. Rumänien <?page no="169"?> 13 Pop 2000, S.-77. 14 Vinea, Ion. Aktivistisches Manifest an die Jugend, Gerhardt Csejka (Übersetzer). In: Behring, Eva (Hrsg.). Texte der rumänischen Avantgarde 1907-1947, Leipzig: Reclam. 1988, S.-26. symbolistischen Moderne war. Aber nach und nach lenkte der Kontext sie in andere Richtungen, nach denen sie arbeiteten. Während Tzara seine literarische Karriere im Ausland fortsetzte, blieb Vinea in Rumänien und publizierte auf Rumänisch. Der Avantgardeforscher Ion Pop stellt in seiner Analyse fest: Die zeitgenössische rumänische gesellschaftliche und politische Szene begüns‐ tigte nicht solche radikale Verneinungen, wie der Dada eine war. Nicht unbedingt deshalb, weil die verneinenden Strukturen des Dada sich nicht hinreichend ausbilden hätten können, sondern eher deshalb, weil der geschichtliche Moment sich meistens als konstruktiv zeigte, und zu dieser Zeit spielte das Ideal der nationalen Einheit und die Festigung der bestehenden bürgerlichen Institutionen die entscheidende Rolle. 13 Die Zeitschrift sah in erster Linie den Konstruktivismus (oder manchmal mit anderem Namen als Abstraktion bezeichnete Richtung) als das, was in der bildenden Kunst Bestand haben werde. Von diesem konstruktivistischen Standpunkt ausgehend verbreitete das Blatt in den ersten beiden Jahrgängen, die der Veröffentlichung des Manifests vorangingen, Schriften von Theo van Doesburg, Hans Richter oder Ion Vinea. In diesen betonten die Autoren das Abhandenkommen „der Krücken der Natur“, die reale Gegenständigkeit des Kunstwerks und die Ordnung und Disziplin für die Kunst. Dementsprechend hält Ion Pop den „Aktivismus“ für einen Begriff, der in diesem Manifest eigentlich mit dem Dynamismus, der für die ganze Avant‐ garde charakteristisch ist, und der ständigen Bereitschaft der schöpferischen Energien identisch ist. Deshalb verursacht dieser Begriff für Pop auch keine Schwierigkeit, das Manifest in einem konstruktivistischen Kontext zu interpretieren. Das Manifest beginnt mit der Formel „Nieder mit der Kunst“ und untersucht die als veraltet angesehenen Klischees der Literatur und Kunst, die es gleichzeitig ablehnt. Folgende Sätze enthalten das konkrete künstlerische Programm und binden auch Elemente des Konstruktivismus sowie rekontextualisierte Elemente des Futurismus ein: WIR WOLLEN das Wunder des neuen Wortes, des unverbrauchten und selbstge‐ wissen; den plastischen strengen und rapiden Ausdruck der Morsegeräte. 14 2. Manifeste und Programmatisches 169 <?page no="170"?> 15 Vinea, Aktivistisches Manifest an die Jugend, S.-27. 16 Vinea, Aktivistisches Manifest an die Jugend, S.-27. 17 Mincu 1983, S.-562-563. Übersetzung Benedikt Roland. Die Literatur zielt also auch auf die Autonomie der Formulierung, genauso wie auf die maschinelle Genauigkeit und Geschwindigkeit, die auch schon für den Futurismus anziehend waren. Wegen ihrer Schnelligkeit und Ableh‐ nung einer „quasi-literarischen“ Analyse wertet das Manifest das Genre der Reportage auf, das auch mit dem konstruktivistischen Kunstideal der Zurückhaltung von Gefühlen übereinstimmt. Der Aufruf „Töten wir unsere Toten“, mit dem das Manifest endet, verkündet das Zerwürfnis mit der Vergangenheit und genauso die Zukunftszentrierung, die den meisten Avantgarderichtungen eigen ist. Vinea, der Autor des Manifests, weist die Setzung des Individualismus als Ziel zurück, um „zur integralen Kunst vorzustoßen, welche alle großen Epochen kennzeichnet.“ 15 Als Argument für die Anerkennung dieser neuen Kunst führt Vinea die gerade entstehenden Städte, Straßen, Brücken und Fabriken an. Er sagt: „Der Aufbau Rumäniens findet heute statt.“ 16 Hierbei setzt er auch die „Sparsamkeit der primitiven Formen“ - die die Eigenschaft der Volkskunst und des Töpferns des Volkes ist - als zu erreichendes Ziel fest. Auch die Zeitschrift Punct nannte sich ab 1924 in ihrem Untertitel konstruktivistisch - später verschmolz sie mit der Redaktion von Contim‐ poranul. In einem Text aus dem Jahr 1925 bemerkte Ilarie Voronca zur Konzeption der Synthesen der rumänischen Avantgarde: Der Konstruktivismus bedeutet in der bildenden Kunst das gleiche, wie in der modernen Geometrie die vierte Dimension. Der - in der Romantik verwurzelte - Expressionismus behandelte das Objekt als subjektiven Ausdruck. Der Kubismus betrachtete auf wissenschaftliche Art das Objekt in sich als Resultat einer kalten und unpersönlichen Beobachtung. Der Futurismus untersuchte es in dem Aufeinanderfolgen der Bewegung. Der Konstruktivismus (die vierte Dimension) bedeutet eine abstrakte Harmonie, die sich mit genauen Gesetzen herstellt, eine saubere Erzeugtheit, in der sich das Objekt aus der Proportion und Balance der Linien und Farben entfaltet. […] In diesem Verständnis ist der Konstruktivismus der Stil der Zeit, wurde zum Ausdruck des Jahrhunderts. 17 Schon 1924 beschäftigte sich Voronca in Zusammenhang mit dem Begriff Piktopoesie (pictopoezie) der Zeitschrift 75 H.P. auch mit der Synthese 170 V. Rumänien <?page no="171"?> 18 Mincu 1983, S.-564-565. 19 Mincu 1983, S.-581-582. verschiedener Kunstarten, die in der Zeitschrift in gemeinsam mit dem Maler Victor Brauner erstellten Collagen von Text und Bild sichtbar ist. In der ersten Nummer der Zeitschrift Integral „Der Mensch: ist eine Erfindung…“ erschien ein von Ilarie Voronca formuliertes Manifest. 18 Dieses handelt von der entscheidenden Bedeutung der städtischen Kultur, der Geschwindigkeit, der Simultanität, der Zeichen des technischen Fortschritts (Telegraf, Ozeandampfer, Maschinen, Fabriken) und die neuen Eigenschaf‐ ten des Menschen (verblüffende Nüchternheit, neue Psychophysiologie), die auch die bestimmenden Faktoren der zeitgenössischen Kultur waren. Der Schlussgedanke des Manifests betont, dass man all das in einer Synthese darstellen muss: WIR: In eine Synthese fassen wir den Lebenswillen und die Kraftanstrengungen jeder modernen Erfahrung, die in der jeweiligen Zeit und Ort auffindbar sind. In die Kollektivität hineintauchend, gestalten wir den Stil der Synthese auf der Basis der Instinkte, über die sie kaum geahnt hätten, dass sie existieren. Dieser Text aus dem Jahr 1925 wurde schon im Wissen über den Surrea‐ lismus formuliert, was gut wahrnehmbar ist. Aber der durch die Zeitschrift vertretende „Integralismus“ ordnet den Surrealismus in die anderen Ismen ein, hebt ihn einzig wegen seiner Neuigkeit nicht hervor. Der Untertitel der Zeitschrift lautet: „revistă de sinteză modernă“ oder „Die Zeitschrift der modernen Synthese“. Die Autoren (unter ihnen Illarie Voronca, M.H. Maxy, Benjamin Fondane, Hans Mattis Teutsch) stellten während dem Bestehen des Blattes in diesem Geist auch verschiedene Richtungen der Avantgarde vor: darunter 1927 in einer ganzen Nummer den italienischen Futurismus. Die Zeitschrift Unu beschäftigte sich auch in mehreren Manifesten und theoretischen Texten mit dem Traum und mit der Texten zugeschriebenen befreienden Kraft. Unter diesen verdient der Text Coliva lui Moş Vinea (Onkel Vineas Hütte) 19 hervorgehoben zu werden, der schon in seinem Titel den sich abgrenzenden Gestus der internationalen Avantgarde zitiert. Dieser Text grenzt sich nicht nur von den Prinzipien und Kompromissen der Reaktion von Contimporanul aus dem Ende der 1920er Jahre ab, sondern auch vom Konstruktivismus als Richtung: 2. Manifeste und Programmatisches 171 <?page no="172"?> 20 Mincu 1983, S.-615-618. Hätte Contimporanul nicht schon so oft sichtbar für die Bestätigung ihres zweifelhaften Verhaltens gesorgt, auch dann müssen wir dazu Stellung nehmen: Der ‚Konstruktivismus‘, den die Bewegung um das Blatt zu vertreten versucht und auf dem das Blatt seit seiner Gründung starr besteht, ist vollständig fremd den aktuellen Anschauungen von Unu, die sich mit einer Haltung identifizieren, die sich von der Realität und diesem konstruktivistischen Utilitarismus losreißt, der sich in die Architektur einschließt; anstatt begehrten wir nach den Gewässern der Träume, wo von den Visionen die Probleme und Kontinuitäten sich lösen, die sich jenseits des Gedichts und Halbschlafs befinden. (S.-582) Es ist eindeutig, dass die auf die menschliche Psyche fokussierenden Grundsätze des Surrealismus dem Konstruktivismus entgegenstehen, der als rationalistisch, kalt und abstrakt betrachtetet wurde. Die Avantgarde der 1930er Jahre in Rumänien folgte der gesellschaftli‐ chen Verpflichtung des französischen Surrealismus. In diesem Verständnis näherte sie sich der Form der Reportage, versuchte die Unmittelbarkeit des Lebens zu erfassen und die Kunst in Massenkunst zu wandeln. Ihre Ausdrucksformen wehren sich gegen den Hermetismus; zugleich formuliert sie den Anspruch roher Formlosigkeit und Wildheit. 1933 startete unter der Leitung von Geo Bogza die Zeitschrift Viaţa imediată (Das unmittelbare Leben), von der nur eine einzige Nummer erschien. Ihr Manifest, Poezia pe care vrem să o facem (Die Poesie, die wir machen wollen), unterzeichneten neben Geo Bogza auch Paul Păun, Gherasim Luca und S. Perahim. 20 Der Text ist ein Dokument, das die gesellschaftliche Funktion der Avantgarde betont: Wir wollen das, was das tragische Charakteristikum dieser Zeit ausmacht, ungezähmt und lebendig einfangen, die Gemütsbewegung, die uns den Atem raubt, da wir unserer Zeitgenossenschaft mit den von Elend und Unrecht an den Rand der Verzweiflung getriebenen Millionen innewerden, da in aller Welt etwas Schwerwiegendes geschieht und wir Nacht für Nacht laut und deutlich das Stöhnen der verendenden Kontinente vernehmen. […] und [wir] betrachten die Poesie als eine Sache, die mit dem unmittelbaren Leben mehr zu tun hat als mit heimlichem Experimentieren im Labor. Wir wollen eine Poesie für alle Menschen, für die Tausenden von Menschen machen. Diese Tausenden von Menschen, die sich auf so viele außergewöhnliche und ausgesprochen poetische Dinge verstehen - Bäume und Wälder im Sturm, Katastrophen, Hungerepidemien -, 172 V. Rumänien <?page no="173"?> 21 Bogza, Geo u. a. Die Poesie, die wir machen wollen, Gerhardt Csejka (Übersetzer). In: Behring, 1988, S.-125f. 22 Mincu 1983, S.-625-636. werden auch mit dem Gedicht umgehen können, das die Stärke und die kräftige Schönheit einer Katastrophe hat. 21 Der Weg der rumänischen Surrealisten der 30er Jahre führte schon bald nach dem Zweiten Weltkrieg, wie in der Sowjetunion oder in vielen anderen mittel- und osteuropäischen Ländern, zum sozialistischen Realismus - indem einzelne Surrealisten zu sozialistischen Realisten oder zu Vertretern von Spielarten experimenteller proletarischer Kunst wurden die später als ketzerisch verurteilt wurden. Geo Bogza, Saşa Pană, M. H. Maxy und andere konnten sich nach dem Zweiten Weltkrieg in die Vorgaben stalinistischer Literaturpolitik einfügen. Die Konzepte der Vertreter der „zweiten Welle des Surrealismus“ konnten in den 1940er Jahren hingegen nicht von der offiziellen Literaturpolitik aufgenommen werden. Als die bekannteste - auch international - Leistung der Bukarester Surrealistengruppe nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gilt das 1945 auf Französisch geschriebene Manifest Dialectique de la dialectique. 22 Seine Neuheit war, dass seine Autoren, Gherasim Luca und D. Trost, eine neue Sprache für die gesellschaftlichen und psychologischen Bestandteile ihrer Utopie suchten: Sie forderten eine gesellschaftliche Veränderung, aber hofften auch auf das Auffinden neuer Wünsche. Die Autoren versuchten die Vergangenheit der Menschheit und das Erinnern, das an dieser Vergangen‐ heit festhält, im Interesse dieses Auffindens zu überschreiten. Dafür sei es, wie sie sagten, notwendig, sich gleichzeitig den äußeren Einschränkungen der Natur und den inneren des Ödipus-Komplexes entgegenzustellen. Um das zu erreichen, muss der Surrealismus andauernd in einem revolutionären Zustand bleiben - mit der Negation, genauso wie mit der Methode der zu Negation führenden Negation. Diese radikale Einstellung ist in vielerlei Hinsicht dem ursprünglichen futuristischen Prinzip der avantgardistischen Verneinung ähnlich. Die surrealistischen Autoren hoffen jedoch nicht die Auslöschung der Vergangenheit durch das Lob der neuen Technologien oder das Belassen der alten Begriffe der Schönheit neben ihren zu erreichen, sondern durch das Auswechseln der alten und aggressiven Mythen durch die Formulierung neuer Mythen. Dieser Gedanke taucht auch in den Texten von André Breton vom Ende der 1930er Jahre und Anfang der 1940er Jahre auf. Die Bukarester Surrealisten meinten in Übereinstimmung mit Breton, 2. Manifeste und Programmatisches 173 <?page no="174"?> 23 Luca, Gherasim / Trost, D. Die Dialektik der Dialektik. Michèle Mattusch (Übersetzer). In: Behring 1988, S.-266. 24 Luca / Trost, Die Dialektik der Dialektik, S.-267. 25 Ţepeneag, Dumitru. În căutarea unei definiţii. Luceafărul 28/ 1968. dass die konvulsiwische Liebe (amour convulsive) eine derart allgemeine und subversive „Methode“ sei, dass sie gesellschaftliche Auswirkungen haben könne: „die grenzenlose Erotisierung des Proletariats [ist] die wertvollste Garantie dafür, […] ihm eine reale revolutionäre Bewegung zu sichern“. 23 Die Konzeption der „Erotisierung des Proletariats“ wird später zu einem freudomarxistischen Standpunkt, die sich in Wilhelm Reichs Gedanken verbinden (die rumänischen Surrealisten kannten nachweislich Reichs Werke). Diese Ideen wurden vom Diskurs Gherasim Lucas und seiner Weggefährten in feinen Wendungen künstlerischer Texte dynamisiert und radikalisiert. Laut Gherasim Luca und D. Trost kann die ödipale Dimension des Lebens mit allgemeinen und konzeptuell stabilisierten Begriffen wahrgenommen werden. So erkennen sie, dass die ödipale Existenz nichts anderes ist als eine Art Unterwerfung unter die „Natur“ oder die „Natürlichkeit“. Dement‐ sprechend ist ihre Revolte auch eine Revolte gegen die Natur: „Wir wollen die utopischen Versuche des menschlichen Widerstandes gegen die Natur dialektisieren und konkretisieren […]“. 24 Das utopische Herausbilden der nicht-ödipalen Person bedeutet, dass die Autoren sich die menschliche Form als eine vorstellen, die in der Lage sei, sich beständig zu wandeln. Gherasim Lucas collagenhafte Werke, die er kubomanisch nannte, sind eigene gegenständliche Konkretisierungen dieser Idee. Eine wichtige Station für die Geschichte der Avantgarde nach dem Zweiten Weltkrieg ist Dumitru Ţepeneags Text În căutarea unei definiţii (Auf der Suche nach einer Definition) aus dem Jahr 1968. 25 In diesem Text versuchte er die Bedeutung des Oneirismus zu umschreiben: In letzter Zeit wurden viele Wörter über den Oneirismus verloren, manchmal pejorativ, manchmal oberflächlich. Was bedeutet eigentlich oneiristische Lite‐ ratur? Etymologisch ist es natürlich eindeutig: Oneiros = Traum. Eindeutig, aber nicht ausreichend. […] Ich empfehle zwei seiner verwandten Kategorien, auf deren Basis man den Begriff Oneirismus bestimmen kann. Namentlich: die phantastische Literatur und die surrealistische Dichtung. Vom Standpunkt der Literaturgeschichte kann die oneiristische Literatur als Experiment der Synthese zwischen traditioneller, romantischer Phantastik und dem Surrealismus gesehen werden. 174 V. Rumänien <?page no="175"?> In weiteren Teilen des theoretischen Textes unterscheidet der Autor die oneiristischen Experimente von surrealistischen Texten, indem er fordert, den Traum in einem strukturellen Verständnis zu behandelt: Der oneiristi‐ sche Text handelt seiner Konzeption nach nicht über die Nacherzählung von Träumen, sondern darüber, dass eine Realität geschaffen wird, die analog zum Traum ist. In diesem Verständnis erscheinen den Oneiristen die surrealistischen Prosawerke von Breton oder Aragon als Reportagen, die nach dem Außergewöhnlichen jagen. Die Oneiristen versuchten den kreativen Moment auszulösen, als dessen Ergebnis eine dem Traum ähnliche Parallelwelt entsteht. Im Hinblick auf eine generelle Charakterisierung der Manifeste der rumänischen Avantgarde kann man feststellen, dass in diesem Textkorpus eine breite Skala der für die Gattung eigentümlichen Wechsel auftaucht. Gleicherweise charakterisiert diese Manifeste die parodisierende Nachah‐ mung der Sprache der Theatralik und Werbung genauso wie der Rheto‐ rik der Überredung, die durch Gefühle oder wissenschaftliche Begriffe manipuliert. Im Rückblick lässt sich konstatieren, dass die Leistung der rumänischen Avantgarde auch darin besteht, dass hier wieder und wieder der Gedanke der „ästhetischen“ Annäherung der Richtungen und das Bemühen, wertvolle Werke zu schaffen (und auch die Kritik an diesem Bemühen) auftaucht. Das bedeutet übrigens auch, dass die rumänische Avantgarde im Verlauf der Zeit zahlreiche Kunstwerke hervorbrachte, die die eigenen konzeptuellen Abgrenzungen überschritten, indem sie nicht „ästhetisch Wertvolles“ produzieren wollten, dass ihre Werke aber nachträglich unter diesem Gesichtspunkt betrachtet wurden. 3. Personen und Werke Urmuz (1883, Curtea de Argeș‒1923, Bucharest) war der wichtigste Wegbe‐ reiter der rumänischen Avantgarde. Sein literarisches Werk besteht aus absurdistischer Kurzprosa und Lyrik. Als Demetru Dem. Demetrescu-Buzău arbeitete er als Rechtsanwalt und Beamter und benutzte Urmuz als Pseudo‐ nym. In den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts begann er zur Belustigung seiner Freunde mit dem Verfassen seiner bizarren Texte (die später als „Bizarre Seiten“ / Pagini bizare veröffentlicht wurden). Ihre erste Veröffentlichung erfolgte 1922 in der Zeitschrift Cugetul Românesc. Im Jahr 1923 beging er Selbstmord. Seine gesammelten Werke wurden posthum 3. Personen und Werke 175 <?page no="176"?> in rumänischen Avantgarde-Magazinen veröffentlicht und erschienen 1930 auch in Buchform. Seine Texte erforschen das menschliche Unbewusste und lassen sich dem Nonsensgedicht und der schwarzen Komödie zuordnen. Seine parodistische Schreibtechnik und seine sich wandelnden Figuren waren für die rumänische Avantgarde sehr einflussreich und können mit späteren Entwicklungen im Dada, Surrealismus und dem Theater des Ab‐ surden in Verbindung gebracht werden. Tristan Tzara (1896‒1963), wurde als Samuel Rosenstock in Moinești geboren. Zu Beginn seiner Karriere schrieb er Gedichte auf Rumänisch, später wechselte er ins Französische. Zusammen mit Ion Vinea gründete er 1912 die Zeitschrift Simbolul, in der beide subversive, parodistische Gedichte veröffentlichten, die den antiliterarischen Charakter der Avantgarde vor‐ wegnahmen. 1915 zog Tzara nach Zürich und wurde in den Jahren des Ersten Weltkriegs zu einem der Mitbegründer der Dada-Bewegung. Nachdem er Zürich verlassen hatte, setzte er seine Dada-Aktivitäten in Paris fort und schloss sich später der surrealistischen Bewegung an. Mit der rumänischen Kulturszene der Avantgarde blieb er stets verbunden, und seine frühen Gedichte in rumänischer Sprache wurden 1934 von Sașa Pană in Bukarest veröffentlicht. Seine Tätigkeit als Dichter, Performancekünstler und Autor theoretischer Texte ist international bekannt. Zu seinen wichtigsten Werken gehören seine charakteristischen Dada-Manifeste, La Première Aventure céleste de Mr Antipyrine (1916), Le Cœur à gaz (1921) aus seiner Dada-Periode und L’Homme approximatif (1931) aus seinem surrealistischen Werk. Ende der 1930er Jahre trat er der Kommunistischen Partei Frankreichs bei und setzte sich für eine engagierte, kommunistische Literatur ein. Nach 1956 geriet er zunehmend in Konflikt mit der kommunistischen Partei. Er starb 1963 in Paris. Ion Vinea (1895‒1964), geboren als Eugen Iovanaki, war Dichter, Jour‐ nalist und Herausgeber von Avantgarde-Zeitschriften, vor allem von Sim‐ bolul (1912, mit Tristan Tzara) und Contimporanul (1922-1932, mit Marcel Iancu). Er war einer der frühesten Förderer der Avantgarde-Literatur in Rumänien und ist Autor ihres ersten wichtigen Manifests (Manifest activist către tinerime, 1924). Seine frühe Lyrik nimmt durch ihren grotesken Ansatz avantgardistische Texte vorweg, ist jedoch vom Symbolismus geprägt. In seiner Lyrik vermischen sich Elemente der Moderne mit avantgardistischen Motiven und Diskursen. Ab 1930 war er verstärkt als Journalist bei der Zeitung Facla tätig. Er veröffentlichte nur wenige literarische Bände, spielte aber eine wichtige Rolle in der rumänischen 176 V. Rumänien <?page no="177"?> Avantgarde als Herausgeber und Initiator internationaler Netzwerke. Er starb 1964 in Bukarest. Marcel Iancu (1895‒1984), geboren in Bukarest, war bildender Künstler, Architekt und Kunsttheoretiker, der international auch als Marcel Janco bekannt ist. Er war ein Schulfreund von Tristan Tzara und Ion Vinea, zusammen arbeiteten sie an der Veröffentlichung von Simbolul im Jahr 1912. Iancu studierte Architektur an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich. Gemeinsam mit Tristan Tzara gründete er in Zürich die Dada-Bewegung, wobei Iancu für die Gestaltung von Masken und anderen Bühnenelementen für die Dada-Performances verantwortlich war. Nachdem er 1919 den Zirkel der Dadaisten verlassen hatte, interessierte er sich für den Konstruktivismus und beteiligte sich an der Internationalisie‐ rung der konstruktivistischen Bewegung, indem er an mehreren Projekten des Konstruktivismus teilnahm. Nach seiner Rückkehr nach Rumänien wurde Iancu 1922 Mitherausgeber von Contimporanul, der wichtigsten Avantgarde-Zeitschrift der damaligen Zeit, und Organisator bedeutender Ausstellungen zur plastischen Kunst. In den späten 1920er Jahren begann Iancu auch als Architekt zu arbeiten. Während des Zweiten Weltkriegs wurde er in Rumänien als Jude verfolgt und verließ das Land 1941. Er lebte in Tel Aviv und beteiligte sich an der Entwicklung der lokalen jüdischen Kunst und wurde in Israel zu einem bedeutenden bildenden Künstler. Er starb 1984 in Ein Hod. Victor Brauner (1903-1966) war ein in Piatra Neamț geborener Maler und Bildhauer. Anfang der 1920er Jahre studierte er an der Hochschule für Bildende Künste in Bukarest und entwickelte nach und nach einen eigenen, vom Konstruktivismus und der dadaistischen Collage inspirierten visuellen Stil. Seine erste Einzelausstellung fand 1924 in der Galerie Mozart in Bukarest statt. Mit dem Dichter Ilarie Voronca gründete er 1924 die Zeitschrift 75 HP, in der sie die sogenannte Piktopoesie - eine Kombination aus visuellen und sprachlichen Elementen - veröffentlichten und förderten. Während seines ersten Aufenthalts in Paris (1925-27) entdeckte er Giorgio de Chirico, und nach seiner Rückkehr 1930 wurde er Vollmitglied der surrealistischen Gruppe um Breton. Brauners Werke haben ein wiederkehrendes Motiv: das verstümmelte Auge - dies wurde später als Vorahnung gedeutet, als Brauner bei einem Kampf zwischen Künstlerkollegen ein Auge verlor. Andere Gemälde wie Die Macht der Kon‐ zentration des Herrn K. und Der seltsame Fall des Herrn K. wurden von den Surrealisten als visuelles Echo von Jarrys Ubu Roi interpretiert. Zwischen 3. Personen und Werke 177 <?page no="178"?> 1935 und 1938 lebte er kurzzeitig wieder in Bukarest und beeinflusste mit seinen Bildern junge Avantgarde-Dichter wie Gellu Naum stark. In den späten 1930er Jahren hatten seine halluzinatorischen Gemälde, die „Chimären“ oder „lykanthropische Gemälde“ genannt wurden, großen Erfolg innerhalb der Gruppe. Vor dem Zweiten Weltkrieg suchte Brauner mit anderen Surrealisten Zuflucht in Marseille, dann in den Pyrenäen und später in den Schweizer Alpen. Er entwickelte neue Techniken mit Wachs und Formen archaischer Malerei. Seine Werke waren auf der internationalen Surrealisten-Ausstellung in der Galerie Maeght in Paris 1947 zu sehen. Aufgrund von Konflikten mit André Breton verließ er 1948 die surrealistische Gruppe. Seine letzten Jahre verbrachte er in Varengeville in der Normandie, 1954 und 1966 wurde sein Werk auf der Biennale von Venedig ausgestellt. Er starb 1966 in Paris. Ilarie Voronca (1903‒1946) ist das Pseudonym des rumänischen und fran‐ zösischen Avantgarde-Dichters Eduard Marcus. Er wurde in Brăila geboren und schloss sich in den frühen 1920er Jahren der Avantgarde-Bewegung an. Er veröffentlichte Gedichte und theoretische Texte in Zeitschriften wie Contimporanul, Punct und Integral und war gemeinsam mit Victor Brauner Autor der Piktogramme, die in der Einzelausgabe von 75 H.P. veröffentlicht wurden. Charakteristisch sind seine Ende der 1920er Jahre verfassten Gedichte mit einer ungewöhnlichen Fülle an surrealistischen Bildern. 1933 verlässt er Rumänien, wird Teil der französischen Avantgarde und schreibt seine Gedichte in französischer Sprache. Während des Zweiten Weltkriegs nimmt er an der französischen Résistance teil. Er beging 1946 in Paris Selbstmord. Geo Bogza (1908-1993), geboren in Ploiești, war Dichter, Journalist und Avantgarde-Theoretiker. Im Jahr 1928 gründete er in Câmpina seine eigene Avantgarde-Zeitschrift Urmuz. Er war als rebellischer Autor bekannt und beeinflusste die rumänischen Surrealisten mit seinen Texten, die gewalttä‐ tige und sexuell konnotierte Bilder enthielten und in den Bänden Sexual Journal (1929) und Offensive Poem (1933) gesammelt wurden. Seine Gedichte führten zweimal zu seiner Inhaftierung wegen Obszönität, und seine Tätig‐ keit kann im Zusammenhang mit den freudo-marxistischen Theorien der Zeit interpretiert werden. 1933 gründete er die Zeitschrift Viața imediată (Unmittelbares Leben), die seine Hinwendung zu einer zunehmend politi‐ schen Kunst markiert. In den späten 1930er Jahren gab er seine Avantgarde- Tätigkeit auf und wurde zu einem einflussreichen Autor von Reportagen in Rumänien, der seine illegalen kommunistischen Aktivitäten fortsetzte. Nach 178 V. Rumänien <?page no="179"?> dem Zweiten Weltkrieg wurde er zu einem angesehenen und etablierten Autor des neuen Regimes, veröffentlichte jedoch in den letzten Jahrzehnten seines Lebens Artikel, in denen er verdeckte Kritik an der neuen Politik von Ceaușescus nationalistischer Ausprägung des Kommunismus übte. Er starb im Jahr 1993. Gellu Naum (1915‒2001), geboren in Bukarest, war einer der bedeutends‐ ten surrealistischen Dichter und Schriftsteller Rumäniens, dem es gelang, mit seinen literarischen Werken internationale Geltung zu erlangen, obwohl er seine Texte zeitlebens in seiner Muttersprache Rumänisch verfasste. Er studierte ab 1933 in Bukarest und von 1938 bis 1939 in Paris Philosophie. Auf Vermittlung von Victor Brauner und Jacques Hérold kam er mit der Pariser Surrealistengruppe in Kontakt. Nach seiner kriegsbedingt erzwungenen Rückkehr nach Rumänien im Jahr 1939 gründete Naum zusammen mit Gherasim Luca die Bukarester Surrealistengruppe die zwischen 1940 und 1947 aktiv war. Nach 1947, als das stalinistische Regime die Veröffentlichung von Avantgarde-Gedichten unmöglich machte, übersetzte Naum wichtige Werke der Weltliteratur und veröffentlichte Kinderbücher. Mit seinem Band Athanor (1968) hat er seine hermetische Variante der surrealistischen Poesie wiederbelebt. Sein Roman Zenobia (1985), der in mehrere Sprachen übersetzt wurde, zeigt eine originelle Spielart des surrealistischen Romans auf. Naum starb 2001 in Bukarest. Gherasim Luca (1913-1994), geboren als Salman Locker, war ein sur‐ realistischer Dichter, bildender Künstler, Performer und Theoretiker. In seiner Jugend in den Dreißigerjahren wurde er maßgeblich von Geo Bogzas Ansichten über subversive und engagierte Kunst beeinflusst. 1938 hielt er sich für längere Zeit in Paris auf und fand Eingang in surrealistische Kreise. Nach seiner Rückkehr nach Rumänien im Jahr 1939 gründete er zusammen mit Gellu Naum die Bukarester Surrealisten-Gruppe. In den 1940er Jahren wurde er zu einem originellen Theoretiker des Surrealismus und schrieb in Zusammenarbeit mit D. Trost theoretische Texte, vor allem Dialectique de la dialectique (1945). Eines seiner einflussreichsten Werke aus dieser Zeit ist Der passive Vampir (1945), in dem Luca eine Theorie der kommunizierenden Objekte entwickelt. Seine surrealistischen Gedichte, Texte und Bildcollagen sind von einer speziellen Art von Gewalt geprägt. Nach dem Verbot, avantgardistische Texte in Rumänien zu veröffentlichen, verließ Luca 1951 das Land und zog bald darauf nach Paris, wo er ein bedeutender Performance-Poet und bildender Künstler wurde, dessen anti- 3. Personen und Werke 179 <?page no="180"?> 26 Mincu 1983, S.-76-78. ödipalen Theorien von Félix Guattari aufgenommen wurden. 1994, im Alter von 80 Jahren beging er in Paris Selbstmord. Dumitru Țepeneag, auch Tsepeneag genannt, geboren 1937 in Bukarest, ist ein bedeutender zeitgenössischer rumänischer und französischer Schrift‐ steller, der in den 1960er Jahren zusammen mit Leonid Dimov die Bewegung des ästhetischen Oneirismus begründete, eine experimentelle literarische Form, die mit dem früheren Surrealismus verbunden ist, aber auch Elemente des Nouveau Roman aufweist. Ab 1975 ließ er sich in Paris nieder. Seine wichtigsten und meistübersetzten Werke sind Arpièges (1973) und Hotel Europa (1996). - Urmuz Ismail şi Turnavitu (Ismail und Turnavitu), Prosa, 1907/ 1922 26 Die vor-avantgardistischen Texte von Urmuz verdienen wegen ihrem gro‐ ßen Einfluss auf die rumänische Avantgarde spezielle Aufmerksamkeit. Die in Verbindung mit der rumänischen Avantgarde oft theoretisierte „antiliterarische“ Eigenschaft ist für Urmuz’ Werke charakteristisch. Darin suchte er Alternativen zu literarischen Konventionen, Klischees und ent‐ leerten Formen und findet sie in der absurden und grotesken Sprache. Auch für die Geschichte Ismail und Turnavitu (geschrieben 1907, publiziert 1922) ist charakteristisch, was in Urmuz’ anderen Geschichten auffällig ist: Ihre Figuren sind dehumanisiert und zwischen ihren Existenzformen kann oft der Sinn wechseln. Ihre Geschichte schöpft hingegen gleichermaßen aus der Sprache von sentimentalen Erzählungen, Entwicklungsromanen, wissenschaftlichen Abhandlungen und politischer Publizistik. Wenn wir versuchen, Ismails Figur zu visualisieren, können wir uns ein collagenhaftes Wesen vorstellen. Seine Beschreibung erinnert hingegen unter anderem an botanische Fachbücher: Ismail setzt sich aus Augen, Koteletten und Frauenkleid zusammen und ist heute nur sehr schwer zu finden. In früheren Zeiten wuchs er auch im botanischen Garten, jedoch später, dank des Fortschritts der modernen Wissenschaften, gelang es, einen auf chemischem Wege herzustellen, im Syntheseverfahren. Die andere Figur verhält sich wie ein Hybrid aus Mensch und Maschine und als solche können wir sie uns vorstellen: 180 V. Rumänien <?page no="181"?> 27 Urmuz. Ismail und Turnavitu, S.-7. Turnavitu war lange Zeit nichts anderes als ein einfacher Ventilator in verschie‐ denen schmutzigen griechischen Cafés in der Covaci- und Gabrovenistraße. Da er den Geruch, den er dort einzuatmen gezwungen war, nicht mehr aushalten konnte, sattelte Turnavitu für eine Zeitlang um auf Politik und erwirkte auf diese Weise, daß er zum staatlichen Ventilator ernannt wurde, und zwar in der Küche der Feuerwehrstation ‚Radu-Vodă‘. Er lernte Ismail auf einer abendlichen Tanzunterhaltung kennen. Nachdem er diesem seine jämmerliche Lage beschrie‐ ben hatte, in die er wegen so vieler Drehungen geraten war, nahm Ismail, dies rechtschaffende Herz, ihn unter seinen Schutz. 27 Auf der Ebene der Geschichten tauchen im Text Fragen um willkürliche Gewalt, Eitelkeit, Korruption und vereinzelt um sexuelle Tabus auf. Neben den unerwarteten Assoziationen ergeben sich daraus die subversiven und verblüffenden Eigenschaften des Textes. Der Tonfall und die exzentrischen Assoziationen des Textes erwiesen sich für zahlreiche spätere Avantgardisten als Vorbild. Die Werke von Urmuz lassen sich außerdem aus irgendeinem Blickpunkt in die Poetik jedes be‐ deutenderen Ismus einfügen. Wir können gleichermaßen von expressionis‐ tischen, futuristischen, dadaistischen und surrealistischen Interpretationen und Weiterschreibungen sprechen. 3. Personen und Werke 181 <?page no="182"?> 28 Lascu, Mădălina. Marcel Iancu creator de măşti la Cabaret Voltaire. Caietele Avangardei 8/ 2016, S.-71-78. Marcel Iancu Cabaret Voltaire, Malerei, 1916 28 Abb. 1. Marcel Iancu: Cabaret Voltaire. 182 V. Rumänien <?page no="183"?> Das Bild Cabaret Voltaire wurde 1924 in der Bukarester Avantgardeausstel‐ lung von Contimporanul ausgestellt. Eine Reproduktion fand sich in der Nummer 50-51 der Zeitschrift aus dem Jahr 1924, die auch als Katalog der Ausstellung diente. Heute ist das Original verschollen oder zerstört, dennoch bietet das Bild dem Betrachter die einzige authentische, erhaltene, visuelle und künstlerisch anspruchsvolle Darstellung des Cabaret Voltaire in Zürich. Auf der Rückseite einer Reproduktion des Bildes in Bukarest haben sich die Namen der auf dem Bild abgebildeten Personen erhalten: der Pianist Hugo Ball, der seine Hände nach vorne streckende Tristan Tzara, die hintereinander stehenden Hans Arp, Richard Huelsenbeck und Marcel Iancu, sowie die am Rand der Bühne tanzenden Emmy Hennings und Friedrich Glauser. Über der Bühne erstreckt sich eine riesige Maske. Bei der Gestaltung des visuellen Erscheinungsbildes des Cabaret Voltaires hatte Iancu eine wichtige Rolle: Außer Masken entwarf er auch Plakate für die dadaistischen Produktionen. Wie die Beobachter der dadaistischen Performances feststellten, schrieben Iancus Masken dem Träger oft eine Art Bewegungsserie vor und halfen so bei den improvisierten Aufführungen. Die Gesichter der Personen, die auf dem Bild Cabaret Voltaire sichtbar sind, zeigen sich von vornherein als Masken: Das Bild trägt in sich die entfremdeten und dehumanisierten Gesten des Dada. Auch die Bewegungen des Publikums und der bei den Tischen sitzenden Gäste sind bezeichnend: Einige von ihnen reagieren auf die dadaistische Performance mit einer Be‐ wegung, die sich zur Bühne richtet. Bewegung und Abstraktion bestimmen gemeinsam Iancus Bild, das einen Schlüsselmoment der internationalen Avantgarde dokumentiert. 3. Personen und Werke 183 <?page no="184"?> 29 75 H.P. 1/ 2014. p.-1-16. Ilarie Voronca - Victor Brauner Pictopoezie (Piktopoesie), 1924 29 Abb. 2. Victor Brauner - Ilarie Voronca: Pictopoezia no. 384. 184 V. Rumänien <?page no="185"?> Abb. 3: Victor Brauner - Ilarie Voronca: Pictopoezia no. 5721. 1924 wurden in der Zeitschrift 75 H.P. zwei Piktogedichte, die Nummern 5721 und 384, von Voronca und Brauner veröffentlicht. Gleichzeitig finden sich in mehreren Texten der Zeitschrift Reflexionen über die Gattung. Diese Texte projizieren die Identität der Gattung und des Blattes aufeinander. Die Marke 75 H.P. ist mit dieser Text-Bild Fusion verbunden. Am geistreichsten ist der Text, der auf der Rückseite der Nummer zu lesen ist und der am eindeutigsten auf den Schablonen der damaligen Sprache der Werbung aufbaut: DIE PIKTOPOESIE […] ist die neueste modische Erfindung der Gegenwart. Jeder Dandy muss ab jetzt dem Schnittmuster der Piktopoesie folgen. Die Piktopoesie belebt sämtliche revelatorischen Richtungen der neuen Kunst. DIE PIKTOPOESIE 3. Personen und Werke 185 <?page no="186"?> 30 s.n.: [La pictopoésie invention du peintre…], 75 HP 1 (1924), p. 16. Übersetzung Benedikt Roland. erschafft endlich eine echte Synthese für alle Futurismen, Dadaismen, Konstruk‐ tivismen. […] DIE PIKTOPOESIE TRIUMPHIERT ÜBER ALLES REGISTRIERT ALLES VERWIRKLICHT DAS UNMÖGLICHE. 30 Der eigenartige und humorvolle Ton dieser Bestimmung, der der Logik der Modewelt folgend die dichterische „Erfindung“ hervorbringt, fällt auf. Durch die übertriebene Sprachverwendung der Werbung kommt die Kunst dem Bereich der alltäglichen Tätigkeiten nahe: Die Kunst ist dieser Auffas‐ sung zufolge nicht etwas, das sich über der alltäglichen Realität befindet. Im Gegenteil: Die Tatsachen, die Worte und die Bilder sind mit der Betonung ihrer eigenen Materialität in den Kunstwerken gegenwärtig. Das zufällige Nebeneinander der Worte stellt in den Piktopoesie-Collagen von Brauner und Voronca dar, dass auch Worte, ähnlich Bildern, sich hier in ihrer rohen Materialität zeigen, schon wegen des Fehlens syntaktischer Verbindungen zwischen den Worten. Diese Arbeiten vermitteln, dass uns die Anarchie der Bedeutungen umgibt und dass die klassische Logik diese Bedeutungen nicht begreifen kann. Der Dada hingegen ist dazu fähig diese Sinnlosigkeit auf radikale Art und Weise zu zeigen. Das für die Piktopoesie Charakteristische kommt auch grundsätzlich in der Zeitschrift zur Geltung: 75 H.P. dekonstruiert die lineare Leserou‐ tine der Rezipienten. In der Piktopoesie kann man die einzelnen Worte verschiedenen Richtungen folgend, herauslesen. Die Worte bilden mit der Oberfläche eine unzertrennbare Einheit; das Wörterbuch hingegen, aus dem die lexikalischen Elemente stammen, hängt sowohl mit der modernen städtischen Lebensweise als auch mit der Welt der Werbung zusammen. In vielen Fällen müssen wir die Seiten der Zeitschrift drehen, um alles lesen zu können. Die Überzeugung der Dadaisten war, dass ein durchschnittliches Benehmen zu durchschnittlichen Gedanken führt - Voronca und Brauner probierten deshalb in ihren Arbeiten neue Verhaltensmodelle einzuführen, neue Alternativen anbietend. Die Typographie von 75 H.P. zeigt, was die Piktopoesie zeigt: dass das lineare Lesen schlicht eine Konvention ist. 186 V. Rumänien <?page no="187"?> 31 Bogza, Geo. Poemul invectivă şi alte poeme. Bucureşti: Jurnalul Naţional. 2010. Geo Bogza Poemul invectivă (Schmähgedicht), Gedichtband, 1933 31 Abb. 4: Geo Bogza: Poemul invectivă 1933. 3. Personen und Werke 187 <?page no="188"?> 32 Bogza, Geo. Schmähgedicht, Anemone Latzina (Übersetzer). In: Behring 1988, S.-146. Es ist schwer, Geo Bogzas freie Gedichte einer Richtung zuzuordnen: Ihr stark entpoetisierender Charakter entfernt sie vom Surrealismus, dessen Anschauungen sie noch am nächsten stehen. Die gesellschaftliche Revolte ist bei ihm stark mit der sexuellen verbunden, genauso wie bei den zeitge‐ nössischen freudo-marxistischen Theoretikern. Bogzas erste beiden Bücher tragen die Titel Jurnal de sex (Sextagebuch, 1929) und Poemul invectivă (Schmähgedicht, 1933), die auch Gedichte mit explizit erotischem Inhalt enthalten. Bogzas Texte übten später einen starken Einfluss auf die jungen Autoren der zweiten surrealistischen Welle aus, besonders auf Gherasim Luca. Der Gestus, mittels dessen sich Bogzas zweites Buch explizit der Avantgarde zuwendet, ist die Tatsache, dass das Buch den abgedruckten Fingerabdruck des Autors enthält. Damit weist der Autor auf das voraus, was folgen wird: Er wurde im Jahr des Erscheinens des Bandes für einige Tage mit dem Vorwurf des Verstoßes gegen die öffentlichen Sitten in das Văcăreşti Gefängnis gesperrt. Wegen desselben Vorwurfs saß er auch 1937 für einige Tage im Gefängnis. Das letzte Gedicht des Bandes Poem ultragiant (Provokatives Gedicht) wendet die Schilderung einer halb zufälligen und halb widerwilligen sexuellen Beziehung mit einer Dienstbotin in die Kritik oberflächlicher und von materiellen Bestimmungen geprägten Beziehun‐ gen. Dienstmagd mit zwei roten Streifen von den Strumpfbändern auf den Schenkeln Dienstmagd, deren Bauch nach Zwiebel und Petersilie roch Über dich schreibe ich dieses Gedicht. Damit die Bürgermädchen aus der Haut fahren Und ihre ehrbaren Eltern sich empören Denn, obwohl ich unzählige Male mit ihnen geschlafen habe, Will ich sie nicht besingen Und pinkle in ihre Puderdosen In ihre Wäsche In ihre Klaviere Und in alles andere Zubehör. Das ihre Schönheit ausmacht. 