Tourismussoziologie
0904
2023
978-3-8385-6037-3
978-3-8252-6037-8
UTB
Kerstin Heuwinkel
10.36198/9783838560373
Alle Ansätze und Paradigmen im Überblick Tourismus nur durch die ökonomische Brille zu betrachten, greift zu kurz. Die Tourismuswirtschaft ist bedingt durch gesellschaftliche Zustände und Praktiken. Schließlich agieren Besucher:innen, Einheimische und touristische Dienstleister:innen miteinander. Auf dieses Beziehungsgeflecht geht Kerstin Heuwinkel ein: Sie stellt tourismussoziologische Ansätze und Paradigmen vor, skizziert wichtige Methoden und vermittelt die Vielzahl von soziologischen Zugängen zum Tourismus - z. B. Werte und Normen, Rollen, Macht und Identität. Soziologische Anwendungsfelder skizziert sie zudem - u. a. Verantwortung im Tourismus, Mobilitäten, Embodiment und soziale Medien.
Ein Buch für Studierende der Tourismuswissenschaft, Soziologie und Humangeografie.
<?page no="0"?> Kerstin Heuwinkel Tourismussoziologie 2. Auflage <?page no="1"?> utb 4923 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Brill | Schöningh - Fink · Paderborn Brill | Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen - Böhlau · Wien · Köln Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Narr Francke Attempto Verlag - expert verlag · Tübingen Psychiatrie Verlag · Köln Ernst Reinhardt Verlag · München transcript Verlag · Bielefeld Verlag Eugen Ulmer · Stuttgart UVK Verlag · München Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld Wochenschau Verlag · Frankfurt am Main <?page no="2"?> - - - - - Prof. Dr. Kerstin Heuwinkel lehrt Tourismussozio‐ logie, nachhaltiges Tourismusmanagement sowie Kul‐ turmanagement an der htw saar in Saarbrücken. Ihre Forschungsfelder sind Gesellschaft und Tourismus, Community-based Tourism und Gendergerechtigkeit im Tourismus. <?page no="3"?> Kerstin Heuwinkel Tourismussoziologie - 2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - UVK Verlag · München <?page no="4"?> 2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage 2023 1. Auflage 2019 DOI: https: / / doi.org/ 10.36198/ 9783838560373 © UVK Verlag 2023 ‒ ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Ver‐ vielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: in‐ nen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: siegel konzeption | gestaltung CPI books GmbH, Leck utb-Nr.: 4923 ISBN 978-3-8252-6037-8 (Print) ISBN 978-3-8385-6037-3 (ePDF) ISBN 978-3-8463-6037-8 (ePub) Umschlagabbildung: Pavliha ∙ iStockphoto Autorinnenfoto: © Mats Karlsson (für htw saar) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 9 11 1 13 2 19 2.1 20 2.1.1 21 2.1.2 26 2.1.3 29 2.1.4 31 2.1.5 34 2.2 37 2.2.1 39 2.2.2 40 2.2.3 43 2.2.4 44 2.2.5 46 2.2.6 49 2.2.7 51 2.2.8 54 2.2.9 82 2.2.10 90 2.2.11 92 2.2.12 93 2.3 97 2.3.1 100 2.3.2 102 2.3.3 103 2.3.4 104 2.3.5 106 Inhalt Vorwort zur zweiten Auflage - Krisen als neue Normalität? . . . . . . . . . Vorwort zur ersten Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung der Tourismussoziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ansätze bei den Gründer: innen der Soziologie . . . . . . . . . . Max Weber: Deutendes Verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karl Marx: Waren, Entfremdung und Kontrollverlust . . . . Émile Durkheim: Anomie, das Heilige, Repräsentationen . Georg Simmel: Wandernder, Fremder, Reisebekanntschaft Erving Goffman: Interaktion, Theater und Gender . . . . . . . Tourismussoziologische Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leopold von Wiese: Zwischenmenschliche Beziehung . . . Hans Magnus Enzensberger: Theorie des Tourismus . . . . . Hans-Joachim Knebel: Strukturwandel im Tourismus . . . . Tourismuskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dean MacCannell: Moderne Pilger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nelson Graburn: Tourismus als Ritual und Spiel . . . . . . . . . John Urry: The Tourist Gaze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erik Cohen: Soziologie des Tourismus . . . . . . . . . . . . . . . . . Christaller, Butler & Co.: Destinationslebenszyklus . . . . . . Arlie Hochschild: Emotionale Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cynthia Enloe: »Making Feminist Sense« . . . . . . . . . . . . . . Zygmund Bauman: Liquid Modernity . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methoden der Tourismussoziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Typologien und Klassifikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beobachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Repräsentative Befragungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzelfallansatz: Reisebiografien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 2.3.6 107 2.3.7 108 2.3.8 109 2.3.9 109 2.3.10 109 3 113 3.1 115 3.2 117 3.3 123 3.4 126 3.5 127 3.6 136 3.7 139 3.8 145 3.9 148 3.10 154 3.11 160 3.12 162 3.13 166 3.14 175 3.15 178 4 185 4.1 187 4.2 195 4.3 200 4.4 205 4.5 208 4.6 217 4.7 224 4.8 227 4.9 234 4.10 238 5 245 249 Expert: inneninterviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhaltsanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fallstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spurensuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E-Methoden: Onlinebefragung und Netnografie . . . . . . . . . Soziologische Zugänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . System und Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werte und Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kultur und interkulturelle Begegnung . . . . . . . . . . . . . . . . . Rollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konstruktion, Performativität und Objectification . . . . . . . Feminismus und Genderforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rituale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Devianz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Identität, Lebensstil und Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mediale Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Umfeld, Objekte und Technologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tourismussoziologische Anwendungsfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gefahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Angst als Konsumgut - Emotionen im Tourismus . . . . . . . Begegnung mit Ungleichheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Logik des Tourismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gender und Tourismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tiere im Tourismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Voluntourismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inszenierung: Körper und Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesundheit und Medizintourismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mediatisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reisen ist soziales Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> 270 273 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 7 <?page no="9"?> Vorwort zur zweiten Auflage - Krisen als neue Normalität? In Interviews wurde mir mehrfach die Frage gestellt, ob Tourismus vor dem Hintergrund der andauernden Krisen überhaupt noch möglich sei und wie die Zukunft aussehen wird. Eine Antwort darauf ist vielschichtig. Sie muss die Gründe des Tourismus beschreiben und erklären, warum Menschen reisen. Darüber hinaus muss auf die wirtschaftliche Abhängigkeit vieler Länder von den Einnahmen aus dem Tourismus eingegangen werden. Weiterhin ist zu zeigen, dass viele Krisen respektive der Umgang damit leider inzwischen zur Normalität geworden sind, und Menschen gelernt haben, diese auszublenden. Gerade das Reisen steht ja in der Tradition von Ausblenden und Ignorieren. Schließlich handelt es sich beim Tourismus als weltweiten Wirtschaftszweig um ein stabiles, interessengetriebenes System mit zahlreichen Absicherungsmechanismen, das kontinuierlich Angebote kreiert, die ein Vergessen ermöglichen. Die Beschäftigung mit diesen Fragen ist in die zweite Auflage einge‐ flossen. Im Vordergrund standen ganz zu Beginn Überprüfungen und Ergänzungen. Die Notwendigkeit einer Überprüfung ergab sich zunächst aus der Corona-Pandemie, insbesondere den damit verbundenen Reisebe‐ schränkungen, sowie den Hoffnungen auf einen »neuen« Tourismus. Wenig überraschend, hat sich kaum etwas geändert und das Geschäft mit dem Reisen hat wieder an Fahrt aufgenommen. Ergänzungen ergaben sich vor allem aus eigenen tourismussoziologi‐ schen Überlegungen und der Suche nach Lücken in der Theorie. Eine dieser Lücken zeigte sich bei den grundlegenden Werken der Soziologie. Es fehlte der frühe Hinweis auf Konflikte und Erklärungsansätze für die scheinbar nicht zu stoppende Dynamik des Tourismus. Eine Antwort darauf gab Karl Marx, dessen Aussagen bereits in der ersten Auflage Beachtung fanden, allerdings nur in Fußnoten und Verweisen. Der kritische Blick wurde ergänzt durch die Aufnahme von Cynthia Enloe und Arlie Hochschild in den Theorieteil. <?page no="10"?> Schließlich fand eine sprachliche Aktualisierung mit dem Ziel der Ver‐ wendung einer nichtdiskriminierenden Sprache (bezogen auf Gender, Alter, Herkunft, sexuelle Orientierung, körperliche, geistige und soziale Fähigkei‐ ten) statt. Eine Aktualisierung von Zahlenmaterial bedeutete aufgrund der Pandemie eine Herausforderung. An vielen Stellen sind Daten aus den Jahren 2018 und 2019 repräsentativer als aus den Jahren 2020 bis 2023. Das Literaturverzeichnis wurde ebenfalls ergänzt. Unverändert ist mein Dank an die Menschen, die mich beim Schreiben begleitet und meine dem Schreiben geschuldete geistige Abwesenheit ertra‐ gen haben. Köln, im Juli 2023 Kerstin Heuwinkel 10 Vorwort zur zweiten Auflage - Krisen als neue Normalität? <?page no="11"?> 1 Cohen selbst sieht sich nicht als professionellen Tourismusforscher, sondern als Sozio‐ logen/ Anthropologen, der, unter anderem, Tourismusforschung betreibt. Vorwort zur ersten Auflage Dieses Buch soll ein Gefühl für die Möglichkeiten und Freude an der Auseinandersetzung mit der Vielschichtigkeit des Tourismus ausgehend von soziologischen Ideen vermitteln. Es dient im Wesentlichen Studierenden aus Tourismusstudiengängen dazu, einen Überblick über soziologische Theorien und Konzepte mit Touris‐ musbezug sowie über explizite tourismussoziologische Arbeiten zu erhalten. Weiterhin können Studierende der Soziologie auf diese Weise den direkten Anwendungsbezug ihres Faches erkennen. Die Kapitel bauen aufeinander auf und sollten chronologisch gelesen werden. In → Kapitel 1 werden zentrale Begriffe wie Tourismus und Touris‐ mussoziologie vorgestellt und abgegrenzt. Definitionen und Abgrenzungen leiten über zur Darstellung der Entwicklung der Tourismussoziologie in → Kapitel 2. Dazu wird erstens in den klassischen Werken der Soziolo‐ gie nach tourismusrelevanten Ansätzen gesucht. Zweitens werden ausge‐ wiesene tourismussoziologische Arbeiten vorgestellt. Das Kapitel enthält ebenfalls eine Übersicht häufig eingesetzter Methoden. In → Kapitel 3 folgt die Klärung zentraler Konzepte, die einen soziologischen Zugang zum Tourismus ermöglichen. Konkrete Anwendungsfelder bilden den Inhalt von → Kapitel 4. Zu den Feldern gehören u.a. Angst als Konsumgut, Gender und Tourismus sowie Mediatisierung. »Reisen ist soziales Handeln« fasst die Erkenntnisse des Buches in →-Kapitel 5 zusammen. Ein Buch zu schreiben ist eine Reise - eine Reise in die Gedankenwelten anderer Menschen. Viele dieser Menschen sind nicht mehr am Leben, so dass ich nicht überprüfen konnte, ob meine Deutung ihrer Worte korrekt ist. Zum Glück konnte ich feststellen, dass die zentrale Person der Touris‐ mussoziologie - Erik Cohen 1 - sehr lebendig und aktiv ist und weiterhin neue Themen des Tourismus aus soziologischer und anthropologischer Perspektive betrachtet. Auch wenn unsere Meinungen über den Tourismus an einigen Stellen voneinander abweichen, stimmen wir doch darin überein, <?page no="12"?> dass es sich bei Tourismus »[…] um einen dynamischen sozialen Prozess [handelt], der ständig zu neuer Problematik führt [und der] tief mit anderen sozialen Prozessen verwickelt [ist]« (Cohen, persönliche Nachricht, 2018). Es ist meiner Meinung nach sehr wichtig, im Dialog zwischen Menschen über menschliches Handeln zu sprechen, Begriffe zu finden und unter‐ schiedliche Erklärungsmuster auszuprobieren. Es wäre schön, wenn dieses Buch einige Menschen in die Lage versetzen würde, sich an dem Gespräch über Tourismussoziologie zu beteiligen. Herzlichen Dank an meinen Lektor Rainer Berger, der mich auf die Idee brachte, die Inhalte meiner Lehrveranstaltung als Ausgangsbasis für ein Buch zu nehmen. Dank auch an die Studierenden für die Kommentare, ihre Reaktionen und Diskussionen. Alle weiteren Danksagungen erfolgen persönlich. Saarbrücken, September 2018 Kerstin Heuwinkel 12 Vorwort zur ersten Auflage <?page no="13"?> 1 Einführung Tourismus schwankt zwischen der »vergeblichen Brandung der Ferne« (En‐ zensberger, 1958) und der Kalkulation der durchschnittlichen Zimmeraus‐ lastung in einem Hotel, zwischen philosophischen Annahmen über die dem Menschen inne liegende Motivation zu reisen und betriebswirtschaftlichen Kennzahlen oder der geografischen Betrachtung räumlicher Strukturen. Wissenschaftliche Publikationen reichen von den Emotionen eines Ad‐ venture Guides im Umgang mit den Tourist: innen bis zu den Auswirkungen des Prostitutionstourismus auf dörfliche Strukturen. Es werden sowohl Destinationen als soziale Systeme, Interaktionen zwischen Reisenden und Einheimischen als auch die Arbeitsbedingungen thematisiert. Neben theo‐ retischen Konzepten werden empirische Studien durchgeführt. Jeder der genannten wissenschaftlichen Zugänge zu dem Themenbereich Tourismus hat seine Rechtfertigung. In Deutschland überwiegen betriebs‐ wirtschaftliche sowie geografische Ansätze. In anderen europäischen Län‐ dern hingegen wird Tourismus im stärkeren Maße aus der kulturwissen‐ schaftlichen Perspektive betrachtet. Gründe dafür finden sich sowohl in der Geschichte des Tourismus als auch in den wissenschaftsinternen Logiken. In diesem Buch wird Tourismus als gesellschaftliches Phänomen gesehen, das sowohl die Lebenswelten und Praktiken einzelner Menschen als auch Gruppen, Organisationen, Institutionen und Gesellschaften beeinflusst re‐ spektive aus diesen hervorgeht. Beispielsweise kann gezeigt werden, dass die Motive und Formen des Urlaubs in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Zuständen variieren. Zum einmaligen Jahresurlaub am Strand kommen Kurztrips in Städte hinzu. Wenn zwischenmenschliche Beziehungen im Alltag immer flüchtiger wer‐ den, steigt die Bedeutung des Familienurlaubs. Menschen, die von anderen Menschen enttäuscht sind, finden Ersatz in einem Haustier, das als Reisebe‐ gleitung fungiert. Andererseits wirkt sich der Tourismus auf das natürliche, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Umfeld von Menschen aus. Touristische Aktivitäten verändern Lebenswelten und Lebenschancen, sie beeinflussen die Beziehun‐ gen zwischen Menschen und Teilaspekte ganzer Gesellschaften. Dieses gilt <?page no="14"?> 2 Zur Geschichte der Tourismusforschung und der (missglückten) Berücksichtigung der Soziologie vgl. Spode (2012). sowohl für die Tourist: innen als auch für die Menschen in den Regionen, die besucht werden. Auch und gerade in Bezug auf das Verhältnis zwischen Tourist: innen und »Einheimischen« zeigen sich vielfältige Wechselwirkun‐ gen. Trotz der Verflechtung von Tourismus und Gesellschaft fehlt bislang eine systematische wissenschaftliche Analyse ausgehend von soziologischen Theorien und Methoden. Ein Blick in die Literatur zeigt nur eine geringe systematische und kontinuierliche Anwendung soziologischer Theorien und Methoden. Vereinzelt sind Studien zu finden, die ausgehend von sozio‐ logischen Konzepten touristische Phänomene beleuchten. Die Ergebnisse werden kaum in einen theoretischen Zusammenhang gestellt. Tourismusso‐ ziologie als Disziplin kann - zumindest in Deutschland - nicht nachgewie‐ sen werden. 2 Die explizite Nennung der Tourismussoziologie ist nur selten zu finden. Im Gegensatz dazu sind andere gegenstandsbezogene Soziologien wie die Medizin-, Medien-, Stadt-, Arbeits- und Organisationssoziologie fest in soziologischen Studiengängen verankert. Viele Fragen, Unsicherheiten und Entwicklungen, die im Zusammenhang mit Tourismus diskutiert werden, könnten beantwortet werden, wenn wir uns häufiger auf die Schultern von Riesen (Robert K. Merton) der Soziologie stellen würden. Dabei soll es nicht darum gehen, alles zu erklären, sondern darum mit Theorien mittlerer Reichweite ein Orientierungswissen anzubie‐ ten und zu lernen, deutend zu verstehen (Max Weber) statt pauschal das Verhalten »der Tourist: innen« zu verurteilen. Eine Formulierung von Erik Cohen (1979b) aufgreifend, soll der Platz des Tourismus in der Gesellschaft (place of tourism in society) bestimmt und hinsichtlich der daraus resultierenden Konsequenzen untersucht werden. Im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen somit die gesellschaftlichen Bedingungen und Wirkungen des Tourismus sowie des Menschen als ge‐ sellschaftliches Wesen, das sich bewusst und freiwillig von seinem Wohnort für eine begrenzte Zeit entfernt, um … tja, gerade dieses Warum ist bereits eine zentrale Frage der Tourismussoziologie. Die Antworten darauf reichen vom Motiv der Flucht vor dem Alltag bis zu einer von vier möglichen Lebensformen, die für die Gegenwart charakteristisch sind (Karl Marx, Zygmund Bauman). Vielleicht ist es auch nur die Faszination des Aufbruchs oder das Quengeln der Kinder, die im Sommer nicht zu Hause bleiben wollen. 14 1 Einführung <?page no="15"?> Die Auseinandersetzung mit den Erklärungen zeigt, dass alle Antworten ein bisschen falsch und ein bisschen richtig sind. Gesellschaft bietet einen Raum von Handlungsmöglichkeiten und sozia‐ len Praktiken. Menschen greifen diese auf, variieren sie und spielen damit. Tourismus umfasst sämtliche Handlungen, die eine (freiwillige) und zeitlich begrenzte Entfernung vom üblichen Umfeld umfassen und die Elemente des Systems touristischer Dienstleister nutzen. Abb. 1 Abb. 1: Startpunkt eines Wanderweges - Soziologie Soziologie versucht, »[…] soziales Handeln deutend zu verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich [zu] erklären« (Weber, 1980, S. 1). Diese Formulierung ist nur eine von vielen, da die Soziologie wie jede andere Wissenschaft unterschiedliche Theorien, die zum Teil sehr widersprüchlich sind, umfasst. In → Kapitel 3 wird aus‐ führlicher auf Perspektiven eingegangen. Webers Ansatz der verstehenden Soziologie eignet sich sehr gut als Einstieg für die Tourismussoziologie, weil er die Forschenden dazu zwingt, die Perspektive der handelnden Personen einzunehmen. Dadurch wird eine distanzierte und verurteilende Bewertung des Tourismus - insbesondere des Massentourismus - vermie‐ 1 Einführung 15 <?page no="16"?> 3 Auch im Englischen findet sich kein zeitgenössisches Verb im Gegensatz zu travel. den. Ebenfalls schulen Webers Idealtypen das analytische Vermögen. Um tiefer in die Schaffung von gesellschaftlicher Wirklichkeit und Interaktion zwischen Tourist: innen, Dienstleistenden und Einheimischen einzutauchen, sind interpretative und konstruktivistische Modelle erforderlich. Der me‐ thodologische Individualismus ist eine gute Ausgangsbasis, die jedoch um systemtheoretische Ansätze und Netzwerktheorien - insbesondere relatio‐ nale Theorien und Akteur-Netzwerk-Theorien - ergänzt werden sollte. - Tourist: innen Sprache verrät vieles. Wie lautet beispielsweise das Verb für Tourist: in? Was machen Tourist: innen, was ist ihre zentrale Handlung? Ein solches Verb existiert in der deutschen Sprache nicht. Vermutlich 3 deswegen, weil davon ausgegangen wird, dass Tourist: innen ganz und gar Tourist: innen sind. Reisende hingegen sind Menschen, die reisen. Die Gegenüberstellung von Tourist: innen und Reisenden zieht sich wie ein roter Faden sowohl durch wissenschaftliche Publikation zum Tourismus als auch durch Reiseblogs und Zeitungsartikel. Soziologie kann dabei helfen zu erklären, warum es diese Unterscheidung gibt, wie sie gesellschaftlich konstruiert wird, wie sie sich verändert und wie Menschen mit dieser umgehen. Die Aussage »Ich bin Reisende und keine Touristin« erfüllt einen Zweck. Sie distanziert die Person von anderen und stellt das eigene Handeln in einen anderen - vermeintlich besseren - Zusammenhang. - Bewegung, Ortswechsel und das Andere Bewegung und Ortswechsel waren über Jahrhunderte ein Normalzustand für Menschen. Motiviert war dieses zumeist durch Mangel- oder Notsitua‐ tionen. Es fehlte an Wasser und Nahrung für Menschen und Tiere oder Konflikte mit anderen Menschen machten eine Ortsveränderung erforder‐ lich. Ergänzend gibt es Hinweise darauf, dass das Verlassen eines Ortes nicht immer nur durch eine Mangelsituation bedingt war. Das Motiv der Neugier und des Entdeckens kam an vielen Stellen dazu. Sehenswürdigkeiten lockten Menschen an. Entdecker: innen, Abenteurer: innen und Wahnsinnige reisten an unbekannte Orte. Hinzu kamen militärische, religiöse und kommerzielle 16 1 Einführung <?page no="17"?> Gründe. Auch die Gesundheit oder das Interesse an anderen Kulturen spielte eine Rolle. Simmel (1903) spricht von »seelischen Gegensatztendenzen« (Soziologie des Raums). Das Konzept des Anderen, das im Tourismus erlebt werden kann, ist ein wiederkehrendes Motiv, das auf philosophische Ansätze zu‐ rückgreift. Heutzutage ist der Ortswechsel in vielen Regionen der Welt habitualisiert. Es gehört dazu, in den Urlaub zu fahren und den längeren Sommerurlaub um Kurzreisen zu ergänzen. Die Dominanz der westlichen Welt verschiebt sich zunehmend in Richtung Asien und auch in afrikanischen Ländern entwickelt sich der Outbound-Tourismus. - Rahmenbedingungen Die Art und Weise, wie Menschen reisen, ist abhängig von zahlreichen Einflussfaktoren. Technologische Entwicklungen vor allem im Transport‐ wesen, politische Rahmenbedingungen und finanzielle Möglichkeiten be‐ einflussen, ob und wie Menschen reisen können. Darüber hinaus arbeitet die Tourismuswirtschaft daran, das Reisen zu vereinfachen. Interkontinentalf‐ lüge sind eine Selbstverständlichkeit und die Besteigung des Mount Everest ist inzwischen eine planbare Aktivität. Eine zentrale Rahmenbedingung des Tourismus ist der Mensch an sich. Bedürfnisse, Interessen, Einstellungen und soziale Praktiken verändern sich. Noch basiert Tourismus darauf, dass Menschen entfernt vom üblichen Umfeld das Andere erleben. Dieses Andere kann der Strand von Westerland oder auch eine Dorfgemeinschaft in Simbabwe sein. Die Formel »Ich bin dann mal weg« bezieht sich aktuell noch auf die Lösung des Körpers vom Gewohnten. Durch soziale Medien wird jedoch die Loslösung reduziert. Ich bin zwar weg, aber weiterhin erreichbar. - Umkehrung? Eine wesentliche Frage für die Zukunft wird sein, ob auch eine Umkehrung der Situation wie folgt denkbar ist: »Ich bin zwar hier, aber nicht erreichbar«. Wird also das Erleben der Differenz zukünftig durch eine Loslösung von den kommunikativen Strukturen erreicht? Zweitens findet unter Umständen eine Umkehrung der Verhältnisse statt. Wenn »der Westen« im zunehmenden Maße eine »bereiste« Region wird, kann die Begegnung mit dem menschlichen Anderen im heimischen Umfeld 1 Einführung 17 <?page no="18"?> stattfinden. Fraglich ist, ob die Begegnung im eigenen Land als Erlebnis des Anderen empfunden wird. Hinzu kommt, dass sich die Machtverhältnisse und die üblichen Asymmetrien umkehren. Vor der Diskussion von zukünftigen Entwicklungen steht im nächsten Kapitel zunächst der Blick zurück in die Soziologie und die Tourismussozi‐ ologie. - Umdenken! Die Hoffnung darauf, dass »nach Corona« ein neuer und besserer Touris‐ mus an die Stelle des alten rückt, war von Beginn an eine Illusion, die sowohl die Gründe des Reisens als auch die Macht der Tourismuswirtschaft unterschätzte. Selbst wenn sich die Einstellungen von Menschen langsam verändern und die Bereitschaft zu verändertem Konsum steigt, ist gerade beim Tourismus der Schritt zwischen Einstellungs- und Verhaltensänderung enorm. Solange alles erlaubt und vieles bezahlbar ist, liegt die Entschuldi‐ gung »Urlaub ist doch nur einmal im Jahr« sehr nahe. Aktuell mehren sich die Forderungen nach mehr Verboten und der Regulation touristischen Verhaltens. Abb. 2 NEU Abb. 2: Beispiel eines Verbotsschilds 18 1 Einführung <?page no="19"?> 4 Die Jahresangaben dienen der groben Orientierung, vgl. zur Entwicklung des Tourismus Spode (2003). Empfehlenswert ist ein Besuch des Historischen Archivs zum Tourismus (HAT) in Berlin. 2 Entwicklung der Tourismussoziologie Da der Begriff Tourismus erst um 1880 in England und seit 1960 in Deutsch‐ land gebraucht wurde, 4 wird zunächst in klassischen Werken der Soziologie nach Ansätzen gesucht, die einen Bezug zum Tourismus haben, auch wenn der Begriff nicht explizit verwendet wird. Dem schließt sich eine Darstellung genuiner tourismussoziologischer Arbeiten an. Wissen │ Nähe zu anderen Themen Tourismussoziologie hat eine große Nähe zur Freizeitsoziologie. Eine Gleichsetzung ist nicht zu empfehlen, da dadurch ein wesentliches Merkmal des Tourismus - der Aufenthalt in der »Fremde« - verloren geht. Weiterhin trägt der Tourismus im größeren Maße als die Freizeit eine eigene Wirklichkeit in sich, die sich von Arbeit und Freizeit sowohl kontrastiert als auch Elemente derselben integriert. Eine weitere Verbindung besteht zur Sportsoziologie, da Sport den Menschen Situationen bietet, die »der modernen Arbeitswelt ein Kon‐ trastprogramm entgegenstellen« (vgl. Bette, 2010). Allerdings ist die »Fremde« kein zentrales Element des Sports, auch wenn durch Sport‐ tourismus (im weiten Sinne) Reisen zustande kommen. Ethnologie, Ethnografie und Anthropologie haben mehrere Berüh‐ rungspunkte mit der Tourismussoziologie, da diese die (fremden) Kul‐ turen der Welt erforschen. Ethnologische Studien sind oft Grundlage für die Tourismussoziologie, da diese Aussagen zum Zusammenhang zwischen Kultur, Kulturwandel und Tourismus treffen. Ethnolog: innen wie Lévi-Strauss, George Herbert Mead und Margaret Mead waren zudem Reisende, die als Vorbilder für die Konstruktion der Reisenden in Abgrenzung von Tourist: innen benutzt werden. <?page no="20"?> 2.1 Ansätze bei den Gründer: innen der Soziologie Die Soziologie untersucht das Zusammenleben von Menschen in (moder‐ nen) Gesellschaften. Sowohl die Voraussetzungen als auch die Rahmen‐ bedingungen menschlicher Gemeinschaften werden erforscht. Eine der zentralen Fragen ist dabei, wie soziale Ordnung möglich ist. Wie kann es sein, dass Menschen, die sich nicht kennen, in einem Wohnhaus, einer Stadt, einem Land zusammenleben und im Großen und Ganzen miteinander zurechtkommen? Wieso haben Menschen die Sicherheit, dass sich andere mit großer Wahrscheinlichkeit auf eine bestimmte Art und Weise und nicht anders verhalten? Wie gelingt es, dass neue Mitglieder einer Gesellschaft in diese integriert werden? Und schließlich: Wie kann sozialer Wandel erklärt werden? Wie tragen die Handlungen einzelner Menschen dazu bei, dass sich Verhaltensweisen und Erwartungen ändern? Soziologische Theorien können grob danach unterschieden werden aus welcher Perspektive Gesellschaft betrachtet wird: Die Makrosoziologie ist jene, die auf gesellschaftliche Strukturen und soziale Gebilde fokussiert. Beispiele sind Modernisierungsprozesse in Ab‐ hängigkeit von der wirtschaftlichen Situation eines Landes. Die Mikrosoziologie hingegen stellt die Individuen in den Mittelpunkt und fragt danach, wie sich der einzelne Mensch innerhalb der Gesellschaft orientiert und in dieser handelt. Im Mittelpunkt stehen Interaktionen zwi‐ schen Menschen und einzelne Handlungen, die einen Bezug zu anderen oder zur Gesellschaft haben. Ein Beispiel ist das Reiseverhalten eines Menschen in Abhängigkeit vom Umweltbewusstsein. Hinzu kommen vermittelnde Ansätze, die das Wechselspiel von ge‐ sellschaftlichen Strukturen und (individuellem) menschlichem Handeln erklären wollen. So stellt Elias (1993) Verflechtungszusammenhänge und Machtbalancen in den Mittelpunkt seiner Theorie. Mit der Analogie des Spiels veranschaulicht er seine Aussagen. Weiterhin steht eine verstehende Herangehensweise einer erkennenden gegenüber. Während die erste den Sinn des sozialen Handelns verstehen und dann erklären möchte, werden bei der zweiten Herangehensweise natur‐ wissenschaftliche Methoden zur Aufdeckung (kausaler) Zusammenhänge eingesetzt. Die Faszination und Herausforderung der Soziologie liegen darin, dass sie - vergleichbar mit der Psychologie - dem Menschen sich selbst vor Augen führt und zwar als ein soziales Wesen, das mit anderen Menschen in Beziehung(en) steht. 20 2 Entwicklung der Tourismussoziologie <?page no="21"?> Zitat »Wenn man verstehen will, worum es in der Soziologie geht, dann muß man in der Lage sein, in Gedanken sich selbst gegenüberzutreten und seiner selbst als eines Menschen unter anderen gewahr zu werden.« (Elias, 1993, S. 9) Da Soziologie Aussagen zu gesellschaftlichen Zuständen trifft, hat sie Ein‐ fluss auf die Gesellschaft. Sie bietet durch ihr Wesen als Mythenjäger (Elias, 1993) die Grundlage für die Aufdeckung sozialer Prozesse, die erklären, warum etwas »geworden« ist. Die Frage, ob sie Werturteile treffen und damit aktiv in gesellschaftliche und politische Prozesse eingreifen soll, ist umstritten. Nach Weber (1980) kann die Soziologie Werte zwar untersuchen und hinsichtlich einiger Aspekte wie Angemessenheit und Widerspruchs‐ losigkeit bewerten, sie kann diese aber nicht in Form von Soll-Sätzen der Gesellschaft zur Befolgung nahelegen. Da Soziologie jedoch bspw. soziale Ungleichheiten thematisiert, handelt es sich um eine kritische Wissenschaft. Die nachfolgenden Darstellungen ausgewählter klasischer Werke der Soziologie (Weber, Marx, Durkheim, Simmel, Elias und Goffman) beginnen alle mit einer Skizze der zentralen Konzepte. Dem schließt sich eine Diskussion der für die Tourismussoziologie relevanten Aussagen an. Die Auswahl basierte auf zwei Kriterien. Erstens sollten die Werke bereits in tourismussoziologischen Arbeiten behandelt worden sein. Zweitens flossen Erfahrungen aus Lehrveranstaltungen hinsichtlich eines guten Einstiegs in die Soziologie ein. Eine Einführung in die Theorien u.a. von Bourdieu, Giddens und Habermas erfolgt in → Kapitel 3 bezogen auf spezifische Themen. 2.1.1 Max Weber: Deutendes Verstehen Max Weber (*1864 †1920) gilt neben Tönnies und Simmel als einer der drei Gründerväter der deutschen Soziologie. Sowohl die Herrschaftsals auch die Religionssoziologie gehen im Wesentlichen auf ihn zurück. Sein Werk »Wirtschaft und Gesellschaft« (1920) ist eine zentrale Publikation im Bereich der Wirtschaftssoziologie. Weitere Bereiche wie die Medien- und Musiksoziologie leiten sich aus Webers Werken ab. Webers zentrales Konzept ist das deutende Verstehen. Demnach besteht die Aufgabe der Soziologie darin, »soziales Handeln deutend [zu] verstehen 2.1 Ansätze bei den Gründer: innen der Soziologie 21 <?page no="22"?> und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich [zu] erklären« (Weber, 1980, S. 1). Soziales Handeln ist solches Handeln, »wel‐ ches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist« (a.a.O.). Es ist das konstituierende Element der Soziologie als Wissenschaft. Beispiel │ Menschliches Verhalten, Handeln, soziales Handeln Wenn ein Knall mich erschreckt und deswegen mein Arm hochzuckt, ist das ein menschliches Verhalten. Wenn eine Mücke um meinen Kopf schwirrt und ich den Arm in die Luft hebe, um sie zu verscheuchen, ist das Handeln. Wenn mein Sohn sich zu mir dreht und mir zuwinkt und ich ebenfalls den Arm hebe, um ihm zu winken, ist das soziales Handeln. Nach Weber sind sich Menschen bewusst, dass sie ein Mensch unter anderen sind und sie nehmen in ihrem Handeln darauf Bezug. Sie orientieren sich an anderen, sie berücksichtigen die Reaktionen anderer und sie versuchen ebenfalls, das Handeln anderer zu beeinflussen. Schließlich versuchen sie, Handlungen anderer zu erahnen und Menschen variieren ihr Handeln entsprechend. Weber (1980, S. 12ff.) hat vier Idealtypen des menschlichen Handelns formuliert. Diese sind konstruierte Begriffe, die wesentliche Aspekte des Handelns betonen und andere ausblenden. Die vier Idealtypen sind: ● das zweckrationale, ● das wertrationale, ● das affektuelle und ● das traditionale Handeln. Das zweckrationale Handeln orientiert sich an als Erfolg definierten Zwe‐ cken unter Berücksichtigung der Außenwelt. Das wertrationale Handeln hingegen ist darauf zurückzuführen, dass die handelnde Person meint, dass dieses Handeln einen Wert an sich hat. Unabhängig vom Erfolg des Handelns hat dieses einen Wert. Im Gegensatz zu diesen beiden rationalen Typen des Handelns sind sowohl das affektuelle als auch das traditionale Handeln nicht offensichtlich sinnhaft, sondern sie ergeben sich durch unbewusste Vorgänge. Das affektuelle Handeln folgt Gefühlen und das traditionale Handeln eingelebten Gewohnheiten. Für den Tourismus sind das affektu‐ elle und das traditionale Handeln von großer Bedeutung. Beispiele sind 22 2 Entwicklung der Tourismussoziologie <?page no="23"?> spontane Reiseentscheidungen und Aktivitäten während einer Reise, für die sich ein Mensch ohne großes Nachdenken entscheidet. Urlaubsroutinen bezüglich der Wahl einer Destination oder Rituale im Urlaub sind ebenfalls prägend. Wissen │ Idealtypen Webers Idealtypen können auf den Tourismus übertragen werden, in‐ dem idealtypische Konstruktionen touristischen Verhaltens formuliert werden. Empirisch ist touristisches Verhalten immer eine Mischform. Zweckrationaler Tourismus: Es wird gereist, um etwas damit zu erreichen. Geschäftsreisen sind ein Beispiel für zweckrationalen Tou‐ rismus, da die Reise angetreten wird, um eine Konferenz, eine Messe, ein Partnerunternehmen oder Kund: innen zu besuchen. Weitere Bei‐ spiele sind Sprachreisen, Forschungsreisen oder auch gesundheitlich motivierte Reisen. Wertrationaler Tourismus: Beim wertrationalen Tourismus hat die Reise an sich einen Wert. Menschen, die den Jakobsweg pilgern, verbin‐ den damit einen religiösen Wert. Ein anderes Beispiel ist eine Reise zu berühmten Museen, um dort die Kunstwerke zu sehen. Ein weiterer Wert kann auch die Zeit mit der Familie oder eine Reise alleine sein. Affektueller Tourismus: Die Reise wird durch eine aktuelle Gefühls‐ lage beeinflusst. Dieses kann ein romantisches Wochenende oder eine spontane Fahrt ans Meer sein. Es besteht ein enger Bezug zur Loslösung und zum unkonventionellen Ausbruch aus der Routine. Traditionaler Tourismus: Manche Familien reisen über Generationen hinweg in den Sommerferien an einen bestimmten Ort. Sie wohnen im selben Hotel wie immer und haben einen festen Platz im Restaurant. Es handelt sich um eine eingelebte Gewohnheit. Weber ist selber öfter und für längere Zeit gereist, u.a. drei Monate durch die USA, hat das Reisen aber nicht explizit in seinen Arbeiten als Gegenstand der Soziologie thematisiert. Dennoch lassen sich mehrere Anknüpfungspunkte zum Reisen finden. Folgende Themen bieten sich an: [1] Sinn: Weber betont die Bedeutung der individuellen Motivation im Kontext sozialer Rahmenbedingungen. Um soziales Handeln zu verste‐ hen, muss der von der handelnden Person damit verbundene Sinn aufgedeckt werden. Diese Herangehensweise ermöglicht eine Betrach‐ tung touristischen Handelns aus der Sicht der handelnden Person. 2.1 Ansätze bei den Gründer: innen der Soziologie 23 <?page no="24"?> Auf diese Weise kann von außen zunächst nicht sinnvolles Handeln nachvollzogen werden (→-Kapitel 3.11 Devianz) [2] Deutendes Verstehen: Das deutende Verstehen kann als Methode verwendet werden, um den mit sozialem Handeln verbundenen Sinn der Erholung, des Urlaubs, der Bildung etc. zu verstehen. Auch wenn Weber das deutende Verstehen mit einem kausalen Ansatz verknüpfte, kann es als Grundlage des interpretativen Paradigmas (→ Box S. 128) gesehen werden. [3] Kultureller Kontext: Weber hat die Wechselwirkungen zwischen den gesellschaftlichen Moralvorstellungen und dem Handeln von Menschen untersucht. So gibt es Gesellschaften, in denen strenge Verhaltensregeln herrschen, und andere, die den Menschen ein freieres, ungeplantes und genussfreudiges Leben erlauben. Daraus resultiert erstens, dass Gesellschaftsmitglieder sich hinsichtlich ihres Verhaltens unterscheiden. Weber (2017) analysiert in seinen reli‐ gionssoziologischen Arbeiten, wie Moralvorstellungen die Interessen von Menschen, beispielsweise an der Natur oder dem Sport, beeinflus‐ sen können. Das puritanische Interesse am Sport hatte einen rationalen Zweck. Sport als Genuss und Freude wurde nicht akzeptiert. Zweitens hat die Kultur einer Gesellschaft maßgeblichen Einfluss auf die gesamte Stimmung innerhalb der Destination. Menschen aus »strengen« Kulturkreisen suchen in »lebensfrohen« Destinationen eine Entspannung. Somit ist der kulturelle Kontext sowohl für die Analyse der Tourist: in‐ nen als auch für die Betrachtung der Einheimischen und Gastgebenden relevant. [4] Arbeitsethos: Das Arbeitsethos ist ebenfalls kulturell bedingt und beeinflusst das Verhalten von Menschen im Alltag und im Urlaub. So gibt es Tourist: innen, die den Urlaub mit einer Arbeitslogik angehen: Die gesamte Reise wird komplett durchgeplant und eine To-do-Liste wird abgearbeitet. Nach der Rückkehr werden stolz die Erfolge der Reise präsentiert. Im Gegensatz dazu stehen Tourist: innen, die sich treiben lassen. Webers Ansatz des deutenden Verstehens ist die Basis für eine sozialwissen‐ schaftliche Herangehensweise an den Tourismus. Das Reisen ist demnach ein in gesellschaftliche Zustände eingebundenes Phänomen, das nur vor diesem Hintergrund erklärt werden kann. Tourismus sollte hinsichtlich 24 2 Entwicklung der Tourismussoziologie <?page no="25"?> 5 Hunziker versuchte 1943, eine wissenschaftliche Fremdenverkehrslehre auf Basis von Weber und Sombart zu entwickeln. Dieser Ansatz ist jedoch widersprüchlich und unbestimmt (Spode, 2012, S. 6). 6 Barthes nennt allerdings nicht Weber, sondern André Gide namentlich, der den Alpen‐ mythos mit der helvetisch-protestantischen Moral in Zusammenhang gestellt hat. seiner kulturellen Bedeutung analysiert und von anderen Phänomenen abgegrenzt werden (Spode, 2012, S. 2). Obwohl Weber ein sehr umfangreiches Werk hinterlassen hat, finden sich wenig tourismussoziologische Arbeiten, die seine Gedanken systematisch aufgreifen. 5 Dann & Cohen (1991) haben auf mehrere Anknüpfungspunkte hingewiesen, die in einzelnen Publikationen aufgegriffen wurden. Mody & Day (2014) nutzen Webers Idealtypen, um Social Entrepreneurship (soziales Unternehmertum) im Tourismus zu erklären und die dahinterlie‐ genden Rationalitäten aufzudecken. Um am Gemeinwohl orientiertes Han‐ deln zu erklären, reicht das rationale, auf individuellen Erfolg ausgerichtete Denken nicht aus. Nur unter Hinzunahme des wertrationalen Handelns kann erklärt werden, warum Unternehmen nicht die Gewinnerzielung in den Mittelpunkt stellen, sondern die Lösung sozialer Probleme. Wissen │ Social Entrepreneurship Unter Social Entrepreneurship wird eine unternehmerische Aktivität verstanden, die sich für die Lösung sozialer Probleme einsetzt. Mit innovativen Ansätzen sollen auf eine pragmatische Art und Weise langfristig gesellschaftliche Missstände behoben werden. Beispiele für Social Entrepreneurship im Tourismus finden sich in der Beherbergung, bei Natur- und Abenteuerreisen, bei Kunst und Handwerk und beim Surfen. Beispiele finden sich auf der Website von Social Entrepreneurship Competition in Tourism. 🔗 https: / / socialtourismcompetition.com/ Roland Barthes (*1915 †1980) bezieht sich in seiner Analyse des »Blauen Führers« auf Weber 6 , da er die Vorlieben des Bürgertums für das Gebirge oder fruchtbare Ebenen auf bürgerliche Tugenden zurückführt. 2.1 Ansätze bei den Gründer: innen der Soziologie 25 <?page no="26"?> Zitat »Nur das Gebirge, die Schlucht, der Engpaß und der Wildbach haben Zugang zum Pantheon des Reisens, sicher deshalb, weil sie eine Moral der Mühe und der Einsamkeit zu stützen scheinen.