32 Bogza machte sich mit seinem rastlosen und rebellischen Charakter zu ei‐ nem der wichtigsten Autoren, Organisator und Vermittler der rumänischen Avantgarde in den 1920er und 1930er Jahren. 188 V. Rumänien <?page no="189"?> 33 Petrov, Mihaela. Victor Brauner. Cuvântul scris şi opera plastică 1934-1965. Bucureşti: Humanitas, 2012, S.-43. Victor Brauner Autoportrait (Selbstportrait), Gemälde, 1931 33 Abb. 5: Victor Brauner: Selbstportrait. 3. Personen und Werke 189 <?page no="190"?> 34 Schmitt, Bertrand. Magic art. In: Fijalkowski, Krzysztof / Richardson, Michael (Hrsg.). Surrealism: Key Concepts. London and New York: Routledge. 2016, S.-237. Das zur Legende gewordene Selbstportrait zeigt Brauner, der damals schon in der Gesellschaft der Pariser Surrealisten arbeitete, mit einem Auge. Acht Jahre später verlor er auch tatsächlich ein Auge bei einer Schlägerei, in der er zufällig verwickelt war. Der die Vorzeichen 34 erforschende Surrealismus stattet dieses Zusammenfallen mit einer besonderen Bedeutung aus. In einem bestimmten Verständnis wurde damit Brauners Position in der sur‐ realistischen Gruppe gestärkt, während das Fehlen des Auges ihm natürlich viele Nachteile brachte. In der Sphäre der Surrealisten arbeitete Brauner eine eigene magisch-symbolische visuelle Zeichensprache heraus, die einige Kritiker in der Kontinuität der gemeinsam mit Voronca ausgearbeiteten Piktopoesie interpretieren. Besonders deshalb, da Brauner seinen Werken oft rätselhafte Titel gab oder Überschriften in die Kompositionen einbaute. Auch mit dem ihm eigenen zweidimensionalen Blick kann vielleicht ein Zu‐ sammenhang mit der „zweidimensionalen“ Darstellungsweise des späteren Brauners hergestellt werden, die durch primitive und alte Kulturen inspiriert wurde. Bei der komplexen Symbolik dieser Darstellungsweise blieb Brauner bis zu seinem Lebensende. 190 V. Rumänien <?page no="191"?> 35 Luca, Gherasim. Le vampire passif. Vampirul pasiv. Bucureşti: Vinea. 2016. Gherasim Luca Le vampire passif (Der passive Vampir), illustriertes Buch, 1945 35 Abb. 6: Gherasim Luca: Le Vampire Passif 1945. 3. Personen und Werke 191 <?page no="192"?> 36 Idem, S.-361. Die Vampirfigur des Buches ist, wahrscheinlich mit den gotischen Asso‐ ziationen von Lautréamonts Maldoror verwandt, folglich eine Art „Kultur‐ vampir“ und weniger ein Vampir der rumänischen Volkskultur. Mit den Schatten und der Geisterwelt, die im Buch auftauchen, gerät die Welt des Vampirs in engen Zusammenhang mit der stark suggerierten These, dass auch die Gegenstände für sich eine solche Welt haben. Diese kann nicht von ihnen getrennt werden und sie spinnt sich hauptsächlich aus Begierden und anderen irrationalen Mächten um sie herum: Ich trete in das Nachbarzimmer, den Arm in das Objekt einhängend, ich komme zwischen den Schatten voran und zwischen den Fossilen der Schatten, zwischen Spiegeln, die mein Bild nicht zurückspiegeln, zwischen Antlitzen, die nicht mich belauern und sezieren, ich kann hier niemanden und nichts überraschen, und auch mich kann niemand in dieser Überraschungswelt überraschen, in der Welt der unerwarteten Erscheinungen, auf die ich auch dann warte, wenn ich nicht auf sie warte; dann zeigen sie sich nämlich, wenn niemand auf sie wartet, genau in diesem Augenblick, wenn die Lippen sich befeuchten, um den Kuss empfangen zu können oder vielleicht die Zähne oder vielleicht den Wind oder vielleicht diesen schneeweißen Hals, der sich dem Mond darbietet, kalte (in zwei Dolchen endende) Atemzüge, für den Vampir. 36 Im Strom der Dinge, wie wir ihn im Zitat sehen können, existieren Dinge und Personen und deren Geister, Schatten und Spiegelbilder großteils auf derselben Ebene. Jede von ihnen kann zwischen starker Präsenz und gleichermaßen kräftigem Fehlen wechseln. Luca führt in diesem Buch in den OOO-Begriff ein: auf französisch Objet Objectivement Offert, auf rumänisch: Obiect Oferit Obiectiv (Objektiv Dargebotenes Objekt). Seine Aura und Geschichte bestimmen diesen Begriff - also ein echter surrealistischer Gegenstand, wie sie auch André Breton anfertigte, oder über die Luca in L’amour fou schreibt. Luca sucht mit OOO den unberechenbaren Effekt und die authentische Reaktion in der Umgebung der dargebotenen Objekte. Diese sind ehrlich und unvermittelt, wie die Reaktionen der Instinkte oder der Träume. Zusätzlich werden sie als Äußerungen des kollektiven Unbewussten interpretiert: Das Anbieten eines Gegenstands an jemanden und der Einfluss dieses Gestus verknüpft sich bei Luca mit dem grundsätzlichen und bestimmenden Element des Traums - mit der Begierde. Charakteristisch ist, dass wenn 192 V. Rumänien <?page no="193"?> 37 Naum, Gellu. Zenobia. Bucureşti: Cartea Românească. 1985. Luca seine eigenen OOO-s nachträglich interpretiert, die er seinen Freunden und Bekannten schenkte, er meist sexuelle und oft aggressiven Inhalt in sie projiziert, egal ob von Männern oder Frauen die Rede ist. Das dargebotene Objekt ermöglicht die Einführung des aktiven Unbewusstseins in den Raum der bewussten und unmittelbaren Beziehungen zwischen den Indi‐ viduen und erschafft Zusammenhänge, die schon eine rudimentäre Interpretation als subversiv, merkwürdig und relativ erkennen würde, wie bei den Träume selbst. An sich sind die dargebotenen Objekte gefundene oder eigenartig kon‐ struierte Objekte. Als beunruhigende und nicht funktionierende erinnern sie einzig fern an irgendwie funktionale Gegenstände. Nicht das berechen‐ bare Lustgefühl charakterisiert die von ihnen verursachte Wirkung: Die Gegenstände von Luca lenken die bestehenden zwischenmenschlichen Beziehungen in eine neue Richtung und schreiben in die Beziehung selbst das Beunruhigende ein. Das Objekt mit dem Titel Der La lettre L (Buchstabe L) ist etwa eine Puppe. Der Hersteller klebte auf die Oberfläche des Puppenkörpers verschiedene Ausschnitte von Rätseln. Zwischen die Füße der Puppe ist hingegen ein anderer (Puppen-)Kopf montiert, aus dem Rasierklingen hervorragen. Ein Gegenstand mit komplizierter und aggressiver Bedeutung, aber der Gestus des Schenkens etabliert auch eine „auf die Person zugeschnittene“ Bedeutung zwischen dem Objekt, seinem Empfänger (André Breton) und natürlich zwischen dem Finder/ Hersteller. Die Geschichte dieser Reaktionen schreibt sich auch in die Bedeutungen ein. Über das Buch, das mit Fotografien der von Luca weitergegebenen Ob‐ jekte illustriert ist, wussten Forscher schon lange, auch dass es ursprünglich auf Französisch geschrieben und veröffentlicht wurde. Sein rumänisches Manuskript tauchte erst in den letzten Jahren auf und erschien 2016 in einer neuen zweisprachigen Ausgabe. - Gellu Naum: Zenobia, Roman, 1985 37 Man kann das 1985 erschienene Zenobia als verspäteten surrealistischen Roman bezeichnen, aber gleichzeitig bedeutet es auch die Kontinuität des Surrealismus, der durch Gellu Naums Person und Werk bis zum Tod 3. Personen und Werke 193 <?page no="194"?> 38 Naum, Gellu. Zenobia. Klagenfurt / Salzburg: Wieser. 1990, Georg Aescht (Übersetzer), S.-53. des Autors (2001) in der rumänischen Kultur präsent war, und durch seine Schüler auch noch darüber hinaus. Der Roman Zenobia ist eine Serie von oneiristischen Visionen, die die Geschichte einer schicksalhaften Begegnung erzählt, die an die Konzeption der Liebe bei André Breton, Nerval und anderen anknüpft. Der Roman aktualisiert zahlreiche Elemente der surrealistischen „Mythologie“, die Naum schon in den 1940er Jahren als Mitglied der Bukarester Surrealistengruppe in Gedichten, Erzählungen und Essays publizierte. Eine wichtige Rolle im Buch bekommen die im Verständnis von Breton verwendete Kategorie der „objektiven Zufällig‐ keit“, die Verhaltensweisen als Medium und archetypische Figuren, die zahlreiche Metamorphosen durchlaufen. Die weibliche Hauptfigur hilft als eine Art Reisebegleiterin dem männlichen Erzähler bis zum Ende auf seinem Weg: Für Zenobia ist nichts gering oder gewöhnlich; in dieser Hinsicht gleicht sie einem Vergrößerungsglas, in dem die Welt auf natürlichem Wege und von selbst ihre Dimensionen nach fließenden Mustern neu ordnet und sich nicht damit abmüht, zu sein; durch sie lösen sich Verdunkelungen in Klarheit auf, die alles überflutet, worauf eine einzige Bemerkung von ihr zu irgendeiner banalen häuslichen Besorgung sie dort wieder auftauchen läßt, wo man sie gar nicht vermutet hätte. 38 Alles, dem der Erzähler eine Bedeutung gibt, bildet sich auf der Spur sich offenbarender Zufälle und Koinzidenzen in der alltäglichsten Sphäre heraus, genauso wie in Bretons Essayprosa. Zenobia wurde zum international be‐ kannten Roman der späten rumänischen Avantgarde, eine Art rumänisches Nadja oder L’amour fou. 194 V. Rumänien <?page no="195"?> Abb. 7: Gellu Naum: Zenobia 1985. 3. Personen und Werke 195 <?page no="196"?> Chronologie 1912: das Magazin Simbolul erscheint (Herausgeber: Tristan Tzara, Ion Vinea) 1915/ 1916, Zürich: Tristan Tzara, Marcel Iancu - Dada wird gegründet 1919/ 1920 Erweiterung des Staatsgebietes durch Angliederung von Gebieten Österreich-Ungarns und des Russischen Reiches an Rumänien. 1922, Bucharest: Ion Vinea gründet mit Marcel Iancu das Magazin Contim‐ poranul 1924: erstes rumänisches avantgarde Manifest: Manifest activist către tinerime (Ion Vinea) 1924, Bucharest: 75 H.P. - das innovativste rumänische Avantgarde-Magazin erscheint, unter Mitarbeit von Ilarie Voronca und Victor Brauner 1938 Errichtung der mit dem Dritten Reich verbündeten „Kö‐ nigsdiktatur“ 1940, Bucharest: Gellu Naum, Gherasim Luca, D. Trost, Paul Păun, Virgil Teodorescu gründen eine Surrealistengruppe nach Naums und Lucas Rückkehr aus Paris 1945-1947: Bucharest Surrealistengruppe. Veröffentlichungen rumä‐ nisch und französisch 1947: Le Surréalisme en 1947 - Internationale Ausstellung des Surrealismus in Paris unter Beteiligung von rumänischen Künstlern 1948 Ausrufung der kommunistischen Volksrepublik Rumänien 1964: die Oniristengruppe wird in Bucharest gegründet (Dumitru Țepeneag, Leonid Dimov) 1965-1989 Diktatur Ceaușescus 1969: Saşa Pană publiziert die erste repräsentative Anthologie der rumänischen Avantgarde 1989 Rumänische Revolution und Hinrichtung Ceaușescus. 196 V. Rumänien <?page no="197"?> 1 Padrta, Jiří. Osma a Skupina výtvarných umělců 1907-1917. Teorie, kritika, polemika (Praha: Odeon, 1992) 2 Dolanská, Karolína et al. České moderní a současné umění 1890-2010. V Praze: Národní galerie. 2010. VI. Tschechoslowakei, Tschechien und Slowakei Zuzana Říhová 1. Überblick Vor dem Ersten Weltkrieg waren Tschechien und die Slowakei Teil von Ös‐ terreich-Ungarn. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts lassen sich zwei künstlerische Richtungen der aufkommenden tschechischen und slowaki‐ schen Avantgarde unterscheiden. Für die Gruppen Osma (Die Acht, 1907) und Skupina výtvarných umělců (Gruppe bildender Künstler, 1911) ist das Bemühen charakteristisch, die Prinzipien der traditionellen Malerei sowie Dekadenz und Symbolismus, zu überwinden. 1 Die Maler Vincenc Beneš, Emil Filla und Bohumil Kubišta propagieren in ihren Werken den so genann‐ ten Kuboexpressionismus, das Zusammenwirken von Expressionismus und Kubismus, unter dem Einfluss von Pablo Picasso und Edvard Munch, dessen Ausstellung in Prag im Jahr 1905 bei der Avantgarde in bildender Kunst und Literatur Eindruck hinterließ. Für Vertreter der tschechischen Avantgarde in der Architektur war der Kubismus eine bedeutende Inspiration (z. B. Josef Gočárs „Haus zur Schwarzen Muttergottes“). Zur medialen Plattform der Vorkriegs-Avantgarde wurde die Zeitschrift Umělecký měsíčník (Monats‐ schrift für Kunst, 1911-1914). 2 Die Zusammenarbeit mit der aufstrebenden Avantgarde Westeuropas wurde durch den Ersten Weltkrieg unterbrochen. Die Gruppe Tvrdošíjní (Die Unbeugsamen) versuchte im Jahr 1918 Kontakte zu den deutschen und französischen Zentren des Avangardismus zu knüp‐ fen. Die Künstler Josef Čapek, Vlastislav Hofman, Rudolf Kremlička, Otakar Marvánek, Václav Špála und Jan Zrzavý versammelten sich im Umfeld der Zeitschrift Červen ( Juni) und der Persönlichkeit S. K. Neumanns. Für ihr <?page no="198"?> 3 Vojvodík, Josef / Wiendl, Jan eds. Heslář české avantgardy. Estetické koncepty a proměny uměleckých postupů v letech 1908-1958. Praha: Univerzita Karlova v Praze: Filozofická fakulta: Togga. 2011. 4 Drews, Peter. Devětsil und Poetismus. Künstlerische Theorie und Praxis der tschechi‐ schen literarischen Avantgarde am Beispiel Vítězslav Nezvals, Jaroslav Seiferts and Jiří Wolkers. München: Otto Sagner. 1975. 5 Michalová, Rea. Teige. Kapitán avantgardy. Praha: KANT. 2016. 6 Papoušek, Vladimír a kolektiv eds. Dějiny nové moderny: česká literatura v letech 1905-1923 / Vladimír Papoušek a kolektiv. Praha: Academia. 2010. Schaffen ist der Kubismus der Vorkriegs-Avantgarde charakteristisch, der sich zu diesem Zeitpunkt freilich bereits im Rückgang befand. 3 Im Jahr 1918 entstand die Tschechoslowakische Republik als unabhängi‐ ger Staat, der bis 1939 existieren sollte. Die Zwischenkriegszeit bildet den Höhepunkt der historischen Avantgarde - eine aktive Zusammenarbeit verband tschechische Künstler mit führenden Vertretern des Futurismus, Dadaismus und des Surrealismus und sie entwickelten eine eigene, spezi‐ fisch tschechische Konzeption der proletarischen Kunst und des Poetismus. Vom Jahr 1919 an formierten sich um die Zeitschriften Host (Der Gast), Červen ( Juni), Kmen (Stamm) oder Proletkult künstlerische Gruppen, die sich selbst als Avantgarden definieren. Zu ihrem Programm gehörte vor allem die Ablehnung der Vergangenheit und der Tradition, ein utopischer Glaube an eine neue kollektive Zukunft und das Streben nach einer Kunst, die ihre Grenzen überschreitet und Teil des Lebens wird. 1920 wurde die avantgar‐ distische Prager Gruppe Devětsil (Pestwurz/ Neun Kräfte) gegründet. 4 Karel Teige, der wichtigste Theoretiker und Sprecher der Gruppe, propagierte in den Artikeln Obrazy a předobrazy (Bilder und Vorbilder, 1921) und Novým směrem (In eine neue Richtung, 1921) die Notwendigkeit, sich auf den Weg zu einer (künstlerischen) Revolution zu begeben. 5 Die Mitglieder von Devětsil, unter anderen Jaroslav Seifert, Vladislav Vančura und Adolf Hoffmeister, schlugen einen Plan für die Nachkriegskunst vor: Fangen wir von vorne an (von einem gedachten Punkt Null und ohne Beziehung zur vorangegangenen Kunst) und schaffen wir gemeinsam eine fortschrittliche, revolutionäre Kunst. In den ersten Jahren nach dem Krieg herrschte in der tschechischen Avant‐ garde in unterschiedlichen Variationen die Sehnsucht nach Brüderlichkeit und Demut. Diese Grundideen der proletarischen Kunst leiteten Jiří Wol‐ ker 1922 in dem Manifest Proletářské umění (Proletarische Kunst). 6 Das 198 VI. Tschechoslowakei, Tschechien und Slowakei <?page no="199"?> 7 Zuzana Říhová ed. Neplač, vstaň a střílej! Próza české poválečné avantgardy. Praha: Akropolis. 2015. 8 Šámal, Petr et al. Literární kronika první republiky. Události, díla, souvislosti. Praha: Academia / Památník národního písemnictví: Ústav pro českou literaturu AV ČR v.v.i. 2018. 9 Thomas, Karin et al. Tradition und Avantgarde in Prag (Übersetzungen aus dem Tschechischen von Susanna Roth). Köln: DuMont. 1991. leidvolle und bescheidene Leben hart arbeitender Menschen wurde zum Gegenstand vieler künstlerischer Texte. In den proletarischen Gedichten werden Motive wie Armut und Krankheit mit dem Aufruf zur aktiven revolutionären Tat konfrontiert. Die Symbolik von Herz und Demut findet sich nicht nur bei Wolker, sondern auch im Werk von Josef Horas. Den Anspruch revolutionärer und kollektiver Kunst teilt Devětsil mit der im Jahr 1921 gegründeten Brünner Literární skupina (Literarische Gruppe). 7 Trotz wachsender Uneinigkeit und Rivalität versuchen beide Gruppen 1924 in der Zeitschrift Host (Der Gast) zusammenzuarbeiten, die künstlerische Texte und Standpunkte führender Persönlichkeiten der tschechischen Avantgarde vorstellte. In der Slowakei formierte sich die (proletarische) Avantgarde in einer Gruppe um die Zeitschrift DAV (Daniel Okáli, Peter Jilemnický, Ladislav Novomeský und Ján Poničan). DAV vereinte slowakische und tschechische Intellektuelle, die mit dem Marxismus sympathisierten (zu den ausländ‐ ischen Mitarbeitern gehörte Ilja Ehrenburg). Internationale Tendenzen bekräftigte auch die Mehrsprachigkeit der Zeitschrift (Verse Josef Horas wurden tschechisch publiziert, Texte Lajos Kassáks ungarisch und solche von F. C. Weiskopf deutsch), an ihrer visuellen Präsentation beteiligten sich die führenden Vertreter der slowakischen bildnerischen Moderne Ľudovít Fulla und Mikuláš Galanda. 8 Im Jahr 1922 stellte Devětsil die multimedialen Sammelwerke Revoluční sborník Devětsil (Revolutionäre Sammlung Devětsil) und Život II (Leben II) der Öffentlichkeit vor. 9 Neben Poesie und bildender Kunst finden sich dort auch Studien von Repräsentanten der tschechischen und weltweiten Avantgarde (Vladislav Vančura, Artuš Černík, Jindřich Honzl, Karel Schulz, Jean Cocteau, Yvan Goll und Ilja Ehrenburg) zur Kinematografie und zum Funktionalismus in der Architektur abgedruckt. Im Katalog zu der Ausstellung Bazar moderního umění (Basar moderner Kunst, 1923) propa‐ gierten die Künstler von Devětsil ihr Programm. Es enthält dadaistische und präsurrealistische Objekte, Kollagen und Fotomontagen, Bildgedichte sowie 1. Überblick 199 <?page no="200"?> 10 Svobodová, Markéta. Bauhaus a Československo 1919-1938. Studenti, koncepty, kon‐ takty. Praha: KANT. 2016. 11 Vartecká, Anna. Ven ze stínu. Vybrané kapitoly z dějin fotografie (perioda 1918-1955). Ústí nad Labem: Fakulta užitého umění a designu Univerzity Jana Evangelisty Purkyně. 2005. 12 Birgus, Vladimír et al. Tschechische Avantgarde-Fotografie 1918-1948 (Übersetzung Anna Zatloukalová). Stuttgart: Arnold. 1999. 13 Obst, Milan / Scherl, Adolf. K dějinám české divadelní avantgardy. Jindřich Honzl, E.F. Burian. Praha: Nakladatelství Československé akademie věd. 1962. Beispiele von Avantgarde-Architektur, die die Theorien des Bauhauses und des Konstruktivismus beeinflusst haben. Architekten der Avantgarde (namentlich Jaromír Krejcar und Karel Honzík) strebten die technische Perfektion und Zweckmäßigkeit von Bauten im Sinne der funktionellen bzw. funktionalistischen Architektur an. 10 In der Slowakei arbeitete der Architekt Alois Balán zusammen mit Jiří Grossmann an der Entwicklung der Grundlagen der funktionalen und konzeptuellen Architektur mit dem Schwerpunkt auf kollektivem und sozialem Wohnraum, dem „Koldom“ (Zuhause). Außerhalb der Architektur hinterließ der Konstruktivismus auch in der Typografie, der Werbung und im Theater (Bühnenbild) Spuren. Aus der Theorie des Bauhauses gingen zugleich grafische Entwürfe zur Gestaltung von Büchern und Zeitschriften hervor, dabei wurde vielfach mit Fotografien gearbeitet. 11 1922 publizierte Karel Teige die Abhandlung Foto-kino-film, in der er avantgardistische Standpunkte zur Fotografie formulierte und Man Rays Fotogramme vorstellte. Zu den tschechischen Pionieren der Avantgarde-Fotografie der Zwischenkriegszeit gehörten vor allem Jaromír Funke, Josef Sudek, Jaroslav Rössler und Evžen Markalous. 12 Devětsil hatte zwei eigenständige Theaterabteilungen, eine in Prag, die andere in Brünn. 1925 wurde in Prag das Osvobozené divadlo (Befreites Theater) gegründet, zwei Jahre später traten dort erstmals Jiří Voskovec und Jan Werich auf. Das stark links orientierte Theater übte Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen. Das erste Stück Vest pocket revue (Westentaschen-Revue, 1927) kombinierte Szenen auf der Bühne mit sol‐ chen auf der Vorbühne, vor dem Vorhang. Diese improvisierten Szenen, eher dadaistisch-poetistische Sequenzen, wurden später zur Grundlage von populären Stücken. Ende der Zwanzigerjahre schloss sich Jaroslav Ježek Werich und Voskovec an. 13 Mit seiner stark vom Jazz beeinflussten musika‐ lischen Begleitung prägte das Osvobozené divadlo (Befreites Theater) die 200 VI. Tschechoslowakei, Tschechien und Slowakei <?page no="201"?> 14 Macek, Jiří. Česká hudební avantgarda. Průvodce světem orchestru jedné pozoruhodné epochy. Průhonice: Litera Proxima. 2013. 15 Fabian, Jeanette. Poetismus. Ästhetische Theorie und künstlerische Praxis der tsche‐ chischen Avantgarde. Wien / München: Otto Sagner. 2013. erfolgreichste Ära des tschechischen Avantgarde-Theaters. An Prinzipien der Schönberg-Schule orientiert, trugen jenseits der Theater-Sektionen von Devětsil besonders die Komponisten Alois Hába, Viktor Ullmann und Miroslav Ponc zur tschechischen Avantgarde-Musik bei. An der Gründung des Osvobozené divadlo waren auch die Theaterregisseure Jiří Frejka, Emil František Burian und Jindřich Honzl beteiligt. Nach Konflikten rief E. F. Burian zusammen mit Jiří Frejka das dadaistische Theater Divadlo Dada ins Leben, das ab 1933 Déčko (Der Buchstabe D) genannt wurde. Das Theater ändert jedes Jahr seinen Namen, indem der Buchstabe durch die beiden letzten Ziffern des Jahres ergänzt wurde. Indem es Projekte an der Grenze von bildender Kunst, Literatur und Musik verfolgte, entwickelte sich Déčko zu einem Zentrum progressiven Theaterschaffens. 14 1924 stellte Karel Teige das neue Programm der Gruppe Devětsil vor, das auf der Polarität von Leben und Schaffen - dem Poetismus beruhte. 15 Diese genuin tschechische künstlerische Richtung wurde als neue „Art der Organisation des modernen Lebens“ bezeichnet, deren Ziel die Umwandlung der Realität in Kunst sei. Die poetistische Kunst war multimedial und intermedial, eine Kunst, die die Grenzen zwischen Film, Bild, Wort, Musik und Theater überwindet. Sie kam vor allem in Poesie und bildender Kunst zur Geltung. Als eines der wenigen poetistischen Prosa-Werke gilt Vladislav Vančuras Rozmarné léto (Launenhafter Sommer, 1926), das 1967 von Jiří Menzel verfilmt wurde. Wie die Kubisten montierten die jungen Dichter und Maler des Poetismus Ansichtskarten, Aufkleber, Zeitungsausschnitte in ihre Werke und wollten Teige zufolge damit authentische Beziehungen zur Wirk‐ lichkeit herstellen, auch durch Stempel, Fotografien oder Briefmarken - so entstanden die ersten Bildgedichte. Großer Wert wurde auf die Typografie, die visuelle Erscheinung eines Gedichts oder des ganzen Buches, gelegt. Eine Inspiration für Teiges Devise waren offensichtlich Apollinaires Kalligramme sowie das Programm Osvobozená slova (Befreite Worte), das heißt, von der Fessel der Syntax befreite Worte, wie es Filippo Tommaso Marinetti in seinem futuristischen Manifest beschrieben und in seiner Sammlung Parole 1. Überblick 201 <?page no="202"?> 16 Winczer, Pavol. Súvislosti v čase a priestore. Básnická avantgarda, jej prekonávanie a dedičstvo. Bratislava: Veda. 2000. in Libertà künstlerisch umgesetzt hatte. 16 Beispielhaft für die Verknüpfung von Bild und Text ist Vítězslav Nezvals Abeceda (ABCD, 1926). Bedeutenden Einfluss nahm der Poetismus auf den Film. Der Regisseur Alexander Hackenschmied (später nahm er das Pseudonym Hammid an) führte die Filme Man Rays ins tschechische Umfeld ein. 1965 erhielt er für den Film Žít! (Leben! Engl. To Be Alive! ) einen Oscar. Die ersten Avantgarde- Filme drehte der Regisseur Otokar Vávra (Světlo proniká tmou, Licht durch‐ dringt die Dunkelheit, 1931). Bedeutend für die tschechische Film-Avant‐ garde war die Verlegerin, Regisseurin und Schauspielerin Zdena Smolová (Zet Molas). Der poetistische Film durchdrang die avantgardistische Kunst jedoch nicht nur auf Kinoleinwänden sondern auch im Bereich der Film- Gedichte (oder Film-Libretti). Film-Libretti schrieben zum Beispiel Vítězslav Nezval, Karel Teige, Jaroslav Seifert, Jiří Mahen, Čestmír Jeřábek und Artuš Černík, aber sie wurden nie realisiert. Auf die bildende Kunst wandten Jindřich Štyrský und Toyen (Marie Čermínová) die Thesen des Poetismus an, ihre Herangehensweise bezeichneten sie als Artifizialismus, den sie als Identifikation der Malerei mit der Poesie im Sinne freier Kreativität definierten. Ende der 1920er gerät der Poetismus in eine Krise. In der Zeit der Welt‐ wirtschaftskrise werden Magie und Rausch der Schönheit als unpassend empfunden. Um das Jahr 1927 sieht sich Teige gezwungen, die Frage zu stellen: „Ist der Poetismus tot? “, die Nezval etwas ambivalent beantwortet: „Der Poetismus ist tot? Es lebe der Poetismus! “ Die auf den Seiten der Zeitschriften Odeon und Tvorba (Odeon, Kreation, 1929-30) ausgetragene Ge‐ nerationendiskussion warf im Blick auf die Lebensdauer der Avantgarde im kommenden Jahrzehnt ähnliche Fragen auf. Im Jahr 1930 zerfiel die Gruppe Devětsil, an ihre Stelle trat die auf die Propagierung sozialistischer Kultur ausgerichtete Levá fronta (Linke Front). Die wichtigsten Repräsentanten der tschechischen Avantgarde wandten sich nunmehr dem Surrealismus zu, dem sich Teige bereits im zweiten poetistischen Manifest (Manifest poetismu, 1928) genähert hatte, in dem er die schöpferischen Triebe und die Kreativität der Sexualität pries. Anfang der Dreißigerjahre veranstaltete der Spolek výtvarných umělců Mánes (Verein bildender Künstler Mánes) im funktionalistischen Mánes- Gebäude von Otakar Novotný die surrealistische Ausstellung Poezie 1932. 202 VI. Tschechoslowakei, Tschechien und Slowakei <?page no="203"?> 17 Srp, Karel. František Kupka. Sujet dans l’objet. V Řevnicích: Arbor vitae. 2018. 18 Bydžovská, Lenka / Srp, Karel. Černá slunce. Odvrácená strana modernity. V Řevnicích: Arbor vitae ve spolupráci s Galerií výtvarného umění v Ostravě. 2012. Der Vereinsvorsitzende Josef Gočár verfolgte mit der Ausstellung die Ab‐ sicht, zeitgenössische Tendenzen der Avantgarde vorzustellen: Sowohl aus‐ ländische wie auch tschechische Künstler stellten aus, unter anderen Hans Arp, Salvador Dalí, Joan Miró, Vincenc Makovský, František Muzika, Emil Filla, Adolf Hoffmeister, František Janoušek und Josef Šíma. Gemeinsamer Nenner der modernen avantgardistischen Kunst wurde der Surrealismus. Außerdem gewann in den Dreißigerjahren die Abstraktion an Bedeutung (besonders in der Malerei), stark beeinflusst von der Musik. Für die abstr‐ akte Malerei František Kupkas ist das Bestreben charakteristisch, im so genannten „Orfismus“ die Grenzen zwischen Malerei, Musik und Poesie zu überwinden. 17 1934 kehrte der Maler František Foltýn, der in Frankreich als Mitglied von Abstraction-Création gewirkt hatte, in die Tschechoslowakei zurück. Auch das Mitglied der Pariser Gruppe Les Artistes Musicalistes Arne Hošek erprobte in seinen abstrakten Gemälden die Verbindung von bildender Kunst und Musik. Außerhalb surrealistischer Zusammenschlüsse waren die Malerinnen Marie Pospíšilová und Emila Medková künstlerisch aktiv. 18 Die Geschichte des tschechischen Surrealismus beginnt im Jahr 1934 mit der Entstehung der Surrealistická skupina v Československu (Surrealistische Gruppe in der Tschechoslowakei), die von Vítězslav Nezval gegründet wurde. An ihren Aktivitäten beteiligten sich neben anderen Konstantin Biebl, Vincenc Makovský, Bohuslav Brouk und Jindřich Štyrský. Im Jahr der Gründung hielt Nezval im Brünner Rundfunk den Vortrag Co je surrealismus (Was ist Surrealismus? ), in dem er die Erscheinungsformen des tschechi‐ schen Surrealismus und seine Beziehungen zu Frankreich erläuterte. Nezval wurde zum wichtigsten Programmatiker des Surrealismus und zum aktiv‐ sten surrealistischen Dichter der Dreißigerjahre. Zu seinen grundlegenden surrealistischen Sammlungen gehören Žena v množném čísle (Die Frau im Plural, 1935) und Absolutní hrobař (Der absolute Totengräber, 1937). In der bildenden Kunst des Surrealismus setzte sich außer František Hudeček und František Gross besonders das Duo Jindřich Štyrský und Toyen (Maria Čer‐ minová) durch. In Kriegszeiten widmeten sie sich erotischen Kollagen und Zeichenzyklen. Über die gesamte Zeit ihrer Existenz unterhielt die Gruppe enge Kontakte zu André Breton, der regelmäßig in Prag Lesungen hielt. 1. Überblick 203 <?page no="204"?> 19 Nový, Otakar. Česká architektonická avantgarda. Praha: Prostor. 2015. 20 Nadrealizmus. Avantgarda 38. Bratislava: Kalligram / Ústav slovenskej literatúry SAV. 2006. 1936 bereitete Vítězslav Nezval einen Sammelband zum 100. Todestag Karel Hynek Máchas vor: Ani labuť ani Lůna (Weder Schwan noch Mondgöttin). In den Aufsätzen des Bandes werden Möglichkeiten der Zusammenarbeit zwischen Marxismus und der Psychoanalyse Freuds im Hinblick auf einen revolutionären Umbau der Gesellschaft vorgestellt und diskutiert. Im Jahr 1938 geriet die Surrealistická skupina in eine Krise. Als Ausdruck des Protests gegen die antisowjetischen Meinungen der Mehrzahl der Gruppe, besonders Karel Teiges, erklärte Vítězslav Nezval die Auflösung der Gruppe, nachdem er sich öffentlich zur Politik der Tschechoslowakischen Kommunistischen Partei bekannt hatte. Teige reagierte auf Nezvals Vorgehen mit der Bro‐ schüre Surrealismus proti proudu (Surrealismus gegen den Strom, 1938). Andere Mitglieder akzeptierten die Auflösung der Gruppe nicht und setzten ihre Aktivitäten bis zum Ausbruch des Krieges fort. Außerhalb Prags als wichtigstem Zentrum des Surrealismus existierten eine Reihe von Gruppen in kleineren Städten: Der Avantgarde-Klub Linie (Linie, 1931-1938) in České Budějovice, der Malerei, Fotografie, Film, Literatur, Musik, Theater und Architektur integrierte, wurde von dem Dichter und bildenden Künstler Josef Bartuška zusammen mit Emil Pitter, ebenfalls bildender Künstler, angeführt. Monumentalen Kunstwerken und Installationen widmete sich, inspiriert von den Entwürfen Le Corbusiers, vor allem der Architekt und Bühnenbildner Jiří Kroha. In Prag wurde unmittelbar vor Kriegsbeginn die Gruppe Sedm v říjnu (Sieben im Oktober) gegründet, Hauptinitiatoren waren der akademische Bildhauer und Maler Vincenc Makovský und der Fotograf Jan Lukas. 19 Das Krisenjahr 1938 war die Zeit der größten Aktivität der slowakischen surrealistischen Bewegung - des Nadrealismus (Hyperrealismus) - in der eine direkte Zusammenarbeit zwischen Literarhistorikern, Theoretikern und Avantgarde-Künstlern stattfand. 20 Das theoretische Fundament der slowakischen surrealistischen Bewegung legten vor allem Mikuláš Bakoš und Igor Hrušovský, die mit Jan Mukařovský und dem Prager linguistischen Kreis (Pražský lingvistický kroužek) zusammenarbeiteten. In kurzer Folge erschienen die Sammelwerke Áno a nie ( Ja und Nein, 1938), Sen a skutočnosť (Traum und Wirklichkeit, 1940) und Vo dne a v noci (Bei Tag und Nacht, 1941). Mitte der Dreißigerjahre wurden surrealistische Gedichtsammlungen 204 VI. Tschechoslowakei, Tschechien und Slowakei <?page no="205"?> 21 Vojvodík, Josef / Langerová, Marie. Patos v českém umění, poezii a umělecko-esteti‐ ckém myšlení čtyřicátých let 20. Století. Praha: Argo. 2014. publiziert, unter anderem Rudolf Fabrys Uťaté ruky (Abgehackte Hände, 1935), Štefan Žárys Srdcia na mozaike (Herz auf Mosaik, 1938) oder Vladimír Reisels Vidím všetky dni a noci (Ich sehe alle Tage und Nächte, 1939). Der Surrealismus der Vorkriegszeit beendete die Epoche der historischen Avantgarde. Sie wurde jäh durch die Okkupation, Zerstrückelung und Zerstörung der Tschechoslowakei durch das nationalsozialistische Deutsche Reich beendet. Im Mai 1945 erstand die Tschechoslowakei aufs Neue. Die Rahmenbedin‐ gungen hatten sich aber verändert. Obwohl der Surrealismus nach dem Krieg seine Fortsetzung fand, wies er nun eine Reihe von Merkmalen auf, die ihn von den Aktivitäten der Zwischenkriegszeit unterschieden. Jindřich Štyrský war im Jahr 1942 gestorben, 21 Nezval verfasste nunmehr politische Verse, der Dichter Jindřich Heisler schrieb zusammen mit Toyen, bei der er sich aufgrund seiner jüdischen Herkunft während des Krieges versteckt gehalten hatte, den Gedichtszyklus Z. Kasemat spánku (Schlaf in den Kasematten), als Privatdruck in der Edition Surrealismus in einer Auflage von insgesamt siebzehn Exemplaren erschienen). Nach Kriegsende zogen beide nach Paris und schlossen sich der von Breton geführten Gruppe französischer Surrealisten an. Nach dem Krieg ist das Bemühen erkennbar, die Isolation zu brechen, in welche die tschechische Kunst während des Krieges geraten war. Zu einer Ausstellung französischer Malerei werden Louis Aragon und Tristan Tzara (→ Kapitel V) nach Prag eingeladen, im Jahr 1946 präsentierte sich die tschechoslowakische Kunst im Rahmen der Ausstellung Československé umění 1938-1946 (Tschechoslowakische Kunst, 1938-1946), bei der mehr als vierzig tschechische und slowakische Künstler (unter anderen František Gross, Zdenek Seydl, Karel Souček, Libor Fára) vorgestellt wurden. Im gleichen Jahr reiste Paul Éluard nach Prag, um die Zusammenarbeit tsche‐ chischer und französischer Surrealisten zu unterstützen. 1947 fand in Brüssel der Mezinárodní kongres revolučních surrealistů (Internationaler Kongress revolutionärer Surrealisten) statt, für die tschechischen Surrealisten nahmen Josef Istler und Zdeněk Lorenc daran teil. Die folgende Ausstellung Meziná‐ rodní surrealismus (Internationaler Surrealismus) im Prager Topič Salon war eine der letzten vor der Etablierung des kommunistischen Regimes. 1. Überblick 205 <?page no="206"?> 22 Vojvodík, Josef / Marie Langerová et al. Symboly obludností: mýty, jazyk a tabu české postavantgardy 40.-60. Let. Praha: Malvern. 2015. Ferner operierten nach dem Krieg surrealistische Gruppen, die sich jedoch von den Aktivisten der Zwischenkriegszeit distanzierten. Die Skupina Ra (Gruppe Ra), in den Dreißigerjahren unter der Leitung von Václav Zykmund entstanden, debütierte literarisch mit der Sammlung A zatím co válka (Als Krieg war, 1946). Zusammen mit dem Manifest von Ludvík Kundera und Zdeněk Lorenc Mladší surrealisté ( Jüngere Surrealisten) stand die Sammlung für die Absage an die Definition des Surrealismus in der Zwischenkriegszeit, namentlich durch ostentativen Verzicht auf psychische Automatismen. Dem Schaffen junger Surrealisten verlieh die Sammlung Roztrhané panenky (Zerrissene Puppen), an der Ludvík Kundera, Zdeněk Lorenc und Otta Mizera beteiligt waren, einen zeitgemäßen Ausdruck. Zbyněk Havlíček, Übersetzer der Dějiny surrealismu (Geschichte des Surrealismus) von Maurice Nadeau, brachte eine Gruppe von Autoren zusammen, die als Spořilovští surrealisté (Surrealisten von Spořilov) in die Öffentlichkeit traten. Ihnen schloss sich später der marxistische Theoretiker Robert Kalivoda an. Vom Surrealismus gingen auch die Mitglieder der Gruppe Půlnoc (Mitternacht) aus, die Egon Bondy (Zbyněk Fišer) und Ivo Vodseďálek Anfang der Fünfzigerjahre ins Leben rief, die Dichterin Jana Krejcarová arbeitete mit ihnen zusammen. Ziel der Gruppe Půlnoc war unter anderem, ein Forum zur Vorstellung und inof‐ fiziellen Herausgabe (Vervielfältigung) literarischer Texte zu schaffen. Die Gruppe bildete sich unter dem Einfluss des Surrealismus, Egon Bondy be‐ zeichnete seine schöpferische Herangehensweise jedoch als totální realismus (Totaler Realismus). Im Kreis um Karel Teige wurde inoffiziell die Aktivität der Surrealistická skupina fortgesetzt. Bis 1951 wurden zehn Nummern der handgeschriebenen Sammlung Znamení zvěrokruhu (Tierkreiszeichen) herausgegeben und in den Jahren 1953-1962 fünf weitere Sammlungen Objekty (Objekte). 22 Im Jahr 1948 gewann die Kommunistische Partei die Parlamentswahlen und die Tschechoslowakei entwickelte sich zusehends zu einem totalitären System. Die Avantgarde war nicht länger Bestandteil des öffentlichen Lebens, sondern existierte bis 1989 nur jenseits des politischen Systems. In Tschechien bestand die Avantgarde weiter - als Teil der Kunst des Samisdats, der Dissidenten und des Undergrounds, das heißt außerhalb der offiziellen Literatur und Kunst. Der Surrealismus als Hauptströmung der tschechischen Avantgarde wurde von den politischen Repräsentanten als ideologisch 206 VI. Tschechoslowakei, Tschechien und Slowakei <?page no="207"?> 23 Primus, Zdenek et al. Vladimír Boudník. Mezi avantgardou a undergroundem. Praha: Gallery. 2004. 24 Klimešová, Marie. Věci umění, věci doby - Skupina 42 / Marie Klimešová. V Řevnicích: Arbor vitae / V Plzni: Západočeská galerie. 2011. schädliche Kunst bezeichnet. 23 Ein bedeutender Teil der Äußerungen des Surrealismus der Fünfzigerjahre ist deshalb eine fortwährende Reflexion der Manifestationen des totalitären Staates und seiner Repression: Der Surrealismus war für tschechische Avantgardekünstler nach 1948 niemals nur eine literarische Richtung, sondern stets Ausdruck einer Haltung. Ende des Jahres 1947 gruppierten sich um Karel Teige junge Surrealisten, etwa der bildende Künstler Mikuláš Medek, der Schöpfer von Assembla‐ gen und Fotokollagen, Libor Fára und andere. Neben dem Surrealismus entwickelte sich seit den Fünfzigerjahren auch die experimentelle Poesie (namentlich durch Jiří Kolář, Emil Juliš, Josef Hiršal und Bohumila Grö‐ gerová). Sprachliche Experimente eigneten sich als Mittel zur Enthüllung des Wesens der totalitären Ideologie, sie waren eine der künstlerischen Antworten auf den damaligen Missbrauch der Sprache im öffentlichen Raum. Die tschechische experimentelle Richtung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schuf zeitweise Verbindungen zu den westlichen Traditio‐ nen der Neoavantgarde, aufgrund der geschlossenen Grenzen entwickelte sie sich jedoch in beträchtlichem Maße autonom. Ziel von Experimenten in Dichtungs- und Alltagssprache, sprachlichen und bildnerischen Kollagen war, die entpoetisierte Alltagserfahrung einzu‐ fangen. Viele Autoren nahmen Bezug auf die Poetik der Skupina 42 (Gruppe 42), die sich während des Krieges formiert hatte. 24 Die Gruppe führte die Dichter Jiří Kolář, Jiřina Hauková, Jan Hanč, Ivan Blatný, die bildenden Künstler František Hudeček, Kamil Lhoták, den Bildhauer Ladislav Zívr und den Fotografen Miroslav Hák, der für die Linie der zivilistischen Fotografie steht, zusammen. In einer Doppelnummer der Zeitschrift Život (Leben, 1946) stellte die Gruppe 42 theoretisch begründet durch einen Artikel von Jindřich Chalupecký ihre Orientierung an der Realität des Menschen inmitten der Großstadt, in „städtischen Landschaften“ (Lagerhallen, Spiel‐ plätze, Fabriken) vor. In ihren künstlerischen Projekten näherte sich die Gruppe der Poetik der Neuen Sachlichkeit. Für die Betonung der Banalität, die Mythisierung des Alltags und der Realität des Menschen inmitten der Großstadt steht die Sammlung inoffizieller Literatur Život je všude (Leben ist überall, 1956), die Jiří Kolář gemeinsam mit Josef Hiršal zusammenstellte. 1. Überblick 207 <?page no="208"?> Sie enthält Kurzgeschichten von Bohumil Hrabal, sowie Arbeiten von Emil Juliš, Josef Škvorecký und Jan Zábrana. Vladimír Boudník entdeckte Kunst in realen Gegenständen, die den Menschen in der Großstadt umgaben. Seine aktive Grafik (er selbst bezeichnete seine Schaffensmethode als „Explosio‐ nalismus“) arbeitete mit Flecken auf Wänden, mit Löchern im Putz und Ähnlichem. In der zweiten Hälfte der 1950er kam es zu einem politischen Tauwet‐ ter, in dessen Folge Auftritte und Happenings von Surrealisten in der Öffentlichkeit stattfinden konnten. Es gab Ausstellungen von Fotografien und Kunstwerken von Emilie Medková, Mikuláš Medek und Josef Istler, öffentliche Vorträge von Milan Nápravník, Stanislav Dvorský und Vratislav Effenberger, die gemeinsam eine magnetofonische Gedichtanthologie erar‐ beiteten. Die tschechische Neoavantgarde konnte Kontakte zu Zentren der Avantgarde in Europa knüpfen. Der Autor geometrischer Abstraktionen Jan Kotík etwa verabredete internationale Aktivitäten unter anderem mit ehemaligen Mitgliedern der Gruppe COBRA. Einen bedeutenden Platz nahm die konkrete Poesie ein, Literatur vermischte sich mit bildender Kunst und Musik. Im Jahr 1964 trat als Repräsentant westlicher Avantgardemusik John Cage in Prag auf. Die 1960er Jahre brachten eine neue Welle des Surrealismus mit sich. Nach Karel Teige (er starb 1951) übernahm Vratislav Effenberger die Rolle des Hauptorganisators und wichtigsten Theoretikers. Kurz nacheinander erschienen die Anthologie Výtvarné projevy surrealismu (Künstlerische Äußerungen des Surrealismus, 1969) und die Sammlung Realita a poesie (Realität und Poesie, 1969). Die Sammlungen zielten auf das Wesen surrea‐ listischer Imagination und Technik ab, versuchten aber zugleich, ein Bild von der Entwicklung des tschechoslowakischen Surrealismus zu zeichnen. Bezeichnend für die Sechzigerjahre ist das Bestreben, dem tschechoslowaki‐ schen Surrealismus eine neue Gestalt zu geben, verbunden mit dem Versuch, seine Geschichte zu schreiben. Im Jahr 1966 erschien der erste Band der Schriften Karel Teiges (Spisy Karla Teiga) und 1969 die erste Nummer der surrealistischen Zeitschrift Analogon. Bestandteil der Aktivitäten der tschechischen Neoavantgarde der Sech‐ zigerjahre waren Diskussionen über die Bedeutung der Avantgarde für die tschechische Kunst, deren Gegenstand auch Ausstellungsaktivitäten waren. Die Verkündigung eines „Endes der Avantgarde“ war von der Ableh‐ nung der Mythisierung der Zwischenkriegsavantgarde und ihrer Ideologie motiviert. Einer intensiven Reflexion der vorausgegangenen Etappen der 208 VI. Tschechoslowakei, Tschechien und Slowakei <?page no="209"?> 25 Solařík, Bruno / Švankmajer, Jan ed. Jan Švankmajer. Brno: CPress. 2018. tschechoslowakischen Avantgarde widmeten sich Historiker und Literatur‐ wissenschaftler, besonders Robert Kalivoda, Květoslav Chvatík und Jiří Brabec. Teil der Reflexion über die Zwischenkriegsavantgarde war eine Retrospektive der Werke von Jindřich Štyrský und Toyen in Prag und in Brünn. Viele Autoren gingen in den 1960er und 1970er Jahren ins Exil, wo sie weiter avantgardistischen Aktivitäten nachgingen, sei es auf Tschechisch oder in der Sprache ihrer neuen Heimat: Als Autor verspielter Poesie voller Wortspiele und Neologismen praktizierte Milan Nápravník in Deutschland weiter den Surrealismus, Petr Král schloss sich in Frankreich einer Pariser surrealistischen Gruppe an. Mit ihr arbeiteten auch die slowakischen Sur‐ realisten Juraj Mojžiš und Albert Marenčin zusammen. Auf ihre Initiative hin wurde in Prag, Brünn und Bratislava die surrealistische Ausstellung Princip slasti (Das Prinzip der Lust, 1968) realisiert. Auch der Maler Václav Boštík, Gründer der freien Freundesvereinigung UB 12 und Hauptvertreter der Abstraktion nach dem Krieg, lebte lange Zeit in Prag. 1966 gründeten Autoren (u. a. Petr Král, Stanislav Dvorský, Zbyněk Havlíček, Ivan Sviták) aus dem Kreis um Vratislav Effenberger die Gruppe UDS. Sie organisierte die Ausstellung Symboly obludností (Symbole der Monstrosität), die in der Prager Galerie D das zeitgenössische surrealistische Schaffen präsentieren sollte. Die Ausstellung wurde abgesagt, der Katalog geschreddert. Ähnlich wie die Skupina Ra (Gruppe Ra) lehnte UDS die Konzeption des psychischen Automatismus ab. Mit UDS arbeiteten unter anderen der Maler Martin Stejskal, der Filmregisseur und Autor von Ani‐ mationsfilmen Jan Švankmajer, seine Frau, die Malerin Eva Švankmajerová und František Dryje zusammen. 25 In Anlehnung an die Tätigkeit der Skupina surrealistů v ČSR (Gruppe der Surrealisten in der ČSR) von Nezval und Teige in der Zwischenkriegszeit nahm die Gruppe im Jahr 1974 den Na‐ men Surrealistická skupina v Československu (Surrealistische Gruppe in der Tschechoslowakei) an. Ihre Mitglieder (Karol Baron, Vratislav Effenberger, Andrew Lass, Albert Marenčin, Juraj Mojžiš, Martin Stejskal, Ludvík Šváb, Eva und Jan Švankmajer) organisierten Umfragen, experimentelle Spiele und arbeiteten mit westlichen surrealistischen Gruppen zusammen (vor allem in Schweden und den USA). In der Prosa spiegelten sich Elemente des Surrealismus hauptsächlich in den Werken von Věra Linhartová und Milan Nápravník. 1. Überblick 209 <?page no="210"?> Das Bedürfnis der Avantgardisten, sich gegen den moralischen Miss‐ brauch der Sprache abzugrenzen, führte zu unterschiedlichsten Experi‐ menten - von der Arbeit mit Texten bis hin zu Demonstrationen und Happenings. Jiří Kovanda und Jan Mlčoch fotografierten sich während ihrer Performances gegenseitig, der Dichter Josef Honys praktizierte wei‐ ter den psychischen Automatismus, Happenings Petr Štemberas und des slowakischen Künstlers Alex Mlynárčik waren durch das Bemühen gekenn‐ zeichnet, die Kunst mit dem Leben in Verbindung zu bringen. Ladislav Novák atomisierte in seiner phonetischen Poesie die Wörter in Laute, also in die Lautgestalt der Buchstaben, oder er präparierte Texte (aus dem ursprünglichen Text extrahierte er nur einige Fragmente). Nováks Arbeiten waren Bestandteil der Sammlung Pocta Jacksonu Pollockovi (Tribut an Jackson Pollock, 1966). Der Collagetechnik bedienten sich unter anderen Jiří Kolář (der sich von den Sechzigerjahren an ausschließlich der bildenden Kunst zuwandte), Vladimír Boudník, Egon Bondy, Ivo Vodseďálek und in der Literatur insbesondere Bohumil Hrabal. Sie war eines der führenden Prinzipien der tschechoslowakischen Avantgarde in diesem Jahrzehnt. Aus Collagen erstellten die Autoren häufig so genannte „Bildtagebücher“, in denen sich die Notwendigkeit widerspiegelte, über die Gegenwart Auskunft zu geben - Zeugnis abzulegen. Ähnlich wie Kolář in Dny v roce (Tage im Jahr) und Roky v dnech ( Jahre in Tagen) gestalteten die Künstler visuelle und schriftliche Alternativen zu den Informationen in kommunistischen Medien. Eine breite Skala experimenteller Techniken brachten Josef Hiršal und Bohumila Grögerová in der Sammlung Job - Boj (Hiob - Kampf, 1968) zur Anwendung. Ihre Anthologie Experimentální poezie (Experimentelle Poesie, 1967) zeigte Beispiele aus dem Schaffen hunderter Autoren aus mehr als zwanzig Ländern. Die Zweifel an der Glaubwürdigkeit der öffentlichen Sprache beeinfluss‐ ten auch das Theater, in den Sechzigerjahren das so genannte „Absurde Theater“ und das „Theater der kleinen Form“. Im Jahr 1958 wurde das Divadlo Na Zábradlí (Theater am Geländer) gegründet, dessen Stammregisseur in den Sechzigerjahren Jan Grosmann war (unter anderem führte er 1964 Regie bei der Aufführung von Alfred Jarrys Král Ubu - König Ubu). Das Theater am Geländer spielte auch Václav Havels Zahradní slavnost (Das Gartenfest, 1964) und Vyrozumění (Die Benachrichtigung, 1965). Für kurze Zeit wirkte dort auch der Schriftsteller und Dramatiker Ivan Vyskočil, der 1963 das Nedivadlo (Nichttheater) ins Leben rief. Auf einen anderen Weg begab sich die Laterna Magika (Zauberlaterne), ein multimediales Theater, das im 210 VI. Tschechoslowakei, Tschechien und Slowakei <?page no="211"?> 26 Fluxus. Ze sbírky Marie a Milana Knížákových. České muzeum výtvarných umění (úvodní text Milan Knížák a Olaf Hanel; fotografie Štěpán Aussenberg). Zusammenhang mit der Ausstellung Expo 58 in Brüssel gegründet wurde. Der Theaterregisseur Alfréd Radok strebte die Verflechtung aller Genres im Theater an: Film, Tanz, Ballett, Pantomime. In den Achtzigerjahren setzte sich in der Laterna Magika der Regisseur Evald Schorm durch, der mit dem Musiker Michael Kocáb zusammenarbeitete. 1966 gründeten die Pantomimen Boris Hybner und Ctibor Turba das Ensemble Pantomima Alfreda Jarryho. An der Grenze zwischen Theater und künstlerischer Performance be‐ wegte sich die Aktionskunst der Gruppe Fluxus. 26 1966 fanden im Prager Club Reduta zwei Fluxus-Festivals statt. Milan Knížák, die zentrale Persön‐ lichkeit der Bewegung, stellte Happenings von Allan Kaprow und Jean Jacques Lebel, den Wiener Aktionisten und visuelle Poesie aus dem tschechi‐ schen Umfeld, der Öffentlichkeit vor. Zusammen mit Soňa Švecová gründete er 1962 die tschechische Undergroundmusik- und Kunstgruppe Aktual. Eine weitere avantgardistische Undergroundgruppe im Konflikt mit dem kommunistischen Regime waren die Plastic People of the Universe, Ende der Sechzigerjahre gegründet von Milan „Mejla“ Hlavsa und dem Dichter Ivan „Magor“ Jirous, einer führenden Persönlichkeit des tschechischen Undergrounds. In den Siebzigerjahren gründete Hlavsa zusammen mit Pavel Zajíček auch die Band DG 307 (der Name nimmt Bezug auf die Bezeichnung einer psychiatrischen Diagnose, die es in der Zeit der „Normalisierung“ nach dem Prager Frühling 1968 jungen Männern ermöglichte, um den Militärdienst herumzukommen). Gegen die offizielle Literatur trat in Prag die so genannte Křižovnická škola čistého humoru bez vtipu (Křížovnic- Schule reinen Humors ohne Witz) auf, die der Bildhauer Karel Nepraš zusammen mit Jan Steklík in den Sechzigerjahren ins Leben rief. Zu ihren Mitgliedern gehörte auch der Mitbegründer der tschechischen Form des Happenings Eugen Brikcius. Eine grundlegende Rolle für die Entwicklung einer konzeptuell orientierten Kunst spielte in Tschechien Jiří Valoch. In der Slowakei widmeten sich unter anderen Stano Filko, Jozef Jankovič, Rudolf Fila und insbesondere Július Koller, dessen Schaffen inspiriert war von wis‐ senschaftlichen Utopien, anderen Universen und UFOs, der konzeptuellen Kunst, der Abstraktion und der nichtfiguralen Malerei. Eine kurze Phase des Tauwetters in der Mitte der 1960er Jahre mit dem „Prager Frühling“ als Höhepunkt wurde durch den Einmarsch der Armeen 1. Überblick 211 <?page no="212"?> des Warschauer Paktes am 21. August 1968 abrupt beendet und von der Periode der so genannten „Normalisierung“ abgelöst. Die größte Manifesta‐ tion des Widerstands gegen das Regime waren die Aktivitäten der Charta 77. Die zweite Hälfte der Achtzigerjahre wurden stark von den Aktivitäten von Mitgliedern der Gruppe Tvrdohlaví (Dickköpfe - Jií David, Petr Nikl, Jaroslav Róna), locker verbunden mit der Gruppe Tvrdošíjní (Unbeugsame), beeinflusst. Zu Beginn der Achtzigerjahre wurde von der Surrealistická sku‐ pina v Československu (Surrealistische Gruppe in der Tschechoslowakei) eine Samisdat-Edition unter dem Titel Studijní materiály a dokumentace (Studi‐ enmaterialien und Dokumentation) veröffentlicht, die eine nahezu vollstän‐ dige Ausgabe der Poesie Zbyňek Havlíčeks und Karel Hyneks enthielt sowie grundlegende und bis zu diesem Zeitpunkt auf Tschechisch nicht publizierte Arbeiten Bretons, zudem Hauptwerke Vratislav Effenbergers von der Wende der Sechzigerzu den Siebzigerjahren. In den Achtzigerjahren erschien auch die Anthologie Otevřená hra (Offenes Spiel - Zwischen Surrealismus und Surrationalismus. Anthologie der Werke surrealistischer Gruppen in der Tschechoslowakei 1969-1979), an die später die identisch konzipierte Sammlung Opak zrcadla (Die Rückseite des Spiegels - Surrealistische Poesie. Anthologie der Werke surrealistischer Gruppen in der Tschechoslowakei 1980-1985) anknüpfte. Die Sammlungen enthalten Gedichte, Prosa und bildende Kunst sowie theoretische Abhandlungen, Umfragen, Polemiken und anderes. Im Filmschaffen entwickelte der Regisseur Jan Švankmajer surrealistische Verspieltheit. Der Surrealismus ist im Grunde genommen die einzige avantgardistische Richtung, die bis in die Gegenwart fortbesteht. Nach wie vor existiert die Skupina československých surrealistů (Gruppe tschechoslowakischer Surrealisten), noch immer erscheint die Zeitschrift Analogon. Aus dieser Perspektive haben für den tschechoslowakischen Surrealismus des 20. Jahrhunderts die Worte Anja Tippner Gültigkeit: eine permanente Avantgarde. 212 VI. Tschechoslowakei, Tschechien und Slowakei <?page no="213"?> 2. Personen und Werke - Vítězslav Nezval (1900-1958) Abb. 1: Pantomima (Pantomime, 1924) Vítězslav Nezval wurde 1900 in Biskoupky (Biskupka) im Bezirk Brünn (Brno) geboren. Er war einer der Mitbegründer des Poeitismus und später des Surrealismus. Seine Gedichtsammlung Pantomima war die erste künst‐ lerische Manifestation einer neuen Herangehensweise an moderne Poesie und an das Leben - des Poetismus. Grundlegendes Merkmal dieser Bewe‐ gung ist das Bemühen, die Grenzen zwischen Leben und Kunst aufzuheben. In Nezvals Konzeption geht die Poesie auf die künstlerische Fotografie und den Film zu. Eine enge Beziehung besteht zugleich zwischen Sprache und Malerei: Ähnlich wie die anderen Mitglieder von Devětsil wollte Nezval Gedichte verfassen, die wie Bilder erscheinen. Am Anfang von Pantomima steht das umfangreiche Gedicht Abeceda (ABC), das zum ersten Mal 1923 in der Avantgarde-Zeitschrift Disk (Scheibe) abgedruckt wurde. 1926 schuf Jiří Frejka eine Choreografie zu Abeceda. Fotografien dieses Tanzabends mit 2. Personen und Werke 213 <?page no="214"?> Milča Mayerová ergänzten eine eigenständige Buchausgabe von Abeceda im Jahr 1926. Das Gedicht basiert auf dem Prinzip der Assoziation. Nezval fasste entweder die grafische Gestalt der Buchstaben oder ihre klangliche Realisierung in den Blick. Pantomima zeichnet sich durch eine unverwech‐ selbare Typografie und eine (fast kindliche) Bildhaftigkeit aus. Quelle der Emotionen war für den Dichter die ihn umgebende Welt, besonders Zirkus, Film, Varieté, Bilder, Theater, Musik und anderes. Pantomima ist zudem das Ergebnis kollektiver Autorschaft: Autor der musikalischen Beilage ist Jiří Svoboda, Jindřich Štyrský illustrierte die Sammlung, die originelle typografische Gestaltung stammt von Karel Teige, das Nachwort schrieb Jindřich Honzl. - Jaroslav Seifert (1901-1986) Abb. 2: Na vlnách TSF (Auf den Wellen von TSF - Télégraphie sans fil, 1925) 214 VI. Tschechoslowakei, Tschechien und Slowakei <?page no="215"?> Der 1904 in Prag geborene und dort 1986 verstorbene Jaroslav Seifert war Dichter, Journalist und Übersetzer. 1984 wurde ihm als bisher einzigem tschechischem Autor der Nobelpreis verliehen. Er begann sein Schaffen im Umfeld der proletarischen Poesie, wandte sich später dem Poetismus zu und war einer der Gründungsmitglieder der Gruppe Devětsil. Er war Mitglied der Kommunistischen Partei. Wegen ihres autoritären Führungs‐ stils unter Klement Gottwald verließ er diese 1929 und schloss sich der Tschechoslowakischen Sozialdemokratischen Partei der Arbeiter an. Nach dem Zweiten Weltkrieg wahrte er eine gewisse Distanz zum kommunisti‐ schen Regime, seine Arbeit wurde von diesem insbesondere in der Ära der Normalisace (Normalisierung) nach 1968 behindert. Seine Gedichtsammlung Na vlnách TSF (1925) hat Karel Teige als „typo‐ grafisches Rodeo“ beschrieben. Auf dem Umschlag werden drei verschie‐ dene Schrifttypen verwendet, jedes Gedicht ist in einer anderen Schriftart gesetzt. Seiferts Dichtung wird dem Postulat des Poetismus am meisten gerecht: „Das Gedicht liest sich wie ein modernes Bild. Ein modernes Bild liest sich wie ein Gedicht.“ Seifert bekennt sich hier zur Inspiration sowohl durch Apollinaires Kalligramme (das Gedicht Guillaume Apollinaire eröffnet die Sammlung), als auch durch Apollinaires Gedicht Zone. Kernelement von Seiferts Sammlung ist die Verzauberung durch die Schönheit der Welt, besonders durch technische Entdeckungen (Funkwellen, Flugzeuge). Die Bildgedichte wirken visuell auf den Leser ein. Die Welt wird zum Spielfeld der Phantasie und der Freude; die Poesie dient als Mittel zum Ausdruck der Liebe zu einer Wirklichkeit, in der Zirkus, Clowns und Rummelplatzattrak‐ tionen ihren Platz haben. 2. Personen und Werke 215 <?page no="216"?> Jaromír Funke (1896-1945) Abb. 3: Abstraktní foto (Abstraktes Foto, 1927-29). © Miloslava Rupešová Jaromír Funke wurde 1896 im ostböhmischen Skuteč (Skutsch) geboren und gehört zu den bedeutendsten Persönlichkeiten der tschechischen und der weltweiten Avantgarde-Fotografie. Er studierte Medizin, sowie in Prag Kunstgeschichte und Philosophie. Er war Dozent an der Kunstgewerbe‐ schule in Bratislava (Preßburg) und an der Staatlichen Graphischen Schule in Prag, wo er 1945 starb. Er war Mitglied der Gruppe Sociofoto und in seiner ästhetischen Programmatik ein Gegenspieler von Karel Teige. Seine progressive Fotografie entwickelt Impulse von Abstraktion und Kubismus, Konstruktivismus und Prinzipien des Bauhauses, später auch des Surrealismus. Unter dem Einfluss der Neuen Sachlichkeit widmete er sich in den frühen Zwanzigerjahren der Fotografie konkreter Gegenstände (Teller, Staubsauger, Glasflasche), allmählich konzentrierte er sich jedoch weniger auf das Motiv selbst, als vielmehr auf dessen Spiegelbild oder Schat‐ ten. Er bearbeitete originelle Lichtmotive, leuchtende Bilder, verwendete 216 VI. Tschechoslowakei, Tschechien und Slowakei <?page no="217"?> durchsichtige Materialien. 1926 erstellte er so genannte „Fotogramme“, ab 1928 entstand der Assemblagen-Zyklus Věci skleněné a obyčejné (Gläserne und gewöhnliche Dinge), in dem Widerspiegelung und Deformation der Umgebung in Schaufenstern bereits eine Schlüsselrolle spielen. Funkes Interesse für Schatten und Reflexionen von Gegenständen erreichte seinen Höhepunkt in den Bildern des Zyklus Abstraktní foto (Abstraktes Foto, 1927- 1929). Hier konfrontiert er wiederholt die Realität mit ihrem Widerschein in Spiegeln, Scherben oder in dem Licht, das der betrachtete Gegenstand wirft. Avantgardistische Tendenzen kamen auch in seinen Details industrieller Objekte, Akten, Architekturbildern, Porträts, Landschaftsfotos und in seinen Aufnahmen mit sozialer Thematik zur Geltung. Neben abstrakten Kompo‐ sitionen schuf Funke auch vom Konstruktivismus inspirierte Bilder (Bau des Elektrizitätswerks in Kolín, moderne Gebäude in Bratislava). Die Methode seines Schaffens erläuterte Funke in einer Reihe theoretischer Texte, so etwa 1935 in der Zeitung České slovo (Tschechisches Wort): Das Betonen von Gegensätzen, die Kontrastierung zweier Wirklichkeiten, ver‐ schiedene Elemente zu einer neuen Fotografie kombinieren - das erfordert eine fotografische Tat, zu deren Bewältigung ein Reichtum an innerer Vorstellungs‐ kraft und Erfindung höchst wünschenswert ist. Funkes Weg zur Abstraktion gipfelte in seinem eigenen -ismus: „Fotoge‐ nismus“. Inspiriert von Bretons Prinzip der „Wunderbaren Begegnung“ begründete er Mitte der Dreißigerjahre die so den Fotogenismus und die Emotionale Fotografie. 2. Personen und Werke 217 <?page no="218"?> Gustav Machatý (1901-1963) Abb. 4: Extase (Ekstase, 1933) Gustav Machatý, Sohn des damaligen Direktors der Skoda-Werke, wurde 1901 in Prag geboren, war Regisseur und Schauspieler, der insbesondere durch den Film Ekstase und die Nacktszenen mit Hedy Lamarr (Hedy Kiesler) berühmt geworden ist. Machatý arbeitete zeitweilig mit verschiedenen bedeutenden Persönlichkeiten der Avantgarde zusammen, unter anderen Vítězslav Nezval, Alexander Hackenschmied oder Jaroslav Ježek. Unter der Schirmherrschaft der Gruppe Devětsil entstand in den Zwanzigerjah‐ ren eine Reihe avantgardistischer Filmdrehbücher, die aber nie realisiert wurden. In den 1930er Jahren drehte Vladislav Vančura einige Spielfilme, in denen er avantgardistische Verfahren anzuwenden versuchte. Große Aufmerksamkeit erzielte erst Gustav Machatýs Extase, den er 1932 mit dem Kameramann Jan Stallich zu drehen begann. Auch nach dem Ende der Ära des Stummfilms beschränkte sich Machatý auf ein Minimum von Dialogen und legte die Betonung auf Symbole, Bilder und die Entwicklung einer stimmungsvollen Atmosphäre mit Hilfe der Musik (Giuseppe Becce). Im Geiste des Gesamtkunstwerks schuf er einen Film, der besonders durch seine freimütige Sexualität schockierte. Von den Dreißigerjahren an wirkte Machatý in Österreich, Italien, den USA und in Deutschland. Er starb 1955 in München. 218 VI. Tschechoslowakei, Tschechien und Slowakei <?page no="219"?> Toyen (Marie Čermínová, 1902-1980) Abb. 5: Ani labuť ani lůna (Weder Schwan noch Mondgöttin, 1936) 2. Personen und Werke 219 <?page no="220"?> Die Malerin, Zeichnerin und Graphikerin Marie Čermínová wurde 1902 in Prag geboren, wo sie an der der Vysoká škola umělecko-průmyslová (Akademie für Kunst, Architektur und Design) studierte. Sie gehörte zur Künstlergruppe Devětsil. Von 1925-1929 lebte sie mit dem Dichter und Graphiker Jindřich Štyrský in Paris. Sie war 1929 die einzige Frau in der Gründungsgruppe des tschechischen Futurismus. Im Jahr 1936 gab die Skupina surrealistů v ČSR (Gruppe der Surrealisten in der ČSR) einen Sammelband zum Mácha-Jubiläum heraus Im Vorwort betonte Nezval, die Sammlung sei als Protest gegen die offiziellen Feiern zum Jahrestag von Karel Hynek Máchas Máj (1836) zu verstehen. Nezval war dabei inspiriert vom zweiten Manifest des Surrealismus, in dem André Breton die Zugehörigkeit des Surrealismus zum romantischen Stammbaum hervorhob. Im Jahr des Jubiläums der Veröffentlichung des Gedichts stellte die Toyen ihre bildliche Interpretation von Máchas Gedicht vor. Sie spielt darin mit Kitsch (ein leeres Grab) und romantischem Gefühl. Typisch weibliche Objekte auf dem Bild, der Akt des Entkleidens und romantisierte Erotik - Artefakte und Momente aus der Poesie Máchas - evozieren die intime abendliche Welt junger Frauen. Die nächtliche Mondlandschaft, in der anstelle des Mondes eine Lampe leuchtet, ruft eine unheimliche erotische Spannung hervor. Einige der Objekte auf dem Bild verwendete Toyen auch in ihrem späteren Schaffen. Eine Petroleumlampe findet sich auf dem Umschlag des Buches André Bretons (1948), und Kleidung, namentlich Frauenkleider und Korsette, in denen keine Gestalt auftaucht, sind ein wiederkehrendes Motiv ihrer Bilder und Collagen aus den 1950er Jahren. 220 VI. Tschechoslowakei, Tschechien und Slowakei <?page no="221"?> Milada Součková (1898-1983) Abb. 6: Milada Součková, Mluvící pásmo (Sprechende Zone, 1939) […] Ein Diener, Kriegsinvalide, geht durch den Saal, draußen im Park werden Rasen und Beete besprengt; ein Jüngling sitzt auf einem Samtsofa, träumt er davon, das purpurne Band zu zerreißen, das ihn von Venus trennt? Ich sehe ihn mit meinen blinden Pupillen und lächele, ich bin der MANN MIT DER FEDER IN DER HAND. Mluvící pásmo (Sprechende Zone, 1939) Die Schriftstellerin und Literaturtheoretikerin Milada Součková 1898 in Prag geboren, studierte dort Biologie und Naturwissenschaften. In den 1930er Jahren gehörte sie zum Umfeld des Prager linguistischen Zirkels um Roman Jakobson. Aus Protest gegen die Machtübernahme der Kommunisten 1948 blieb Součková, die als Kulturattachée für das tschechoslowakische Konsulat in New York tätig war, nicht in ihre Heimat zurück. Sie lehrte in Harvard, Chicago und Berkeley und starb 1893 in Harvard/ Massachusetts. Im Jahr 1939 veröffentlichte Milada Součková die umfangreiche Dich‐ tung Mluvící pásmo (Sprechende Zone), illustriert mit Linolschnitten ihres 2. Personen und Werke 221 <?page no="222"?> Mannes, des avantgardistischen Malers Zdeněk Rykr. Rykrs abstrakte Li‐ nolschnitte stehen im Kontrast zu der nüchternen und oft sehr konkreten Beschreibung der europäischen Bildung und Kultur, die am Vorabend des Zweiten Weltkrieges ihrem Untergang entgegensteuerte. Die Autorin beschwörte die Welt von Parmenides und Sokrates, um ihren Beitrag zur Gegenwartskunst und -zivilisation zu würdigen, die mit dem Zweiten Weltkrieg ihr Ende fand. Der Schriftsteller ist Teil einer Ausstellung alten Trödels, dessen Sinn sich den neuen Menschen in der neuen Welt nicht er‐ schließt. Die Sekundärliteratur ordnet Milada Součkovás Werk der Tradition von Apollinaires Dichtung Zone zu, das 1919 von Karel Čapek übersetzt wurde und für die tschechische Avantgarde ein neues dichterisches Modell darstellte. Milada Součková entstammt zwar dieser Tradition, ihre Haltung zum avantgardistischen poetischen Konzept war jedoch eine kritische. In Součkovás Werk geht es mehr um als die Krise der Avantgarde und ihrer Dichtung. - Jiří Kolář (1914-2002) Trink, Maria, und schau nicht auf uns wie ein Kälbchen, prosit, mein Herr, keine Angst, er frisst dich nicht! … Was? Wovon redest du? … Scheiß auf die Leute und trink! … Sprich etwas lauter … Nein, da irrst du dich, das ist Birne, Nuss und daneben Pfläumchen. Die habe ich von weit her mitgebracht … Nein, die sind nicht von hier. Ach. Armes Birnchen… Da… Siehst du? … Prometheova játra (Die Leber des Prometheus, 1950) Jiří Kolář, Jahrgang 1914, wurde im südböhmischen Protivín (Protiwin) geboren. Er war Dichter und bildender Künstler. Bekannt geworden ist er nicht zuletzt durch seine Collagen. Nach einem kurzen politischen Zwischenspiel in der Kommunistischen Partei im Jahr 1945 war er später Mitbegründer der Charta 77 und Freund von Autoren wie Bohumil Hrabal und Václav Havel. Schon vor dem Prager Frühling rehabiliert, lebte er seit 222 VI. Tschechoslowakei, Tschechien und Slowakei <?page no="223"?> 1977 im Westen, zunächst in Westberlin und später in Paris. Er starb 2002 in Prag. Der Band Prometheova játra (Die Leber des Prometheus) enthält Kolářs Gedichttexte aus den Fünfzigerjahren (Die Leber des Prometheus; Mistr Sun - Über die Dichtkunst; Nový Epiktet - Der neue Epiktet - und den Zyklus Černá lyra - Die schwarze Lyra). Mit der Leber des Prometheus krönte Kolář seine im Kontext der Gruppe 42 in den Vierzigerjahren geschriebenen Dichtungen und öffnete den Weg zu einem neuen Ansatz, der hauptsächlich darin bestand, mit fremden Texten zu arbeiten. Die Sammlung ist unterteilt in zwei dichterische Rahmenkapitel: „Tatsächliches Ereignis“ und „Tägliche Komödie“, im Untertitel zusammen als „Rod Genorův“ (Das Genor-Geschlecht) bezeichnet, und aus dem journalartigen „Jubilierenden Friedhof “, der dichterische und Prosa-Einträge aus dem Zeitraum Januar bis Dezember 1950 enthält. Kolář verwendete hier eine Collagetechnik, bestehend aus Durchdringung und Kombination einzelner Texte. „Tatsäch‐ liches Ereignis“ ist in drei Teile gegliedert: Der erste ist eine wahnhafte Erzählung / Erinnerung an einen verstörten Mann, vermutlich ein Alkoho‐ liker, der zweite die Wiedergabe einer Kriegserzählung der polnischen Autorin Zofie Nałkowska in Versform, im dritten Teil werden die beiden vorangegangenen Kapitel in einem Text zusammengeführt. Im Nachwort bezeichnet Jiří Kolář sein Verfahren als so genanntes „Selbstgedicht“. Die Gegenüberstellung dieser Geschichten zeigt die Pluralität der Wirklichkeit. Thematischer Kern der Leber des Prometheus ist die Existenz im totalitären Staat mit Betonung der Rolle des Künstlers. 2. Personen und Werke 223 <?page no="224"?> Josef Hiršal (1920-2003) Bohumila Grögerová (1921-2014) Dokumentvorlage • Narr Verlage | A 3.3 24 wird ist war wird ist war wird ist war wird ist war wird ist war wird ist war wird ist war wird ist war wird ist war wird ist war wirdistwar wirdswar wirsar wiar ward warird warsird waristird waristwird war ist wird war ist wird war ist wird war ist wird war ist wird war ist wird war ist wird war ist wird war ist wird war ist wird Job - Boj (Hiob - Kampf, 1968) Josef Hiršal wurde 1920 in Chomuticky Bratislava geboren und starb 2003 in Prag. Er gilt zusammen mit Bohumila Grögerova, mit der seit den 1960er Jahren eng zusammenarbeitete, als einer der Abb 7: Job - Boj (Hiob - Kampf, 1968) 224 VI. Tschechoslowakei, Tschechien und Slowakei <?page no="225"?> Josef Hiršal wurde 1920 in Chomuticky Bratislava geboren und starb 2003 in Prag. Er gilt zusammen mit Bohumila Grögerova, mit der seit den 1960er Jahren eng zusammenarbeitete, als einer der wichtigsten Vertreter der konkreten Poesie und der experimentellen Literatur im Gefolge des tschechischen Surrealismus. Er war zudem Mitglied der Charta 77. Bohumila Grögerova, seine Frau und Partnerin, wurde 1921 in Prag geboren und starb dort 2014. Tendenzen zu experimenteller Poesie zeigten sich in der tschechischen Literatur Ende der Fünfzigerjahre, vor allem im Werk Jiří Kolářs und Ladislav Nováks. Zu Anstrengungen in diese Richtung zählte die Forderung nach maximaler Objektivierung sprachlicher Zeichen, in dem Sinne, wie es die in Tschechien rezipierte Ästhetik Max Benses nahelegte, der Schlüsselper‐ sönlichkeit der „Stuttgarter Schule“. Anfang der Sechzigerjahre knüpften Josef Hiršal und Bohumila Grögerová persönliche Kontakte zu Bense und übersetzten 1967 seine Theorie der Texte ins Tschechische. Durch programmatische Experimente, konkrete, visuelle und auditive Poesie untersuchten Hiršal und Grögerová die Grenzen der Sprache - isolierten Einzelteile der Rede und öffneten die Sprache für die Einflüsse weiterer Bereiche der Kunst, namentlich der Musik und der bildenden Kunst. Sie entwickelten so zum Beispiel die Genres der grafischen Anekdote, der Persiflage konventioneller poetischer Formen oder der satirischen Groteske. Neben der Aktualisierung des sprachlichen Zeichens als Material, das heißt seiner Objektivierung, wandten sie die Aktualisierung auch auf seine semantischen Aspekte an (Offenlegung der syntaktischen, logischen und epistemischen Strukturen in Modelltexten und Einfügen sprachlicher Codes in Verhältnisse, die ihnen nicht eigen sind). Das Experiment hört an dieser Stelle auf, eine bloße Erkundung der Möglichkeiten der Sprache zu sein, und wird zu einer Kritik an ihrer Leere, Unzulänglichkeit und ihrer Missbrauchbarkeit. 2. Personen und Werke 225 <?page no="226"?> Milan Knížák (geb. 1940) Abb. 8: Fluxus a umění happeningů (Fluxus und die Kunst des Happenings, 1975) 226 VI. Tschechoslowakei, Tschechien und Slowakei <?page no="227"?> Mitten in der Menge stehen bleiben, ein Papier auf dem Boden ausbreiten, sich darauf stellen, die gewöhnliche Kleidung ablegen und etwas Ungewöhnliches anziehen (zum Beispiel einen Mantel, halb rot, halb grün, eine kleine Säge am Revers, am Rücken ein Spitzentaschentuch anstecken und Ähnliches), ein Plakat aufstellen mit der Aufschrift: Wir bitten die Passanten, soweit möglich beim Herumgehen um diesen Ort zu krähen; sich auf das Papier legen, ein Buch lesen, die gelesenen Seiten herausreißen, dann aufstehen, das Papier zerknüllen, verbrennen, sorgfältig die Reste auffegen, sich umziehen und gehen. Fluxus a umění happeningů (Fluxus und die Kunst des Happenings, 1975) Der 1940 in Plzen (Pilsen) geborene Milan Knížák studierte Kunsterziehung und später Mathematik und Physik in Prag. Angelpunkt im künstlerischen Schaffen Knížáks ist das Leben und seine Veränderung im Sinne der inter‐ nationalen künstlerischen Bewegung Fluxus. George Maciunas nominierte Knížák als Direktor von Fluxus für Osteuropa. Mehr als um Kunst ging es diesen Künstlern um gesellschaftliches Engagement, um eine Reform des Lebens in der kommunistischen Tschechoslowakei. Zusammen mit Soňa Švecová machte Knížák die Postulate der Zwischenkriegsavantgarde geltend: Die Kunst müsse zum Leben zurückkehren, in ihm aufgehen. Darauf waren die Aktivitäten der Gruppe Aktual gerichtet. Knížák wandte sich an die Öffentlichkeit, zufälligen Adressaten sandte er unaufgefordert Briefe, mit dem Ziel, eine Gemeinschaft von Menschen zu schaffen, die eine ähnliche gesellschaftliche Einstellung teilen würden. Synchronisierte Aktionen, die er in der Folge veranstaltete, sollten die Idee von Solidarität und Verbundenheit fördern. In diesem Punkt wirkte er mit dem amerikani‐ schen Künstler Ken Friedman zusammen, der einen amerikanischen Zweig von Aktual gründete - gemeinsam strebten sie, wie ihre Korrespondenz miteinander verrät, nach weltweiter Solidarität. In den Siebzigerjahren schuf Knížák Dutzende von Szenarien für Happenings, zum Beispiel Obtížný obřad (Schwierige Zeremonie): Die Akteure sollten zusammen vierundzwanzig Stunden ohne übliche Tätigkeiten verbringen, das heißt, ohne zu trinken, zu essen, zu rauchen, ohne Schlaf und ohne Gespräche. Nach einigen Stunden standen jedoch auch die letzten auf und gingen. Die meisten Aktionen waren nur minimal vorbereitet, Knížák arbeitete mit den Reaktionen des Publikums (das heißt zufälligen Passanten), der Zufall griff in die Aufführungen ein. Er betonte die Bedeutung des Spiels und der Authentizität im Leben gegenüber künstlerisch anspruchsvollem Vorgehen. Ziel seiner Happenings war es, das Publikum zu schockieren und aus seiner Lethargie zu wecken. 2. Personen und Werke 227 <?page no="228"?> Der aus Bratislava stammende Július Koller (1939-2007) war eine der zentra‐ len Künstlerpersönlichkeiten der Tschechoslowakei seit den 1960er-Jahren und ein aufmerksamer Beobachter der sich verändernden kulturellen und politischen Landschaft jener Jahre. Enttäuscht von der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968, entwickelte er in der Folge eine Haltung als Anti-Künder, der Anti-Bilder malte und Anti-Happenings veranstaltete. Im Jahr 1965 veröffentlichte er das Manifest „Antihappening - das System der subjektiven Objektivität“, welches die Anti-Poetik des Künstlers, die sein Schaffen in den folgenden Jahrzehnten prägen sollte, bereits im Kern enthielt. Indem er Strategien des Happening und Neo-Dada aufnahm und später auch konzeptuelle Ansätze verfolgte, schließt Kollers Anti-Kunst auch an die internationale Tendenzen der Nachkriegsavantgarde an, wenngleich er eine grundlegende Skepsis gegenüber formalistische Kategorisierungen und disziplinäre Grenzziehungen einnahm. Koller war kein Dissident und seine Interventionen waren nicht nur Teil der „unoffiziellen“ Kunst der Zweiten Öffentlichkeit, sondern er nahm auch an offiziellen und öffentlichen Ausstellungen teil; tatsächlich war es auch dieses Spannungsfeld zwischen Dissidententum und offizieller Kunst, aus welchem Kollers Selbstverständnis als ironischer Beobachter der täglichen realsozialistischen Umgebung rührte. 3. Manifeste und Programmatisches - Jiří Wolker: Proletářské umění (Proletarische Kunst, 1922) (…) Wir empfinden die Unhaltbarkeit und Ungerechtigkeit des heutigen Systems und glauben an eine Umgestaltung der Gesellschaft. In den marxistischen Thesen finden wir dafür einen festen und konkreten Plan, wir betrachten die Welt durch den historischen Materialismus. Deshalb ist für uns die neue Kunst eine Kunst der Klassen, eine proletarische und kommunistische. Wir wollen nicht über ihre Möglichkeiten debattieren. Der Glaube und die Realität sind auf unserer Seite. Es geht uns um ihre Merkmale und ihren Aufstieg. Was ist das zentrale Merkmal der neuen Kunst? Mit dem Untergang der bürgerlichen Ordnung ist deren Ideologie am Ende und mit ihr die bürgerliche Kunst. Indem wir die Welt marxistisch betrachten, benutzen wir den Begriff „bürgerlich“ nicht abwertend. Wenn wir „bürgerlich“ sagen, denken wir an wirkliche Kunst, die unter den Bedingungen des kapitalistischen Systems im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden 228 VI. Tschechoslowakei, Tschechien und Slowakei <?page no="229"?> ist. Wir sprechen hier von guter Kunst, denn schlechte Kunst ist keine Kunst. Zur bürgerlichen Kunst gehört für uns auch Kunst aus fortschrittlicher und sozialer Haltung, die in ihrer Kunst- und Formensprache dem bürgerlichen Zeitalter verhaftet bleibt. Natürlich zählen wir die Hilflosigkeit zahlloser -ismen dazu, all jene aus kalter Spekulation erzeugten Experimente, die sich wie Bilder eines Films abwechselten und am Ende in völligem Nihilismus endeten. Junge Künstler wollen nicht nur die Wirklichkeit kritisieren und auch keine märchenhafte Zukunft ausmalen. Sie wollen um die Zukunft kämpfen, und der Kampf ist ihre wichtigste Beziehung zwischen dem Heute und dem Morgen, Kampf ist es, worin in ihren Herzen Gegenwart und Zukunft aufeinandertreffen. (…) Jiří Wolker war eine der Schlüsselfiguren der tschechischen proletarischen Avantgarde. In seinen Gedichtsammlungen Host do domu (Gast ins Haus, 1921) und Těžká hodina (Schwere Stunde, 1922) präsentierte er die Idee einer Welt, in der Demut und moralische Werte herrschen. In seinen theoretischen Beiträgen definierte er die neue Kunst als revolutionär, kollektivistisch (im Gegensatz zum Individualismus der herkömmlichen Kunst), tendenziell und zugleich geprägt von Optimismus. Die Vorstellung von der Kunst als rechtschaffener Arbeit teilte er mit der führenden Persönlichkeit der Gruppe Devětsil und dem Mitautor des Manifests Karel Teige. Wolker trug den Aufsatz am 13. März 1922 im Kreis Var vor, er erschien einige Wochen später in der gleichnamigen Zeitschrift. Der Schluss des Manifests, in dem Wolker den Künstler als Arbeiter für die neue Schönheit der Welt beschreibt, wurde in dieser Phase zum Motto für die kreative Arbeit der Mitglieder von Devětsil. Bis ins Jahr 1923 hinein, als Karel Teige sich von der proletarischen Kunst lossagte und für Devětsil den Poetismus propagierte, verband ihn mit Wolker die Vorstellung des Menschen als kollektiver, revolutionär aktiver Persönlichkeit. Über die Bedeutung von Tradition und Volkstümlichkeit für die Kunst, die Wolker als essentiell ansah, waren sie indes geteilter Meinung. In seinen eigenen Balladen knüpfte Wolker an die Poesie Karel Jaromír Erbens (1811-1870) an. - Karel Teige: Poetismus (1924) Die Kunst des Poetismus ist lässig, tollend, phantastisch, verspielt, unheroisch und liebevoll. In ihr ist keine Spur von Romantik. Sie wurde geboren in einer Atmosphäre frühlingshafter Geselligkeit, in einer Welt, die lacht; was ist, wenn ihr die Augen tränen? Ein humorvolles Naturell herrscht vor, vom Pessimismus wurde aufrichtig Abschied genommen. Sie bewegt sich emphatisch in Richtung 3. Manifeste und Programmatisches 229 <?page no="230"?> auf den Genuss und die Schönheit des Lebens, aus geschäftigen Arbeitsplätzen und Ateliers, ist Wegweiser einer Reise, die nirgendwoher nirgendwohin führt, sie dreht sich in einem herrlichen, duftenden Park, denn es ist die Reise des Lebens. Stunden sind hier blühenden Rosen gewidmet. Ist das Duft? Ist das Erinnerung? Das Manifest Poetismus erschien in der dritten Nummer der Zeitschrift Host (Der Gast) im Juli 1924. Bereits Ende des Jahres 1923 kehrte Karel Teige der proletarischen Kunst den Rücken und formulierte Grundzüge einer originär tschechischen Richtung - des Poetismus, das heißt, der Kunst zu leben und zu genießen. Der Poetismus machte es sich zur Aufgabe, aus der Welt einen exzentrischen Karneval, eine Harlekinade der Gefühle und Ideen zu machen, eine berauschende Filmzone, ein wunderbares Kaleidoskop, wie Teige in dem Manifest schreibt. Die Poetisten propagierten die Idee einer lachenden Welt und strebten die Etablierung einer Herrschaft der reinen Poesie an. Der Poetismus wurde definiert als Modus vivendi einer neuen Kunst, die aufhört, Kunst zu sein. Die poetistische Dichtung sollte ihre Grenzen überschreiten, die ganze Welt sollte ein Gedicht sein. Nach Teiges Definition ist der Poetismus die Krönung des Lebens, seine Grundlage der Konstruktivismus. Die Kunst zu leben und zu genießen wurde so durch die zweite Komponente des Poetismus korrigiert - den Konstruktivismus, der für die pragmatischen Aspekte der Kunst stand. Der Poetismus beschränkte sich nicht allein auf die Literatur - er beeinflusste auch Musik, bildende Kunst, Architektur und The‐ ater. Das zweite, umfangreiche Manifest poetismu (Manifest des Poetismus), das Teige im Jahr 1928 in der Zeitschrift ReD publizierte, enthielt bereits den Keim der künftigen Orientierung von Teige und den Mitgliedern von Devětsil hin zum Surrealismus. Als letztes Manifest des Poetismus gilt Karel Teiges Abhandlung Báseň, svět, člověk (Gedicht, Welt, Mensch), abgedruckt in der Zeitschrift Zvěrokruh (Tierkreis) im Jahr 1930. Erste künstlerische Repräsentationen der neuen Richtung waren Vítězslav Nezvals Podivuhodný kouzelník (Der bewundernswerte Zauberer) und sein Aufsatz Papoušek na motocyklu čili O řemesle básnickém (Der Papagei auf dem Motorrad oder Über das Handwerk des Dichters). Zu den Schlüsselwerken des Poetismus gehören Nezvals Pantomima (Pantomime, 1924) und Seiferts Sammlung Na vlnách TSF (Auf den Wellen von TSF - Télegraphie sans fil, 1925). Poetistische Prosa schrieben Vladislav Vančura, Karel Konrád, Vítězslav Nezval, Karel Schulz und Jiří Mařánek, im Drama fand der Poetismus seinen Niederschlag im Schaffen von Jindřich Honzl, Jiří Frejka, E. F. Burian, Jiří 230 VI. Tschechoslowakei, Tschechien und Slowakei <?page no="231"?