« (Barthes, 1996, S. 59) Das Zitat beinhaltet einen Erklärungsansatz dafür, warum bestimmte Bevölkerungsschichten einen bestimmten Typ von Destination wählen. Demnach werden natürliche Begebenheiten gesellschaftlich gedeutet und in Übereinstimmung mit Werten gebracht. Die klare Luft, die mit dem Anstieg verbundene Anstrengung sowie der Gipfel als alles überragender Ort spiegeln bürgerliche Ideale wider. Die klare Luft steht für die Klarheit des Denkens, während der Gipfel Erfolg symbolisiert. Weiterhin kann das Zitat so gedeutet werden, dass es innerhalb des Reisens Unterschiede gibt, die gesellschaftliche Unterschiede symbolisieren. So steht dem Pantheon (Sitz der Götter) die profane Ebene gegenüber. Auch Webers Ideen zu Wirtschaft und Macht können in einzelnen Arbei‐ ten nachgewiesen werden. (Heuwinkel, 2019) Trotz der zahlreichen Ansätze findet sich keine geschlossene auf Weber zurückgehende Tourismussoziolo‐ gie. 2.1.2 Karl Marx: Waren, Entfremdung und Kontrollverlust Das Werk von Karl Marx (*1818 †1883) ist trotz der Nichtvollendung (Neffe, 2018) äußerst umfangreich. Seit dem Erscheinen wurde es immer wieder äußerst kontrovers und oft selbst im wissenschaftlichen Kontext höchst emotional diskutiert. Im Umgang mit dem Werk ist eine deutliche Abgren‐ zung zwischen Marx‘ theoretischen Arbeiten und dem, was politische und wirtschaftliche Akteure unter dem Begriff des Marxismus daraus gemacht haben, entscheidend. In den letzten Jahren finden die Arbeiten von Marx, insbesondere die frühen Schriften (Kommentar von Quante, 2009) und Das Kapital (2020 [1867]) wieder zunehmend Berücksichtigung in der deutschsprachigen Wissenschaft. Der Kern von Marx Theorien ist der soziale Konflikt zwischen zwei sozialen Klassen (Bourgeoisie und Proletariat) und daraus resultierend der Wandel in industriellen Gesellschaften. Damit begründete Marx den soziologischen Begriff der Klasse, auch wenn er kein Soziologe war. Die 26 2 Entwicklung der Tourismussoziologie <?page no="27"?> Interessen der beiden Klassen sind nicht miteinander vereinbar. Der relative kleinen Anzahl an Eigentümer: innen steht eine Masse von Arbeitenden gegenüber. Zitat »Der Arbeiter wird eine um so wohlfeilere Ware, je mehr Waren er schafft. Mit der Verwertung der Sachenwelt nimmt die Entwertung der Menschenwelt in direktem Verhältnis zu. Die Arbeit produziert nicht nur Waren; sie produziert sich selbst und den Arbeiter als eine Ware, und zwar in dem Verhältnis, in welchem sie überhaupt Waren produziert.« (MEW, Band 40, S. 511) »Der Gegenstand, den die Arbeit produziert, ihr Produkt, tritt ihr als ein fremdes Wesen, als eine von dem Produzenten unabhängige Macht gegenüber.« (ebd.) »Die Entfremdung des Menschen, überhaupt jedes Verhältnis, in dem der Mensch zu sich selbst [steht], ist erst verwirklicht, drückt sich aus in dem Verhältnis, in welchem der Mensch zu d[em] andren Menschen steht.« (MEW, Band 40, S. 517) Die Produktionsverhältnisse in Industriegesellschaften führen zur mehr‐ fachen Entfremdung der Arbeitenden von der Arbeit, den Produkten, an‐ deren Arbeitenden und schließlich sich selbst. Die Arbeitenden geben sich, ihre Seele in die Produkte (Waren), die sie selbst nicht erwerben können. Marx steigert die Aussage noch, indem er formuliert, dass der Mensch selbst zu einer Ware wird. Für ihn macht »die Bearbeitung der gegenständlichen Welt« (MEW, 40, S. 517), die freie Kreation und die Betrachtung der von geschaffenen Werke den Menschen aus. Wenn Menschen nicht mehr die Ergebnisse ihrer Arbeit sehen, entfremden sie sich. Ein aus soziologischer Sicht besonders wichtige Ausprägung der Entfrem‐ dung »ist die Entfremdung des Menschen von dem Menschen« (ebd.). Der Mensch steht zu anderen Menschen, wie zu sich und somit steht der entfrem‐ dete Mensch anderen entfremdet gegenüber. Die systematische Ausbeutung basiert darauf, dass die Arbeitenden weniger für ihre Arbeit erhalten, als die Kapitalist: innen für den Verkauf der Waren. Auch werden Waren produziert, die nicht zum Überleben benötigt werden. Es ist eine endlose Abfolge der Kreation von Bedürfnissen und Waren, die immer mehr Geld erfordern und deswegen an ein Ende der Arbeit resp. des Geldverdienens, um es 2.1 Ansätze bei den Gründer: innen der Soziologie 27 <?page no="28"?> wieder auszugeben, nicht zu denken ist. Die Frage, was Menschen wirklich brauchen, wird nicht mehr gestellt. Es sind jedoch nicht menschliche Akteure, die für den Zustand verant‐ wortlich sind. Marx spricht von einem fremden Wesen, einer unabhängigen Macht, die aus den Verhältnissen und Bedingungen heraus resultiert und sich aus sich heraus immer weiterentwickelt. Sie herrscht über alles und kontrolliert die Menschen. Der Kontrollverlust wirkt sowohl auf Arbei‐ tende als auch auf Industrielle. Tipp-│-Marx lesen Je mehr Sie Marx oder über Marx lesen, desto häufiger werden Sie bei anderen Autor: innen seine Gedanken und Formulierungen entde‐ cken. Die Waren des Tourismus sind Sehenswürdigkeiten und somit beschreibt Enzensberger (→ Kapitel 2.2.2) mit dem Satz »[…] Heimkehr, die den Touristen selbst zur Sehenswürdigkeit macht«, wie Tourismus die Tourist: innen selbst zur Ware macht. Hochschild (→ Kapitel 2.2.10) übernimmt das Konzept der Entfremdung und überführt es in den Bereich der Dienstleistungen. Dort wird nicht die körperliche Arbeit, sondern die emotionale Arbeit zur Ware. Die Aussagen von Marx fanden bislang in tourismussoziologischen Arbeiten unterschiedliche Berücksichtigung (vgl. exemplarisch den Sammelband von Dann & Liebman Parrinello, 2009). Nachfolgend werden Vorschläge und Beispiele für die Nutzung der zentralen Begriffe von Marx in der Tourismussoziologie genannt. ● Entfremdung als Grund für das Reisen: Die Kondition des mehrfach entfremdeten Menschen in der Industrie‐ gesellschaft kann als Grund dafür gesehen werden, dass Menschen für eine kurze Zeit daraus ausbrechen und in der Ferne nach sich und dem Kontakt zu anderen suchen. Die Rückkehr ist deswegen erforderlich, weil die Logik des Systems einen langfristigen Ausstieg nicht vorsieht. Dieses Motiv wurde u.a. von MacCannell (→ Kapitel 2.2.5) und Graburn (→-Kapitel 2.2.6) aufgegriffen. ● Tourismus als Ware und fremde Macht: Tourismus entwickelt eine eigene Logik und Waren, die auf eine spezielle Weise konsumiert werden müssen. Als Konsequenz ist das touristische Handeln nicht frei, sondern Zwängen unterworfen, die das Erleben ständig neuer und unbekannter Welten beinhaltet. Dieser 28 2 Entwicklung der Tourismussoziologie <?page no="29"?> Gedanke findet sich deutlich bei Enzensberger (→ Kapitel 2.2.2) wieder. Baumans (→ Kapitel 2.2.12) Beschreibung der Moderne in der die Menschen danach bewertet werden, wie viel sie konsumieren können, ist eine Fortführung der Gedanken von Marx zur Produktion. ● Entfremdung der Leistungserbringenden: Während bei Marx die gegenständliche Arbeit im Vordergrund stand, sind es im Tourismus Dienstleistungen, in welche die Leistungserbrin‐ genden sich selbst, ihre Emotionen hineinlegen. Dieses Konzept und die Konsequenzen desselben wurden von Hochschild (→ Kapitel 2.2.10) ausgearbeitet. ● Entfremdung der Einheimischen: Während die Leistungserbringenden für ihre Beteiligung am Tourismus Lohn erhalten, werden die Einheimischen nicht nur ungefragt, sondern auch ohne Gegenleistung in den Tourismus einbezogen. Da lange Zeit eine klare geographische Verteilung zu erkennen war, konnte von der Klasse der Reisenden und der Klasse der Bereisten gesprochen werden. Abschließend ist noch ein Blick auf Marx als Reisender interessant. Marx war aus unterschiedlichen Gründen immer wieder zu Ortswechseln gezwungen. Häufig hielt er sich in London bei seinem Freund Friedrich Engels auf, um dort an seinem Werk zu arbeiten. Neffe (2018, S. 590ff.) wählt für das letzte Kapitel der Marx-Biographie den Untertitel »Die letzte Reise« und schildert darin wie Marx »auf der Suche nach dem verlorenen Selbst« (Neffe, 2018, S. 594) ist. Der eigentliche Grund für die Tour, die als „Tortur“ empfunden wurde, war die Empfehlung der Ärzte zu einer Kur. In Algier dann wird Marx zu einem »Touristen«, wenn er in einem Brief an Engels von »Windkonzerten«, »Mondbeleuchtung« und dem Blick auf das Meer berichtet. Neffe interpretiert, dass Marx »mit allen Sinnen die Reize und Szenen und schönen Sinnlosigkeit der Welt und ihrer Menschen« (S. 595) entdeckt. Unabhängig davon, ob die Interpretation für Marx zutrifft oder nicht, zeigt sich deutlich erstens der Einfluss der Reise und zweitens ein zentrales Motiv: der Umgang mit der Sinnlosigkeit der Welt und des Lebens, die sich nur beim Reisen ertragen lässt. 2.1.3 Émile Durkheim: Anomie, das Heilige, Repräsentationen Émile Durkheim (*1858 †1917) ist wie Weber ein Klassiker der Soziologie. Für ihn hat das Soziale eine ähnliche Macht über den Menschen wie biologische oder physikalische Gesetzmäßigkeiten. Die faits sociaux (soziale 2.1 Ansätze bei den Gründer: innen der Soziologie 29 <?page no="30"?> Tatsachen) leisten dem menschlichen Denken und Handeln Widerstand, indem sie menschliche Aktivitäten ermöglichen und begrenzen, ebenso wie biologische und physikalische Fakten. Handlungen ergeben sich somit aus dem Sozialen heraus. In seinem Werk »Der Selbstmord« (1897) erklärt Durkheim, wie soziale Tatbestände - in dem Fall die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion sowie die gesellschaftliche Eingebundenheit - den Raum für den Selbstmord öffnen oder schließen. Durkheim wählt den Begriff der Anomie, um gesellschaftliche Verwirrt‐ heit über Regeln zu beschreiben. Wenn soziale und moralische Normen nicht oder nur unklar definiert sind, kann dieses zu abweichendem Verhalten führen. Er betont die Bedeutung gesellschaftlicher Normen und kollektiver Repräsentationen für Individuen und Gesellschaft ausgehend von einem Bedürfnis nach Eingebundenheit und Ordnung. Durkheim hat Tourismus respektive Reisen nicht explizit thematisiert. Allerdings finden sich drei zentrale Themen, die auf Durkheim zurückgehen, in vielen tourismussoziologischen Arbeiten. Diese sind: [1] Kollektive Ordnung: Tourismus wird als Alternative zum Alltag, als Flucht gesehen. Menschen möchten für eine Weile der Gesellschaft, in der Anomie herrscht, entkommen. Weiterhin führt die fehlende Bindung zu einem gesteigerten Wunsch nach sozialer Interaktion, die im Urlaub erlebt werden kann. [2] Das Heilige: Es finden sich zahlreiche Ansätze, die das Konzept des Heiligen mit dem Tourismus verbinden (vgl. McCannell). Sei es die Suche nach Authentizität, die Beschreibung von Tourist: innen als moderne Pilger oder auch die Unterscheidung in die profane (Alltag) und die heilige Welt (Urlaub), alle Ansätze basieren auf dem Gedanken, dass Menschen etwas Besonderes benötigen. [3] Kollektive Repräsentationen: Die moderne ausdifferenzierte Welt umfasst eine Vielzahl von Symbolen, die für die Mitglieder einer Gesellschaft eine gemeinsame Bedeutung besitzen. Beispiele dafür sind touristische Attraktionen (vgl. dazu McCannell). Diese stellen kollektive Erfahrungen, Werte und Normen dar. Durch den Besuch einer touristischen Attraktion erleben die Personen eine über sie selbst hinausgehende Wirklichkeit und empfinden sich als Teil einer größeren Gesamtheit (vgl. dazu experience → Kapitel 3). Der Besuch von Attraktionen fügt die fragmentierte Welt zusammen. 30 2 Entwicklung der Tourismussoziologie <?page no="31"?> 2.1.4 Georg Simmel: Wandernder, Fremder, Reisebekanntschaft Georg Simmels (*1858 †1918) Werk ist sehr umfangreich und umfasst Publikationen zu philosophischen, historischen und soziologischen Frage‐ stellungen. Sein Hauptwerk mit dem Titel »Soziologie« (1908) beinhaltet eine Vielzahl von Exkursen, unter anderem über den Fremden. Simmel stellte die Interaktionen zwischen Individuen in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen. Gesellschaft ist demnach ein Netzwerk von Wechsel‐ wirkungen zwischen Individuen und somit ein kontinuierlicher Prozess. Die daraus resultierenden Formen und Muster enthalten sowohl Harmonie und Stabilität als auch Konflikt und Wandel. Sie sind nicht dauerhaft, sondern ständigen Änderungen unterworfen (Simmel, 1992). Simmels umfangreiches Werk bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte für die Tourismussoziologie. Ein erster ist das Verhältnis »zwischen der Be‐ wegung im Raum und der Differenziertheit sozialer und persönlicher Daseinsinhalte« (Simmel, 1903), das Simmel 1903 in seiner »Soziologie des Raums« untersucht. Simmel geht beim Menschen von einer Tendenz zu seelischen Gegensätzen und dem Bedürfnis nach wechselnden Eindrücken aus. Dieses kann durch die Eigenschaften des Wanderlebens oder durch Unterschiede innerhalb stabiler Verhältnisse befriedigt werden. Bewegung, Mobilität, Wandern und schließlich das Reisen können demnach auf dem Menschen inne liegende Eigenschaften zurückgeführt werden. Simmel beschränkt den Begriff Wandern dabei nicht auf eine Aktivität in der Freizeit, wie es heutzutage geschieht. Vielmehr vergleicht er die Formen der Vergesellschaftung von wandernden Gruppen mit denen räumlich fixier‐ ter Gruppen. Das Wandern ist somit ein konstituierendes Merkmal. Beispiele für wandernde Gruppen sind Nomadenstämme, afrikanische Clans, Hand‐ werksgesellen und Gruppen von Kaufleuten. Simmel analysiert die Wirkung des Wanderns auf die gesamte Gruppe sowie die Folgen für den Einzelnen, der wandert, und die Auswirkungen des individuellen Wanderers auf die Gruppe. Demnach bedingt die ständige, durch das Wandern verursachte Veränderung der äußeren Umstände, dass innere Zustände konstant gehalten werden. Simmel spricht von der »Aufhe‐ bung der inneren Differenzierung der Gruppe« (a.a.O.) und als Konsequenz von fehlender politischer Ordnung oft einhergehend mit einer despotischen Herrschaft, welche die Gruppe leitet. 2.1 Ansätze bei den Gründer: innen der Soziologie 31 <?page no="32"?> 7 Es wäre interessant zu untersuchen, in welcher Relation das Bewusstsein des dem‐ nächstigen und definitiven Wiederauseinandergehens zum Luhmannschen Gesetz des Wiedersehens (Luhmann, 2000, S. 46) steht. Zitat »Gerade weil das Wandern an und für sich individualisiert und isoliert, weil es den Menschen auf sich selbst stellt, treibt es ihn zu engem, jenseits der sonstigen Unterschiede stehendem Zusammenschluss.« (a.a.O., o.S.) Auch wenn sich heutige Wander-, Reise- und Tourist: innengruppen von den Gruppen zu Simmels Zeit unterscheiden, finden sich bei ihm wichtige Aussa‐ gen zum Verhalten innerhalb der Gruppe, wie das Gefühl der Verbundenheit, die gegenseitige Unterstützung, die Bedeutung von Gruppenleitung oder die Entstehung von Ordnungen. In → Kapitel 3.12 wird ausführlich auf die Nutzung gruppensoziologischer Erkenntnisse im Tourismus eingegangen. Gleiches gilt für Simmels Beschreibung der Merkmale von Reisebe‐ kanntschaften. Diese sind häufig durch ein Maß an Intimität und Of‐ fenherzigkeit gekennzeichnet, das sich zunächst nicht einfach erklären lässt. Simmel führt aus, dass »die Gelöstheit von dem gewohnten Milieu, die Gemeinsamkeit der momentanen Eindrücke und Begebnisse, das Be‐ wusstsein des demnächstigen und definitiven Wiederauseinandergehens« 7 (a.a.O.) jene Nähe und Offenheit bewirken, die ansonsten nur in intimen Beziehungen zu finden sind. Die beschriebene Gelöstheit führt laut Simmel zu einer Entwurzelung. Menschen verlieren den Maßstab dafür, wie sie sich verhalten sollen und welches Bild ihrer Persönlichkeit sie gegenüber anderen produzieren und erhalten wollen. Innere Unsicherheiten und unbekannte Anregungen von außen führen zu einer nicht mehr zu kontrollierenden Dynamik. Menschen öffnen sich und lassen ihre Äußerungen frei heraus. Die Intimität wird dadurch gesteigert, dass Gruppenmitglieder gemein‐ same Erlebnisse teilen. Das identische Erleben beherrscht das Bewusstsein und führt zu einer Vereinheitlichung der Gedanken. Simmel spricht von einer »Art geistigen Kommunismus« (a.a.O.). Das Bild, das Simmel vom Menschen zeichnet, ist das eines sehr kontrol‐ lierten Wesens, das nach einem längeren Prozess als Mitglied der Gesell‐ schaft gelernt hat, ein bestimmtes Bild von sich den anderen zu präsentieren. 32 2 Entwicklung der Tourismussoziologie <?page no="33"?> Das Wandern ist ein Zustand, der Raum für Offenbarungen und Intimität bietet. Diese Gedanken finden eine Fortsetzung in der Beschreibung des Tourismus als Übergangsritual (→-Kapitel 3.10). Weitere tourismussoziologische Anknüpfungspunkte finden sich in Sim‐ mels »Exkurs über den Fremden« von 1908. Seine darin entwickelte Soziologie des Fremden wurde von Leopold von Wiese (→ Kapitel 2.2.1), Hans-Joachim Knebel (→ Kapitel 2.2.3) und Erik Cohen (→ Kapitel 2.2.8) aufgegriffen. Der Exkurs ist eingebettet in das neunte Kapitel »Der Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft« von Simmels »Soziologie«. Ausgangspunkt ist, dass alle sozialen Beziehungen sowohl Nähe als auch Entferntheit enthalten. Simmel betrachtet die Besonderheiten der soziologischen Form des Frem‐ den im Gegensatz zum Wandernden. Während der Wandernde der ist, »der heute kommt und morgen geht«, ist der Fremde der, »der heute kommt und morgen bleibt« (Simmel, 1908, S. 509). Der Fremde ist nach Simmel nah und ein Element der Gruppe. Es besteht eine Wechselwirkung zwischen Fremdem und der Gruppe. Damit wird der Fremde in die soziologischen Raumstrukturen eingebunden und wirkt auf die Gruppe ein. Die übliche Erscheinungsform des Fremden in der Wirtschaft ist nach Simmel der Händler, der Produkte, die nicht innerhalb »des Kreises« erzeugt werden, zur Gruppe bringt. Somit ist die Position des Händlers durch Beweglichkeit gekennzeichnet. Die fehlende Fixiertheit geht einher mit einer Objektivität für Zustände der Gruppe. Die Art und Weise, wie Simmel den Fremden beschreibt, lassen Zweifel daran entstehen, ob Tourist: innen tatsächlich Fremde in diesem Sinne sind. Fremde in Simmels Verständnis haben die Intention des Bleibens. Das ist bei Tourist: innen nicht der Fall. Simmels Fremder sollte demnach nicht wie bisher geschehen (vgl. von Wiese und darauf aufbauend Knebel und Cohen) als Grundlage für die Konzeption des Fremdenverkehrs resp. des Tourismus genommen werden, da er die Intention des Bleibens hat. Simmels Wandernder hingegen kommt mit der Intention des Gehens. Gerade dadurch sind Tourist: innen gekennzeichnet: Sie kommen und es steht fest, dass sie wieder gehen. Warum Simmels Darstellung des Wandern‐ den im Tourismus nicht berücksichtigt wurde, ist unverständlich. Unter Umständen liegt es an den verwendeten Begrifflichkeiten und der Nähe des Fremden zum Fremdenverkehr. Zusammenfassend haben Simmels Gedanken einen starken Einfluss auf einige maßgebliche frühe Arbeiten zur Tourismussoziologie gehabt. Der 2.1 Ansätze bei den Gründer: innen der Soziologie 33 <?page no="34"?> vermeintlich offensichtliche Bezug zum Fremden ist jedoch nicht korrekt und sollte um den Wandernden ergänzt oder differenzierter diskutiert wer‐ den. Simmels Beziehungslehre könnte Grundlage für eine systematische Betrachtung der Wechselwirkungen zwischen Tourist: innen und Einheimi‐ schen sein. Die Aussagen über gruppeninterne Prozesse haben eine große Relevanz für den Tourismus. Abschließend verweisen Simmels Ausführun‐ gen zu den Folgen der Loslösung des Gewohnten für den Menschen bereits auf das zentrale Merkmal des Tourismus: die Öffnung eines Raums für die Erprobung neuer oder alternativer Verhaltensweisen. 2.1.5 Erving Goffman: Interaktion, Theater und Gender Erving Goffman (*1922 †1982) stellte die Face-to-Face-Interaktion zwischen Menschen im Alltag in den Mittelpunkt seiner Arbeiten. Der deutsche Titel eines seiner zentralen Werke - »Wir alle spielen Theater« (The Presentation of Self in Everyday Life, 1959) - ist der beste Hinweis auf seine Sichtweise: Das Theater dient als Modell für die Interaktion zwischen Menschen. Wir alle spielen eine Rolle und präsentieren uns dem Gegenüber auf eine von uns gewählte Weise. Wir schaffen uns eine Fassade und nutzen ein standardisiertes Ausdrucksrepertoire mit Bühnenbild und Requisiten. Zahlreiche soziale Rollen beinhalten bereits eine Fassade. Im Tourismus sind Kellnerin, Pilotin, Flugbegleiter und Animateur Beispiele für soziale Rollen und Fassaden. In → Kapitel 3.5 werden Rollen im Tourismus ausführlich erläutert. Goffman unterscheidet zwischen front region (Vorderbühne) und back region (Hinterbühne). Die Vorderbühne ist öffentlich und für ein Publikum sichtbar. Die Personen auf der Vorderbühne spielen eine Rolle und wissen, dass sie beobachtet werden. Ein wesentlicher Aspekt der Vorderbühne ist das Setting: Zeit, Ort, Ausstattung und Publikum sind Elemente der Darstellung und werden bewusst eingesetzt und gestaltet. Die Hinterbühne hingegen ist nicht öffentlich. Personen, die sich dort aufhalten, sind unbeobachtet und bewegen sich in einem geschützten Bereich. Maßgeblich für beide Bereiche ist der Prozess des impression management (Eindrucksmanagement). Jede versucht, sich selbst zu präsentieren und sich so zu verhalten, dass die Peinlichkeit von sich selbst oder anderen verhindert wird. Peinlichkeit würde bedeuten, dass das Verhalten nicht zur Situation passt. Das wäre gleichbedeutend mit dem Begriff des aus der Rolle Fallens. Somit gibt es einen Unterschied zwischen dem, was Menschen sind, und dem, wie sie sich in unterschiedlichen Situationen präsentieren. Nach 34 2 Entwicklung der Tourismussoziologie <?page no="35"?> Goffman handelt es sich bei den Darstellungen um bewusste Vorgänge. Diese Annahme ist wesentlich für das im Tourismus oft diskutierte Thema der Authentizität. Demnach gibt es nicht nur Realität und Täuschung, sondern Hinterbühne, reale Vorderbühne und täuschende Vorderbühne. Um letztere handelt es sich, wenn die handelnden Personen andere zu einer falschen Vorstellung von dem, was vor sich geht, bringen. Dieser Ansatz wurde von MacCannell (vgl. →-Kapitel 2.2.5) aufgenommen und ausgearbeitet. Beispiel │ Restaurant ● Hinterbühne: Die Küche, in der die Speisen zubereitet werden. Die Servicekräfte können dort ihren Ärger über Gäste äußern. ● Vorderbühne: Der Speisesaal mit den Gästen. Dort sind die Ser‐ vicekräfte höflich und aufmerksam. Sie dulden sogar leichte Herab‐ lassungen seitens der Gäste, da diese Unterordnung ein Element ihrer Rolle ist. ● Täuschung: Die Servicekraft versichert einem Gast, dass das Essen sofort kommt, obwohl sie weiß, dass der Koch kurz zuvor das Fleisch verbrannt hat und es noch eine Weile dauern wird. »Pats of butter, softened, misshapen, and partly used during their sojourn in the dining-hall, would be rerolled to look fresh, and sent out to do duty again.« (Goffman, 1959, S. 56) Bei der Trennung von Vorder- und Hinterbühne sowie für die Aufrecht‐ erhaltung der Täuschung ist die Küchentür ein wichtiges Element. »Given, then, the various ways in which activity on the kitchen contra‐ dicted the impression fostered in the guests’ region of the hotel, one can appreciate why the doors leading from the kitchen to the other parts of the hotel were a constant sore spot in the organization of work.« (a.a.O.) In seiner Rahmenanalyse (frame analysis, 1974) hat Goffman sehr de‐ tailliert untersucht, wie Menschen eine Situation erkennen und deuten. Goffmans grundsätzliches Interesse gilt der Aufdeckung von Vorgängen, die es den Menschen ermöglichen, sich in einer komplexen Welt zurechtzu‐ finden und in Situationen angemessen, sprich den eigenen und fremden Erwartungen entsprechend, zu agieren und zu reagieren. Rahmen sind nach Goffman Lösungen für die aus der komplexen Welt resultierenden Probleme. Er führt aus, »[...], dass wir gemäß gewissen Organisationsprinzipien für Ereignisse - zumindest für soziale - und für 2.1 Ansätze bei den Gründer: innen der Soziologie 35 <?page no="36"?> unsere persönliche Anteilnahme an ihnen Definitionen einer Situation aufstellen; diese Elemente [...] nenne ich Rahmen.« (Goffman 1980, S. 19) Rahmen sind demnach Interpretationsschemata oder auch Verständnis‐ hintergründe in Form von mehr oder weniger stark organisierten Systemen von Regeln, Postulaten, aber auch von Gegenständen. Sie helfen dem Men‐ schen, zu einem Verständnis einer Situation zu gelangen, indem sie Muster - »einen Ansatz, eine Perspektive« - für die Organisation der erfahrbaren Eindrücke vorgeben. Sie helfen dem Menschen dabei, sich ein Bild von einem Geschehen zu machen. Goffman führt aus, »[...] dass die Handlungen des täglichen Lebens verstehbar sind wegen eines (oder mehrerer) primärer Rahmen, die ihnen einen Sinn verleihen [...]« (Goffman, 1980, S. 36) Durch einen Rahmen wird der Mensch mit seiner Umwelt, die Innenwelt mit der Außenwelt beziehungsweise die »Wahrnehmung« mit der »Quelle der Wahrnehmung« verbunden. Grund dafür, dass diese Vermittlung in den meisten Fällen erfolgreich gelingt, ist nach Goffman die Isomorphie (Entsprechung) zwischen der Wahrnehmung und der Organisation des Wahrgenommenen ausgehend von der gesellschaftlichen Verankerung und Gebundenheit von Rahmen. Das soziale Leben ist so organisiert, dass Situation und Rahmen in vielen Fällen übereinstimmen. Rahmen sind ein wichtiges Element der Kultur und werden erlernt resp. übernommen. Die Auswahl des Rahmens erfolgt intuitiv und orientiert sich an einfach zu erkennenden Zeichen und Symbolen. Ein weiteres Forschungsthema von Goffman war Gender Advertise‐ ments. In dem 1976 erschienenen Buch untersuchte er anhand von 500 Werbefotografien, wie Femininität und Maskulinität in westlichen Medien dargestellt werden. Elemente sind Posen, Positionierung des Körpers, Mimik und Gestik sowie Kleidung. Frauen werden zumeist als weich, verletzlich, machtlos, verträumt, kindlich und sich unterordnend inszeniert. Begründet liegt dieses in dem kulturell definierten Verständnis von feminin und maskulin. Goffmans Arbeiten bieten die folgenden Ansatzpunkte für die Tourismus‐ soziologie: [1] Interaktion: Ein wesentliches Element im Tourismus ist die Interak‐ tion zwischen Tourist: innen und Einheimischen sowie Tourist: innen und Dienstleistenden. Sowohl Goffmans Aussagen zu Rollen als auch zu Vorder- und Hinterbühne können zur Analyse der Interaktionen verwendet werden. 36 2 Entwicklung der Tourismussoziologie <?page no="37"?> 8 Zur Einordnung der Arbeiten von Walter Hunziker und Kurt Krapf vgl. Spode, 2009, S.-70ff. [2] Authentizität: Authentizität ist ein wesentliches Element des Touris‐ mus. Goffman hilft dabei, die Vielschichtigkeit zu analysieren. Es gibt demnach nicht nur echt bzw. unecht oder real bzw. inszeniert. Vielmehr befinden sich Tourist: innen und Einheimische in einer gemeinsamen Performance, die es zu analysieren gilt. [3] Rahmen: Die Deutung von Situationen und dem, was vor sich geht, er‐ folgt mithilfe von Rahmen. Diese werden erlernt und sind durch Kultur geprägt. Rahmen als Deutungsschemata können genutzt werden, um zu analysieren, wie »Urlaub« oder »Geschäftsreise« konstruiert werden. Innerhalb der Rahmen gelten eigene Regeln, die sich von anderen Rahmen, z.B. Alltag, unterscheiden und Handlungen legitimieren, die ansonsten als abweichend angesehen werden (→ Kapitel 3.11). Die Festlegung des gültigen Rahmens und die Ausgestaltung des Rahmens sind abhängig von der Deutungsmacht (→-Kapitel 3.9) der beteiligten Personen. [4] Gender: Goffmans Aussagen zur Darstellung von Gender und zu genderbasierten Stereotypen ist direkt auf den Tourismus übertragbar (→-Kapitel 3.7) Zwischenfazit In klassischen soziologischen Arbeiten lassen sich sowohl einzelne Themen als auch umfassende theoretische Modelle finden, die wertvoll für eine Etablierung der Tourismussoziologie sind. 2.2 Tourismussoziologische Werke Die ersten deutschsprachigen Arbeiten 8 , die explizit auf Tourismussozio‐ logie eingingen, waren 1930 von Wieses »Fremdenverkehr als zwischen‐ menschliche Beziehung« und 1960 Knebels Dissertation »Soziologische Strukturwandlungen im modernen Tourismus«. Die beiden Titel zeigen deutlich die Bandbreite soziologischer Perspektiven. Während von Wiese auf die Beziehungen zwischen Reisenden und Gastgebenden einging, be‐ trachtete Knebel die gesellschaftlichen Veränderungen und ihre Folgen für den Tourismus. Enzensberger schrieb 1958 ein Essay mit dem Untertitel 2.2 Tourismussoziologische Werke 37 <?page no="38"?> »Theorie des Tourismus«. Auch wenn es sich nicht um eine wissenschaft‐ liche Publikation handelte, hatte seine Theorie einen großen Einfluss auf den Tourismusdiskurs und wird auch heute noch regelmäßig (stellenweise falsch) zitiert. Die drei genannten Werke werden in → Kapitel 2.2.1, 2.2.2. und 2.2.3 detaillierter vorgestellt. Die systematische sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Tou‐ rismus begann in der Zeit zwischen 1950 und 1960 und erfolgte primär durch Kulturkritiker: innen und weniger durch Soziolog: innen (Spode, 2012). Sie verlief parallel zur Entwicklung des Massentourismus. Von daher ist es wenig überraschend, dass viele Publikationen sehr kritisch auf die Entwicklungen des Tourismus schauten. Im Mittelpunkt der Betrachtungen standen Tourist: innen, ihre Motive und Verhaltensweisen. Tourist: innen wurden entweder als ein Übel oder als eine leicht in die Irre zu führende Ansammlung von Menschen beschrieben. Gefangen in einer Blase hätten Tourist: innen nur oberflächlichen Kontakt zu ihrer Umgebung und ließen sich gerne und leicht täuschen. Es erfolgte eine Gegenüberstellung von Tourist: innen und echten Reisenden respektive Abenteuer suchenden Men‐ schen. Beispiele für die Kritik am Tourismus und eine kritische Betrachtung derselben finden sich in →-Kapitel 2.2.4. In den 1980erbis 1990er-Jahren entstanden viele klassische Publikatio‐ nen zur Tourismussoziologie. Zu den Autor: innen gehören u. a. Erik Cohen, Graham Dann, Marie-Françoise Lanfant, Dean MacCannell, John Urry, Michel Picard und Pierre van den Berghe. Hinzu kommen Autor: innen wie Joffré Dumazedier, Keith Hollinshead, Jens Christian Stehen Jacobsen, Scott McCabe, Chris Rojek, Tom Selwyn, Richard Sharpley, Jean Didier Urbain und Ning Wang, die tourismussoziologische Themen behandeln. Literatur-│-Tourismussoziologie In der von Jafar Jafari editieren Reihe Tourism Social Science Series erschien 2008 The Sociology of Tourism - European Origins and Develop‐ ment. Wie der Titel vermuten lässt, werden Werke u. a. aus deutschspra‐ chigen und nordischen Ländern, Frankreich, Spanien, Italien, Polen, den Niederlanden und Belgien vorgestellt. Im einleitenden und abschließen Kapitel findet eine Diskussion zentraler Themen statt. Zwei weitere Titel der Reihe beziehen sich ebenfalls auf die Tourismussoziologie. Wichtige deutschsprachige Publikationen, die das Spannungsfeld von Tou‐ rismus und Gesellschaft thematisieren stammen von Vester, Scheuch und 38 2 Entwicklung der Tourismussoziologie <?page no="39"?> Hennig. Auch Krippendorf (1984) setzte sich in seinen Arbeiten stark mit den Wechselwirkungen zwischen Tourismus und Umwelt auseinander. Hahn & Kagelmann (1993) haben zentrale tourismussoziologische The‐ men in einem Sammelband thematisiert. Pagenstecher (1998) zeigt in seiner Analyse von Enzensbergers Essay ein Forschungsprogramm auf. Die Untersuchung der »nicht-alltäglichen Wirklichkeiten« ist vor allem im angelsächsischen Raum intensiv erforscht worden. In Frankreich finden Imaginationen eine besondere Berücksichtigung. Ein wesentlicher Aspekt ist dabei die Konstruktion von (Urlaubs-)Wirklichkeiten. Nachfolgend werden die Werke einiger zuvor genannter Autor: innen detaillierter dargestellt und in Zusammenhang mit zuvor gemachten sozio‐ logischen Aussagen gebracht. Einen Schwerpunkt bilden die Arbeiten von Dean MacCannell und Erik Cohen. Beide haben über einen längeren Zeitraum regelmäßig zur Tourismussoziologie publiziert. 2.2.1 Leopold von Wiese: Zwischenmenschliche Beziehung Leopold von Wiese (*1876 †1969) schrieb 1930 einen Artikel mit dem Titel »Fremdenverkehr als zwischenmenschliche Beziehung«. Dieser recht kurze Artikel, der in der ersten Ausgabe des Archivs für den Fremdenverkehr erschien, wird in vielen Publikationen zur Tourismussoziologie zitiert. Von Wiese fokussiert in dem Artikel auf beziehungswissenschaftliche Aspekte des Tourismus. Grundlage für seine Überlegungen sind seine eigenen Arbeiten zur Menschlichkeit (von Wiese, 1915) sowie Simmels Konzept des Fremden (Simmel, 1908). Leopold von Wiese war ein Schüler von Simmel. 1915 und inmitten des ersten Weltkriegs stellt er fest, »dass alles Wollen und Handeln zwar Unterschiede in den Ausdrucksmitteln bei diesen und bei jenen aufweisen, im Grunde jedoch überall das Eine und Selbe sind« (von Wiese 1915, S. 91). Dementsprechend ist das Fremde auf einer zivilisatorischen Kulturstufe nicht mehr - wie in primitiven Kulturen - etwas Feindliches. Die Beziehung zwischen Fremden - von Wiese verwendet den Begriff des Tourist: innen nicht - und Einheimischen umfasst drei Typen. I. Der Fremde als Eroberer oder Besetzer ausgehend davon, dass er eine Macht vertritt. II. Der Fremde als zufällig an einem Ort anwesende Person. III. Der Fremde als Händler, Forscher, Vergnügungsreisender, Verkehrs‐ freund, der Interesse an dem Ort und den Einheimischen hat. 2.2 Tourismussoziologische Werke 39 <?page no="40"?> Typ III ist nach von Wieses Ermessen der eigentliche Gast. Dieser hat verschiedene Möglichkeiten der »Äußerungsweisen«. Er kann imponieren, um Sympathie werben, überreden oder auch täuschen. Dasselbe gilt für die Einheimischen. Die Kombination der Verhaltensweisen ist sehr vielfältig und abhängig von der Situation. Von Wiese stellt Besonderheiten fest, die sich daraus ergeben, dass Menschen sich in der Fremde befinden. Demnach neigen sie dazu, das Augenblickliche als charakteristisch zu sehen. Zweitens findet eine Verall‐ gemeinerung des Individuellen hin zum Typischen statt. Schließlich führt die kritiklose Übernahme solcher Urteile dazu, dass diese falschen Eindrücke soziale Geltung erlangen. Zitat »Im allgemeinen ließe sich als eine dringend zu empfehlende Norm für den Fremdenverkehr der Satz aufstellen: Beobachtet viel und genau; aber urteilt langsam und vorsichtig.« (von Wiese, 1930, S. 3) Von Wiese hat damit schon sehr früh den Fokus auf die Interaktion zwischen Fremden (Tourist: innen) und Einheimischen und auf die Besonderheiten der Wahrnehmung und Deutung einer Situation gelegt. Mit seinen Aussagen zu den Besonderheiten des Aufenthalts in der Fremde erfasst er wesentliche As‐ pekte des Tourismus. Dazu gehört vor allem die stereotype Wahrnehmung des Gegenübers. Sein Mahnung, zu beobachten ohne zu werten, ist aktueller denn je. 2.2.2 Hans Magnus Enzensberger: Theorie des Tourismus Hans Magnus Enzensberger (*1929 †2022) bezeichnet seine Publikation »Die vergebliche Brandung der Ferne« (1958) als eine Theorie des Tourismus. Sie basiert auf philosophisch-historischen Betrachtungen. Tourist: innen sind nach Enzensberger auf der Flucht vor der „selbst geschaffenen Realität“ (S. 709). Die Flucht und die damit verbundene Suche sind jedoch vergeblich, da die Ferne, wenn sie einmal erreicht ist, als Täuschung erkannt und durch eine neue Suche nach der Ferne ersetzt wird. Im Gegensatz zu kritischen Stimmen (→ Kapitel 2.2.4) klagt Enzensberger die Tourist: innen jedoch nicht an. Vielmehr entlarvt er Tourismuskritik (am Beispiel von Gerhard Nebel) als „auf einem Mangel an Reflexion, der 40 2 Entwicklung der Tourismussoziologie <?page no="41"?> an Torheit grenzt“ und moralisch auf Einbildung beruhend (Enzensberger, 1958, S. 704). Er stellt eine Verbindung zwischen der Entwicklung der Industriegesellschaft und des Tourismus her. So basiert der Tourismus auf den Logiken der Massenfertigung. Diese sind Normung, Montage und Serienfertigung. Normierte Elemente sind beispielsweise Sehenswürdigkei‐ ten, die in Reiseführern (1836 erschien Murrays Red Book) und heutzutage auf Instagram und TikTok genannt werden. Die Nennung beinhaltet eine Verpflichtung zum Besuch. Somit ist die durch die Reise gewonnene Freiheit durch verpflichtende Besuche und Aktivitäten eingeschränkt. Enzensberger spekuliert, dass damit eine Schuld abgegolten wird: Es wird eingestanden, „daß er [Tourist: in] die Freiheit, auf die er aus zu sein vorgibt, gar nicht verträgt.“ (S. 714) Denkübung | Nicht besichtigte Sehenswürdigkeiten Stellen Sie sich vor, Sie kehren von einer Reise zurück. Diese Reise hatte als Ziel einen berühmten Ort mit vielen Sehenswürdigkeiten. Wie würde Ihr Umfeld reagieren, wenn Sie berichten würden, dass Sie sich nichts angesehen haben, weil Sie keine Lust dazu hatten? Die einzelnen Elemente werden nicht nur normiert, sondern zu einer Route (Gesamtprodukt) montiert. Die Pauschalreise, die seriell gefertigt und ver‐ kauft wird, ist das Massenprodukt, das anderen industriellen Erzeugnissen entspricht. Menschen versuchen, dem industriellen Leben zu entgehen und Freiheit zu finden, scheitern aber daran, dass auch das Reisen ein industrielles Produkt ist. Laut Enzensberger sind sie sich insgeheim dessen bewusst. Sie suchen nach Freiheit und kehren enttäuscht zurück. Zitat »Die Befreiung von der industriellen Welt hat sich selber als Industrie etabliert, die Reise aus der Warenwelt ist ihrerseits zur Ware geworden.« (Enzensberger, 1958, S. 713) Wichtig ist dabei, dass diese Enttäuschung sowohl für das Sight-seeing als auch das Life-seeing gilt. Bereits 1958 stellt Enzensberger somit fest, dass 2.2 Tourismussoziologische Werke 41 <?page no="42"?> 9 Pagenstecher (1998) arbeitet diesen Aspekt weiter aus und zeigt auf, wie Leitbilder des historischen Blicks von anderen Autor: innen interpretiert wurden. Tourist: innen sich nicht mehr (nur) für Sehenswürdigkeiten (sight), sondern für das Alltagsleben der Einheimischen (life) interessieren. Obwohl Enzensberger Aussagen und Einschätzungen überzeugen, kann er sie nicht wissenschaftlich belegen. Dieses ist ein Hauptkritikpunkt an seiner Arbeit. Zudem zieht er nicht in Betracht, dass Tourist: innen auch trotz oder gerade wegen des Charakters eines Massenprodukts Spaß und Freude erleben. Eine philosophische Frage ist, ob alle Menschen Freiheit suchen. Enzensbergers Theorie wurde nur teilweise von der Tourismuswissen‐ schaft aufgegriffen. So fanden die Aspekte der Flucht und der industriell-ma‐ nipulativen Normierung des Tourismus Berücksichtigung und wurden em‐ pirisch untersucht. Enzensberger hat in dem Essay jedoch noch zwei weitere Aspekte an‐ gesprochen. Erstens geht er auf ein weiteres Motiv des Tourismus ein. Dieses ist das mit dem Reisen verbundene Sozialprestige. Bereits während der Reise (er)leben Menschen einen gehobenen Lebensstil. Sie leben in Hotels (»Kathedralen des Tourismus«) und lassen sich bedienen. Fotos und Souvenirs belegen den Reiseerfolg nach der Reise. Nach der Rückkehr bestätigen Tourist: innen die Bilder der Werbung, indem sie die eigenen Er‐ zählungen an die vorab vermittelten Werbebotschaften anpassen. Die Reise wird als Erfolg beschrieben, da eine negative Darstellung ein persönliches Scheitern bedeuten würde. Auf diese Weise wird die Illusion der Freiheit aufrechterhalten Enzensberger weist auf einen zweiten wichtigen Punkt - die Konstruk‐ tion touristischer Leitbilder - hin. Er zeigt, wie die Leitbilder der Ro‐ mantik - unberührte Landschaft und unberührte Geschichte - im Zentrum des touristischen Blicks stehen, wie sie verändert werden und welche Auswirkungen sie auf die Stimmungen und Wünsche von Menschen haben. 9 Zitat »Dies, die unberührte Landschaft und die unberührte Geschichte, sind die Leitbilder des Tourismus bis heute geblieben. Er ist nichts anderes als der Versuch, den in die Ferne projizierten Wunschtraum der Romantik leibhaftig zu verwirklichen. Je mehr sich die bürgerliche Gesellschaft 42 2 Entwicklung der Tourismussoziologie <?page no="43"?> schloß, desto angestrengter versuchte der Bürger, ihr als Tourist zu entkommen.« (Enzensberger, 1958, S. 709). Zusammenfassend ist der Tourismus nicht nur eine massenhafte Fluchtbe‐ wegung vor gesellschaftlichen Zuständen und eine Suche nach dem Glück der Freiheit - selbst an überfüllten Mittelmeerstränden, sondern auch ein sozial, kulturell und ökonomisch verankertes Phänomen. 2.2.3 Hans-Joachim Knebel: Strukturwandel im Tourismus Hans-Joachim Knebel (*1929 †2004) schrieb 1960 über »Soziologische Strukturwandlungen im modernen Tourismus«. Dabei handelt es sich um die erste tourismussoziologische Doktorarbeit. Zu Beginn weist Knebel darauf hin, dass es »zur sozialen Norm geworden ist, im Urlaub die Berufsrolle mit der Rolle des Tourist: innen zu vertauschen, die die moderne Fremdenindustrie bereitstellt« (Knebel 1960, V). Anschließend geht Knebel auf zentrale Begriffe des Fremdenverkehrs ein, um vier Kriterien zu definieren, mit denen ein Tourist: innen beschrieben werden können. Diese sind: [1] Mobilitätszwang, der seinen Ausdruck in zeitlich begrenzter regiona‐ ler Mobilität findet. [2] Beziehung oder Beziehungslosigkeit det Tourist: innen (als Rolle) mit den Einheimischen. Damit greift Knebel die Typologie von Wieses auf. [3] Konsumtive Befriedigung von Luxusbedürfnissen mit Mitteln, die am Heimatort verdient werden. [4] Streben nach Komfort und psychischer Sicherheit. Knebel untersucht verschiedene Formen des Tourismus und ordnet diese entlang eines Kontinuums von der traditions-geleiteten Reise, über den innen-geleiteten Tourismus bis zum außen-geleiteten Tourismus an. Knebel beschreibt »Tourismus als Funktion des sozialen Wandels« (Knebel, 1960, S. 8). Im Reiseverhalten manifestieren sich, so stellt Knebel fest, Veränderungen des Sozialcharakters. Demnach führen Wandlungen im Sozialcharakter einer Gesellschaft zu Veränderungen in der Motivation zu reisen. Der in der Moderne dominierende Typ des außen geleiteten Sozialcha‐ rakters sucht vor allem nach Steigerung des Sozialprestiges durch die 2.2 Tourismussoziologische Werke 43 <?page no="44"?