> Voskovec und Jan Werich, in der bildenden Kunst in den Kollagen Karel Teiges und im Artifizialismus von Jindřich Štyrský und Toyen. - Jindřich Štyrský: Koutek generace (Rückzugsort der Generation, 1929- 1930) Unsere Generation ist gereift: Sie identifiziert den Mond mit einer Glühbirne, Liebe mit einem Bett, Poesie mit einem Geldbeutel. Qualität wird am Erfolg gemessen und das Leben durch Klinkenputzen erobert. Viele sind alt geworden, heruntergekommen, und die Zeit hat die unmerklichen, mikroskopischen Zei‐ chen der geistigen Armut in große Geschwüre des Elends verwandelt. Andere haben einen Antrag auf Feigheit eingereicht. Ihre Armseligkeit überhöht, damit sie ungestraft als minderwertige Tagediebe erscheinen können. Sie drehen sich mit dem Wind und genießen ihren Judaslohn. Die Lächerlichkeit ihres Lebens besteht darin, dass ihr tatsächlicher Wert ihrem Ruf nicht gerecht wird. Manchmal spiegelt er sich noch als scheinbare Bewegung wie Schatten auf einem Teich. Sie verleumden sich heimlich gegenseitig, ohne die Achtung vor sich selbst zu verlieren. Obwohl sie die Welt als recht idyllisch wahrnehmen, machen sie vieles komplizierter, als zu erwarten wäre, denn je verkäuflicher sie sind, umso mehr Verständnis zeigen sie für Kitsch, oder besser gesagt, je nachsichtiger sie miteinander umgehen, umso mehr Kitsch produzieren sie. Sie besitzen einen hervorragenden Scharfsinn. Diese Generation träumt von einem Wannenbad. Für einen wirklichen Dichter gibt es heute keinen anderen Ort als den Pranger. Das Ende der Zwanzigerjahre warf Fragen zur Lebensdauer der Avantgarde auf. Die Künstler erlebten die Krise des Programms von Devětsil und der Poetismus war nicht mehr in der Lage, neue künstlerische Zugänge und Themen zu liefern. Literarische Zeitschriften brachten Artikel über die Krise, das Ende, den Tod der Avantgarde, gefolgt von Reflexionen über Wege der Kunst nach der Avantgarde oder über ihre Fortsetzung. In der Monatsschrift Literární Kurýr Odeonu (Literarischer Kurier Odeon) publizierte Jindřich Štyrský eine Kritik der Avantgarde-Generation, der er Verrat an den grund‐ legenden Werten vorwarf. Er erweiterte den Vorwurf gegenüber der Kunst insgesamt, besonders der Poesie, die er als auf Profit ausgerichteten Kitsch wahrnahm. In einer Reihe von drei Artikeln Koutek generace I-III (1929- 1930) klagte er die Generation der Poetisten dafür an, unter dem Deckmantel „Avantgarde“ Kitsch zu veröffentlichen und auszustellen, der mit Poesie nichts zu tun habe. Er warf dieser Generation Heuchelei und Eigennutz vor, 3. Manifeste und Programmatisches 231 <?page no="232"?> aber auch Passivität, mit der sie das gesellschaftliche Geschehen hinnehme, und Prostitution, der sie ihr Schaffen unterwerfe. Die von Jindřich Štyrský angestoßene Diskussion zielte in die eigenen Reihen. Obwohl sie nicht gegen konkrete Autoren gerichtet war, löste sie eine breite Kontroverse aus, die der kommunistische Kritiker Julius Fučík beförderte, indem er Štyrskýs Text unter dem Titel Generace na dvou židlích (Die Generation zwischen den Stühlen) in der Zeitschrift Tvorba (Das Schaffen) nachdruckte. Die Auseinandersetzung mündete in einen Streit zwischen Jindřich Štyrský und Karel Teige - wenngleich Štyrský niemanden beim Namen genannt hatte, fasste Teige diesen Text als persönlichen Angriff auf. Štyrskýs Forderung sollte auch zum Preis der Selbstaufgabe erfüllt werden. Für einen wirklichen Dichter gebe es ihm zufolge „keinen anderen Ort als den Pranger“, und das im übertragenen Sinne als Künstler, der niemals sein Werk verraten und nicht Opfer der eigenen literarischen Prostitution geworden ist. - Vítězslav Nezval: Co je surrealismus (Was ist Surrealismus, 1934) Der Surrealismus will sich des Wesens dichterischer Tätigkeit bewusster sein als jede andere Methode vor ihm und nach ihm. Auf dem Weg zu diesem Ziel ist es dem Surrealismus gelungen, die ungerechtfertigte Mystifizierung vieler Prozesse zu entschleiern, die bislang entweder als transzendental oder als inexistent angesehen wurden. Da sich der Surrealismus, wie gesagt, auf den Boden der marxistisch-leninistischen Weltanschauung gestellt hat, wonach die Welt nicht nur erkannt, sondern auch verändert werden muss, verbinden Surrealisten ihre experimentelle Aktivität, die methodisch in größtmöglichem Maße zur tiefsten Erkenntnis des menschlichen Bewusstseins und des Unbewussten beitragen soll, mit sozialer Aktivität, die danach strebt, die Welt im Sinne sozialer Gerechtig‐ keit und historischer Evolution zu transformieren, denn nach surrealistischer Überzeugung kann es zur geistigen Befreiung des Menschen, deren verborgene Quellen die Surrealisten untersuchen, erst in einer Gesellschaft kommen, die soziale und Klassenunterdrückung nicht kennt. Nezvals Rundfunkvortrag aus dem Sommer 1934 bot eine Zusammenfassung der surrealistischen Aktivitäten in Tschechien. Er war eine Reaktion auf den gerade offiziell in einem Flugblatt der Surrealistischen Gruppe etablierten tschechischen Surrealismus, mit dem sich die Gruppe der Surrealisten in der Tschechoslowakei im Frühjahr 1934 konstituierte. Nezval rechtfertigte und verteidigte die Standpunkte der Gruppe und erläuterte die Wurzeln 232 VI. Tschechoslowakei, Tschechien und Slowakei <?page no="233"?> ihrer künstlerischen Inspiration. Er beschrieb die Positionen Apollinaires, der den Surrealismus als ein phantasievolles Abbild der Wirklichkeit im künstlerischen Werk interpretierte, das die Wirklichkeit nicht nachbilden, sondern in äußerster Verkürzung und Verstärkung wiedergeben solle. Er verteidigte die Ansichten André Bretons, besonders die Bedeutung des reinen psychischen Automatismus, der, wie Nezval in seinen weiteren Erläuterungen zum Surrealismus schrieb, geeignet sei, mit schriftlichen, zeichnerischen und anderen Mitteln aller Art die wirkliche Intention der Idee Realität werden zu lassen. - Mikuláš Bakoš, Klement Šimončiš: Áno a nie. Manifestovaný sborník slovenského nadrealismu (Ja und Nein. Manifestierter Sammelband des slowakischen Nadrealismus - Überrealismus - 1938) Wir sind gegen kulturelle Reaktion, gegen Faschismus, der den Geist versklavt - darin liegt unser entschiedenes „Nein“ - und wir sind für Fortschritt und haben zu Fortschritten in der slowakischen Tradition ein positives Verhältnis - darin ist un‐ ser „Ja“ begründet. Wenn in der modernen Kunst und namentlich in der Poesie die Irrationalität des künstlerischen Schaffens am auffälligsten hervorgehoben und in sozialen und politischen Fragen der einzige unmittelbar rationale Standpunkt ist, dann ist das nur Ausdruck der zunehmenden gedanklichen Entwicklung und Differenzierung gedanklicher Wirkungsweisen. Auf diese Weise zeigt sich ganz natürlich die wachsende Differenzierung der Wirkungsweisen im modernen Leben. Heute hat jede Tatsache im Leben die Tendenz sich in ihrer Eigenart zu zeigen. Wenn heute die Möglichkeiten sachlicher Erkenntnis (wissenschaftlicher Erkenntnis, technischer Mittel) hoch entwickelt sind, ist es ganz natürlich, dass die Kunst ihre besondere Seite als persönliche Form der Erkenntnis präsentiert. Die Begründung der Irrationalität moderner Kunst liegt in der ganzen Entwick‐ lung der modernen Gesellschaft und in der strikten Rationalität in Wissenschaft, politischen und sozialen Fragen und ist nichts anderes als die Grundlage der Kultur und das Prinzip des sozialen Fortschritts. Im Jahr 1938 erschien eine Dreifachnummer der Zeitschrift Slovenské smery (Slowakische Tendenzen) als eigenständiges Sammelwerk und dem Titel Áno a nie. Der Sammelband Áno a nie enthielt sowohl Übersetzungen surrealistischer Dichter aus dem Ausland, die Vorbilder waren (Guillaume Apollinaire, Paul Éluard, André Breton, Tristan Tzara), wie auch Poesie von Schlüsselpersönlichkeiten des slowakischen Nadrealismus (Rudolf Fabry, 3. Manifeste und Programmatisches 233 <?page no="234"?> Vladimír Reisel, Július Lenko), zudem eine Studie von Jan Mukařovský K noe‐ tice a poetice surrealismu v malířství (Zur Noetik und Poetik des Surrealismus in der Malerei), vorgetragen auf einer Ausstellung von Štyrský und Toyen in Prag und Bratislava. Weitere theoretische Beiträge erläutern die surrealisti‐ sche Methode. Die Sammlung präsentiert den antifaschistischen Standpunkt und Anstrengungen, den Menschen zu befreien. Durch die Methode des psychischen Automatismus wird die Poesie hier zum Mittel der Befreiung. Der slowakische Nadrealismus formierte sich nicht durch ein einzelnes, prägnantes Manifest, sondern im Prozess seiner Aktivitäten. Avantgarda 38 war nicht nur eine dichterische, sondern eine breitere kulturelle Bewegung, zu der etwa auch die so genannte Vědeckou syntézu (Wissenschaftliche Syn‐ these) gehörte, ein Kreis von Literaturwissenschaftlern, die sich besonders am russischen Formalismus und am Prager Strukturalismus orientierten (der Theoretiker Mikuláš Bakoš und der Kritiker Michal Považan). - Jindřich Chalupecký: Svět, v němž žijeme (Die Welt, in der wir leben, 1940) Wenn die Kunst die verlorene Bedeutung im Leben des Einzelnen zurückgewin‐ nen will, muss sie zu den Gegenständen zurückkehren, unter denen und mit denen der Mensch lebt. Aber nicht etwa wie zu einem Thema, das vor einem künstlerischen Werk und außerhalb von ihm existiert. Wenn sie das Repertoire alter, lebloser Themen ablehnt, die sich in den Sparten der Kunst verfestigt haben, kann sie diese nicht mechanisch durch neue Themen ersetzen (die alten Arten restituieren und als bloße Variation die Wirklichkeit durch ihre Einordnung in die traditionellen Themen wieder unschädlich machen). Es bleibt nichts, als sie neu zu schaffen: Denn die Wirklichkeit steht nicht am Anfang eines künstlerischen Werks, um von ihm verarbeitet und korrigiert zu werden, sondern erst an seinem Ende. Die Kunst entdeckt die Wirklichkeit, schafft die Wirklichkeit, demaskiert die Wirklichkeit, jene Welt, in der wir leben, und uns, die wir in ihr leben. Denn nicht allein das Thema, sondern Sinn und Ziel der Kunst sind nichts als das alltägliche, grauenhafte und ruhmreiche Drama des Menschen und der Wirklichkeit: das Drama des Mysteriums, das mit dem Wunder konfrontiert ist. Ist die moderne Kunst dem nicht gewachsen, dann ist sie sinnlos. Svět, v němž žijeme (Die Welt, in der wir leben) ist der erste programmatische Text der sich formierenden Skupina 42 (Gruppe 42), deren Sprecher und wichtigster Theoretiker Jindřich Chalupecký war. Der Artikel behandelt das Hauptthema von Chalupeckýs Reflexionen über die moderne Kunst: 234 VI. Tschechoslowakei, Tschechien und Slowakei <?page no="235"?> die Bedeutung und die Verortung der Kunst in der modernen Gesellschaft. Merkmal moderner Kunst ist für ihn der Abschied von den überkommenen Motiven und Sujets - Thema der modernen Kunst sei der Mensch und sein Leben. Hier grenzt sich Chalupecký bereits vom Surrealismus ab, namentlich von der Methode des psychischen Automatismus und der Wie‐ dergabe des Unterbewussten, obwohl der Surrealismus Mitte der 1930er die Grundlage seines Denkens bildete. Der Titel des Aufsatzes kann als Reaktion auf Teiges Abhandlung Svět, který se směje (Die Welt, die lacht) aufgefasst werden, die dieser noch vor der Weltwirtschaftskrise verfasst hatte. Inspi‐ riert von Schriften des tschechischen Philosophen Václav Navrátil liefert Chalupecký aus der realistischen Perspektive europäischer Metropolen einen Gegenpol zu Teiges spielerischem Optimismus. Das Ende der 1930er war eine Zeit der Krise, nicht nur wirtschaftlich, sondern im Blick auf die europäische Kultur überhaupt. Chalupecký beschreibt das alte und glücklose Europa, das beginnen müsse, eine neue Kunst zu entwickeln, sofern es dazu in der Lage sei. „Wenn ihr nicht (mit Bildern und Versen) mithelfen könnt, so seid ihr doch zumindest Zeugen.“ So taucht zum ersten Mal in der tschechischen Poesie ein bedeutendes Thema auf: die Rolle des Zeugen. Auf der Grundlage solcher Zeugenschaft kann Chalupecký zufolge die Basis geschaffen werden für eine Mythologie des modernen Menschen oder Der Welt, in der wir leben. - Jiří Kolář: Snad nic, snad něco (Vielleicht nichts, vielleicht etwas, 1966) Irgendwann wird man aus allem Poesie machen können. Wir haben sie aus was auch immer gemacht, die Schwierigkeit bestand allein darin, die Gegenstände in eine kompositorische Ordnung zu bringen, eine Ordnung der Verse, eine Ordnung der Poesie. Ich weiß nicht, ob ich ohne die Erfahrung, die mir die Entdeckung der Rollagen gebracht hat, zu dieser Art von Poesie gefunden hätte. Chiasmagen, Stratifikationen und Assemblagen. Eines ist jedoch sicher: Die Rollage ermöglicht es mir, die Welt stets in wenigstens zwei Dimensionen zu sehen und führte mich zur Möglichkeit der multiplen Realität. Die Chiasmage lehrte mich, auf mich selbst und auf die Welt aus 1001 Perspektiven zu schauen, erzwang eine Rechenmaschine mit 1001 Erfahrungen, 1001 Schicksalen usw. Die Stratifikation ließ mich erkennen, aus wie vielen unbekannten Schichten das Leben besteht, wie viele unbekannte Lager‐ stätten in jedem von uns vorhanden sind, wenn es uns gelingt, einige zu entdecken. Und zur Assemblage brachte mich der Besuch der Gedenkstätte Auschwitz. (…) Die Wirklichkeit hat den Künstler wie immer überrascht. 3. Manifeste und Programmatisches 235 <?page no="236"?> Kolářs Manifest ist der einzige genuin tschechische Text in der im Übrigen aus übersetzten Texten (unter anderen Reinhard Döhl, Bernard Heidsieck, George Maciunas) bestehenden Anthologie Josef Hiršals und Bohumila Grögerovás: Slovo, písmo, akce, hlas (Wort, Schrift, Aktion, Stimme, 1967). Diese Auswahl von Essays, Manifesten und künstlerischen Programmen moderner Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewährleistet grundlegende Einblicke in die Ästhetik experimenteller Kunst, in konkrete, auditive, verbofonische und grafische Poesie. Jiří Kolář hatte sich bereits Ende der 1950er von traditionell geschriebener Poesie gelöst. 1961 schrieb er das První manifest evidentní poezie (Erstes Manifest evidenter Poesie), später verfasste er Analfabetogramme, blinde Gedichte, Knotengedichte und Gedicht-Objekte. Er definierte seine evidente Poesie als eine solche, die das geschriebene Wort als tragendes Element der Kreation und des Verstehens ausschließt. Mehr als Wort und Schrift faszinierten Kolář Areale des Übergangs. In seinen Reflexionen darüber entwickelt er einen Gedanken Mallarmés weiter: vielleicht nichts, vielleicht etwas fast wie Kunst. Im Verlauf der 1960er war Kolář Hauptvertreter der evidenten Poesie, die die Gebundenheit der Poesie an das Wort in Frage stellte. In einem Gespräch mit Vladimír Burda über das Wesen der modernen Kunst im Zusammenhang mit den Schlussfolgerungen seines eigenen Manifests erläuterte Kolář, in der modernen Kunst gehe es um die Frage, wo sich Privates und Öffentliches, Politisches und Poetisches, schön und hässlich, banal und absurd, nackt und symbolisch, wo Schönheit und Tod, Geschichte und Natur, Phantasie und Wirklichkeit, Traum und Erinnerung sich nicht voneinander trennen ließen. Das Manifest Snad nic, snad něco erschien nur einige Jahre nach seiner Niederschrift auf Deutsch im Katalog der Ausstellung Jiří Kolář: Collagen, Rollagen, Objekte (1969). - Stanislav Dvorský, Vratislav Effenberger, Petr Král: Surrealistické východisko (Surrealistische Grundlagen, 1969) Unbewusstsein und Bewusstsein, Traum und Wirklichkeit: Erst im Moment freier Aktivität, der Realisierung von Vorstellungen, entsteht Poesie aus sich selbst heraus, noch nicht als dichterische Idee, aber als dichterische Tat transformiert sie die Welt. Intellekt und Aktivität stellen sich in den Dienst der Imagination, umso strahlender in der Tiefe ihres Selbstbewusstseins, und schaffen mit ihr eine neue Wirklichkeit. Die Schöpfung dieser neuen Wirklichkeit ist ein ebensolches Grundbedürfnis des Menschen wie das Bedürfnis zu atmen, zu essen oder zu lieben. Die Gegenkräfte sind ebenso monströs wie Hunger, Gleichgültigkeit oder Terror: In unversöhnlicher 236 VI. Tschechoslowakei, Tschechien und Slowakei <?page no="237"?> Haltung gegenüber all diesen aktivistischen Kräften verschmilzt die Poesie mit der Revolution und der Liebe und als solche ist sie würdig, zum ursprünglichsten Sinn der menschlichen Existenz zu werden. (Zbyněk Havlíček) Im Bemühen, die Entwicklungslogik der tschechischen surrealistischen Kunst zu erfassen, präsentiert die repräsentative Sammlung der Gruppe UDS Surrealistické východisko surrealistische Werke und Manifeste aus den Jahren 1938-1968. Im ersten Teil sind Vertreter des Surrealismus aus der Zwischenkriegszeit zusammengestellt ( Jindřich Štyrský, Toyen, Heisler, Ivan Sviták). Ferner sind hier Texte jüngerer Surrealisten abgedruckt, unter anderem Beiträge von Zbyněk Havlíček, Petr Král, Karel Hynek, Mikuláš Medek. Ausgewählte Texte sind verschiedenen Positionen zum psychischen Automatismus gewidmet, zu Lyrismus, Antilyrismus und poetischer Ironie, dem Verhältnis von Symbol und Realität. Die Autoren werfen Fragen auf, die für den Surrealismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von entscheidender Bedeutung sind. Sie konzentrieren sich vor allem auf die Erforschung der kritischen Funktionen konkreter Irrationalität in his‐ torischem Material und die systematische Beobachtung der Korrelation bewusster und unbewusster Komponenten der Kreation. Im einleitenden programmatischen Aufsatz Vědomí krize a krize vědomí (Bewusstsein der Krise und Krise des Bewusstseins, 1966) betonen Stanislav Dvorský, Vratislav Effenberger und Petr Král den Zusammenhang von Intellekt und Imagination. Sie äußern die Befürchtung, dass die Krise des Bewusstseins nur in Resignation, sozialer und psychischer Abstumpfung münden könne. Als möglichen Ausweg aus der Krise betrachten sie ein aktives Bewusstsein für psychologische Werte. Sie propagieren den Begriff der „konkreten Irrationalität“, welche die Dialektik der Beziehung zwischen bewussten und unbewussten Kräften offenbare. Chronologie 1918 Gründung der Tschechoslowakei 1919 Gründung von Devětsil 1924 Poetistisches Manifest Pantomima 1925 Osvobozené divadlo (Befreites Theater) Chronologie 237 <?page no="238"?> 1926 Prager linguistischer Kreis 1934 Surrealistische Gruppe in der Tschechoslowakei 1936 Sammelband zum 100. Todestag Karel Hynek Máchas vor: Ani labuť ani Lůna (Weder Schwan noch Mondgöttin) 1939 Okkupation und Auflösung der Tschechoslowakei durch das Dritte Reich. 1942 Skupina 42 (Gruppe 42) 1948 Die Kommunistische Partei gewinnt die Parlamentswahlen, Etablierung eines totalitären Regimes. Repressionen und Unterdrückung modernisti‐ scher und avantgardistischer Kunst. 1966 Gruppe UDS 1968 Prager Frühling 1969 Realita a poesie (Realität und Poesie, 1969) 1977 Charta 77 1989 Samtene Revolution, Ende des kommunistischen Regimes in der CSSR. 1994 Entstehung der unabhängigen Staaten Tschechien und Slowakei. 238 VI. Tschechoslowakei, Tschechien und Slowakei <?page no="239"?> VII. Ukraine Vera Faber 1. Überblick Da das Gebiet der heutigen Ukraine bis Ende des Zweiten Weltkrieges zu unterschiedlichen staatlichen Territorien gehörte, entwickelte sich die histo‐ rische Avantgarde unter besonderen historischen und kulturellen Bedingun‐ gen. Die heute westukrainischen Regionen Galizien und die Bukowina wa‐ ren bis zum Ende des Ersten Weltkrieges ein Teil der Habsburger Monarchie, während die weiteren Gebiete der heutigen Ukraine bis zur Revolution 1917 zum russischen Imperium gehörten. Als der Aufbruch der Avantgarden 1909 von Filippo Tommaso Marinettis Futurismus ausgehend die Kunst in Europa für knapp zwei Jahrzehnte zu dominieren begann, waren also weder ein ei‐ genständiger ukrainischer Staat noch eine offizielle kodifizierte ukrainische Sprache vorhanden. Insgesamt nahm die Avantgarde auf dem Gebiet der heutigen Ukraine aber dennoch eine ähnliche Entwicklung wie in anderen europäischen Regionen, sodass in Städten wie Kiew, Charkiw, Odessa (und in gewissem Maß auch in L’viv beziehungsweise Lemberg/ Lwów) zuerst Futurismus, Kubismus sowie Dadaismus und schließlich unterschiedliche konstruktivistische Richtungen antraten, um die Kunst zu revolutionieren. Zeitlich lässt sich die historische Avantgarde relativ genau definieren. Den Beginn der historischen Avantgarde, die in der Ukraine etwa von 1914 bis 1931 dauerte, markierte der Futurismus, der zu Beginn allerdings - nicht zuletzt aufgrund der lange währenden politischen Zugehörigkeit zu Russland - noch stark mit dem russischen Kubofuturismus (1911 bis ca. 1915) verknüpft war. Mit dem Kverofuturismus (1914 bis 1920), der ebenso wie die meisten der später ausgerufenen futuristischen Bewegungen eng mit dem Autor Mychajl’ Semenko verbunden war, etablierte sich bereits früh ein eigenständiger ukrainischer Futurismus. Semenko ist nicht nur als wichtigste Figur des ukrainischen Futurismus zu sehen, vielmehr ist seine Bedeutung als Organisator und Netzwerker als groß einzustufen. Seine zahlreichen Publikations- und Zeitschriftenprojekte trugen maßgeblich <?page no="240"?> 1 Vgl. z. B. Horbačov, Dmytro. Ukrajins’kyj avanhard. In: Ders. (Hrsg.). Ukrajins’kyj avanhard 1910-1930 rokiv. Ukrainian avant-garde art. Kyjiv: Mystectvo. 1996, unpag. 2 So waren etwa in der westukrainischen Stadt L’viv lange Zeit auch jüdische und polnische, in der Bukowina rumänische und jüdische und in Kiew, Odessa und Charkiw russische und jüdische Einflüsse relevant. dazu bei, die Avantgarde in der Ukraine einem breiteren Publikum näher‐ zubringen. Die erste sowjetukrainische Avantgarde-Zeitschrift Mystectvo [Kunst] (1919 bis 1920, Kiew) zählt hier ebenso dazu wie die Nova Generacija [Die Neue Generation] (1927-1930). Außerhalb der Sowjetukraine konnten die vielseitigen Aktivitäten der ukrainischen Gruppierungen jedoch so gut wie keine Resonanz erzeugen. In der ersten, vorrevolutionären Phase dominierten sowohl in der Kunst als auch in der Literatur Abstraktion und Gegenstandslosigkeit. Insbeson‐ dere in der bildenden Kunst, etwa bei Marija Synjakova, Alexandra Exter und Hanna Sobačko, spielte der Rückgriff auf die Volkskunst eine wesentliche Rolle. 1 Literatur und Kunst der postrevolutionären Phase, die vor allem im Zeichen des Konstruktivismus standen, waren durch eine starke Politisie‐ rung geprägt. In diesem Kontext wurde nicht nur die für den Konstrukti‐ vismus spezifische Internationalisierung, sondern auch die Nationsbildung relevant, die besonders stark in der Kunst reflektiert wurde. Die Ausrufung der sowjetischen Ukraine im Jahr 1922 wurde von den meisten ukraini‐ schen Vertreterinnen und Vertretern der Avantgarde ausdrücklich begrüßt. Vor diesem Hintergrund wurden volkskünstlerische Elemente durch die Akzentuierung nationaler Anliegen substituiert, die dem Streben nach einer eigenständigen kulturellen Identität besonderen Ausdruck verliehen. Die Blütezeit der Avantgarde ist in der Ukraine jedenfalls in den 1920er- Jahren anzusetzen, wobei die Hybridität und Vielfalt der unterschiedlichen Ausprägungen, die entweder nebeneinander oder sogar als Symbiose exis‐ tierten, ein wichtiges Spezifikum darstellten. Doch nicht nur die Kunst selbst, sondern auch die unterschiedlichen urbanen Zentren, in denen sich die Avantgarde auf dem Gebiet der heutigen Ukraine nahezu zeitgleich wie ihre weitaus bekannteren russischen und westeuropäischen Pendants etablierte, waren zu dieser Zeit durch eine historisch gewachsene kulturelle Hybridität geprägt. 2 Vor allem die bildende Kunst wartete mit zahlreichen Beispielen dafür auf, dass zentrale Vertreter der europäischen Avantgarden 240 VII. Ukraine <?page no="241"?> 3 Für einen Überblick darüber vgl. z. B. Bowlt, John. National in Form, International in Content. Modernism in Ukraine. In: Nacional’nyj chudožnij muzej Ukrajiny (Hrsg.). Ukrajins’kyj Modernizm. Ukrainian Modernism. 1910-1930. Kyjiv: Galereja. 2006, S. 75- 83, hier S.-76. 4 Vgl. Horbačov. Ukrajins’kyj avanhard 1910-1930 rokiv, unpag. 5 Vgl. z. B. Burljuk, David. Frahmenty zi spohadiv futurysta (Za 40 rokiv, 1890-1930). In: Horbačov, Dmytro (Hrsg.). Ukrajins’kyj avanhard 1910-1930 rokiv. Ukrainian avantgarde art. Kyjiv: Mystectvo. 1996, unpag. 6 Vgl. z. B. Belentschikow, Valentin. Zu einigen Besonderheiten der ukrainischen litera‐ rischen Avantgarde. In: Zeitschrift für Slawistik 44/ 2 (1999), S.-181-197, hier S.-182. (auch) einem ukrainischen Kontext entstammten. 3 Konsequenterweise bie‐ ten Darstellungen der russischen Avantgarde - etwa zu Alexandra Exter, Kazimir Malevič oder Vladimir Tatlin - auch wichtige Informationen über die ukrainische Strömung - meist jedoch, ohne sie als solche zu deklarieren. Die Einbettung von volkskünstlerischen Motiven, die für die ukrainische Avantgarde heute oft als spezifisch angesehen wird, 4 weist zweifelsohne in vielen Fällen Analogien zu den neoprimitivistischen Ansätzen anderer frühavantgardistischer Bewegungen auf. Die metalogische Zaum’-Sprache des russischen Kubofuturismus, die auf die Ursprünglichkeit des Wortes zurückgriff, ist nur ein Beispiel dafür. Diese erste und wichtigste Ausrich‐ tung des russischen Futurismus, der mit provokativen Auftritten, bizarren Körperbemalungen und gewagten Sprachexperimenten gezielt öffentliches Ärgernis erregte, war allerdings ebenfalls ein Hybrid, dessen Protagonisten, wie etwa David Burljuk oder Aleksej Kručenych, zum Teil aus Gebieten der heutigen Ukraine kamen, beziehungsweise in ihrem Werk dezidiert auf einen ukrainischen Kontext verwiesen. 5 Die Auseinandersetzung mit der eigenen (auch nationalen) Identität ist für die ukrainische Kunst insgesamt recht spezifisch und blieb in unterschiedlichen Ausprägungen in den - wiewohl nur marginal ausgeprägten - Nachkriegsavantgarden sowie in der Transformationsphase der 1990er-Jahre ebenfalls präsent. Insbesondere in der Literatur wurde die ukrainische Sprache schon früh als Beleg für das Vorhandensein einer ukrainischen Kultur eingesetzt. Konsequenterweise wurden die ersten avantgardistischen Hervorbringun‐ gen, die im Bereich des Futurismus anzusiedeln sind, hauptsächlich auf Ukrainisch verfasst. Obwohl dessen wichtigster Protagonist, Semenko, sich eigentlich stets gegen eine nationale Vereinnahmung von Kunst verwehrte, trug er wesentlich zur Herausbildung einer eigenständigen (und damit gewissermaßen nationalen) Variante des Futurismus bei. 6 Seine frühen theoretischen Konzepte und Arbeiten, die oft Individuum und Personalität 1. Überblick 241 <?page no="242"?> 7 Zur Entwicklung des Futurismus hier und im Folgenden vgl. auch Faber, Vera. Die ukrainische Avantgarde zwischen Ost und West. Intertextualität, Intermedialität und Polemik im ukrainischen Futurismus und Konstruktivismus der späten 1920er-Jahre. Bielefeld: transcript. 2019, S.-47 ff. 8 Gruppierungen wie die VAPLITE (Vil’na akademija proletars’koji literatury) [Freie Aka‐ demie der proletarischen Literatur] (1925-1928) rund um den Autor Mykola Chvyl’ovyj, die sich zwar zu Beginn als konstruktivistisch bezeichneten, waren proletarisch bezie‐ hungsweise vitaistisch ausgerichtet und sind trotz der zahlreichen von ihnen hervorge‐ brachten Manifeste nicht der Avantgarde zuzuordnen. ins Zentrum rücken, weisen zwar eine gewisse symbolistische Prägung auf. Zugleich lassen sich aber deutliche Analogien zu Konzepten und Praktiken anderer avantgardistischer Bewegungen erkennen. So ist einigen der frü‐ hen Gedichte des ukrainischen Futurismus durchaus ein experimenteller Charakter inhärent, der sie, etwa aufgrund des Spiels mit sprachlichen Konventionen, eindeutig als avantgardistisch erscheinen lässt. 7 Wesentlich ist ebenfalls, dass Manifeste und Programmtexte, die sich als gemeinsames Element unterschiedlicher avantgardistischer Bewegungen identifizieren lassen, auch in der Ukraine von Beginn an die wichtigste künstlerische Gattung der Avantgarden repräsentierten. Konsequenterweise hat die Pub‐ likation der ersten futuristischen Deklaration Kvero-Futuryzm im Jahr 1914 nicht nur die Gründung der Gruppierung Kvero [Ich suche], sondern auch den Beginn der gesamten ukrainischen Strömung markiert. Auf den Kvero‐ futurismus folgten zahlreiche weitere futuristische Bewegungen, wiewohl deren Mehrzahl ebenfalls von Semenko initiiert und angeführt wurde. 8 Dass der Panfuturismus, der 1922 in der neu entstandenen sowjetischen Ukraine mit dem Manifest What Panfuturism wants (Englisch im Original, A.d.V.) ausgerufen wurde und der die ukrainische Avantgarde in unterschiedlichen Auslegungen bis zu ihrem Verbot im Jahr 1931 prägte, ein eindeutiges Bekenntnis zum Leninismus ablegte, exemplifiziert die in den 1920er-Jahren zunehmende Politisierung der Kunst. In der jungen sowjetischen Ukraine setzten sich Gruppierungen der unter‐ schiedlichsten Couleurs für die Herausbildung einer eigenständigen ukraini‐ schen Kultur ein. Das ukrainische literarische Feld stand Mitte der 1920er- Jahre im Bann der sogenannten Literarischen Diskussion (1925-1928), in deren Rahmen polemisch über die zukünftige kulturelle Ausrichtung der Ukraine - nach Russland oder nach Europa - disputiert wurde. Diese Aktivitäten wurden unzweifelhaft durch die sowjetische Verwurzelungspolitik (1923 bis 1931) befeuert, mit der die Idee einer sowohl sowjetischen als auch autonomen 242 VII. Ukraine <?page no="243"?> 9 Tatsächlich sollte die Verwurzelungspolitik dazu dienen, die bereits seit Längerem auf‐ keimenden Unabhängigkeitsbestrebungen durch eine Art Placebo-Effekt zu verhindern; vgl. Yekelchyk, Serhy. Ukraine. Birth of a Modern Nation. Oxford et al.: Oxford University Press. 2007, S.-85. 10 Vgl. Luckyj, George S. N. Literary Politics in the Soviet Ukraine, 1917-1933. Revised and updated edition. Durham and London: Duke University Press. 1990, S.-112. 11 Vgl. dazu etwa das 1919 erschienene Manifest von Boris Aronson und Issacher Rybak. Di Vegn fun der Yidisher Moleray. (Reyoynes fun kinstler). In: Oyfgang. Ershter zamlbukh. Kiew: Kul’turlige. 1919, S.-120. Ukraine von offizieller Seite unterstützt wurde. 9 Vor diesem Hintergrund wurden die Innovationen der Avantgarden als kultureller Aufbruch gefasst, der auch einen identitätsstiftenden Auftrag beinhaltete. Während die meis‐ ten russischen und westeuropäischen Zwischenkriegsavantgarden, die sich ebenfalls oft auf eine politische Agenda beriefen, für einen sozialen Ausgleich innerhalb der Gesellschaft eintraten, spielte in der Ukraine der Wunsch nach der Etablierung einer autonomen und gleichwertigen Kultur eine über‐ geordnete Rolle. 10 Der spezifisch avantgardistische Manifestantismus sollte daher in den meisten ukrainischen Gruppierungen nicht nur dazu dienen, die eigenen Ausrichtungen und Ziele, sondern auch den Status der ukrainischen Kultur als zentral zu postulieren. Damit einhergehend wird auch die eigene Randständigkeit in unterschiedlichen Bereichen repetitiv thematisiert. Insgesamt ist die ukrainische Avantgarde ein sehr gutes Beispiel dafür, wie eng die internationalistisch ausgerichtete Avantgarde oft an das Postulat nationaler Interessen gekoppelt war. Dass diese jedoch nicht zwingend an die Homogenisierung von Kultur und Sprache gebunden sein mussten, wird aus der ebenfalls heterogenen Zusammensetzung der ukrainischen Avantgarde ersichtlich. Eine Rückbesinnung auf kulturelle Wurzeln, die oft mit einem gesteigerten Interesse an lokalen Volkskunstpraktiken ein‐ herging, zeigte sich auf dem Gebiet der heutigen Ukraine auch im Kreise jüdischer Avantgarde-Künstler, die nicht nur neue Wege für die Kunst suchten, 11 sondern auch die verstärkte Entwicklung und Förderung der eigenen Kultur forderten. Die Kul’tur-Lige, an der mit El Lissitzky einer der wichtigsten Vertreter der europäischen Avantgarden beteiligt war, konnte Kiew am Umbruch des Jahrzehnts sogar als gesamteuropäisches Zentrum der jüdischen Kunst etablieren. Ungeachtet der innerukrainischen Polemik haben die Vertreter der un‐ terschiedlichen Gruppierungen und Ausrichtungen, die sich meist heftig gegenseitig attackierten, eigentlich recht friedfertig koexistiert - und wa‐ 1. Überblick 243 <?page no="244"?> 12 Semenko, Mychajl’ / Škurupij, Geo / Bažan, Mykola (Hrsg.). Zustrič na perechresnij stanciji. Rozmova tr’och. Kyjiv: Bumeranh. 1927. ren vielfach sogar gemeinsam in Projekte involviert. Der 1927 in Kiew erschienene, von Vladimir Tatlin gestaltete Almanach Zustrič na perechres‐ nij stanciji  12 [Treffen an der Kreuzungsstation], der Texte von Semenko, Geo Škurupij und - dem kurzzeitig dem Futurismus zugehörigen - Au‐ tor Mykola Bažan vereinte, stellt ein spezifisches Beispiel einer solchen Künstlerkooperation dar. Sowohl der Titel als auch die Gestaltung des Umschlags (Abb. 1), der mit Stromleitungen ein wichtiges Element der kommunistischen Fortschrittsdoktrin zeigt, drücken die Vernetzung der avantgardistischen Künstler aus. Neben diesem sind insbesondere die von Semenko initiierte Gruppierung Nova Generacija sowie deren zwischen 1927 bis 1930 in Charkiw herausgegebene Zeitschrift zu nennen, an der laut Selbsteinschätzung nahezu die gesamte Elite der europäischen Avantgarden partizipierte. Die Nova Generacija fungierte damit als Sprachrohr für ein besonders breites Spektrum an unterschiedlichen Strömungen. Abb. 1: Vladimir Tatlin: Zustrič na perechresnij stanciji [Treffen an der Kreuzungsstation]. 1927. 244 VII. Ukraine <?page no="245"?> 13 Als panfuturistische Vereinigungen sind sind außerdem die „Stoß-Gruppe der Poeten- Futuristen“, die „Vereinigung der Panfuturisten“ (1921-1924), „AsKK Komunkul’t“ (1924-1925), die „Vereinigung der Arbeiter der kommunistischen Kultur“ sowie schließ‐ lich die „Nova Generacija“ (1927-1931) zu nennen, wobei sich die Existenz der einzelnen Formationen teilweise zeitlich überschnitt. - Bila, Anna. Mychajl’ Semenko. Biohrafija. In: Semenko, Mychajl’. Vybrani tvory. Hgg. von Anna Bila. Kyjiv: Smoloskyp. 2010, S.-21-23, hier S.-22. 14 Poliščuk, Valerijan et al. Proklamacija avanhardu. In: Bjuleten’ avanhardu/ avangardo, 1928 (einmalig), S.-1-6. Die futuristischen Gruppierungen 13 waren zwar primär literarische Verei‐ nigungen, die aber nicht nur internationale Erscheinungen in der Kunst mit großem Interesse rezipierten, sondern vor allem auch intermedial agierten. Dass etwa dem Kverofuturismus neben Semenko und dessen Bruder Vasyl’ auch der Grafiker Pavlo Kovžun angehörte, belegt die grund‐ sätzliche Intermedialität. Mit Semenkos Poezomaljarstvo [Poesiemalerei], einer spezifischen Variante der futuristischen Wort-Bild-Kunst, erlebte die Interaktion von Text und Bild zu Beginn der 1920er-Jahre einen wichtigen, wiewohl im europäischen Vergleich etwas verspäteten Höhepunkt. Ähnli‐ che Experimente lassen sich auch einige Jahre später bei Andrij Čužyj finden, dessen Figurengedichte nicht nur eine Fortführung der Wort-Bild- Kunst, sondern auch eine Aktualisierung neoprimitivistischer Praktiken darstellen. Transmediale Hervorbringungen wie das 1928 publizierte Radio‐ poem Odynadcjatyj [Der Elfte] von Gro Vakar, das auf textlicher Ebene eine Radioübertragung simuliert, sind weitere wichtige Belege für die prinzipielle Offenheit der Nova Generacija, mit der die Intermedialität der ukrainischen Avantgarde ihren Höhepunkt erreichte. Vor dem Hintergrund des wenig später ausgesprochenen Verbotes der Avantgarden (1932) und der Ermordung eines großen Teils der ukrainischen kulturellen Elite im Rahmen des Großen Terrors (1937) hat Semenkos multiperspektivisches kul‐ turelles Panorama, das sowohl aktuelle als auch historisierte Erscheinungen umfasste, aus heutiger Sicht gewissermaßen die Funktion eines Archivs eingenommen, das Hervorbringungen und Entwicklungen konservierte, über die in anderer Form oftmals keine Evidenz mehr existiert. Neben dem Panfuturismus ist die Vereinigung Avanhard (1925-1929) als zweite wichtige Linie der ukrainischen literarischen Avantgarde zu nennen. Der Autor Valerijan Poliščuk war federführend an den Aktivitäten der mehrsprachigen Avanhard beteiligt. Dass ihre 1928 verkündete Proklama‐ cija Avanhardu  14 [Proklamation der Avanhard] ein Jahr später unter dem 1. Überblick 245 <?page no="246"?> 15 Walerjan Polischtschuk / Trojanker Raïssa / Viktor Jarina / Leonid Tschernow / Wassil Jermilow / Valentin Borissow / Olexander Lewada. Aufruf der Avangarde. In: Avan‐ hard. Mystec’ki materijaly avanhardu/ avangardo, Nr.-1 (1929), S.-60-62. 16 Zur Entwicklung von Avanhard sowie des Konstruktiven Dynamismus hier und im Folgenden vgl. auch Faber 2019. Die ukrainische Avantgarde zwischen Ost und West, S.-141 ff. 17 Poliščuk, Valerijan et al. (Hrsg.). Radius avangardovcev. Charkiv: Charkivs’ka škola drukars’koho dila. 1928. Titel Aufruf der Avangarde auch auf Deutsch publiziert wurde, belegt die internationalistische Ausrichtung der Gruppierung, 15 die den Konstruktiven Dynamismus und den Spiralismus als ihre grundlegenden künstlerischen Konzepte propagierte. 16 Auf konzeptioneller Ebene blieb das Œuvre aber nicht auf Manifeste, Grundsatzpositionen und Absichtserklärungen beschränkt. Zwischen 1928 bis 1929 wurden von Avanhard unterschiedliche Periodika und Anthologien ediert, wobei etwa Radius  17 ausschließlich in russischer Sprache erschien. Dass Poliščuk 1929 mit Rozkvit ukrajins’koji literatury [Die Blüte der ukra‐ inischen Literatur] eine knapp fünfseitige Darstellung der Geschichte der ukrainischen Literatur vorlegte, er also in passatistischer Manier überkom‐ mene Erscheinungen festschrieb und in Folge in seinem Sinne kanonisierte, unterstreicht das entspannte Verhältnis von Avanhard zu den Vorgänger‐ strömungen. Der konstruktivistische Grafiker und Typograf Vasyl’ Jermilov, dessen erste konstruktivistische Arbeiten bereits in den frühen 1920er- Jahren entstanden sind, war als Gestalter der Publikationen maßgeblich an der ebenfalls intermedialen Ausrichtung von Avanhard beteiligt. Das Künstleralbum Sem’ pljus tri [Sieben plus Drei] (1918), an dessen Entstehung auch der aus Charkiw stammende Grafiker und Typograf Borys Kosarjev beteiligt war, stand dagegen noch im Zeichen des Kubofuturismus. Für die Entwicklung der ukrainischen historischen Avantgarde war es wesentlich, dass sie in engem Austausch mit unterschiedlichen auswärti‐ gen Phänomenen erfolgte. Neben der Multikulturalität und der historisch bedingten Vernetzung mit kulturellen Zentren in Russland sowie in West‐ europa trug auch die Mobilität der Kunstschaffenden dazu bei, dass sich insbesondere in der bildenden Kunst eine Vielzahl an Einflüssen aus Ost und aus West überlagerte. Alexandra Exter, die sowohl in Moskau, Paris, Sankt Petersburg als auch in Kiew reüssierte, konnte beispielsweise als Mittlerin zwischen den Kulturen viele Impulse in die (aber auch aus der) Ukraine 246 VII. Ukraine <?page no="247"?> 18 Vgl. z. B. vgl. Tobin, Jordan. Alexandra Exter 1908-1914: Futurist influences from Russia and the West. In: Berghaus, Günter (Hrsg.). International Yearbook of Futurism Studies. Vol. 5 (2015), S.-256-265, hier S.-256. 19 Zu dieser Verbindung vgl. z. B. Belaja, Anna. Panfuturizm: Meždu avangardistskim buntom i social’nym voditel’stvom. In: Dies. et al. (Hrsg.). Michajl’ Semenko i ukrain‐ skij panfuturizm. Manifesty. Mistifikacii. Stat’i. Lirika. Viziopoėzija. Sankt-Peterburg: Avant-Garde. 2016, S.-13-35, hier S.-24 ff. 20 Ausführlicher zum ukrainischen Bühnenbild vgl. Meleškina, Iryna. Die Sammlung dеr ukrainischen szenographischen Avantgarde im Fonds des Nationalen Museums für Theater, Musik und Kino der Ukraine. Aus dem Ukrainischen von Vera Faber. In: Faber, Vera / Horbachov, Dmytro / Sonnleitner, Johann (Hrsg.). Österreichische und ukrainische Literatur und Kunst. Kontakte und Kontexte in Moderne und Avantgarde. (= Wechselwirkungen, Band-20). Frankfurt am Main: Peter Lang. 2016, S.-201-235. transferieren. 18 Die generelle Aufwertung des Bühnenbildes, das im Sinne der von den Avantgarden propagierten Intermedialität als gleichwertiger Teil einer Inszenierung verstanden wurde, war in der Ukraine eng mit dem Regisseur Les’ Kurbas verbunden, dessen Theater Berezil’ (1922-1933) eine vielseitige und produktive Revolution des Theaters auslöste - und das in den folgenden Jahren übrigens auch eng mit Semenko und dem Panfuturismus kooperierte. 19 Gemeinsam mit Motiven aus dem traditionellen ukrainischen Kontext waren dem avantgardistisch-konstruktivistischen Theater in der Ukraine auch expressionistische Elemente inhärent, sodass ebenfalls eine Kombination aus Tradition und Innovation stattfand. Neben Exter sind Anatol’ Petryc’kyj, Oleksandr Chvostenko-Chvostov, Borys Kosarjev und Vadym Meller als zentrale Vertreter des ukrainischen Bühnenbildes zu nennen, wobei Meller nicht nur als kreativer Leiter der Künstlerischen Vereinigung Berezil (MOB), sondern zu Beginn auch als grafischer Leiter der panfuturistischen Nova Generacija fungierte. An Mellers Arbeiten, die sowohl kubofuturistische als auch suprematistische, konstruktivistische, dadaistische und monumentalistische Elemente enthalten, lässt sich die für die ukrainische Avantgarde spezifische Koexistenz unterschiedlicher, teils gar kontroverser Strömungen besonders gut verdeutlichen. Die Kos‐ tümskizze Monach [Mönch] (1921; Abb. 2), die Meller für die Aufführung Mazepa am Kiewer Ševčenko-Theater angefertigt hat, weist daher neben futuristischen, konstruktivistischen und monumentalistischen auch präg‐ nante suprematistische Elemente auf. 20 Marina Dmitrieva spricht von einem „Collagencharakter“ der ukrainischen Avantgarde, in der Strömungen wie das Barock und Kubismus, Futurismus und Volkskunst kombiniert wurden. Die Diversität erreichte schließlich Ende der 1920er-Jahre einen Höhepunkt, 1. Überblick 247 <?page no="248"?> 21 Vgl. Dmitrieva, Marina. „Zwischen Stadt und Steppe — Einleitung“. In: Dies. (Hrsg.). Zwischen Stadt und Steppe. Künstlerische Texte der ukrainischen Moderne aus den 1910er bis 1930er Jahren. Berlin: Lukas Verlag. 2012, S.-9-46, hier S.-25. 22 Škurupij, Geo. Nove mystectvo v procesi rozvytku ukrajins’koji kul’tury. In: Avangard. Al’manach proletars’kych mytciv Novoji Generaciji Nr. a (1930), S.-37-42. wobei im Kontext der Rückkehr zur gegenständlichen Kunst unterschied‐ liche Auslegungen wie der Spektralismus bei Viktor Pal’mov sowie beim späten Malevič sowie der Bojčukismus rund um Mychajlo Bojčuk neben‐ einander existierten, 21 dabei aber auch unterschiedliche Anschauungen vereint wurden. Dass diese Koexistenz nicht immer friedfertig erfolgte, lässt sich anhand der avantgardistischen Polemik exemplifizieren, die auch interdisziplinär geführt wurde. Der panfuturistische Autor Geo Škurupij, Herausgeber des 1930 in Kiew erschienenen Almanachs der proletarischen Künstler der Nova Generacija beschimpfte nicht nur Bojčuk, sondern auch das Theater Berezil’, Poliščuk, die Avanhard, Bažan sowie die gesamte VAPLITE - und somit einige seiner (ehemaligen) Weggefährten - polemisch als rückständige Nationalisten. 22 Abb. 2: Vadym Meller: Monach [Mönch]. Kostümskizze. 248 VII. Ukraine <?page no="249"?> 23 Skrypnyk, Leonid. Intelihent. Ekranizovanyj roman. In: Nova Generacija Nr. 1 (1927), S.-67-79. In späteren Ausgaben erschienen weitere Teile. In den 1920er-Jahren, die eine Phase medialer Umbrüche markierten, ent‐ wickelte sich Film zu einem zentralen Medium der Avantgarde, mit dem eine Auseinandersetzung nicht nur auf praktischer, sondern auch auf theo‐ retischer Ebene erfolgte. Die Frage nach der „Gemachtheit“ von Film steht im sowjetischen Kontext vor allem mit den Formalisten in Verbindung, doch auch konstruktivistische und postrevolutionäre futuristische Vereinigungen zeigten großes Interesse an den Möglichkeiten des Films. Dass auch Vertre‐ ter der literarischen Avantgarde in der Ukraine eng mit Filmschaffenden kooperierten, zeigt sich daran, dass berühmte sowjetische Regisseure wie Dziga Vertov, Sergej Ėjzenštejn und Oleksandr Dovženko ebenfalls an der panfuturistischen Nova Generacija beteiligt waren. Autoren wie Semenko und Bažan waren überdies als Filmjournalisten sowie als Drehbuchautoren aktiv. Darüber hinaus wird die Relevanz des Films durch das Experiment mit hybriden literarischen Gattungen belegt, wobei Leonid Skrypnyks in mehreren Teilen unter dem Pseudonym Levon Lajn publizierter Kino- Roman Intelihent  23 [Der Intellektuelle] als wichtiges Beispiel zu nennen ist. Mitte der 1920er-Jahre kam es außerdem zu einer Verlagerung der sow‐ jetischen Filmproduktionen in die Ukraine. Die VUFKU, die ursprünglich in Odessa angesiedelte All-Ukrainische Foto- und Kinoverwaltung, eröff‐ nete Ende der 1920er-Jahre in Kiew das größte Filmstudio Europas, das zudem zu den modernsten der Welt gehörte. Von der VUFKU wurden nicht nur ukrainische Filme wie Oleksandr Dovženkos Filme Zvenyhora (1928), Arsenal (1929) und Die Erde (Zemlja) (1930), sondern auch Dziga Vertovs Enthusiasmus. Die Donbass-Sinfonie (1930) produziert, wobei Letztgenannter den Beginn des sowjetischen Tonfilms und damit einen Meilenstein in der Filmgeschichte markiert. Da Galizien und die Bukowina erst nach dem Zweiten Weltkrieg ein Teil der sowjetischen Ukraine wurden, lassen sich die bis dahin entstan‐ denen westukrainischen Phänomene nur mit Vorbehalt der ukrainischen Avantgarde zuordnen. Nicht zu vergessen ist der Umstand, dass zahlreiche AutorInnen und KünstlerInnen in der Zwischenkriegszeit in die kulturell weitaus aktiveren Zentren Warschau, Krakau oder Prag übersiedelten oder von der Westukraine aus mit auswärtigen Kunstzirkeln interagierten. Neben dem Autor und Grafiker Vasyl’ Chmeljuk, der seine lyrischen Texte auf Ukrainisch verfasste und nach seiner Emigration nach Prag vor allem als 1. Überblick 249 <?page no="250"?> 24 Vgl. die Anmerkungen zu Bohdan Ihor Antonyč in: Kocarev, Oleh / Stachivs’ka, Julija (Hrsg.). Ukrajins’ka avanhardna poezija (1910-1930-ti roky). Antolohija. Kyjiv: Smo‐ loskyp. 2014, S.-51. bildender Künstler (Futurismus, Surrealismus und Dadaismus) tätig war, ist in diesem Kontext auch die jüdische Autorin Debora Vogel zu nennen, deren in L’viv (damals Lwów) entstandenen Texte auf Polnisch und Jiddisch verfasst waren. Andere Akteure der Avantgarde verlagerten ihre Aktivitäten in die junge sowjetische Ukraine, wo sie ein Teil der sowjetukrainischen Avantgarde wurden. Der westukrainische Regisseur Kurbas ist hier als wichtiges Beispiel zu nennen, der sein revolutionäres Theater Berezil’ zuerst in Kiew und schließlich in Charkiw ansiedelte. Auch wenn beispielsweise einige Texte des in L’viv/ Lwów tätigen Autors Bohdan-Ihor Antonyč auf‐ grund ihres surrealistischen sowie expressionistischen Stils der Avantgarde zuzurechnen sind, 24 so lässt sich für die historische Avantgarde dennoch keine genuin westukrainische Auslegung definieren. Anders als in Kiew, Charkiw und Odessa war ein avantgardistisches „Feld“, in dem sich die entsprechenden Praktiken und Phänomene ereigneten, in L’viv/ Lwów nicht gegeben, und als einsamer Avantgardist hat Antonyč nicht als Teil eines Kollektivs agiert. Darüber hinaus fehlt auch das Postulat von künstlerischen Grundsätzen in Form von Manifesten oder programmatischen Schriften, die als wichtigste Artikulationsform ein zentrales Merkmal avantgardistischer Gruppierungen darstellten. Die Anfang der 1930er-Jahre verbotene Avantgarde wurde zwar zum Teil in den 1950er-Jahren, endgültig jedoch erst in der Umbruchphase in den 1980er-Jahren rehabilitiert. Nachkriegsavantgarden analog zu jenen in Mittel- und Westeuropa konnten sich nur in äußerst begrenztem Ausmaß etablieren. Das Klima der Repression, in dem staatliche Kontrollen und Zensur über Jahrzehnte das kulturelle Leben prägten, zwang avantgardisti‐ sche Tendenzen in den Untergrund oder aber in die (innere) Emigration. Innerhalb der sowjetischen Ukraine, deren Territorium nach dem Zweiten Weltkrieg nunmehr auch die Westukraine umfasste, bot das sogenannte Tauwetter nach Stalins Tod Ende der 1950er- und Anfang der 1960er-Jahre zwar ein gewisses Maß an künstlerischer Freiheit, das ein geringfügiges Abweichen von der Doktrin des Sozialistischen Realismus ermöglichte. Vor diesem Hintergrund verstand sich die Generation der Kiewer Sechziger (Šistdesjatnyky) zwar als künstlerischer Protest gegen die herrschende 250 VII. Ukraine <?page no="251"?> 25 Vgl. https: / / uateka.com/ ru/ article/ culture/ literature_journ/ 1267 (2.3.2019). 26 Zur inoffiziellen Kunst vgl. z. B. http: / / www.encyclopediaofukraine.com/ display.asp? l inkpath=pages%5CN%5CO%5CNonconformistart.htm (3.3.2019). Elite. 25 Anders als in Mitteleuropa, wo zu dieser Zeit eine Neoavantgarde als Revolution gegen die verstaubte Nachkriegsgesellschaft und den kon‐ servativen Wertekanon antrat, manifestierte sich die Gegenkultur in der Ukraine jedoch weder in einem provokanten Aktionismus noch in einem experimentellen Spiel mit der Sprache. Ganz im Gegenteil wurde auch von den Sechzigern die ukrainische Identität ins Zentrum der künstlerischen Interessen gerückt, sodass mit traditionellen Werten und dem Wunsch nach nationaler Freiheit - ähnlich wie bereits in den 1920er-Jahren - eigentlich genuin anti-avantgardistische Interessen verfolgt wurden. Die sogenannte New Yorker Gruppe, die sich als literarische Vereinigung in den 1950er-Jahren im amerikanischen Exil formierte, lässt sich nur bedingt als avantgardistisch klassifizieren, wobei sich ein Bruch mit Traditionen und Konventionen vor allem im Werk von Emma Andijevs’ka sowie Jurij Tarnavs’kyj zeigt. In der Ukraine selbst belegte die harsche Reaktion der Kritik auf Sergej Paradžanovs in Kiew produzierten Film Schatten vergessener Ahnen (Tini zabutych predkiv, 1964), dessen surrealistische Bildsprache sich der Doktrin des Sozialistischen Realismus verweigerte, dass experimentelle Praktiken auch am Höhepunkt des Tauwetters weiterhin verfemt blieben. Die stark metaphorisch aufgeladene Verfilmung der gleichnamigen Erzählung von Mychajlo Kocjubyns’kyj, der auf das traditionelle Leben der Huzulen (eines westukrainischen Bergvolks) fokussiert, löste in der offiziellen Sowjetunion einen insbesondere für den Regisseur folgenreichen Skandal aus. In der bildenden Kunst wurde gegen die offizielle Doktrin ebenfalls mittels Rück‐ griff auf traditionelle ukrainische Motive revoltiert. Volkskunstmotive wie jenes des Kosaken Mamaj, auf den bereits in der historischen Avantgarde mehrfach rekurriert wurde, finden sich daher in der inoffiziellen Kunst der 1960er- und 1970er-Jahre mehrfach neu interpretiert. Die inoffizielle Kunst, die oft auch als Zweite Avantgarde bezeichnet wird, war in der Sowjetunion zwar nicht offiziell verboten, durfte allerdings nicht öffentlich gezeigt werden. Eine 1967 von Valentyn Chruščin und Stanislav Syčov in Odessa am Vorplatz der Oper initiierte Ausstellung, die künstlerische Arbeiten auf einem Bauzaun exponierte - und dank der provokativen Durchführung als aktionistisches Happening bezeichnet werden kann -, wurde binnen weni‐ ger Stunden polizeilich geräumt. 26 Die experimentellen Arbeiten der Anfang 1. Überblick 251 <?page no="252"?> 27 Ausführlich dazu vgl. Bernar-Koval’čuk, Nadija. Charkivs’ka škola fotohrafiji. Hra proty aparatu. Charkiv: MOKSOP. 2020. der 1970er-Jahre in Charkiw aktiven Gruppierung „Vremja“ [Zeit] waren durch eine radikale Ablehnung der sowjetischen Ästhetik geprägt, wobei sie starke Anklänge an die Soz-Art aufweisen. Die Formation wird heute als Teil der Charkiwer Schule der Fotografie betrachtet und stellte auch im gesamtsowjetischen Kontext betrachtet eine spezifische Erscheinung dar. 27 Insgesamt konnten anti-affirmative Bewegungen, die sich in der Ukraine allerdings, sieht man etwa von „Vremja“ ab, nur selten auch als genuin „avantgardistisch“ präsentierten, lange Zeit nur im Untergrund existieren. Von Aktionskunst, die eine breitere Öffentlichkeit erreichen und diese mit dem Bruch gesellschaftlicher Konventionen auch entsprechend provozieren konnte, lässt sich in der Ukraine erst ab den 1980er-Jahren sprechen, als Glasnost und Perestrojka auch im Bereich der Kunst eine zunehmende Öffnung forcierten. Zu den wichtigsten Phänomenen in diesem Kontext ist gewiss die 1985 von Jurij Andruchovyč, Oleksandr Irvanec’ und Viktor Ne‐ borak im westukrainischen L’viv gegründete Gruppierung Bu-Ba-Bu (1985 bis ca. 1996) zu zählen, die sich als Gegenpol zur offiziellen Sowjetkultur positionierte. Die Bezeichnung, die sich aus den Anfangssilben der Wörter „Burleske“, „Balahan“ [Schaubude] sowie „Buffonade“ ableitete, kündigt bereits den karnevalistischen Anspruch an, der nicht nur durch provokative aktionistische Praktiken, sondern auch durch das postmodernistische As‐ semblieren und Konterkarieren verschiedener Stile, Genres und Konzepte verdeutlicht wird. Vor diesem Hintergrund erfolgte auch ein Rückgriff auf die historische Avantgarde, wobei sich insbesondere bei Jurij Andruchovyč intertextuelle Anklänge an den L’viver Avantgarde-Autor Bohdan-Ihor Antonyč feststellen lassen. Die Transformationsphase unmittelbar nach dem Zerfall der Sowjetunion ist in der Ukraine ebenfalls durch einen starken Aufbruch geprägt. Post‐ moderne literarische Erscheinungen wie die Gruppierung Bu-Ba-Bu fin‐ den nunmehr im sogenannten Stanislauer Phänomen eine karnevalistische Fortsetzung, wobei auch hier mit dem Einsatz performativer, karnevalisti‐ scher, dekonstruktiver sowie transmedialer Praktiken neoavantgardistische Ansätze im Zentrum stehen. Die Durchführung von Ausstellungen, Hap‐ penings und Festivals und die Herausgabe der intermedial konzipierten Kunstzeitschrift Pleroma wurden auf theoretischer Ebene durch die literari‐ sche Selbstdefinition ergänzt. 252 VII. Ukraine <?page no="253"?> 28 Zu den proklamativen und programmatischen Texten im Futurismus und im Konstruk‐ tivismus vgl. auch Faber. Die ukrainische Avantgarde zwischen Ost und West, S. 172- 208. 29 Semenko, Mychajl’. Kvero-Futurizm. In: Kverofuturizm, Poesopisni. Kyjiv: Kvero. 1914, S.-1-3. In der postsowjetischen Literatur erfolgte jedoch von mehrfacher Seite eine Reaktualisierung der historischen Avantgarde. Eindeutig positiv zu werten ist diese beim Autor Serhij Žadan, der vor allem in seinem frühen lyrischen Werk nicht nur den ukrainischen Futurismus Semenkos, sondern auch die historische Avantgarde in einer Art Remix neu interpretierte, wobei er ähnlich wie schon Andruchovyč auch auf den westukrainischen Autor Bohdan Antonyč rekurrierte. Weit weniger Zustimmung als dieser Vertreter der westukrainischen - und damit zur Zeit seines Schaffens gewissermaßen der polnischen Avant‐ garde - erhielt der Futurismus Semenkos in der Westukraine. Die Formation Nova Degeneracija (1991-1995), griff diesen in Form eines postmodernisti‐ schen Zitats zwar auf, durch das sie die mit der Sowjetunion assoziierte historische Avantgarde aber gleichzeitig - und dies bereits in ihrer Bezeich‐ nung - dekonstruierte. 2. Manifeste und Programmatisches Manifeste und Programmtexte, die der Proklamation von künstlerischen Ideen, Absichten und Idealen dienten, repräsentierten auch in der Ukraine von Beginn an die wichtigste Gattung der Avantgarden. Ähnlich wie andere avantgardistische Strömungen hat sich daher auch der ukrainische Futuris‐ mus erstmals einer breiteren Öffentlichkeit in Form einer Absichtserklärung präsentiert. 28 Das im Jahr 1914 in Kiew publizierte Manifest Kvero-Futuris‐ mus stellte das Gründungsmanifest einer Bewegung dar, die schließlich unter wechselnden Bezeichnungen fast zwei Jahrzehnte bestand. Kvero- Futurismus, als dessen Urheber mit Semenko der wichtigste - und lange Zeit gewissermaßen auch der einzige - ukrainische Futurist firmierte 29 , erschien auf den ersten drei Seiten des kleinen gleichnamigen Büchleins (Kvero-Futurismus), das wiederum im hauseigenen Kvero-Verlag publiziert wurde. Der ukrainische Futurismus trat also bereits zu Beginn als universal agierende Institution in Erscheinung, wobei der Kverofuturismus einen Futurismus repräsentierte, der keine unumstößlichen Fakten schafft, son‐ 2. Manifeste und Programmatisches 253 <?page no="254"?> 30 Original: „Мистецтво є процес шукання й переживання, без здійснення.“ - Se‐ menko. Kvero-Futurizm, S. 1. - Eine Übersetzung ins Deutsche bietet Marina Dmitrieva: Semenko, Mychajl’. Quero-Futurismus. In: Dmitrieva, Marina (Hrsg.). Zwischen Stadt und Steppe. Künstlerische Texte der ukrainischen Moderne aus den 1910er bis 1930er Jahren. Berlin: Lukas Verlag. 2012, S.-253-255. 31 Original: „Мистецтво є процес шукання й переживання, без здійснення.“ - Se‐ menko. Kvero-Futurizm, S.-1. 32 Original: „Кверо-футурізм проголошує боротьбу шукань, в сім полягає завданнє мистецтва в його розумінні.“ - Semenko. Kvero-Futurizm, S.-1. 33 Semenko. Quero-Futurismus, S.-255. 34 Ibd., S.-254. dern den unvollendeten „Prozess des Suchens und des Nacherlebens, ohne Verwirklichung“ 30 als zentrales Element von Kunst identifiziert. Zugleich zieht Semenko eine Grenze zwischen Kunst und Philosophie, indem er Kategorien wie „Vollendung“ und „Absolutheit“ ablehnt, denn „Ziel und Vollendung in der Kunst“ würden „in der Suche selbst“, nicht aber in deren Vollendung liegen. 31 Es ist anzunehmen, dass Semenko mit dem „Kampf der Suche“ 32 unmittelbar auf Marinetti anspielte, um seine Strömung von der italienischen abzusetzen. Insgesamt dominiert allerdings gegenüber anderen Strömungen ein recht versöhnlicher Ton. Ein wichtiges Spezifikum der kverofuturistischen - und der später entstandenen panfuturistischen - Postulate liegt im wohlgesonnenen Verhältnis zu Vorgängerströmungen, wobei auch ein gewisses Bedauern darüber durchklingt, dass bislang gar kein ukrainisches kulturelles Erbe existiert habe: „Sollen sich unsere Vä‐ ter (die uns kein Erbe hinterlassen haben) ruhig an der ,eigenen Kunst‘ erfreuen und mit ihr weiter leben - wir, die Jugend, reichen ihnen nicht die Hand“ 33 . Die derart diskutierte Generationenfrage macht zugleich die kverofuturistische Ablehnung der zu dieser Zeit immer populärer werdenden (Rück-)Besinnung auf nationale Motive deutlich: „In der Kunst zeugen nationale Merkmale von Primitivität“ 34 . Von Semenko wurde somit der überhöhte Stellenwert, der dem Nationalen von ukrainischer Seite oftmals beigemessen wurde, bereits 1914 kritisiert. Im Panfuturismus, der von Semenko als Nachfolgeströmung des Kverofu‐ turismus ausgerufen wurde, blieb die Prozesshaftigkeit von Kunst weiterhin programmatisch verankert. Durch die Vorsilbe „Pan“ sollte aber zusätzlich der universale und grenzüberschreitende Anspruch des nunmehr sowjet‐ ukrainischen Futurismus hervorgehoben werden. Diese Internationalität wurde durch die mehrsprachige Publikation der zentralen Programmtexte auch auf textlicher Ebene umgesetzt. Nicht erst die in der Nova Generacija 254 VII. Ukraine <?page no="255"?> 35 Semenko, Mychajl’. What Panfuturism wants. In: Dmitrieva, Marina (Hrsg.). Zwischen Stadt und Steppe. Künstlerische Texte der ukrainischen Moderne aus den 1910er bis 1930er Jahren. Berlin: Lukas Verlag. 2012, S.-256-257, hier S.-256. 36 Faktura ist ein sowohl im Konstruktivismus als auch im Futurismus verwendeter Begriff, der sich im Wesentlichen auf die Oberflächenbeschaffenheit bzw. die Material‐ beschaffenheit eines Objektes/ Textes bezieht. Im ukrainischen Futurismus wurde dieser um ideologische Aspekte erweitert. zahlreich in Form von Paratext umgesetzte Polyglossie, sondern bereits die auf Englisch verfasste Grundsatzerklärung What Panfuturism wants aus dem Jahr 1922, die in gekürzter Fassung auch auf Russisch, Französisch und Deutsch erschien, stellen hierfür wichtige Beispiele dar. Der Panfuturismus definierte sich als Strömung, die alle vorherigen Ausrichtungen in der Kunst „liquidieren“ würde: Panfuturism cannot be a „new direction“ in art. Panfuturism is the whole art and in the future - what will substitute it. At the present Panfuturism is a system liquidating the old art in its pretension to be an active factor [Engl. i. Orig., VF]. 35 Der Anspruch, sämtliche Vorläufer und Zeitgenossen der Kunst abzulösen, lässt eine gewisse Selbstüberschätzung erkennen, die auch für viele andere Avantgarden kennzeichnend war. Dass der Futurismus, der Kubismus, der Expressionismus und der Dadaismus vom Panfuturismus als „useful things“ bezeichnet werden, deutet allerdings auch auf ein gehobenes Maß an Affirmation hin - womöglich wollte man es sich mit den internatio‐ nal etablierten Strömungen, die mit großem Interesse rezipiert wurden, nicht verscherzen. Dass der Panfuturismus eine Summe aus Ideologie und Faktura 36 darstellen sollte, verdeutlicht die Politisierung des ukrainischen Futurismus. Eine dezidierte Abgrenzung von der Abstraktion, die für den funktionalistisch ausgerichteten Konstruktivismus spezifisch war, erfolgt dagegen nicht. Ganz im Gegenteil sollte sie, nunmehr als „Destruktion“ bezeichnet, gemeinsam mit der „Konstruktion“ zur Zerschlagung der bour‐ geoisen Kunst eingesetzt werden. 2. Manifeste und Programmatisches 255 <?page no="256"?> Abb. 3: Walerjan Polischtschuk [Poliščuk, Valerijan] et al.: Aufruf der Avangarde. 1929. Auch die Grundsätze der konstruktivistischen Avanhard wurden in Form von Manifesten und Programmtexten dargelegt. Die im Jahr 1928 im Bulletin Avanhardu publizierte Proklamacija Avanhardu [Proklamation von Avan‐ 256 VII. Ukraine <?page no="257"?> 37 Polischtschuk, Walerjan et al. Aufruf der Avangarde. 38 Ibd., S.-60. 39 Ibd., S.-60. 40 Ibd., S.-61. 41 Ibd., S.-60. 42 Ibd., S.-61. 43 Vgl. ibd., S.-61. hard], die den Gründungsmoment der Vereinigung markierte, erschien 1929 auch in einer deutsch-sprachigen (Aufruf der Avangarde; Abb. 3) 37 sowie einer russisch-sprachigen Fassung. Die internationalistische Ausrichtung umfasste neben der Mehrsprachigkeit auch die Kooperation mit russischen und westeuropäischen Formationen. Der Stil des Gründungsmanifestes ist - etwa im Aufruf „an alle Baumeister ukrainischer Kunst“ 38 - durchwegs proklamativ gehalten. Dass die „Angelegenheit unserer Kultur“ eingangs als „eine der wichtigsten Seiten unseres Lebens und Wiederaufbaus“ 39 bezeichnet wird, verdeutlicht das Streben, im Rahmen der neuen politischen Bedingungen eine eigenständige ukrainische Kultur zu etablieren. Avanhard deklarierte sich als Vorhut der proletarischen Kunst, die im Zeichen des neuen Zeitalters der Industrialisierung agierend 40 nicht nur die Lexik, die Syntax sowie die Psyche der Menschheit, sondern gleich das Leben insgesamt verändern wolle. Neben Literatur wurden Architektur und Musik als Grundpfeiler der neuen Kunst angesehen. Leonid Černov integrierte beispielsweise in Sonce i serce [Sonne und Herz] (1929) kompositorische Elemente in den literarischen Text. Die Forderung nach Erneuerung der Kunst lässt bei Avanhard nicht nur polemische, sondern auch selbstkritische Töne erkennen: „Stehenbleiben in der Kunst“, das „Bremsen aller Entwicklung“ und ein „psychologischer Konservativismus“ seien „in unseren Spiessern [sic] stärker als sonst wo“. 41 Insgesamt wird die proklamierte Ablehnung von Vorgängerströmungen nur wenig konsequent umgesetzt, da jeder Epoche „ihre eigene, nur sie ausdrückende Kunst“ zugestanden wird. 42 Im „Willen zu neuem schöpferi‐ schen Suchen“ lassen sich Anklänge an die - eigentlich konkurrierenden-- kverofuturistischen Konzepte erkennen. Auch die (eigentlich spezifisch futuristische) Dynamik stellt einen Schlüsselbegriff von Avanhard dar, wobei diese - anders als im Futurismus - das Leben nicht nur gestalten wolle, vielmehr sei sie „das Leben selbst“. 43 2. Manifeste und Programmatisches 257 <?page no="258"?> 44 Avanhard. Spiralizm - Spiralismus. In: Avanhard. Mystec’ki materijaly avan‐ hardu/ avangardo Nr.-3 (1929), S.-82. 45 Vgl. Avanhard. Spiralizm - Spiralismus. 46 Kleine Enzyklopädie der aktuellen ukrainischen Literatur (Sonderheft). In: Pleroma Nr.-3 (1998); http: / / www.ji.lviv.ua/ ji-library/ pleroma/ zmist.htm (3.3.2019). In der 1929 erschienenen Proklamation Spiralizm - Spiralismus  44 formu‐ lierte Avanhard den Konstruktiven Dynamismus als ihr zentrales Konzept. Grundlegend dafür ist die Ausgangsthese, dass die Entwicklung künstle‐ rischer Formen analog zum Fortgang des Lebens spiralförmig verlaufen würde. Dass durch die dabei entstehenden „Drehungen“ eine permanente Abkehr von früheren Zuständen erreicht wird, stellt eine unverkennbare Verbindung zur marxistischen Theorie dar. Anders als in anderen Avantgar‐ den kommt es zu keiner dogmatischen Ablehnung der Vergangenheit, da der Rückgriff auf frühere Künstlergenerationen als unabdingbar für den künstlerischen Fortschritt angesehen wird. 45 Die mit einer Seite recht knapp ausgefallene Proklamation, die nunmehr zwar im Titel, nicht allerdings im Text zweisprachig gehalten war, erschien ohne Verfasserangabe in der dritten Nummer der Zeitschrift Avanhard. Mystec’ki materijaly avan‐ hardu/ avangardo. Wie schon bei Poliščuk, dessen Essay Blüte der ukrainischen Literatur als wenig objektive Reflexion der eigenen Leistungen anzusehen ist, nahmen auch Andruchovyč und Volodymyr Ješkiljev mit ihrer Kleinen Enzyklopädie der aktuellen ukrainischen Literatur (MUEAL) (ebenfalls) eine Selbstkanoni‐ sierung vor. Die MUEAL erschien 1998 in der dritten Ausgabe der Zeitschrift Pleroma als Sonderheft und wurde schließlich im Internet in einer mehr‐ mals aktualisierten Version verfügbar gemacht. 46 Neben den Vorworten der beiden Autoren besteht die Enzyklopädie aus einem Glossar sowie einem umfassenden Anhang, der exemplarische Texte beziehungsweise Textauszüge der angeführten Autorinnen und Autoren bereitstellt. Dass im Glossar gleich drei Lemmata angeführt werden, die mit Pleroma (als Zeichen, als Zeitschrift sowie als Pleromische Theorie) und somit mit der von den Au‐ toren des Artikels „in den theoretischen Arbeiten des ,pleromischen Zyklus‘ (1991-1997) vorgeschlagenen Philosophie (Doktrin)“ verbunden sind, un‐ terstreicht die mangelnde Objektivität des Unterfangens, das autopoetisch hauptsächlich auf sich selbst verweist, diese Subjektivität allerdings auch auf programmatischer Ebene als zentral deklariert. Von Ješkiljev wird etwa mit dem postmodernistischen Bedürfnis nach einer „militanten (demiurgischen) Enzyklopädie der vorherrschenden Macht des Individuums“ argumentiert, 258 VII. Ukraine <?page no="259"?> 47 Zum ukrainischen Original vgl. http: / / www.ji.lviv.ua/ ji-library/ pleroma/ gk-ps.htm (3.3.2019). 48 https: / / uk.wikipedia.org/ wiki/ Станіславський_феномен (3.3.2019). 49 Tamara Hundorova konstatiert der ukrainischen Postmoderne eine generelle Affinität zur Avantgarde, deren Praktiken aufgegriffen, aktualisiert und weiterentwickelt wer‐ den; vgl. Hundorova, Tamara. Pisljačornobyl’s’ka biblioteka. Ukrajins’kyj literaturnyj postmodernizm, Kyjiv: Krytyka. 2013, S.-76. das den „lächerlichen“ Anspruch eines allumfassenden Universalwissens konterkariert. Das Stanislauer Phänomen wird von ihm beispielsweise wie folgt definiert: STANISLAUER PHÄNOMEN (manchmal - Stanislauisches Phänomen, Ivano- Frankivs’ker Phänomen). Das in der Stadt Ivano-Frankivs’k erfolgte Auftreten einer Gruppe von Autoren und Künstlern, in deren Werk die Kennzeichen des ukrainischen PM-Diskurses am raffiniertesten verfeinert wurden. […] In einer breiteren kulturellen Perspektive lässt sich das Phänomen Stanislau zu Recht als das Auftreten einer „spezifischen sozio-kulturellen Erscheinung“ (Izdryk) deuten, die sich, in Ivano-Frankivs’k geografisch lokalisiert, entfaltete, und sich symbolisch, konzeptionell sowie organisatorisch zwischen 1989 und 1996 kristal‐ lisierte. Den historischen Hintergrund für das Phänomen Stanislau bildete der Zerfall der Sowjetunion sowie die Situation der kulturellen „Offenheit“, welche die Transformation der ästhetischen Standards und künstlerischen Koordinaten bewirkte. 47 Wenig überraschend fällt die Selbstbeschreibung durchwegs positiv aus, sodass in selbstaffirmativem Duktus nicht nur die kreativen und organisa‐ torischen Fähigkeiten des Phänomens gelobt, sondern auch dessen (also die eigene) Bedeutung für die Entwicklung der ukrainischen Literatur hervor‐ gehoben wird. Dass die Selbstkanonisierung schließlich mehrfach unreflek‐ tiert übernommen wurde, lag sicherlich in der karnevalistisch motivierten Intention der Verfasser. Die in der MUEAL determinierte Selbstbeschreibung findet sich daher heute in nahezu identem Wortlaut im Wikipedia-Eintrag zum Stanislauer Phänomen als Universalwissen präsentiert. 48 Die Zerschla‐ gung tradierter Normen, die im Falle der MUEAL konsequenterweise gleich eine gänzliche Neudefinition des Kanons beinhaltet, ist ein wesentliches Merkmal, das es erlaubt, diese postmodernen Praktiken der Transforma‐ tionsjahre als Teil einer avantgardistischen Tradition zu verorten. 49 Im Hinblick auf die MUEAL lässt sich aber nicht primär von einer Proklamation von Absichten und Zielen sprechen, wie sie für die Avantgarden eigentlich 2. Manifeste und Programmatisches 259 <?page no="260"?> 50 Ješkiljev, Volodymyr. Vid redakciji. In: Pleroma Nr. 3. Vypravlenyj i dopovnenyj. http: / / www.ji.lviv.ua/ ji-library/ pleroma/ vstup.htm (2.3.2019). 51 Vgl. Belentschikow, Valentin. Zu einigen Besonderheiten der ukrainischen literarischen Avantgarde. In: Zeitschrift für Slawistik, 44/ 2 (1999), S.-181-197, hier S.-182. 52 Zur Biografie Semenkos vgl. z. B. Belaja, Anna. Kratkaja kanva žizni i tvorčestva Michajlja Semenko. In: Dies. et al. (Hrsg.). Michajl’ Semenko i ukrainskij panfuturizm. Manifesty. Mistifikacii. Stat’i. Lirika. Viziopoėzija. Sankt-Peterburg: Avant-Garde. 2016, S.-299-307. spezifisch wäre. Vielmehr erfolgte die Selbstkanonisierung durch die His‐ torisierung aus einer nachträglichen Perspektive heraus. Der Blick wird somit - ähnlich auch in den historischen Avantgarden der Ukraine - auch hier nicht in die Zukunft, sondern in die Vergangenheit gerückt. 50 3. Personen und Werke Mychajl’ Semenko (1892-1937), der den Futurismus in der Ukraine initiierte und über knapp drei Jahrzehnte in seinen unterschiedlichen Auslegungen - Kverofuturismus, Panfuturismus, Nova Generacija - wesentlich gestaltete und definierte, ist ohne Zweifel als wichtigster Vertreter der ukrainischen literarischen Avantgarde anzuführen. Neben den rein literarischen Texten, die Lyrik und Prosa ebenso umfassten wie auch polemische Streitschriften und kulturtheoretische Essays, sind auch die Experimente im Bereich der Wort-Bild-Kunst relevant. Die avantgardistische Ablehnung tradierter Normen manifestierte sich bei Semenko in Parodien auf den romantischen Dichter Taras Ševčenko, der in der Ukraine nicht nur als Nationaldichter, sondern auch als Symbolfigur für die ukrainische Nation verehrt wird. In den 1920er-Jahren erfolgte eine zunehmende Politisierung Semenkos, wobei der ukrainische Futurismus die kommunistische Idee eindeutig unterstützte. Wiewohl Semenko zu Beginn gewissermaßen als „einsamer Futurist“ 51 agierte, konnte er den Futurismus in den 1920er-Jahren als relativ massen‐ taugliche Bewegung etablieren, die ihre Breite nicht nur der eigenen Diver‐ sität, sondern auch den regen Publikationsaktivitäten Semenkos verdankte. Semenko hat zu Lebzeiten fast dreißig Bücher publiziert und zahlreiche Anthologien herausgegeben. Hinzu kommen zahlreiche weitere Herausga‐ ben und Publikationen in Sammelbänden und Zeitschriften. Ebenso wie zahlreiche andere Vertreter der literarischen Avantgarde der Ukraine wurde auch Semenko 1937 im Rahmen des Großen Terrors hingerichtet. 52 260 VII. Ukraine <?page no="261"?> 53 Zur Rhytmik der Farbe bei Exter vgl. Marcadé, Jean-Claude. Alexandra Exter oder die Suche nach den Rhythmen der Lichtfarbe. Aus dem Französischen von A. J. Jordan. In: Galerie Gmurzynska (Hrsg.). Ausst.-Kat. Künstlerinnen der Russischen Avantgarde. Russian Women-Artists of the Avantgarde. 1910-1930. Galerie Gmurzynska Köln. Köln: Wienand. 1979, S.-114-121, hier S.-121. Alexandra Exter (1882-1949), die als Künstlerin in Kiew ebenso wie auch in Moskau, Sankt Petersburg und Paris reüssierte, war mit Vertretern des französischen Kubismus ebenso bestens vernetzt wie mit russischen Kubofuturisten und Konstruktivisten. In ihrem Werk, das zuerst symbolis‐ tisch, dann kubistisch, kubofuturistisch und schließlich konstruktivistisch geprägt war, nahmen auch Elemente aus der Volkskunst eine wichtige Rolle ein. Diese zeigen sich etwa in der Ausdruckskraft der Farben im Gemälde Farbrhythmen (1918, Abb. 4). Dieses ist auch ein gutes Beispiel für spezifische Kombinationen von geometrischen Figuren mit farbigen Flächen und Silhouetten, durch die Exter nicht nur ein hohes Maß an Plastizität, sondern auch Rhythmen der Farbe 53 erzeugt. Aus dem von Exter in Kiew geleiteten Studio für Dekorative Kunst ging eine Reihe wichtiger Vertreter der ukrainischen Bühnengestaltung hervor, die in den 1920er-Jahren zu den aktivsten und produktivsten Bereichen der ukrainischen Avantgarde zählte. Exters Kostümskizzen wurden für Inszenierungen am Moskauer Kammertheater (z. B. Famira kifared, 1916) ebenso eingesetzt wie für den Film Aėlita (1924), der als einer der ersten Science-Fiction-Filme überhaupt gilt. Exter übersiedelte Mitte der 1920er-Jahre endgültig nach Paris, wobei die zunehmende Abschottung der Sowjetunion auch Exters Verbindungen in die Ukraine hemmte. 3. Personen und Werke 261 <?page no="262"?> 54 Der ukrainische Kontext Malevičs wurde von Dymtro Horbačov ausführlich dokumen‐ tiert; vgl. Horbačov, Dmytro (Hrsg.). „Vin ta ja buly ukrajinci“. Malevyč ta Ukrajina. Kyjiv: Sim studija. 2006. Abb. 4: Alexandra Exter: Farbrhythmen 1918. Kazimir Malevič (1878-1935) gilt als einer der wichtigsten Vertreter der russischen Avantgarde, wobei er nicht nur frühe Strömungen wie den Kubofuturismus und den Suprematismus geprägt, sondern später auch den Konstruktivismus stark beeinflusst hat. In den letzten Jahren wurde zuneh‐ mend begonnen, die Bedeutung Malevičs für die ukrainische Avantgarde zu untersuchen, nicht zuletzt deshalb, da der Künstler aufgrund seines biografischen Hintergrundes eng mit der Ukraine verbunden war. Im damals noch russischen Kiew gebürtig, kehrte Malevič Mitte der 1920er-Jahre in eine nunmehr sowjetische Ukraine zurück, 54 wo er in Kiew am Kunstinstitut lehrte und in der Nova Generacija sowie im Avangard. Al’manach proletars’‐ kych mytciv Novoji Generaciji [Avanhard. Almanach der proletarischen Künstler der Nova Generacija] mehrere kunstkritische Essays publizierte. Zu diesen zählen etwa Prostorovyj Kubizm [Räumlicher Kubismus], Kubofuturyzm [Der Kubofuturismus] und Konstruktyvne maljarstvo rosijis’kych 262 VII. Ukraine <?page no="263"?> 55 Vgl. Horbačov, Dmytro. Ukrajins’kyj avanhard 1910-1930 rokiv. In: Horbačov, Dmytro (Hrsg.). Ukrajins’kyj avanhard 1910-1930 rokiv. Ukrainian avant-garde art. Kyjiv: Mystectvo. 1996, unpag. 56 Vgl. Hansen-Löve, Aage. Über das Vorgestern ins Übermorgen. Neoprimitivismus in Wort- und Bildkunst der russischen Moderne. Paderborn: Wilhelm Fink. 2016, S. 341 ff. maljariv i Konstruktyvizm [Die konstruktive Malerei der russischen Maler und der Konstruktivismus]. Das ukrainische Umfeld spiegelt sich aber auch in seinen späten Bildern wider, die, zwischen 1928 und 1932 entstanden, oft das einfache Leben von Bauern thematisieren. Der Künstler reaktivierte damit nicht nur frühe figurative Darstellungsformen, sondern greift auch den Neoprimitivismus seines vorabstrakten Werkes wieder auf. Bereits der Suprematismus, den Malevič in seine neofigurativen Werke wie Mädchen auf dem Feld (1928/ 1932; Abb. 5) ebenfalls integrierte, ließe Dmytro Horbačov zufolge eine Hinwendung zur ukrainischen Volkskunst erkennen. 55 Aage Hansen-Löve, der Malevičs Hauptverbindung zur Folklore eher in der Farbigkeit und der Flächigkeit denn in der Thematik verortet, spricht im Hinblick auf die sehr früh beziehungsweise sehr spät entstandenen Werke von einem „zweifachen Bauern-Malevič“, dessen überwirkliche Darstellun‐ gen gewissermaßen eine „malerische Bauernbefreiung“ erwirkten. 56 Malevič starb 1935 in Leningrad. Abb. 5: Kazimir Malevič: Mädchen auf dem Feld (1928/ 1932) 3. Personen und Werke 263 <?page no="264"?> 57 Vgl. Omel’čuk, Olesja. Valer”jan L’vovyč Poliščuk. Chronika žyttja i tvorčosti. In: Poliščuk, Valer”jan: Vybrani tvory. Hgg. von Olesja Omel’čuk. Kyjiv: Smoloskyp. 2014, S.-19-43. Valerijan Poliščuk (1897-1937), der seine Werke sowohl auf Russisch als auch auf Ukrainisch publizierte, zählt trotz seiner vielseitigen und produk‐ tiven künstlerischen Aktivitäten zu den weniger registrierten Vertretern der ukrainischen Avantgarde. Auch seine Formation Avanhard, die in großem Maße karnevalistisch agierte und daher bevorzugt Kunst, Gesellschaft und Politik - und insbesondere den Futurismus - persiflierte, nimmt im Vergleich mit dem Futurismus eine untergeordnete Rolle ein. Zahlreiche Rezensionen belegen jedoch, dass Poliščuk in den 1920er-Jahren nicht nur eine besondere Rolle innerhalb der ukrainischen Literatur eingenommen hat, sondern auch umfangreich rezipiert wurde. Während er zu Beginn den proletarischen Schriftstellerkreisen angehört hatte, sorgte nicht nur die freizügige Anspielung auf Körperlichkeit und Sexualität - etwa im Poem Onan (1922) - für Skandale. Seine öffentliche Polemik gegen Grup‐ pierungen wie die VAPLITE und die Nova Generacija, kann gewissermaßen als Zeugnis avantgardistischer Provokation gesehen werden. Den Vers libre definierte Poliščuk in seinem kulturtheoretischen Buch Pul’s Epochy [Puls der Epoche] (1927) als jene künstlerische Form, die dem Zeitgeist von Revolution, Industrialisierung und Proletariat am besten entspräche. Poliščuks Werk umfasst neben zahlreichen Gedichten, die zunehmend im Zeichen des Vers libre sowie des literarischen Konstruktivismus standen, außerdem mehrere Manifeste - Zaklyk hrupy mytciv „Avanhard“ [Aufruf der Künstlervereinigung „Avanhard“] (1926), Proklamacija Avanhardu (1928), zahlreiche literatur- und kulturtheoretische Polemiken, Essays und Kritiken sowie auch einige Reiseberichte. 