> Reise. Die Werbung verstärkt den Druck auf die Menschen ebenso wie die Vorstellung, dass ein Urlaub Erholung bringt und damit notwendig ist. Der moderne Mensch wird somit »durch die anderen, die Institutionen oder die Verkehrsmittel« zur Tourist: in (als Rolle) gemacht. Knebel verwen‐ det das Wort »mobilisiert«. Er ergänzt diese Feststellung noch dadurch, dass der Tourist: innen im Tourismussystem eine »totale« Rolle übernehmen, aus der es kein Entrinnen gibt. Ähnlich wie Enzensberger stellt Knebel somit erstens eine direkte Verbindung zwischen Gesellschaft und Tourismus bzw. zwischen Sozialcharakter und Tourist: in her. Zweitens beschreibt er ähnliche Verpflichtungen und Bindungen der Tourist: innen sowie die Bedeutung des Sozialprestiges, das sich aus einer Reise ableiten lässt. 2.2.4 Tourismuskritik Gegenstand dieses Kapitels sind erstens Beispiele für Kritik am Tourismus. Es handelt sich um typische Aussagen hinsichtlich des touristischen Verhal‐ tens und der negativen Folgen. Zweitens wird Kritik an der Kritik vorgestellt. Kritik am (Massen)tourismus Eine Vielzahl von Arbeiten beschreibt Tourist: innen als eine Masse ober‐ flächlicher, leicht zu befriedigender Wesen, die sich nur zu gerne von der Tourismusindustrie betrügen lassen. Tourist: innen sind demnach blind für ihr Umfeld und haben kein Interesse an einem echten Kontakt zu den Einheimischen. Häufig werden sie als Kontrast zu den früheren (adligen) Reisenden gesehen. Letztere hätten Interesse an Land und Kultur gehabt und wären darüber hinaus in der Lage gewesen, fremde Kulturen zu verstehen. Tourist: innen wären demgegenüber unwissend, ungebildet und ignorant. Daniel J. Boorstin (*1914 †2004) schrieb 1964 über die verlorene Kunst des Reisens. In seinem Buch »The Image: A guide to Pseudo-Events in America«, beschreibt er in Kapitel 3 (»From Traveler to Tourist: The Lost Art of Travel«) wie sich das Reisen geändert hat. In früheren Zeiten reisten Menschen, um Neues zu entdecken, die Perspektive zu verändern und zur Entwicklung von Geist und Gesellschaft beizutragen. Letzteres resultiert daraus, dass Reisende nach ihrer Rückkehr die etablierten Ansichten durch Erfahrungen, die sie während des Reisens machten, infrage stellen und gesellschaftliche Veränderungen bewirken können. Diese Erläuterungen erinnern an Simmels (→-Kapitel 2.1.4) Ausführungen zum Wandernden. 44 2 Entwicklung der Tourismussoziologie <?page no="45"?> Zitate »One of the most ancient motives for travel, when men hat any chance about it, was to see the unfamiliar.« (Boorstin, 1964, S. 78) »Great stirrings of the mind have frequently followed great ages of travel.« (ebenda) »Travel has been the universal catalyst. It has made men think faster, imagine larger, want more passionately.« (a.a.O., S. 79) Den Gegensatz zum traveler bildet der tourist. Letzterer gewinnt seit Mitte des 19. Jahrhunderts an Bedeutung und verdrängt den traveler. Der tra‐ veler ist aktiv, der tourist hingegen passiv. Der tourist erlebt nur noch Pseudo-Events und wird von Boorstin als kultureller Dummkopf (cultural dope) beschimpft. Begründet liegt dieses in falschen Erwartungen. So wird ein extremes Maß an Abenteuern in einem risikoarmen und komfortablen Umfeld erwartet. Das eigentlich Unmögliche wird durch die Tourismusin‐ dustrie in Form von Inszenierungen angeboten. Gründe für die Entwicklung liegen darin, dass Technologien das Reisen zu einem sicheren und einfachen Erlebnis machen, das für die Massen geeignet ist. Transportmittel, Reiseführer und Reiseversicherungen sichern das Reisen ab und machen es selbst für die ängstlichsten Personen attraktiv. Alles ist organisiert und vorbereitet, so dass es den Tourist: innen gefällt. Zitat »The tourist is passive; he expects interesting things to happen to him. He goes ›sight-seeing‹ […]. He expects everything to be done to him and for him.« (ebenda, S. 85) Besonders kritisch äußerten sich Turner & Ash (1975) mit dem Buch »The Golden Hordes: International Tourism and the Pleasure Peripherie«. Tourist: innen werden mit barbarischen Horden verglichen, die in Massen in Länder einfallen und die dortigen Kulturen zerstören. Tourismuskritiker: in‐ nen fanden eine Bestätigung ihrer negativen Sichtweise in zahlreichen Studien zu den negativen Folgen des Tourismus auf Wirtschaft, Umwelt und Gesellschaft. Vor allem in weniger entwickelten Ländern schien der 2.2 Tourismussoziologische Werke 45 <?page no="46"?> Tourismus Kulturen zu zerstören und Menschen in Abhängigkeiten zu treiben. Kritik an der Kritik Die Kritik am Tourismus und Tourist: innen entsprach und entspricht auch heute noch der generellen kritischen Betrachtung moderner Massenkultu‐ ren, die scheinbar jeglichen Sinn verloren haben. Hennig (1999) stellt fest, dass »[…] die Geringschätzung der Urlauber und die Betonung der eigenen Reise-Originalität […]« (Hennig, 1999, S. 24) bei Intellektuellen, die das Thema erforschen, besonders verbreitet ist. Mit Bezug auf Weber ergänzt Hennig, dass der ziel- und zwecklose Genuss den puritanischen Werten, die im »[…] asketischen Kontext des Wissenschaftsbetriebs […]« (ebenda) herrschen, entgegenstehen«. Hennig erweitert diese Betrachtung, indem er Schulze (2005) aufgreift. Demnach haben Spaß, Heiterkeit und der bloße Genuss in den Sozialwissenschaften einen schweren Stand. Freizeit und Tourismus gehören beide in diesen Bereich. Henning adressiert ebenfalls die Bedeutung des Körpers. So sollte die Mitbestimmung des Körpers (→ Kapitel 3.13) als Handlungsmotiv akzeptiert werden resp. in soziologische Betrachtungen alltagsästhetischer Erfahrungen aufgenommen werden. Die Unterscheidung in traveler und tourist oder Reisende und Tourist: in‐ nen hält sich hartnäckig. Das gilt sowohl für wissenschaftlichen Arbeiten und journalistische Darstellungen als auch für Alltagsvorstellungen von Menschen. Problematisch ist diese Herangehensweise deswegen, weil die Begriffe eng mit Wertungen wie »gut und »schlecht« oder »oberflächlich« und »anspruchsvoll« verbunden sind. Letzteres wirkt nicht nur auf die Ein‐ schätzung und Wertschätzung des Tourismus, sondern auch auf die damit verbundene Forschung. Wegen der hohen gesellschaftlichen Bedeutung, die Tourismus hat, wäre die Etablierung einer kritischen, differenzierten und sozialwissenschaftlich basierten Forschung dringen erforderlich. 2.2.5 Dean MacCannell: Moderne Pilger Von einigen Autor: innen wird Dean MacCannell (*1940) als der Gründer der modernen Tourismussoziologie beschrieben, da es ihm gelungen ist, ein konstituierendes Element des Tourismus zu definieren. Demnach kreist Tourismus um die Unterscheidung truth bzw. nontruth. Tourist: innen sind auf der Suche nach den zentralen Symbolen menschlicher Kultur und somit dem Wesen einer Gesellschaft. Da in der Moderne der Zugang zur Realität 46 2 Entwicklung der Tourismussoziologie <?page no="47"?> 10 MacCannell hat erstmals 1973 über staged authenticity geschrieben. Dieser Aufsatz findet sich als Kapitel 5 in The Tourist. 1992 erschien Empty Meeting Grounds: The Tourist Papers. Dort betrachtet MacCannell ergänzend die kulturellen Veränderungen, die sich aus gegenläufigen Bewegungen zum Tourismus - z.B. Immigration und Flucht - ergeben. verloren gegangen ist, suchen Menschen in vergangenen oder fremden Welten einen Ersatz. MacCannell stellt in seinem erstmals 1976 10 erschienenen Werk »The tourist« mit Absicht Tourist: innen und nicht den Tourismus in den Mit‐ telpunkt seiner Betrachtungen. Tourist: in ist dabei erstens eine wirkliche Person. Zweitens ist the tourist nach MacCannell das beste Modell für den modernen Menschen. Sein Buch sollte als ethnografischer Bericht über die moderne Gesellschaft dienen. Zitat »All tourists desire this deeper involvement with society and culture to some degree; it is a basic component of their motivation to travel.« (MacCannell, 1976, S. 1) Tourist: innen sind moderne Pilger und suchen Authentizität. Sie müssen den Alltag und ihr normales Umfeld verlassen, da sie dort nicht mehr die ursprüngliche Verbundenheit erleben können. Zitat »I have claimed that the structure of this social space is intimately linked to touristic attitudes, and I want to pursue this: the touristic way of getting in with the natives is to enter into a quest for authentic experiences, perceptions, and insights.« (MacCannell, 1973, S. 602). MacCannell analysiert die Bedeutung (inszenierter) Authentizität ausgehend von Goffman (→ Kapitel 2.1.5). Er macht deutlich, dass Attraktionen über front region und back region verfügen. Die eigentliche Begegnung zwischen Tourist: innen und Einheimischen findet in der front region statt und wird dort inszeniert. MacCannell betont, dass es ein Kontinuum an Regionen gibt, 2.2 Tourismussoziologische Werke 47 <?page no="48"?> die in Abhängigkeit vom Verständnis der Tourist: innen erreicht werden können. Zitat »Specifically, I have suggested that for the study of tourist settings front and back be treated as ideal poles of a continuum, poles linked by a series of front regions decorated to appear as back regions, and back regions set up to accommodate outsiders.« (MacCannell, 1999, S. 105) Der Grund, warum Tourist: innen so selten bis zur letzten Hinterbühne (back region) vordringen, liegt darin, dass die Tourismusindustrie künstliche Welten (tourist spaces oder tourist districts) kreiert hat, die Authentizität nur inszenieren und Tourist: innen täuscht. Als Resultat reist die Freizeitklasse (the leisure class) in andere Länder und »konsumiert« dort das Land sowie die Menschen, Attraktionen und Ereignisse. Zitat »In short, tourism is not just an aggregate of merely commercial activi‐ ties: it is also an ideological framing of history, nature, and tradition; a framing that has the power to reshape culture and nature to its own needs.« (MacCannell, 1992, S. 1) MacCannell hat mit seinem Ansatz resp. dem Buch die per definitionem negative Betrachtung von Tourist: innen überwunden, da er touristisches Verhalten ernst nimmt und diesem mit Respekt begegnet. Im Gegensatz zu Boorstin verurteilt er nicht von außen, sondern versucht, die Bedeutung des Reisens zu erkennen (und deutend zu verstehen). Die Bedeutung des Reisens lässt sich durch eine strukturalistische Be‐ trachtungsweise aufdecken und liefert die Erkenntnis, dass Tourismus ähnlich wie eine Religion Menschen Sinn gibt und eine Gesellschaft zusam‐ menhält. 48 2 Entwicklung der Tourismussoziologie <?page no="49"?> Wissen │ Strukturalismus Der Strukturalismus basiert auf der Annahme, dass Phänomene nicht vereinzelt, sondern in Verbindung mit anderen existieren. Diese Ver‐ bindungen bilden Strukturen, die aufgedeckt und analysiert werden können. Nach Lévi-Strauss (1978) sind kulturelle Produkte Zeichensys‐ teme, die auf zugrunde liegenden Strukturen beruhen. Tourismus ist ein modernes Ritual, das Menschen die Möglichkeit gibt, sich von »allem« zu entfernen. Damit ist der Alltag mit seinen Routinen und Verpflichtungen gemeint. Urlaub ist Erholung und bietet einen Ausgleich zu den Anstrengungen. Er ist zeitlich beschränkt und kürzer als der Alltag. Weiterhin umfasst er klar definierte Phasen und Rituale, die als verbindende Elemente innerhalb einer Gesellschaft wirken. Die von MacCannell vorgenommene Ergänzung ist wichtig, da sie die Grundlage für eine ernsthafte soziologische Betrachtung von Tourist: innen und Tourismus bietet. Durch die Gleichsetzung der Tourist: innen mit dem Menschen in der Moderne hebt MacCannell den gesamten Bereich auf eine Ebene, die für alle Gesellschaftswissenschaften von Relevanz ist. Die Suche nach Authentizität oder nach dem, was Menschen für authentisch halten, kann als Sinnsuche des Menschen in der Moderne verstanden werden. Eine Kritik an MacCannell resultiert aus der Tatsache, dass viele offen‐ sichtlich unechten Attraktionen dennoch von Tourist: innen aufgesucht werden. Dieses Verhalten kann von MacCannell nicht erklärt werden. Wesentliche Ergänzungen kommen dazu von Wang (1999), Cohen (1988) und Cohen & Cohen (2012) (→-Kapitel 2.2.8). 2.2.6 Nelson Graburn: Tourismus als Ritual und Spiel Nelson Graburn (*1936) betrachtet touristisches Verhalten aus einer anthro‐ pologischen Perspektive und strebt eine globale, komparative Betrachtung an. Diese kulturübergreifende Analyse soll erstens allgemeine Aspekte des Tourismus beschreiben und zweitens die kulturelle Abhängigkeit touristi‐ scher Rituale (→-Kapitel 3.10) von der jeweiligen Kultur aufdecken. Graburn beschreibt Tourismus als Bruch mit oder Ausbruch aus dem Alltag. Eine Gemeinsamkeit mit anderen Alltagsbrüchen besteht nach Grab‐ urn darin, dass Tourismus die Menschen vom normalen, instrumentellen Leben entfernt und Platz für die Erfüllung von Bedürfnissen, die im Alltag unterdrückt werden, schafft. Tourismus umfasst somit besondere rituelle 2.2 Tourismussoziologische Werke 49 <?page no="50"?> Phasen, die im Gegensatz zum Alltag stehen. Diese Rituale haben eine eindeutige zeitliche und räumliche Begrenzung und sind kürzer als die Phasen des Alltags. Zitat »As such, tourism is one of those necessary structured breaks from ordinary life which characterizes many modern societies.« (Graburn, 1983, S. 11). »It is no wonder, then, that tourism is often identified with re-creation - the renewal of life, the recharging of run-down elements - so necessary for the maintenance of mental and bodily health which characterize a balanced life style - mens sane in corpora sane.« (ebenda) Graburn beschreibt einen typischen Ablauf dieser Rituale (→ Kapitel 3.10). Auf eine Lösung vom Alltag folgt der Aufenthalt an einem nicht alltäglichen Ort mit dem Erleben des Ungewohnten. Danach folgt die Rückkehr an und in den Alltag. Die Rituale können in zwei Kategorien unterteilt und auf den Tourismus übertragen werden. Die erste umfasst rites of intensification. Bei diesen handelt es sich um regelmäßig wiederkehrende Rituale, die eine Verstärkung gewohnter Strukturen umfasst. Im Tourismus ist das der Jahresurlaub oder die Ferien zu Weihnachten und Ostern. Die stattfindenden Reisen weisen gleichmäßige Muster auf und dienen der Erholung. Im Gegensatz dazu stehen zweitens die rites of passage. Diese bedeuten Umbrüche im Leben, wie beispielsweise eine Heirat oder der Verlust eines Menschen. Im Tourismus findet sich das Äquivalent in außergewöhnlichen Reisen, z.B. an ungewöhnliche Destinationen oder intensive Reiseerfahrun‐ gen, wie Pilger- oder Fastenreisen. Im Mittelpunkt steht die Beschäftigung mit sich selbst, das Finden einer Bestätigung resp. dem Austesten neuer Verhaltensweisen. Hochzeitsreisen verbinden traditionelle Rituale mit dem Reisen. Die Hochzeitsreise ist inzwischen ein wichtiges Element der Heirat. Graburn leitet aus seinen Betrachtungen drei Aussagen über Tourismus und Tourist: innen ab: [1] Lebensqualität: Auch wenn Tourismus häufig kritisiert und als ober‐ flächliche Tätigkeit angesehen wird, ist er für Millionen von Menschen weltweit eine wesentliche Option, die Anstrengungen des Alltags zu kompensieren. Er erhöht die Lebensqualität. 50 2 Entwicklung der Tourismussoziologie <?page no="51"?> [2] Touristisches Verhalten: Die Art und Weise, wie sich Menschen im Urlaub verhalten, hat einen direkten Bezug dazu, was im Alltag wichtig ist. Selbstwahrnehmung, Klassen- und Gruppenzugehörigkeit sowie soziale Ambitionen können aus dem touristischen Verhalten abgelesen werden. [3] Tourismusstile: Da Tourismus eine Phase ist, in der Phantasien und Wünsche erlebt und ausgelebt werden können, verweisen sie auf gesellschaftliche Stimmungen und Entwicklungen. Tourismus kann somit als Indikator für gesellschaftliche Veränderungen dienen. Zusammengefasst macht Graburn deutlich, dass Tourismus eng mit dem alltäglichen Handeln und Verhalten von Menschen verbunden ist und vor diesem Hintergrund analysiert sowie als Prognose für zukünftige Entwick‐ lungen genutzt werden kann. Tipp-│-Website Tourism Studies Working Group Nelson Graburn lehrte mehr als 50 Jahre Anthropologie an der University of California at Berkeley. Absolvent: innen der UC Berkeley gründeten die Tourism Studies Working Group mit maßgeblicher Beteiligung von Graburn. Auf der Website finden sich Informationen zu Colloquien und Konferenzen: 🔗 https: / / www.tourismstudies.org/ about.htm 2.2.7 John Urry: The Tourist Gaze John Urry (*1946 †2016) wählte mit »The Tourist Gaze« (1990) einen gänzlich anderen Zugang zum Tourismus, als es bis dahin üblich war. Ausgehend von Foucaults (1988) Thema des medizinischen Blicks, sieht Urry im Tourismus einen Bereich, der »nur« dem Vergnügen dient. Zitat »It is about consuming goods and services which are in some sense unnecessary. They are consumed because they supposedly generate pleasurable experiences which are different from those typically en‐ countered in everyday life. And yet at least a part of that experience is to 2.2 Tourismussoziologische Werke 51 <?page no="52"?> gaze upon or view a set of different scenes, of landscapes or townscapes which are out of the ordinary.« (Urry, 2002, S. 1) Urry beschreibt in seinem Buch die Dynamiken der Konstruktion touris‐ tischer Erfahrung und die damit verbundenen komplexen sozialen Struk‐ turen und Prozesse. Die touristische Erfahrung ist demnach keine bloße Wahrnehmung von Realität. Vielmehr wird der Blick (the gaze) gelenkt, so dass eine einzigartige Erfahrung entsteht, die sich vom alltäglichen Blick unterscheidet. Genauso wie MacCannell geht Urry davon aus, dass zur Abgrenzung des Alltags das Unbekannte, Fremde, Außergewöhnliche gesucht wird. Ergänzend analysiert er den Prozess des selektiven Blicks. Um den Eindruck des In-der-Fremde-Seins zu erhalten, reichen bekannte Symbole, die dieses vermitteln (vgl. Goffmans Konzept des Rahmens, → Kapitel 2.1.5). So suggeriert eine Palme in der Hotellobby ein Urlaubsgefühl. Ein Franzose mit einem Baguette unter dem Arm symbolisiert das wahre Frankreich. Bekannte Sehenswürdigkeiten signalisieren »Ich bin jetzt an einem fremden Ort«. Urry macht dabei deutlich, dass der fremde Ort dadurch erkannt wird, dass ein bekanntes Symbol entdeckt wird. Somit suchen Tourist: innen nicht das wirklich Fremde, sondern das bekannte Zeichen des Fremden. Zitate »[ …] we gaze at what we encounter. And this gaze is socially organised and systematised as is the gaze of the medic.« (Urry, 2002, S. 1) »And yet even in the production of ›unnecessary‹ pleasure there are in fact many professional experts who help to construct and develop our gaze as tourists.« (ebenda) Der Blick der Tourist: innen wird konstruiert und verstärkt und hängt nur in Ansätzen mit dem eigentlichen Ort zusammen. Im Hintergrund agieren professionelle Akteur: innen, die dafür sorgen, dass das touristische Erleben mühelos erlebt werden kann. The Gaze kann rund um unterschiedliche Elemente herum konstruiert werden. Beispiele sind Bauwerke, Menschen, Tiere und Situationen. Aufgrund der sozialen Bedingtheit variiert der Blick in Abhängigkeit von Gesellschaft, sozialer Gruppe und geschichtlichem Hintergrund. Der Blick 52 2 Entwicklung der Tourismussoziologie <?page no="53"?> ist als Kontrast zu nicht-touristischen alltäglichen Praktiken formuliert und somit durch die Zustände von denen er sich unterscheidet geprägt. Urry stelle eine Parallele zwischen Tourismus, Urlaub, Reisen und Devi‐ anz fest. Etablierte alltägliche Routinen und Praktiken werden unter- oder durchbrochen und Menschen machen vom Alltag abweichende Erfahrun‐ gen. Wissen │ Devianz Devianz ist ein wichtiges Forschungsfeld in der Soziologie und bezeich‐ net von der Norm abweichendes Verhalten. Devianz und Normalität bzw. Konformität sind beide durch soziale Prozesse bestimmt und bedin‐ gen sich gegenseitig. So gibt es in jeder Gesellschaft und in jeder Gruppe Verhaltensweisen, die als »normal« angesehen werden. Variationen von der Norm werden bis zu einem gewissen Grad akzeptiert. Wann eine Variation als deviantes Verhalten bezeichnet wird, ist gesellschaftlich bedingt und abhängig vom Kontext (→-Kapitel 3.11). Urry stellt ergänzend fest, dass Reisen neben einem eigenen Haus und dem Auto ein Statussymbol in der modernen Gesellschaft sind. Dieses gilt für alle Reisenden und nicht nur für höhere Klassen. Interessen, Macht und Autorität sind zentrale Einflussgrößen bei der Konstruktion des Blicks (→ Kapitel 3.9). So versuchen Tourismus: expertin‐ nen, den Blick auf ihr Angebot zu lenken bzw. den Blick so zu konstruieren, dass ihr Objekt dem Blick entspricht. Im Hintergrund agiert eine Vielzahl an Akteur: innen, die Bilder, Ge‐ schichten, Menschen und Orte so auswählen und den Tourist: innen präsen‐ tieren, dass ein in sich schlüssiges Gesamtbild entsteht. Die Begegnungen zwischen Tourist: innen und Einheimischen folgt Organisationsprinzipien, welche die Begegnung zu einem besonderen und erinnerungswürdigen Ereignis werden lassen. Tourismus rückt damit in die Nähe des modernen Konsums. Dort ist weni‐ ger die Materialität als das Erleben des Konsumierens das zentrale Motiv. Urry spricht von der Ästhetisierung des Konsums (aestheticisation of consumption). Er verbindet damit Tourismus und Moderne resp. Postmoderne. 2.2 Tourismussoziologische Werke 53 <?page no="54"?> 11 In der zweiten Auflage von The Tourist Gaze (2002) reagiert Urry in einem ergän‐ zenden Kapitel Globalising the Gaze auf die Konsequenzen von Globalisierung und technologischen Entwicklungen. 2011 nimmt er als weitere Themen Fotografie und Digitalisierung, verkörperte Darstellungen (embodied performances) sowie Risiken und alternative Zukünfte mit auf und nennt das Buch The Tourist Gaze 3.0 12 Ein guter Einstieg in seine Arbeiten ist das u.a. von ihm editierte Sammelwerk Contem‐ porary Tourism: Diversity and Change aus dem Jahr 2004. Dieses umfasst 17 der zwischen 1972 und 2001 erschienen Artikel sowie ein einleitendes und ein abschließendes Essay. Urry (2002 11 ) weitet das Konzept des touristischen Blicks aus. Er spricht von einer Ökonomie der Zeichen (economy of signs), da es den Tourismus per se aufgrund globaler Mobilitäten nicht mehr oder kaum noch gibt (→ Ka‐ pitel 2.2.12 Bauman Liquid Modernity). Konsequenterweise publizierte Urry in seinen letzten Lebensjahren vor allem zu mobilities. Eine von diesen ist Tourismus. 2.2.8 Erik Cohen: Soziologie des Tourismus Erik Cohen (*1932) ist der Forscher, der am intensivsten und über einen langen Zeitraum (seit 1972) hinweg daran arbeitet, eine Soziologie des Tourismus zu entwickeln resp. die Grundlagen dafür zu legen. Er hat mehr als 200 Artikel zu tourismussoziologischen Fragestellungen veröffentlicht. 12 Seine Arbeiten zeigen deutlich die Möglichkeiten, Schwierigkeiten und Grenzen einer soziologischen Betrachtung des Tourismus. Einerseits gelingt es ihm, zahlreiche Themenfelder des Tourismus zu identifizieren, die mit soziologischen Theorien beschrieben, analysiert und erklärt sowie mittels soziologischer Methoden empirisch überprüft werden können. Andererseits fehlt eine Zusammenführung der Ansätze im Sinne eines Kompendiums der Tourismussoziologie. Cohens Publikationen adressieren zum einen die theoretische Konzeption einer Soziologie des Tourismus sowie der Tourist: innen und andererseits empirische Studien, die seine Ansätze belegen. Cohen greift in seinen Arbei‐ ten existierende Aussagen auf und ergänzt diese um eigene Gedanken und empirische Ergebnisse. Bisher hat Cohen keine Monografie zur Tourismus‐ soziologie veröffentlicht, sondern in Sammelbänden und Journals publiziert. Das ist vielleicht ein Grund dafür, dass seine Ansätze nicht systematisch von anderen aufgegriffen und weiterentwickelt wurden. Hinzu kommt, dass die kontinuierliche Ergänzung relevanter Ansätze in Kombination mit gesellschaftlichen Veränderungen ein hochdynamisches Feld kreieren. 54 2 Entwicklung der Tourismussoziologie <?page no="55"?> Nachfolgend werden Cohens zentrale Publikationen zur Soziologie des Tourismus dargestellt. Weitere Arbeiten zu einzelnen Thematiken, wie etwa der Rolle, werden in → Kapitel 3.5 analysiert. Einige der empirischen Studien werden in →-Kapitel 2.3 vorgestellt. 1972 publizierte Cohen den Artikel »Toward a sociology of interna‐ tional tourism«. In diesem stellt er zunächst fest, dass Tourismus trotz seiner weltweiten Verbreitung bislang von Soziolog: innen als Thema ver‐ nachlässigt wurde. Ausnahmen sind Knebel (→ Kapitel 2.2.3) und Boorstin (→ Kapitel 2.2.4) sowie vereinzelte Aufsätze unterschiedlicher Autor: innen in freizeitwissenschaftlichen Sammelbänden. Cohens Ausgangspunkt der Betrachtung des Tourismus (er spricht zumeist vom Massentourismus) ist eine veränderte Haltung des Menschen hinsichtlich des Unbekannten. Im Gegensatz zu früheren Zeiten werden Fremdartigkeit und Neues nicht mehr als Bedrohung, sondern als Bereicherung angesehen. Demnach ist die touristische Aktivität auf Neugier und die Suche nach Erlebnissen zu‐ rückzuführen. Allerdings erfolgt die Erfahrung der Fremdartigkeit und des Neuen auf Basis des Bekannten respektive aus einem geschützten Bereich heraus. Cohen spricht von einem environmental bubble oder Knebel zitierend von einer touristischen Eigenwelt. Dieser bubble umgibt die Tourist: innen während der Reise und aus diesem heraus interagieren sie mit dem Neuen. Ein gutes Beispiel dafür ist eine Township-Tour in einem Reisebus, der nicht verlassen wird. Das Fremde wird aus dem vertrauten Bus heraus betrachtet und fotografiert. Die kontrollierte Erfahrung der Fremdartigkeit (novelty and strange‐ ness) ist somit konstituierendes Element des modernen Tourismus. Dabei unterscheiden sich Tourist: innen hinsichtlich des Verhältnisses von Fremd‐ artigkeit und Bekanntem. Demnach variiert das Maß, in welchem Menschen das Bekannte verlassen und sich dem Unbekannten öffnen. Cohen spricht von einem Kontinuum, skizziert im Detail jedoch nur vier Konstellationen, die sich aus den minimalen und maximalen Ausprägungen der beiden Dimensionen ergeben (→-Abb. 3). Tourist: innen, die sich mit Bekanntem umgeben und das Neue scheuen, sind nach Cohen die organisierten Massentourist: innen. Sie wählen und buchen in der Heimat standardisierte Produkte und Dienstleistungen. Die Reise erfolgt in einer Gruppe und wird gemäß eines vorher definierten Planes durchgeführt. Etablierte und vertraute Transportmittel, Unterkünfte (zumeist westliche Kettenhotellerie) und Verpflegung werden ausgewählt. Aus dem klimatisierten Reisebus heraus wird das Neue betrachtet und durch 2.2 Tourismussoziologische Werke 55 <?page no="56"?> die Reiseleitung gelenkt fotografiert. Es findet keine Interaktion mit dem Umfeld statt. Zitate »Wer sich bei einem Urlaub in Griechenland um nichts mehr kümmern möchte, für den ist in Athen ein All inclusive Urlaub genau das Richtige. Fliegen Sie mit Neckermann Reisen in die Metropole in der Ägäis und kümmern Sie sich weder um den Flug noch um das Essen in Ihrem Hotel oder sonstige Serviceleistungen. All das ist bei Ihren Athen All inclusive Ferien längst im Preis enthalten.« (Quelle: Neckermann Reisen, 2018) niedrig Bekanntheit hoch niedrig Fremdartigkeit hoch Drifter Explorer individualisierter Massentourismus organisierter Massentourismus Hinweise: Bekanntheit bezieht sich auf das direkte Umfeld (Mikroebene), z.B. das Hotel oder der Reisebus. Fremdartigkeit bezieht sich auf die Umgebung (Makroebene), z.B. die Destination . Abb. 3 Abb. 3: Tourist: innentypologie nach Cohen 1972 (eigener Entwurf) Individuelle Massentourist: innen verlassen an einigen Stellen das Be‐ kannte und öffnen sich etwas mehr dem Neuen. Sie reisen allein respektive mit Familie, Freund: innen oder Bekannten. Die Planung der Reise hat Lücken, obwohl die Hauptelemente wie Transportmittel und Unterkunft 56 2 Entwicklung der Tourismussoziologie <?page no="57"?> bereits vorab gebucht werden. Es findet eine beschränkte Interaktion mit dem Umfeld statt, ebenfalls aus der touristischen Eigenwelt heraus. Zitate »Sie möchten Ihre Urlaubsaktivitäten individuell gestalten? Dann ist die Mietwagen-Rundreise entlang der wunderschönen Garden Route, die größtenteils an der Küste des Indischen Ozeans entlang führt, genau das Richtige für Sie! « (Quelle: Website Berge & Meer, 2022) Explorer planen die Reise eigenständig und versuchen, bekannte und etablierte Wege zu meiden. Sie suchen dennoch nach einem gewissen Komfort und Sicherheit vor allem bei der Wahl der Transportmittel und der Unterkunft. Die Entdeckung des Neuen wird angestrebt, allerdings bleibt immer eine Rückzugsmöglichkeit. Die Interaktion mit den Einheimischen erfolgt aus einer distanzierten Position heraus; entweder aus einer ästheti‐ schen oder einer intellektuellen Perspektive. Zitate »Die Länder sind exotisch genug, um richtiges Pionier-Feeling aufkom‐ men zu lassen, und trotzdem auf den Tourismus gut eingestellt.« (Quelle: Website lonely planet, 2022) Drifter meiden jeden Kontakt mit touristischen Strukturen. Sie nutzen öffentliche Verkehrsmittel, übernachten bei Einheimischen und verdienen durch Gelegenheitsjobs etwas Geld. Es gibt keine festgelegte Reiseroute, sondern alles ergibt sich spontan. Cohen beschreibt Drifter als true rebel of the tourist establishment. Drifter versuchen, in das Leben vor Ort einzutauchen und ein Teil dieser Welt zu werden. Sie stellen sich bewusst gegen die institutionalisierten Formen des Tourismus. Das Reisen ist ein zeitweises Abweichen von den Normen, bevor nach der Rückkehr ein konformes Leben aufgenommen wird. Trotz aller Lösung und Distanz zum Tourismus darf nicht übersehen werden, dass auch die Drifter nur als Gast im Land sind und nach einer gewissen Zeit und unter besonderen Bedingungen (wie zu Beginn der Pandemie) die Reise in die Heimat antreten werden. 2.2 Tourismussoziologische Werke 57 <?page no="58"?> Zitate Die Drifter heute: »Wir haben Job und Wohnung aufgegeben, um als Backpacker neue Länder zu entdecken. Wir reisen als Backpacker mit wenig Gepäck. Wir führen seit Jahren ein Reiseblog für Backpacker. Ab und an bewegen wir uns abseits der Tourist: innenpfade und übernach‐ ten in simplen Unterkünften, essen auf lokalen Märkten oder fahren mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Wir wissen selten, was uns am nächsten Reisetag erwartet.« (Quelle: Website Umdieweltreise, 2018) Sowohl der organisierte als auch der individuelle Massentourismus zählt nach Cohen zum institutionalisierten Tourismus. Im Gegensatz dazu re‐ präsentieren die Explorer und die Drifter den nicht institutionalisierten Tourismus. Cohen legt im Anschluss an die Typologie den Schwerpunkt auf die Be‐ trachtung des institutionalisierten Massentourismus und die Notwendigkeit der Bereitstellung eines Massenprodukts, das die Illusion des Abenteuers und der Überraschung enthält. Dieses gelingt laut Cohen durch die Prozesse der Transformation und Veränderung: Attraktionen - echt oder arrangiert - ziehen Tourist: innen an. Da die meisten Tourist: innen einen westlich ge‐ prägten Geschmack haben, werden Attraktionen gemäß westlicher Standards gestaltet. Störende Elemente werden entfernt. Durch die weltweite Standar‐ disierung von Attraktionen ergibt sich eine Uniformität und Ähnlichkeit. Als Folge verlieren Länder dadurch ihre Individualität und somit im Endeffekt die Anmutung des Neuen. Diese Beschreibung hat eine starke Nähe zur Theorie des Tourismus von Enzensberger (→ Kapitel 2.2.2). Beispiel │ Souvenirs und Bimmelbahn Eine Analyse der Souvenirstände rund um die Top-Sehenswürdigkeiten dieser Welt belegt Cohens Aussagen zur Uniformität. Zu den standardi‐ sierten Souvenirs gehören: Miniaturen der Attraktion in unterschiedli‐ chen Preisklassen, T-Shirts mit den immer gleichen Sprüchen, Plastik‐ spielzeug, Magnete. Ebenfalls gleichen sich die Souvenirs innerhalb eines Landes. Oktoberfest-Artikel sind am Rhein ebenso erhältlich wie Spielzeug-Stiere und Flamenco-Puppen in Nordspanien. Ein weiteres Beispiel sind die an vielen Orten anzutreffenden Tourist: in‐ nenzüge oder Bimmelbahnen. Selbst die ursprünglich nur in London zu 58 2 Entwicklung der Tourismussoziologie <?page no="59"?> sehenden roten Doppeldecker fahren nun in Berlin oder auch durch die südafrikanischen Winelands. Abb. 3 Abb. 4: Beispiele für Tourist: innenzüge und Souvenirgeschäfte Wie bei jedem anderen Massenprodukt sollte die Produktion effizient, schnell und störungsfrei verlaufen. Die touristische Erfahrung verläuft so geordnet, vorhersehbar und kontrollierbar wie möglich und lässt dennoch das Gefühl des Abenteuers entstehen. Tourist: innen werden darauf kondi‐ tioniert, bereits vor der Reise zu entscheiden, was sie sehen wollen. Während der Reise wird die Liste der Attraktionen systematisch abgearbeitet. Der 2.2 Tourismussoziologische Werke 59 <?page no="60"?> Erfolg einer Reise wird daran gemessen, ob die zuvor gemachte Liste abgearbeitet werden konnte. Durch den Fokus auf Attraktionen verlieren Tourist: innen den Blick auf das eigentliche Leben und isolieren sich damit davon. Die Isolierung ist nicht nur auf einzelne Tourist: innen beschränkt, sondern weitet sich aus und führt schließlich zur Ausdifferenzierung einer eigenständigen touristischen Sphäre innerhalb einer Destination. Tourist: innen agieren innerhalb derselben. Ergänzend dazu bildet sich ein länderübergreifendes internationales Tourismussystem mit einheitlichen Standards. Dieses System ist in vielen Fällen nur für Tourist: innen zugängig. Beispiele sind große Hotelanlagen, Kasinos und Flughäfen (vgl. dazu Urry → Kapitel 2.2.7). Cohen sieht fehlende Sprachkenntnisse als einen wesentlichen Grund für fehlende Interaktion. Diesen Punkt arbeitet er allerdings in dem Artikel nicht weiter aus. Als grundsätzliche Kritik ist anzumerken, dass Cohen bei vielen seiner Betrachtungen die Interaktion zwischen Menschen nicht berücksichtigt. Cohen wendet sich dann dem nicht institutionalisierten Tourismus zu und betont, dass dieser ein wesentlicher Aspekt des Tourismus ist, da er in Verbindung zum institutionalisierten Tourismus steht. So sind Explorer häufig die Vorreiter des institutionalisierten Tourismus. Sie entdecken neue und spannende Orte und lenken damit das Augenmerk auf diese. Die existierenden Angebote werden ausgebaut und damit nach und nach auch für den institutionalisierten Massentourismus interessant. Auf diese Weise werden immer mehr Orte für den Tourismus erschlossen und gemäß den Standards verändert. Es gibt kaum noch Plätze, die touristisch unberührt sind. Als Konsequenz bedroht der Tourismus sich selbst, da es immer schwieriger wird, das Gefühl des Abenteuers in einer standardisierten Welt zu kreieren (vgl. dazu Enzensberger → Kapitel 2.2.2 und die Modelle des Destinationslebenszyklus → Kapitel 2.2.9). - Beispiel │ Gringo-Trails (touristische Pfade) Der Dokumentationsfilm Gringo-Trails veranschaulicht sehr deutlich, wie sich Regionen wandeln, wenn sie zunächst als Geheimtipp gehandelt und dann weltweit bekannt werden. Geschichten aus Südamerika, Afrika und Asien zeigen die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen touristi‐ 60 2 Entwicklung der Tourismussoziologie <?page no="61"?> schen Aktivitäten und einheimischer Kultur, Gesellschaft und Wirtschaft sowie der natürlichen Umwelt. Ein Trailer ist abrufbar unter 🔗 http: / / gringotrails.com/ trailer/ Die zentrale Variable in Cohens Ansatz ist die Position auf dem fremd‐ artig/ bekannt Kontinuum (→ Abb. 3). Diese bestimmt die Interaktion zwischen Tourist: innen und Einheimischen und damit Ausmaß, Vielfalt und Art der Interaktion. Cohen benennt Effekte des Tourismus auf die einheimische Bevölke‐ rung sowie auf die Tourist: innen selbst und ihre Heimat. Beispiele für Effekte auf die Destination sind die Beeinflussung der Arbeitsteiligkeit, der Umwelt und der Flächennutzung. Die Ausbildung von Tourist: innenrollen führt zur Institutionalisierung weiterer Rollen. Ebenfalls werden Kultur, Lebensstile und Weltanschauungen verändert. Die Tourist: innen selbst werden durch die gemachten Erfahrungen be‐ einflusst und tragen durch die daraus resultierenden Veränderungen dazu bei, dass es im Heimatland ebenfalls Veränderungen gibt (vgl. Simmel → Kapitel 2.1.4). Einstellungen hinsichtlich der Destination verändern sich. Gleiches kann hinsichtlich der Sicht auf die Heimat und das eigene Leben angenommen werden. Abschließend nennt Cohen zwei weitere Forschungsbereiche: Erstens sind Präferenzen von Tourist: innen sowie die Ableitung konkre‐ ter touristischer Produkte zu erforschen. Wie entstehen Vorlieben hinsicht‐ lich bestimmter Länder, Regionen, Orte? Wie wirken sich diese Vorlieben auf die Ausweitung des touristischen Systems aus? Zweitens ist die Strukturbildung des touristischen Systems weiter zu untersuchen. Cohen unterscheidet zwei Arten der Expansion - die organi‐ sche und die geplante. Während erstere aus der Destination heraus erfolgt, wird die zweite von außen initiiert. Leider sind Cohens Ausführungen zu diesem Aspekt sehr knapp. Zusammenfassend basiert Cohens Ansatz auf einer Typologie von Tou‐ rist: innen. Diese werden durch Ausprägungen auf dem Kontinuum von Fremdartigkeit/ Bekanntem bestimmt. Die Ausdifferenzierung eines touris‐ tischen Systems kann als Konsequenz verstanden werden. Tourismus als Massenprodukt setzt Standardisierung voraus und diese folgt der Logik der Globalisierung. Cohen schließt den Artikel mit einem kritischen Blick auf die Folgen für host countries und insbesondere developing nations. Letztere können dem Massentourismus weniger entgegensetzen als entwickelte 2.2 Tourismussoziologische Werke 61 <?page no="62"?> Länder und werden somit im stärkeren Maße negativ beeinflusst. Er schließt mit einem Vergleich, der Tourist: innen als die Nachfahren der Eroberer und Kolonialisten beschreibt. Cohen hat in seinem Artikel die Grundlage für eine differenzierte Betrach‐ tung des Tourismus als gesellschaftlich verankertes und bedingtes Phäno‐ men gelegt. Mit der doppelten Betrachtung von Fremdartigkeit und Art der Annäherung, können unterschiedliche Ausprägungen der touristischen Haltung und des Verhaltens beschrieben werden. Cohen spricht leider recht undifferenziert von Verhalten und Erfahrung resp. Erleben (experience). Cohen bietet ebenfalls einen Ansatzpunkt zur Analyse der Tourist: in-Gast‐ gebende und Tourist: in-Einheimische: r Interaktion. Wichtig ist Cohens Hinweis auf die Ausbildung von Rollen, sowohl aufseiten der Tourist: innen als auch bei den Einheimischen. Diese führen zu einer Dopplung der Interaktion, da Menschen als Individuen und in Rollen interagieren. Cohen verwendet allerdings den Begriff der Rolle nicht im strengen soziologischen Verständnis (vgl. → Kapitel 3.5). Drittens wird Tourismus als System beschrieben, das zunächst auf die Wünsche von Tourist: innen reagiert und dann eine eigene - kommerzielle - Dynamik entwickelt (vgl. dazu → Kapitel 3.2 Kommerzialisierung und Ökonomisierung). Dieses System greift Elemente der Gesellschaft der Tourist: innen und des Zielgebietes auf. Rollen Tourismussystem Gesellschaft Gesellschaft Rollen Interaktion Tourist: innen (Kontinuum) Einheimische (Kontinuum) Interaktion Abb. 4 Abb. 5: Betrachtungsebenen in Cohen 1972 (eigener Entwurf) 1979 folgte »Rethinking the sociology of tourism«. In diesem ergänzt Cohen seine 1972 angestellten Betrachtungen. Er diskutiert die historisch 62 2 Entwicklung der Tourismussoziologie <?page no="63"?> bedingte kritische Betrachtung des Tourismus und hinterfragt diese Heran‐ gehensweise. Die Notwendigkeit des Überdenkens sieht er für die folgenden vier Themen: - Vom Allgemeinen zum Speziellen Cohen fordert eine differenzierte Betrachtung des Tourismus anstelle der vorherrschenden generalisierten Darstellung der Tourist: innen, der Ent‐ wicklung des Tourismus in Destinationen, der Interaktion zwischen Tou‐ rist: innen und Bevölkerung und vor allem der Auswirkungen des Tourismus auf die Destination. Tourist: innen werden generell als superficial nitwit (oberflächlicher Dummkopf) nach Boorstin oder als Pilger, wie MacCannell es beschreibt, dargestellt. Die pauschale Bewertung übersieht die Vielschichtigkeit touris‐ tischer Phänomene und fokussiert auf die typischen US-amerikanischen Massentourist: innen oder die postmodernen jungen Reisenden. Cohen ver‐ sucht nicht, eine weitere Typologie zu entwickeln, da diese in einer großen Vielzahl bereits vorliegen. Stattdessen schlägt er vor, Simmels und Schütz Soziologie des Fremden als analytischen Rahmen anzuwenden. Demnach kann eine Analyse über Fremdheit und Vertrautheit entlang einer interak‐ tionistischen und einer kognitiv normativen Dimension erfolgen. Die erste Dimension bezieht sich auf Umfang und Form der Interaktion zwischen Fremden und Bevölkerung. Die kognitiv-normative Dimension hingegen betrachtet, wie Fremde die Umgebung begreifen. Existierende Typologie können einer der beiden Dimensionen zugeordnet werden. Eine ähnlich generalisierte Betrachtung findet hinsichtlich der Entwick‐ lung des Tourismus statt. Häufig wird ein mehrstufiger Prozess angenom‐ men, den Destinationen durchlaufen. Cohen plädiert für die differenzierte Betrachtung unterschiedlicher Dynamiken. Beispielsweise ist danach zu fragen, wie Tourismus in einer Destination initiiert wird; durch die Desti‐ nation selbst oder von außen. Die Interaktion zwischen Tourist: innen und Bevölkerung sollte ebenfalls unterschiedliche Dynamiken berücksichtigen und nicht mit einem einheit‐ lichen linearen Modell erklärt werden. Die generalisierte Herangehensweise zeigt sich schließlich sehr deutlich bei der Bewertung der Auswirkungen des Tourismus. Diese werden ent‐ weder anhand eines development model (Entwicklungsmodell) oder eines dependency model (Abhängigkeitsmodell) beschrieben. Beim ersten wird angenommen, dass Tourismus insgesamt positive Auswirkungen hat und 2.2 Tourismussoziologische Werke 63 <?page no="64"?