1935 wurde Poliščuk wegen des Vorwurfs konterrevolutionärer Aktivitäten verhaftet und 1937 am Höhepunkt des Großen Terrors durch Erschießung hingerichtet. 57 264 VII. Ukraine <?page no="265"?> Abb. 6: Vasyl’ Jermilov: 10 rokiv žovtnja (10 Jahre Sowjetmacht in der Ukraine). 1927. Ausstellungsdesign. Der Maler, Typograf und Grafiker Vasyl’ Jermilov (1894-1968), der die Hoch‐ schule für angewandte Kunst in Charkiw absolvierte, ist zu den wichtigsten Vertretern des ukrainischen Konstruktivismus zu zählen. Seine Arbeiten wurden jedoch in unterschiedlichen Phasen auch durch Strömungen wie den Kubofuturismus, den Monumentalismus sowie den Neoprimitivismus ge‐ prägt. Für die 1920er-Jahre ist die starke Politisierung spezifisch, die sich bei‐ 3. Personen und Werke 265 <?page no="266"?> spielsweise in Plakatentwürfen für die Propagandaagentur UkROSTA sowie in der Bemalung eines Agitprop-Zugs niederschlug. Jermilovs Œuvre um‐ fasst nicht nur Buch- und Zeitschriftenlayouts, konstruktivistische Gemälde und Grafiken sowie das Design von Ausstellungen und Inneneinrichtungen. Von Bedeutung sind auch seine dreidimensionalen Relief-Bilder. Die Anfang der 1920er-Jahre entstandenen Arbeiten Komposycija [Komposition] (Holz, Metall, Emailfarben) und Portret [Portrait] (bemaltes Holz, Metall) sind nur zwei Beispiele dafür, wie durch das Assemblieren unterschiedlicher Stoffe - etwa Holz, Glas und Metall - eine spezifische Faktura entstand. 1928 reiste Jermilov als Teil der ukrainischen Delegation zur Ausstellung Pressa in Köln. Er gestaltete nicht nur das Design des ukrainischen Ausstellungsstandes, sondern stellte auf der Pressa auch sein gestalterisches Konzept für die Jubiläumsausstellung 10 rokiv žovtnja (10 Jahre Sowjetmacht in der Ukraine) vor, das auch die Gestaltung einer Agitationsbühne beinhaltete (Abb. 6). Die dabei zum Einsatz kommende Typografie ist durch den Einsatz kon‐ struktivistischer Elemente, etwa geometrische Linien und Flächen, geprägt. Nach der Ausrufung des Sozialistischen Realismus zur einzig gültigen Kunstform im Jahr 1932 wurde Jermilov, der den Großen Terror überlebte, ins künstlerische Abseits gedrängt. Seine späten Schaffensjahre waren vor allem seiner Lehrtätigkeit in Charkiw gewidmet. Jermilov wurde schließlich erst kurz vor seinem Tod im Jahr 1968 offiziell wieder rehabilitiert. Serhij Žadan (geb. 1974) ist neben Jurij Andruchovyč und Oksana Zabužko zu den wohl bekanntesten zeitgenössischen ukrainischen Autoren zu zäh‐ len, wobei postsowjetische Lebensrealitäten sowohl in seinen Prosabänden - etwa dem Roman Depež Mod [Depeche Mode] (2004) oder der Sammlung Anarchy in the UK (2005) - als auch in der Lyrik des ostukrainischen Autors dominieren. Das lyrische Werk, zu dem die Bände Pepsi (1998), Balady pro vijnu i vidbudovu [Balladen über den Krieg und über den Wiederaufbau] (2001) und Istorija kul’tury počatku stolittja [Die Geschichte der Kultur zu Anfang des Jahrhunderts] (2003) zählen, erweist sich als hochgradig performativ und entfaltet seine Kraft vor allem im Sprechakt, also in der Aufführung - oft durch den Autor selbst. Seine Affinität zur Performance unterstreicht Žadan auch mit transmedialen Projekten wie der Ska-Band Sobaky v kosmosi [Hunde im Weltall], in deren Auftritten ebenfalls Text, Aufführung und Ton vereint werden. Der dabei erfolgte Rückgriff auf die Volkskunst reiht sich gewissermaßen in die neoprimitivistischen Praktiken ein, die in der Ukraine sowohl für die historische Avantgarde als auch für den Nonkonformismus der Zweiten Avantgarde kennzeichnend sind. 266 VII. Ukraine <?page no="267"?> 58 Semenko, Mychajl’. V stepu. In: Kvero, Nr.-1 (1914), S.-5. 59 Vgl. die Anmerkungen in Belaja, Anna et al. (Hrsg.). Michajl’ Semenko i ukrainskij pan‐ futurizm. Manifesty. Mistifikacii. Stat’i. Lirika. Viziopoėzija. Sankt-Peterburg: Avant- Garde. 2016, S.-274. 60 Semenko, Mychajl’. Kabelpoema za okean. In: Semafor u majbutn’je. Aparat panfutu‐ rystiv, Nr.-1 (Mai 1922), S.-1-8. Ausgewählte Werke Mychajl’ Semenkos Gedicht V stepu  58 [In der Steppe], das 1914 als Teil des Zyklus’ Sam [Selbst] in der Zeitschrift Kvero [Ich suche] erschien, stellt ein wichtiges Beispiel für die frühe experimentelle Lyrik des Autors dar. Das zehn Zeilen umfassende Gedicht offeriert auf textlicher Ebene fast ausschließlich semantische Leerstellen und lässt damit deutliche Analogien zur kubofuturistischen Zaum’-Dichtung erkennen. Durch die Verortung in einem ukrainischen Kontext (Steppe) weist V stepu jedoch prägnante Alleinstellungsmerkmale auf. Während keine normative Lexik verwendet wird, es sich bei dem Wortinventar also durchwegs um Neologismen ohne semantische Entsprechung handelt, wird mit der Steppe eine spezifisch ukrainische Lebensrealität evoziert, die in der Literatur immer wieder aufgegriffen wurde und wird. Als wenig besiedelte und karg bewachsene Landschaft stellt die Steppe eine Antithese zu den dicht besiedelten urbanen Zentren dar - und steht somit der futuristischen Großstadt- und Moderni‐ sierungsästhetik diametral entgegen. Dargestellt werden nicht der Lärm der Großstadt und das Dröhnen von Maschinen, sondern ein Rückgriff auf die unberührte Natur praktiziert. V stepu ist als Vorläufer von Semenkos Poezomaljarstvo [Poesie-Male‐ rei] anzusehen, die Anfang der 1920er-Jahre in mehrseitigen Zyklen in unterschiedlichen Anthologien umgesetzt wurde. 59 Kabelpoema za okean [Kabelpoem über den Ozean] 60 (Abb. 7), der bekannteste dieser mehrseitigen Zyklen, erschien 1922 in Semafor u majbutn’je. Aparat panfuturystiv [Leucht‐ signal in die Zukunft. Apparat der Panfuturisten] und beinhaltete acht sogenannte „Karten“. Der Anspruch des Panfuturismus, die Avantgarden der Welt zu vernetzen und alle bestehenden Strömungen in sich zu vereinen, wird nicht nur aus dem Titel Kabelpoem über den Ozean deutlich. Auch manifestartige Aufrufe wie „Ozeanien wird durch die Radiowellen erzit‐ tern! “ betonen den appellativen Charakter des Poems. Dass die Proletarier aller Länder mehrfach zur Vereinigung aufgefordert werden, verdeutlicht die Politisierung des ukrainischen Futurismus in dieser postrevolutionären 3. Personen und Werke 267 <?page no="268"?> 61 Čužyj, Andrij. Vedmid’ poljuje za soncem. In: Nova Generacija, Nr.-7 (1928), S.-23-27. Abb. 7: Mychajl’ Semenko: Kabelpoema za okean [Kabelpoem über den Ozean]. 1922. Phase. Obwohl die grafische Gestaltung an manchen Stellen versucht, die lautliche Ebene zu imitieren, findet keine gänzliche Destruktion der Inhaltsebene statt. Vielmehr wird durch die plakative grafische Gestaltung der performative Charakter des Textes zusätzlich verstärkt. Eine produktive Fortsetzung der Wort-Bild-Kunst findet sich wenig später bei Andrij Čužyj, der die grafische sowie die lautliche Ebene ins Zentrum rückt, wobei er mit unterschiedlichen Textgattungen experimentiert. Das Fortsetzungspoem Vedmid’ poljuje za soncem [Ein Bär jagt nach der Sonne] 61 , das 1928 in mehreren Ausgaben der Nova Generacija erschien (Abb. 8), 268 VII. Ukraine <?page no="269"?> schildert die (phantastischen) Erlebnisse eines (personifizierten) Bären. Die Fabel wird darin sowohl auf der textlichen als auch auf der grafischen Ebene realisiert. Ausrufe wie „oj oj oj oj“ und das Spiel mit Zischlauten „aži, ščo čer“ unterstreichen überdies die lautlichen Aspekte des Textes, die den emotiven Charakter verstärken. Dass Čužyj sich auf mehreren Ebenen der vorherrschenden Faktenzentriertheit widersetzte, wurde vom russischen LEF-Futurismus rund um Vladimir Majakovskij harsch kritisiert. Die insbesondere in der Form enthaltenen Anklänge an barocke Figuren‐ gedichte unterstreichen das für Avantgarden untypische Verhältnis zur Vergangenheit, die nicht kategorisch abgelehnt wurde. Vedmid’ poljuje za soncem fungiert außerdem als wichtiges Beispiel für die Rehabilitierung der Abstraktion, die spezifisch für den Panfuturismus war. Abb. 8: Andrij Čužyj: Vedmid’ poljuje za soncem [Ein Bär jagt nach der Sonne]. 1928. Der Film Zemlja [Die Erde] entstand 1930 als dritter und letzter Teil einer ukrainischen Spielfilm-Trilogie, in der sich der Regisseur Oleksandr Dovženko thematisch mit der Revolution von 1917 auseinandersetzte. Die Trilogie, zu der außerdem die Filme Zvenyhora (1928) sowie Arsenal (1929) 3. Personen und Werke 269 <?page no="270"?> zu zählen sind, reiht sich in eine Vielzahl an Werken ein, die ab 1927 zu Ehren des zehnten Jahrestages der Revolution entstanden sind. Zugleich stellt der Film, der am Höhepunkt der Aktivitäten der VUFKU produziert wurde, eines der letzten Dokumente der sowjetischen Stummfilm-Ära dar. Der Film, der die Geschichte der Entkulakisierung eines Dorfes thematisiert, zeichnet sich nicht nur durch spezifisch avantgardistische Montagepraktiken aus. Hervorzuheben ist auch die Bildsprache (vgl. Abb. 9), die sich durch ihre Poetik deutlich von den dokumentarischen Zugängen Sergej Ėjzenštejns oder Dziga Vertovs unterscheidet. Zwar werden die im typisch postrevolu‐ tionären Duktus zu lesenden Gegensätze „Alt - Neu“, „Natur - Technik“ und „Individuum - Kollektiv“ ebenfalls antithetisch eingesetzt, die revolu‐ tionären Errungenschaften sind bei Dovženko aber keineswegs nur positiv besetzt. In der Sowjetunion wurde Zemlja daher heftig kritisiert, während die hohe Symbolkraft der Bilder und die positiv besetzte Darstellung des ukrainischen Dorfs im nicht-sowjetischen Ausland mit großer Begeisterung aufgenommen wurde. Abb. 9: Oleksandr Dovženko: Zemlja [Die Erde]. 1930. Filmkader. In der von Semenko herausgegebenen intermedial ausgerichteten Avant‐ garde-Zeitschrift Nova Generacija, die zwischen 1927 und 1930 in Charkiw 270 VII. Ukraine <?page no="271"?> erschien und damit das letzte offiziell tolerierte Avantgarde-Medium der Sowjetunion war, wurden neben Literatur, Konzeption und Polemik auch in‐ ternationale Entwicklungen in den Bereichen Fotografie, Film, Bühnenbild und Theater, Musik, bildende Kunst, Kunsttheorie, Architektur und Theorie reflektiert. In avantgardistischer Manier fungierte die Nova Generacija auch als Sprachrohr für die Grundsatzerklärungen des Futurismus. Dass neben zentralen Vertretern unterschiedlicher ukrainischer Bewegungen auch wichtige Protagonisten der russischen sowie der westeuropäischen Avantgarden, etwa Vladimir Majakovskij von der russischen LEF, László Moholy-Nagy vom deutschen Bauhaus und der italienische Futurist Enrico Prampolini, als Teil der Redaktion angeführt waren, unterstreicht die in‐ ternationale Ausrichtung. Im Hinblick auf die Gestaltung (Abb. 10), die zu Beginn vom Bühnenbildner Vadym Meller, dann vom Fotografen Dan Sotnyk und schließlich vom Maler und Bühnenbildner Anatol’ Petryc’kyj verantwortet wurde, lassen sich ebenfalls Analogien zu anderen Avantgar‐ den feststellen, wobei etwa der teilweise Verzicht auf die Großschreibung auf Impulse durch die Typografie am deutschen Bauhaus zurückzuführen ist. Die reich bebilderten Ausgaben präsentierten auch eine umfassende Darstellung der ukrainischen Avantgarde selbst, deren Strömungen, Grup‐ pierungen, Vertreter und Hervorbringungen diskutiert, reflektiert, oft aber auch heftig kritisiert wurden. Ungeachtet der zunehmenden Abschottung der Sowjetunion, die mit einer heftigen Kritik an Avantgarde und Formalis‐ mus einherging, konnten in der Ukraine also noch bis Anfang der 1930er- Jahre avantgardistische Praktiken florieren. Ende 1930 musste auch die Nova Generacija eingestellt werden. 3. Personen und Werke 271 <?page no="272"?> Abb. 10: Anatol’ Petryc’kyj: Nova Generacija. Nr. 4/ 1930. Žadans Gedichtzyklus Pepsi, der 1998 in Charkiwer Majdan-Verlag erschien, steht nicht nur aufgrund seiner Zitathaftigkeit in Verbindung mit der historischen Avantgarde, die Žadan sowohl in seiner Lyrik als auch in seiner Prosa in postmodernistischer Manier mit postsowjetischen Lebensrealitäten kontrastiert. Der Einsatz von Montagen und die analytische Kombination von Wort und Bild lassen sich ebenso als genuin avantgardistisch festhalten wie auch die Performativität der Texte, die nicht zufällig an avantgardisti‐ sche Manifeste erinnert. Das sieben Strophen umfassende Gedicht Bohdan- Ihor exemplifiziert, wie Žadan das avantgardistische Erbe mit dem damals vorherrschenden Zeitgeist vermengt. Neben dem Titel, der auf Antonyč rekurriert, ist auch der Text selbst intertextuell aufgeladen und enthält daher Anklänge an zentrale Motive Antonyčs - etwa das lineare Verständnis von Zeit, die Verbindung von Zukunft und Vergangenheit, aber auch die Idee der Unsterblichkeit -, die Žadan in einer Art Collage mit dem eigenen Text verwebt: / / Tenditni zlamy zabuttja, / nevydymi dlja oka meži. / Prymchlyva zmoha staty mežy / usich svityl, čyja kutja / ljaha na radiomereži / bez vorottja. / / 272 VII. Ukraine <?page no="273"?> 62 Žadan, Serhij. Bohdan-Ihor. In: Ders.: Pepsi. Virši. Charkiv: Majdan. 1998, S. 36, 38, hier S. 36. für die deutsche Übersetzung von Ursula Kerstan und Oleksandra Koval’ova vgl. ebd. S.-37, 39, hier S.-37. [/ / Zarte Anflüge des Vergessens, / die für das Auge unsichtbaren Grenzen. / Das launische Vermögen zwischen / allen Planeten Platz zu nehmen, / deren Weih‐ nachtsbrei sich [sic] unwiderruflich / auf das Radionetz herabfällt. / / ] 62 . Durch die Gegenüberstellung des bedrückenden postsozialistischen Alltags mit der Maßlosigkeit westlicher Konsumkultur wird ein Moment der Be‐ fremdung erzeugt. Darüber hinaus sind in der metaphorisch dargebrachten Absurdität aber auch deutliche Anklänge an die metalogische Poesie der russischen Futuristen, insbesondere Velimir Chlebnikov, präsent. Chronologie 1914 Die Deklaration Kvero-Futuryzm erscheint in Kiew / Russisches Reich. 1917 Mit der Februarrevolution endet die Zarenherrschaft im Russischen Reich. Im Rahmen der Oktoberrevolution ergreifen die kommunistischen Bolschewiki die Macht. 1917 In der Ukraine erfolgt die erste neuzeitliche Staatsgründung als Ukraini‐ sche Volksrepublik. 1920 Gründung der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik (SSR) und Eingliederung in die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik. 1922 Semenkos Kabelpoema za okean erscheint in Semafor u majbutn’je in Kiew/ Ukrainische SSR. 1922 Die Ausrufung der Ukrainischen Sowjetrepublik, Charkiw in der Ostuk‐ raine wird Hauptstadt der ukrainischen SSR. 1922 Die Proklamation des Panfuturismus in Charkiw/ Ukrainische SSR mar‐ kiert eine ideologische Wende in der Kunst. 1923 Die sowjetische Verwurzelungspolitik (1923-1931) wird in der Ukraini‐ schen SSR ausgerufen. 1925 Die Literarische Diskussion (bis 1928) um die kulturelle Ausrichtung der Ukraine beginnt in der Ukrainischen SSR. 1925 Die Formation Avanhard wird in Charkiw/ Ukrainische SSR gegründet. Chronologie 273 <?page no="274"?> 1926 Kurbas übersiedelt mit dem Theater Berezil’ aus Kiew/ Ukrainische SSR nach Charkiw/ Ukrainische SSR. 1927 Der Almanach Zustrič na perechresnij stanciji erscheint in Kiew/ Ukraini‐ sche SSR. 1927 Die erste Ausgabe der Nova Generacija erscheint in Charkiw/ Ukrainische SSR. 1928 Erster Fünfjahresplan sowie Industrialisierungsprogramme in der Ukra‐ inischen SSR sowie der gesamten Sowjetunion. 1928 Jermilov stellt das im Jahr zuvor entstandene grafische Konzept 10 Jahre Sowjetmacht in der Ukraine auf der Pressa in Köln/ Weimarer Republik aus. 1929 Die Proklamation Spiralizm - Spiralismus erscheint in Charkiw/ Ukraini‐ sche SSR. 1930 Oleksandr Dovženkos Film Zemlja wird in Kiew/ Ukrainische SSR ur‐ aufgeführt und wenige Tage darauf von den sowjetischen Behörden zensuriert. 1932 Verbot der Avantgarden. Der Sozialistische Realismus wird in der Sowjet‐ union zur einzig gültigen Kunstform erklärt. 1937 Zahlreiche Vertreter der ukrainischen Avantgarde - darunter auch Se‐ menko, Poliščuk, Kurbas und Škurupij - werden in der Sowjetunion im Rahmen des Großen Terrors hingerichtet. 1967 In Odessa/ Ukrainische SSR findet das erste neoavantgardistische Happe‐ ning der Ukraine statt. 1985 Die westukrainische Formation Bu-Ba-Bu wird in L’viv/ Ukrainische SSR gegründet. 1998 Serhij Žadans Gedichtzyklus Pepsi erscheint in Charkiw/ Ukraine. 1998 Die Kleine Enzyklopädie der aktuellen ukrainischen Literatur (MUEAL) erscheint in L’viv/ Ukraine. 274 VII. Ukraine <?page no="275"?> VIII. Ungarn Károly Kókai 1. Überblick Die ungarische Avantgarde war eine deutlich sichtbare und klar struktu‐ rierte Bewegung. Sie brachte Werke hervor, die seither Eingang in den Kanon der Literaturgeschichte fanden oder in Museen hängen. Sie äußerte sich zu kulturell und kulturpolitisch brisanten Fragen und war laut genug, um sich Gehör zu verschaffen. Sowohl zur Zeit der klassischen als auch zur Zeit der Neo-Avantgarde war eine stilistische Vielfalt zu beobachten, avantgardistische Gruppen formierten sich, Zeitschriften wurden gegrün‐ det. Die wissenschaftliche Aufarbeitung der ungarischen Avantgarde ist äußerst uneinheitlich. Zu einigen Avantgardekünstlern gibt es reichlich Literatur, viele hingegen werden lediglich „erwähnt“, wobei das wissen‐ schaftliche Interesse nicht ausschließlich mit der künstlerischen Bedeutung der besprochenen und nichtbesprochenen Künstlern begründet werden kann. Was einzelne Genres, Stilrichtungen, Perioden, Zeitschriften, Grup‐ pen betrifft, ist die Lage der Aufarbeitung respektive Diskussion ebenfalls in einem Ausmaß uneinheitlich, dass beim Studium der Sekundärliteratur zwangsweise nur ein verzerrtes Bild entstehen kann. Das zweite Problem ist, dass die wissenschaftliche Arbeit genauso wie die Avantgarde selbst, in mehrere Phasen einzuteilen ist. Es gibt zahlreiche wissenschaftliche Werke von den Avantgardisten selbst. Es gibt ausgesprochen polemische Texte von Zeitgenossen, durchaus auch mit wissenschaftlichem Anspruch. Und es gibt die langen Jahrzehnte der Dominanz der staatssozialistischen Kulturpolitik in Ungarn, während der eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der klassischen Avantgarde zwar möglich, aber durch Zensur, Sebstzen‐ sur und ideologisch bedingt durch falsche Kategorien, Bewertungen und Entwicklungsgesetzmäßigkeiten entstellt war. Eine seriöse Diskussion der Neoavantgarde der Zeit fand überhaupt nicht statt. Seit 1989 gibt es leider immer noch keine systematische Auseinandersetzung mit der Avantgarde. <?page no="276"?> 1 Vgl. die Überblickdarstellungen: Forgács, Éva. Hungarian Art. Confrontation and Revi‐ val in the Modern Movement. Los Angeles: DopppelHouse Press. 2016, eine Sammlung von Aufsätzen u. a. auch über die Avantgarde des gesamten 20. Jahrhunderts. Mehrere englischsprachige Werke diskutieren die osteuropäischen Avantgarden innerhalb der Moderne, so Mansbach, Steven (ed.). Modern Art in Eastern Europe From the Baltic to the Balkans ca. 1890-1939. Cambridge University Press. 1999 und Benson, Timothy (ed.). Central-European Avant-Gardes. Exchange and Transformation 1910-1930. Cam‐ bridge / London: MIT Press. 2002. Es sind aber erfreulicherweise zahlreiche, jedoch auf Einzelaspekte redu‐ zierte Untersuchungen entstanden. 1 Sowohl der Anfang als auch das Ende der ungarischen Avantgarde lässt sich eindeutig angeben. Beide Grenzen fallen mit historischen Zäsuren zusammen, was die Verknüpfung dieser Avantgarde mit entscheidenden politischen Entwicklungen deutlich macht. Aufgetreten ist die Avantgarde 1915, mitten im Ersten Weltkrieg mit dem Erscheinen der Zeitschrift A Tett (Die Tat). Zu Ende ging die Bewegung 1989. Um diese Zeit ist die Zeitschrift Magyar Műhely (Ungarisches Atelier) aus Paris nach Budapest übersiedelt. Diese Übersiedlung markiert die Änderung nicht nur des kulturellen, son‐ dern auch des politischen und gesellschaftlichen Umfeldes. Mit 1989 änderte sich die ungarische Neoavantgarde. Was ihr bis dahin eine Innovationskraft verlieh, schien nun verschwunden zu sein. Die ungarische Avantgarde lässt sich in zwei Perioden einteilen, in die der klassischen und in die der Neo-Avantgarde. Spezifisch für beide Perioden ist, dass wesentliche Entwicklungen sich außerhalb Ungarns abspielten, wobei das jeweilige konkrete Umfeld vielfach Form und Inhalt der Produktion mitbestimmte. Ein Teil der Avantgardisten emigrierte 1919, vor allem nach Wien. Die Avantgardisten gaben Zeitschriften heraus, entwickelten eine spezifische Version des internationalen Konstruktivismus, organisierten Matineen, produzierten Gedichte. Avantgarde gab es aber auch in Ungarn. Es gab auch Avantgarde-Gruppen bzw. Avantgardisten unter der ungarischen Minderheit in der Slowakei, in Jugoslawien und in Rumänien. Zwischen 1945 und 1948 gab es eine kurze Periode, als der Krieg vorbei, aber die stalinistische Kultur noch nicht voll entfaltet war. Hier ist insbesondere das Erscheinen einer spezifischen Version des Surrealismus hervorzuheben. Spezifisch ist sie in dem Sinne, dass sie spät (und so auch mit einer Geste des Nachholens, des Wiederanschließens an „europäische Bewegungen“) sowie mit z. B. Volkskunstelementen versetzt war. Die ungarische Neoavantgarde fing Mitte der 1960er Jahre an. Wichtige Vertreter sind Tamás Szentjóby, Ti‐ 276 VIII. Ungarn <?page no="277"?> bor Hajas und Miklós Erdély. Merkwürdigerweise fingen alle drei als Dichter an, berühmt wurden sie aber als bildende Künstler. Die Neoavantgardisten in Ungarn waren in den Medien Literatur, Film, Performance in diversen Formaten wie Happening, Aktion und Theater, weiters Musik, bildende Kunst, sowie in spezifischen Avantgardemedien wie Bildgedicht produktiv. Für die Periode der Neoavantgarde ist die Emigration 1956 wichtig sowie die ungarischen Minderheiten in Nachbarländern. Die ungarische Avantgarde spielte sich in dieser Zeitperiode nämlich auch vielfach außerhalb Ungarns ab, so insbesondere um die Zeitschrift Magyar Műhely in Paris und Új Symposion (Neues Symposion) in Novi Sad. Wesentlich für die Avantgardeszene ist das politische Umfeld. Die Avant‐ gardisten hatten sowohl in der Periode der klassischen als auch in der der Neo-Avantgarde sowie in der Übergangszeit nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges Schwierigkeiten mit der offiziellen Kulturpolitik. Sie mussten emigrieren (Ma-Gruppe 1919, Szentjóby 1975 und die Wohnungstheater- Gruppe 1976), sie waren Verfolgungen und Repressalien ausgesetzt. Das formte ihre Werke, die als ephemer, provokativ, billig und sichtbar politisch motiviert erscheinen. Zugleich öffneten sich für die Avantgardisten in all diesen Perioden auch Nischen, die diese teilweise und zeitweise nutzten: In den 1920er Jahren akzeptierten etwa aus dem Ma-Kreis Béla Uitz, Sándor Barta und János Mácza Vorgaben der Parteilinie, in den 1970er Jahren boten die von den jeweiligen Kommunistischen Jugendorganisationen betriebenen Fiatal Művészek Klubja (Club Junger Künstler) in Budapest und Tribina mladih ( Jugendtribüne) in Novi Sad jeweils auch Platz für die Neoavantgarde, was diese akzeptierte. Teil dieses widersprüchlichen Verhältnisses zur Macht ist auch, dass das Ende der politischen Repressalien, die Wende 1989, auch den Zeitpunkt bedeutet, als die Neoavantgarde ihre Kraft verlor. 1. Überblick 277 <?page no="278"?> 2 Der erste, der sich umfassend mit der ungarischen Avantgarde beschäftigte, ist der in Novi Sad arbeitende Imre Bori mit den Bänden A szecessziótól a dadáig. Újvidék: Forum. 1969, A szürrealizmus ideje. Újvidék: Forum. 1970, Az avantgarde apostolai (Füst Milán és Kassák Lajos). Újvidék: Forum. 1971. Bori ist Mitautor des Bandes Kassák irodalma és festészete. Budapest: Magvető. 1967. Verantwortlich für den kunsthistorischen Teil war Éva Körner. Pál Deréky publizierte über die ungarische Avantgardeliteratur Überblickdarstellungen, Sammelbände sowie eine rezeptionsgeschichtliche Untersu‐ chung, so Ungarische Avantgarde-Dichtung in Wien 1920-1926. Ihre zeitgenössische literaturkritische Rezeption in Ungarn sowie in der ungarischen Presse Österreichs, Rumäniens, Jugoslawiens und der Tschechoslowakei. Wien: Böhlau. 1991, Lesebuch der ungarischen Avantgardeliteratur 1915-1930. Wien: Böhlau. 1996, „Latabagomár ó talatta latabagomár és finfi“. A XX. század eleji magyar avantgárd irodalom. Debrecen: Kossuth Egyetemi Kiadó. 1998. Krisztina Passuths Treffpunkte der Avantgarde in Ost‐ mitteleuropa 1907-1930. Dresden: Verlag der Kunst. 2003 vertritt eine Netzwerkthese, wonach die Wirkungstätten der ungarischen Avantgarde, so Budapest, Wien, Berlin oder Weimar als Knoten in einer virtuellen Struktur funktionierten. 3 Lajos Kassák veröffentlichte seine Erinnerungen unter dem Titel Egy ember élete zwischen 1924 und 1933 in der Zeitschrift Nyugat, die inzwischen auch in Buchform publiziert wurden. Der Ausstellungskatalog Marianne Gergely et al. Kassák Lajos 1887-1967. Budapest: Magyar Nemzeti Galéria. 1987 gibt einen Überblick über Kassáks bildnerisches Schaffen. Ferenc Csaplár gründete 1976 das Kassák Múzeum in Budapest, das er bis 2007 leitete und publizierte viel zu Kassák und die ungarische Avantgarde. Das Kassák Múzeum (http: / / www.kassakmuzeum.hu/ ) ist bis heute eine wichtige Werkstatt der Avantgardeforschung. Die zentrale Figur der ungarischen Avantgarde der klassischen Periode 2 ist Lajos Kassák. 3 Um ihn formierte sich die Avantgarde in Budapest. Die erste Nummer der Zweiwochenschrift A Tett erschien am 1. November 1915, herausgegeben von Kassák. In ihr meldete sich die „neue Literatur“. Gedruckt wurden vor allem Werke von ungarischen Autoren wie Kassák, Mátyás György, Tivadar Raith, Aladár Komját, aber auch von Autoren wie Guillaume Apollinaire (in Nr. 1) und René Arcos (in Nr. 3). Die Behauptung, dass A Tett deshalb verboten wurde, weil sie in ihrer 16. Nummer Texte von den Kriegsfeinden, wie z. B. Autoren aus Frankreich brachte, stimmt also nicht ganz, da dies die Zeitschrift von Anfang an und wiederholt tat. Nach dem Verbot erschien ab Oktober 1916 wieder von Kassák herausge‐ geben die Zeitschrift Ma (Gegenwart). Ma wurde 1916-1919 in Budapest und 1920-1925 in Wien publiziert. Die zehn Jahrgänge der Zeitschrift zeugen von der Entwicklung der ungarischen Avantgarde und von ihrer internationalen Vernetzung. Ma war nicht alleine eine Zeitschrift, sondern betreute Buchreihen, organisierte Ausstellungen und Matineen. Auf den Matineen traten die Autoren der Zeitschrift auf, Kassák hielt regelmäßig Einführungen. Die Veranstaltungsreihe wurde auch in Wien fortgesetzt, 278 VIII. Ungarn <?page no="279"?> 4 Vgl. Csaplár, Ferenc. Kassákné Simon Jolán. Budapest: Kassák Múzeum. 2003, sowie Földes, Györgyi. „A pódium akrobatája.“ Simon Jolán előadóművészete. In: Literatura 2018.1, S.-77-90. die erste fand am 20. November 1920 in den Räumlichkeiten der Freien Bewegung statt, die letzte am 22. März 1925 im Schwarzwaldsaal. Der letzte Vortragsabend in der Emigration wurde nicht in Wien, sondern am 14. Juni 1926 in Paris in den Räumlichkeiten der Societé des Savants veranstaltet. Ausstellungen fanden genauso regelmäßig statt, und zwar ebenfalls sowohl in Budapest als auch in Wien. Kassák organisierte die Avantgarde also entsprechend der Medienvielfalt in diversen Formaten. Außer A Tett und Ma gab es eine Reihe von weiteren Zeitschriften, und zwar sowohl in Budapest als auch in Wien sowie in diversen Pro‐ vinzstädten in den nach dem Ersten Weltkrieg abgetrennten ehemaligen ungarischen Landesteilen. Und die ungarischen Avantgardisten haben auch in verschiedenen weiteren internationalen Zeitschriften veröffentlicht, so beispielsweise in Herwart Waldens Der Sturm in Berlin. Kassák war also der wichtigste Organisator der ungarischen Avantgarde. Er gab Zeitschriften heraus, war als Schriftsteller und als bildender Künstler tätig, vor allem als Maler und Grafiker, aber auch im Bereich angewandter Kunst, so insbesondere als Typograph. Die ungarische Avantgarde rezipierte den Futurismus. So publizierte Kassák in A Tett Nr. 2 die Novelle Carlo D. Carrà Anarchista temetés című képe alá (Zu Carlo D. Carras Anarchistenbegräbnis). Stilistisch sind auch einige Anlehnungen zu beobachten. Vor allem war der Futurismus aber als Bewegung wichtig. Das Brechen mit dem Alten und Traditionellen, das von außen als übertrieben wahrgenommene Vertrauen in die eigenen Kräfte und Fähigkeiten, das direkte politische Anliegen - wobei die un‐ garischen Avantgardisten keine Anhänger des rechten, nationalistischen und protofaschistischen Lagers, sondern im Gegensatz zu den italienischen Futuristen dezidiert Linke waren -, das Interesse an Formexperimenten war entweder unter starkem Einfluss von futuristischen Vorbildern entwickelt oder zumindest durch diese verstärkt worden. Die nächsten zwei Avantgardebewegungen, Dada und Konstruktivismus, erschienen etwa gleichzeitig im Herbst 1920 im Blickfeld der ungarischen Avantgardisten. Das Programm der sogenannten Ersten Wiener Ma-Mati‐ nee am 20. November 1920 beinhaltete unter anderem Texte von Richard Huelsenbeck und Kurt Schwitters, vorgetragen von Jolán Simon. 4 In der 1. Überblick 279 <?page no="280"?> Ausgabe von Ma vom 1. Januar 1921 wurde das Programm des Abends sowie einige Texte von und über Kurt Schwitters nachträglich gedruckt. Offenbar erreichte Dada also Ma erst durch Deutschland und nach dem Ersten Weltkrieg und nicht in seiner ersten, Zürcher Version. Dementsprechend war der ungarische Dada ernster, politischer und hoffnungsloser als die sich als Befreiung zelebrierende erste, Zürcher Welle. Auf der Matinee am 20. November 1920 hat Sándor Barta sein Poem A zöldfejű ember (Der Mann mit dem grünen Kopf) vorgetragen, das bereits einige Züge von Dada aufweist. Das Poem wurde am 1. Januar 1921 ebenfalls in Ma abgedruckt. Sein Titel lautet im vollen Wortlaut: „Der Mann mit dem grünen Kopf oder das Manifest einer aktiven Leiche zu den Kutschenpferden und zu den Aufzügen oder zu allen Lungenkranken der Welt oder verehrte Menschheit oder die Tiefe alles Glaubens ist gleich die Summe der Schwerkräfte oder Sándor Barta oder 1920.“ Bartas Interesse an Dada war nachhaltig, wie einige Texte aus den nächsten Jahren, etwa Tisztelt hullaház. Kiáltványok (Hohes Leichenhaus. Manifeste, 1921) und Az őrültek első összejövetele a szemetesládában (Die erste Versamm‐ lung der Wahnsinnigen in einem Mistkübel, 1922), das bezeugen. Der Konstruktivismus erreichte die Gruppe um Ma das erste Mal nach‐ weislich durch einen Vortrag des russischen Kulturbotschafters Konstantin Umansky am 13. November 1920. Über den Vortrag berichtet Béla Uitz in Ma am 15. Februar 1921. Umansky zeigte projizierte Bilder von Natalia Goncharova, Kasimir Malewitsch, Alexander Rodtschenko und Vladimir Tatlin, las aktuelle sowjetische Gedichte und spielte aktuelle sowjetische Musik. Die Wirkung des Vortrages war groß. Die Ungarn entwickelten eine eigene Version des Konstruktivismus, Bildarchitektur genannt. Zahl‐ reiche Manifeste versuchten die Bedeutung der Bewegung zu formulieren. Bestimmte poetische Lösungen von Kassák können als Versuch gewertet werden, konstruktivistische Literatur zu schreiben. Der Surrealismus erschien in Texten von Tibor Déry. Déry verfasste in seiner Wiener Emigration 1921-1922 das illustrierte Poem Ámokfutó (Amokläufer) noch in dadaistischer Manier. Er wechselte dann in seinem in Peruggia geschriebenen Theaterstück Oriáscsecsemő (Riesenbaby, 1926) und mit seinem in Budapest geschriebenen „Märchen“ Ébredjetek fel (Auf‐ wachen! , 1928) zum Surrealismus. Für die ungarische Avantgarde ist von diesen vier Bewegungen der Konstruktivismus die bedeutendste. Er entstand in den 1910er Jahren in 280 VIII. Ungarn <?page no="281"?> 5 Palasovszky, Ödön. A lényegretörő színház. Budapest: Szépirodalmi. 1980 enthält den Neuabdruck von zahlreichen Texten des Autors, siehe auch: Jákfalvi, Magdolna. A magyar avantgárd színház története 1920-1949. In: Gajdó, Tamás (Red.). A magyar színház története 1920-1949. Budapest: Magyar Könyvklub. 2005, S.-855-920. Russland und ist, als wichtigstes Charakteristikum, geprägt durch die Idee der Konstruktion, also des Zusammenbaus. Was gebaut werden soll, ist eine neue Welt. Charakteristisch für den Konstruktivismus ist, dass aus einfachen Elementen konstruiert werden soll, mit einfachen Materialien gearbeitet wird und dass der Prozess, die Struktur des Konstruierens sichtbar bleibt. So etwa in Kassáks Bildarchitektur, von der die erste am Cover des Magazin Ma am 15. März 1921 gedruckt wurde. Konstruktivistische Kunst produzierten einige andere auch, so László Péri, László Moholy-Nagy, Béla Uitz oder Sándor Bortnyik. Kassák war vom Februar 1920 bis November 1926 in Wien. In Budapest versuchte er nach seiner Rückkehr die Avantgarde fortzusetzen - mit geringem Erfolg. Die Avantgarde war in der ungarischen Kultur nie mehr‐ heitsfähig. Sie war aber zumindest produktiv, und zwar im Hinblick auf die klassische Avantgarde, vor allem in der Emigration in Österreich. In Ungarn gab es zwar ebenfalls einige durchaus bemerkenswerte Versuche, so im Bereich des Theaters und der Musik, dies war aber für Kassák nicht umfassend und originell genug, um sich nach seiner Rückkehr daran produktiv zu beteiligen. Der Theatermacher Ödön Palasovszky 5 betrieb ab Mitte der 1920er Jahre eine Reihe von Bühnenprojekten. In diesen Veranstaltungen experimen‐ tierte Palasovszky mit dem neuen Theater, mit Bewegungskunst und neuer Musik. Es wurden avantgardistische Texte als Vorlagen genommen. Ziel war, das Neue zu zeigen und damit erstens ein neues, proletarisches Publikum anzusprechen und zweitens das alte, bürgerliche Publikum aufzurütteln. So wurden Werke von Tristan Tzara, Vladimir Majakovskij und Kurt Schwitters gezeigt. In den Theateraufführungen von Palasovszky war Musik ein wich‐ tiges Element. So trat im Stück Der neue Orpheus ein Schreibmaschinenor‐ chester auf. Komponisten arbeiteten mit, so im Zöld Szamár szinház (Grüner Esel Theater) Sándor Jemnitz, in der Veranstaltungsreihe Uj föld estek (Neues Land Abende) István Szelényi, Ferenc Szabó und Pál Kadosa. József Kozma war als Komponist eines Géptánc (Maschinentanz, 1928) beteiligt an den Cikk-cakk estek (Zick-Zack Abende). 1. Überblick 281 <?page no="282"?> 6 Die Untersuchungen zur Avantgarde der Übergangsjahre 1945-1948 sind rar. Imre József Balázs Az Európai Iskola művészcsoport értelmiségi modelljei és kapcsolatháló‐ zata. In: Biró, Annamária et al. (Red.). Értelmiségi karriertörténetek, kapcsolathálók, írócsoportosulások. Nagyvárad / Budapest: Partium Kiadó / reciti, 2014, S. 269-282, Bálint, Bán, Mezei. Az 1947-es nemzetközi szürrealista kiállítás néhány magyar vonat‐ kozásáról. In: Műhely. 2014.3, S. 12-21 sowie Francia álombeszéd Budapestről. Marcel Jean Mnésiques című könyve. In: Balázs Imre József (Red.). Kortárs magyar kisebbségi irodalmak. Kolozsvár: Egyetemi Műhely Kiadó. 2013, S.-152-164. József Kozma, István Szelényi, Ferenc Szabó, Pál Kadosa gründeten mit Hugo Kelen 1927 den Modern Magyar Muzsikusok Szabad Egyesülete (Freier Verein der Modernen Ungarischen Musiker), der auch avantgardistische Musik aufführte. Nach dem Zweiten Weltkrieg schien in Ungarn im allgemeinen Aufbruch die moderne Kunst und als deren Teil auch die Avantgarde neue Möglichkei‐ ten zu bekommen. 6 Es formierten sich Gruppen wie die Európai Iskola (Euro‐ päische Schule) und Elvont Művészek Csoportja (Gruppe abstrakter Künstler), es erschienen theoretische Publikationen wie Forradalom a művészetben. Absztrakció és szürrealizmus Magyarországon (Revolution in der Kunst. Abstraktion und Surrealismus in Ungarn) von Béla Hamvas und Katalin Ke‐ mény, A természet rejtett arca (Das verborgene Gesicht der Natur) von Ernő Kállai sowie Európai Iskola von Pál Kiss, Árpád Mezei und Imre Pán, alle drei 1947. Laut Kállai - Kunstkritiker und -theoretiker, der bis Mitte der 1930er Jahre in Deutschland lebte und u.a Mitarbeiter des Bauhaus-Magazins war - zeigt die abstrakte und die surrealistische Kunst das verborgene Gesicht der Natur. Mezei pflegte Kontakt zu Marcel Jean, der die Jahre 1938-1945 in Budapest verbrachte und zum Kreis der französischen Surrealisten gehörte. Hamvas galt mit seinen - teilweise esoterischen - philosophischen Arbeiten als ein wichtiger Repräsentant eines authentischen und originellen ungari‐ schen Denkens, was insbesondere nach der stalinistischen Machtübernahme 1948 einen eminenten symbolischen Wert bekam. Der Titel Revolution in der Kunst versucht zwar an ein zentrales Schlagwort der kommunistischen Bewegung anzuknüpfen, das damit repräsentierte Argument war aber für die stalinistischen Kulturpolitiker Ungarns, so für den Exavantgardisten József Révai, undiskutabel, da es die Autonomie der Kunst betonte. 1947 war aber das einzig Mögliche, die bedingungslose Unterordnung unter die gerade aktuelle Parteidoktrin. Zwischen 1945-1948 wurde an die surrealistische Tradition in der unga‐ rischen Kultur, so an die von Lajos Vajda (gestorben 1941) und Imre Ámos 282 VIII. Ungarn <?page no="283"?> 7 Dalos, Anna. Kurtág, az elemezhetetlen. Analitikus utak az első, avantgárd korszak értelmezéséhez (1957-1962). In: Magyar Zene. 2012.1, S. 91-107 beschäftigt sich mit dem Werk von Kurtág unter dem Gesichtspunkt der Avantgarde. Emese Kürti veröffent‐ lichte eine ganze Reihe von grundlegenden Werken zur ungarischen Neoavantgarde, so Glissando és húrtépés. Kortárs zene és neoavantgárd művészet az underground magánterekben 1958-1970. Budapest: L’Harmattan. 2018. (gestorben 1944) in der Kunst angeknüpft. Surrealismus erschien in Ungarn allerdings nie in Form einer Gruppe, vielmehr übernahmen zahlreiche bildende Künstler und Schriftsteller Elemente von ihm, so Vajda und Ámos das Traumhafte und Visionäre. Freie Assoziation, auf die Methoden der Psychoanalyse zurückgreifende Kreativität, Automatismus, der Rückgriff auf Mythen der Volkskultur, das Bestreben, eine andere Realität zu schaffen, war in zahlreichen Werken einer Reihe von Literaten bestimmend - so bei Attila József in der Zwischenkriegszeit oder bei László Nagy (gestorben 1978) und Ferenc Juhász (gestorben 2015) zur Zeit der Neoavantgarde in den 1960er und 1970er Jahren, um auch zwei angesehene und staatskonforme Dichter der staatssozialistischen Periode hier zu erwähnen. Surrealismus bildet auch insofern ein Verbindungselement zwischen der klassischen und der Neo-Avantgarde, als dass er erst nach 1969, dem Tod des Gründers André Breton, auslief, und somit zeitlich weit in die Periode der Neoavantgarde produktiv wirksam blieb. György Kurtág 7 lernte die Neue Musik während eines einjährigen Fran‐ kreichaufenthaltes 1957, in Köln 1958 beim Besuch seines ehemaligen Budapester Studentenkollegen György Ligeti und ab 1961 bei privaten Musikabenden von László Végh in Budapest kennen. Gleich im ersten Jahr wurde bei Végh Kurtágs Streichquartett Op. 1, ein Zwölftonmusikstück aus 1959 auch gespielt - Kurtág fing nämlich die Nummerierung seiner Kom‐ positionen nach seinen Auslandserfahrungen neu an. Streichquartett Op. 1 ist mit seinem gestischen Charakter, seiner Sprachhaftigkeit, Aleatorik (im dritten Satz), außermusikalischen Kompositionsprinzipien (die ersten acht Takte sind nicht etwa durch eine Melodie, sondern durch größtmögliche musikalische Abweichungen bestimmt) nahe zu dem, was wir Avantgarde‐ musik nennen. Neue Musik wurde in Ungarn bald institutionalisiert. 1970 wurde die Gruppe Új Zenei Stúdió (Studio Neuer Musik) gegründet, die ungarische und internationale Neue Musik aufführte. Diese Kreise prägten das Milieu, in dem sich die ungarischen Neoavantgardisten trafen und aktuelle kulturelle Entwicklungen diskutierten. So war Tamás Szentjóby regelmäßiger Besucher der Veranstaltungen von Végh. 1. Überblick 283 <?page no="284"?> 8 Kappanyos, András. Tánc az élen: Ötletek az avantgárdról. Budapest: Balassi. 2008 sowie Deréky, Pál / Müllner, András (Hrsg.). Né/ Ma? Tanulmányok a magyar neoavantgárd köréből. Budapest: Ráció. 2004enthalten eine Reihe von wichtigen Texten zur ungari‐ schen Avantgarde. Galántai, György / Klaniczay, Julia (eds.). Artpool. The Experimental Art Archive of East-Central Europe. History of an active archive for producing, networking, curating, and researching art since 1970. Budapest: Artpool Art Research Center. 2013 konzentrieren sich auf einen wichtigen Ausstellungsort (Kapelle von Balatonboglár) sowie auf ein Dokumentationszentrum der Neoavantgarde. 9 Halász, Péter. Gázóra. Budapest: Noran. 2003 enthält Texte von Halász. Neue Musik war in vieler Hinsicht ein wichtiger Bezugspunkt der Neo‐ avantgarde. 8 Das Experimentieren, die Verwendung von nichtmusikalischen Materialien - in Hinblick auf den musikalischen Stoff wie auf die Instru‐ mente - und ihre internationale Vernetzung inspirierten die Avantgardisten. So war das jährlich stattfindende Warszawska Jesień (Warschauer Herbst, ab 1956) ein wichtiger Treffpunkt, wo Komponisten und Publikum von beiden Seiten des Eisernen Vorhanges einander begegnen konnten. Das Wohnungstheater von Péter Halász 9 war eine der vielen Theaterkol‐ lektive der 1960er und 1970er Jahre. Halász selbst spielte in der Gruppe Universitas mit (1961 gegründet, war eine Institution der Universität ELTE in Budapest, stand also unter staatlicher Schirmherrschaft) und gründete sein eigenes Theater erst um 1970. Avantgardistische Theaterexperimente hatten in Ungarn schon eine längere Tradition. So beschäftigte sich János Mácza damit, und zwar theoretisch in einer Reihe von Publikationen in Ma, als auch praktisch, indem er Anfang der 1920er Jahre in Košice politisches Straßentheater organisierte. Jolán Simons Vortragspraxis gehört genauso in diesen Zusammenhang, wie Palasovszkys Bühnenprojekte. Halász ließ sich auch von internationalen Beispielen inspirieren, etwa durch polnische Theaterexperimente ( Jerzy Grotowskis Teatr Laboratorium ist dabei der berühmteste Fall) (→ Kapitel IV). Ein für ungarische Kulturschaffende eben‐ falls zugänglicher internationaler Treffpunkt bildete das jugoslawische Bitef (Beogradski Internacionalni Teatarski Festival). Die Radikalität von Halász’ Gruppe wuchs allerdings vor allem im Gefolge des inneren Widerstands in Ungarn. Als der Truppe ihre Lizenz entzogen wurde, funktionierte sie sich in ein Wohnungstheater um, was nicht nur die Aufführungspraxis bezeich‐ nete, sondern auch ein Hinweis auf die Lebensform (die Mitglieder waren teilweise tatsächlich Partner, so Péter Halász und Anna Koós, István Bálint und Marianne Kollár) sowie auch die Verschmelzung von Kunst und Leben war. Die Gruppe arbeitete teilweise mit klassischen literarischen Texten, 284 VIII. Ungarn <?page no="285"?> 10 Knoll, Hans (Hrsg.). Die zweite Öffentlichkeit. Kunst in Ungarn im 20. Jahrhundert. Dresden: Verlag der Kunst. 1999 vertritt die These der „zweiten Öffentlichkeit“, sogar auf das gesamte 20.-Jahrhundert ausgedehnt. 11 Müllner, András. Tükör a sötétséghez. Erdély Miklós Kollapszus orv. című kötetéről. Budapest: Ráció. 2016 ist eine gute Einführung in das literarische Werk von Erdély. Siehe auch Hornyik, Sándor (Red.). Kreativitási gyakorlatok, FAFEJ, INDIGO. Erdély Miklós művésztpedagógiai tevékenysége 1975-1986. Budapest: Gondolat. 2008. Wegen wesentlich war aber die Aufführungssituation, die Aneinanderreihung von aktionistischen Elementen, die improvisatorische Praxis, die Beteiligung des Publikums. In der kulturgeschichtlichen Literatur hat sich für die 1960er-1980er Jahre der Ausdruck „zweite Öffentlichkeit“ eingebürgert. 10 Sie soll die nichtstaatli‐ che Kultur bezeichnen. Das Problem mit diesem Ausdruck allerdings ist, dass das, worauf er sich bezieht weder „zweite“ noch „öffentlich“ war. Der Staats‐ sozialismus funktioniert ab den 1960er Jahren nämlich flächendeckend und duldete keine Existenz von Sonderbereichen. Höhere Bildung konnten ausschließlich die bekommen, die sich der durch die Kommunistische Partei verordneten Indoktrinierung unterzogen haben - und zwar während der gesamten Ausbildung und dementsprechend gründlich. So waren nicht nur der Klub Junger Künstler ein Veranstaltungsort des KISz (Kommunista Ifjúsági Szövetség, also Kommunistischer Jugendverband), sondern auch die Räume des Architektenbüros Iparterv, in denen wichtige avantgardistische Veranstaltungen stattfanden. Das Studio Neuer Musik wurde ebenfalls vom KISz organisiert. Auszusteigen war lediglich in dem Sinne möglich, dass man die Gefolgschaft verweigerte, „sich ins Private zurückzog“ und anderen die Bühne überließ. Es gab also nur eine Öffentlichkeit. Und zweitens: Die Zirkel, in denen die „alternative Kultur“ derer gedeihte, die höhere Bildung genossen, die an Informationen über internationale Entwicklungen herankamen, indem sie etwa ins westliche Ausland reisen konnten, waren nicht „öffentlich“. Zugang erhielten ausschließlich diejenigen, die zum engen Kreis der Freunde und Bekannten gehörten, und so über die gele‐ gentlichen Lesungen oder Ausstellungen informiert wurden. Das bestimmte natürlich die entstandenen Werke. Sie waren Konzeptkunst (Ideen konnte die Polizei schwer als Beweis gegen einen beschlagnahmen), billig, ephemer, enigmatisch, oft genug witzig und ironisch, und genauso oft selbstdestruktiv und brisant. Unter den Neo-Avantgardisten zeigte Miklós Erdélys Tätigkeit 11 am klarsten an, wie man zwischen Erlaubtem und Nichterlaubtem oszillierend, 1. Überblick 285 <?page no="286"?> der Streitigkeiten um die Rechte des Nachlasses von Erdély ist allerdings eine seriöse Diskussion seines Werkes nicht vorhanden. 12 St. Turba, Tamás. FIKA - Fiatal Művészek Klubja. Interjú St. Auby Tamással, 2006. Budapest: Ludwig Muzeum. 2013 ist ein authentischer Überblick über die Arbeit von Szentjóby. die Nischen des Staatssozialismus nützend, erfolgreich und zugleich für die Vertreter der nichtoffiziellen Kultur, der sogenannten „zweiten Öffent‐ lichkeit“, der ungarischen Neoavantgardisten im In- und Ausland glaub‐ würdig erscheinen kann. Erdély war nicht nur produktiv, anerkannt und erfolgreich, sondern es gelang ihm auch, zu einer legendären Gestalt zu werden. So kursiert in der Sekundärliteratur die Meinung, Erdély wäre ein Mitorganisator des ersten Happenings von Ungarn gewesen und dieses hätte im Keller seines Hauses stattgefunden. Eine andere Legende ist, Erdély hätte an der ersten Neoavantgarde-Ausstellung Iparterv I (benannt nach dem Ausstellungsort) 1968 teilgenommen - in Wahrheit waren an Iparterv I stilistische Richtungen wie Pop Art, Hard Edge und Nouveau Réalisme, also Variationen aktueller und etablierter westeuropäischer Kunst vertreten, nicht aber die Neoavantgarde; außerdem war Erdély nicht unter den ausstellenden Künstlern. Erdély selbst ist jedoch mit all dem zu einem neoavantgardistischen Kunstwerk geworden. Tamás Szentjóby 12 organisierte zusammen mit Gábor Altorjay 1966 Az ebéd in memoriam Batu kán (Mittagessen in memoriam Batu Khan) in Budapest, 1968 zusammen mit Katalin Ladik und Miklós Erdély UFO találka (UFO-Treffen) in Szentendre. 1975 wird sein Film Kentaur fertig. Sein Hűlő víz (Abkühlendes Wasser, die Idee soll aus 1965 stammen) wurde 1969 an der Iparterv II Ausstellung gezeigt. Es besteht aus warmem Wasser in einem Glasbehälter. Während der Ausstellung hat der Künstler das abgekühlte Wasser wiederholt durch warmes ausgetauscht, damit es, dem Konzept entsprechend, abkühlen kann. Csehszlovák rádió (Tschechoslowakisches Radio 1968) besteht aus einem auf seine lange Kante gestellten Ziegelstein, der mit einem Schwefelstreifen umwickelt ist. Das Werk verweist auf die Niederschlagung des Prager Frühlings - unter den einmarschierenden Truppen des Warschauer Pakts waren auch ungarische. In der Tschecho‐ slowakei wurde im Sommer 1968 das Radiohören verboten. Als Protest haben einige in Zeitungspapier gewickelte Ziegelsteine auf den Straßen an ihre Ohren gehalten, die von den Soldaten beschlagnahmt wurden. Szentjoby betrachtet Tschechoslowakisches Radio als multipel, ein Kunstwerk also, aus dem mehrere Exemplare hergestellt werden können, die sogar je 286 VIII. Ungarn <?page no="287"?> 13 László Beke ist seit den 1960er Jahren als Theoretiker aktiver Teilnehmer der Neoavant‐ garde-Diskussionen, er ist u. a. Herausgeber von mehreren Bänden über das Werk von Hajas, so Hajas Tibor 1946-1980. Paris: magyar műhely. 1985 und Képkorbácsolás. Hajas Tibor Vető Jánossal készített fotómunkái. Budapest: MTA Művészettörténeti Kutatóintézet. 2004. 14 Pál Nagys Autobiographie erschien unter dem Titel Journal in-time 2002, siehe auch: Kékesi, Zoltán. Médiumok keveredése. Nagy Pál műveiről. Budapest: Ráció. 2003. 15 Zu den konstruktivistischen Arbeiten der Neoavantgarde-Künstler Gáyor und Megyik siehe Mauer, Dóra (Red.). Parallele Lebenswerke Maurer Gáyor. Győr: Városi Művészeti Múzeum. 2002 und Imre, Györgyi (Red.). Megyik János. A kép tere. Budapest: Ludwig Múzeum. 2012. nach Ausführung auch individuell voneinander leicht abweichen können. Szentjóby kann mit seinem multimedialen Werk, politischem Radikalismus und Originalität als Schlüsselfigur der ungarischen Neoavantgarde gelten. Tibor Hajas 13 fing genauso wie Erdély und Szentjóby als Dichter an. Einige seiner Texte wurden an öffentlichen Orten „aufgeführt“, so auf eine Mauer geschrieben. Die Texte selbst setzten sich mit der Schreibsituation auseinander und machten diese so zu politischen Demonstrationen. Zentrale Werke von Hajas sind elf Performances, die er zwischen 1978 und 1980 veranstaltete, so Engesztelés (Versöhnung, 1978) und Virrasztás (Wache, 1980). Hajas ließ sich dazu an einem Seil aufhängen oder sich mitten in einer Pfütze, in der unter anderem ein unter Strom stehendes elektrisches Kabel herumlag, eine Droge verabreichen. Diese Performances gingen jeweils an die Grenzen des körperlich Zumutbaren, führten damit die Zuschauer in eine Extremsituation und zeigten auch auf das direkt Politische hin, dass nämlich der Moment einmalig und aufgeladen ist; es liegt an jedem Einzelnen, das wahrzunehmen oder in die Lethargie zurückfallend abzuleugnen. Hajas’ Werk, entstand zwischen 1969 und 1980, besteht aus literarischen Texten in‐ klusive der Beschreibung von durchgeführten und geplanten Aktionen und Performances, Fotodokumentationen seiner teilweise nur für die Kamera durchgeführten Aktionen, Bildtableaus. Neben den in Ungarn aktiven bildeten zahlreiche in Westeuropa lebende Künstler und Schriftsteller die ungarische Neoavantgarde mit. Pál Nagy 14 emigrierte 1956 nach Frankreich, Alpár Bujdosó 1956 nach Österreich, genauso wie János Megyik und Tibor Gáyor. 15 Csaba Tubák emigrierte 1968 ebenfalls nach Österreich. Gemeinsam ist ihnen allen, dass sie sich erst im Ausland für die Avantgarde zu interessieren begannen. Pál Nagy gründete 1962 die Zeitschrift Magyar Műhely mit, ein Forum für junge und kulturinteressierte Emigranten. 1971 wurde die Zeitschrift ein 1. Überblick 287 <?page no="288"?> 16 Molnár, Szilvia. Szavak visszavonulóban. Bujdosó Alpár intermediális művészete. Budapest: Ráció. 2012 befasst sich mit dem multimedialen Werk von Bujdosó. 17 Kürti, Emese. Ufo Party. Az Új Symposion folyóirat szerepe a magyarországi neoavant‐ gárdban. In: Tiszatáj. 2018.6, S.-63-70. 18 Ladik, Katalin. Élhetek az arcodon? Budapest: Nyitott Könyvműhely. 2007 ist der erste Teil der Autobiographie der Autorin. Siehe auch: Screaming Hole. Poetry, Sound and Action as Intermedia Practice in the Work of Katalin Ladik. Budapest: acb ResearchLab. 2017. 19 Kürti, Emese. Transregional Discourses. The Bosch+Bosch Group in the Yugoslav and the Hungarian Neo-Avant-garde. Budapest: acb ResearchLab. 2016. Forum für die ungarische Avantgarde und zwar sowohl in der Emigration als auch in Ungarn. So erschienen sowohl Werke von Szentjóby oder Erdély in der Zeitschrift, als auch Besprechungen dazu. Die Herausgeber konnten sogar erreichen, dass die Zeitschrift auch nach Ungarn geliefert wurde. Ab 1972 organisierte der Kreis von Magyar Műhely alternierend Treffen in Frankreich und in Österreich, wo einer der Mitherausgeber, Alpár Bujdosó, 16 lebte. An den Treffen nahmen ungarische Avantgardisten aus der Emigration und auch aus Ungarn teil, wobei auch die offiziellen Abgeordneten der Kulturpolitik Ungarns regelmäßig eingeladen waren. Magyar Műhely schaffte es also, ein Forum der ungarischen Neoavantgarde zu sein - um den Preis der freiwilligen Selbstzensur, indem sie politische Provokationen gegen das staatssozialistische Regime nicht zuließ. Ein weiteres wichtiges Forum der ungarischen Neoavantgarde war ein Kreis um die in Novi Sad erscheinende Zeitschrift Új Symposion. 17 Sie erschien ab 1965, zu ihrem Umfeld gehörten Otto Tolnai, Katalin Ladik 18 und László Végel. Ungarische Avantgardisten waren in Jugoslawien auch in national gemischten und auch mehrsprachigen Gruppen tätig, so Bálint Szombathy und Katalin Ladik in der in Subotica beheimateten Bosch- Bosch. 19 Die ungarische Neoavantgarde arbeitete in einer Vielzahl von Stilen. Das Erbe der konstruktivistischen Tradition findet sich etwa bei János Megyik und Tibor Gáyor. Szentjóby und Altorjay ließen sich zu ihrem ersten Happening durch die Nachricht über ein New Yorker Happening des Sur‐ realisten Salvador Dalí anregen. Erdély und Szentjóby übernahmen formale Elemente des westeuropäischen Fluxus, so etwa deren Materialverwendung, luden diese aber mit einer existenziellen und politischen Bedeutung auf, die im Westen unbekannt war. Hajas adaptierte Techniken aus dem Wiener Aktionismus (vgl. Kapitel 3). Seine Aktionen überstiegen aber das dort erreichte in ihrer Bewusstheit, Reinheit und kollektiven Brisanz. Technische 288 VIII. Ungarn <?page no="289"?> Experimente und die kreative Auseinandersetzung mit neuen Medien war in der ungarischen Neoavantgarde ebenfalls zu beobachten. So schuf Csaba Tubák Ende der 1970er Jahre eine Reihe von computergenerierten Gedich‐ ten. Avantgarde brachte, wie das ungarische Beispiel zeigt, eine ganze Reihe von neuen kulturellen Impulsen. So eröffnete sie neue Wege, bildete einen radikalen, und das heißt bedeutenden Schritt in der kulturellen Entwicklung. Sie zeigte neue Möglichkeiten und Grenzen auf, kreierte ein neues Subjekt - nicht zufällig war die Rede über das Neue: neuer Mensch, neue Musik, neue Literatur. Sie gab vielem, was bis dahin als sinnlos angesehen war, etwa dem Fragment, einen Sinn, was bis dahin wertlos war, etwa der ephemeren und Alltagsmaterie, einen Wert. Sie schaffte neue Bedeutungen, setzte neue Ziele, ermöglichte neue Erfahrungen und fand für sie eine adäquate Sprache, sie entwickelte neue poetologische Methoden, wie die Montage oder Wiederholung als Rhythmisierungsform. Sie wertete den Moment als einmalig auf, machte die Bedeutung von Politik und die politische Verantwortung jedes Einzelnen klar. 2. Manifeste und Programmatisches Die programmatischen Texte der ungarischen Avantgarde sind nicht nur in Manifestform, sondern auch in Formaten wie Gedicht, Interview und Einführung entstanden. Sie sind sowohl mit Blick auf dem Publikationsort als auch hinsichtlich des biographischen Kontextes ein Zeichen dafür, dass es dem Verfasser nicht bloß um Plakativität und um eine Verheißung ging, vielmehr sind die Texte als Teil der Avantgardepraxis oft die Erfüllung dessen, was sie versprechen. Die Zeitschrift A Tett und damit die ungarische Avantgarde erhielt ihr erstes Programm erst Monate nach dem Erscheinen der ersten Nummer. Im Programm vom 20. März 1916 sieht Kassák eine neue Periode aufbrechen. Die Wende bildet der Ausbruch des Großen Krieges, den wir inzwischen als den Ersten Weltkrieg kennen. Nebenbei bemerkt: Merkwürdigerweise sieht Kassák inmitten des Weltkrieges und zwar genau deshalb, weil der Krieg ein Nationalkrieg ist, das Kommen der Vereinigten Staaten von Europa, was bekanntlich tatsächlich als eine Folge eines - zwar erst des zweiten und nicht des ersten - Weltkrieges aus einer Kohle- und Stahlunion hervorgegangen ist und heute Europäische Union heißt. Die Zeiten verlangten nun laut 2. Manifeste und Programmatisches 289 <?page no="290"?> Kassák nach einem Neuen Menschen, und in der Erziehung der neuen Generation komme den Schriftstellern eine besondere Verantwortung zu. Um diese Aufgabe erfüllen zu können, brauche man eine Neue Literatur. Was diese Neue Literatur sei, zählte Kassák in zehn Punkten auf: Sie hat politisch zu sein, sie muss mit der Tradition brechen, pluralistisch sein, sie ist utopistisch, hat als richtungsweisendes Zeichen zu dienen. Mit einem Wort - was Kassák nicht ausspricht -, sie ist Avantgarde. Lajos Kassáks An die Künstler aller Länder! wurde in der ersten im Ausland gedruckten Ausgabe von Ma am 1. Mai 1920 veröffentlicht und zwar zweisprachig, nämlich in der Sprache der Avantgardisten und in der Sprache des Publikationsortes, also ungarisch und deutsch. Nicht nur der Titel des Manifestes ist eine Anspielung auf einen Slogan der kommunistischen Be‐ wegung, vielmehr beschwört auch der Text die unmittelbare Vergangenheit, die niedergeschlagene Räterepublik in Ungarn, und die Zukunft, da die Avantgardisten den Kampf fortsetzen wollen. Dafür stehen die Künstler von Ma mit all ihren existenziellen Erfahrungen und künstlerischer Praxis ein. Kassák macht klar, dass er nur der Kunst und dem Menschen verpflichtet ist: Die Parole heißt: Der Mensch. Und wir sind Menschen in unserer Kunst und wie wir in der Vergangenheit nicht die Diener der Bourgeoisie waren, wollen wir auch in der Zukunft keiner Klasse dienen - auch dann nicht, wenn diese Klasse Proletariat heißt. Sándor Bartas Der Mann mit dem grünen Kopf (erschienen in Ma am 1. Januar 1921) ist ein dadaistisches Poem, und zugleich - wie der Untertitel festhält - auch ein Manifest, und zwar ein „Manifest einer aktiven Leiche zu den Kutschenpferden und zu den Aufzügen oder zu allen Lungenkranken der Welt“. Bartas Manifest ist allerdings vor allem nicht für etwas, ist also nicht auf die Zukunft gerichtet, sondern speist sich aus der Wut, was sich in der Vergangenheit und wegen des gegenwärtigen Umgangs mit ihr aufstaute. Der Text selbst lässt sich allerdings auch als ein Befreiungsakt ansehen, der durch Zerschlagung des Alten frei für eine Zukunft machen kann. Lajos Kassák formulierte seine Thesen zur Bildarchitektur, also zur unga‐ rischen Version des russischen Konstruktivismus mehrmals, so auch auf den Seiten von Ma am 15. März 1922. Der Bildarchitektur geht es nicht um Nachahmung wie bei der Portrait- oder bei der Landschaftsmalerei. 290 VIII. Ungarn <?page no="291"?> Unsere Kunst ist primär Schöpfung, und wir gehen, ähnlich zu den Architekten, von unserem Bereich, von der Fläche aus als Grund hinein in den Raum, so als wenn jemand die Welt nicht bedienen, sondern auf seinem Bild umgestalten will. Sándor Bartas Manifesztumnak / Als Manifest erschien in der ersten Num‐ mer der von Barta herausgegebene Zeitschrift Akasztott Ember 1922 zwei‐ sprachig. Barta wollte also genauso wie Kassák zwei Jahre vorher nicht nur die ungarischen Emigranten in Wien, sondern auch das lokale Publikum in ihrer Sprache ansprechen. Aber im Gegensatz zu Kassák ist er der aktuellen russischen Kulturpolitik verpflichtet: Man muß schon heute der kulturellen (seelischen) Ausbeuterei die kulturelle (ideologische) Revolution entgegenstellen. Und diesem Bestreben muß man den praktischen (Parteibewegung) Charakter verschaffen. Die Organisation der revolutionären Arbeiterschaft muß gleich der allgemeinen politischen (III. Inter‐ nationale) zustande bringen eine Kulturrevolutionäre Internationale. Ödön Palasovszkys Manifesztum 1922 A millók kultúráját új müvészetet le a penészvirággal (Manifest 1922 Die Kultur den Millionen neue Kunst nieder mit dem Schimmel) erschien im selben Jahr. Palasovszky will darin die alte, korrupt gewordene Kunst durch eine neue ersetzen, die insbesondere durch einen religiösen Hang gekennzeichnet ist: Die neue Kunst diktiert in die Andacht der Massen den Sinn des jungfäulichen und wahreren Lebens, so dass sie die zusammengeschweißte Andacht der Massen Richtung der Stationen von neueren und volleren Kulturen treibt. Alpár Bujdosós und János Megyiks Die Konstruktion des Nichts 1972 (erschie‐ nen in Magyar Műhely 1. April 1974: 33-39) ist ein durchnummerierter Text, mit Haupt- und Nebensätzen, in seiner Struktur und seinem Sprachduktus an Ludwig Wittgensteins Tractatus 1921 erinnernd. Das Nichts, das Nicht- Formulierbare sei nur durch die Kunst annäherbar. Aus der Periode des Manifests stammende Werke scheinen eine Umsetzung der Ideen des Textes zu sein, so Megyiks Ohne Titel 1973 (siehe Magyar Műhely 30. Juni 1976 Insert zwischen Seite 14 und Seite 15) und Bujdosós Text II 1976 (siehe Magyar Műhely 30. Juni 1976 Seiten 10-14). Das eine ist eine aus dünnen Holzstäben gebaute abstrakte Konstruktion, der die dichten Kraftlinien eines Raumes zu definieren scheint. Das andere ist eine aus Textblöcken aufgebaute Sprachkomposition, wo die einzelnen Blöcke klein- oder großgeschrieben, in verschiedenen Sprachen verfasst sich voneinander absetzen. Sie sind 2. Manifeste und Programmatisches 291 <?page no="292"?> Fragmente aus Sachtexten und poetischen Texten sowie Gesprächen. Beide Werke erscheinen als Materialisationen von etwas Unbekanntem. Magyar Műhely wandelte sich im Laufe von 1970-1971 zur Avantgarde. In der Nummer 37 vom September 1970 brachte sie einen Text von Milán Füst (gestorben 1967), erwies sich also als Forum der in Ungarn nicht als staatskonform geltenden Kultur. In der Nummer 38 vom Juni 1971 wurde verkündet, dass „wir uns in der Zukunft ausschließlich mit Autoren und Werken beschäftigen, die das Neue suchen und bringen.“ Die lange Pause zwischen den Nummern 37 und 38 zeigt auch an, dass die Redaktion der Zeitschrift sich vor die Wahl stellte, entweder aufzuhören oder eine radikale Wende zu vollziehen. Ab nun gab man der Neoavantgarde Platz, die Mitar‐ beiter Nagy oder Bujdosó konzentrierten sich in ihrer Arbeit auch auf das Neue. Ab 1972 veranstalteten sie regelmäßig Treffen des Kreises und ab 1973 nahmen sie an der Anyanyelvi konferencia (Muttersprachenkonferenz), ein durch die ungarische Kulturpolitik forciertes Forum für die „Ungarn der Welt“, teil. Tibor Hajas’ Statement for the Biennale of Sydney (Erklärung für die Biennale von Sydney) 1979 formuliert die Essenz von Hajas’ Bestrebung: Ich als volkommenes Geschöpf suche den vollkommenen Augenblick - und die Vollkommenheit schreckt ab. Das Vollkommene heißt die Totalität, das Unabänderliche, das Nichtgutmachbare. Hat mit Kunst nichts zu tun. Und wenn es doch hat, wegen der Schönheit der Vollkommenheit hat die Kunst mit dem Fluss der Zeit nichts zu tun. Wir müssen die Welt anhalten. Oder zumindest versuchen; Momente isolieren, schaffen und zeigen, Bilder, die es verdienen, dass sie so enden. Manche Gedichte von Szentjóby sind in ihren Aufrufcharakter und ihren endeutigen politischen Positionierungen und Engagement manifestartig. So Légy tilos: „Kunst ist alles, was verboten ist. Sei verboten! “ Die in fünf Sprachen sich wiederholenden Sätze bringen ein zentrales Anliegen der Kultur des Kalten Krieges in Ungarn zum Vorschein. Miklós Erdélys Marly tézisek (Thesen von Marly 1980) war ein später Nachzügler, weder originell noch provokant, sondern in typisch Erdely’‐ scher Manier ironisch, der es aber wiederum schaffte, als „das Manifest der ungarischen Neoavantgarde“ zu gelten. 292 VIII. Ungarn <?page no="293"?> 3. Personen und Werke Jolán Simon (1885-1938) hatte aus ihrer ersten Ehe drei Kinder und war Fab‐ rikarbeiterin, als sie 1909 Lajos Kassák kennenlernte. Ab 1915 besuchte sie eine Schauspielschule, ab 1917 trat sie als Vortragskünstlerin mit avantgar‐ distischen Gedichten auf. Die erste Veranstaltung mit ihrer Teilnahme fand im Saal der Musikakademie in Budapest statt. Die Veranstaltungen hießen zuerst Matineen, im Jahr 1919 dann Propaganda-Abende, was das kultur‐ politische Anliegen hervorhebt. Ende März 1919 trat sie in János Máczas Einakter Individuum auf. 1919-1920 war sie Ensemblemitglied des Belvárosi Szinház, zog aber im Frühjahr 1920 zum inzwischen nach Wien emigrierten Lajos Kassák. Ihre gemeinsame Wohnung, Wien 13, Amalienstraße 26, wo Simon, Kassák und ihre drei Kinder wohnten, war bald die Redaktionsad‐ resse der Zeitschrift Ma. Avantgardistische Vortragsabende fanden in Wien ab Ende November, weiters auf einer Tour in die Tschechoslowakei in Prag, Košice und Užhorod (1922; ab Ende der 1920er Jahre wieder) sowie in Berlin (1922) und ab 1923 auch in Budapest statt. Sie war Teilnehmerin von Vortragsabenden und gestaltete auch selbständige Programme, so 1922 in Wien und 1924 in Budapest. Nach 1928 organisierte sie in Ungarn einen Arbeitersprechchor. Ihre Vortragsabende in den 1930er Jahren waren nicht mehr der Avantgarde allgemein, sondern fast ausschließlich dem Werk von Lajos Kassák gewidmet. Lajos Kassák (1887-1967) wurde in Érsekujvár geboren, zog nach Budapest, war Schlossergeselle. 1909 ging er zu Fuß nach Paris. Seine literarischen Texte erschienen ab 1910. Im Jahr 1915 veröffentlichte er Éposz Wagner maszkjában (Epos in der Maske Wagners), das futuristische Einflüsse aufweist. Kassák gründete eine Reihe von Zeitschriften. Von denen können A Tett (1915-1916), Ma (1916-1925) und Dokumentum (1926- 1927) als bedeutende Avantgardezeitschriften gelten, Munka (1928) und Kortárs (1946-1947) sind höchstens teilweise avantgardistisch. Kassák war während der Ungarischen Räterepublik Mitglied des Schriftstellerdirekto‐ riums, saß einige Monate in Untersuchungshaft und emigrierte vor der Anklageerhebung Anfang 1920 nach Österreich. Ab 1921 war er auch bildkünstlerisch tätig, stellte während der Jahre der Emigration sowohl in Wien als auch in Berlin aus. Da Érsekujvár seit 1918 auf dem Gebiet der Tschechoslowakei war und Kassák so keinen gültigen Heimatschein für Ungarn hatte, und da gegen ihn in Ungarn polizeiliche Untersuchungen liefen, konnte er erst nach aufwendigen adminstrativen Vorbereitungen 3. Personen und Werke 293 <?page no="294"?> 1926 nach Ungarn zurückkehren. Nach 1945 versuchte auch er ein plura‐ listisches, modernes ungarisches Kulturleben mitzugestalten, was nach dem bald aufgekommenen Stalinismus ungarischer Version, Rákosi-System genannt, auch in seinem Fall jäh unterbrochen wurde. Er stellte ab 1957 wieder regelmäßig aus, 1965 erhielt er mit dem Kossuth-Preis die höchste staatliche Anerkennung. Erzsi Ujvári (Pseudonym nach ihrem Geburtsort Érsekújvár, eigentlich Erzsébet Kassák, 1899-1940), war eine jüngere Schwester von Lajos Kassák. Sie heiratete 1919 Sándor Barta, emigrierte nach 1919 nach Wien und 1925 in die Sowjetunion. Dichterin, publizierte in diversen Avantgardezeitschriften. Selbständige Bände: Prózák (Prosa) 1921 mit Illustrationen von George Grosz und Versek (Gedichte) 1922, beide in Wien. Sie war Mitherausgeberin der Zeitschriften Akasztott ember (1922) und Ék (1923), beide in Wien. Die Texte von Ujvári zeichnen sich durch Direktheit und soziales Engagement aus, was um so eindringlicher ist, da sie die harten sozialen Verhältnisse aus Frauenperspektive beschreibt. Form und Inhalt entsprachen dem, was als Untertitel von Ma angeführt wurde, dem Aktivismus. Diese Kategorie verstand der Kreis um die Zeitschrift als das politische Engagement - ein zentrales Anliegen jeder Avantgarde. Ödön Palasovszky (1899-1980) war Dichter, Schauspieler und Theater‐ macher. Ab 1921 arbeitete er in einem Arbeiterverein mit einer Gruppe von Bewegungskünstlern. Er verfasste die Manifeste Uj stáció (Neue Station) und Manifest 1922 Die Kultur den Millionen neue Kunst nieder mit dem Schimmel, beide 1922. Er organisierte ab 1925 eine Reihe von Avantgardetheaterpro‐ jekten, so Grüner Esel Theater (1925), Neues Land Abende (1926-1927), Zick-Zack Abende (1928). Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchte er die Tradition des Avantgardetheaters am Madách Szinház kisérleti stúdiója (Experimentelles Studio des Madach Theaters 1945), wo unter anderem die Zusammenarbeit mit Bewegungskünstlern und Musikern vorgesehen war, wieder zu beleben. 1980 ist sein Rückblick Lényegretörő szinház (Zielstrebi‐ ges Theater) erschienen. György Kurtág (geb. 1926) gehörte der ungarischen Minderheit in Rumä‐ nien an. Er übersiedelte 1945 nach Ungarn und studierte (u. a. mit dem ebenfalls aus Rumänien stammenden György Ligeti) an der Musikakademie in Budapest. Kurtág reiste mit einem Stipendium 1957 für ein Jahr nach Westeuropa und lernte aktuelle Trends der zeitgenössischen Musik kennen. Kurtág schrieb vor allem Kammermusik, war Konzertpianist und unterrich‐ 294 VIII. Ungarn <?page no="295"?> tete an der Musikakademie in Budapest. Sein Werk ist durch die Tradition der Neuen Musik geprägt. Miklós Erdély (1928-1986) studierte zwischen 1946 und 1951 Bildhaue‐ rei und Architektur und betrieb ab 1963 ein Unternehmen, das sich auf Fassadengestaltung spezialisierte. 1963 hielt er sich ein halbes Jahr in Paris auf, besuchte regelmäßig die Magyar Műhely-Treffen in Marly-le- Roi (Frankreich) und Hadersdorf (Österreich). Erdély war Schriftsteller, Objektkünstler, Fotograf und Filmemacher. Ab 1975 leitete er zusammen mit Dóra Maurer kunstpädagogische Kurse unter dem Titel Kreativitási gyakorlatok (Kreativitätsübungen) im Kulturhaus der Firma Ganz Mávag Maschinenfabrik in Budapest. Im Club der Jungen Künstler in Budapest organisierte er 1974 die Vortragsreihe Eseményhorizont (Ereignishorizont), 1975 die Ausstellung Montázs (Montage) und 1976 die Ausstellung Moebius. Erdély gilt als charismatische zentrale Figur der ungarischen Neoavant‐ garde. Pál Nagy (geb. 1934) emigrierte 1956 nach Frankreich, studierte in Paris und gründete mit seinen Freunden 1962 die Zeitschrift Magyar Műhely. Ab 1970 arbeitete Nagy als Setzer und war der Mitherausgeber von d’atelier. Ungarische Neoavantgardisten gaben also parallel eine ungarische und eine französische Zeitschrift heraus, was ihre Bestrebung, auch an ihrem Aufent‐ haltsort zu wirken, anzeigt. Nagy war Dichter, Performer und Organisator der Neoavantgarde. Katalin Ladik wurde 1942 in der Wojwodina geboren, das zu der Zeit zu Ungarn, aber ab 1945 wieder zu Jugoslawien gehörte. Sie gehörte der ungarischen Minderheit an, schrieb ab 1962 Gedichte, ihr erster Gedichtband erschien 1969 mit dem Titel Ballada az ezüstbicigliről (Ballade vom Silber‐ fahrrad). Zwischen 1963 und 1977 war sie Mitarbeiterin des Radio Novi Sad, zwischen 1977 und 1992 Schauspielerin im Újvidéki Szinház (Theater Novi Sad). Ladik ist vor allem als Performerin bekannt. Sie trug vor allem ihre eigenen Texte und Lautgedichte vor. Péter Halász (1943-2006) gründete 1969 das Kassák Ház Studió (benannt nach dem Kassák Művelődési Ház, also Kulturhaus Kassák in Budapest, wo das Theater beheimatet war), 1972 wurde der Gruppe die Genehmigung, Theateraufführungen zu organisieren, entzogen und daher führte in einer Privatwohnung ein sogenanntes Wohnungstheater. Die Gruppe emigrierte im Januar 1976. Mitglieder der Gruppe waren neben Halász, Koós, Breznyik und Kollár auch István Bálint und Éva Buchmüller. Aufgeführt wurden A skanzen gyilkosai (Die Mörder des Skanzen, 1972), Don Juan, King Kong, 3. Personen und Werke 295 <?page no="296"?> 20 Kálmán C., György. Újvári Erzsi. Csikorognak a kövek. Budapest: Szépirodalmi Könyv‐ kiadó, 1986. Madarak és vörös vállpántok (Vögel und rote Schulterklappen; alle 1973), Homokasztal (Sandtisch 1975). Die Vorstellungen waren geprägt durch Improvisation, durch die räumlichen Gegebenheiten fanden sie auf engem Raum statt, die Schauspieler spielten zwischen den Zuschauern. Außer Be‐ schreibungen existieren zahlreiche Fotos sowie auch einige Filmaufnahmen, so dass es möglich ist, sich eine genaue Vorstellung über die Theaterpraxis von Halász zu machen. Tamás Szentjóby (geb. 1944) schrieb ab Anfang der 1960er Jahre Ge‐ dichte. Er organisierte 1966 ein Happening mit. Nach einem erfolgslosen Emigrationsversuch von Polen nach Schweden wird sein Reisepass einge‐ zogen. Szentjóby emigrierte im Dezember 1975. Szentjóby war Dichter, Objektkünstler, Aktionist, Filmemacher. Seine Arbeit zeichnete sich durch Kompromisslosigkeit, Konsequenz und - angesichts des engen Rahmens der staatssozialistischen Kulturpolitik - politische Provokation aus. Tibor Hajas (1946-1980) publizierte bereits als Jugendlicher Gedichte. Er wurde 1965 zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, weil er einer Jugendbande angehörte. Ab 1969 im Bereich Aktionskunst und konzeptuelle Kunst tätig. 1978-1980 veranstaltete er eine Reihe von Performances. Wichtige Werk‐ blöcke bildeten die mit starken politischen Akzenten arbeitenden Graffiti- Aktionen, Protest- und Ungehorsamsaktionen, dann diverse Materialaktio‐ nen und Body Art Werke im Atelier (Aktionsraum genannt) und schließlich die Performances. Hajas legte großen Wert auf die Fotodokumentation seiner Tätigkeit sowie auf die Herstellung von grafischen Arbeiten, wie Fototableaus aufgrund von Aktionsaufnahmen. Erzsi Ujváris Próza 1 (erschienen in Ma am 15. Februar 1917: 54 und 59) weist bereits mit ihrem Titel auf Grenzüberschreitung hin. 20 Es handelt sich um ein Prosagedicht mit lyrischen, dramatischen und auch erzähleri‐ schen Elementen, das sich aber schlicht Prosa nennt, also sich als etwas anderes ausgibt, als es ist. Von Ujvari sind in derselben Ma-Nummer auch die Gedichte Próza 2 und Próza 3 abgedruckt worden, es handelt sich also offenbar um nummerierte Gedichte, die so Nüchternheit und Rationalität suggerieren - etwas, dem das Gedicht selbst widerspricht. Der Text gibt die letzten Stunden eines Sterbenden wieder, zusammenmontiert aus Wirklichkeitsfragmenten des Aufwachens in einem Massenquartier und aus Visionen einer sterbenden Frau. Das Sprachmaterial wurde einerseits 296 VIII. Ungarn <?page no="297"?> auf kurze Aussagesätze und auf abgestumpfte Wörter reduziert, um ihm zugleich in seiner gesellschaftskritischen Aussage Brisanz zu verleihen. Mit dem Traditionsbruch, mit der Arbeit mit Wirklichkeitsfragmenten, mit dem Sichtbarmachen der Textstrukturierung, mit der Betonung des Zusammenfalls von Leben und Kunst, mit der in der gesellschaftlichen An‐ klage aufscheinenden Zukunft weist das Gedicht eine Reihe von zentralen Merkmalen der Avantgardedichtung auf. Jolán Simons Erster Wiener Vortragsabend fand am 18. Februar 1922 im Extraraum des Schlosscafé im 13. Bezirk statt. Erhalten ist das Programm, die Zeitschrift Ma brachte einige der dort präsentierten Texte, und wir besitzen auch mehrere Zeitungsberichte, so dass es möglich ist, sich ein relativ genaues Bild über die Veranstaltung zu machen. Das Programm umfasste Texte von ungarischen Autoren wie Sándor Barta und von internationalen wie Guillaume Apollinaire, Hans Arp, Hugo Ball, Kurt Schwitters und Richard Huelsenbeck sowie ein Gedicht von Lajos Kassák. An Anna Blume von Schwitters und Fantastische Litanei von Huelsenbeck gehören zum Standardrepertoire der Avantgarde, Simon war also offenbar bemüht, die klassische Avantgardeliteratur zu vermitteln. Von Kassák hat sie 18 vorgetra‐ gen, ein Bildgedicht, das also eine besondere Herausforderung sein musste. Ein guter Teil der vorgetragenen Texte gilt als Dada. Das war das, was die Zuschauer am stärksten beeindruckte und Simon wurde in der Folge als „dadaistische Vortragerin“ bezeichnet. Wenn man allerdings den gesamten Vortragsabend betrachtet, ist klar, Simon war an der Vielfalt der Avantgarde interessiert, sie suchte die vortragskünstlerische Herausforderung und war nicht einer stilistischen Richtung verpflichtet. 3. Personen und Werke 297 <?page no="298"?> 298 VIII. Ungarn <?page no="299"?> Abb. 1: György Gerő. Jolán Simon. 1926. Lajos Kassáks A ló meghal és a madarak kiröpülnek (Das Pferd stirbt und die Vögel fliegen hinaus) von 1922 ist ein Prosagedicht von insgesamt über fünfhundert Verszeilen. Der Text wurde bereits 1923 ins Deutsche übersetzt, er erschien im Ma-Buch Kassak Gedichte in Berlin. Inhaltlich geht es um die Reise des Autors 1909 von Budapest nach Paris und zurück. Erzählt wird die Reise in einer Anhäufung von zum Teil enigmatischen 3. Personen und Werke 299 <?page no="300"?> 21 Siehe dazu Deréky, Pál. Erstes Treffen der Wahnsinnigen in einer Sammelkiste für Straßenmist. Aktivismus, Dada, Proletkult und Konstruktivismus. Zerfall der ungari‐ schen Avantgarde-Erzählung in Wien. In: Bachleitner, Norbert et al (Hrsg.). Brüchige Texte, brüchige Identitäten. Göttingen: Vienna University Press. 2018, S.-35-56. Bildern, die bruchstückhaft und doch organisch zusammengefügt sind. In dem durchweg kleingeschriebenen Text finden sich ganz wenige Wörter in Großbuchstaben, so „Kassakchen“ am Beginn und „Ludwig Kassák“ am Ende, was die Deutung nahelegt, dass es hier um die Selbstfindung des Autors geht. Einen anderen Interpretationszugang legt der Titel nahe, mit dem toten Pferd, von dessen Kadaver eine Vogelschar sich abhebt, was mangels eindeutiger Bezüge im Gedicht selbst eine Reihe von Deutungen - vom Hinweis auf den Alkoholiker-Vater bis auf „die wiehernde Zeit“ - anbietet. Das Gedicht lesend kommen wir auf jeden Fall in einen Strudel von aufblitzenden Ereignisfragmenten, kulturgeschichtlichen Anspielungen, persönlichen Erinnerungen und poetischen Tropen, die ohne Interpunktion nebeneinandergestellt als dichterisches Universum nur aus dem Text selbst erschließbar zu sein scheint. Sándor Bartas Die erste Versammlung der Wahnsinnigen im Mistkübel 1922 21 ist seiner Gattung nach Satire, Bildgedicht und Drama in einem. Barta karikiert darin die ungarischen Avantgardisten, so Kassák (als Lud‐ wig Kollektiv), Simon (als Jolantha Simpel), László Moholy-Nagy (als Ein Herr, der für nüchtern gehalten wird), Sándor Bortnyik (als Alexander der Große) und János Mácza (als Johann aus Košice). Der Text erschien in der ersten und zweiten Nummer der Zeitschrift Akasztott Ember, die Barta nach seinem Ausscheiden aus dem Kreis um Ma in Wien gründete. Barta griff zugleich auf die Texttraditionen von Manifest, religiösem Schrifttum, Komödie und dadaistischem Theaterstück zurück. Für Barta war 1922 das, was die Avantgardisten machten - so Moholy-Nagys Ausführungen über die Zusammenhänge zwischen Geometrie und der Seele der Bürger oder Simons Vortrag eines Lautgedichtes - entweder sinnloser Selbstzweck oder Irrsinn, am ehesten beides, und auf jeden Fall Verrat an den kommunistischen Idealen, für die der Kampf mehr denn je entscheidend war. 300 VIII. Ungarn <?page no="301"?> Abb. 2: Sándor Barta. Die erste Versammlung der Wahnsinnigen im Mistkübel. 1922. 3. Personen und Werke 301 <?page no="302"?