> zur positiven Entwicklung eines Landes beiträgt. Im Gegensatz dazu wird bei dem Abhängigkeitsmodell beschrieben, dass sich Strukturen nicht ver‐ ändern und es sogar zu einer Verstärkung sozialer Unterschiede und Un‐ gleichheiten kommt. Die Kontroverse ist häufig mit Ideologien verbunden. Laut Cohen ist es erforderlich, grundlegende Konditionen aufzudecken, die beeinflussen, ob Tourismus eher zur Entwicklung oder zur Abhängigkeit beiträgt. - Entwicklung eines konzeptuellen Bezugsystems Cohen greift MacCannells Konzepte der staged authenticity und des tourist space (→ Kapitel 2.2.5) auf und erweitert diese zu einer 2×2-Matrix. Er verbindet die Dimensionen Wahrnehmung der Tourist: innen und Art der Szene miteinander. Demnach gibt es reale und inszenierte Szenen, welche von den Tourist: innen als real oder als inszeniert wahrgenommen werden. Abb. 5 touristische Wahrnehmung real inszeniert Art der Szene real authentisch Leugnung der Authentizität (vermutete Inszenierung) inszeniert inszenierte Authentizität Täuschung Abb. 6: Konzeptuelles Bezugssystem nach Cohen 1979 - Die Neuformulierung von Forschungsfragen Cohen nimmt erneut Bezug auf MacCannell und dessen Feststellung, dass die Soziologie das gängige Bild der Tourist: innen übernommen hat und damit nicht objektiv an die Thematik herangeht. Anstatt der pauschalen kritischen Betrachtung des Tourismus sollten die tatsächliche Bedeutung und die Folgen touristischer Aktivitäten untersucht werden. Weiterhin sind 64 2 Entwicklung der Tourismussoziologie <?page no="65"?> verschiedene Perspektiven zu diskutieren und es ist danach zu fragen, wie Tourist: innen, touristische Dienstleistende und Einheimische Tourismus wahrnehmen und bewerten. Grundlage für die jeweilige Bewertung sind Werte, Einstellungen und Erfahrungen. Von besonderem Interesse ist dabei die Frage, wer darüber entscheidet, welche Werte als Bemessungsgrundlage dienen. Sind es die der Tourist: innen, die der einheimischen Bevölkerung oder jene, die von der Tourismuswirtschaft definiert werden? - Die Entwicklung einer Forschungsstrategie Cohen beschreibt, dass zahlreiche empirische Arbeiten ohne theoretischen Bezug und viele theoretische Ansätze ohne empirische Absicherung in der Tourismussoziologie vorliegen. Eine Verbindung von Theorie und Empirie ist demnach ein wesentliches Ziel der Forschungsstrategie. Cohen diskutiert in den letzten Abschnitten des Artikels, wie tourismus‐ soziologische Forschung gestaltet sein sollte. Demnach ist eine prozessuale Herangehensweise erforderlich, da Tou‐ rismus ein komplexer Prozess mit kontinuierlichen Veränderungen ist. Um diese untersuchen zu können, sollten Studien als Längsschnittstudien konzipiert sein. Wegen der zahlreichen Wechselwirkungen mit sozialen, kulturellen, politischen, ökonomischen und technologischen Zuständen und Veränderungen muss tourismussoziologische Forschung kontextsen‐ sitiv sein. Eine losgelöste Betrachtung blendet wichtige Einflussgrößen aus. Gerade die Spezifikation relevanter Prozesse könnte eine elementare Aufgabe der Tourismussoziologie sein. Die Berücksichtigung zahlreicher Variablen führt als Konsequenz zu komparativen Studien. Durch einen Vergleich können wesentliche Einflussgrößen erkannt werden. Schließlich hat Tourismus seine eigene Logik. Eine distanzierte Betrachtung von außen blendet wesentliche Zusammenhänge aus. Somit ist eine Herangehensweise erforderlich, die aus der Sicht der am Tourismus beteiligten Personen (emic) erfolgt. Cohen erläutert in dem Artikel zum einen die Schwachstellen tourismus‐ soziologischer Forschung und formuliert zum anderen eine Forschungsstra‐ tegie. Im Mittelpunkt stehen die touristische Erfahrung und die damit verbundenen Vorgänge. 2.2 Tourismussoziologische Werke 65 <?page no="66"?> 13 Der Artikel wurde 1979 erstmals veröffentlicht. 1996 erschien er unverändert in dem Sammelband von Apostolopoulos et al. (2002) Die Bedeutung touristischer Erfahrung 1979 13 erschien ein zweiter Artikel von Cohen; »A phenomenology of tou‐ rist experiences«. In diesem untersucht Cohen detailliert die Bedeutung touristischer Erfahrung, um die damals dominierende binäre Unterschei‐ dung in einen oberflächlichen oder einen nach Authentizität suchenden Tourismus zu erweitern. Ausgehend von diesen divergierenden Ansätzen hinsichtlich des modernen Tourismus, entwickelt Cohen eine phänomeno‐ logische Typologie der touristischen Erfahrung. Er ergänzt somit seinen 1972 entwickelten Ansatz, indem er die Bedeutung des Tourismus für den modernen Menschen darstellt. Diese Bedeutung ergibt sich dabei aus der Weltsicht; vor allem der Frage, ob und auf welche Weise ein Mensch einem Zentrum verhaftet ist. Dieses individuelle spirituelle Zentrum symbolisiert die ultimative Bedeutung. Das Konzept des Zentrums stammt ursprünglich aus der Religionswissenschaft. Cohen nimmt an, dass touristische Erfahrung anhand der Relation von Tourismus zum Zentrum beschrieben werden kann. Tipp-│-Phänomenologie Die Phänomenologie ist eine philosophische Richtung, die sich mit den unmittelbar gegebenen Erscheinungen (Phänomene) beschäftigt. Für den Tourismus ist insbesondere die von Waldenfels (2010) entwickelte Phänomenologie des Fremden bedeutsam. Als nicht zu übersteigende Grenze werden Möglichkeiten des Zugangs und der Begegnung im Tourismus erkennbar. Laut Cohen (1979) gibt es folgende fünf Modi oder Typen touristischer Erfahrung: [1] Erholung (recreational): Der Sinn von Erholungstourismus liegt in Entspannung, Erholung und Unterhaltung vergleichbar mit anderen Aktivitäten, wie einem Kinobesuch. Tourist: innen erneuern mentale und physische Kräfte, um nach der Reise gestärkt in den Alltag zurück‐ zukehren. Diese struktur-funktionalistische Betrachtung fokussiert auf in Webers Sprache (→ Kapitel 2.1.1) zweckrationale Aspekte und den Folgen der modernen Gesellschaft. Diese stellt im Alltag hohe Anfor‐ derungen an Menschen. Sie fahren in den Urlaub, um im Anschluss 66 2 Entwicklung der Tourismussoziologie <?page no="67"?> wieder die an sie gestellten Aufgaben erfüllen zu können. Das Zentrum ist somit die Heimat, während die Reise und die Destination nur ein Mittel zum Zweck sind. [2] Ablenkung (diversionary): Viele Menschen empfinden in der mo‐ dernen Gesellschaft eine Entfremdung (→ Kapitel 2.1.2 Marx). Sie erleben ihren Alltag als langweilige Routine und suchen auch im Urlaub nicht nach Sinn. Vielmehr nehmen sie diesen als Abwechslung und Ablenkung vom Alltag wahr. Für solche Menschen existiert kein Zentrum mehr. [3] Erlebnis (experiential): Die Ausgangssituation ist erneut jene, dass Menschen das Zentrum der Bedeutung in ihrer Welt verloren haben. Als Konsequenz begeben sie sich auf Sinnsuche und versuchen als Tourist: innen in anderen Ländern authentische Erfahrung, Erlebnisse und Sinn zu finden (vgl. MacCannell, → Kapitel 2.2.5). [4] Experiment (experimental): Menschen, die den experimentellen Modus wählen, betrachten nicht nur das Authentische, sondern interagieren mit diesem und probieren, ob es sich als Lebensform eignet. Sie testen unterschiedliche Alternativen, da sie auf der Suche nach sich selbst sind. [5] Sein (existential): Das Reisen kann ebenfalls bedeuten, dass ein neues Zentrum gefunden wird und der Mensch in dieses eintaucht. Solch ein Mensch hat das eigentliche Zentrum verloren und sucht nach einem neuen authentischen Mittelpunkt des Seins. Der Ausgangspunkt für alle Formen touristischer Erfahrung ist nach Cohen der Mensch in der Moderne, der das Sinn- und Bedeutungszentrum verloren hat, respektive diesem Zentrum nicht aus voller Überzeugung folgt. Touris‐ mus ist demnach eine Konsequenz der Entfremdung (→ Kapitel 2.1.2 Marx). Die Liste fünf ausgewählter Modi zeigt die Vielschichtigkeit touristischer Erfahrung und des Tourismus. Wissen-│-Experience Der Begriff experience (Erfahrung oder auch Erlebnis) hat seit den 1980er-Jahren sowohl in der Konsumierendenforschung als auch in der Tourismuswissenschaft an Bedeutung gewonnen. Pearce & Zare (2017, S. 62) beschreiben experience als »a social episode tracking its flow over space and over time«. Mit dem Orchestermodell macht Pearce (2011) deutlich, dass sensorische, affektive, kognitive, Verhaltens- und Bezie‐ 2.2 Tourismussoziologische Werke 67 <?page no="68"?> 14 Der 1984 erstmals veröffentlichte Artikel wurde 1996 in den Sammelband von Aposto‐ lopoulos et al. (2002) ohne Veränderungen und Aktualisierungen aufgenommen. hungskomponenten adressiert werden müssen, um eine umfassende Erfahrung zu ermöglichen. Dieses Modell beruht auf psychologischen und soziologischen Annahmen zum Wesen von Menschen. Cohen gelingt es, oft angewendete generalisierte Betrachtungen des Tou‐ ristmus zu ergänzen und die Dualität zwischen echten Reisenden und Tourist: innen aufzuheben. Er betont darüber hinaus die Notwendigkeit einer Analyse, ob Tourist: innen die gewünschte Erfahrung tatsächlich realisieren können und wie hoch die Gefahr der Täuschung ist. Im Erholungs- und Ablenkungsmodus steht die Unterhaltung im Vordergrund. Diese ist leicht zu erreichen und selbst vorgetäuschte Authentizität erfüllt ihren Zweck. In den anderen Modi hingegen kann sich Täuschung negativ auswirken, da Tourist: innen auf der Suche nach Sinn, nach dem Authentischen sind. - Die Wirkungen auf Tourist: innen und Destinationen Mit dem 1984 14 erschienenen Artikel »The Sociology of Tourism: Ap‐ proaches, Issues, and Findings« bietet Cohen eine systematische Darstel‐ lung der nach seiner Einschätzung maßgeblichen Arbeiten zur Tourismus‐ soziologie. Er stellt fest, dass touristische Motive, Rollen, Beziehungen, Institutionen sowie ihre Wirkungen auf die Tourist: innen und die Desti‐ nationen den Gegenstandsbereich der Tourismussoziologie bilden. Da die offizielle Definition von Tourismus vor allem für statistische, legislative und industrielle Zwecke genutzt wird, hilft diese für soziologische Untersu‐ chungen kaum weiter. Beispielsweise beinhaltet die Definition der UNWTO von 2008 insgesamt neun Klassen von Reiseanlässen (purpose) ohne auf grundlegende Motive einzugehen. Um Tourist: innen (Übernachtungsbesu‐ cher: innen) zu sein, reicht es aus statistischer Sicht aus, mehr als 24 Stunden an einem anderen als dem gewohnten Ort zu verweilen. Warum dieses geschieht oder warum ein Ort ausgewählt wird, wird ebenso aus den Betrachtungen ausgeblendet, wie die Folgen des Aufenthalts. Es gibt nach Cohen mehrere Ansätze, die eine soziologische Konzeption von Tourist: innen anstreben. Keiner konnte sich bisher durchsetzen. Weiter‐ hin sei es eine Ausnahme, wenn ein theoretisches Konzept durch empirische 68 2 Entwicklung der Tourismussoziologie <?page no="69"?> Studien (einer anderen Person) untermauert wird; so geschehen durch Philip L. Pearce (1982), der Cohens Typologie aufgriff. Cohen strukturiert das Feld tourismussoziologischer Konzepte und stellt acht Ansätze vor. [1] Tourismus als kommerzialisierte Gastfreundschaft: Tourismus entwickelt sich aus der Standardisierung und Kommerzialisierung von Gastfreundschaft. Die traditionelle Gast-Gastgeber: in-Beziehung umfasst temporäre Rollen und damit einen definierten Status für Gäste während des Aufenthalts. Die Kommerzialisierung führt zu einer Veränderung der Beziehung und der Rollen. [2] Tourismus als demokratisiertes Reisen: Die demokratisierte Ex‐ pansion des ehemals den Aristokrat: innen vorbehaltenen Reisens fo‐ kussiert auf die Veränderungen des Reisens an sich und auf die daraus resultierenden Veränderungen der Rolle der Reisenden. [3] Tourismus als moderne Freizeitbeschäftigung: Tourismus wird bei dieser Betrachtung als eine von vielen Freizeitbeschäftigungen angesehen. Freizeit ist eine Zeit ohne Verpflichtungen, die dazu dient, dass Menschen sich entspannen. Somit hat Tourismus keine tiefere kulturelle Bedeutung, sondern ist nur eine Option von vielen. Diese funktionale Betrachtung entspricht makrosoziologischen Ansätzen. [4] Tourismus als moderne Form des traditionellen Pilgerns: Bei diesem Konzept wird eine strukturelle Parallele zum Pilgern gesehen (vgl. MacCannell → Kapitel 2.2.5). Tourist: innen befinden sich auf einer heiligen Reise und suchen nach Sinn resp. Erlösung. Tourismus hat eine tieferliegende strukturelle Bedeutung, die aufgedeckt werden kann. [5] Tourismus als Ausdruck grundlegender kultureller Motive: Tou‐ rismus hat eine tiefere kulturelle, symbolische Bedeutung. Der Sinn des Reisens kann nicht von außen, sondern nur von innen erforscht werden. Die Sicht der Beteiligten muss eingenommen und ihr Verhalten gedeutet werden. Aus methodischer Sicht ist ein komparativer Ansatz zu wählen, damit kulturspezifische Varianten des Tourismus erkannt werden können (→ Kapitel 2.3.2). [6] Tourismus als Akkulturation: Bei diesem Konzept liegt der Schwer‐ punkt bei der Betrachtung der Folgen, die sich aus der Interaktion zwischen Tourist: innen und Einheimischen für die Einheimischen ergeben. Tourist: innen sind häufig Vertreter: innen fremder Kulturen und ihre Präsenz hat Auswirkungen auf die heimische Kultur. 2.2 Tourismussoziologische Werke 69 <?page no="70"?> [7] Tourismus als ethnische Beziehung: Vertreter: innen dieses Ansat‐ zes sehen Tourismus als Element ethnischer Beziehungen. Ethnische Identitäten können vor diesem Hintergrund analysiert werden. [8] Tourismus als Neokolonialismus: Eine Darstellung des Tourismus als Neokolonialismus fokussiert auf die Ausbildung und Verstärkung von Abhängigkeiten zwischen entwickelten und weniger entwickel‐ ten Regionen, zwischen Zentren und peripheren Gegenden. Dadurch werden die alten imperialistischen Strukturen und Verhältnisse weiter‐ geführt. 70 2 Entwicklung der Tourismussoziologie <?page no="71"?> Tourismus als … Tourist: in‐ nen als … Fokus soziol. Bezüge Publikatio‐ nen kommerziali‐ sierte Gast‐ freundschaft Besuchende Evolution und Dynamiken der Beziehung zwi‐ schen Gast und Gastgeber: in Rollen- Konflikt von Wiese 1930, Knebel 1960, Taylor 1932, Hiller 1976, Leiper 1979 demokrati‐ siertes Reisen Reisende historische Transformation des Reisens und der Rolle von Tou‐ rist: innen Rollen, ge‐ sellschaft‐ licher Wandel Cohen 1974, Pearce 1982, Boorstin 1964, Nash 1981 moderne Frei‐ zeitbeschäfti‐ gung Menschen in Freizeit Funktion des Tou‐ rismus als Ent‐ spannung, äquiva‐ lent zur Freizeit (Zeit ohne Ver‐ pflichtungen) Funktiona‐ lismus Makroso‐ ziologie Dumazedier 1967, Nash 1981, Scheuch 1981, Pearce 1982 moderne Variante des traditionellen Pilgerns Pilger: innen strukturelle Be‐ deutung des Tou‐ rismus Struktura‐ lismus MacCannell 1973, Graburn 1977 Ausdruck grundlegen‐ der kultureller Motive »Sinn suchende« kulturelle Bedeu‐ tung des Touris‐ mus symboli‐ scher In‐ teraktio‐ nismus Gottlieb 1982, Graburn 1983 Akkultura‐ tion agents of westernazia‐ tion Folgen des Tourismus für Destinationen Akkultura‐ tion Nuñez 1963 ethnische Be‐ ziehung Teil einer Ethnie ethnische Bezie‐ hungen Ethnien van den Berge 1984, Graburn 1976 Neokolonia‐ lismus Kolonialisten/ Impe‐ rialisten strukturelle Unter‐ entwicklung Macht Strukturen Nash 1977, Matthews 1978 Tab. 1: Konzeptuelle Ansätze (nach Cohen, 1984: 374 ff.) 2.2 Tourismussoziologische Werke 71 <?page no="72"?> 15 Die Arbeit von Cohen zu Authentizität aus dem Jahr 1988 ist in den Absatz über Authentication 2012 integriert. Cohen geht in dem Artikel nicht weiter auf die genannten Ansätze und ihren Nutzen ein. Vielmehr definiert er im Anschluss vier zentrale Forschungsbe‐ reiche. [1] Tourist: innen: ihre Motive, Einstellungen, Verhaltensweisen [2] Interaktion zwischen Tourist: innen und Einheimischen [3] Das Tourismussystem [4] Folgen (impact) des Tourismus Cohen stellt zentrale Arbeiten in den vier genannten Bereichen vor und weist auf Forschungslücken hin. Er schließt den Artikel mit der Hoffnung, dass sich theoretische Ansätze und empirische Arbeiten zukünftig besser ergänzen. Die recht große Anzahl der Tourismuskonzepte zeigt sehr deutlich die Uneinheitlichkeit der Tourismusforschung generell und der Tourismussozi‐ ologie speziell. Zwischen den regelmäßigen Publikationen von Cohen zu tourismussozi‐ ologischen Konzepten und Theorien in den Jahren 1972 bis 1984 15 und dann erneut ab 2012 existiert eine Lücke. Diese Lücke ist teilweise durch empirische Arbeiten aus den Jahren 2006 ff. abgedeckt. - Gesellschaftliche Entwicklungen und neue soziologische Ansätze 2012 erschien der Artikel »Current sociological theories and issues in tourism« (gemeinsam mit Scott A. Cohen). In diesem greifen die Autoren aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen und Ereignisse auf und versuchen, diese mit neuen soziologischen Ansätzen zusammenzubringen. Historische Ereignisse, technologische Innovationen sowie ökonomische, soziale und kulturelle Veränderungen beeinflussen Quell- und Zielgebiete. Weiterhin verändern sich Motive und Reiseformen sowie die Struktur der Tourismuswirtschaft und das Verhältnis von Tourismus und »norma‐ lem« Leben. Globalisierung, schneller technologischer Fortschritt und die IT-Revolution sind treibende Kräfte. Die moderne Gesellschaft führt zu fragmentierten Lebensstilen, die zwar den einzelnen Persönlichkeiten besser gerecht werden, zeitgleich aber in einer gesteigerten Unsicherheit münden. Doch nicht nur die Gesellschaft hat sich gewandelt, sondern auch die Soziologie als Wissenschaft. Sie bietet neue Untersuchungsansätze an. Paradigmen und theoretische Ansätze haben sich verändert und wurden 72 2 Entwicklung der Tourismussoziologie <?page no="73"?> ergänzt, um den beschriebenen Entwicklungen gerecht zu werden. Ein Beispiel dafür ist Baumans Konzept der fluiden Gesellschaft (→ Kapitel 2.2.12). Nach Einschätzung von Cohen & Cohen diskutierte die soziologische Forschung zwischen 1975 und 1995 vor allem das Verhältnis von Touris‐ mus und Moderne sowie Authentizität als konstituierendes Element des Tourismus. Um die Jahrhundertwende führten die Postmoderne und die Entwicklung des nicht westlichen Tourismus zu einem Überdenken touristi‐ scher Motive und zur Berücksichtigung weiterer Aspekte wie beispielsweise Spaß. Arbeiten von Urry (→ Kapitel 2.2.7) haben dazu beigetragen, dass Phänomene wie Macht und Autorität in die Überlegungen einbezogen wurden. Cohen & Cohen diskutieren drei Entwicklungen im Bereich soziologischer Theorien, die geeignet erscheinen, moderne Trends einzubeziehen. Dieses sind Mobilität, Performativität und Akteur-Network-Theorie. Das Paradigma der Mobilität beschreibt postmoderne Gesellschaften als fluid. Tourismus ist demnach eine Ausprägung zahlreicher komplexer globaler Mobilitäten (mobilities). Das Mobilitätsparadigma revidiert gängige binäre Konzepte wie die »Tour« mit einer klaren Trennung zwischen »Zuhause« und »Fort/ Weg«. Hintergrund dafür sind Lebensweisen, die mehrere Wohnorte umfassen, Migration und vereinzelt neues Nomadentum von Menschen. Auch die klare Unterteilung in Arbeit und Freizeit ist demnach überholt. Urlaub im Alltag holt den Tourismus aus der Welt des Ungewöhnlichen und führt als Konsequenz dazu, dass die Anforderungen und Erwartungen an den echten Urlaub steigen. Ebenfalls ist die Trennung zwischen Gast und Gastgeber: innen und zwischen inländischem und inter‐ nationalem Tourismus nicht länger weltweit gültig. Beispiel │ Digitale Nomaden - Deutschland zieht aus Als digitale Nomaden werden Menschen bezeichnet, die keinen festen Arbeitsplatz und häufig ebenfalls keinen festen Wohnsitz haben, son‐ dern in der Welt unterwegs sind und mittels digitaler Technologien ar‐ beiten. Beispiele dafür sind Internet-Entrepreneure, Reiseblogger: innen, E-Book-Autor: innen und Programmierer: innen. Das ortsunabhängige Leben hat Auswirkungen auf individueller und gesellschaftlicher Ebene. Für die einzelne Person bedeutet es eine Veränderung der sozialen Kontakte. Der Lebensstil ist oft minimalistisch und reiseintensiv. Offen 2.2 Tourismussoziologische Werke 73 <?page no="74"?> ist die Frage, wie lange Menschen solch einen losgelösten Lebensstil genießen resp. ertragen. Weiterhin ist zu untersuchen, welche Auswirkungen die Summe indivi‐ dueller Mobilitäten auf gesellschaftliche Aspekte wie Solidarität hat. Für den Tourismus ist solch eine Entwicklung relevant, da die Entste‐ hung eines auf das Reisen basierenden Lebensstils Konsequenzen haben wird. Wenn das Reisen Normalität wird, verliert es unter Umständen an Faszination. Darüber hinaus gibt es viele praktische Fragen, z.B. hinsichtlich der nachgefragten Dienstleistungen bei Daueraufenthalten. Tipp: Film Digitale Nomaden. Deutschland zieht aus. 🔗 http: / / www.deutschland-zieht-aus.de/ buy Performativität ist laut Cohen & Cohen ein zweiter innovativer soziolo‐ gischer Ansatz. Der Performativitätsansatz hat zwei Ausprägungen. Die erste, moderate Form geht auf Goffman (→ Kapitel 2.1.5) zurück. Touris‐ tisches Verhalten kann als Selbstdarstellung und Eindrucksmanagement interpretiert werden. Tourist: innen führen habitualisierte Vorstellungen auf. Die radikalere Sichtweise, die auf John L. Austins (1986) Konzept des »performativen Sprechakts« basiert, untersucht hingegen, wie performative Handlungen eine Realität konstituieren. Identitäten und Strukturen werden erst durch Handlungen geschaffen, da Sprechen Handeln ist. So sind touris‐ tische Destinationen und Attraktionen nicht einfach nur Plätze, die von Menschen wegen objektiver Merkmale besucht werden. Vielmehr produ‐ zieren akkumulierte performative Sprechakte erst den Ort, beispielsweise durch Bewunderung, Berichte, Erzählungen und Empfehlungen. Die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) stellt Prozesse, durch die das Soziale geschaffen wird, in den Mittelpunkt soziologischer Betrachtungen. Das Soziale an sich kann nicht Gegenstand soziologischer Forschung sein. Vielmehr können nur die Spuren des Sozialen betrachtet werden, beispielsweise, wenn Elemente sich verbinden und Assoziationen bilden. Wesentlich ist dabei, dass nicht nur Menschen Akteur: innen sein können, sondern ebenfalls nicht-menschliche Einheiten wie technische Systeme. Diese bilden Netzwerke, die sich aufbauen und nach einer Zeit wieder lösen. Die Akteur-Netzwerk-Theorie findet Anwendung bei der Beschreibung und Analyse touristischer Projekte (→-Kapitel 3.15). Cohen & Cohen bewerten die drei beschriebenen theoretischen Ansätze einerseits als sehr hilfreich, da die neuen Perspektiven Aspekte beleuchten, die zuvor nicht betrachtet wurden. Andererseits sind diese Ansätze limitiert, 74 2 Entwicklung der Tourismussoziologie <?page no="75"?> da keiner von ihnen nach Meinung der Autoren eine geschlossene und em‐ pirisch überprüfbare Theorie darstellt. Zweitens hinterfragen die Autoren die Gültigkeit der Ansätze, da diese alle auf der Annahme einer fluiden Gesellschaft beruhen. Trifft das auf alle Länder zu oder nur auf westliche? Gilt es für alle Mitglieder einer Gesellschaft oder gibt es Unterschiede? Schließlich werden Einschränkungen nach Meinung der Autoren nicht berücksichtigt. So wird beispielsweise die Mobilität in den letzten Jahren zunehmend eingeschränkt, da die Folgen der grenzenlosen Mobilität zu Problemen geführt haben. Beispiele dafür sind Terrorismus und die Zerstö‐ rung der Umwelt durch erhöhten Luftverkehr. Cohen & Cohen beschreiben im Anschluss aktuelle Themen, die eine Schnittstelle zwischen Tourismus und Gesellschaft darstellen. Die Autoren nennen insgesamt sieben Themen. Nachfolgend werden diese vorgestellt. Themen, die in → Kapitel 4 ausführlich diskutiert werden, sind nachfolgend nur kurz beschrieben. Ein erstes Thema, das Cohen & Cohen nennen, ist soziale Gerechtigkeit. Demnach existiert die Forderung nach einer politischen Agenda für den Tourismus. Dieser soll zur sozialen Gerechtigkeit und Gleichheit weltweit beitragen. Tourismusforschung muss demnach eine Diskussion über Werte beinhalten und nicht nur instrumentelles Wissen produzieren. Die Perspek‐ tive des hopeful tourism (Pritchard et al., 2011) adressiert Menschen, die bisher nicht vom Tourismus profitieren resp. vor allem von negativen Folgen betroffen waren. Weiterhin sollen Menschen mit besonderen Bedürfnissen stärker berücksichtigt werden. Ökologische Nachhaltigkeit ist ein etabliertes Thema im Tourismus, das die Folgen touristischer Aktivitäten für die Umwelt betrachtet (→ Kapitel 4.1). Naturkatastrophen fanden im Tourismus im Bereich des Krisenma‐ nagements Berücksichtigung. Es wurden Konzepte zum Umgang mit Krisen entwickelt und vor allem im Marketing nach Strategien zu einer erfolg‐ reichen Krisenkommunikation gesucht. Neuere Forschungen hingegen be‐ leuchten die strukturell bedingte Exponiertheit touristischer Gebiete und ihre vernachlässigte Verletzlichkeit. Gerade durch die Lage direkt am Meer oder in den Bergen sowie den touristisch bedingten Veränderungen der Umwelt steigt die Gefahr, dass eine Naturkatastrophe Tourist: innen und im Tourismus tätige Personen trifft. Vergleichbar mit der Behandlung von Naturkatastrophen im Kontext tourismussoziologischer Forschung war der Terrorismus zunächst eine Managementaufgabe, zumeist verknüpft mit dem Thema politischer Insta‐ 2.2 Tourismussoziologische Werke 75 <?page no="76"?> 16 Der Begriff Denkmaltourismus oder Erbetourismus wird im Deutschen zumeist unter dem Begriff Kulturtourismus subsumiert. bilität. Im Vordergrund steht der Umgang mit Ängsten mit dem Ziel, Einbrüche in Besucherzahlen zu verhindern. Nach Cohen & Cohen ist es wesentlich interessanter, die Motive von Terrorist: innen und ihren Bezug zu touristischen Gebieten zu untersuchen. Wie bei Naturkatastrophen sind Tourist: innen und touristische Plätze tendenziell ungeschützt, da sie sich in öffentlichen Räumen aufhalten. Terroranschläge auf Tourist: innen treffen nicht nur das Land, in dem der Anschlag stattfindet, sondern ebenfalls die Heimatländer der betroffenen Tourist: innen. Seit einigen Jahren wird ergänzend diskutiert, dass nicht nur Menschen, sondern westliche Werte, beispielsweise die Freiheit zu reisen, angegriffen werden. Denkmaltourismus 16 (heritage tourism) als Element des Kulturtouris‐ mus hat in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Denkmäler, kul‐ turelles und natürliches Erbe (heritage) egal welcher Ausprägung sind gesellschaftlich produziert und historisch bedingt. Demnach ist die Deutung dessen, was als kulturelles, natürliches, immaterielles Erbe einer Gesell‐ schaft angesehen wird, abhängig von gesellschaftlichen Deutungen und Wertschätzungen. Heritage gewinnt in einer zunehmend globalisierten und standardisierten Welt an Wert, da es ein Alleinstellungsmerkmal ist. Urry (→ Kapitel 2.2.7) wies auf die Bedeutung von heritage für den gaze hin. Es symbolisiert kul‐ turelle Identitäten und ermöglicht darüber eine Abgrenzung von anderen. Die Kommerzialisierung und touristische Inwertsetzung beinhaltet jedoch die Logik der Standardisierung und damit letztendlich den Verlust der Individualität. Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass gesellschaftliche und politische Eliten über die Auswahl kultureller Symbole entscheiden. Denkmäler werden genutzt, um kollektive Identitäten zu prägen und zu präsentieren. Sie sind eine selektive Darstellung der Geschichte einer Region, eines Landes oder einer Nation. Es werden solche ausgewählt, welche die Position der Machthabenden festigen und die Interessen anderer unterdrücken. Die Berücksichtigung von Körper und Affekten ist ein junges For‐ schungsfeld - verbunden mit Sinneseindrücken, Emotionen, Gefühlen und Affekten. Beeinflusst durch feministische und kritische Sozialtheorie wird aufgedeckt, wie Tourismus hegemoniales, disembodied (entkörpertes) und maskulines Wissen produziert. Der menschliche Körper und die sinnliche Wahrnehmung finden kaum Berücksichtigung. Bislang dominierte der Blick 76 2 Entwicklung der Tourismussoziologie <?page no="77"?> (→ Kapitel 2.2.7). Das Hören, Schmecken, Fühlen und Riechen tragen jedoch wesentlich zum touristischen Erleben bei. Weiterhin ist es nach Meinung der Autoren wichtig, Affekte bzw. Ge‐ fühle, Stimmungen oder Emotionen systematisch in tourismussoziologische Studien einzubinden. Zu den sieben Primäraffekten zählen Freude, Ver‐ zweiflung, Wut, Furcht, Ekel, Überraschung und Interesse. Hinzu kommen Scham, Schuld und Verachtung. Dass alle genannten Affekte wichtig für den Tourismus sind, kann aus den Erkenntnissen der Konsumierendenforschung abgeleitet werden (→-Kapitel 4.2 sowie →Kapitel 4.8). Mediatisierung fokussiert auf die Wechselwirkungen von Tourismus und den Medien. Mediatisierung beschreibt die Durchdringung eines Be‐ reichs durch Medien. Als Konsequenz verändern sich touristische Erfahrun‐ gen. Zweitens überlagern sich Simulation und echte Erfahrung, so dass der Begriff der Authentizität revidiert werden muss. Schließlich konsumieren Tourist: innen nicht nur Bilder, sondern sie produzieren diese und kreieren damit Attraktionen. Der Themenbereich Mediatisierung wird in → Kapitel 4.10 ausführlich diskutiert. Cohen & Cohen nennen im letzten Abschnitt des Artikels noch weitere Themenfelder zwischen Gesellschaft und Tourismus, die eine soziologische Relevanz haben. Eine zentrale Ergänzung ergibt sich aus der Entwicklung und dem zahlenmäßigen Anstieg des nicht-westlichen, vor allem asiati‐ schen, Tourismus. Sämtliche (tourismus-)soziologischen Theorien beziehen sich auf traditionelle oder postmoderne westliche Gesellschaften. Können diese auf andere Gesellschaften übertragen werden? Zitat »Our survey of current issues, however, was not exhaustive; there are further important issues not dealt with here that are under-explored and under-theorized in the contemporary sociological study of tourism, such as medical, urban, spiritual, space, volunteer and dark tourism, and tourism’s relationship to global financial crises, social media, crime, and prostitution.« (Cohen & Cohen, 2012, S. 2195). Wie schon in Cohens früheren Arbeiten handelt es sich bei dem Artikel an erster Stelle um eine zusammenfassende Darstellung tourismussoziolo‐ gischer Arbeiten. Cohen & Cohen weisen darauf hin, dass die Auswahl der Themen auf ihrer eigenen Einschätzung hinsichtlich der Bedeutung sowie 2.2 Tourismussoziologische Werke 77 <?page no="78"?> der Vertrautheit mit den Themen beruht. Die Autoren stellen vor dem Hin‐ tergrund gesellschaftlicher Veränderungen neue soziologische Theorien vor. Im Anschluss skizzieren sie touristische Themenbereiche, die Anwendungs‐ felder für diese Theorien sein könnten. Sie erläutern jedoch nicht, wie die beschriebenen Theorien angewendet werden können. Vielmehr verweisen sie bei der Beschreibung der Themenbereiche auf weitere soziologische, philosophische und psychologische Ansätze. Die gewählte Vorgehensweise ist einerseits hilfreich, da aktuelle Ent‐ wicklungen in Soziologie und Tourismus inklusive einschlägiger Literatur präsentiert und Bezüge zwischen Entwicklungen im Tourismus und in der Soziologie hergestellt werden. Der Nutzen, der sich aus dem Aufgreifen soziologischer Ansätze ergibt, ist nachvollziehbar. Die Fülle der Themen - im Nexus Gesellschaft und Tourismus sind es sieben sehr komplexe Felder - führt schnell zu Zweifeln hinsichtlich der Möglichkeit, diese Themen angemessen zu untersuchen. - Authentication Cohen & Cohen veröffentlichten ebenfalls im Jahr 2012 eine Arbeit zu Authentication. Cohen hatte 1988 und 2010 über Authentizität geschrieben, nachdem er bereits 1972 auf die unterschiedlichen Deutungen von Authen‐ tizität in tourismussoziologischen Konzepten hingewiesen hatte. In »Authenticity and commoditization in tourism« (1988) verknüpft Cohen Authentizität mit der touristischen Erfahrung und gelangt zu einer differenzierten Betrachtung des Authentischen. Er ergänzt die Einschätzung anderer Autor: innen, dass die inszenierte Authentizität zu einer Enttäu‐ schung der Tourist: innen und die Kommodifizierung (Commoditization) zu einer Zerstörung kultureller Produkte führen müssen. Vielmehr kann das zunächst Unechte und nur scheinbar Authentische mit der Zeit ebenfalls den Status der Authentizität erhalten. Cohen verwendet den Begriff der emergent authenticity. Wissen │ Commoditization Der Begriff commoditization beschreibt, dass Elemente des lokalen, kulturellen Lebens zu touristischen Produkten oder zu Bestandteilen der touristischen Erfahrung werden. Dadurch verlieren sie die ur‐ sprüngliche Bedeutung. 78 2 Entwicklung der Tourismussoziologie <?page no="79"?> »Local culture generally serves as the principal example of such com‐ moditization. In particular, ›colorful‹ local costumes and customs, ritu‐ als and feasts, and folk and ethnic arts become touristic services or commodities, as they come to be performed or produced for touristic consumption. Sexual services, in the form of tourist-oriented prostitu‐ tion, are another major example of commoditization.« (Cohen, 1988, S. 372) Cohen macht deutlich, dass das aus der Philosophie stammende Konzept der Authentizität und die Vorstellung des modernen Menschen als ein von der Gesellschaft isoliertes, nach Sinn suchenden Wesens nicht auf den Touris‐ mus übertragen werden kann, oder wenn, dann nur in abgeänderter Form. Nach Cohen ist Authentizität ein gesellschaftlich konstruiertes Konzept, das verhandelbar ist. Tourismus ist eine Art von Spiel, das Elemente der Realität aufgreift und diese variiert. Sowohl die Darsteller als auch das Publikum müssen sich an der Inszenierung beteiligen und gemeinsam an diese glauben (→ Kapitel 2.1.5 Goffman). In »Tourism, Leisure and Authenticity« (2010) überträgt Cohen Authentizität auf den nicht-touristischen Bereich der Freizeit. Motiviert ist dieses durch die Überlegung, dass die zwei Bereiche - Freizeit und Tourismus - Ähnlichkeiten aufweisen und demnach zu prüfen ist, ob zentrale Konzepte in beiden Bereichen angewendet werden können. Cohen argumentiert, dass der Begriff der Authentizität ein Äquivalent in der freizeitwissenschaftlichen Erforschung des Erlebnisses findet. Eine theoriebasierte Typologie von Erlebnissen könnte ein Rahmen für die Zu‐ sammenführung der Bereiche sein. Über diese Erörterung hinaus verweist der Artikel auf den Einfluss der wissenschaftlichen Verankerungen der beiden Bereiche. Während die Freizeitforschung stärker aus der Psycho‐ logie kommt und Aspekte des Wohlergehens quantitativ untersucht, ist die Tourismusforschung durch qualitative soziologische Ansätze geprägt. Cohen & Cohen(2012) gehen in »Authentication: Hot and cool« auf die Aufsplitterung des wissenschaftlichen Diskurses von Authentizität ein. Dort wird zwischen objektiver oder Objekt-Authentizität, konstruierter Au‐ thentizität und existentieller Authentizität unterschieden. Die konstruierte Authentizität untersucht die sozialen Prozesse, die etwas als authentisch definieren und somit objektive sowie existentielle Authentizität produzie‐ ren, etablieren und eine touristische Attraktion mit Authentizität ausstatten. 2.2 Tourismussoziologische Werke 79 <?page no="80"?> Zitat »[…] authentication, as the social process by which the authenticity of an attraction is confirmed.« (Cohen & Cohen, 2012, S. 1296). »We define ›authentication‹ as a process by which something - a role, product, site, object or event - is confirmed as ›original‹, ›genuine‹, ›real‹ or ›trustworthy‹.« (a.a.O., S. 1297) Cohen & Cohen unterscheiden zwischen heißer (hot) und kühler (cool) authentication. Letztere ist die explizite, zumeist offizielle und mit einer Zertifizierung einhergehende Anerkennung eines Objekts oder einer Tä‐ tigkeit als authentisch. Im Gegensatz dazu sind die Prozesse bei der hot authentication verworren und basieren auf den performativen Praktiken der Besuchenden, die diese in einer Art communitas (→ Kapitel 3.10) emotional erleben. Die beiden Formen sind eng miteinander verbunden und geschehen häufig parallel. Cohen & Cohen betonen die mit authentication verbundenen Interessen und die daraus resultierenden Machtstrukturen und -prozesse. Während es bei der cool authentication zumeist Expert: innen, Institutionen und Tourismusverbände sowie Destinationen sind, die etwas als authentisch beschreiben, sind die Zuständigen bei der hot authentication nach Meinung von Cohen & Cohen nicht eindeutig zu identifizieren. Dieses ist eines von mehreren möglichen Forschungsthemen. - Neue Richtungen der Tourismussoziologie 2017 (2019 als Printversion) ergänzten Cohen & Cohen ihre fünf Jahre zuvor gemachten Aussagen in dem Artikel »New Directions in the Sociology of Tourism«. Der Ausgangspunkt ist erneut eine Übersicht über die Veränderungen des Tourismusdiskurses beginnend in den 1960er-Jahren. Wesentlich ist die Annahme, dass Dichotomien und binäre Vorstel‐ lungen nicht geeignet sind, um Gesellschaft zu verstehen. Eine Beschrei‐ bung sozialer Aspekte als durch Gegensätze bestimmt, z.B. Arbeit-Freizeit, Mann-Frau, Ost-West oder Nah-Fern, kann die postmoderne Komplexität nicht abbilden. Begriffe, die als Gegensatz zu etwas formuliert sind, stellen Grenzen auf, grenzen ab und kreieren Machtstrukturen. Neuere soziologische Ansätze wie Mobilities (→ Kapitel 4.3), Ak‐ teur-Netzwerk-Theorien (ANT) (→ Kapitel 3.15), Performativität 80 2 Entwicklung der Tourismussoziologie <?page no="81"?> 17 Die Practice Theory (vgl. exemplarisch Schatzki et al. (2001) sowie Lamers et al. (2017)) geht davon aus, dass Interaktion auf habitualisierten sozialen Praktiken beruht. Aller‐ dings setzt das erstens gegenseitiges Verstehen voraus, was in touristischen Kontexten aufgrund der kulturellen Unterschiede fraglich ist. Zweitens handelt es sich im Touris‐ mus zumeist um asymmetrische Beziehungen mit einer ungleichen Machtverteilung hinsichtlich der Deutungshoheit sozialer Realität, so dass die Anwendbarkeit der aus dem Organisationsumfeld kommenden Theorie fraglich ist. Grundlegende Aussagen zu sozialen Praktiken finden sich bei Berger & Luckmann (1996) sowie Bourdieu (1987). 18 Eine weitere Frage richtet sich danach, welche Kompetenzen dazu erforderlich sind und in welchem Studium diese vermittelt werden können. (→ Kapitel 3.6) und zuletzt Practice Theory 17 bieten veränderte Herange‐ hensweisen an gesellschaftliche Fragestellungen an. Allerdings ist unklar, wie diese Begriffe, Konzepte und Theorien kombiniert werden können. 18 Darüber hinaus sind die genannten Ansätze primär eine logische Weiter‐ führung der soziologischen Theoriebildung, sprich eine Fortführung des wissenschaftlichen Diskurses (→ Kapitel 3.9). Ob und inwieweit sich die Gesellschaft dementsprechend schnell entwickelt, erscheint fraglich. Schließlich sind einige der zentralen Aussagen bereits von Klassikern der Soziologie (→ Kapitel 2.1) resp. in Zusammenhang mit zentralen Themen der Soziologie (→ Kapitel 3) diskutiert worden und eine Nutzung dieses Wissens wäre wünschenswert bevor neue Ansätze formuliert werden. Wie schon in dem 2012 erschienenen Artikel benennen Cohen & Cohen dringliche Themen der Tourismussoziologie. Die meisten wurden bereits 2012 diskutiert. Nachfolgend werden nur solche Themen ausführlich erläu‐ tert, die in dem vorherigen Artikel nicht behandelt oder wesentlich erweitert wurden. Ein erstes Thema sind Emotionen: Cohen & Cohen ergänzen die 2012 gemachten Aussagen um die seitdem erfolgte Erweiterung der wissen‐ schaftlichen Grundlagen und deren Anwendung im Tourismus (→ Kapitel 4.2). In die gleiche Richtung geht die Betonung der sinnlichen Erfahrungen und des Körpers. Auch dort kommen zahlreiche Anregungen aus dem Bereich der Konsumierendenforschung, die eine multi-sensory Markener‐ fahrung vorschlägt. Cohen & Cohen weisen auf die Vermischung der Themen Emotionen und sinnliche Erfahrung hin. In → Kapitel 4.2 und → Kapitel 4.8 werden die Bereiche separat diskutiert. In → Kapitel 5 folgt der Versuch einer Zusammenführung und eine Ergänzung um den Aspekt der Identitäts‐ bildung. Der Hinweis auf die Berücksichtigung von Materialitäten (materialities) leitet sich aus der Akteur-Netzwerk-Theorie (→ Kapitel 3.15) ab und 2.2 Tourismussoziologische Werke 81 <?page no="82"?> verweist auf die Bedeutung materieller Dinge im Tourismus. Dazu zählen Souvenirs ebenso wie der Sand, mit dem Tourist: innen Sandburgen bauen. Cohen & Cohen weisen in dem Zusammenhang darauf hin, dass die Einor‐ dung von Tieren nicht trivial ist. Gender und Genderforschung im Tourismus haben sich weiterentwi‐ ckelt, beispielsweise durch die stärkere Berücksichtigung des Köpers. So‐ wohl die explizite Einbeziehung feministischer Theorien als auch die syste‐ matische Berücksichtigung von Frauen weltweit ist jedoch nicht erfolgt. Weiterhin führt die Fokussierung auf Frauen in der Genderforschung zu ei‐ ner fehlenden Betrachtung von Themen wie Maskulinität und Transgender. Die Aussagen von Cohen & Cohen zu Authentication wurde bereits anhand der Artikel aus den Jahren 1988, 2010 und 2012 vorgestellt. Cohen & Cohen nennen als zwei weitere Themen, die in die Tourismus‐ wissenschaft einfließen, die Ethik sowie philosophische Grundlagen der Tourismustheorien. Obwohl es sich bei diesen sicherlich um wichtige Bereiche handelt, verlassen die beiden Autoren damit den Bereich der Tourismussoziologie. Überhaupt ist bei vielen der genannten Themen nicht mehr deutlich erkennbar, ob es sich um Tourismus als gesellschaftliches System, um Tourismus als intellektuelles und kulturelles Projekt (Cohen & Cohen, 2017, S. 1), um Tourismuswissenschaft oder Tourismussoziologie handelt. Die Schwierigkeit besteht darin, dass alle gesellschaftlichen The‐ men mit Bezug auf den Tourismus diskutiert werden können. Die Vielfalt der diskutierten Themen macht die Bildung einer einheitlichen Wissenschaft fast unmöglich. Nach Einschätzung von Cohen & Cohen ist es bislang nicht gelungen. Sowohl Erik als auch Scott Cohen haben nach 2018 zu unterschiedlichen tourismuswissenschaftlichen Themen publiziert. Beispiele sind Weltraumtourismus und Hypermobilität. 2.2.9 Christaller, Butler & Co.: Destinationslebenszyklus Walter Christaller (*1893 †1969) und Richard Butler (*1943) waren bzw. sind Geographen, deren Ansätze einen starken tourismussoziologischen Bezug haben. Sowohl der Gegenstand der Betrachtungen als auch die angewendeten Methoden entsprechen soziologischen Verfahren. Butler be‐ zieht sich zudem explizit auf Cohens Arbeiten, insbesondere auf dessen Tourist: innentypologie. Während Cohen in den meisten seiner Arbeiten touristisches Verhalten und den Tourismus als gesellschaftliches Phänomen in den Vordergrund stellt, betrachten Christaller und Butler primär die Entwicklungen innerhalb einer Destination (touristisches Zielgebiet). 82 2 Entwicklung der Tourismussoziologie <?page no="83"?> Christaller geht in dem 1963 erschienenen Artikel »Some considerati‐ ons of tourism location in Europe: the peripheral regions - underde‐ veloped countries - recreation areas« auf die Gründe des Tourismus, die wechselnde Attraktivität und die damit verbundenen Veränderungen von Destinationen ein. Hinsichtlich der Gründe für das Reisen wählt Christaller einen eindeutig funktionalen Ansatz. Zitat »Here [highest mountains, lonely woods, remotest beaches] one may find, easier than elsewhere, the chance of recreation and sport.« (Chris‐ taller, 1963, S. 95). Tourist: innen suchen entlegene Orte auf, da sie den grauen, lauten Städten entkommen wollen. Typische touristische Orte liegen demnach in der Peripherie. Während der Saison werden sie zu zentralen Orten. Christaller bezieht sich bei seinen Ausführungen auf mehrere Studien, die zeigen, dass die meisten Tourist: innen aus Städten kommen und dass der Anteil der Reisenden mit der Größe der Stadt korreliert. Die Lebensumstände moderner industrieller Gesellschaften erfordern einige Wochen der Erholung. Da innerhalb Europas eine Reise in Gegenden erfolgt, in denen eine andere Sprache gesprochen wird und die Kultur sowie die Lebensgewohnheiten sich von den gewohnten unterscheiden, werden Mittler - vor allem Reiseveranstal‐ ter - benötigt, die das Reisen erleichtern. Hinzu kommen Hotelunternehmen und Fluggesellschaften, die Interesse an einem Ausbau des touristischen Angebots haben. Schließlich können touristische Produkte ähnlich wie andere Annehmlichkeiten des modernen Lebens in einem Katalog ausgesucht und gekauft werden. Zusammenfassend erfüllt Tourismus die Funktion der Erholung und des Kontrasts zum düsteren Alltag in dunklen und überfüllten Industrieregionen (→ Kapitel 2.1.2 Marx und → Kapitel 2.2.2 Enzensberger). Ein weiterer Aspekt, den Christaller jedoch nicht explizit ausführt, ist die gesellschaftliche Definition von Attraktivität. Tourist: innen suchen laut Christaller lovely landscapes, wobei die Kriterien für die Bewertung historischen Veränderungen und gesellschaftlichen Moden unterworfen sind. Waren die Alpen zu Goethes Zeiten noch wilde Wüsten, sind sie um 1960 bereits gut erschlossene periphere Gegenden, die zur Erholung einladen (vgl. dazu die Erläuterungen zu Enzensberger und Pagenstecher in →-Kapitel 2.2.2). 2.2 Tourismussoziologische Werke 83 <?page no="84"?> 19 Christaller meint gullibility = Leichtgläubigkeit. Ein nächster zentraler Punkt, den Christaller beschreibt, sind die Verände‐ rungen einer Destination. Demnach werden neue und unbekannte Orte zumeist von Menschen mit einem ästhetischen Interesse entdeckt. Dazu zählen Künstler: innen wie Maler: innen oder Dichter: innen. Es folgen darauf als nächstes Personen, die ebenfalls das Besondere und Abgeschiedene suchen. Langsam entwickelt sich eine touristische Infrastruktur. Nachdem in einem ersten Schritt zunächst vorhandene Unterkünfte, Restaurants und Geschäfte genutzt wurden, setzt der Bau spezieller Einrichtungen für Tourist: innen ein. Es entstehen Hotels und weitere spezielle Serviceeinrichtungen. Diese werden häufig nicht von ortsansässigen, sondern von externen und global agierenden Unternehmen entwickelt. Schließlich ist der ehemals unberührte Ort ein gut vermarktetes Produkt, das von den ursprünglichen Besuchenden gemieden wird. Christaller argumentiert somit genauso, wie Cohen es einige Jahre später in seinen Arbeiten getan hat. Im Gegensatz zu Christallers deskriptivem Ansatz arbeitet Cohen allerdings stärker modellbasiert, bspw. indem er eine Typologie erstellt, die Aussagen zu Motiven und Bedürfnissen enthält. Zitat »The typical course of development has the following pattern. Painters search out untouched unusual places to paint. Step by step the place develops as a so-called artist colony. Soon a cluster of poets follows, kindred to the painters; then cinema people, gourmets, and the jeunesse dorée. The place becomes fashionable and the entrepreneur takes note. The fisherman’s cottage, the shelter-huts become converted into boar‐ ding houses and hotels come on the scene. Meanwhile the painters have fled and sought out another periphery - periphery as related to space, and metaphorically, as ‚forgotten‛ places and landscapes. Only the painters with a commercial inclination who like to do well in business remain; they capitalize on the good name of this former painter’s corner and on the gullability 19 of tourists. More and more townsmen choose this place, now en vogue and advertised in the newspapers. Subsequently the gourmets, and all those who seek real recreation, stay away. At last the tourist agencies come with their package rate travelling parties; now, the indulged public avoids such places. At the same time, in other places the same cycle occurs again; more and more places come 84 2 Entwicklung der Tourismussoziologie <?page no="85"?> into fashion, change their type, turn into everybody’s tourist haunt.« (Christaller, 1963, S. 103) Butler nimmt Christallers Beschreibung der Entwicklung einer Destination als Ausgangspunkt für die Formulierung seines Tourist Area Cycle of Evo‐ lution (1980). Dieser wird in der Literatur zumeist als Tourist Area Life Cycle (TALC) oder als Destinationslebenszyklus behandelt. Obwohl starke Parallelen mit dem Produktlebenszyklus erkennbar sind, existieren doch deutliche Unterschiede. So stehen beim TALC vor allem solche Verän‐ derungen im Mittelpunkt, die sich aus den unterschiedlichen Interessen der Gäste ergeben: Eine Destination ist ein touristisches Produkt, das im Laufe der Zeit verschiedene Typen von Tourist: innen anzieht. Butler beschreibt den Anstieg und das Sinken der Popularität einer De‐ stination anhand einer S-Kurve. Touristische Gebiete sind Schwankungen unterworfen, die sich aus vielen Faktoren ergeben. So ändern sich die Vorlieben und Bedürfnisse der Gäste ebenso, wie sich Begebenheiten vor Ort ändern. Die Attraktivität schwankt und wird durch die Konkurrenz mit anderen Orten beeinflusst. Butler greift Cohens Typologie (→ Kapitel 2.2.8) auf und stellt fest, dass sich die Gästegruppen in Destinationen im Laufe der Zeit nach einem ähnlichen Muster verändern. Zunächst wird ein Ort eher zufällig und ungeplant von individuell reisenden Menschen entdeckt (exploration). Es existieren keine speziellen touristischen Einrichtungen und Reisende interagieren in einem hohen Maß mit den Einheimischen. Die Anwesenheit hat nur geringe ökonomische oder soziale Auswirkungen. In der zweiten Phase beginnen Einheimische, beson‐ dere Angebote für die Gäste zu entwickeln (involvement). Es entsteht ein Markt für touristische Produkte und Leistungen. Dieser Markt entwickelt sich weiter und es werden spezielle Attraktionen vermarktet (development). Die Anzahl der Tourist: innen steigt während der Saison stark an. In der Konsolidierungsphase sinkt das Wachstum der Besucherzahlen, obwohl die Besucheranzahl weiterhin steigt (consolidation). Ein Großteil der Wirtschaft hängt vom Tourismus ab. Die Marketingaktivitäten haben sich ausgeweitet und global agierende touristische Franchise- und Kettenunternehmen sind in dem Gebiet aktiv. Das Erreichen des Höchstwertes der Besuchenden signalisiert den Beginn der Stagnationsphase (stagnation). Die Kapazitäts‐ grenzen sind erreicht und es machen sich negative Auswirkungen auf Umwelt, Gesellschaft und Wirtschaft bemerkbar. Das Gebiet ist bekannt, aber es ist nicht länger »in«. Wiederholte Besuche, Tagungen, Kongresse 2.2 Tourismussoziologische Werke 85 <?page no="86"?> und andere regelmäßig wiederkehrende Aktionen sind von hoher Bedeu‐ tung. Laut Butler können auf die Stagnation entweder eine Verjüngung (Rejuvenation) oder eine Phase des Rückgangs folgen. Es ist entscheidend, wie die Destination reagiert. Destination umfasst dabei sowohl öffentliche als auch privatwirtschaftliche Akteure, die in den Tourismus involviert sind. Stadtplanung, Politik und Einzelhandel sind ebenso gefragt wie Hotellerie und andere touristische Dienstleistende. Eine Schwierigkeit besteht darin, die Entscheidungsgewalt wieder in die Destination zu ziehen, nachdem der Tourismus im starken Maße durch externe Akteure gesteuert wurde. Ein Ziel ist die Schaffung bzw. Wieder‐ belebung attraktiver Orte oder die Schaffung neuer Attraktionen für neue Zielgruppen. Ergänzend nimmt Butler den Psychologen Stanley Plog und seine psycho‐ grafischen Studien (1972: mündlicher Vortrag, 1974: Publikation, 2001: er‐ gänzte Publikation) hinzu. Plog sprach anfangs von psychocentric, mid-cent‐ ric und allocentric Reisenden. Später verwendete er die Begriffe dependables, near dependable, mid-centric, near venturer und venturer. Ursprünglich beschränkten sich Plogs Aussagen auf Flugreisen und die Frage, welche Personen fliegen und welche nicht. Auch Plog stellt fest, dass jeder Destination die Gefahr droht, die Attrak‐ tivität zu verlieren, wenn die charakteristischen Merkmale kommerzialisiert werden und damit die Authentizität verloren geht. Butler verweist weiterhin auf Doxey und den von diesem entwickelten Irridex (irritation index model 1975). Doxey wählt eine andere Perspektive, da er die sich verändernden Einstellungen der Einheimischen gegenüber den Tourist: innen beschreibt. Doxey geht ebenfalls von einer Entwicklung aus, die von einer anfänglichen Euphorie über Apathie und Verärgerung bis zu einer deutlichen Ablehnung reicht. Seit dem Erscheinen von Butlers Artikel 1980 entstanden viele Arbeiten, die sich auf sein Modell beziehen. Die Kritik ist ebenso vielfältig wie die empirischen Arbeiten, die das Modell oder Ausschnitte desselben belegen. Ein von Butler angesprochener Aspekt ist die carrying capacity (Aufnahme oder Tragfähigkeit) einer Destination. Destinationen haben demnach nur eine limitierte Aufnahmefähigkeit von Besuchenden. Einerseits ist der Raum an sich begrenzt. Andererseits sind Wasser, Energie etc. nicht grenzenlos verfügbar. Sobald eine Schädigung ökonomischer, ökologischer, soziokultu‐ reller Elemente oder eine Unzufriedenheit bei Besucher: innen zu erkennen ist, ist die Aufnahmefähigkeit erreicht bzw. überschritten. 86 2 Entwicklung der Tourismussoziologie <?page no="87"?> Die Schwierigkeit besteht jedoch in der Festlegung eindeutiger Kriterien. Wann kommt es tatsächlich zu einer Schädigung der Destination? Welche Aspekte beeinflussen, ob Menschen eine Destination als überfüllt empfinden? Und: Empfinden alle Menschen gleich? Forschungen (Heuwinkel & Venter, 2018) zeigen, dass das Reisemotiv (beruflich oder privat) einen Einfluss darauf hat, ob Menschen mit einer Situation unzufrieden sind oder nicht. So werden Urlauber: innen, die über viel Zeit verfügen, eher auf einen Tisch im Restaurant warten als Geschäftsreisende, die unter Termindruck stehen. Zusammenfassend ist es ein sehr ambivalenter Bereich, der Prognosen kaum möglich macht. So dominierten schon kurz nach der Aufhebung der Reisebeschränkungen wieder Bilder von überfüllten touristischen Orten in vielen Teilen der Welt. Menschen drängen sich am Strand, vor einem Gebäude oder auf dem Weihnachtsmarkt. Diese offensichtlich (über)vollen Orte werden wieder besucht und an einigen Orten steigen die Besucherzah‐ len von Jahr zu Jahr. Menschen nehmen das Gedränge in Kauf, wenn sie unbedingt einen bestimmten Ort besuchen wollen. Tipp │ Fotografie Der Fotograf Martin Parr hat sich auf Fotografien von Tourist: innen und touristischem Verhalten spezialisiert. Einige Beispiele finden sich auf der folgenden Website: 🔗 www.martinparr.com. Weiterhin sind Sammlungen mit Fotografien überfüllter Orte im Inter‐ net zu finden. Berühmt ist der Blick auf einen Pool in China. Dort ist kein Wasser, sondern nur noch die Oberkörper von Menschen in Schwimmreifen zu erkennen. Eine andere Annahme deutet in die Richtung, dass Menschenansammlun‐ gen als ein Indiz für Attraktionen gehalten werden. Die → Abb. 7 zeigt Menschen, die alle in eine Richtung schauen. Dort, wo sie hinschauen, gibt es nichts Besonderes. Zu Beginn der Szene standen zwei Personen auf dem Hügel und schauten in eine Richtung, zeigten auf etwas. Andere kamen hinzu und schauten ebenfalls, da sie annahmen, dass es etwas zu sehen gäbe. Empirische Untersuchungen wie die ReiseAnalyse 2018 zeigen ebenfalls, dass der Anteil der Menschen, die touristische Zentren meiden, ebenso groß ist wie der Anteil, der belebte Urlaubsgebiete attraktiv findet. Hovinen (1982) hat den Begriff der psychological carrying capacity ein‐ geführt, um die Subjektivität der Einschätzung zu betonen. Heuwinkel & Venter (2018) zeigten anhand von Hochleistungssportler: innen in Südafrika, 2.2 Tourismussoziologische Werke 87 <?page no="88"?> dass die Reisemotive wesentlich sind, wenn es um die Wahrnehmung und Einschätzung der Attraktion und Überfüllung einer Destination geht. Abb. 7: Menschenansammlung Aus tourismussoziologischer Perspektive sind vor allem die folgenden Aspekte von Interesse: [1] Bei Destinationen handelt es sich um dynamische Systeme. Sie wach‐ sen und verändern sich. Neue Elemente kommen hinzu und andere scheiden aus. Unter Umständen bilden sich Subsysteme aus. Zwischen den Elementen gibt es Wechselwirkungen, die berücksichtigt werden müssen. Sowohl die Systemtheorie (→ Kapitel 3.2) als auch die Ak‐ teur-Netzwerk-Theorie (→ Kapitel 3.15) können bei der Darstellung und Analyse von Destinationen eingesetzt sowie hinsichtlich ihrer Anwendbarkeit überprüft werden. [2] Die Bewertung der Attraktivität einer Destination aus Sicht von Tou‐ rist: innen ist wesentlich für den Erfolg der Destination. Die Sicht ist abhängig von sozialen und individuellen Aspekten. Tourist: innen un‐ terscheiden sich hinsichtlich ihrer Präferenzen und Tourist: innentypen wechseln sich ab resp. überschneiden sich. [3] Die Art und Weise, wie Einheimische (auch dort existieren Differenzie‐ rungen) Tourist: innen und touristische Aktivitäten in der Destination erleben und bewerten, ist ebenfalls von Bedeutung, da Einheimische 88 2 Entwicklung der Tourismussoziologie <?page no="89"?> in Interaktion mit den Gästen treten und ihre Haltung die Interaktion beeinflussen kann. Chris‐ taller (1963) Cohen (1972) Plog (1974/ 2001) Doxey (1975) Butler (1980) Infrastruk‐ tur Inter‐ aktion Im‐ pact Ma‐ ler: in‐ nen, Dich‐ ter: in‐ nen explorer venturer (allo‐ centric) - explora‐ tion keine spezielle Infra‐ struktur sehr hoch sehr ge‐ ring Kino, jeunesse dorée - near venturer (near allo‐ centric) eupho‐ ria involve‐ ment Aufbau in‐ terner Infrastruk‐ tur hoch ge‐ ring Gour‐ met indivi‐ dueller Mas‐ sentou‐ rismus mid centric apathy develop‐ ment interne Infrastruk‐ tur und Aufbau ex‐ tern ange‐ botener In‐ frastruktur mittel mit‐ tel Stadt‐ men‐ schen - near de‐ pen‐ dable (near psycho centric) annoy‐ ance Konso‐ lidie‐ rung extern an‐ gebotene Infrastruk‐ tur gering hoch Pau‐ schaltourist: in‐ nen organi‐ sierter Mas‐ sentou‐ rismus depen‐ dable (psycho centric) antago‐ nism Stagna‐ tion nicht mehr ausrei‐ chend sehr gering sehr hoch Tab. 2: Modelle zum Thema Destinationslebenszyklus Modelle zum Thema Destinationslebenszyklus betrachten die wechselnden Typen der Tourist: innen (Christaller, 1963; Cohen, 1972; Plog, 1974/ 2001), die Situation in der Destination (Butler 1980) oder auch die Reaktion der Einheimischen (Doxey 1975). Die Modelle sowie Merkmale der touristischen Infrastruktur, die Intensität der Interaktion zwischen Tourist: innen und 2.2 Tourismussoziologische Werke 89 <?page no="90"?> Einheimischen sowie eine Einschätzung des Impacts des Tourismus auf die Destination sind in → Tabelle 2 dargestellt. Die Debatte um Overtourism in den Jahren vor 2020 und 2023 neu beginnend greift Aspekte des Destinati‐ onslebenszyklus auf (→ Kapitel 4.4). 2.2.10 Arlie Hochschild: Emotionale Arbeit Die bisher vorgestellten Arbeiten stellten Tourist: innen und touristisches Verhalten in das Zentrum der Betrachtungen. Motive, Erwartungen und Verhaltensweisen fanden Berücksichtigung. Welche Menschen touristische Dienstleistungen wie und wo erbringen und was diese Tätigkeit für sie bedeutet, wurde bislang kaum thematisiert. Goffman (→ Kapitel 2.1.5) analysierte die alltägliche Interaktion und ging dabei auf Techniken der Darstellung ein. Das Selbst wird in sozialer Interaktion mit anderen zur Realität. So wie Goffman (2003) es darstellt, entsteht der Eindruck eines gleichberechtigten und leichten Umgangs der handelnden Personen. Eine notwendige Ergänzung erfolgt durch die Arbei‐ ten von Arlie Hochschild (1969, 1983, 2012), die Marx (→ Kapitel 2.1.2) Konzept der Entfremdung aufgreift und mit Goffmans Ansatz verbindet. Hochschild (*1940) arbeitet sowohl theoretisch als auch empirisch, u. a. zu Arbeitnehmer: innen bei Fluggesellschaften. Sie hat in ihrem Werk »The Managed Heart« (2003, 1. A. 1983) die Kommerzialisierung von Emotionen untersucht. Sie stellt die Frage, in wieweit Emotionen im professionellen Leben eingesetzt werden und welche Folgen dieses für den Menschen hat. Der Einsatz der Emotionen erfolgt als Notwendigkeit und ergibt sich aus der Sozialstruktur. Somit integriert Hochschild ein bislang kaum berücksichtig‐ tes Element - die Emotionen - in soziologische Theorien. Wissen-│-Emotionen und Gefühle Emotionen sind komplexe Phänomene, die vier Komponenten umfas‐ sen: 1. eine subjektive Erlebniskomponente, 2. eine neurophysiologische Erregungskomponente, 3. eine kognitive Bewertungskomponente, 4. eine interpersonale Ausdrucks- und Mitteilungskomponente. Gefühl ist ein umgangssprachlicher Begriff, der den erlebten Zustand mit Bezug auf sozial erlernte Ausdrucksweisen betont (vgl. dazu ausführlich →-Kapitel 3.13). 90 2 Entwicklung der Tourismussoziologie <?page no="91"?> Ein Großteil von Hochschilds empirischer Arbeit beruht auf Beobachtungen und Interviews mit Mitarbeitenden, u. a. von Fluggesellschaften wie Delta Airlines und Pan American Airways. Sie argumentiert, dass in dieser Branche ein hoher Bedarf an einer bestimmten Ware - dem trainierten Management von Emotionen - besteht. Diese müssen nach spezifischen Regeln eingesetzt werden und sind Bestandteil der Arbeit. Beispiele reichen von Aufmerk‐ samkeit und Interesse über Mitgefühl und Freude bis hin zu Begeisterung. Die Emotionen sollen authentisch und tief sein, nicht nur oberflächlich aufgesetzt. Zitat »To manage private loves and hates is to participate in an intricate private emotional system. When elements of that system are taken into the marketplace and sold as human labor, they become stretched into standardized social forms.« (Hochschild, 2003, S.-13) Eine Entfremdung resultiert daraus, dass empfundene und dargestellte Emo‐ tionen nicht übereinstimmen. Die Person entfernt resp. entfremdet sich von den eigenen Gefühlen. Bislang werden vor allem Frauen durch gesellschaft‐ liche Strukturen auf eine Weise sozialisiert, dass sie ihre Emotionen zur Erreichung ihrer privaten und professionellen Ziele einsetzen (→ Kapitel 3.7 Feminismus und → Kapitel 4.5 Gender). Die Hälfte aller arbeitenden Frauen muss nach Aussage von Hochschild emotionale Arbeit leisten. Bei den Männern sind es rund 30 Prozent. In Dienstleistungsbereichen ist der Anteil deutlich höher (Hochschild, 2003) Hochschilds Aussagen zum Management von Emotionen sind eine wichtige Grundlage für die Analyse touristischer Interaktion. Die Stärke liegt insbesondere in der Verbindung individueller Aspekte (Emotionen) mit gesellschaftlichen Strukturen. Wobei letztere oft im Verborgenen wirken (→ Kapitel 3.9 Macht). Auch Hochschilds weitere Arbeiten, z. B. zum Outsourcing von Betreu‐ ungsarbeite (2012) oder zur doppelten Belastung durch Beruf und Familie (2012), sollte in tourismussoziologische Arbeiten aufgenommen werden. 2.2 Tourismussoziologische Werke 91 <?page no="92"?> 2.2.11 Cynthia Enloe: »Making Feminist Sense« Cynthia Enloe (*1938) betrachtet Tourismus aus einer politischen und eindeutig feministischen Perspektive mit dem Ziel, internationale Zusam‐ menhänge, insbesondere Machtstrukturen aufzudecken. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit steht die Deutung internationaler Politik aus feministischer Sicht (»Making Feminist Sense of International Politic«, 2014). Ihr Buch »Bananas, Beaches and Bases« (2014, 1. A. 1990) ist eines der wichtigsten und dauerhaftesten Werke zu Frauen im Tourismus. Auch wenn gendered politics of tourism nur ein Kapitel umfasst, zeigt Enloe in diesem theoretisch (feministisch) fundiert und empirisch gestützt auf, wie Tourismus durch internationale politische Verflechtungen und Interessen geprägt ist. Zentra‐ les Element ist die Durchsetzung der Vorstellungen von Maskulinität und Femininität. Enloe formuliert, dass weltweit patriarchische Strukturen herrschen, von denen manche Menschen profitieren, während andere ausgebeutet werden. Nicht nur einzelne Menschen und Gruppierungen, sondern ganze Branchen beruhen auf diesen Strukturen. Der Tourismus ist nach Enloes Aussage ein Beispiel dafür. Zitat »The very structure of international tourism has needed patriarchy to survive and strive.« (Enloe, 2014, S.-82). Die Stärke von Enloes Arbeiten ergibt sich daraus, dass sie Tourismus und Politik vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Strukturen verbindet. Tipp-│-Hegemoniale Männlichkeit Raewyn Connell (1999) prägte den Begriff Hegemoniale Männlichkeit und beschreibt damit, wie Männer im Umgang miteinander und mit anderen agieren. Sie unterscheidet die folgenden vier Verhaltensmus‐ ter: Hegemonie, Unterordnung, Komplizenschaft und Marginalisierung. Gegenüber Frauen wird häufig hegemonial agiert, während u. a. nicht heterosexuell orientierte Männer in einem heteronormativen Umfeld marginalisiert werden. Die unter- und überordnenden Verhaltensweise führen zu einer Verfestigung von Macht- und Einflussstrukturen. 92 2 Entwicklung der Tourismussoziologie <?page no="93"?> 2.2.12 Zygmund Bauman: Liquid Modernity Die Einordnung von Zygmund Baumans (*1925 †2017) Ansatz der Liquid Modernity (Flüchtige Moderne) in Arbeiten der Tourismussoziologie erfolgt deswegen, weil Bauman die Mobilität des Menschen - das touristische Syn‐ drom - in den Mittelpunkt seiner Überlegungen gestellt hat. Nach Baumans Einschätzung waren die tourismussoziologischen Arbeiten der 1960erbis 1980er-Jahre geprägt durch klare Dichotomien wie Zuhause/ Unterwegs, Arbeit/ Freizeit oder Alltag/ Urlaub (vgl. → Kapitel 2.2.8 Cohen). Diese haben sich aufgelöst. Weiterhin veränderten sich die Produktionsverhältnisse derart, dass von einer globalen Konsumgesellschaft gesprochen werden muss, in der die zentrale Rolle der Menschen die des Konsumierenden ist. Gesellschaft ist nicht mehr stabil, sondern gekennzeichnet von Transforma‐ tionen und Entwicklungsprozessen. Bauman benutzt Tourist: in oder Tourismus als Metapher für das Leben in der liquid modernity, in welcher Menschen losgelöst von Strukturen agieren. Sie sind nur vorrübergehend an einem Ort und das Gesetz des Wiedersehens (Luhmann → Kapitel 3.2) greift nicht. Bauman beschreibt Tourist: innen resp. Menschen als konsumierende Wesen (consumerism), die neue, unbe‐ kannte Erfahrungen suchen. Wenn diese gemacht sind, besteht kein weiteres Interesse an dem Ort und es werden neue Erfahrungen angestrebt. Daraus resultierend besteht keine Notwendigkeit darin, Beziehungen sowie Regeln für den Umgang miteinander zu etablieren. Eine Konsequenz des consumerism ist der Übergang von einem langsam entwickelten Verlangen (desire) zu kurzfristig formulierten Wünschen (wish). Dadurch gewinnen Werbung, Marken und andere Symbole an Bedeutung. Im Tourismus sind es die touristischen Attraktionen, die Aufmerksamkeit erregen und Wünsche kreieren, da sie eine neue Erfahrung versprechen. Zitat »When speaking of the ›tourists‹ or ›tourism‹ as metaphors of contem‐ porary life, I have in mind certain aspects of the tourist condition and/ or experience - like being in a place temporarily and knowing it, not belonging to the place, not locked into the local life ›for better or worse‹. That condition is shared with the modality of ordinary daily life, with the way we are all ›inserted‹ in the company of others every-where - in places where we live or work; not only during the summer holidays, but seven days a week, all year round, year by year. It is that characteristic 2.2 Tourismussoziologische Werke 93 <?page no="94"?> of contemporary life to which I primarily refer when speaking of the tourist syndrome.« (Bauman, 2003, S. 203). Ob und inwieweit Baumans Metapher angemessen ist, ist vor allem eine soziologische Fragestellung. Die Beschreibung des touristischen Verhal‐ tens wirkt distanziert. Baumans Darstellung des extraterritorialen Nir‐ gendwo, wo deutsche Tourist: innen das deutsche Bier mit ihren deutschen Nachbar: innen trinken, erinnert an die Formulierungen der Tourismuskri‐ tiker, z.B. Boorstin, Turner & Ash (→ Kapitel 2.2.4). Weiterhin überrascht es, dass Bauman, der von einer Auflösung der Strukturen spricht, darauf verweist, dass der Sommerurlaub der Pariser eine gesellschaftliche Norm ist, die über viele Jahre entwickelt und kultiviert wurde. Seine Beschreibung des Tourismus als ein Geschäft, das den Konsumierenden eine Balance zwischen Fremdartigkeit und Abenteuer bieten muss, ist eine Aussage, die von Autor: innen der Solid Modernity wie Cohen, Urry und MacCannell fundierter und differenzierter betrachtet worden ist. Zitat »The right proportion of genuine or pretended ›otherness‹, source of pleasurable experience of novelty, challenge and adventure, and reassuring familiarity, source of the security feeling, that’s the name of the tourist game these days.« (Bauman, 2003, S. 213). Für Bauman ist Tourismus eine Ersatzbefriedigung für den grundlegenden Wunsch, sich dem Fremden zu nähern bzw. die Distanz zu dem Anderen zu verringern und das Gegenüber auf Basis gemeinsamer humaner Werte anzuerkennen. Zitat »Tourism is such a substitute, a substitute satisfaction of a genuine need - that could otherwise prove creative and deeply ethical: The need to top up the proximity of otherness with recognition of shared humanity and enrichment of its contents.« (Bauman, 2003, S. 214). 94 2 Entwicklung der Tourismussoziologie <?page no="95"?> Interessant für die Tourismussoziologie ist die Frage, wie sich - wenn Baumans Bewertung der Liquid Modernity zutrifft - Tourismus als mit dem Alltag verknüpftes und als Gegenwelt zu diesem formuliertes Phänomen verändern wird: Wenn der Alltag liquid wird, müsste als Konsequenz Tourismus solid werden. Ein empirischer Beleg für diese These könnte eine steigende Bedeutung des Werts »Zeit mit der Familie verbringen« sowie die »Rückkehr an bekannte Orte« oder Reisen in der eigenen Bubble (→ Kapitel 4.1) sein. Ebenfalls kann der Versuch, Kontakte zu Einheimischen aufzubauen als Zeichen dafür gesehen werden, dass langfristige Kontakte im Alltag nicht mehr aufgebaut werden können. Der nur temporäre Kon‐ takt lässt sich im Urlaub ertragen, da es sich bei diesem per definitionem um ein begrenztes Raum-Zeit-Setting handelt. Die Entfremdung im Urlaub ist besser zu ertragen als die Entfremdung im Alltag. Zwischenfazit | Suche, Erlebnis und Entfremdung Die Analyse der vorgestellten bisherigen Arbeiten erlaubt die Benen‐ nung zentraler, immer wiederkehrender Aspekte. ● Ein konstituierendes Element des Tourismus ist aus soziologi‐ scher Sicht die Erfahrung des Neuen resp. des Anderen/ Fremdarti‐ gen. Dieses steht jedoch immer in Bezug zum Bekannten. ● Das Neue resp. Andere/ Fremdartige wird oft mit dem Begriff der Authentizität verbunden. Tourist: innen suchen nach Erfahrungen, die echt sind. Die Echtheit kann inszeniert sein und in einer Art Spiel oder Aufführung zwischen Tourist: innen und Einheimischen produziert werden. In Abhängigkeit von der theoretischen Perspek‐ tive sind Tourist: innen entweder nicht in der Lage, die Täuschung zu erkennen, oder sie lassen sich bereitwillig täuschen oder sie kreieren aktiv das Erlebnis. ● Authentizität ist eng verknüpft mit dem touristischen Blick und den relevanten Prozessen. Die Tourismusindustrie bedient sich dieser Vorgänge und produziert standardisierte und normierte Erlebnisse. Authentication beschreibt die Strukturen und Prozesse, die ein Objekt, eine Destination oder ein Verhalten als authentisch aner‐ kennen resp. als authentisch bestätigen. ● Standardisierung und Kommodifizierung sind zentrale Prozesse im Tourismus. Sie beschreiben, wie Räume, Orte und Veranstal‐ tungen so gestaltet und präsentiert werden, dass sie zu einem konsumierbaren Massenprodukt werden. 2.2 Tourismussoziologische Werke 95 <?page no="96"?> ● Tourismus ist aus soziologischer Sicht ein modernes Massenphä‐ nomen und damit häufig - insbesondere in der deutschsprachigen Literatur - Gegenstand kulturkritischer Betrachtungen. Das Phäno‐ men der massenhaften, standardisierten Bewegung wird negativ bewertet. Diese Bewertung erfolgt zumeist aus einer distanzierten Position und durch elitäre Gruppen, die sich von Massen distanzie‐ ren wollen. ● Der Impuls, den Alltag zu verlassen, ist ein zentrales Element des Tourismus. Die Lebensverhältnisse moderner Gesellschaften »drängen« Menschen in Gegen- oder Scheinwelten. Dieses kann passiv als Flucht, aktiv als produktive Leistung oder auch als Routine und Tradition beschrieben werden. ● Die zunächst freie resp. sinnvolle Welt des Tourismus entwickelt eine eigene Logik, die das touristische Handeln bestimmt. Auch hier kommt es wieder zur Entfremdung. ● Die funktionalistische Betrachtung des Tourismus als Abkehr vom Alltag muss um die Aspekte Glück, Spaß, Neugier sowie die Faszination des Reisens ergänzt werden. Weg-von und Hin-zu sind untrennbar miteinander verbunden. ● Tourismus ist ein Ritual, das eine zeitweise Entfernung vom Alltag ermöglicht. Es gehört zur Moderne und ist ein (zentrales) Merkmal des Menschen in der fluiden Gesellschaft. ● Touristische Leitbilder wie der romantische Blick, der gesellige Blick und der Spaß-Blick basieren auf gesellschaftlichen Vorstel‐ lungen und verändern sich in Abhängigkeit von gesellschaftli‐ chen Veränderungen. ● Sozialprestige wird durch Reisen aufgebaut. Touristische Erfah‐ rungen sind Statussymbole. Menschen, die nicht reisen, geraten in Erklärungsnot. ● Tourist: innentypologien helfen dabei, touristisches Verhalten genauer zu untersuchen Unterschiede zu beschreiben und Dichoto‐ mien aufzuheben. 96 2 Entwicklung der Tourismussoziologie <?page no="97"?> 20 Hahn & Kagelmann (1993) bieten in Kapitel IX eine Sammlung von Aufsätzen zu Methoden, die in der (allgemeinen) Tourismusforschung angewendet werden. Siehe auch Becker (1992). Eine allgemeine Einführung findet sich in Durbarry (2018). Das Buch von Hillman & Radel (2018) bietet einen sehr guten Überblick über qualitative Methoden der Tourismuswissenschaft. 21 Die empirische Untersuchung soziologischer Theorien sowie die Verknüpfung der Theorien ist ein anspruchsvoller Themenbereich, der u.a. grundlegende wissenschafts‐ theoretische Annahmen betrifft (vgl. Schnell, Hill & Esser, 2011, S. 45-118). 2.3 Methoden der Tourismussoziologie Es existiert kein aktuelles Lehrbuch zur Tourismussoziologie, das explizit auf geeignete Methoden eingeht. 20 Ein Grund dafür ist sicherlich, dass sämtliche Methoden der (empirischen) Sozialforschung eine Relevanz für diesen Bereich haben und die Notwendigkeit einer separaten Darstellung nicht unbedingt gegeben ist. Weiterhin folgt die Methodenoft der Theorie‐ entwicklung 21 und letztere ist, wie zuvor beschrieben, für den Bereich der Tourismussoziologie nur lückenhaft gegeben. Allerdings ist eine methodisch abgesicherte, empirische Überprüfung theoretischer Aussagen und Kon‐ strukte für die Etablierung einer eigenständigen Wissenschaft unabdingbar. Viele der in tourismussoziologischen Arbeiten beschriebenen Zusammen‐ hänge erscheinen plausibel. Ob und wann sie gelten, ist empirisch zu überprüfen. Schließlich können Theorien auf der Basis von empirischen Untersuchungen entwickelt werden. Beispielsweise zeigen Befragungen, dass viele Menschen große Menschenansammlungen - anders als oft an‐ genommen - nicht als negativ oder abschreckend empfinden. Auch die wissenschaftliche Debatte darüber, was authentisch ist und was nicht (vgl. Boorstin → Kapitel 2.2.4, MacCannell → Kapitel 2.2.5, Cohen → Kapitel 2.2.8), muss empirisch geprüft und nicht nur aus Sicht der Forschenden, sondern ebenfalls aus Sicht von Tourist: innen untersucht werden. Grund‐ lage dafür ist ein am Subjekt ansetzender methodischer Ansatz. Wissen│ Methoden und Instrumente Eine Methode ist ein »[…] spezielles System von Regeln, das die Tätigkeit bei der Erlangung neuer Erkenntnisse und der praktischen Umgestaltung der Wirklichkeit organisiert.« (Bönisch zitiert nach Fried‐ richs, 1990, S. 189) »Empirische Sozialforschung kann […] als eine Sammlung von Tech‐ niken und Methoden zur korrekten Durchführung der wissenschaft‐ 2.3 Methoden der Tourismussoziologie 97 <?page no="98"?> lichen Untersuchung menschlichen Verhaltens und gesellschaftlicher Phänomene gesehen werden.« (Schnell, Hill & Esser, 2011, S. 1) Eine Methode der empirischen Sozialforschung beschreibt den Ab‐ lauf eines Forschungsprojekts, Messtheorie und Skalierungsverfahren, Auswahlverfahren und schließlich die Datenerhebung, Datenerfassung und Datenauswertung sowie die Publikation der Ergebnisse. Ein Beispiel für eine Methode ist eine schriftliche Befragung von Gästen auf einem Kreuzfahrtschiff. Instrumente sind standardisierte Elemente einer Methode, z.B. der bei einer schriftlichen Befragung eingesetzte Fragebogen. Es ist also wünschenswert, dass Entwicklung, Anwendung und Vermittlung von Methodenwissen im Bereich der Tourismussoziologie ein stärkeres Gewicht bekommen. Ein Schritt in diese Richtung ist der vom AKTF initiierte Quality Circle ( 🔗 https: / / www.ak-tourismusforschung.org).. Die in der Soziologie eingesetzten Methoden reichen von Typologien und Vergleichen über Beobachtungen, Befragungen und Inhaltsanalysen bis zur Analyse des Müllaufkommens in Urlaubsorten. Neuerdings kommen Verfahren aus dem Bereich Big Data hinzu. Wissen │ Big Data Bei Big Data handelt es sich um große Datenmengen, die u.a. im In‐ ternet, bei Mobilfunkanbietern, Kreditkartenfirmen, Energieunterneh‐ men anfallen. Diese können genutzt werden, um Aussagen über das Verhalten von Menschen zu formulieren. Kritisch ist der Umgang mit personenbezogenen Daten sowie die Analyse des Verhaltens ohne Kenntnisnahme der entsprechenden Personen. Die Datenmengen kön‐ nen automatisiert ausgewertet werden. Neben Zahlenmaterial ist zu‐ nehmend eine automatisierte Auswertung von Bild-, Video- und Texten möglich. Bei empirischen Methoden stehen häufig die Erhebung und Auswertung von Daten im Vordergrund. Die Bedeutung der empirischen Sozialforschung für die Soziologie kommt u.a. dadurch zum Ausdruck, dass sie als dritter gro‐ ßer Bereich neben der Allgemeinen Soziologie und der Speziellen Soziologie gilt. Wie oben beschrieben, sind Daten die Grundlage für die Überprüfung, Entwicklung und Modifizierung von Theorien. 98 2 Entwicklung der Tourismussoziologie <?page no="99"?> Primärdaten werden über Befragungen, Beobachtungen oder nicht-re‐ aktive Verfahren neu erhoben. Sekundärdaten liegen in Form von Fremdenverkehrsstatistiken, wirtschaftlichen Kennzahlen, Erhebungen zum Konsumverhalten und Auswertungen von Einzelfallstudien bereits vor und werden weiterverwendet. Die Kombination quantitativer (standardisierter, kontrollierbarer und statistisch auswertbarer) und qualitativer (interpretativer) Methoden ist in vielen Fällen erforderlich, da nur auf diese Weise ein angemessenes Ver‐ ständnis gesellschaftlicher Themen erreicht werden kann. Beispielsweise kann die Einzelfallstudie in Form einer teilnehmenden Beobachtung der Reise einer Gruppe alleinreisende Frauen genutzt werden, um Aussagen über Motive und Interessen alleinreisender Frauen zu formulieren. Diese können dann in einen Fragebogen überführt und in einer repräsentativen Stichprobe angewendet sowie die Daten statistisch ausgewertet werden. Nachfolgend werden einige Methoden vorgestellt, die häufig in touris‐ mussoziologischen Studien eingesetzt werden. Die Untersuchungen stellen folgende Aspekte in den Vordergrund: [1] Tourismus und Verhalten: Wie und warum reisen Menschen? Wie informieren sie sich und wie entscheiden sie? Wie verhalten sie sich im Zielgebiet? [2] Mitarbeitende im Tourismus: Welche Besonderheiten gibt es, wenn Menschen im Tourismus arbeiten? Wie hängen Rollenerwartungen und Verhalten zusammen? [3] Destination und Einheimische: Welche Auswirkungen hat der Tourismus auf die Destination und auf Einheimische? Wie gehen Einheimische mit Veränderungen, die sich aus dem Tourismus ergeben, um? Wie verändern sich »besuchte« Gemeinschaften? [4] Gesellschaft: Welche Zusammenhänge existieren zwischen gesell‐ schaftlichen Zuständen und Tourismus? Die ersten empirischen tourismussoziologischen Arbeiten entstanden zwi‐ schen 1960 und 1970. Nuñez (1963) untersuchte Wochenendurlaub in einem mexikanischen Dorf und Forster (1964) analysierte die Konsequenzen des Tourismus für die Struktur der Arbeit auf Inseln im Pazifik. 2.3 Methoden der Tourismussoziologie 99 <?page no="100"?> Tipp │ Datenbanken und Journals Wenn Sie nach einem Thema für eine wissenschaftliche Arbeit suchen und nicht wissen, wie Sie eines finden bzw. wie Sie dieses wissenschaft‐ lich erarbeiten, empfiehlt sich eine Recherche in Datenbanken wie EBSCO, Science Direct, Ingenta oder Emerald. Über diese erhalten Sie Zugriff auf wissenschaftliche Journals wie Anatolia, Annals of Tourism Research, International Journal of Tourism Research, Journal of Destina‐ tion Marketing & Management, Journal of Hospitality & Tourism Research, Journal of Sustainable Tourism, Journal of Tourism and Cultural Change. Schon als Studierende können Sie Mitglied bei Academia und Research Gate werden. Schauen Sie sich vor allem an, wie der theoretische Ansatz empirisch umgesetzt wird und wie die Ergebnisse interpretiert werden. Nachfolgend werden in den einzelnen Abschnitten wiederkehrende For‐ schungsansätze vorgestellt. Diese folgen nicht der üblichen Unterscheidung nach Forschungsdesign, Untersuchungsform oder Datenerhebungstechnik. Vielmehr sind es Querschnittsthemen, die typische tourismussoziologische Herangehensweisen abbilden. 2.3.1 Typologien und Klassifikationen Eine Typologie ist ein methodisches Hilfsmittel, das reale Erscheinungen ordnet und dadurch überschaubar macht. Das wesentliche Merkmal dieser Erscheinungen wird als Unterscheidungskriterium genommen. Eine Klassifikation ist ebenfalls eine Methode, zur Einteilung von Objekten in Klassen. Die Kriterien müssen in Ergänzung zu Typologien eindeutig, ausschließlich und vollständig sein. In tourismussoziologischen Arbeiten kommen vor allem Typologien zum Einsatz, da die geforderte Eindeutigkeit von Klassen nicht erreicht werden kann. Typologien sind eine Möglichkeit, um Merkmale herauszuar‐ beiten und zu betonen. Grundlage dafür sind Annahmen über wesentliche Merkmale der zu typisierenden Objekte. Diese Annahmen prägen und leiten das weitere Vorgehen. Wird beispielsweise angenommen, dass das Buchungsverhalten das gesamte Reiseverhalten maßgeblich beeinflusst, kann eine Einteilung in online und nicht-online buchende Personen vorge‐ nommen werden. 100 2 Entwicklung der Tourismussoziologie <?page no="101"?> Besonders häufig finden sich Tourist: innentypologien oder Typologien touristischen Verhaltens, z.B. Cohens Unterscheidung in Drifter, Explorer, individualisierten und organisierten Massentourist: innen sowie die fünf Ty‐ pen touristischer Erfahrung (→ Kapitel 2.2.8). Merkmale dieser Typologien sind das Verhältnis von Bekanntheit und Fremdartigkeit sowie das Konzept der Authentizität. Tourist: innentypologien beziehen sich wie bei Cohen auf Tourist: innen allgemein oder auf einzelne Bereiche wie Wein-, Food- und Gesundheitstou‐ rist: innen. Tourist: innentypologien können als Anwendung von Webers Idealtypen (→ Kapitel 2.1.1.) verstanden werden. Boorstin (→ Kapitel 2.2.4), MacCan‐ nell (→ Kapitel 2.2.5), Turner und Cohen (→ Kapitel 2.2.8) versuchen, durch eine qualitative Beschreibung touristischen Verhaltens zu Erkenntnissen zu gelangen. Die Grundlage für die Beschreibung und die Erstellung von Typologien sind zumeist Menschen eines Landes, z.B. die US-amerikani‐ sche Mittelschicht bei Boorstin, oder das Verhalten von Tourist: innen in ausgewählten Destinationen, z.B. Spanien (Pi-Sunyer, 1977), Israel (Cohen, 1971) oder Paris (MacCannell, 1976). Im Medizintourismus finden sich Typologien, die eine Unterscheidung nach Schwere der Erkrankung oder Motiv vornehmen (Heuwinkel, 2015). Zusammenfassend helfen Typologien dabei, einen Bereich zu strukturie‐ ren und Merkmale zu betonen. Die Struktur folgt Annahmen darüber, was wesentliche Merkmale des Tourismus resp. des touristischen Verhaltens sind. Um diese Annahme und weitere Zusammenhänge zu untersuchen, sind empirische Untersuchungen erforderlich. Cohen hat seine Typologien mehrfach in empirische Forschung überführt. Pearce (1982) und Moscardo (1986) haben die auf MacCannell zurückgehende Typologie des tourism space ergänzt und empirisch untersucht (→ Kapitel 2.2.5). Erkenntnisse der Konsumierendenforschung fließen in die datenba‐ sierte Typenbildung ein. In der allgemeinen Tourismusforschung werden multidimensionale Ur‐ lauber: innentypologie konstruiert, um im Anschluss feinsegmentierte und zielgruppenspezifische Angebote zu entwickeln. Es werden Instrumente aus der allgemeinen Konsumierendenforschung, wie Sinus-Milieus® (Sinus-In‐ stitut) genutzt. 2.3 Methoden der Tourismussoziologie 101 <?page no="102"?> 2.3.2 Vergleich Typologien und Klassifikation sind Grundlage für die Methode des Ver‐ gleichs. Beim Vergleich werden entweder möglichst ähnliche Aspekte in unterschiedlichen Kontexten (Konkordanzmethode) oder verschiedene Aspekte im ähnlichen Kontext (Differenzmethode) betrachtet. Zitat »Such a typology was intended not only to qualify the widely dissemina‐ ted stereotype of the tourist, but also to create the basis for a comparative study of tourism.« (Cohen, 1988, S. 32). Beispielsweise kann das Verhalten von Tourist: innen aus unterschiedlichen Ländern, die in dieselbe Destination reisen, miteinander verglichen werden (Differenzmethode). Diese Herangehensweise ist vor allem in anthropolo‐ gischen Studien zu finden. Unterschiedliche Verhaltensweisen im Zielgebiet können auf kulturelle Unterschiede zurückgeführt werden. Weiterhin ist es möglich, Entwicklungen und Veränderungen sowohl im zeitlichen als auch geografischen Vergleich zu untersuchen. Beispielsweise kann das Reisever‐ halten deutscher Familien in den 1970er-Jahren mit dem aktuellen Reisever‐ halten deutscher Familien verglichen werden (Konkordanzmethode). Turner (1970) hat den Begriff der »Vergleichende Symbologie« geprägt. Innerhalb eines sozioökonomischen und politischen Rahmens werden ge‐ sellschaftliche Zustände und menschliche Verhaltensweisen als Symbole für tieferliegende Strukturen gedeutet. Nach Turner können Tourist: innen als liminale Personen bzw. Tourismus als liminale Phase, die existentiell für das Leben ist, beschrieben werden (→ Kapitel 3.10 Rituale). Das Spielerische ist ein zentrales Merkmal des touristischen Verhaltens und es kommt zur Umkehrung kultureller Muster. Wagner (1977) hat dieses am Beispiel von schwedischen Tourist: innen in Gambia, Moore (1980) am Beispiel von Disney World und Lett (1983) in Bezug auf US-amerikanische Yachtcharter-Tou‐ rist: innen erforscht. Die detaillierten Beschreibungen ermöglichen einen systematischen Vergleich der touristischen Bedürfnisse und Erfahrungen, der strukturellen Merkmale des touristischen Raums und der im Tourismus sichtbar werdenden kulturellen Symbole. Der komparative Ansatz wird ebenfalls angewendet, um die Auswir‐ kungen des Tourismus auf Destinationen zu analysieren und Erklärungen für Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede zu finden. Welche Bedeutung hat 102 2 Entwicklung der Tourismussoziologie <?page no="103"?> es beispielsweise, ob es sich um eine kleine oder eine große, eine ländliche oder urbane Destination handelt? Wie kann erklärt werden, dass sich einige Destinationen erfolgreich gegen negative Effekte des Tourismus wehren und andere davon überrollt werden? Schließlich ermöglichen die Veränderungen hinsichtlich der großen Quellmärkte großangelegte Vergleiche. Nachdem diese lange Zeit westlich dominiert waren, gewinnen vor allem asiatische Länder an Bedeutung, da dort die Mittelschicht zu reisen beginnt. Wie reisen diese Menschen im Vergleich zu Europäer: innen? Wie interagieren sie mit Einheimischen und welche Auswirkungen hat Tourismus auf Länder, die lange bisher nicht - oder nur im Rahmen von Geschäftsreisen - bereist wurden? Wie verändert sich die deutsche Gesellschaft, wenn von ihnen das authentische deutsche Leben mit Lederhosen, Bier und Dirndl erwartet wird. Wieso waren die Proteste gegen Overtourism in Barcelona intensiver als in Paris? 2.3.3 Beobachtungen Die Beobachtung ist neben Befragung, Inhaltsanalyse und den nicht-reak‐ tiven Verfahren eine der zentralen Datenerhebungstechniken. Menschen beobachten einander im Alltag und ziehen aus diesen Beobachtungen Schlüsse. Damit aus der alltäglichen Beobachtung eine wissenschaftliche Methode wird, muss diese geplant, systematisch und kontrolliert entlang definierter Regeln verlaufen. Dadurch sollen voreilige, subjektive und wer‐ tende Tendenzen vermieden werden. Eine Schwierigkeit besteht darin, dass die alltägliche Beobachtung auf Merkwürdigkeiten fokussiert, während die wissenschaftliche Beobachtung solche als Abweichungen betrachten und nicht berücksichtigen soll. Während der Durchführung einer wissenschaftlichen Beobachtung wer‐ den Handlungen oder Elemente von Handlungen auf Basis von Beobach‐ tungssystemen codiert. Grundlage für diese Systeme sind Annahmen über Handlungsfolgen ausgehend von Theorien. Beispielsweise können ausge‐ hend von Theorien über die Rolle von Reiseleiter: innen mögliche Verhal‐ tensweisen resp. Kategorien von Verhaltensweisen der Reiseführer: innen im Umgang mit Gästen festgelegt werden. Während der Beobachtung wird vermerkt, wie häufig ein entsprechendes Verhalten ausgeführt wird. Neben der eingangs beschriebenen Schwierigkeit der auf Allgemeinhei‐ ten und nicht Besonderheiten fokussierenden Beobachtung besteht eine Herausforderung bei der Beobachtung darin, vom beobachtenden Verhal‐ ten richtig auf einen Sachverhalt zu schließen. Wenn eine Reiseleiter: in 2.3 Methoden der Tourismussoziologie 103 <?page no="104"?> einen Gast die Hand auf die Schulter legt, kann dieses als freundlichen Geste oder auch als Flirt interpretiert werden. Weiterhin variieren die Ausdrucksformen in Abhängigkeit von Kultur, Alter und Gender. Schließlich beeinflusst die Anwesenheit der beobachtenden Person das Handeln von Menschen. Eine Ausnahme ist die verdeckte Beobachtung, die allerdings wissenschaftsethische Fragen aufwirft, da Menschen nicht ungefragt Teil eines wissenschaftlichen Studien sein dürfen. Eine Stärke der Beobachtung besteht darin, dass Abweichungen zwischen Einstellungen und tatsächlichem Verhalten aufgedeckt werden können. Das ist vor allem dann der Fall, wenn über Verhalten gesprochen wird, das sozial erwünscht aber mit Mühe verbunden ist, beispielsweise die Mitnahme des Mülls nach einem Tag am Strand. Bei einer Befragung werden die meisten Menschen angeben, dass sie ihren Müll fachgerecht entsorgen oder mit zurücknehmen. Ein Blick auf den Strand am Abend zeigt ein anderes Verhalten. 2.3.4 Repräsentative Befragungen Um Aufschluss über das tatsächliche und zukünftige Reiserverhalten zu er‐ halten, werden repräsentative Befragungen durchgeführt. Dieses erfolgt zumeist in Form von Stichprobenerhebungen, die sich auf eine Grundge‐ samtheit richtet, z.B. die ReiseAnalyse für die deutsche Nachfrage nach Urlaubs- und Kurzurlaubsreisen. Das Verhalten von Tourist: innen ist ein Bereich, der regelmäßig zum Gegenstand großangelegter Studien wird. Motiviert ist dieses durch die Annahme, dass das Wissen über Bedürfnisse, Interessen und Verhalten der Konsumierenden genutzt werden kann, um Produkte und Dienstleistungen auf eine bessere Art und Weise zu gestalten, zu präsentieren und zu verkaufen. Aus betriebswirtschaftlicher Sicht besteht ein großes Interesse an den Gründen, warum Menschen verreisen, und daran, wann, wohin und wie sie verreisen. Erkenntnisse über die Motive erlauben eine verbesserte Produkt- und Servicegestaltung bzw. eine Anpassung der Marketing‐ strategien. Weiterhin wird untersucht, wie sich Menschen informieren, wie sie Entscheidungen treffen, wie sie eine Reise organisieren und was die Zufriedenheit beeinflusst. Schließlich können spezielle Themen untersucht werden, beispielsweise die Bedeutung von barrierefreien oder nachhaltigen Angeboten. 104 2 Entwicklung der Tourismussoziologie <?page no="105"?> Wissen-│-Skalen Eine umfassende Sammlung von Skalen für die Tourismuswissenschaft bieten Gursoy et al. (2015). Die Skalen sind u. a. in die Kategorien Motivation, Wahrnehmung der Einheimischen, Image, Verhalten von Tourist: innen und Zufriedenheit eingeordnet. Methoden, die in diesem Umfeld eingesetzt werden, sind die Erhebung von Primärdaten mithilfe von standardisierten Instrumenten, z.B. persönliche oder onlinegestützte Befragungen, oder die Analyse von Sekundärdaten, z.B. Statistiken von Fremdenverkehrseinrichtungen. Digitale Spuren auf Buchungsplattformen, Bewertungsportalen oder auch die Bewegungsmus‐ ter von Mobiltelefonen bieten neue Möglichkeiten (vgl. Big Data). Der tatsächliche Erkenntnisgewinn, der sich aus repräsentativen Be‐ fragungen für die Tourismussoziologie ergibt, basiert auf korrekten An‐ nahmen über die erhobenen Sachverhalte. Ein Kritikpunkt resultiert aus der Schwierigkeit, menschliches Verhalten hinsichtlich der Motive zu erfor‐ schen. Viele Menschen wissen nicht bzw. können nicht beschreiben, warum sie etwas getan haben. Ebenfalls nehmen sie sich selbst und ihr Verhalten an‐ ders wahr oder sie verdrängen solche Verhaltensweisen, die nicht respektiert werden, aus ihrer Erinnerung bzw. machen dazu keine Angaben. Gleiches gilt für die Aussagen hinsichtlich des zukünftigen Verhaltens. Wissen-│-Reisemotive Die Reisemotivforschung untersucht, warum Menschen das gewohnte Umfeld für eine gewisse Zeit verlassen und welche Erwartungen da‐ mit verbunden sind. Relevant sind sowohl explizite als auch implizite Wünsche und Bedürfnisse wie beispielsweise Neugier, der Wunsch nach Abwechslung oder die Suche nach persönlicher Bestätigung. Ausgehend von der Persönlichkeits- und Motivationspsychologie kön‐ nen Merkmale definiert und analysiert werden, die einen Einfluss auf die Wahl einer Destination, das Transportmittel, Aktivitäten in der Destination oder die Urlaubsform haben. Menschen mit ähnlichen Merkmalsausprägungen könnten zu Typen (Cluster) zusammengefasst werden, die Grundlage für Typologien sind. (Quelle: Heuwinkel, 2021c) Zu den Repräsentativuntersuchungen, die sich auf das Reiseverhalten be‐ ziehen, gehören neben der oben genannten ReiseAnalyse (Forschungsge‐ 2.3 Methoden der Tourismussoziologie 105 <?page no="106"?> meinschaft Urlaub und Reisen e.V.), die Tourismusanalyse (BAT-Stiftung für Zukunftsfragen) und der World Travel Monitor (IPK International). Weitere Studien beziehen sich auf Segmente, z.B. der ADAC Reise-Monitor auf ADAC-Mitglieder. 2.3.5 Einzelfallansatz: Reisebiografien Biografieforschung versucht, Lebensläufe zu rekonstruieren. Auf Basis von Erzählungen, Dokumenten, Akten und Interviews werden Lebensläufe nachgezeichnet. Es werden Ereignisse herausgearbeitet, die wesentlich für die Konstruktion und Ausgestaltung eines Lebens waren. Im Mittelpunkt der Untersuchungen stehen die Lebenswelten von Menschen, der Alltag und die Wahrnehmungen und Deutungen von Akteuren. Die selbsterfundene biografische Identität (→ Kapitel 3.13) kann auf diese Weise untersucht werden. Biografieforschung als Einzelfall-Ansatz setzt unterschiedliche Methoden ein. Kritik richtet sich häufig darauf, dass sich der »tatsächliche« Lebenslauf und der wahrgenommene Lebenslauf unterscheiden. Tipp-│-Die Touristin Wanda Frisch Gerlinde Irmscher (2020) stellt die Reisen und Reiseaufzeichnungen der Touristin Wanda Frisch in das Zentrum ihres Buches. Auf diese Weise zeigt sie exemplarisch die individuelle und gesellschaftlich bedingte Praxis des Reisens einer Generation, die jährlich verreisen konnte. Irmscher macht darüber hinaus deutlich, dass die Betrachtung reisender Frauen lange Zeit vernachlässigt wurde und nur aus männlicher Sicht erfolgte. Vor dem Hintergrund einer lückenhaften und stereotypen Her‐ angehensweise fordert sie eine »Geschlechtergeschichte des Reisens«. Neben der inhaltlichen Relevanz des Buches ist es ein sehr gutes Beispiel für die selten zu findende Methode der Biografieforschung. Auf der Webseite der Sektion Biographieforschung in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie findet sich neben Veranstaltungshinweisen eine Leseliste. Diese umfasst neben Einführungen in die Biographiefor‐ schung, auch klassische Arbeiten und bereichsspezifische Analysen. 🔗 https: / / soziologie.de/ sektionen/ portrait Einige Studien betonen den biografischen Hintergrund des Reisens so wie der Ansatz der Reisekarriere (Pearce, 1993). Forschungsfragen richten sich 106 2 Entwicklung der Tourismussoziologie <?page no="107"?> auf die Bedeutung der Kindheit auf das spätere Reiseverhalten, auf den Einfluss der Lebenssituation auf das Verhalten und die Bedeutung von Brü‐ chen in Lebensläufen. Becker hat 1992 in einer Pilotstudie das lebenslange Urlaubsreiseverhalten untersucht. 2.3.6 Expert: inneninterviews Repräsentative Befragungen und die Reisebiografieforschung setzen metho‐ disch bei Tourist: innen an. Daten werden dadurch generiert, dass diese und ihr Verhalten direkt oder indirekt befragt oder beobachtet werden. Eine ergänzende Herangehensweise ist die Nutzung von Expert: innenwissen. Bei Expert: inneninterviews werden mit einer kleinen Anzahl von Personen mit einem umfassenden Wissens- und Erfahrungsstand Gespräche geführt. Die Personen stehen stellvertretend für eine Personengruppe. Die Befra‐ gung folgt zumeist einem Leitfaden und soll möglichst detailliert sein. Zu Expert: innen im Tourismus zählen Personen in Leitungsfunktionen von touristischen Unternehmen und Dienstleistern, forschende Personen sowie »Vielreisende«. Als Ergebnis der Expert: inneninterviews liegen Protokolle, Mitschriften oder Transkriptionen der Gespräche vor. Aus diesen Texten müssen dann Daten, bspw. mit inhaltsanalytischen Verfahren, gewonnen werden. Oft steht die Erkennung von Trends sowie die Formulierung von Meinungen und Ansichten im Vordergrund. Diese können dann in weiteren Studien untersucht werden. Ein besonderes Verfahren ist die Delphi-Metho‐ den. Bei diesem wird Expert: innenwissen erhoben und zusammengeführt. Diese Zusammenfassung wird anschließend erneut mit den Personen abge‐ stimmt. Tipp-│-Qualitative Methoden Wer sich intensiver mit qualitativen Methoden der Datenerhebung, -aufbereitung und -auswertung beschäftigen möchte, liest am bes‐ ten Mayring (2016). In diesem Buch werden als Untersuchungspläne (Forschungsdesign) u. a. die Einzelfallanalyse, Dokumentenanalyse, Handlungsforschung, Feldforschung und qualitative Experimente sys‐ tematisch und anschaulich beschrieben. Mayring stellt als Erhebungs‐ verfahren u. a. das Problemzentrierte Interview, das Narrative Interview, die Gruppendiskussion, sowie Beobachtungsmethoden vor. Die qualita‐ tive Auswertung fokussiert auf inhaltsanalytische Verfahren (vgl. dazu Mayring, 2022). 2.3 Methoden der Tourismussoziologie 107 <?page no="108"?> Speziell für die Anwendung qualitativer Methoden im Tourismus: Hill‐ man & Radel (2018). Qualitative Methods in Tourism Research: Theory and Practice. Channel View Publications. 2.3.7 Inhaltsanalysen Im Tourismus können die Inhalte (Texte, Audio, Video, Bilddateien) sowohl von öffentlichen als auch von privaten Dokumenten analysiert werden. Zu den öffentlichen gehören Zeitschriftenbeiträge, Reiseliteratur, Werbema‐ terial (Flyer, Broschüren, Plakate) und in den letzten Jahren zunehmend digitale Formate, wie Blogs, Facebook-Seiten, Instagram und TikTok. Private Dokumente sind Fotografien, Postkarten und Reisetagebücher sowie private digitale Beiträge in den sozialen Medien. Es gibt verschiedene Formen der Inhaltsanalyse, die jeweils auf unter‐ schiedlichen Annahmen über Gesellschaft, Kommunikation und die Mög‐ lichkeit des Verstehens beruhen (Mayring, 2022). Bei der quantitativen In‐ haltsanalyse wird Material geordnet und die Häufigkeit des Vorkommens von Begriffen oder auch Symbolen erfasst und verglichen. Beispielsweise kann untersucht werden, wie oft der Begriff Schönheitsoperation im Zu‐ sammenhang mit Medizintourismus verwendet wird. Bei der qualitativen Inhaltsanalyse werden die Forschungsthemen aus dem Material heraus entwickelt. Beispielsweise kann untersucht werden, welche gesellschaftli‐ chen Probleme im Zusammenhang mit Prostitutionstourismus erwähnt werden. Es kann ebenfalls erforscht werden, welche Werte, Normen und Rollen in Zusammenhang mit speziellen Reiseformen verbunden sind. Pearce (1981) analysierte anhand von Tagebüchern, wie sich Einstellungen von Reisenden in den Eintragungen finden und wie sich diese im Laufe der Reise ändern. Aktuelle Beispiele finden sich im Journal of Qualitative Research in Tourism. Große Potenziale zur Analyse von Inhalten ergeben sich aus der compu‐ tergestützten Analyse von Beiträgen in den sozialen Medien (→ Kapitel 2.3.10). Damit kann beispielsweise untersucht werden, wie ältere Menschen bei Reisen dargestellt werden (Heuwinkel, 2021b). Ein weiteres Thema ist die Inszenierung des reisenden Selbst. 108 2 Entwicklung der Tourismussoziologie <?page no="109"?> 22 Vgl. zu diesem und anderen nicht-reaktiven Indikatoren Schnell, Hill & Esser, 2011, S. 404 ff. 2.3.8 Fallstudien Bei der Einzelfallstudie handelt es sich nicht um eine spezielle Methode, sondern um einen Untersuchungsplan (Forschungsdesign), der ausgehend von einem Fall Aussagen formulieren will. Diese Aussagen können für Vergleiche mit anderen Einzelfällen oder als Grundlage für die Formulierung allgemeiner Regeln genutzt werden. Sowohl einzelne Destinationen (z.B. Bali, Mallorca oder auch ein Frei‐ zeitpark), Typen von Destinationen (z.B. Städte oder Inseln), Völker und Kulturen oder auch kulturelle Praktiken und touristisches Verhalten können Gegenstand von Einzelfallstudien sein. Bei dem Großteil der tourismussoziologischen Forschung handelt es sich um Einzelfallstudien. Zur Anwendung kommen ausgehend von unter‐ schiedlichen theoretischen Konzepten sowohl Befragungen und Beobach‐ tungen als auch nicht-reaktive Messverfahren. Eine Metaanalyse der bislang behandelten tourismussoziologischen The‐ men, der verwendeten Theorie sowie der eingesetzten Methode könnte ein wichtiger Schritt in Richtung der Etablierung einer eigenständigen tourismussoziologischen Disziplin sein. 2.3.9 Spurensuche Touristische Handlungen hinterlassen Spuren, die untersucht werden kön‐ nen. Diese Spuren reichen von tatsächlichen Spuren in Form von Trampel‐ pfaden über Veränderungen der Architektur einer Stadt bis zu Müllbergen am Strand nach einem sonnigen Tag. Etwas seltsam mutet die Analyse der Nasenabdrücke auf den Glasscheiben von Ausstellungsvitrinen als Indikator für die Beliebtheit der Exponate (Schnell, Hill & Esser, 2011, S. 405) an. 22 Das Annäherungsverhalten gegenüber dem Objekt wird als Einstellungsindika‐ tor - in diesem Fall - Interesse verwendet. Grundlage für die Deutung der Spuren sind somit Hypothesen über menschliches Verhalten. 2.3.10 E-Methoden: Onlinebefragung und Netnografie Das Internet bietet zahlreiche Ansätze, um das Verhalten von Menschen zu beobachten und zu analysieren. Menschen hinterlassen bewusst und unbe‐ wusst Spuren, wenn sie Inhalte auf Websites, in Foren und Blogs nutzen, 2.3 Methoden der Tourismussoziologie 109 <?page no="110"?> Buchungen durchführen, E-Mails schreiben oder Beiträge in den sozialen Medien posten. Ein Sammelbegriff für diese Form der Datensammlung ist Netnografie. Auch können Onlinebefragungen durchgeführt werden, um Daten gezielt für ein Vorhaben zu erheben. Ein zentrales Instrument ist dabei der schrift‐ liche Fragebogen. Wissen │ Netnografie Der Begriff Netnografie leitet sich ursprünglich von dem Begriff Ethnografie ab und nimmt direkt Bezug auf die dort verwendeten qua‐ litativen Methoden. Im Mittelpunkt steht die Erforschung menschlichen Verhaltens und Handelns in einem virtuellen Umfeld, das als natural setting gesehen wird. Inhaltsanalyse, historische Analyse, Semiotik, Hermeneutik und narrative Analysen sind wichtige Techniken. Sowohl teilnehmende als auch nicht-teilnehmende Untersuchungsansätze sind möglich. Netnografie wird als Begriff zunehmend generell für die Analyse von Nutzerverhalten in den sozialen Medien benutzt. Qualitative Techniken werden um quantitative Techniken ergänzt. Literatur Kozinets, R. (2010). Netnography: Doing Ethnographic Research Online. Lon‐ don: Sage. Lupton, D. (2014). Digital sociology. London: Routledge. Snee, H., Hine, C., Morey, Y., Roberts, S., & Watson, H. (Eds.). (2016). Digital methods for social science: An interdisciplinary guide to research innovation. London: Palgrave Macmillan. Die Datensammlung online hat den Vorteil, dass sehr schnell der Zugriff auf große Datenmengen orts- und zeitunabhängig erfolgen kann. Das virtuelle Umfeld wird als natürliches und von den Forschenden nicht beeinflusster Bereich beschrieben. Somit kann eine Beobachtung (→ Kapitel 2.3.3) stattfinden, ohne dass die beobachteten Elemente dieses bemerken (die damit verbundenen ethischen Fragen müssen ebenfalls diskutiert werden). Schwierigkeiten ergeben sich aus der nicht repräsentativen Stichprobe, da die E-Bevölkerung nicht der Bevölkerung entspricht. Weitere Diskussionen 110 2 Entwicklung der Tourismussoziologie <?page no="111"?> drehen sich um gefälschte Identitäten und Verzerrungen von Aussagen aufgrund von sozialer Erwünschtheit. Zwischenfazit Die Vorstellung der in tourismussoziologischen Arbeiten häufig ein‐ gesetzten Methoden zeigt deutlich, dass es zwar wiederkehrende Un‐ tersuchungsdesigns, aber kein standardisiertes Vorgehen gibt. Die Me‐ thodenvielzahl kompliziert die Replizierbarkeit und Überprüfbarkeit der einzelnen Ergebnisse. Aufwändige Methoden, wie die Biografiefor‐ schung, werden kaum angewendet, während die konsumfokussierten Ansätze dominieren. Die Fülle theoretischer Annahmen könnte redu‐ ziert werden, wenn diese enger mit empirischen Arbeiten verbunden wären. 2.3 Methoden der Tourismussoziologie 111 <?page no="113"?> 3 Soziologische Zugänge Eine Analyse der tourismussoziologischen Arbeiten zeigte neben zentralen Themen auch die Nutzung soziologischer Begriffe und Konzepte. In diesem Kapitel werden grundlegende soziologische Konzepte vorgestellt und in Bezug zu tourismussoziologischen Themen gesetzt. Somit dreht sich die Perspektive im Vergleich zu → Kapitel 2: Es wird aus der Soziologie heraus in den Tourismus geblickt. Im Vordergrund stehen solche Begriffe, die durch vorherige Analysen aufgedeckt wurden. Ziel der Darstellungen ist die Schaffung eines Zugangs zum Themenfeld und keine in die Tiefe reichende Abhandlung. Der Gegenstandsbereich der Soziologie ist das soziale Handeln im Sinne Webers (→ Kapitel 2.1.1).. Dieses schließt den Zusammenhang von Hand‐ lungen sowie Bedingungen und Wirkungen von Handlungen ein. Das Wechselspiel und die gegenseitige Bedingtheit von sozialem Handeln und Strukturen ist somit der Gegenstand der Soziologie. Dieses Wechselspiel kann aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden. So kann erstens die Gesellschaft verstanden als Gesamtheit aller Strukturen in den Mittelpunkt der Betrachtungen gestellt werden. Ein Ver‐ treter dieser makroperspektivischen Betrachtung ist Durkheim (→-Kapitel 2.1.3). Wichtige tourismussoziologische Themen sind der Übergang von der traditionellen zur modernen Gesellschaft und in dem Zusammenhang die Veränderungen des Tourismus sowie die Ausdifferenzierung von Teilsyste‐ men mit einer Analyse der Funktionen des Tourismus für die Gesellschaft. Diese Sicht ist stark von funktionalistischen und systemtheoretischen An‐ sätzen geprägt. Es wird untersucht, wie soziale Strukturen das Handeln prägen. Wissen │ Funktionalismus und Systemtheorie Sowohl Funktionalismus als auch Systemtheorie gehen von der Gesell‐ schaft als etwas Ganzem aus, das in Analogie zu biologischen Systemen überleben »will« und deswegen stabil gehalten werden muss. Die Aufrechterhaltung ist demnach eine systemimmanente Forderung. Um <?page no="114"?> dieses zu erfüllen, muss das System sich der Umgebung anpassen, Ziele definieren und erreichen, Strukturen aufrechterhalten und neue Elemente integrieren (vgl. dazu Merton, 1968 und Parsons, 2013). Wich‐ tige Konzepte sind Werte, Normen und Rollen (vgl. nächste Abschnitte). Aus funktionalistischer Sicht übernimmt Tourismus (mit Ausnahme des Geschäftstourismus) eine Erholungsfunktion für die Gesellschaft. Die einzelnen Elemente (Menschen) gewinnen im Urlaub neue Kraft und können nach der Rückkehr wieder ihre Aufgabe angemessen überneh‐ men. Dadurch wird die Erreichung der Ziele abgesichert. Darüber hinaus erfolgt eine Integration, wenn Menschen gemeinsam verreisen bzw. ähnliche Erfahrungen wie andere Mitglieder der Gesellschaft erleben. Die mikrosoziologische Betrachtung stellt im Gegensatz zum makrosozio‐ logischen Ansatz die elementaren Formen und Einheiten von Gesellschaften in den Mittelpunkt der Betrachtung. Dieses sind in Abhängigkeit von der jeweiligen Theorie Individuen, Rollen, Institutionen, Akteure oder Handlun‐ gen. Es wird untersucht, wie das Handeln (neue) Strukturen hervorbringt. Übertragen auf den Tourismus fokussiert die mikrosoziologische Betrach‐ tung auf Reisende, Dienstleistende, Einheimische und weitere Involvierte. Gründe, die zum Reisen führen, Motive sowie Reiseentscheidungen sind wichtige Untersuchungsgegenstände. Wichtig ist darüber hinaus, wie die Summe individueller Handlungen auf größere Zusammenhänge wirkt oder welche Paradoxien aus Einzelhandlungen resultieren. Ein Beispiel für letz‐ teres ist die Überfüllung von einsamen Stränden, weil alle an diese reisen wollen. Beispiel │ Die Explorer Cohens Explorer (→ Kapitel 2.2.8) verändern etablierte touristische Strukturen. Diese entdecken neue Gegenden und motivieren durch ihre Berichte andere Reisende, diese Orte ebenfalls aufzusuchen. Aus der massenhaften Nachahmung eines veränderten Reiseverhalten entsteht eine neue Form des Reisens. Sowohl die makroals auch die mikrosoziologische Perspektive stellen eine einseitige Betrachtung des Wechselspiels von Struktur (makrosoziologisch) und Handeln (mikrosoziologisch) dar. 114 3 Soziologische Zugänge <?page no="115"?> In Ergänzung zu den zuvor genannten Perspektiven kann das Wech‐ selspiel zwischen Struktur und Handeln an sich in den Mittelpunkt der Betrachtungen gestellt werden. Anthony Giddens (1997) hat das Konzept der Dualität von Struktur entwickelt. Strukturen sind sowohl Medium als auch Ergebnis des Handelns. So werden Strukturen durch das Handeln aufgebaut, verändert und gleichgehalten. Andererseits prägen Strukturen das Handeln, indem sie Handlungsmöglichkeiten schaffen und gleichzeitig beschränken. Uwe Schimank (2000) hat in seinen Arbeiten das handelnde Zusammen‐ wirken mehrerer Akteur: innen (Akteurtheorie) und die daraus resultie‐ renden Effekte auf Strukturen weiter analysiert. Er unterscheidet drei Arten von Akteurkonstellationen (Konstellation wechselseitiger Beobachtung, Beeinflussung und Verhandlung) und drei Arten von Strukturen (Deutungs-, Erwartungs- und Konstellationsstrukturen). Die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) (→ Kapitel 3.15) stellt eine Erweiterung dar, da nichtmenschliche Akteure in die Betrachtungen einbe‐ zogen und mit menschlichen Akteuren gleichgestellt werden. 3.1 Soziale Ordnung Eine zentrale soziologische Frage, die bereits Weber und Durkheim stellten, lautet: »Wie ist soziale Ordnung möglich? « bzw. in Simmels (→ Kapitel 2.1.4) Worten: »Wie ist Gesellschaft möglich? « Trotz der Vielzahl und Verschie‐ denartigkeit von Menschen und divergierender Handlungsziele passen die Handlungen von Menschen im Alltag meistens sehr gut zusammen. Auch wenn Menschen sich nicht kennen, sind viele der Handlungen aufeinander abgestimmt und koordiniert. Ebenfalls besteht eine große Übereinstimmung darin, welches Verhalten in einer Situation als angemessen betrachtet wird und welches nicht. Soziales Handeln und soziale Beziehungen sind eingebettet in größere - geordnete - Zusammenhänge. Eine soziale Ordnung resultiert aus und führt zugleich zu Regelmäßigkeiten des Handelns. 3.1 Soziale Ordnung 115 <?page no="116"?> Zitat »[...] in einem typisch gleichartig gemeinten Sinn beim gleichen Han‐ delnden sich wiederholende oder (eventuell auch: zugleich) bei zahlrei‐ chen Handelnden verbreitete Abläufe von Handeln.« (Weber, 1980, S. 14) Es kommt zu Handlungsverdichtungen durch das - nicht notwendigerweise gleichzeitige - Zusammentreffen des Handelns Einzelner mit dem Verhalten anderer. Dies gilt insbesondere bei der Mitgliedschaft in Gruppen (→ Kapitel 3.12) und anderen sozialen Gebilden. Menschen haben die Vorstellung einer Ordnung und gehen davon aus, dass diese eingehalten wird. Es herrscht ein Einverständnis über die Geltung gewisser Dinge (vgl. Werte und Normen). Wie bei der Sprache ist es also nicht allein das massenhafte Zusammentreffen ähnlichen Handelns, sondern die geteilte Orientierung an einer Ordnung, respektive die Erwartung dieser Ordnungsorientierung, die Handeln ermöglicht. Im Laufe der Zeit und mit der Wiederholung des Handelns entwickeln sich Handlungsroutinen (Berger & Luckmann, 1996). Diese haben einen positiven Effekt auf das Handlungswissen und damit auf Handlungssicher‐ heit. Diese rückwärtige Perspektive verweist auf die Bedeutung eigener und durch andere vermittelte Erfahrungen für eine gesteigerte Sicherheit bezüglich des eigenen Handelns. Zitat »Alles menschliche Tun ist dem Gesetz der Gewöhnung unterworfen. Jede Handlung, die man häufig wiederholt, verfestigt sich zu einem Modell, welches unter Einsparung von Kraft reproduziert werden kann und dabei vom Handelnden als Modell aufgefasst werden kann.« (Berger & Luckmann, 1996, S. 56) Das »Gesetz des Wiedersehens« (Luhmann, 2000) ist ein Sicherungsmecha‐ nismus bezüglich der Zukunft, der auf verdichteten Handlungen beruht. Demnach ist das - angenommene - kontinuierliche Aufeinandertreffen und die Fortsetzung der Beziehung eine Grundlage für die Einhaltung der Ordnung und ein den Erwartungen entsprechendes Verhalten. 116 3 Soziologische Zugänge <?page no="117"?> Denkübung-│-Das Gesetz des Nichtwiedersehens Während Luhmann (2000) die Bedeutung des (möglichen) Wiedersehens als zentrales Element des Vertrauens definiert, verweist Simmel in seinen Ausführungen zur Reisebekanntschaft auf die Wichtigkeit der Gelöstheit und der Unwahrscheinlichkeit des Wiedersehens. Erinnern Sie sich an Begegnungen im Urlaub: Haben Sie den Men‐ schen, denen Sie begegnet sind, mehr anvertraut als Freund: innen und Bekannten? Wie viele der Urlaubsbegegnungen sind zu dauerhaften Beziehungen geworden? Die Zeit - oder besser die auf ihr basierenden sozialen Dimensionen des Vergangenen und des Zukünftigen und die damit verbundenen Vorgänge - sind somit eine wichtige Komponente des sozialen Handelns. Die Annahme einer sozialen Ordnung hat eine zweifache Relevanz für den Tourismus. Erstens basiert Tourismus zu einem nicht unerheblichen Maß auf der Möglichkeit, während der Reise mit der sozialen Ordnung und Alltagsroutinen brechen zu können. Der Urlaub bietet eine Gegenwelt, in der keine bzw. andere Normen und Werte (→ Kapitel 3.3) greifen. Theorien des abweichenden Verhaltens (→ Kapitel 3.11) helfen bei einer Erklärung des Verhaltens in dieser Gegenwelt. Zweitens ist Tourismus kein ungeordneter und freier Raum. So lassen sich zahlreiche Ordnungen und Routinen im touristischen Handeln erkennen. Es existieren Handlungsmuster für das Verhalten im Flugzeug, den typischen Tag am Strand oder die Party auf Mallorca. Einige dieser Muster ergeben sich aus den Vorgaben der Tourismuswirtschaft, die geordnete Prozesse hin‐ sichtlich Ort und Zeit benötigt. Zu diesen gehören: Abflugzeiten, Check-in und Check-out, Frühstückzeiten sowie Sitzordnungen. Hinzu kommen so‐ ziale Zwänge, die vorgeben, wie Menschen sich im Urlaub oder auf einer Geschäftsreise zu verhalten haben. Kulturanthropolog: innen erklären dieses Verhalten als funktionales Äquivalent zu Festen (→-Kapitel 3.10). 3.2 System und Logik In der Einleitung des Kapitels wurde bereits darauf eingegangen, dass Strukturen und Systeme, die von diesen Strukturen gebildet werden, in den Mittelpunkt soziologischer Betrachtungen gestellt werden können. Es existieren unterschiedliche Theorien, die versuchen zu erklären, wie 3.2 System und Logik 117 <?page no="118"?> Strukturen entstehen und eine Ordnung bilden, wie sie sich verändern und wie sie unterschiedliche Lebensbereiche (z.B. Wirtschaft, Bildung, Familie, Religion) bilden. Die klassische Systemtheorie nach Talcott Parsons (*1902 †1979) be‐ schreibt Gesellschaft als ein System von interdependenten Elementen und ihren Beziehungen. Interdependenz bedeutet, dass Veränderungen einzelner Elemente auf andere Elemente einwirken und somit den Gesamtzustand des Systems verändern. Veränderungen folgen dem Prinzip der Erhaltung und des Gleichgewichts des Systems. Wesentliche regulierende Elemente innerhalb der Systeme sind Werte und Normen (→-Kapitel 3.3). Die Systemtheorie nach Niklas Luhmann (*1927 †1998) basiert auf der Annahme, dass jedem gesellschaftlichen System eine Struktur zugrunde liegt, die auch in anderen Systemen zu finden ist. Gesellschaftliche Zustände und Probleme lassen sich demnach durch strukturelle, systemimmanente und damit dauerhafte Ursachen erklären. Luhmann führt die Begriffe System und Umwelt ein. Ein System bezieht sich auf sich selbst und stellt sich selbst her (Autopoiesis). Zitat »Kein System kann ja außerhalb der eigenen Grenzen operieren, auch nicht teilweise. Jedes System kann die eigenen Strukturen nur mit eigenen Operationen aktivieren, spezifizieren, wiederaufrufen oder ver‐ gessen. Jedes System kann die eigenen Operationen nur in rekursiver Vernetzung mit eigenen Operationen produzieren und reproduzieren.« (Luhmann, 2006, S. 12) Sozialsysteme finden sich auf unterschiedlichen Ebenen. Auf der höchsten Ebene sind es Gesellschaften. Diese schließen alle sozialen Ereignisse (alle Kommunikationen und Handlungen) ein, die aufeinander Bezug nehmen können. Die Abgrenzung von der Umwelt erfolgt über einen binären Code. Im Rechtssystem ist das Recht und Unrecht. Die Grenzziehung erfolgt aus dem System heraus, indem manche Dinge wahrgenommen werden und andere nicht. Diese selektive Wahrnehmung reduziert Komplexität und erleichtert das Handeln in einer komplexen Welt. Da Systeme unterschiedliche Probleme lösen müssen, bilden sich inner‐ halb des Gesamtsystems Teilsysteme aus. Luhmann spricht von funktio‐ naler Differenzierung. Die Teilsysteme erbringen spezifische Leistungen 118 3 Soziologische Zugänge <?page no="119"?> (Funktionen) für das Gesamtsystem und haben einen eigenen spezifischen Code. Erwartungen und Erwartungserwartungen (was jemand anderes erwartet, was ich erwarte) bilden die Systemstrukturen. Bezogen auf die klassische Systemtheorie kann Tourismus als notwendige systemerhaltende Funktion beschrieben werden. Die Elemente des Systems (Menschen) erholen sich während des Urlaubs und kehren mit neuer Kraft in den Alltag zurück. Dieser Erklärungsansatz kann durch Ergebnisse der Reisemotivforschung belegt werden, da das Motiv »Erholung« vom Alltag von dem Großteil aller Urlaubsreisenden genannt wird. Andererseits weist die Reisemotivforschung auf andere Funktionen hin. Beispiele sind die gemeinsame Zeit mit Familie und Freunden sowie das Interesse am Neuen. Tourismus kann aus der Luhmannschen Perspektive aber auch als Sub‐ system der Wirtschaft mit der Logik Zahlen oder Nichtzahlen beschrieben werden. Vor diesem Hintergrund kann erklärt werden, warum moralische Diskussionen im Zusammenhang mit negativen Folgen für die Umwelt keinen Einfluss auf das Tourismussystem haben. Erst wenn Umweltschädi‐ gungen in monetäre Strafen für Unternehmen und Tourist: innen überführt werden, kann das System dieses verstehen und agieren. Gleiches gilt für das Subsystem des Partytourismus. Die Logik desselben ist darauf gerichtet, so viel Spaß wie möglich zu haben und ansonsten geltende Regeln außer Kraft zu setzen. Wissen │ Niklas Luhmann und Dirk Baecker Niklas Luhmann hat ein umfangreiches Werk hinterlassen. Im Vorder‐ grund sämtlicher Publikationen steht die Entwicklung einer allgemei‐ nen Theorie sozialer Systeme. Der Vorteil dieser Vorgehensweise ist, dass Leser: innen in jedem Werk mit der Luhmannschen Theorie kon‐ frontiert werden. Der nachteilige Effekt ist eben jene Theorielast, die ungeübte Lesende unter Umständen abschreckt. Luhmanns Hauptwerke Soziale Systeme (1984) und Die Gesellschaft der Gesellschaft (1997) um‐ fassen zusammen 1839 Seiten (675 resp. 1164). Relativ kurz hingegen ist das 1994 erschienene Werk Liebe als Passion mit 231 Seiten. Dirk Baecker hat mit Luhmann zusammengearbeitet und publiziert. In Ergänzung zu Luhmann hat Baecker Menschen in die Theorie als vollständige Wesen und nicht nur als psychische Systeme innerhalb von Kommunikationssystemen aufgenommen. In einem Interview im Spiegel spricht Baecker über Tourismus als System. Er betont, dass 3.2 System und Logik 119 <?page no="120"?> Tourist: innen immer als Tourist: innen und nicht als Erkunder: innen, Gutachter: innen oder Weltverbesserer: innen kommunizieren. Nach Luhmann bilden Systeme eine eigene Logik aus. Sie haben spezifische Reaktionsweisen und können nur aus sich heraus erklärt werden. Eine Einwirkung von außen ist demnach nicht möglich oder nur dann möglich, wenn mit der systemeigenen Logik argumentiert wird. Kommunikative Muster geben die Art und Weise vor, wie über Tourismus gesprochen wird. Tourismus ist alles das, was in der Logik des Tourismus beschrieben und kommuniziert werden kann. Wenn auf touristische Erwar‐ tungen geantwortet wird, handelt es sich um Tourismus. Eine zentrale Erwartung des Tourismus ist das Erleben des Authentischen, der Gegenwelt, des echten Lebens. Die Entscheidung darüber, was authen‐ tisch ist, wird innerhalb der touristischen Kommunikation entschieden. Vor diesem Hintergrund kann erklärt werden, wie neue Areale in den Tourismus dadurch aufgenommen werden, dass über sie im Sinne des Tourismus kommuniziert wird und auf touristische Erwartungen reagiert wird. So wurden beispielsweise Übernachtungen auf Bauernhöfen und Weingütern in den Tourismus aufgenommen. Gleiches gilt für Besichtigungen von und Übernachtungen in (ehemaligen) Gefängnissen und Industrieanlagen. Abb. 8: Abb. 8: Street-Art 120 3 Soziologische Zugänge <?page no="121"?> Beispiel │ Township Touren Townships, Slums und Favelas waren lange Zeit Gegenden, die vom Tourismus ausgeschlossen waren. Sie galten als dunkle Seiten einer De‐ stination, die den Tourist: innen nicht gezeigt werden sollten. Seit den 1990er-Jahren ist es »in«, solche Gegenden zu besichtigen. Inzwischen zählt eine Township Tour in Südafrika zum Standardprogramm einer Rundreise. Diese Tour steht neben einer Fotosafari, dem Tag am Strand und einer Weinprobe. Während einer Tour werden beispielsweise ein Kindergarten und eine Ausstellung von Kinderzeichnungen besucht. Die Motive und Effekte dieser Touren sowie der Bereich des Community-based Tourism ist wesentlich komplexer als es scheint, da auch dort eine eigene Logik herrscht (Heuwinkel, 2024). Abb. 8 Abb. 9: Kinderzeichnung, Butterfly Art Projekt, Vrygrond/ Capricorn, Südafrika. (eige‐ nes Foto) 🔗 https: / / www.butterflyartproject.org/ Die Tourismuswirtschaft greift touristische Erwartungen auf und gestaltet touristische Angebote gemäß den erwarteten Erwartungen. Tourist: innen wiederum orientieren sich an diesen Erwartungserwartungen und verhalten sich dementsprechend. 3.2 System und Logik 121 <?page no="122"?> Beispiel │ Destinationen als System Destinationen sind geografische Räume, die Gäste als Reiseziel auswäh‐ len (Freyer, 2011). Es kann sich dabei um ein ganzes Land, eine Region, eine Stadt oder auch nur einen Ferienpark handeln. Wesentlich ist, dass aus Sicht des Gastes alle reisebezogenen Bedürfnisse dort erfüllt werden. Diese variieren im starken Maße in Abhängigkeit von persönlichen Bedürfnissen, Reisemotiven und Art der Reise. Eine Geschäftsfrau, die geschäftlich nach Paris reist, sieht diese Stadt mit anderen Augen als eine Abiturientin, die dort ein Wochenende mit Freunden verbringt. Weitere Einflussfaktoren sind Erfahrungen und Distanz zwischen Wohnort und Destination. Destinationen umfassen sowohl Attraktionen und natürliche Gegeben‐ heiten als auch touristische Infrastrukturen, z.B. Unterkunft, Verpfle‐ gung, Unterhaltung. Destinationen reflektieren im besonderen Maße die Besonderheiten des Tourismus als heterogene Dienstleistungskette mit öffentlichen und privatwirtschaftlichen Akteuren. Sämtliche Elemente, die in das System Destination einbezogen werden, müssen der Logik desselben folgen. Problematisch wird dieses dann, wenn diese Logik der Logik anderer Lebenswelten widerspricht. Ein Bei‐ spiel ist der Medizintourismus, der Elemente des Gesundheitssystems in die touristische Dienstleistungskette integriert (→-Kapitel 4.9). Die systemtheoretische Betrachtung weist auf die Wirkweise der systemimmanenten Logik hin. Darüber hinaus zeigt sie deutlich die wechselseitigen Abhängigkeiten der Elemente. Unter dem Begriff Go‐ vernance wird diskutiert, wie eine Gestaltung und Steuerung einer Destination als System möglich ist (Raich, 2006). Eine besondere kom‐ munikative Herausforderung ist die Markenbildung (Eisenstein, 2018). Die Systemkritiker werden ebenfalls von dem System bedient, indem es alternative Angebote kreiert und somit die Kritiker im System hält. Beispiele für die Alternativen im Tourismus sind naturnahe Urlaubsange‐ bote, nachhaltiger und verantwortungsvoller Tourismus sowie Ökosiegel. Das Kommunikationssystem schließt die kritische Kommunikation ein und diskutiert über sich selbst, beispielsweise unter dem Begriff Overtourism (→-Kapitel 4.4). 122 3 Soziologische Zugänge <?page no="123"?> 3.3 Werte und Normen Eine Vielzahl soziologischer Theorien basiert auf der Annahme, dass eine soziale Ordnung durch geteilte Werte und Normen geschaffen wird. Werte beschreiben gültige, gesellschaftlich und kulturell bedingte Ver‐ haltensweisen und Handlungsmaximen. Sie dienen als Maßstab für das Handeln und beeinflussen die Ausgestaltung des Handelns. Ihre Wirkung reicht über ein konkretes Ereignis hinaus. Da Werte kulturell und sozial be‐ dingt sind, besteht eine Relation zwischen gesellschaftlicher Zugehörigkeit eines Menschen und Werten. Die Wirksamkeit von Werten ist jedoch abhängig von der subjektiv emp‐ fundenen Gültigkeit und dem mit einer Verletzung der Werte verbundenen schlechten Gefühl. Die Überprüfung, ob ein Mensch die Werte internalisiert hat oder nicht, ist kaum möglich. Beispiel │ Werte und Tourismus Tourismus wird im starken Maße durch die in einer Gesellschaft geltenden Werte beeinflusst. Erstens formen Werte wie Freiheit und Freizeit die Grundlage für den Tourismus. So basiert das Recht auf das Reisen auf der Annahme, dass Menschen sich frei innerhalb und außerhalb eines Landes bewegen können. Das Recht auf Erholung bedingt eine Wertschätzung des Menschen. Zweitens ergeben sich aus Werten Erwartungen an den Tourismus. Wenn in einer Gesellschaft Gesundheit und Individualität als wichtig erachtet werden, möchten Menschen diese auch resp. vor allem im Urlaub erleben. Drittens kann Tourismus eine Gegenwelt mit anderen Werten darstellen oder es ermöglichen, dass Menschen in dieser Zeit Werte verfolgen, die sie im Alltag nicht berücksichtigen können. Oder es ist das Gegenteil der Fall, wonach Tourismus einen Bruch mit Werten erlaubt (→ Kapitel 3.11 Devianz). Werte verändern sich mit der Zeit innerhalb einer Gesellschaft. Der Begriff Wertewandel beschreibt Entwicklungstrends in modernden Gesellschaften und fokussierte ursprünglich auf die Zeit zwischen Mitte der 1960er- und Ende der 1970er-Jahre (Inglehart, 1998). Gesellschaftlich dominante Werte verändern sich, die Bedeutung von Klassen und Schichten verringert sich zugunsten von Milieus und Lebensstilen → Kapitel 3.13 und es konnte ein 3.3 Werte und Normen 123 <?page no="124"?> Übergang von kollektiv geprägten Lebensweisen zu individuell gewählten Lebensstilen beschrieben werden. Laut Ronald Inglehart (1977) kommt es zu einer Verschiebung der Wertorientierungen von materiellen (z.B. Vermögen und Besitz) zu postmateriellen (z.B. Selbstverwirklichung und Kommunika‐ tion) Werten. Helmut Klages (1984) hat diese Aussagen modifiziert und teilweise widerlegt. Er wählt die Begriffe Pflicht- und Akzeptanzwerte sowie Selbstentfaltungswerte und spricht von einer Wertesynthese, also der Verbindung traditioneller und fortschrittlicher Werte. In der Marktforschung werden die klassischen soziodemografischen Merkmale, wie Alter, Geschlecht und Einkommen, um Werte ergänzt. Sinus-Milieus beispielsweise berücksichtigen Wertorientierungen und Le‐ bensstile. Menschen mit ähnlichen Auffassungen und Lebensweisen werden zusammengefasst. Demnach existieren in Deutschland zehn Milieus, die anhand der sozialen Lage und der Grundorientierung unterschieden werden können (Sinus-Institut®, 2023). Das Urlaubsverhalten variiert in Abhängig‐ keit vom Milieu. Beispielsweise ist das Interesse an neuen Destinationen bei einigen Milieus stärker als bei anderen. Um Milieus exakt und anwen‐ dungsbezogen beschreiben zu können, werden Personas (→ Kapitel 2.3.1 Typologien) eingesetzt. Bei Normen handelt es sich um konkrete Regeln, die sich aus Werten ableiten. Sie sind stärker ereignisbezogen und beschreiben, wie in einer Situation gehandelt werden soll. Normen werden in der Erziehung ver‐ mittelt und lenken das Handeln. Dadurch, dass Normen im Idealfall für alle Menschen innerhalb einer Gesellschaft gelten, wird eine Gleichmä‐ ßigkeit des Handelns erreicht. Die Auffassung darüber, wie stark Normen das Handeln beeinflussen, variiert. Während Durkheim (→-Kapitel 2.1.3) von einem allein an sozialen Normen orientierten Handeln ausgeht, fügt Talcott Parsons weitere Aspekte, beispielsweise persönliche Bedürfnisse und Vorlieben, hinzu. Die Verletzung einer Norm kann auf unterschiedliche Weise sanktioniert werden, beziehungsweise gehen Menschen davon aus, dass Sanktionen folgen. Sanktionen reichen von rechtlichen Strafen bis zu sozialer Miss‐ achtung. Die Stärke von Normen und die Normbindung resultieren jedoch nicht allein aus Sanktionen und der Annahme derselben. Wichtiger sind der Grad der Legitimation und Anerkennung sowie das Interesse der Beteiligten an der Aufrechterhaltung von Normen. Gesellschaft beruht darauf, dass Menschen sich an Normen halten auch wenn niemand die Einhaltung derselben kontrolliert. 124 3 Soziologische Zugänge <?page no="125"?> Normen unterscheiden sich erstens hinsichtlich des Grades des Bewusst‐ seins. Zahlreiche Normen (z.B. Zähneputzen nach dem Essen) werden im Alltag befolgt, ohne dass dieses den Menschen bewusst ist. Andere (z.B. Kirchenbesuch am Sonntag) werden bewusster erlebt. Zweitens variieren Normen hinsichtlich der Absender: innen und Adressat: innen (Normemp‐ fangende). So gelten manche Normen nur für ausgewählte Adressat: innen, oft gebunden an Rollen (→ Kapitel 3.5). Drittens ist zu berücksichtigen, wer die Verhaltensforderung stellt. Innerhalb einer Gesellschaft existieren Machtungleichheiten, die sich auf die Durchsetzung von Normen auswir‐ ken. Schließlich kann zwischen Muss-, Soll- und Kann-Normen differenziert werden. Während Muss-Normen eingehalten werden müssen und diese direkt an Sanktionen gebunden sind, variiert die Verbindlichkeit von Soll- und Kann-Normen. Beispiel │ Normen im Tourismus Im Tourismus existieren Normen in verschiedenen Ausprägungen. Ein wesentlicher Unterschied ergibt sich dann, wenn die professionell be‐ teiligten Personen und Tourist: innen betrachtet werden. Da die erstge‐ nannten sich im Arbeitskontext bewegen, sind Normen selbstverständ‐ lich und zumeist an Rollen (→-Kapitel 3.5) gebunden. Bei Tourist: innen könnte erwartet werden, dass es sich um einen normfreien Raum handelt, da Urlaub als freie und gelöster Situation konzipiert ist. Allerdings gelten auch im Tourismus Normen. Klar er‐ kennbar sind rechtlich abgesicherte Normen, beispielsweise hinsichtlich des Verhaltens im Flugzeug. Es existieren aber auch Normen, die sich aus dem Wesen des Tourismus ergeben, z.B. die Norm, sich im Urlaub zu entspannen, Spaß zu haben und mit gebräunter Haut nach Hause zu kommen. Viele Herausforderungen im Tourismus resultieren daraus, dass viele Normen für Tourist: innen nicht zu gelten scheinen, z.B. der sparsame Umgang mit Wasser in trockenen Regionen (→ Kapitel 4.1.) oder der Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Ausbeutung (→ Kapitel 4.5). 3.3 Werte und Normen 125 <?page no="126"?> 3.4 Kultur und interkulturelle Begegnung Kultur ist ein großer Begriff, der in Abhängigkeit von Fachrichtung und Theorie sehr unterschiedlich interpretiert wird (Yousefi & Braun, 2016). Allein in der Soziologie wird oft auf vier Verständnisse verwiesen (Reckwitz, 2000). In Abhängigkeit vom gewählten Verständnis ersetzt Kultur den Begriff der Gesellschaft (Rehberg, 1986). Im Tourismus findet sich ein Bezug zur Kultur u. a. im Kontext von Kulturlandschaft, Unternehmenskultur, Kul‐ turtourismus oder auch interkultureller Begegnung (Scherle et al., 2023). Oft gehen kulturelle Beschreibungen einher mit westlich geprägten Wertungen wie beispielsweise Hoch- und Massenkultur. Bourdieu (→ Kapitel 3.9 Macht) erklärt mit dem Konzept des kulturellen Kapitals, dass und wie Kultur (in unterschiedlichen Formen, vor allem als Bildung, erlernte Verhaltensweisen oder auch Titel und Objekte) eine Distinktion ermöglicht. Die verwendeten Begriffe können ebenfalls zur Abgrenzung eingesetzt werden, da sie die Existenz von Unterschieden suggerieren und dadurch verfestigen. Der enge Begriff von Kultur ist ohnehin häufig mit der Annahme stabiler und ein‐ heitlicher Strukturen sowie einer Unveränderlichkeit von Normen, Werten und Rollen als zentralen Elementen von Kultur verbunden. Wertewandel (→ Kapitel 3.3 Werte und Normen) und Rollenspiel (→ Kapitel 3.5 Rollen) belegen das Gegenteil und sie zeigen, dass Kultur nicht losgelöst von menschlichem Handeln betrachtet werden sollte. Der cultural turn beschreibt einen Paradigmenwechsel innerhalb ver‐ schiedener Wissenschaften mit der Konsequenz, dass nicht mehr nur von ei‐ nem engen, starren Kulturbegriff, sondern von Kulturbegriffen gesprochen wird (Lackner & Werner, 1998). Im Vordergrund stehen Lebensäußerungen von Menschen in unterschiedlichen Kontexten - sowohl das Suchen von Ostereiern im Garten als auch der Besuch der Aufführung von Mozarts Requiem in Wien gehören dazu. Kultur wird durch menschliches Handeln bestätigt und geschaffen, wobei bereits existierende kulturelle Praktiken als Rahmen (→-Kapitel 2.1.5 Goffman) dienen. Zitat »Die Kultur kann in ihrem weitesten Sinne als die Gesamtheit der einzigartigen geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Aspekte angesehen werden, die eine Gesellschaft oder eine soziale Gruppe kennzeichnen. Dies schliesst nicht nur Kunst und Literatur ein, sondern auch Lebensformen, die Grundrechte des Menschen, Wertsys‐ 126 3 Soziologische Zugänge <?page no="127"?> teme, Traditionen und Glaubensrichtungen.« (UNESCO-Kommission, 1983, S.-121) »Culture is the fabric of meaning in terms of which human beings interpret their experience and guide their action ; social structure is the form that action takes, the actually existing network of social relations. Culture and social structure are then but different abstractions from the same phenomena.« (Geertz, 1973, S.-145) Die Erweiterung des Kulturbegriffs führt auch zu einer erweiterten Betrach‐ tung interkultureller Begegnungen (zwischen Kulturen) um transkulturelle Begegnungen (innerhalb von Kulturen). Wie schon Simmel (→ Kapitel 2.1.4 Simmel) beschrieb, findet eine Begegnung mit dem Unbekannten statt, wobei das Fremde immer subjektiv und in Abhängigkeit von Aspekten wie Gruppenzugehörigkeit (→ Kapitel 3.12 Gruppe) und Stärke der eigenen Identität (→ Kapitel 3.13 Identität) konstruiert wird. Auswirkungen von Begegnungen zwischen Kulturen werden in unterschiedlichen Modellen (Thiem, 1994), u. a. unter dem Begriff der Akkulturation (→ Box) beschrie‐ ben. Wissen-│-Akkulturation Akkulturation beschreibt die Übernahme und Aneignung kultureller Elemente aus einer anderen Kulturen durch Begegnungen. Steigende räumliche Mobilität, z. B. durch Migration und Tourismus erhöht die Kontakte. Neben Normen, Werten und Deutungsmuster werden eben‐ falls Verhaltensweisen übernommen. Akkulturation hat unterschied‐ liche Ausprägungen. Im unterschiedlichen Maße werden kulturelle Praktiken beibehalten, variiert oder auch neue Formen übernommen (Berry, 2019). 3.5 Rollen Rollentheorien sind eine Weiterführung des normativen Paradigmas (→ Box) und zugleich eine vereinfachte Betrachtung der Realität. Rollen sind Bündel von normierten Erwartungen, die an Positionen innerhalb der Gesellschaft gerichtet werden. Menschen, die diese Positionen einnehmen, sind demnach Rollenträger: innen. 3.5 Rollen 127 <?page no="128"?> Wissen │ Normatives Paradigma Das normative Paradigma ist eng mit den Namen Émile Durkheim und Talcott Parsons verbunden. Gesellschaft ist eine Struktur, die sich aus Normen zusammenfügt. Diese Normen sind Voraussetzung für das Han‐ deln. Sie sind in der Sprache Durkheims soziale Tatbestände, die ähnlich wie Gesetze der Natur die Menschen zu bestimmten Verhaltensweisen zwingen resp. drängen. Darüber hinaus ermöglichen sie Orientierung und geben Halt. In Zeiten fehlender Stabilität und Abweichungen - Anomie - kommt es zu Verunsicherung und Verzweiflung bis hin zum Selbstmord. Im Mittelpunkt der Betrachtung von Rollen stehen Erwartungen, die an eine Person aufgrund ihrer Position in der Gesellschaft, in einer Gruppe oder Familie gerichtet werden. Im Zentrum steht u.a. die Frage, wie das Handeln von Menschen durch Rollenerwartungen beeinflusst wird. Darüber hinaus ist zu untersuchen, wie Menschen Rollen erlernen, übernehmen oder diese variieren und verändern. Erwartungen werden von unterschiedlichen Referenzgruppen an die Rolle und den Menschen gestellt, der die Rolle übernimmt beziehungsweise trägt. Dieser Vorgang wird als role taking bezeichnet. Je stärker und bindender die Erwartungen sind, desto mehr wird das Rollenhandeln auf eine standardisierte Art und Weise erfolgen. Menschen begegnen sich demnach nur bedingt als Individuen. Vielmehr stehen sich in vielen sozialen Situationen Rollen oder Menschen als Rollen‐ träger: innen bzw. -spieler: innen gegenüber, die miteinander interagieren. Beispiel │ Rollen im Tourismus Im Tourismus finden sich viele Rollen, die sehr stark mit Erwartungen verknüpft sind. Beispiele für diese Rollen sind Pilot: innen, Flugbeglei‐ ter: innen, Reiseführer: innen und Animateur: innen. Von allen wird erwar‐ tet, dass sie sich um Tourist: innen kümmern, sich um das Wohlergehen sorgen, sie unterhalten und bedienen. Die an Piloten: innen gestellten Erwartungen sind besonders hoch, da diese das Leben von Menschen in der Hand haben. Die Uniform signalisiert Kompetenz und vermittelt Re‐ spekt. Gleichzeitig erleichtert sie den Pilot: innen die Rollenübernahme. Mit dem Anziehen der Uniform schlüpfen sie in die Rolle. 128 3 Soziologische Zugänge <?page no="129"?> Während die genannten Berufsrollen im Tourismus eindeutig beschrie‐ ben werden können, gibt es bei der Definition der Rolle Tourist: in sowie Einheimische Schwierigkeiten. Die Rolle Tourist: in ist diffus. Sie ist aus der Rolle Gast hervorgegangen, hat sich jedoch von dieser entfernt, da es sich nun um eine kommer‐ zialisierte Beziehung handelt. Beim Gast sind Respekt und Rücksicht gegenüber dem Gastgebenden (Host) ein zentrales Element und das Machtverhältnis zwischen Gast und Gastgeber: in ist ausgeglichen. Re‐ spekt und Rücksicht werden von der Rolle Tourist: in erhofft, sind aber keine zentrale Erwartung. Darüber hinaus ist das Verhältnis zwischen Tourist: innen und professionellen Gastgeber: innen und Einheimischen durch Asymmetrien bestimmt. Tourist: innen interagieren nicht nur mit professionellen Gastgeber: in‐ nen, sondern auch mit Einheimischen und dieses sowohl in deren beruflichen als auch privaten Kontexten. Ein beruflicher Kontext ist dann gegeben, wenn Tourist: innen in einem Supermarkt einkaufen, der nicht speziell auf Tourist: innen ausgerichtet ist, und dort von einer einheimischen Person bedient werden. Ein privater Kontext ist immer dann gegeben, wenn Tourist: innen in den Alltag der Einheimischen eindringen, beispielsweise ein Foto von ihnen machen, wenn diese im Park Boule spielen. Wie sollen Menschen bezeichnet werden, die mit Tourist: innen unge‐ wollt und auf einer nicht professionellen Basis in Kontakt kommen und von denen dennoch erwartet wird, dass sie eine Rolle - zumeist die Rolle echter Einheimischer - übernehmen? Je mehr (Anzahl der Tourist: innen und Häufigkeit) der Tourismus die eigentlichen touristischen Räume verlässt, desto drängender wird die Beantwortung dieser Frage. Vor dem Hintergrund, dass der Begriff Tourist: in in den meisten Zusammenhängen negativ besetzt ist, stellt sich auch die Frage, wer heute noch als Tourist: in bezeichnet werden möchte. Ein Großteil sozialer Ereignisse ist durch das Aufeinandertreffen von zwei oder mehr Rollen bestimmt. Beispiele für bekannte Rollenkombina‐ tionen sind Ärzt: in und Patient: in, Verkaufende und Kaufende, Führung und Mitarbeitende. Typische Rollenkonstellationen im Tourismus sind Tourist: innen und professionelle Tourismusrollen, aber auch Tourist: innen und Einheimische. Gerade die zuletzt genannte Interaktion ist von zentraler 3.5 Rollen 129 <?page no="130"?> Bedeutung für den Tourismus und gewinnt in den letzten Jahren vor dem Hintergrund der gesteigerten Nachfrage nach Begegnungen mit echten Einheimischen (meet the locals) an Bedeutung. Beispiel │ Meet the locals Zahlreiche Destinationen aber auch Buchungsportale wie Airbnb und Get Your Guide bieten als ein touristisches Produkt die Begegnung mit Einheimischen (locals) an. Dazu zählen Gespräche mit Fischern im Hafen von Manarola, ein Abendessen bei einer Familie in Kapstadt und eine Joggingtour in Westschweden mit dem Adventurer Johan. Onlineplattformen wie Eat With und Meet the Locals, Westschweden listen weltweite oder regionale Angebote auf und vermitteln Kontakte zu Einheimischen. Das echte, wahre und authentische Leben wird angepriesen. Worte wie geheim und versteckt betonen die Exklusivität, familiär und privat hingegen den persönlichen Bezug. Abb. 10: Screenshot WithLocals.com (2023) Die Vorstellung einer einfachen Rollenübernahme und eines konfliktfreien Rollenhandelns ist jedoch eine stark vereinfachte Darstellung. Die Rollen‐ theorie wurde aus diesem Grund um weitere Aspekte ergänzt. Wesentliche Anregungen kamen aus der soziologischen Theorie- und Forschungsper‐ spektive des Interpretativen Paradigmas. 130 3 Soziologische Zugänge <?page no="131"?> Wissen │ Interpretatives Paradigma Das Interpretative Paradigma basiert auf der Annahme, dass gesell‐ schaftliche Zusammenhänge und Zustände nicht objektiv gegeben sind. Die soziale Realität wird in Interpretationen und Bedeutungszuweisun‐ gen konstruiert (→ Kapitel 3.6). Erwartungen werden erstens von unterschiedlichen Bezugsgruppen an eine Rolle gestellt. Wenn die Erwartungen sich widersprechen, kommt es zu Konflikten, die von der Person, die die Rolle trägt, gelöst werden müssen. Solche Konflikte werden Intrarollenkonflikte genannt. Die Person muss in solchen Situationen aktiv werden und entscheiden, wie sie mit dem Konflikt umgeht. Eine mögliche Strategie ist es, sich nach der stärksten Bezugsgruppe zu richten. Oder es wird versucht, den Konflikt offen anzu‐ sprechen und auf das Dilemma aufmerksam zu machen. Unabhängig von der gewählten Strategie ist ein aktives Vorgehen und eine Gestaltung der Rolle, das als role making bezeichnet wird, erforderlich. Beispiel │ Intrarollenkonflikte im Tourismus Eine Kundin erwartet im Reisebüro eine ehrliche Beratung von der Mit‐ arbeiterin. Die Inhaberin des Reisebüros erwartet gute Verkaufszahlen. Die Gäste erwarten in einem Restaurant von der Küche eine hohe Qualität zu einem guten Preis, während die Geschäftsführung von der Küche Einsparungen erwartet. Zweitens übernehmen Menschen nicht nur eine, sondern mehrere Rollen. Diese können zueinander im Gegensatz stehen und Interrollenkonflikte verursachen. Auch diese erfordern ein role making. Beispiel │ Interrollenkonflikte im Tourismus Tourist: innen erwarten von Pilot: innen, dass diese wie geplant das Flug‐ zeug fliegen. Als Mitglied der Gewerkschaft wird von diesen erwartet, dass sie bei einem Streik nicht arbeiten. Eine Servicekraft soll zeitlich flexibel sein, während die Familie regel‐ mäßige Arbeitszeiten bevorzugt. 3.5 Rollen 131 <?page no="132"?> Die Rollenübernahme setzt drittens Kenntnisse und Fertigkeiten voraus. Zum einen muss bekannt sein, welche Erwartungen an die Rolle gestellt werden bzw. müssen die Rollenerwartungen klar formuliert sein. Zum anderen muss die Person ausreichend Wissen über die Rolle haben. Wenn die genannten Voraussetzungen nicht erfüllt sind, kommt es zu Konflikten. Berufsrollen sind deswegen zumeist mit einer Ausbildung verbunden. Wei‐ terhin helfen Uniformen dabei, Unsicherheiten zu überwinden und in eine Rolle zu schlüpfen. Uniformen machen darüber hinaus eine Rolle nach außen hin sichtbar. Viertens kann nicht davon ausgegangen werden, dass ein Mensch einer Rolle vollständig entspricht. Menschen besitzen ihre eigenen Vorstellungen und Absichten. Sie sind Individuen und prägen die Rolle durch ihre Indivi‐ dualität. Moderne Gesellschaften sind durch eine große Rollenpluralität sowie durch eine Verschiebung weg von standardisierten Rollen hin zur Identität (→ Kapitel 3.13) unabhängig von der Rolle bestimmt. Menschen gestalten Rollen und haben die Möglichkeit, sich von dieser zu distanzieren, etwa indem die zuvor genannten Konflikte thematisiert werden oder die Rolle überzogen dargestellt wird. Schließlich dominieren Rollen nicht mehr alle Lebensbereiche im gleichen Maße. Die Definition und Durchsetzungen von Rollenerwartungen sind eng mit Macht (→ Kapitel 3.9 Macht) verbunden. Denkübung | Pilot von Air Berlin startet durch Ein Pilot von Air Berlin erregte im Oktober 2017 viel Aufsehen, als er die Landung abbrach und eine zusätzliche Kurve über den Düsseldorfer Flughafen flog. Er tat dieses als Zeichen für den Abschied von Air Berlin, da es sich um den letzten Flug aus den USA von Air Berlin handelte. »Wir wollten ein Zeichen setzen, einen würdigen und emotionalen Abschluss.« Sowohl Tower als auch Reisende im Flugzeug waren über das Manöver informiert worden. In der sich anschließenden Diskussion wurde mehrfach auf die Emotio‐ nalität des Piloten eingegangen. Was meinen Sie dazu? Darf ein Pilot seine Emotionen auf diese Weise ausdrücken? Goffman (→ Kapitel 2.1.5) ist in seinen Arbeiten sehr ausführlich auf das role making eingegangen, indem er gezeigt hat, wie Menschen mit den Rollen spielen können. Goffman spricht von der Person-Rolle-Formel 132 3 Soziologische Zugänge <?page no="133"?> als der Verbindung zwischen Individuum (Person oder Spieler: in) und der wahrgenommenen Eigenschaft oder Funktion (Rolle). Die Formel bewegt sich bedingt durch individuelle und soziale Aspekte auf einem Kontinuum zwischen starker Abhängigkeit und starker Unabhängigkeit von Rolle und Person. Die Definition und Durchsetzungen von Rollenerwartungen sind eng mit Macht (→ Kapitel 3.9 Macht) verbunden. Zitat »Man kann nie völlige Unabhängigkeit und nie völlige Abhängigkeit zwischen Individuum und Rolle erwarten.« (Goffman, 1980, S. 297) Jürgen Habermas hat Goffmans Aussagen zum role making aufgenommen und weitergeführt. Beginnend mit der Frankfurter Vorlesung 1968 (Haber‐ mas, 1973) hat er eine Theorie des kommunikativen Handelns (→ Box) entwickelt, die zeigt, wie sich autonome, selbstbewusste und freie Subjekte in und mit sozialen Strukturen entwickeln und gegen diese behaupten können. Habermas stellt die Motive und die erforderlichen Kompetenzen für das Rollenspiel in den Vordergrund. Demzufolge übernehmen Men‐ schen weder unreflektiert noch spannungsfrei Rollen. Vielmehr müssen sie Bedürfnisse unterdrücken. Habermas beschreibt dieses als Qualifikation der Frustrationstoleranz. Zweitens führt die Mehrdeutigkeit von Rollen dazu, dass diese interpretiert und auf eine eigene Weise gespielt werden (Ambiguitätstoleranz). Ambiguität beinhalt nicht nur Unsicherheit, sondern auch das Potenzial zur kontrollierten Selbstdarstellung. Sie kann demnach von kompetenten Subjekten genutzt werden, um die Ich-Identität (→ Ka‐ pitel 3.13 Identität) zu entwickeln. Drittens geht Habermas ebenso wie Goffman davon aus, dass Rollenerwartungen und Normen nicht vollständig internalisiert sind, sondern dass eine Rollendistanz existiert. Habermas Annahme, dass Menschen innerhalb der Sozialisation zu autonomen und reflektierten Handlungen qualifiziert werden, ist eine wichtige Erweiterung der Betrachtungen des Verhältnisses von Gesellschaft und Mensch. Sie lenken die Aufmerksamkeit auf Vorgänge, insbesondere die Sozialisation, in denen Subjekte oder Aktoren lernen zu handeln. Grundqualifikationen des Handelns sind nach Habermas kognitive und moralische Fähigkeiten, die Entwicklung einer Ich-Identität (→ Kapitel 3.13 Identität) sowie Inter‐ aktionskompetent. 3.5 Rollen 133 <?page no="134"?> Wissen-│-Theorie des kommunikativen Handelns Habermas (*1929) stellt ebenso wie Weber (→ Kapitel 2.1.1), Durkheim (→ Kapitel 2.1.3) und Elias (→ Kapitel 2.1) die Frage, wie moderne Gesellschaft entstehen kann und was diese zusammenhält. Seine Ant‐ wort darauf lautet Kommunikation bzw. kommunikatives Handeln. Bei diesem handelt es sich um einen von »[…] vier analytisch gut zu unter‐ scheidenden Grundbegriffe […]« (Habermas, 1995, S. 126). Neben dem teleologischen (oder auch strategischen), dem normenregulierten und dem dramaturgischen Handeln, basiert der soziologische Handlungsbe‐ griff des kommunikativen Handelns auf der Annahme, dass Aktoren auf Verständigung und Konsens ausgerichtet sind. Wesentliches Medium der Kommunikation ist die Sprache, welche ein soziales Interesse aus‐ drückt und Koordination ermöglicht. Zusammenfassend sind soziologische Rollentheorien eine gute Grundlage, um menschliche Verhaltensweisen im Tourismus zu analysieren. Es kann gezeigt werden, wie Menschen als Rollenträger: innen ein für die Rolle typisches Handeln übernehmen resp. es sollte untersucht werden, wie role making und Rollendistanz bei Tourist: innen erfolgt. Weiterhin ermöglicht das Konzept des role makings, individuelle Verhaltensmerkmale sowie Ver‐ änderungen von Rollen zu beschreiben. Schließlich kann die Interaktion zwischen Menschen analysiert werden und es kann gezeigt werden, wie die Rolle Tourist: in dem Gegenüber ein bestimmtes Verhalten aufdrängt. Dadurch, dass Rollen standardisieren und vom Individuum abstrahieren, befreien sie die Person, da sie die persönliche Verantwortung reduzieren. Ein Mensch kann in die Rolle schlüpfen und die Rolle wieder ablegen. Die Rolle wirkt wie eine Schutzhülle, die verhindert, dass Erlebnisse und Reaktionen der Umwelt auf Handlungen und Verhaltensweise der Person zugeschrieben werden und damit auf die Identität (→ Kapitel 3.13) einwirken. Erlebnisse werden als Rolle erlebt und nicht als Person. Problematisch wird es, wenn Menschen sich hinter der Rolle verstecken und jede persönliche Verant‐ wortung ablegen. Allerdings hat Hochschild gezeigt, dass vor allem bei emotionaler Arbeit ein dauerhaftes Rollenspiel zur Entfremdung führen kann (→ Kapitel 2.2.10). 134 3 Soziologische Zugänge <?page no="135"?> Beispiel │ Cohens Analyse der Reiseführer: innen Cohen (→ Kapitel 2.2.8) hat 1985 Ursprünge, Strukturen und Dynami‐ ken der Rolle des Reiseführers analysiert. Er argumentiert, dass diese auf den Pathfinder (Pfadfinder im wörtlichen, geografischen Sinne) und Mentor (spirituelle Entwicklung) zurückgeht. Die ursprünglich instrumentellen Aufgaben - den Weg finden und Menschen führen - wird durch kommunikative Aufgaben ersetzt. Professionelle Reisefüh‐ rer: innen müssen unterhalten und interagieren. Sie stehen im Zentrum des Tourismus und reproduzieren touristische Attraktionen dadurch, dass sie Tourist: innen zu diesen führen. Vor dem Hintergrund der Diskussion um nachhaltiges und verantwortungs‐ volles Reisen sollte vor allem die Rolle der Tourist: innen untersucht werden. Bislang scheint für diese vor allem zu gelten: »Habe viel Spaß und achte nur auf Dich.« Dieses widerspricht dem Grundgedanken des verantwortungs‐ vollen Tourismus. Weiterhin ist das Zusammenspiel von Tourist: innen und nicht professio‐ nellem Gegenüber ein zentrales Element im Tourismus, das bisher nur in Ansätzen untersucht und nicht als tourismussoziologische Fragestellung konzipiert wurde. Literatur zur Einführung Cohen, E. (1985). The tourist guide. The Origins, Structure and Dynamics of a Role. Annals of Tourism Research, Vol. 12, S. 5-29. Dahrendorf, R. (2006). Homo Sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeu‐ tung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle. 16. Auflage. VS Verlag für Sozialwissenschaften. Goffman, E. (1980). Rahmenanalyse. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Goffman, E. (2003). Wir alle spielen Theater. München: Piper. Parsons, T. (1994). Aktor, Situation und normative Muster: Ein Essay zur Theorie sozialen Handelns. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Habermas, J. (1973). Kultur und Kritik: Verstreute Aufsätze. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Habermas, J. (1995). Theorie des kommunikativen Handelns. Band 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Merton, R. K. (1968). Social theory and social structure. New York: Macmillan USA. 3.5 Rollen 135 <?page no="136"?> 3.6 Konstruktion, Performativität und Objectification Die bisher beschriebenen Konzepte vermittelten den Eindruck, dass Gesell‐ schaft als Realität gegeben und direkt erfahrbar ist, z.B. Durkheims soziale Tatsachen (→ Kapitel 2.1.3). Rollen, Gruppen, Institutionen und Systeme sind demnach objektiv gegeben und gelten für jeden Menschen innerhalb der Gesellschaft. Sie schweben über den Individuen und scheinen unabhän‐ gig vom tatsächlichen Handeln zu sein. Wie aber entstehen diese sozialen Tatsachen? Wieso gibt es unterschiedliche Wahrnehmungen von Realität und daraus resultierend Konflikte? Woraus ergeben sich Veränderungen und gesellschaftlicher Wandel? Eine notwendige Ergänzung an dieser Stelle sind Theorien, die beschrei‐ ben, wie Realitäten entstehen, wie diese durch die Gesellschaft erst konstru‐ iert werden und Geltung erhalten. Berger & Luckmann haben in ihrem Buch »Die gesellschaftliche Kon‐ struktion von Wirklichkeit« (1996) dargestellt, wie aus Handlungsge‐ wohnheiten und Routinen objektiviertes, generalisiertes und dann typisches Verhalten und Muster entstehen. Diese Typisierungen oder Institutionen erleichtern das Handeln, da nicht in jeder Situation neu entschieden werden muss, wie gehandelt werden soll. Wissen │ Institution Eine Institution im soziologischen Verständnis ist ein stabiles Muster sozialer Beziehungen. Es ist ein Regelsystem, das menschliches Handeln lenkt, steuert und limitiert. Institutionen weisen Rechte und Pflichten zu. Dadurch entsteht erwartbares Handeln. Beispiele für Institutionen sind Ehe, Beruf, Kauf und Sprache. Institutionen sind in der Praxis entstanden und haben sich verselbständigt. Die Verhaltensmuster gelten für alle Mitglieder einer gesellschaftlichen Gruppe und schließen alternative Verhaltensweisen (für eine gewisse Zeit) aus. Die Reziprozität ermöglicht das wechselseitige Verständnis und in den meisten Situationen ein für beide Seiten erfolgreiches Handeln, da sich das Gegenüber wie erwartet verhält. Wenn die auf diese Weise institutionali‐ sierte Welt zur Geschichte wird, wird sie dadurch objektiviert. Menschen nehmen Institutionen dann als gegeben wahr und fragen nicht mehr, wieso diese Art des Handelns und keine andere die gültige ist. Es wird vergessen, 136 3 Soziologische Zugänge <?page no="137"?> dass sie von Menschen durch soziale Vereinbarungen geschaffen wurden und keine - von Gott, Natur oder Kosmos gegebenen - Dinge sind. Zitat »Verdinglichung ist die Auffassung von menschlichen Produkten, als wären sie etwas anderes als menschliche Produkte: Naturgegebenheiten, Folgen kosmischer Gesetze oder Offenbarungen eines göttlichen Wil‐ lens.« (Berger & Luckmann, 1996, S. 95) Veränderungen können sowohl zeitlich als auch kulturell bedingt sein. So erfährt die Institution Familie in Deutschland in den letzten Jahren wesent‐ liche Erweiterungen, z.B. Patchwork-Familien und gleichgeschlechtliche Partnerschaften. Bei den meisten handelt es sich um monogame Beziehun‐ gen. Im Gegensatz dazu steht es einem Mann der Zulu (Bevölkerungsgruppe in Südafrika, mehrheitlich in der Provinz KwaZulu-Natal lebend) zu, mit mehreren Frauen verheiratet zu sein, um damit Reichtum und Männlichkeit auszudrücken. Die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit ist für den Tourismus an vielen Stellen relevant. So kann gezeigt werden, dass touristische Räume, Attraktionen und Authentizität nicht unabhängig von der Gesellschaft existieren. Touristische Räume werden gesellschaftlich konstruiert und durch Praktiken gelebt und verändert. Dieses geschieht interaktiv und folgt Regeln, die untersucht werden können. Ein besonderer Aspekt bei der Konstruktion touristischer Räume ist das hohe Maß divergierender Deutun‐ gen des Raums sowie extreme Umdeutungen. Die physische Beschaffenheit kann hierbei ebenso wie soziale Zustände unterschiedlich interpretiert werden. Beispiel │ Die Wahrnehmung des Meeres Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts galt das Meer als ein von Ungeheuern bevölkertes, Menschen in den Tod reißendes Gebiet. Ausgehend von einer veränderten Wahrnehmung in den Niederlanden und England wurde das Meer in die Landschaft integriert und es wurden positive As‐ pekte, z.B. heilsame Wirkung des Wassers, Entspannung beim Blick auf das Meer, betont. Es entwickelten sich Praktiken, wie der Spaziergang 3.6 Konstruktion, Performativität und Objectification 137 <?page no="138"?> am Strand oder auch das Baden im Meer. Schließlich erfährt das Meer eine Deutung als Seelenerlebnis (Corbin, 1994). Soziologische Theorien helfen dabei, die gesellschaftlichen Bedingungen sowie Elemente der Konstruktion zu beschreiben, zu analysieren und zu erklären. Die konkrete Ausgestaltung von Situationen kann mit Goffmans Rahmenanalyse (→ Kapitel 2.1.5) beschrieben werden. Diese macht deut‐ lich, wie vermeintlich objektive Merkmale eines Raums (z.B. der Berg) in Abhängigkeit von subjektiven, sozial geprägten und situationsbedingten Zuständen (z.B. Rollen) unterschiedlich interpretiert werden. Ebenfalls wird deutlich, dass Akteur: innen Räume nutzen, um sich zu präsentieren. Die Deutung des Raums reflektiert somit die Bedürfnisse und die gewünschte Darstellung des Selbst. Beispiel │ Stellenbosch: Weintourismus und Trainingslager Stellenbosch, Südafrika, ist seit 1994 ein sehr beliebtes Ziel für Hochleis‐ tungssportler: innen aus Europa, die dort ihr Wintertrainingslager absol‐ vieren. Seit einigen Jahren ist Stellenbosch ebenfalls eine Destination für Weintourist: innen. Der Raum wird von den zwei Nutzergruppen unter‐ schiedlich konstruiert und bewertet. So sind die Weinberge für Athlet: in‐ nen der »Horrorhügel«, da dort Trainingseinheiten realisiert werden, die an die Grenze der Leistungsfähigkeit gehen. Für Weintourist: innen hingegen ist es ein idyllisches Fotomotiv. Für einheimische Menschen, die dort arbeiten, ist es der Arbeitsplatz, der die Lebensgrundlage schafft. Die unterschiedlichen Deutungen sind mit Nutzungsanforderungen verbunden, die zunehmend zu Konflikten führen. Wöhler (2011) spricht von der „Expansion territorialer Ansprüche“. Die Tourismusindustrie nutzt die gesellschaftliche Konstruktion von Wirk‐ lichkeit für die eigenen Zwecke. Räume werden so inszeniert und ausgestat‐ tet, dass sie sich für den Tourismus eignen. Diese Aussagen entsprechen Urrys Blick (→ Kapitel 2.2.7). Beispiel │ Trollpenis: Wie aus einem Stein ein Denkmal wird »Für den Fremdenverkehr ist der Vandalismus eine schlechte Nachricht. Denn eine Initiative aus Wirtschaft und Tourismus in Egersund hatte 138 3 Soziologische Zugänge <?page no="139"?> erst vor kurzem beschlossen, den ungewöhnlichen Felsvorsprung als Attraktion für Urlauber zu vermarkten. Ein Pfad, ein Parkplatz und In‐ foschilder sollten angelegt werden. Die Initiatoren wollen den Penisstein wieder instandsetzen und haben zu Spenden aufgerufen. Am Sonntag hatten sie bereits fast die Hälfte der benötigten 200.000 norwegischen Kronen (21.000 Euro) zusammen.« (dpa) (Quelle: fwv online, 26.6.2017) Die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit findet im Begriff der Performativität eine Fortsetzung bzw. Vertiefung. Der auf John L. Austin (1986) zurückgehende Begriff Performativität beschreibt die handlungsprak‐ tische Dimension des Sprechens. Dadurch, dass etwas ausgesprochen wird, wird soziale Realität geschaffen (konstituiert) und nicht nur beschrieben. Gerade in Bezug auf Identität ist die gesellschaftliche Konstituierung durch Sprache sehr machtvoll (→ Kapitel 3.13). Im Tourismus führt die Kraft des performativen Sprechens dazu, dass Attraktionen geschaffen und Menschen aus fernen Ländern als exotisch angesehen werden. Gesellschaft und menschliche Handlungen konstruieren nicht nur Räume und Attraktionen, sie konstituieren ebenfalls Menschen resp. die Art und Weise, wie wir diese wahrnehmen. Der Begriff Objectification (Verdin‐ gung) beschreibt den Vorgang, durch den ein Mensch zu einem Objekt wird, das den Interessen des Subjekts gerecht wird. Das Objekt verliert dadurch Persönlichkeit und Ehre. Im Tourismus bietet der Umgang mit Gender und Tieren viele Beispiele für Objectification (→-Kapitel 4.5 und 4.6). Literatur Austin, J. L. (1986). Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words). Stuttgart: Reclam. Berger, P.L., Luckmann, T. (1996). Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch. Goffman, E. (1980). Rahmenanalyse. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 3.7 Feminismus und Genderforschung In diesem Abschnitt werden grundlegende Ansätze des Feminismus und der Genderforschung (gender studies) vorgestellt. In → Kapitel 4.5 folgt eine 3.7 Feminismus und Genderforschung 139 <?page no="140"?> Übertragung auf den Tourismus und eine Diskussion von Handlungsfeldern wie beispielsweise Beschäftigte im Tourismus und alleinreisende Frauen. Es muss betont werden, dass Feminismus kein einheitliches Programm oder eine Theorie ist. Vielmehr handelt es sich um eine inzwischen Jahr‐ zehnte umfassende gesellschaftliche und politische Bewegung mit teils widersprüchlichen Ansichten. Als kleinster gemeinsamer Nenner kann das Ziel, die Teilhabe von Frauen an gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politi‐ schen und akademischen Strukturen und Prozessen zu ermöglichen und zu stärken, formuliert werden (Degele, 2008). Feminismus geht zurück auf die Frauenrechtsbewegungen der 1920er- und 1930er-Jahre in England, den USA und Deutschland sowie die Bürgerrechtsbewegungen in den 1950er- und 1960er-Jahren. Feminismus ergänzt diese Bewegungen um eine theore‐ tische Fundierung und untersucht Machtbeziehungen kritisch-analytisch. Es wird angenommen, dass die „Frau zum Objekt männlichen Denkens und Handelns“ reduziert wird (Funk, 2018, S. 46). Damit steht der Feminismus in der Tradition der Kritischen Theorie (→ Box) In den 1970er- und 1980er-Jahren entwickelte sich eine Grundthese des Feminismus, wonach Wissenschaft männlich dominiert ist und weib‐ liche Lebenswelten aus einer männlichen Perspektive und mit männlich geprägten Theorien sowie Methoden untersucht werden. Bezogen auf die Soziologie kritisierten feministische Wissenschaftlerinnen die Dominanz von Objektivität, Rationalität und Wertfreiheit. Sie betonten, in Anlehnung an die Kritische Theorie, dass wissenschaftliche Erkenntnis immer abhängig von der forschenden Person ist. Donna Haraway (1988) prägte den Begriff des situierten Wissens. Sie formuliert, dass Forscher: innen durch Situation, Standort, ihre Erfahrungen und ihren Körper gebunden und beeinflusst sind. Somit können sie nur einen partiellen Blick einnehmen. Dynamische Objektivität soll dieser Tatsache gerecht werden und individuelle sowie soziale Kontexte mit einbeziehen und nicht behaupten, diese ausblenden zu können. Wissen │ Kritische Theorie Die Kritische Theorie ist eine auf Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Karl Marx und Sigmund Freud zurückgehende Theorie bzw. philosophische Denkrichtung. Begründer sind Max Horkheimer, Theodor Adorno und Herbert Marcuse. Jürgen Habermas gilt als der bekannteste Vertreter weltweit. Zur jüngeren Generation gehören Axel Honneth und Hartmut Rosa. Da alle aus dem Institut für Sozialforschung in Frankfurt kamen, 140 3 Soziologische Zugänge <?page no="141"?> wird häufig von der Frankfurter Schule gesprochen. Die jeweils herr‐ schenden gesellschaftlichen Verhältnisse sollen untersucht und einer Kritik unterzogen werden. Analyse und Kritik dienen der Emanzipation der Menschen und der gesellschaftlichen Veränderung. Eine feministi‐ sche Weiterentwicklung der Kritischen Theorie erfolgte bspw. durch Regina Becker-Schmidt (2003). Jede Theorie entsteht aus einem gesellschaftlichen Zusammenhang heraus und bleibt in diesem Entstehungszusammenhang verhaftet. Diese Verflechtung und daraus resultierende Begrenztheit muss kritisch hinterfragt und in eine Theorie einbezogen werden. Sozialstruktur und Macht sind ein zentrales Thema der feministischen Wis‐ senschaftstheorie. Die dominierende Struktur ist hierbei das Patriarchat und nicht das Kapital (→ Kapitel 2.1.2 Marx). Die soziale Ungleichheit zwischen den Geschlechtern ergibt sich vor allem aus der Vergeschlechtlichung der Arbeit und der Arbeitsteilung, wonach Frauen die unentgeltliche Arbeit im Haus leisten. Gender ist somit neben Ethnie und Klasse ein zentrales Merkmal für soziale Ungleichheit. Der Begriff Intersektionaliät (→ Box) deckt auf, dass die genannten Kategorien oft miteinander verwoben sind und sich als Resultat eine mehrfache Diskriminierung feststellen lässt. Wissen-│-Intersektionalität »Unter Intersektionalität wird […] verstanden, dass soziale Kategorien wie Gender, Ethnizität, Nation oder Klasse nicht isoliert voneinander konzeptualisiert werden können, sondern in ihren „Verwobenheiten“ oder „Überkreuzungen“.« (intersections). (Walgenbach, 2021, o.S.) Empfehlung: Weitere Informationen finden sich im Portal Intersektio‐ nalität: 🔗 http: / / portal-intersektionalitaet.de/ startseite/ Der frühe Feminismus beschrieb einerseits eine eigene weibliche Erfah‐ rungswelt und forderte andererseits eine grundsätzliche Gleichheit zwi‐ schen Frauen und Männern. Dieser Widerspruch führte zur Entwicklung der Genderforschung (gender studies). Letztere analysiert die gesellschaftli‐ che Bestimmung von Gender sowie die Beziehung zwischen Gender. Zu den ersten Themen der Gender Studies gehörten Macht, Herrschaft und Ungleichheit bezogen auf Gender. Jüngere Forschungen sowie die Queer 3.7 Feminismus und Genderforschung 141 <?page no="142"?> Studies fokussieren auf den Themenbereich der Sexualität bzw. auf die grundlegende Hinterfragung von Normalitäten (Degele, 2008, S.11). Genderforschung ist ein eigener Forschungsbereich mit zahlreichen, teilweise widersprüchlichen Ansätzen. Soziologische Ansätze kommen u.a. aus der konstruktivistischen Genderforschung, hier vor allem von Goffman (→ Kapitel 2.1.5) und Harold Garfinkel (1967). Der Begriff Doing Gender beschreibt, wie Wahrnehmung, Selbstwahrnehmung und Rollenverständ‐ nisse genderabhängig bestimmt werden. (West & Zimmerman, 1987) In der täglichen Interaktion wird weibliches und männliches Verhalten festge‐ schrieben. Die (lange Zeit allein) binäre und oppositionelle Kodierung von Gender hat menschliche Wahrnehmungs- und Denkschemata geformt. Eine Veränderung dieser gesellschaftlich geformten und tradierten Schemata, beispielsweise verbunden mit der Anerkennung des »dritten Geschlechts« oder »genderfluid« stößt leider immer wieder auf Widerspruch. Wissen-│-Gender - ein mehrdimensionales Konstrukt Während im Englischen deutlich zwischen sex, gender, gender identity, gender expression und sexual orientation unterschieden wird, dient im Deutschen oft der Begriff Geschlecht als ein Sammelbegriff für eine Vielzahl von Dimensionen. Bei der biologischen oder physiologischen Dimension handelt es sich um anatomische Merkmale, die bei der Geburt als Geschlecht (sex) vermerkt werden, lange Zeit nur unterschieden in weiblich und männ‐ lich. Aktuelle Erkenntnissen widerlegen die Annahme einer natürlichen Binarität. Die zweite Dimension (gender identity) beschreibt die Identität einer Person, die sich auf ihr inneres Genderempfinden bezieht. Die letzte Dimension ist gender expression, d. h. die Art und Weise, wie sich eine Person ausdrückt und wie sie mit kulturellen Genderstereotypen umgeht. Schließlich gibt es die sexual orientation, welche die sexuelle und/ oder romantische Anziehung beschreibt. Bei Gender handelt es sich zusammenfassend um ein mehrdimensiona‐ les, kulturell und sozial verankertes Konstrukt welches mit Annahmen und Erwartungen zum Verhalten verbunden ist. Genderstereotype sind kognitive Strukturen, die sozial geteiltes Wissen über Fähigkeiten, Wesensmerkmale und Verhaltensweisen von Menschen enthalten. Sie beeinflussen, was in der Gesellschaft als »weiblich« und »männlich« wahrgenommen wird. 142 3 Soziologische Zugänge <?page no="143"?> Begrifflichkeiten und Konzepte wie Cis, nicht-binär und gender-fluid ermöglichen eine differenzierte Auseinandersetzung mit den komplexen Zusammenhängen. Tipp Die Website Queer-Lexikon 🔗 (https: / / queer-lexikon.net/ ) gibt einen guten Überblick über Begriffe. Soziologische Genderforschung untersucht sämtliche sozialen und kulturel‐ len Dimensionen der Genderverhältnisse. Dieses reicht von der Sozialisie‐ rung zu »Mann« oder »Frau« über die Ausbildung einer Genderidentität bis zur Entstehung genderbasierter Ungleichheiten. Denkübung | Rosa oder blau schon vor der Geburt? In den USA sind Gender Reveal Parties beliebt. Auf diesen wird der Familie und Freunden, manchmal auch den werdenden Eltern, das biologisches Geschlecht (eigentlich müsste es Sex Reveal Party heißen) verkündet. Dieses wird inszeniert. Beispielsweise ist eine Torte mit hellblauen oder rosa Bonbons gefüllt. Mittels neuer Technologien ist die Bestimmung des biologischen Ge‐ schlechts bereits in der neunten oder zehnten Schwangerschaftswoche möglich. Die Eltern und das gesamte Umfeld wissen ab diesem Zeit‐ punkt, dass es ein Junge oder ein Mädchen wird und können die Ge‐ staltung des Kinderzimmers sowie die Auswahl der Geschenke danach ausrichten. Was bedeutet es, wenn das gesamte Umfeld davon ausgeht, dass es ein Mädchen oder ein Junge wird? In wieweit wird das Leben des Kindes beeinflusst, wenn das Umfeld von einem bestimmten Geschlecht ausgeht? Welche Relevanz hat die Fokussierung auf das biologische Geschlecht für den Tourismus? Denken Sie insbesondere an die Themen Rollen und Rollenerwartungen (→ Kapitel 3.5), Gruppen und Stereotype (→ Kapi‐ tel 3.12) und Identität (→-Kapitel 3.13). 3.7 Feminismus und Genderforschung 143 <?page no="144"?> Sexual Objectification Sexual Objectification ist ein Sonderfall der Objectification (→ Kapitel 3.6) und bezieht sich zumeist auf die Verdingung von Frauen hin zu sexuellen Objekten. Martha Nussbaum hat 1999 Aspekte beschrieben, die mit der Objectification einhergehen. Dazu gehören u.a. die Behandlung des Objekts als Instrument, die Absprache von Autorität sowie die Austauschbarkeit. Rae Langton (2009) hat hinzugefügt, dass eine Reduktion auf Körper und Erscheinungsbild stattfinden. Sexual Objectification wird oft im Zusammenhang mit Prostitution, Por‐ nografie und mit der Betonung des Aussehens (des Körpers) gebracht. Die feministische Diskussion nimmt Kants Aussagen zur Sexualität und Verdingung als Basis. Demnach kann nur im gegenseitigen Erwerb des Gegenübers als Sache, ein Mensch sich selbst und seine Persönlichkeit erhalten. Wenn Frauen zu Objekten (gemacht) werden resp. sich selbst dazu machen, da sie den Erwartungen der Gesellschaft folgen, verlieren sie ihr Selbst. Zitat »Denn der natürliche Gebrauch, den ein Geschlecht von den Ge‐ schlechtsorganen des anderen macht, ist ein Genuß, zu dem sich ein Teil dem anderen hingibt. In diesem Akt macht sich ein Mensch selbst zur Sache, welches dem Rechte der Menschheit an seiner eigenen Person widerstreitet. Nur unter der einzigen Bedingung ist dieses möglich, daß, indem die eine Person von der anderen, gleich als Sache, erworben wird, diese gegenseitig wiederum jene erwerbe, denn so gewinnt sie wiederum sich selbst und stellt ihre Persönlichkeit wieder her.« (Kant 2013, S. 61) Hochschild (→ Kapitel 2.2.10) überträgt ihre Aussagen zur emotionalen Arbeit auf Gender und untersucht genderbasierte Unterschiede. Enloe (→ Kapitel 2.2.11) macht gesellschaftliche und politische Zusammenhänge deutlich, wenn sie patriarchalisch Strukturen als Grundlage des Tourismus beschreibt. 144 3 Soziologische Zugänge <?page no="145"?> 23 Ergänzung: Luhmanns Theorie enthält ebenfalls eine konflikttheoretische Perspektive, die Konflikt als kommuniziertes Nein beschreibt. Damit ist der Konflikt ein normales Ereignis, das regelmäßig vorkommt und kein störender Faktor. Durch diese stark theorieorientierte Formulierung wird eine Betrachtung der strukturellen Bedingungen von Konflikten erschwert. Literatur zur Einführung Degele, N. (2008) Gender/ Queer Studies. München: UTB. Enloe, C. (2014). Bananas, Beaches and Bases: Making Feminist Sense of International Politics. 2. Aufl. Berkeley: University of California Press. Funk, W. (2018). Gender Studies. München: UTB. Gildemeister, R., & Hericks, K. (2012). Geschlechtersoziologie: theoretische Zugänge zu einer vertrackten Kategorie des Sozialen. Walter de Gruyter. Hochschild, A.R. (2003). The managed heart. Berkeley: University of California Press. Kant, I. (2013). Die Metaphysik der Sitten. Edition Holzinger. Langton, R. (2009). Sexual Solipsism: Philosophical Essays on Pornography and Objectification. Oxford: Oxford University Press. Nussbaum, M. (1999). Sex and Social Justice. Oxford: Oxford University Press. 3.8 Konflikte In den bisherigen Abschnitten dominierte das Bild einer geordneten Gesell‐ schaft, deren Mitglieder Werte und Normen (→ Kapitel 3.3) teilen und die gemeinsame Ziele verfolgen. Alternativ dazu kann Gesellschaft nach Luhmann 23 (→ Kapitel 3.2) als eine Vielzahl von Systemen betrachtet werden, die jeweils weltumspannend sind und sich in einem komplexen Umfeld selbstreferentiell verhalten. Diese Darstellungen entsprechen jedoch weder der gesellschaftlichen Realität noch geben sie das Feld soziologischer Betrachtungen vollständig wieder. Neben Ordnung, ordnenden Prozessen und reibungsloser Integra‐ tion müssen Konflikte behandelt werden. Bei diesen handelt es sich um widersprüchliche Interessen und dem damit verbundenen Einsatz von Macht- und Einflussmitteln, um die eigenen Ziele zu erreichen und sich gegen Gegner: innen durchzusetzen. Gerade in modernen, pluralistischen Gesellschaften ist Konflikt ein Normalzustand und nicht, wie von struktur-funktionalistischen Ansätzen 3.8 Konflikte 145 <?page no="146"?> beschrieben, eine Störung der ansonsten reibungslos funktionierenden ge‐ sellschaftlichen Integration. Konflikte können innerhalb einer Gesellschaft und zwischen Gesellschaften oder Kulturen entstehen. Beispiele für Kon‐ flikte innerhalb einer Gesellschaft sind Konflikte zwischen Klassen und an‐ deren gesellschaftlichen Gruppierungen, Rollen- und Verteilungskonflikte. Zwischen Gesellschaften kommt es ebenfalls zu Verteilungskonflikten und kulturell bedingten Konflikten bspw. aufgrund gegensätzlicher Wertvorstel‐ lungen. Karl Marx (→ Kapitel 2.1.2) nimmt den Konflikt zwischen Klassen als Ausgangspunkt seiner Theorie (insbesondere in seinem Werk »Das Kapital«). Ralf Dahrendorf (1992) und Lewis Coser (1965) haben ihre soziologischen Theorien als Konflikttheorien formuliert. Somit ist Konflikt das zentrale Element von Gesellschaft und eine zentrale Form der Vergesellschaftung. Simmel hat 1908 bereits darauf verwiesen, dass Streit dazu dienen kann, eine Gruppe zu festigen. Literatur zur Einführung Bonacker, T. (2005). Sozialwissenschaftliche Konflikttheorien (Vol. 32005). Wiesbaden. Coser, L. (1965). Theorie sozialer Konflikte. Wiesbaden: Verlag für Sozialwis‐ senschaften. Dahrendorf, R. (1992). Der moderne soziale Konflikt. Stuttgart: Deutsche Ver‐ lagsanstalt. Marx, K. (2020). Das Kapital. München: Anaconca. Simmel, G. (1992). Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesell‐ schaftung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bei der Beschreibung von Rollen (→ Kapitel 3.5) wurde bereits darauf hingewiesen, dass widersprüchliche Rollenerwartungen an die Rolle gestellt werden oder dass ein Mensch mehrere Rollen mit gegensätzlichen Anfor‐ derungen übernehmen kann. Diese Widersprüche und Gegensätze führen zu Intra- oder Interrollenkonflikten. Menschen lernen, mit diesen Kon‐ flikten umzugehen, und sie entwickeln, wie in → Kapitel 3.5 dargestellt, unterschiedliche Strategien. Dieses individuelle konfliktlösende Verhalten kann gesellschaftliche Auswirkungen haben. So kann ein verändertes role making, wenn es von mehreren Personen übernommen wird, zu einer Ver‐ änderung der Rolle führen. Demnach sind Konflikte ein wichtiges Element 146 3 Soziologische Zugänge <?page no="147"?> und Initiator für gesellschaftlichen Wandel auf der individuellen Ebene und der Ebene von Rollen. Die soziologische Konflikttheorie stellt die Bedürfnisse und die Möglich‐ keiten der Bedürfnisbefriedigung in Relation zueinander und nimmt diese als Ursache für Konflikte. Zu den Bedürfnissen zählen sowohl Bedürfnisse nach materiellen Gütern, aber auch nach immateriellen Dingen wie Prestige, Macht, Bildung, Anerkennung und Liebe. Da diese Güter und Dinge knapp sind, entstehen innerhalb einer Gesellschaft Konflikte. Die Verteilung knapper Güter innerhalb einer Gesellschaft ist ein grund‐ legendes Problem, das zu Verteilungskonflikten führt. Die Verteilung von teilbaren Gütern bezieht sich darauf, wer wieviel von etwas bekommt. Dieses muss ausgehandelt werden. Wesentlich für die Austragung und Lösung von Verteilungskonflikten sind ein Verteilungsmechanismus und ein Verteilungsmedium, zumeist Geld. So werden nicht die einzelnen Güter direkt verteilt, sondern Geld wird verteilt und Menschen können mit diesem die Güter kaufen. Hinzu kommen Konflikte, die sich aus unterschiedlichen Ansichten darüber, wie Ziele erreicht werden sollen, ergeben. Der Einsatz von Tech‐ nologien, die Umsetzung von Strategien oder die politische Umsetzung sind Beispiele dafür. Schließlich resultieren Konflikte aus widersprüchlichen Wertvorstellun‐ gen und Geltungsansprüchen innerhalb einer Gesellschaft oder zwischen Gesellschaften. Solche kulturellen Konflikte sind meistens intensiver als Verteilungskonflikte, da es sich um emotional besetzte Vorstellungen mit hoher Relevanz für die Identität (→ Kapitel 3.13 Identität) handelt. Es kann somit sein, dass im Gegensatz zu den Verteilungskonflikten, bei denen jeder etwas erhält, eine Gruppe den Eindruck erhält, unberücksichtigt zu sein. Denkübung | Konflikte im Tourismus Welche Konflikte existieren im Tourismus? Denken Sie über Rollen-, Verteilungs- und kulturelle Konflikte nach: Wer steht sich im Konflikt gegenüber? Welche Interessen haben die beteiligten Personen, Gruppen, Gesellschaften? Wer wird den Konflikt weswegen gewinnen? Tipp 1: Wer hat das Anrecht auf Urlaub? Wer ist in der modernen Welt mobil (→ Kapitel 4.3)? Tipp 2: Wieso gelten Wasserrestriktionen in Südafrika nicht für Tou‐ rist: innen? 3.8 Konflikte 147 <?page no="148"?> Tipp 3: Wer entscheidet darüber, ob der Stierkampf in Spanien ein kulturelles Gut ist oder nicht? Tipp 4: Wie fühlt sich eine Pursurette, wenn ein Fluggast ihren Rang nicht akzeptiert? Butler (→ Kapitel 2.2.9) hat in seinen späteren Arbeiten den Konflikt zwischen Tourist: innen und Einheimischen als zentralen Aspekt des Tourismus diskutiert. 3.9 Macht Die zuvor beschriebenen Konflikte weisen auf Ungleichheiten innerhalb einer Gesellschaft hin. Es existieren Elemente, Gruppen, Schichten oder Klassen, die Verteilungsstrukturen und Deutungsmuster bestimmen und legitime Bedürfnisse definieren können. Die Grundlage dafür ist Macht. Zitat »Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.« (Weber, 1980, S. 28) »Der Begriff ›Macht‹ ist soziologisch amorph. Alle denkbaren Qualitä‐ ten eines Menschen und alle denkbaren Konstellationen können jemand in die Lage versetzen, seinen Willen in einer gegebenen Situation durchzusetzen.« (ebenda) Macht ist nach Weber die Fähigkeit, die eigenen Interessen auch gegen den Widerstand von anderen durchzusetzen. Sie resultiert aus einer angenom‐ menen oder tatsächlichen Überlegenheit der einen und einer angenomme‐ nen oder tatsächlichen Unterlegenheit der anderen Seite. Es existiert eine Vielzahl von Machtquellen, die Individuen, Gruppen oder auch Institutionen in eine Machtposition setzen können. Neuerdings muss ergänzend die Macht von Objekten und Netzwerken diskutiert werden. Anregungen dazu kommen aus der Akteur-Netzwerk-Theorie (→-Kapitel 3.15). 148 3 Soziologische Zugänge <?page no="149"?> 24 Es existieren unterschiedliche Herangehensweisen an die Betrachtung von Macht. Mann (1986) unterscheidet vier Machtquellen, während French & Raven (1959) von fünf Machtbasen ausgehen. Die reinste Form 24 von Macht ist physische oder brachiale Macht. Sie basiert auf der Androhung oder Anwendung von physischer oder psychischer Gewalt, wie Schmerzen, körperlichem Schaden, Beleidigungen, der Einschränkung von Bewegungsfreiheit und anderem. Die Machtausüb‐ enden haben die Möglichkeit, Sanktionen durchzusetzen. Im Gegensatz dazu steht autoritative Macht, die aus dem Anerken‐ nungsstreben von Menschen resultiert. Diese wollen von der Autorität anerkannt werden und akzeptieren deswegen, dass das Gegenüber über sie bestimmt. Auch legitime Macht basiert auf der Überzeugung, dass andere Personen Macht ausüben dürfen. Diese Form der Macht wäre in Webers Terminologie Herrschaft, da die Macht von den Untergebenen anerkannt wird. Die Legitimation beruht auf übergeordneten Rollen, auf der Tatsache, dass die Person gewählt wurde oder auf entsprechenden rechtlichen Regelungen. In modernen Gesellschaften hat instrumentelle Macht eine große Bedeutung. Sie ermöglicht die Kontrolle von Ressourcen, vor allem die Verfügungsgewalt über knappe Ressourcen, die andere für ihre Bedürfnis‐ befriedigung benötigen. Der Zugang zu Gütern und Dienstleistungen, aber auch die Verteilung von Gehältern wird kontrolliert. Normative Macht basiert auf der Verteilung von symbolischen Beloh‐ nungen und Bestrafungen. Dazu gehören u.a. Lob, Anerkennung und Tadel. Anerkennung, Prestige und Wertschätzung werden ebenso wie materielle Güter innerhalb der Gesellschaft verteilt. Sowohl innerhalb von Hierarchien als auch auf derselben Ebene existieren Positionen, die über normative Macht verfügen und darüber Druck auf andere ausüben können. Macht kann sich ergeben, wenn Menschen und Einrichtungen Rahmen‐ bedingungen kontrollieren können. Bourdieu (siehe weiter unten) hat gezeigt, dass vor allem die Kontrolle von Zugängen zur Bildung Macht‐ unterschiede innerhalb einer Gesellschaft verfestigt. Es sind nicht allein wirtschaftliche, sondern auch und insbesondere kulturelle Hindernisse, die den Zugang für unterprivilegierte Personen versperren. Die Einbindung in soziale Beziehungen beeinflusst die gesellschaftliche Position und damit die Macht maßgeblich. Eine weitere Quelle von Macht ergibt sich aus Wissen. Oft besitzen Machtausübende Wissen, das andere nicht haben. Die damit verbundenen 3.9 Macht 149 <?page no="150"?> Kenntnisse und Fähigkeiten führen zu einer Abhängigkeit, die es den Machtausübenden ermöglicht, die eigenen Interessen durchzusetzen. Während bei Macht durch Wissensvorsprung die Machtausübenden tatsächlich über Fähigkeiten verfügen, die andere nicht besitzen, handelt es sich bei der Informationsmacht erneut um eine aus Kontrolle resultie‐ rende Macht. Die Machtausübenden können den Zugang zu Informationen kontrollieren, die Verbreitung von Informationen steuern und Informatio‐ nen manipulieren. Dadurch werden die Informationsempfänger: innen im Interesse der Informationssender: innen beeinflusst. Denkübung | Die Verfügungsgewalt der Tourismuswirtschaft Welche Verfügungsgewalt hat die Tourismusindustrie? Was verspricht diese und welche Bedürfnisse werden damit adressiert? Was geschieht, wenn der Urlaub die Erfüllung von Träumen, soziale Anerkennung, Sex, Spaß und manchmal sogar das Paradies verspricht und der Zugang dazu nicht für alle offen ist? Die zuvor beschriebenen Machtverhältnisse sind sowohl auf der persönli‐ chen als auch auf der gesellschaftlichen Ebene nachzuweisen. So können nicht nur Individuen, sondern auch staatliche Institutionen (z.B. Regierung) und private Organisationen (z.B. Unternehmen) über Macht verfügen. Für Karl Marx kommen Machtverhältnisse als sachliche Machtverhältnisse, konkret als Macht des Geldes und Herrschaft des Kapitals zur Geltung. Pierre Bourdieu hat in seinen Werken soziale Ungleichheiten und Macht‐ mechanismen innerhalb der Gesellschaft aufgedeckt, die nicht auf den ersten Blick sichtbar sind. In dem Buch »Die feinen Unterschiede« (1982, Original: 1979) analysiert er, wie die herrschende Klasse durch ökonomisches, kultu‐ relles und soziales Kapital zu mehr Macht und Einfluss gelangt. Diese Macht kann genutzt werden, um kulturelle Hindernisse aufzubauen und somit die eigene Position abzusichern. Ökonomisches Kapital allein reicht somit nicht aus, um in der Gesellschaft insgesamt aufzusteigen. Milieubedingte Einstellungen, Fähigkeiten und Vorkenntnisse sowie Wertvorstellungen und Selbstbewusstsein sind ebenfalls erforderlich und im starken Maße vom Elternhaus abhängig. Bourdieu verwendet den Begriff Habitus, um die Menge von Verhaltensweisen, Geschmacksurteilen und Lebensstil zu beschreiben, die Menschen von Kindheit an erleben und erlernen, ohne dass es ihnen bewusst ist. Der Habitus wird im sozialen Feld genutzt, um sich von anderen abzugrenzen und somit den Kampf um soziale Anerkennung zu 150 3 Soziologische Zugänge <?page no="151"?> gewinnen. Bourdieu spricht von symbolischer Macht als der Möglichkeit, Deutungs- und Bewertungssysteme zu definieren. Zitat »Skifahren war früher ein eher aristokratisches Vergnügen. Kaum war es populär geworden, verließen die Aristokraten die eingefahrenen Pis‐ ten. Kultur, das ist im Grunde immer etwas außerhalb der Pisten. Kaum bevölkern die breiten Massen die Meeresstrände, flieht die Bourgeoise aufs Land.« (Bourdieu, 1983). Wie das Zitat zeigt, ist der Urlaub ebenfalls ein Element des Habitus, das eine Abgrenzung ermöglicht. Zum Urlaub gehört die Wahl von Urlaubsort, Verkehrsmittel, Unterkunft und Aktivitäten. Um bestimmte Urlaubsformen nutzen zu können, reicht Geld alleine nicht aus. Es sind kulturelle Fertigkei‐ ten und Fähigkeiten sowie das Wissen über den aktuell angesagten Urlaub erforderlich. Wissen │ Kapital Bourdieu hat in seinen Werken die Bedeutung und Wirkweise des öko‐ nomischen Kapitals (finanzielle Mittel, Produktionsmittel) beschrie‐ ben. Neben dem ökonomischen Kapitel existieren andere Kapitalsorten, die in der modernen Gesellschaft zunehmend an Bedeutung gewinnen. Soziales Kapital umfasst alle Ressourcen, die sich daraus ergeben, dass ein Mensch zu einer Gruppe gehört und dass diese Zugehörigkeit Macht und Einfluss verschafft. Quantität, Qualität und die Möglichkeit, diese Beziehungen zu nutzen, sind ein wichtiges Kriterium. Kulturelles Kapital umfasst Bildung (inkorporiertes kulturelles Kapital), kulturelle Güter (objektiviertes kulturelles Kapital) und Bildungstitel (institutio‐ nalisiertes kulturelles Kapital). In den vorhergehenden Abschnitten wurde an vielen Stellen bereits der Einfluss von Macht im Tourismus erkennbar: Wer bestimmt darüber, wel‐ che Erwartungen an eine touristische Rolle gestellt werden? Wer bestimmt, welche Attraktionen und welche Verhaltensweisen authentisch sind und welche nicht? Wieso können Explorer neue Reiseformen kreieren? Wieso verhalten sich Einheimische so, wie es Tourist: innen erwarten? 3.9 Macht 151 <?page no="152"?> Die Antwort auf diese Fragen lautet immer, dass soziale Akteure, die mehr Macht haben als andere, ihre Interessen durchsetzen bzw. Situationen so gestalten können, dass sie einen Vorteil daraus ziehen können. In Abhän‐ gigkeit von der theoretischen Perspektive sind die Machtausübenden: die Tourismusindustrie, westliche Gesellschaften, herrschende Klassen inner‐ halb einer Gesellschaft oder Influencer in den sozialen Medien. Urry (→ Kapitel 2.2.7) hat darauf hingewiesen, dass das Fotografieren eine Machtbeziehung beinhaltet. Die fotografierenden und dann auf Instagram postenden Tourist: innen (→-Kapitel 4.10) kontrolliert das Gegenüber. Die Analyse von Machtstrukturen ist nicht trivial, da diese in soziale Beziehungen eingebunden und von sozialen Normen und Werten getragen sind. Oft haben sich Machtstrukturen tradiert und die Frage danach, warum die Machtverteilung so strukturiert ist, kann nicht beantwortet werden. Ein zweites Problem ergibt sich daraus, dass Machtverhältnisse in Ungleichheit und in Ungerechtigkeit münden. Davon profitieren manche und andere werden diskriminiert und ausgebeutet. Erstere werden versuchen, ihre Interessen zu wahren. Machtverhältnisse sind nicht grundsätzlich negativ zu bewerten und eine Gesellschaft mit völlig ausgeglichenen Machtbalancen ist wohl nicht denkbar. Entscheidend sind die Formen der Machtausübung, die Kontrolle und die Möglichkeit der Veränderung. Wenn eine Reiseleite‐ rin aufgrund des Wissens- und Informationsvorsprungs sowie ergänzend legitimiert durch ihre professionelle Rolle den Mitgliedern der Reisegruppe vorgibt, wann und wo diese sich zu treffen haben, ist das eine legitime Ausübung von Macht. Wenn sie jedoch in Absprache mit Unternehmen die Reisegruppe nur in solche Einrichtungen führt, die vertraglich eingebunden sind, ist dieses eine Beeinflussung basierend auf instrumenteller Macht. In → Kapitel 4.3 Begegnung mit Ungleichheiten erfolgt eine detaillierte Analyse der Zusammenhänge von Macht und Tourismus. 152 3 Soziologische Zugänge <?page no="153"?> 25 Zum Unterschied von Macht und Gewalt siehe Arendt (1998, S.-36ff.). Machttyp Beschreibung Gewalt 25 / Zwang coercion (F&R) Aktionsmacht (Pp) Eine Person ist in der der Lage, das Gegen‐ über auch gegen dessen Willen zu einem Handeln zu zwingen. Die menschliche Verletzbarkeit ermächtigt eine Person, andere zu verletzen und bringt die Gefahr, verletzt zu werden. Legitimität: Autorität, Charisma, Rollen, soziale Normen und Strukturen legitimacy/ referent (F&R) autoritative Macht (Pp) Ein Gegenüber und dessen Überlegenheit werden akzeptiert, weil soziale Strukturen, Normen o. Ä. dieses vorschreiben. Es findet eine Identifikation mit dem Ge‐ genüber statt und daraus resultiert Akzep‐ tanz. Der Wunsch nach Anerkennung und die Angst vor Anerkennungsentzug geben dem Gegenüber die Fähigkeit, Verhaltens‐ maßstäbe zu setzen und auf Weltsicht, Wille und Selbstwertgefühl einzuwirken. Wissen, Können expert (F&R) datensetzende Macht (Pp) Menschen sind Mängelwesen und deswe‐ gen auf andere sowie auf technische Arte‐ fakte angewiesen Expertenwissen setzt Vertrauen voraus. Kontrolle: Verfügung, Zugang, Be‐ lohnung • materielle Ressourcen • symbolische Güter (B) • Rahmenbedingungen • Informationen reward (F&R) instrumentelle Macht (Pp) Es wird angenommen, dass das Gegenüber in der Lage ist, zu belohnen oder zu sank‐ tionieren. Das Gegenüber kontrolliert den Zugang zu wichtigen materiellen und im‐ materiellen Ressourcen. Die Möglichkeit der Teilhabe an kulturellen Veranstaltungen und Bildung wird eben‐ falls geöffnet und verschlossen. Informa‐ tionen werden gesteuert. Organisationsfähigkeit (Pp) Die dauerhafte Verfügbarkeit von Macht‐ mitteln, wiederholbare Situationen, die kontinuierliche Leistung der Unterlegenen und deren eingeschränkte Mobilität verfes‐ tigen die ungleiche Machtverteilung und verstärken die Abhängigkeiten. Mobilität Die Stärkung von Mobilität ermöglicht die Herauslösung aus Abhängigkeiten und stärkt somit die eigene Position. 3.9 Macht 153 <?page no="154"?> Machttyp Beschreibung diskursive Macht (F) Die Einschätzung eigener Möglichkeiten sowie Wünsche und Bedürfnisse werden durch diskursiv geschaffenes und gültig geglaubtes Wissen beeinflusst. Der Zugang zu diskursiven Vorgängen wird kontrol‐ liert. Vernetzung: nicht-humane Objekte und digitale Netzwerke unterschiedliche Elemente (materiell und semiotisch) schließen sich zusammen und wirken dann als Akteure. Tab. 3: Machtypen (B = Bourdieu, 1987, F = Foucault, 1996, F&R= French & Raven, 1959, Pp = Popitz, 2004) Unter dem Begriff empowerment und in Verbindung mit nachhaltigem resp. verantwortlichem Tourismus werden Ansätze entwickelt, um Tourismus auf eine solche Art zu gestalten, dass Menschen in den Zielgebieten gestärkt werden. Dazu gehört die Stärkung der Frau ebenso wie die Entwicklung neuer Formen des Tourismus (→ Kapitel 4.4). Literatur zur Einführung Bourdieu, P. (1987). Die feinen Unterschiede. Frankfurt a.M. Foucault, M. (1996). Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt a. M.: Fischer. French, J. & Raven, B. (1959). The bases of social power. University of Michigan. Heuwinkel, K. (2019). Macht und Mächtige im Tourismus: Eine soziologische Betrachtung von Machtphänomenen. Schriften zu Tourismus und Freizeit, 24, 235-250. Mann, M. (1986). The Sources of Social Power, Volume I: A History from the Beginning to 1760 AD. Cambridge University Press. Popitz, H. (2004). Phänomene der Macht. 2. A. Tübingen: Mohr (Paul Siebeck). 3.10 Rituale In der Soziologie wird der Begriff Ritual sowohl für Phänomene des Alltags als auch für außeralltägliche Situationen verwendet. Beide Formen haben Relevanz für den Tourismus und werden im Anschluss an eine Definition von Ritualen separat beschrieben und hinsichtlich ihrer Relevanz für den Tourismus bewertet. 154 3 Soziologische Zugänge <?page no="155"?> Bei Ritualen handelt es sich um ästhetische soziale Ereignisse und Hand‐ lungen. Es sind sinnliche und emotionale Erlebnisse. Das bedeutet, dass in einem kollektiven Prozess Symbole genutzt werden, um das Selbstver‐ ständnis einer Gesellschaft auszudrücken, z.B. das gemeinsame Singen Loss mer singe während des Kölner Karnevals. Dadurch werden Werte, Rollen, Beziehungen und Verhaltensweisen gelebt, präsentiert, verstärkt und verändert. Die Struktur einer Gesellschaft wird sichtbar. Wissen │ Ästhetik Ästhetik ist ein Teilgebiet der Philosophie und ursprünglich die Lehre von der sinnlichen Wahrnehmung. Oft wird der Begriff auf Schönheit und Harmonie reduziert. Für den Tourismus sind beide Sichtweisen relevant. Erstens hilft das Wissen über die sinnliche Wahrnehmung - Urrys Gaze (→ Kapitel 2.2.7) sowie die Bedeutung des Körpers (→ Kapitel 4.8) - bei der Analyse touristischer Phänomene. Zweitens stellt sich im Tourismus häufig die Frage, was als schön bezeichnet und empfunden wird und warum das so ist. Ein prominentes Beispiel sind industriekulturelle Anlagen oder Trends bei der Einrichtung von Hotels. Weiterhin basiert der ganze Bereich des Kulturtourismus auf ästhetischen Vorstellungen. Die Soziologie untersucht in diesem Bereich u.a., wie sich neue ästheti‐ sche Leitbilder innerhalb einer Gesellschaft entwickeln und wie es zu Änderungen kommt. Relevant für den Tourismus ist beispielsweise, dass Sonnenbräune in vielen Ländern als attraktiv und als Zeichen für Ge‐ sundheit (entgegen der Warnungen von Dermatologinnen) angesehen wird. Gleiches gilt für die steigende Wertschätzung des athletischen Körpers und der daraus resultierenden gesteigerten Nachfrage nach Aktivurlaub. Durkheim (→ Kapitel 2.1.3) ging davon aus, dass Rituale die Gruppeniden‐ tität und das Gefühl der Zugehörigkeit bestätigen und stärken. Weiterhin werden Hierarchien und Rollen (→ Kapitel 3.5) innerhalb der Gruppe (→-Kapitel 3.12) demonstriert. Rituale sind nicht grundsätzlich mit einer religiösen Erfahrung resp. dem Pilgertum (vgl. MacCannell →-Kapitel 2.2.5) gleichzusetzen. In frühen Gesellschaften waren Rituale zumeist an religiöse Ereignisse gekoppelt. In modernen Gesellschaften verlieren die ursprünglichen Anlässe an Bedeu‐ tung, werden aber weiterhin als besondere Zeit empfunden (z.B. Weihnach‐ 3.10 Rituale 155 <?page no="156"?> ten). Ebenfalls werden von der Gesellschaft weitere Ereignisse bzw. Events kreiert, die für viele Menschen innerhalb der Gesellschaft wichtig sind (z.B. Fußballweltmeisterschaften). Alltagsbzw. Interaktionsrituale Im Alltag verankerte Rituale werden als Alltagsrituale bzw. Interaktionsri‐ tuale bezeichnet. Sie schreiben fest, wie die Interaktion zwischen Menschen in einer bestimmten Situation üblicherweise verläuft. Dazu gehören Begrüßung und Verabschiedung ebenso wie der Ablauf eines Gesprächs, Rechte und Pflichten der beteiligten Personen und Verhaltensweisen, die nicht erlaubt sind. Interaktionsrituale werden erlernt und einstudiert. Kinder spielen diese häufig nach, z.B. Kaufladen, Arztbesuch und Vater-Mutter-Kind. Ein Bruch mit Interaktionsritualen kann als abweichendes Verhalten (→ Kapitel 3.11) interpretiert werden. Goffman (1997) hat in dem Buch »Interaktionsrituale« eingehend Alltagsrituale analysiert. Touristisches Verhalten umfasst eine Vielzahl von Interaktionsritualen. Diese können den alltäglichen Ritualen entsprechen oder explizit widerspre‐ chen. In beiden Fällen ist der Alltag jedoch die Referenz für das Handeln. Beispiel │ Alkohol und Museumsbesuch als Ritual des Urlaubs Wenn ein Handballteam nach Saisonende nach Mallorca reist, sind einige Verhaltensweisen vorgeschrieben und andere ausgeschlossen. Der Konsum von Alkohol und Fastfood, coole Sprüche, wenig Schlaf und sexuelle Kontakte werden erwartet. Das Lesen eines Buches, der Besuch einer Kirche und eine gute Tasse grüner Tee gehören nicht dazu. Der Spruch »Malle ist nur einmal im Jahr« fasst die Ausnahmesituation in Worte, legitimiert und entschuldigt. Ein strukturell ähnliches Ritual ist der Besuch eines Museums während einer Reise, auch wenn eigentlich kein kulturelle Interesse besteht. Übergangsrituale Außeralltägliche Rituale leiten Veränderungen ein, die zu einem sozialen Rollen- und Statuswechsel führen. Anthropolog: innen haben rituelle Hand‐ lungen beschrieben, die in allen Kulturen nach ähnlichen Mustern stattfin‐ den. Arnold van Gennep thematisiert in seinem Hauptwerk »Übergangsri‐ ten« (Les rites des passage, Paris 1909) die Bedeutung von Riten, die weltweit 156 3 Soziologische Zugänge <?page no="157"?> zu finden sind. Ausgangsbasis für seine Überlegungen ist die Beobachtung, dass Gesellschaften aus verschiedenen Gruppen (Alter, Status, Religion, Beruf, Territorium etc.) bestehen und Individuen im Laufe ihres Lebens von einer Gruppe in eine andere wechseln. Anlässe für einen Wechsel sind tief eingreifende Einschnitte im Leben, wie beispielsweise Geburt, Pubertät, Heirat, Tod, das Ergreifen eines Berufs oder auch geografische Veränderungen. Jeder Wechsel bedeutet sowohl für das Individuum als auch für die Gesellschaft eine Störung. Übergangsriten dienen dazu, den Wechsel zu stabilisieren und Störungen aufzufangen. Diese Rituale enthalten Zeremonien, die den Übergang markieren. Dabei werden die drei Phasen Trennung, Marginalität (Schwellen- oder Umwand‐ lungsphase) und Angliederung durchlaufen. Durch die Übergangsriten wird die Anpassung an die neue Situation erleichtert. Van Gennep analysiert nicht nur Übergangsriten im individuellen Lebenslauf, sondern auch die rituelle Eingliederung von Fremden in die Gesellschaft. Übergangsriten haben nach van Gennep eine grundlegende soziale Be‐ deutung, da sie die Sozialstruktur stabilisieren und soziale Dynamiken kontrollieren. Ihre Struktur ist gleichbleibend, unabhängig davon, ob es sich um traditionelle oder moderne Gesellschaften handelt. Denkübung | Abifahrt als Übergangsritual Traditionelle Gesellschaften kennen Übergangsrituale für den Übergang von der Kindheit in das Erwachsensein. In manchen Gesellschaften gehört die Trennung der Heranwachsenden von den Eltern und das Leben in der Abgeschiedenheit dazu. Die Jugendlichen müssen alleine oder in einer Gruppe mit anderen eine gewisse Zeit getrennt von der Gesellschaft über- und erleben. Nach der Rückkehr gehören sie zu den Erwachsenen. In modernen Gesellschaften finden sich ebenfalls inszenierte autonome Gemeinschaften von Jugendlichen. Beispiele sind Reisen mit Freunden nach dem Abitur, viele von diesen nach Mallorca, oder Events (CSD und Festivals). Intensive Erfahrungen, laute Musik, Alkohol und Drogen sowie eine sexuelle Freizügigkeit sind wichtige Elemente. Auf der individuellen Ebene kann diskutiert werden, ob ein längerer Aufenthalt im Ausland nach dem Schulabschluss ein Äquivalent zum Leben in der Abgeschiedenheit ist. Ein Beispiel dafür ist die steigende Beliebtheit vom Voluntourismus (→-Kapitel 4.7). 3.10 Rituale 157 <?page no="158"?> Victor Turner (*1920 †1983) griff die von van Gennep beschriebenen Über‐ gangsriten und das Phasenkonzept auf und entwickelte die Schwellenphase unter dem Begriff der Liminalität weiter aus. In der liminalen Phase findet die eigentliche Veränderung statt. Die Individuen haben sich von der einen Gruppe gelöst und gehören noch nicht zu der anderen. Sie bilden gemeinsam mit anderen, die ebenfalls ohne Statusmerkmale sind, eine neue Gemein‐ schaft. Turner nennt diese communitas. In der liminalen Phase sind die üblichen Normen nicht mehr gültig. Es entsteht eine Strukturlosigkeit, die sich allerdings aus der ansonsten gültigen Gesellschaftsstruktur (societas) heraus definiert und somit eine Anti-Struktur bildet. Die communitas ist ambivalent, da sie einerseits die etablierte Ordnung hinterfragt. Andererseits bietet sie Raum für die Entwicklung neuer Ideen und die kreative Entfaltung der Individuen. Beides kann die Gesellschaft nutzen, um sich zu verändern und zu entwickeln. Wichtig ist, dass das normwidrige Verhalten innerhalb der communitas eine Pflicht bedeutet und somit kein völlig normfreier Raum existiert. Hier besteht eine direkte Verbindung zum vermeintlich abweichenden Verhalten (→ Kapitel 3.11) im Urlaub. Dieses kann als Konformität mit den Regeln der Anti-Struktur erklärt werden. Turner geht ergänzend auf das Konzept des Flows ein. Dieses beschreibt einen Zustand, bei dem ein Mensch ganz in der aktuellen Tätigkeit aufgeht und alles andere vergisst (vgl. dazu auch Csikszentmihalyi, 1990). Laut Turner sind in modernen Gesellschaften liminale Phänomene institutionalisiert, sprich Liminalität ist fest in die Struktur eingebaut. Beispiele dafür sind Theater, Zirkus und Kabarett, die Rolle der Künstler: in und Clowns oder auch Ereignisse wie Karneval. Das Konzept der Liminalität kann auf den Tourismus übertragen werden. Der Aufenthalt an einem ungewohnten Ort entspricht der Umwandlungs‐ phase mit vom Alltag abweichenden Normen. Menschen sind während der Reise von den üblichen Verpflichtungen befreit und es gelten neue Verhaltensregeln (siehe Graburn → Kapitel 2.2.6). Vorab erfolgt eine Tren‐ nung vom Alltag (z.B. Reisevorbereitungen wie Kofferpacken) und nach der Rückkehr eine Wiedereingliederung (z.B. Tapas-Abend). In der Literatur findet sich im Zusammenhang mit Tourismus der Begriff liminoide - schwellenähnliche - Phase (Turner, 1974). Zu diesen gehören kulturelle Veranstaltungen wie Konzerte, Sportevents, aber auch bestimmte Konsumformen, z.B. Winterschlussverkauf-Shoppen. 158 3 Soziologische Zugänge <?page no="159"?> Beispiel │ Hochzeitstourismus - doppelte Liminalität? Der Hochzeitstourismus weist eine doppelte Liminalität auf. Der Über‐ gang von einem Status (ledig) zum anderen (verheiratet) kommt in der Hochzeitszeremonie zum Ausdruck. Der Anteil der Paare, die diese Zeremonie mit einer Reise und einem Aufenthalt in einer anderen Region resp. anderem Land verbinden, steigt. Das Ritual der Hochzeit findet in der Reise eine Dopplung. Die Tourismuswirtschaft greift die strukturelle Bedeutung von Ritualen auf und kreiert Räume, in denen diese gelebt werden können. In der Kommunikation wird explizit auf die Möglichkeit der Veränderung hinge‐ wiesen. Fantasie- und Rollenspielveranstaltungen, wie die FaRK, kreieren für mehrere Tage Scheinwelten. Beispiel │ Schwellenphasen in der Werbung Einige Regionen versprechen eine Ich-Zeit oder Aus-Zeit, in welcher der Mensch in sich selbst versinken und alles andere vergessen kann. Die Erfahrung hilft dabei, sich zu verändern. »Das Souvenir Ihrer Reise zum Ich ist Ausgeglichenheit, innere Ruhe und der feste Vorsatz, es künftig ein bisschen ruhiger anzugehen.« (Quelle: Website Südliche Weinstraße) »Nichts mehr wird so sein wie früher - Ihr Leben wird sich verändern. Schritt für Schritt.« (Quelle: Website Naturpark der Nordvogesen) »It's both a quaint concept, carrying your possessions on your back like an olde-worlde pilgrim, and an activity for the indulged Westerner. But a month trekking in the Everest region of Nepal, engulfed by its mighty peaks at every turn is a reminder of how insignificant one is and, in a world of extraneous baggage, how little one needs.« (Quelle: Website Great Himalaya Trails) Condé Nast Traveller bietet auf der Website zahlreiche Inspirationen an. 