> Lajos Kassáks Dynamische Konstruktion erschien 1924 in der Berliner Zeit‐ schrift Der Sturm. Sie ist ein ausgereiftes Beispiel für Bildarchitektur. Sie wirkt dreidimensional - in Abhebung von den betont flächigen früheren Arbeiten Kassáks - und wirkt dadurch mehr architektonisch. Mit der starken Perspektivik wird eine Monumentalität angedeutet; die spitzen Formen bringen zugleich Schwung und Bewegung in die Komposition. Die Abstrak‐ tion betont das Elementare und den Neuanfang. Die Sichtbarmachung des Konstruktionsprozesses hebt das Technische und Ingenieurhafte hervor. Das Werk belegt das bildkünstlerische Können von Kassák. Abb. 3: Lajos Kassák. Dynamische Konstruktion. 1924. 302 VIII. Ungarn <?page no="303"?> Der neue Orpheus von Yvan Goll wurde im Theater Grüner Esel 1925 aufge‐ führt. Die Titelfigur, gespielt von Ödön Palasovszky, diktiert die Geschichte seiner Liebe in einem Büro einer Gruppe von Schreibmaschinenschreibe‐ rinnen, die somit den akustischen Hintergrund bilden. Der Komponist Sándor Jemnitz ließ neben dem Schreibmaschinenorchester auch eine Jazz- Band auftreten, brachte also als Musikstück den rhythmisierten Lärm der Großstadt zum Gehör. Im Theater Grüner Esel wurden drei Stücke der internationalen Avantgarde aufgeführt: Jean Cocteaus Das Hochzeitsvolk des Eiffelturmes (erschienen in der Übersetzung von Gyula Illyés in Ma, 1. Juli 1923) sowie Yvan Golls Der neue Orpheus (erschienen in der Übersetzung von Gyula Illyés in Magyar Irás Mai-Juni 1924) und Paris brennt (erschienen in der Übersetzung von Gyula Illyés in Akasztott Ember, 1. November 1922). Der Abend wurde von einer Gruppe veranstaltet, die neben Palasovszky und Jemnitz aus László Mittay (Regie), Sándor Bortnyik (Bühne) und Iván Hevesy (Eröffnung) bestand. Das Kollektiv gestaltete mit den Akteuren aus einer Schauspielschule und einer Jazz-Band zusammen die an Cabaretvor‐ stellungen erinnernde Veranstaltung. Abb. 4: Yvan Goll. Der neue Orpheus. 1925 mit Ödön Palasovszky als Orpheus und dem Schreibmaschinenorchester. 3. Personen und Werke 303 <?page no="304"?> Tamás Szentjóbys und Gábor Altorjays Happening Mittagessen 1966 gilt als Beginn der ungarischen Neoavantgarde. Der Titel geht auf die Legende zu‐ rück, dass während der Mongoleninvasion im 13.-Jahrhundert eine Gruppe von Ungarn sich in einer Höhle versteckte und dort Hühner roh verzehrte. Während des Happenings überaßen sich die Akteure Szentjóby und Altorjay unter anderem auch, wie ein zu Dokumentationszwecken angefertigter Film von László Gyémánt das auch zeigt. Die Akteure und Zuschauer befanden sich in einem Keller, in einem engen und nicht ganz sauberen Raum, wo unangenehmer Lärm, Geruch, Licht, das unberechenbare Geschehen und die unklare Zeitdauer alle überforderte. Das gemeinsame Erlebnis wurde durch seine Experimenthaftigkeit, Einmaligkeit, Grenzüberschreitung zum Neodada-Ausgangsereignis der ungarischen Neoavantgarde. Abb. 5: Tamás Szentjóby und Gábor Altorjay. Mittagessen. 1966. Katalin Ladiks Bildgedicht Ufo party aus dem Jahr 1968 liegt ein von Tamás Szentjóby organisiertes Happening zu Grunde. Zu UFO-Treffen luden die in Ungarn lebenden Neoavantgardisten die im jugoslawischen Novi Sad lebende Performerin Ladik ein. Ladik ließ sich auf die Einladung ein und reflektierte die Sache in ihrem gleichnamigen Bildgedicht. Sie erschien auf einer Doppelseite der Zeitschrift Új Symposion als mehrspaltige Text- und Bild-Montage, mit einer 304 VIII. Ungarn <?page no="305"?> 22 Balázs, Imre József. Szilágyi Domokos művei az avantgárd és neoavantgárd kontextusában. In: Híd. 2016.2, S. 14-26 dokumentiert das Werk des in Rumänien lebenden ungarisch‐ sprachigen Dichters. Vielfalt von typographischen Elementen. Die Textfragmente genauso wie die Bildelemente sind nach einer komplexen Rhythmik angeordnet. Der Vortrag des Gedichts gehört bis heute zu Ladiks Soundpoetry-Repertoire. Abb. 6: Katalin Ladik. Ufo party. 1968. Die Anthologie Kollapszus orv. (Kollaps med.) von Miklós Erdély erschien 1974 in Paris, herausgegeben von Magyar Műhely. Der Band blieb bis zum Tod des Autors 1986 seine einzige selbständige Publikation. Er besteht aus den vier Teilen kiragadott (Herausgegriffen), néhány (Einige), hangos (Laut), számos (Zahlreich) und enthält Prosagedichte, konkrete Poesie, Hörspiel, Thesenreihe, naturphilosophische Texte. Das letzte Gedicht ist Kollapszus. Zur Zeit der Publikation von Erdély entwickelte sich eine rege neoavantgardisti‐ sche Literaturszene. Hierher zu zählen sind das reiche dichterische Œuvre von Szentjóby und Hajas, die Veröffentlichungen von Domokos Szilágyi 22 um 1970, es erschienen István Domonkos Kormányeltörésben (Im Bruch des Ruders, 3. Personen und Werke 305 <?page no="306"?> 1971), Dezső Tandori Egy talált tárgy megtisztítása (Die Säuberung eines gefundenen Objekts, 1973). Diese war auch durchaus als Angriff auf die Insti‐ tution Literatur zu verstehen, obgleich sie sich oft im Aufbau von alternativen Strukturen erschöpfte. Eine Aufhebung der literarischen Autonomie lässt sich etwa bei Hajas beobachten, der in einer Ermächtigungs-Aktion 1974 das Recht seiner Unterschrift vor den Zeugen Tamás Szentjóby und László Najmányi an Péter Halász übertrug, oder bei Mauergedichtsaktionen im öffentlichen Raum und durchaus anonym agierte. Abb. 7: Miklós Erdély. Kollaps med. 1974. Buchcover. 306 VIII. Ungarn <?page no="307"?> Vögel und rote Schulterklappen des Wohnungstheaters 1973 ist ein Improvi‐ sationsstück. Es wurde zuerst während einer mehrtägigen Aufführungsreihe in einer Kapelle in Balatonboglár am Plattensee aufgeführt und dann mehr‐ mals im Wohnungstheater in Budapest. Eine 28-minütige Filmaufnahme zeigt einige Szenen, so Halász und Breznyik als Vögel, Koós und Buchmüller als Maria, einmal als Madonna und dann in einer Pietà. Der von Aufführung zu Aufführung sich ändernde, immer weiter perfektionierte Ablauf, die an den Vorführungsort angepassten Konstellationen machten das Stück sowohl für das Publikum als auch für die Akteure zu einmaligen und nichtwiederholbaren Erlebnissen. Abb. 8: Péter Halász als Vogel in Vögel und rote Schulterklappen. 1973. Tamás Szentjóbys Kentaur wurde 1975, in dem Jahr, an dessen Ende Szent‐ jóby Ungarn verließ, fertig. Der Film besteht aus einer Reihe von Sequenzen, die in dokumentaristischer Manier Arbeitssituationen, so Großraumbüros und Werkstätten, zeigen. Die Bildsequenzen begleitende Gespräche bilden eine zweite Ebene. Die anonyme Gruppe im Bild und die ausgeklügelt 3. Personen und Werke 307 <?page no="308"?> klingenden, abgehobenen und gekünstelten Hintergrunddialoge laufen ei‐ nerseits parallel und fallen zugleich auseinander, so dass der Zuschauer verunsichert und in seinem Glauben daran, was er hört und sieht erschüttert wird. Abb. 9: Tamás Szentjóby. Kentaur. 1975. Versöhnung 1978 war die erste Performance von Tibor Hajas, die in Budapest stattfand. Es ging in ihr auch um den Versuch, die Einzigartigkeit der Ge‐ genwart mit einem die Grenze der Belastbarkeit des Körpers erreichten Akt, den Anwesenden bewusst zu machen. In einem verdunkelten Raum waren die Zuschauer für die Dauer des Abbrennens eines Magnesiumstreifens mit dem am Ende des Raumes an einem Seil hängenden, regungslosen nackten Körper des Künstlers konfrontiert. Als die Magnesiumflamme den Körper erreichte, erlosch sie. So lange die Zuschauer den weiterhin dunklen Raum nicht verließen, blieb der Körper bei der Rückwand hängen. 308 VIII. Ungarn <?page no="309"?> Abb. 10: Tibor Hajas. Versöhnung. 1978. Performancerequisiten. 3. Personen und Werke 309 <?page no="310"?> Csaba Tubák arbeitete mit einem Phillips 330 Computer, einem Satz von Wörtern, einigen grammatikalischen Regeln und wenigen beim Starten des Programms wählbaren Parametern, wie das Anfangswort oder das Satzbild. Die so generierten vierbis neunzeiligen Gedichte bestechen mit einer spezifi‐ schen Poetizität. Sie sind rätselhaft, wirken entrückt, lösen beim Leser einen Rezeptionsvorgang aus, der mit einer Assoziationskette einsetzt und in einem prinzipiell unabschließbaren Interpretationsprozess mündet. Die Texte stoßen eine Tür ins Unbekannte auf. Sie haben etwas Bedrohliches, indem sie das Gefühl eines unbekannten und unbarmherzigen, weil mechanistischen Sinnes und damit auch etwas Geheimnisvolles vermitteln. Alamizsna (Almosen) ist eine von Tubáks Hibás számítógépszövegek (Fehlerhaften Rechnermaschinentexten) aus 1979. Mit seiner an Haikus erinnernden Dichte und Format, mit dem Spiel mit gleichen Wortanfangsbuchstaben, mit der für den Tintenstrahldrucker der 1970er Jahre charakteristischen Typografie manifestiert sich in Tubáks Werk einiges, was in der ungarischen Avantgardetradition erarbeitet wurde. Die Texte sind durchkomponiert, experimentell und originell, stehen formal, inhaltlich und in dem, was sie repräsentieren auf der Höhe der Zeit. Abb. 11: Csaba Tubák. Almosen. 1979. 310 VIII. Ungarn <?page no="311"?> Chronologie 1915 die Zeitschrift A Tett erscheint in Budapest 1916 die Zeitschrift Ma erscheint in Budapest 1919 kommunistische Räterepublik in Ungarn unter der Mitwirkung von Avantgardisten 1919-1920 Emigration der Mitglieder des Ma-Kreises von Ungarn nach Öster‐ reich 1920 das Manifest Zu den Künstlern aller Länder von Lajos Kassák erscheint Wien 1921 konstruktivistische Wende in der ungarischen Avantgarde in der Wiener Emigration 1925 Ödön Palasovszkys Theaterprojekte in Budapest 1926 Lajos Kassák kehrt von Wien nach Budapest zurück 1947 Surrealistische Kunst in Budapest 1948 Etablierung des Stalinismus ungarische Prägung, Rákosi-System genannt 1956 Emigration von Mitgliedern des späteren Magyar Műhely-Kreises von Ungarn nach Frankreich 1966 Tamás Szentjóby und Gábor Altorjay veranstalten Mittagessen in Budapest 1974 Miklós Erdélys Kollaps med. erscheint in Paris 1974 Alpár Bujdosó und János Megyik veröffentlichen das Manifest Die Konstruktion des Nichts in der Zeitschrift Magyar Műhely in Paris 1975 Tamás Szentjóby dreht den Film Kentaur in Ungarn 1975-1976 Emigration von Tamás Szentjóby (in die Schweiz) und von Mitglie‐ dern des Budapester Wohnungstheaters (in die USA) 1979 Csaba Tubák macht in Wien computergenerierte Gedichte 1989 Magyar Műhely übersiedelt von Frankreich nach Ungarn Chronologie 311 <?page no="313"?> Bibliographie I. 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Serbische Nationalbibliothek Belgrad 40 Abb. 3: Dragan Aleksić: Dada Tank, Zagreb, 1922 (Zeitschrift). Serbische Nationalbibliothek 43 Abb. 4: Magazin Nemoguće - L’Impossible, Belgrad, 1930 (Zeit‐ schrift). Serbische Nationalbibliothek 44 Abb. 5: Želimir Žilnik: Rani radovi (Frühe Werke). Novi Sad/ Bel‐ grad, 1969 (filmstills). Želimir Žilnik 49 Abb. 6: Miroslav Mandić (Grupa KOD): Dunav. Novi Sad, 1970. (Intervention) MSUV Novi Sad 53 Abb. 7: Attila Csernik, (Bosch+Bosch-Gruppe): Telopis. Novi Sad, 1975. (Performance). MSUV Novi Sad. 54 Abb. 8: Vladan Radovanović: Pustolina. 1956-1962. Belgrad. Nolit, 1968. S. 96-97 58 Abb. 9: Neša Paripović: Primeri analitičke skulpture. Belgrad, 1978. (Fotoserie). Neša Paripović. 62 Abb. 10: Ausstellungseröffnung Grupa 143: Biljana Tomić, Darko Hohnjec, Miško Šuvaković, Paja Stanković, Vladimir Niko‐ lić, Mirko Dilberović i Maja Savić. SKC Galerie. Belgrad, 4. Mai 1979. privates Archiv 70 <?page no="334"?> III. Österreich Abb. 1: VALIE EXPORT: Genitalpanik / Hose, 2011 © VALIE EX‐ PORT, Bildrecht Wien, 2022. Courtesy VALIE EXPORT. Foto © Markus Retter 77 Abb. 2: Wiener Gruppe: zweites literarisches cabaret 1959 78 Abb. 3: Hermann Nitsch: 31. Aktion, 1969 (2009), S/ W Fotografien, je: 27,5 x 22,5 cm, Inv.Nr. MG 409/ 0. Bildrechte: mumok Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien 90 Abb. 4: Günter Brus: Selbstbemalung, 1964 (2005), S/ W Fotografie, 24 x 30 cm, Inv.Nr. MG 155/ 0. Bildrechte: mumok Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien 91 Abb. 5: Günter Brus: Wiener Spaziergang, 1965 (2005), S/ W Foto‐ grafie, 30,5 x 24 cm, Inv.Nr. MG 159/ 0. Bildrechte: mumok Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien 92 Abb. 6: Günter Brus: Kunst und Revolution, 1968 (2005), S/ W Fo‐ tografie, 30,5 x 24 cm, Inv.Nr. MG 170. mumok Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien 94 Abb. 7: Otto Muehl: Materialaktion Nr. 1, Versumpfung eines wei‐ blichen Körpers - Versumpfung einer Venus, September 1963, 1963 (2000), S/ W Fotografie, 30,5 x 24,5 cm, Inv.-Nr. WA 1/ 0 RL_1_M_h1-05. Bildrechte: mumok Museum mo‐ derner Kunst Stiftung Ludwig Wien 99 Abb. 9: Josef Dvorak, Adolf Frohner, Otto Muehl, Hermann Nitsch: Manifest Die Blutorgel, 1962, S/ W Fotografie, Tusche, Seri‐ endruck auf Karton, je: 28 x 73 cm, Inv. Nr. WAA 5/ 0. Bildrechte: mumok Museum moderner Kunst Stiftung Lud‐ wig Wien 100 Abb. 10: Rudolf Schwarzkogler: 1. Aktion „hochzeit“, Malaktion am 6.2.1965, 1965, Farbfotografien, je: 40 x 30 cm, Inv.Nr. ÖL-Stg 178/ 1. Bildrechte: mumok Museum moderner Kunst Stif‐ tung Ludwig Wien 101 Abb. 11: Günter Brus: Die Schastrommel Nr. 1, Organ der österrei‐ chischen Exilregierung, 1969, Matrizendruck, geheftet, 29,7 x 21 cm, Inv.Nr. WAA 146/ 0. mumok Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien 106 334 Abbildungsverzeichnis <?page no="335"?> IV. Polen Abb. 1: Tadeusz Kantor bei Dreharbeiten zum Film Uwaga - ma‐ larstwo! (Achtung - Malerei! ) 1957, Foto: J. K. Malkiewicz (Krzysztof Pleśniarowicz, Kantor. Artysta końca wieku, Wydawnictwo Dolnośląskie, Wrocław 1997, S. 106). 128 Abb. 2: Stefan Themerson: St. Francis and the Wolf of Gubbio or Bro‐ ther Francis’ Lamb Chops. An Opera in 2 Acts, il. Franciszka Themerson, De Harmonie - Amsterdam, Gaberbocchus - London 1972, S. 52, 87. 142 Abb. 3: Władysław Strzemiński: Kompozycja unistyczna 12 (Unisti‐ sche Komposition 12), 1932, Foto: Mariusz Łukawski. (Wła‐ dysław Strzemiński in memoriam, hrsg. Janusz Zagrodzki, PP „Sztuka Polska“ Oddział w Łodzi, Łódź 1988, S. 93). 144 Abb. 4: Julian Przyboś, Strzemiński Władysław: Sponad [Erstdruck: Z ponad] (etwa: Über hinweg). Serie „a.r.“-Bibliothek. Cies‐ zyn [keine Angabe zum Verlag]. 1930, S. 26-27. 145 Abb. 5: Katarzyna Kobro: Konstrukcja wisząca (2) (Hängende Konstruktion 2), 1921-1922/ 1971-79 (rekonstruiert). (Un mundo construido. Polonia 1918-1939, hrsg. J. Doce et al., Muzeum Sztuki w Łodzi, Madrid 2011, ohne Paginierung.) 147 Abb. 6: Jerzy Bereś: Przepowiednia II (Prophezeiung II). Galerie Krzysztofory, Krakau, Februar 1968. Foto: Eustachy Kossa‐ kowski, https: / / artmuseum.pl/ pl/ arch iwum/ archiwum-eus tachego-kossakowskiego/ 192/ 8 159 (21.03.2022). 151 Abb. 7: Alina Szapocznikow: Portret wielokrotny (Vielfältiges Port‐ rät), 1965-67. (Kolekcja sztuki XX w. w Muzeum Sztuki w Łodzi, Wydawnictwo Galerii „Zachęta”, Warszawa 1991, S. 182.) 154 IV. Polen 335 <?page no="336"?> V. Rumänien Abb. 1. Marcel Iancu: Cabaret Voltaire. Abgedruckt in Contimpora‐ nul, nr. 50-51/ 1924. 182 Abb. 2. Victor Brauner - Ilarie Voronca: Pictopoezia no. 384. Abge‐ druckt in 75HP, nr. 1/ 1924. 184 Abb. 3: Victor Brauner - Ilarie Voronca: Pictopoezia no. 5721. Abge‐ druckt in 75HP, nr. 1/ 1924. 185 Abb. 4: Geo Bogza: Poemul invectivă 1933. 187 Abb. 5: Victor Brauner: Selbstportrait. MNAM, Centre Georges Pompidou, Paris. (Abgedruckt in Mihaela Petrov: Victor Brauner. Bucuresti: Humanitas. 2012). 189 Abb. 6: Gherasim Luca: Le Vampire Passif 1945. 191 Abb. 7: Gellu Naum: Zenobia 1985. 195 VI. Tschechoslowakei, Tschechien und Slowakei Abb. 1: Pantomima (Pantomime, 1924) 213 Abb. 2: Na vlnách TSF (Auf den Wellen von TSF - Télégraphie sans fil, 1925) 214 Abb. 3: Abstraktní foto (Abstraktes Foto, 1927-29). © Miloslava Rupešová 216 Abb. 4: Extase (Ekstase, 1933) 218 Abb. 5: Ani labuť ani lůna (Weder Schwan noch Mondgöttin, 1936) 219 Abb. 6: Milada Součková, Mluvící pásmo (Sprechende Zone, 1939) 221 Abb 7: Job - Boj (Hiob - Kampf, 1968) 224 Abb. 8: Fluxus a umění happeningů (Fluxus und die Kunst des Hap‐ penings, 1975) 226 336 Abbildungsverzeichnis <?page no="337"?> VII. Ukraine Abb. 1: Vladimir Tatlin: Zustrič na perechresnij stanciji [Treffen an der Kreuzungsstation]. 1927. Buchumschlag. Aus: Se‐ menko, Mychajl’ / Škurupij, Geo / Bažan, Mykola (Hrsg.). Zustrič na perechresnij stanciji. Rozmova tr’och. Kyjiv: Bumeranh. 1927. 244 Abb. 2: Vadym Meller: Monach [Mönch]. Kostümskizze. Aus „Ma‐ zepa“ nach Juliusz Słowacki. © Museum of Theatre, Music and Cinema Arts of Ukraine, Kyiv 248 Abb. 3: Walerjan Polischtschuk [Poliščuk, Valerijan] et al.: Aufruf der Avangarde. 1929. Proklamation. Avanhard. Mystec’ki materijaly avanhardu/ avangardo, Nr. 1 (1929), S. 60-62, hier S. 60. 256 Abb. 4: Alexandra Exter: Farbrhythmen 1918. Öl auf Leinwand. Privatsammlung Kiew. 262 Abb. 5: Kazimir Malevič: Mädchen auf dem Feld (1928/ 1932), Ge‐ mälde. Aus: Public Domain. 263 Abb. 6: Vasyl’ Jermilov: 10 rokiv žovtnja (10 Jahre Sowjetmacht in der Ukraine). 1927. Ausstellungsdesign. Aus: Avanhard Nr. 3/ 1929, S. 156. 265 Abb. 7: Mychajl’ Semenko: Kabelpoema za okean [Kabelpoem über den Ozean]. 1922. Wort-Bild-Kunst. Aus: Semafor u maj‐ butn’je. Aparat panfuturystiv, Nr.-1 (1922), unpag. 268 Abb. 8: Andrij Čužyj: Vedmid’ poljuje za soncem [Ein Bär jagt nach der Sonne]. 1928. Figurenpoem. Aus: Nova Generacija Nr. 7/ 1928, S. 24-25. 269 Abb. 9: Oleksandr Dovženko: Zemlja [Die Erde]. 1930. Filmkader. Aus: Nova Generacija Nr. 1/ 1930, Abb.-Seite 3. 270 Abb. 10: Anatol’ Petryc’kyj: Nova Generacija. Nr. 4/ 1930. 272 VII. Ukraine 337 <?page no="338"?> VIII. Ungarn Abb. 1: György Gerő. Jolán Simon. 1926. Abgebildet in Dokumen‐ tum, Budapest, 1927 Januar, S. 20-21. 299 Abb. 2: Sándor Barta. Die erste Versammlung der Wahnsinnigen im Mistkübel. 1922. Abgebildet in Akasztott Ember, Wien 1.11.1922, S. 6. 301 Abb. 3: Lajos Kassák. Dynamische Konstruktion. 1924. Abgebildet in Der Sturm, Berlin 1924 Juni. S. 79. 302 Abb. 4: Yvan Goll. Der neue Orpheus. 1925 mit Ödön Palasovszky als Orpheus und dem Schreibmaschinenorchester. Abgebil‐ det in Színházi Élet, Budapest, 1925 Nr. 14. S. 26. 303 Abb. 5: Tamás Szentjóby und Gábor Altorjay. Mittagessen. 1966. Screenshot. 304 Abb. 6: Katalin Ladik. Ufo party. 1968. Abgebildet in új symposion, Novi Sad 1968 März Nr. 35. S. 18-19. 305 Abb. 7: Miklós Erdély. Kollaps med. 1974. Buchcover. Ungarische Nationalbibliothek. 306 Abb. 8: Péter Halász als Vogel in Vögel und rote Schulterklappen. 1973. Screenshot. 307 Abb. 9: Tamás Szentjóby. Kentaur. 1975. Screenshot. 308 Abb. 10: Tibor Hajas. Versöhnung. 1978. Performancerequisiten. Ab‐ gebildet in Beke, László (Hrsg.). Hajas Tibor 1946-1980. Paris: Magyar műhely. 1985. 309 Abb. 11: Csaba Tubák. Almosen. 1979. Sammlung Csaba Tubák. 310 338 Abbildungsverzeichnis <?page no="339"?> Register Abakanowicz, Magdalena-132 Abramović, Marina-20, 55, 66f., 95 Achleitner, Friedrich-78f., 82, 84-87, 107f., 122 Adam, Edith-88 Adler, Jankiel-125 Adorno, Theodor W.-11, 23f. Adrian, Marc-76, 83, 87 Aktual Gruppe-211, 227 Aleksandar-I.-47 Aleksić, Dragan-41f., 45, 56f., 63 Altmann, René-78, 80f. Altorjay, Gábor-286, 288, 304, 311 Ámos, Imre-282f. Andijevs’ka, Emma-251 Andruchovyč, Jurij-252f., 258, 266 Antonyč, Bohdan-Ihor-250, 252f., 272 Apollinaire, Guillaume-201, 215, 222, 233, 278, 297 Aragon, Louis-175, 205 Arcos, René-278 Arp, Hans-164, 183, 203, 297 Artmann, Emily-109 Artmann, Hans Carl-78-87, 96f., 107, 109f., 112f., 122 Asholt, Wolfgang-8 Attersee, Ludwig-88 Avanhard Gruppe 245f., 248, 256ff., 264, 273 Bäcker, Heimrad-78 Badura-Triska, Eva-120 Bahr, Hermann-73, 121 Bakoš, Mikuláš-204, 233f. Balán, Alois-200 Balázs, Bela-76 Baldessari, John-50 Balijković, Nena-55 Bálint, István-284, 295 Ball, Hugo-183, 297 Balla, Giacomo-126 Banat Gruppe-166 Barańczak, Stanisław-131 Barczyński, Henryk (Henoch)-125 Baron, Karol-209 Barta, Sándor-45, 277, 280, 290f., 294, 297, 300 Bartuška, Josef-204 Basch, Edit-65 Bašičević, Dimitrije-→ Mangelos Basil, Otto-80 Baudelaire, Charles-17, 82 Bauer, Otmar-105 Bauer, Wolfgang-79 Bäumer, Eduard-116 Bayer, Konrad-78f., 81-88, 110f., 113f., 122 Bažan, Mykola-244, 248f. Bazarnik, Katarzyna-132 Becce, Giuseppe-218 Beck, Gustav Kurt-81 Behrens, Franz Richard-113 Beneš, Vincenc-197 Benjamin, Walter-11, 23 Bense, Max-225 Bereś, Jerzy-129f., 132, 150ff., 155, 157 Bering, Vitus-111f. Berlewi, Henryk-125 <?page no="340"?> Beuys, Joseph-55, 67 Białoszewski, Miron-149f., 157 Biebl, Konstantin-203 Bisinger, Gerald-78, 87 Blatný, Ivan-207 Blauelich, Max-80 Boccioni, Umberto-126, 145 Bogdanović, Slavko-60f. Bogner, Dieter-74 Bogza, Geo-172f., 178f., 187f. Bojčuk, Mychajlo-248 Bondy, Egon-206, 210 Bor, Vane-42 Borowski, Włodzimierz-129 Bortnyik, Sándor-281, 300, 303 Bosch+Bosch-50, 52, 65f. Boštík, Václav-209 Boudník, Vladimír-208, 210 Brabec, Jiří-209 Brâncuşi, Konstantin-163f., 167 Brătescu, Geta-168 Brauner, Victor-160, 162, 164f., 171, 177ff., 184ff., 189f., 196 Brecht, George-58 Breton, André-42, 80, 161, 165, 173, 175, 177f., 192ff., 203, 205, 212, 217, 220, 233, 283 Březina, Otakar-24 Breznyik, Peter-295, 307 Brikcius, Eugen-211 Broch, Hermann-23f. Brock, Bazon-103 Broderson, Moische-125 Bronner, Gerhard-85 Brouk, Bohuslav-203 Brus, Günter-88, 90-94, 102-105, 114, 116-119, 122 Bruszewski, Wojciech-131, 136 Brzękowski, Jan-125 Buchmüller, Éva-295, 307 Bujdosó, Alpár-287f., 291f., 311 Burda, Vladimír-236 Buren, Daniel-50, 55 Bürger, Peter-11ff., 15, 20, 23, 25, 160 Burian, Emil František-201, 230 Burljuk, David-241 Cage, John-155, 208 Čapek, Josef-197, 222 Čapek, Karel-75 Carnap, Rudolf-75 Cărtărescu, Mircea-32 Ceauşescu, Nicolae-167f., 179 Cejpek, Lucas-79 Čekić, Jovan-69 Celan, Paul-12, 31, 160 Čermínová, Marie-→ Toyen Černigoj, Avgust-45 Černík, Artuš-199, 202 Černov, Leonid-257 Cézanne, Paul-138, 143 Chalupecký, Jindřich-207, 234f. Charta 77 Gruppe-212, 222, 225, 238 Chirico, Giorgio de-177 Chlanda, Marek-132 Chmeljuk, Vasyl’-249 Chruščin, Valentyn-251 Chvatík, Květoslav-209 Chvostenko-Chvostov, Oleksandr-247 Chwistek, Leon-124 Cibulka, Franziska-119 Cibulka, Heinz-105, 119 Čiglič, Marjan-64 Cizek, Franz-75 COBRA Gruppe-208 Cocteau, Jean-199, 303 340 Register <?page no="341"?> Čosić, Bora-58 Csernik, Attila-65 Čužyj, Andrij-245, 268f. Czechowicz, Józef-126 Czernin, Franz-Josef-79 Czyżewski, Tytus-124f., 138f. Dalí, Salvador-203, 288 Damnjanović-Damnjan, Radomir-50 Davičo, Oskar-42 David, Jií-212 de Kooning, Willem-167 Delak, Ferdo-45 Demetrescu-Buzău, Demetru-→ Ur‐ muz Depero, Fortunato-75 Déry, Tibor-280 Devětsil Gruppe 198-202, 213, 215, 218, 220, 229ff., 237 Diem, Helene-80 Dimitrijević, Braco-50, 55, 67f. Dimov, Leonid-166, 180, 196 Dmitrieva, Marina-247 Doderer, Heimito von-82 Doesburg, Theo van-75, 169 Döhl, Reinhard-236 Dollfuß, Engelbert-121 Domonko, István-305 Dovženko, Oleksandr-249, 269f., 274 Dragan, Nuša-50 Dragan, Srečo-50 Dryje, František-209 Duchamp, Marcel-11f., 55, 130 Dvorak, Josef-88, 99f. Dvorský, Stanislav-208f., 236f. Eco, Umberto-68 Effenberger, Vratislav-208f., 212, 236f. Eggeling, Viking-164 Egger, Oswald-79 Ehrenburg, Ilja-199 Ehrenfels, Christian von-75 Eichberger, Günter-79 Eisendle, Helmut-79 Ėjzenštejn, Sergej-249, 270 Elliott, David-8 Éluard, Paul-205, 233 Eörsi, István-24 Erben, Karel Jaromír-229 Erdély, Miklós-277, 285-288, 292, 295, 305, 311 Ernst, Max-41 Erzsébet Kassák-→ Ujvári, Erzsi Esenin, Sergei-126 Export, Valie-76, 88, 95, 120, 122 Exter, Alexandra-240f., 246f., 261 Fabry, Rudolf-205, 233 Fähnders, Walter-8 Fajfer, Zenon-132 Falk, Gunter-79 Falkner, Brigitta-79 Fára, Libor-205, 207 Fatur, Dragotin-45 Fila, Rudolf-211 Filko, Stano-211 Filla, Emil-197, 203 Fišer, Zbyněk-→ Bondy, Egon Flanagan, Barry-55 Fluxus Gruppe-211, 227 Foltýn, František-203 Fondane, Benjamin-160, 171 Fontana, Lucio-119 Förster, Uzzi-87 Frejka, Jiří-201, 213, 230 Freud, Sigmund-42, 75, 102, 119, 204 Register 341 <?page no="342"?> Friedman, Ken-227 Frischmuth, Barbara-79 Fritsch, Gerhard-80 Frohner, Adolf-88, 99, 116ff. Fuchs, Ernst-111 Fučík, Julius-232 Fulla, Ľudovít-199 Fundoianu, Benjamin → Fondane, Ben‐ jamin Funke, Jaromír-200, 216f. Füst, Milán-292 Fydrych (Major), Waldemar-132 Galanda, Mikuláš-199 Garlińska-Hansen, Zofia-152f. Gáyor, Tibor-287f. Geister, Iztok-64 Gerstl, Elfriede-78, 87 Gilbert & George-50 Glauser, Friedrich-183 Gočár, Josef-197, 203 Goldoni, Carlo-109 Goll, Yvan-41, 63, 199, 303 Gombrowicz, Witold-23 Gomringer, Eugen-82ff., 87 Goncharova, Natalia-280 Gorgona Group-51 Gorky, Arshile-167 Gorsen, Peter-88, 105 Gotovac, Tomislav (Antonio Lauer)-65 Gottwald, Klement-215 Grigorescu, Ion-160, 168 Grögerová, Bohumila-207, 210, 224f., 236 Grosmann, Jan-210 Gross, František-203, 205 Grossmann, Jiří-200 Grotowski, Jerzy-132, 284 Groys, Boris-13 Gruber, Reinhard P.-79 Grupa Młodych Plastyków-127 Guattari, Félix-180 Gütersloh, Albert Paris-81 Gyémánt, László-304 György, Mátyás-278 Hába, Alois-201 Hackenschmied, Alexander-202, 218 Hajas, Tibor-277, 287f., 292, 296, 305f., 308 Hák, Miroslav-207 Hakel, Hermann-82 Halász, Péter-284, 295f., 306f. Hammid-→ Hackenschmied, Alexan‐ der Hamvas, Béla-282 Hanč, Jan-207 Handke, Peter-79 Hansen, Al-118f. Hansen, Oskar-127, 152f., 157 Haraszty, István-66 Hauer, Elfriede M.-80 Hauer, Josef Matthias-74, 112 Hauková, Jiřina-207 Hausmann, Raoul-41, 63 Havel, Václav-22, 210, 222 Havlíček, Zbyněk-206, 209, 212, 237 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich-26 Hegyi, Lóránd-8 Heidsieck, Bernard-236 Heisler, Jindřich-205, 237 Hengstler, Wilhelm-79 Hennings, Emmy-183 Herbert, Zbigniew-149 Hérold, Jacques-165, 179 Hevesy, Iván-303 342 Register <?page no="343"?> Higgins, Dick-155 Hiršal, Josef-207, 210, 224f., 236 Hłasko, Marek-149 Hlavsa, Milan \„Mejla\“-211 Hoffenreich, Ludwig-88, 105 Hoffer, Klaus-79 Hoffmeister, Adolf-198, 203 Hofman, Vlastislav-197 Hofmannsthal, Hugo von-74 Hölzer, Max-80 Holzmeister, Clemens-107 Honys, Josef-210 Honzík, Karel-200 Honzl, Jindřich-199, 201, 214, 230 Horas, Josef-199 Horbačov, Dmytro-263 Horthy, Miklós-45 Hošek, Arne-203 Hrabal, Bohumil-208, 210, 222 Hrušovský, Igor-204 Hudeček, František-203, 207 Huebler, Douglas-50 Huelsenbeck, Richard-41, 183, 279, 297 Hulewicz, Jerzy-124 Hundertwasser, Friedensreich-83, 111 Hybner, Boris-211 Hynek, Karel-204, 212, 220, 237f. Iancu, Marcel-160f., 163f., 176f., 182f., 196 Illyés, Gyula-303 Iovanaki, Eugen-→ Vinea, Ion Irvanec’, Oleksandr-252 Istler, Josef-205, 208 Jakobson, Roman-221 Janco, Marcel-→ Iancu, Marcel Jandl, Ernst-78, 80, 84, 103 Janiak, Marek-137f. Jankovič, Jozef-211 Janoušek, František-203 Jarry, Alfred-162, 177, 210 Jaruzelski, Wojciech-157 Jasieński, Bruno-125, 134 Jean, Marcel-282 Jelinek, Elfriede-79 Jemnitz, Sándor-281, 303 Jené, Edgar-80 Jeřábek, Čestmír-202 Jermilov, Vasyl’-246, 265f., 274 Ješkiljev, Volodymyr-258 Ježek, Jaroslav-218 Jilemnický, Peter-199 Jirous, Ivan \„Magor\“-211 Jonke, Gert-79 Jovanović, Đorđe-42 Joyce, James-23f. József, Attila-23, 283 Juliš, Emil-207f. Juvančič, Friderik-37 Kadosa, Pál-281f. Kafka, Franz-23 Kalivoda, Robert-206, 209 Kállai, Ernő-282 Kaltenbäck, Franz-88, 105 Kandinsky, Wassily-45 Kann, Hans-81 Kant, Immanuel-101 Kantor, Tadeusz-127, 129f., 147f., 150, 157 Kaprow, Allan-211 Kassák, Lajos 24, 41, 45, 63, 65f., 74, 164, 199, 278-281, 289ff., 293ff., 297, 299f., 302, 311 Kawara, On-50 Register 343 <?page no="344"?> Kein, Ernst-80, 84 Kelen, Hugo-282 Kemény, Katalin-282 Kerekes, László-65 Khan, Batu-286 Kiesler, Friedrich-75f., 121 Kiesler, Hedy-218 Kiss, Pál-282 Klee, Paul-164 Klein, Siegfried-88 Klein, Yves-119 Klien, Erika Giovanna-75, 121 Klimt, Gustav-74 Klinger, Kurt-80, 83 Klocker, Hubert-120 Knížák, Milan-211, 226f. Koba, Jerzy-137 Kobro, Katarzyna-126, 144-147, 152 Kocáb, Michael-211 Kocjubyns’kyj, Mychajlo-251 Kôd-Gruppe-52, 55, 66 Koeck, Hanel-88, 105 Kogoj, Marij-45 Kokoschka, Oskar-74 Kolář, Jiří-207, 210, 222f., 225, 235f. Kollár, Marianne-284, 295 Koller, Július-211, 228 Kolleritsch, Alfred-79 Kölz, Ernst-83 Komját, Aladár-278 Konrád, Karel-230 Koós, Anna-284, 295, 307 Kornhauser, Julian-131 Kosarjev, Borys-246f. Kostić, Đorđe-42 Kosztolányi, Dezső-23 Kotík, Jan-208 Kovanda, Jiří-210 Kovžun, Pavlo-245 Kozioł, Urszula-149 Kozłowski, Jarosław-130 Kozma, József-281f. Král, Petr-209, 236f. Kraus, Karl-63 Kreisky, Bruno-122 Kreisler, Georg-85 Krejcar, Jaromír-200 Krejcarová, Jana-206 Krejči, František Václav-24 Krekovics, István-65 Kremlička, Rudolf-197 Kren, Kurt-76, 88, 93, 103, 105, 117f. Kristl, Vlado-50 Krleža, Miroslav-47 Krögerová, Bohumila-22 Kroha, Jiří-204 Kručenych, Aleksej-241 Krynicki, Ryszard-131 Krystufek, Elke-95 Krzywobłocki, Aleksander-126 Kubelka, Peter-76, 105, 110 Kubicka, Margarete-125 Kubicki, Stanisław-125 Kubišta, Bohumil-197 Kuchling, Heimo-117 Kulik, Zofia-130, 157 Kundera, Ludvík-206 Kundera, Milan-10 Kupka, František-203 Kurbas, Les’-247, 250, 274 Kurek, Jalu-125 Kurtág, György-283, 294 Kvero Gruppe-242 Kwiek, Przemysław-130, 157 Kwietniewski, Andrzej-137 344 Register <?page no="345"?> Lach-Lachowicz, Natalia (Natalia LL)-130f. Ladik, Katalin 65, 68, 286, 288, 295, 304f. Lagtan, Kader-156 Lajn, Levon-→ Skrypnyk, Leonid Lampersberg, Gerhard-81, 87, 111 Lass, Andrew-209 Lassnig, Maria-83, 95, 120 Lauer, Antonio-→ Gotovac, Tomislav (Antonio Lauer) Lebel, Jean Jacques-211 Le Corbusier-204 Leger, Ferdinand-75 Lehmden, Anton-83 Lehner, Waltraud-→ Export, Valie Lenica, Alfred-129 Lenko, Július-234 LeWitt, Sol-50, 55 Lhoták, Kamil-207 Libera, Zbigniew-132 Lichtenfeld, Monika-113 Lichtenstein, Roy-167 Ligeti, György-283, 294 Linhartová, Věra-209 Lissitzky, El (Eliezer)-243 Locker, Salman-→ Luca, Gherasim Łódź Kaliska-132, 136ff., 157 Logothetis, Anestis-88 Loos, Adolf-74, 81 Lorenc, Zdeněk-205f. Lotman, Jurij-21, 29 Lovecraft, H.P.-109 Luca, Gherasim-160, 163, 165f., 172ff., 179, 188, 191ff., 196 Ludwig XIV.-112 Lukács, György-24 Lukas, Jan-204 Mácha, Karel Hynek-204, 220, 238 Machar, Jasoslav Svatopluk-24 Machatý, Gustav-218 Maciunas, George-58, 227, 236 Mácza, János-277, 284, 300 Máczas, János-293 Ma Gruppe-277-281, 290, 299f., 311 Magyar, Zoltán-65 Mahen, Jiří-202 Majakovskij, Vladimir 125, 269, 271, 281 Makavejev, Dušan-48, 65 Makovský, Vincenc-203f. Malevič, Kazimir-241, 248, 262f. Malewitsch, Kasimir-126, 280 Mallarmé, Stéphane-236 Mangelos-51 Mann, Thomas-23 Manzoni, Piero-119 Mařánek, Jiří-230 Marcus, Eduard-→ Voronca, Ilarie Marcuse, Herbert-11 Marenčin, Albert-209 Marinetti, Filippo Tommaso-11, 15, 41, 63, 75, 126, 133f., 201, 239, 254 Markalous, Evžen-200 Marvánek, Otakar-197 Marx, Karl-42 Masaryk, Tomáš Garrigue-17 Mathieu, George-89 Matković, Slavko-52, 59, 65f. Mattis-Teutsch, Hans-160 Mauthner, Fritz-74, 86, 114 Maxy, M. H.-163f., 171, 173 Mayerová, Milča-214 Mayröcker, Friederike-78, 80, 84 Medek, Mikuláš-207f., 237 Medková, Emila-203, 208 Megyik, János-287f., 291, 311 Register 345 <?page no="346"?> Mehring, Walter-41 Meller, Vadym-247, 271 Mellers, Vadym-247 Menzel, Jiří-201 Metzger, Gustav-103 Mezei, Árpád-282 Micić, Ljubomir 30, 39, 41f., 45, 56f., 62f. Milivojević, Era-66 Miró, Joan-203 Mitrinović, Dimitrije-30, 37 Mittay, László-303 Mizera, Otta-206 Mlčoch, Jan-210 Młodożeniec, Stanisław-125 Mlynárčik, Alex-210 Mnizok, Milan-103 Moholy-Nagy, László-45, 141, 271, 281, 300 Mojžiš, Juraj-209 Mondrian, Piet-75 Moreno, Levy-75 Morgenstern, Christian-161 Mueller-Preuss, Peter-105 Mühl (Muehl), Otto-88, 90, 92-95, 98f., 101-105, 114, 116-119, 122 Mukařovský, Jan-204, 234 Müller, Herta-166 Müller, Robert-23, 75 Munch, Edvard-197 Musil, Robert-23 Mussolini, Benito-112 Muzika, František-203 Nagy, László-283 Nagy, Pál-287, 292, 295 Najmányi, László-306 Nałkowska, Zofie-223 Nápravník, Milan-208f. Natalia LL-130f. Naum, Gellu-163, 165, 178f., 193f., 196 Navrátil, Václav-235 Neagu, Paul-21, 31, 168 Neborak, Viktor-252 Neiss, Friederike-118 Nepraš, Karel-211 Nerval, Gérard de-82 Neumann, Stanislav Kostka-197 Neurath, Otto-75 Nezval, Vítězslav-202-205, 209, 213f., 218, 220, 230, 232f. Nietzsche, Friedrich-56 Nikl, Petr-212 Nina-Naj-39 Nitsch, Hermann-88f., 92-95, 98f., 101ff., 105, 114, 116-119, 122 Novák, Ladislav-210, 225 Novomeský, Ladislav-199 Novotný, Otakar-202 OHO-Gruppe-55, 58, 64 Okáli, Daniel-199 Okopenko, Andreas-78, 80f., 84 Ono, Yoko-103 Orville, Christian d’-105 Pal’mov, Viktor-248 Palasovszky, Ödön-281, 284, 291, 294, 303, 311 Pán, Imre-282 Pană, Saşa-173, 176, 196 Paradžanov, Sergej-251 Paripović, Neša-55, 61, 66, 69 Parmenides-222 Partum, Andrzej-155f. Passmore, George-→ Gilbert & George Păun, Paul-165, 172, 196 346 Register <?page no="347"?> Paz, Octavio-25 Peiper, Tadeusz-125, 135 Pejić, Bojana-8 Perahim, S.-172 Péri, László-281 Pessoa, Fernando-23 Petraşcu, Miliţa-163f. Petryc’kyj, Anatol’-247, 271 Picasso, Pablo-24, 197 Picelj, Ivan-50 Pinczehelyi, Sándor-66 Piotrowski, Piotr-7, 155 Pirandello, Luigi-23 Pitter, Emil-204 Pock, Rosa-109 Podbevšek, Anton-45 Poe, Edgar Allan-82 Pogačnik, Marko-64 Polakovics, Friedrich-80 Poliščuk, Valerijan-245f., 248, 258, 264, 274 Poljanski, Anuška-39 Poljanski, Branko Ve = Branislav Micić-30, 37, 39, 41, 45 Pollock, Jackson-167, 210 Ponc, Miroslav-201 Poničan, Ján-199 Pop, Ion-169 Popović, Zoran-55, 66 Porębski, Mieczysław-157 Pospíšilová, Marie-203 Považan, Michal-234 Prachensky, Marcus-89 Prampolini, Enrico-75, 271 Prichan, Emil-107 Priessnitz, Reinhard-79 Pröll, Erwin-119 Pronaszko, Andrzej-124 Pronaszko, Zbigniew-124 Prousch, Gilbert-→ Gilbert & George Proust, Marcel-23 Przyboś, Julian-125f., 144 Půlnoc Gruppe-206 Qualtinger, Helmut-85 Radax, Ferry-110f. Radok, Alfréd-211 Radovanović, Vladan-57 Rainer, Arnulf-83, 88, 116 Raith, Tivadar-278 Rašica, Božidar-50 Rauschenberg, Robert-167 Ray, Man-141, 200, 202 Reich, Wilhelm-118, 174 Reichert, Klaus-109 Reich-Sielska, Margit-126 Reisel, Vladimír-205, 234 Révai, József-282 Richter, Hans-164, 169 Richter, Vjenceslav-50 Rimbaud, Arthur-161 Ristić, Marko-42, 45 Robakowski, Józef-131, 136f., 155f. Rodtschenko, Alexander-280 Róna, Jaroslav-212 Rosei, Peter-79 Rosenstock, Samuel-→ Tzara, Tristan Rössler, Jaroslav-200 Roth, Dieter-103 Roth, Gerhard-79 Rozenstein, Erna-127, 129 Rühm, Gerhard-78f., 81-88, 97f., 105, 107, 110-113, 122 Rykr, Zdeněk-222 Rzepecki, Adam-137 Register 347 <?page no="348"?> Šalda, František-24 Saussure, Ferdinand de-57 Savić, Maja-69 Schad, Christian-141 Schiele, Egon-74 Schilling, Alfons-88, 116 Schlegel, Friedrich-13 Schmatz, Ferdinand-79 Schmidt, Ernst-76, 118 Schmied, Wieland-80f., 84 Schönberg, Arnold-74 Schorm, Evald-211 Schulmeister, Therese-95 Schulz, Karel-199, 230 Schwarzkogler, Rudolf-88f., 93f., 100ff., 117-120 Schwitters, Kurt-41, 164, 279ff., 297 Segal, Arthur-163f. Seidlhofer, Bruno-112 Seifert, Jaroslav-23, 198, 202, 214f., 230 Šejka, Leonid-63 Semenko, Mychajl’ 239, 241f., 244f., 247, 249, 253f., 260, 267, 270, 273f. Semenko, Vasyl’-245 Serna, Ramón Gómez de la-83 Ševčenko, Taras-247, 260 Seydl, Zdenek-205 Šíma, Josef-203 Šimičić, Darko-46 Simmel, Georg-25 Simon, Jolán-279, 284, 293, 297, 300 Skrypnyk, Leonid-249 Skupina československých surrealistů Gruppe-212 Skupina-Gruppe 42-207, 234, 238 Skupina Ra-206, 209 Škurupij, Geo-244, 248, 274 Škvorecký, Josef-208 Smolová, Zdena-202 Sobačko, Hanna-240 Sociofoto Gruppe-216 Sokrates-222 Sonnenschein, Hugo-75 Sotnyk, Dan-271 Souček, Karel-205 Součková, Milada-221f. Špála, Václav-197 Spoerri, Daniel-12 Spořilovští surrealisté-206 Srnec, Aleksandar-50 Stalin, Josef 13, 18, 28, 127, 149, 157, 250 Stallich, Jan-218 Stanković, Paja-69 Stażewski, Henryk-126f., 129 Steiger, Dominik-88 Steiner, Anna-116, 120 Stejskal, Martin-209 Steklík, Jan-211 Štembera, Petr-210 Stern, Anatol-125, 133 Stieglitz, Waltraud-105 Stojanović, Lazar-48 Streng, Henryk-126 Strzemiński, Władysław-126, 129, 136, 143ff., 152, 157 Štyrský, Jindřich-202f., 205, 209, 214, 220, 231f., 234, 237 Sudek, Josef-200 Šuvaković, Miško-68f. Šváb, Ludvík-209 Švankmajer, Jan-209, 212 Švankmajerová, Eva-209 Švecová, Soňa-211, 227 Sviták, Ivan-209, 237 Svoboda, Jiří-214 Świetlik, Andrzej-137 348 Register <?page no="349"?> Syčov, Stanislav-251 Synjakova, Marija-240 Szabó, Ferenc-281f. Szalma, László-65 Szapocznikow, Alina-127, 153ff. Szeemann, Harald-120 Szelényi, István-281f. Szentjóby, Tamás-66, 276f., 283, 286ff., 292, 296, 304-307, 311 Szilágyi, Domokos-305 Szinház, Belvárosi-293, 295 Szittya, Emil-75 Szombathy, Bálint-52, 59, 65, 288 Szymanowski, Karol-142 Tarnavs’kyj, Jurij-251 Tatlin, Vladimir-241, 244, 280 Teige, Karel-14, 41, 63, 164, 198, 200ff., 204, 206-209, 214ff., 229-232, 235 Teodorescu, Virgil-196 Ţepeneag, Dumitru-160, 166, 174, 180, 196 Terharen, Walter-114 Teutsch, Mattis-164, 171 Themerson, Franciszka-141f. Themerson, Stefan-141f. Timur-112 Tito, Josip Broz-18, 36 Todosijević, Raša-55, 66 Tolnai, Otto-288 Tomanović, Slobodan-65 Tomić, Biljana-69 Torberg, Friedrich-82 Tóth, Gabor-66 Toyen 202f., 205, 209, 219f., 231, 234, 237 Trakl, Georg-82 Trbuljak, Goran-50, 55, 67f. Trost, Dolfi/ Dolphi-165, 173f., 179, 196 Tsepeneag, Dumitru-180 Tubák, Csaba-287, 289, 310f. Turba, Ctibor-211 Tuwim, Julian-142 Tvrdohlaví Gruppe-212 Tvrdošíjní Gruppe-197, 212 Tzara, Tristan-21, 31, 41, 63, 126, 160ff., 168f., 176f., 183, 196, 205, 233, 281 UDS Gruppe-209, 237f. Uitz, Béla-277, 280f. Ujvári, Erzsi-294, 296 Ujvary, Liesl-79 Ullmann, Viktor-201 Umansky, Konstantin-280 Urkom, Gergelj-67 Urmuz-31, 161f., 175, 178, 180f. Vaché, Jacques-162 Vajda, Lajos-282f. Vakar, Gro-245 Valoch, Jiří-211 Vančura, Vladislav-198f., 201, 218, 230 Vaništa, Josip-51 VAPLITE Gruppe-242, 248, 264 Vasari, Ruggero-75 Vautier, Ben-58 Vávra, Otokar-202 Végel, László-288 Végh, László-283 Vertov, Dziga-249, 270 Villon, François-109 Vinaver, Stanislas-30, 37 Vinea, Ion-161, 164, 168ff., 176f., 196 Vodseďálek, Ivo-206, 210 Vogel, Debora-250 Voronca, Ilarie-170f., 177f., 184ff., 190, 196 Register 349 <?page no="350"?> Voskovec, Jiří-200, 231 Vostell, Wolf-103 Vukov, Ante-65 Vyskočil, Ivan-210 Walden, Herwart-279 Warhol, Andy-155, 167 Waśko, Ryszard-131 Wat, Aleksander-125, 133 Waterhouse, Peter-79 Weber, Max-17 Weibel, Peter-76, 88, 95, 103, 120, 122 Weigel, Hans-82 Weiner, Lawrence-55 Weiskopf, Franz Carl-199 Weißenborn, Hanns-80 Weissenborn, Hanns-81, 83 Werich, Jan-200, 231 Werich, Jaroslav Ježek-200 Wielogórski (Makary), Andrzej-137 Wiener, Ingrid-115 Wiener, Oswald-78f., 81ff., 85-88, 97, 105, 114f., 118, 122 Witkiewicz (Witkacy), Stanisław Ignacy-124, 126, 148, 150 Wittgenstein, Ludwig 27ff., 69, 86f., 114, 116, 291 Włodarski, Marek-→ Streng, Henryk Wodiczko, Krzysztof-130f. Wolker, Jiří-198f., 228f. Wotruba, Fritz-117 Zábrana, Jan-208 Žadan, Serhij-253, 266, 272, 274 Zajíček, Pavel-211 Zamoyski, August-125 Žáry, Štefan-205 Zeemann, Dorothea-82 Zet Molas-→ Smolová, Zdena Žilnik, Želimir-48, 58 Zívr, Ladislav-207 Zlobec, Jaša-60 Zrzavý, Jan-197 Zykmund, Václav-206 350 Register <?page no="351"?> ISBN 978-3-8252-6016-3 Publikationen zum Thema ‚Avantgarde‘ erscheinen in der Regel in verschiedenen Nationalsprachen und sind so Teil von nationalen Diskussionen, die von außen schwer zu verfolgen sind. Dieses Studienbuch erschließt die avantgardistische Kultur Zentraleuropas in einer Gesamtschau. Die Region Zentraleuropa findet sich auf keiner Landkarte - sie bildet aber eine spezifische Einheit, die sich insbesondere historisch-und kulturgeschichtlich als geschlossenes Biotop anschauen lässt. Verhandelt werden als bedeutend erachtete Künstlerpersönlichkeiten, sogenannte Zentren, sogenannte Peripherien und als paradigmatisch geltende Bewegungen. Kulturwissenschaft | Kulturgeschichte Dies ist ein utb-Band aus dem Narr Francke Attempto Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehr- und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel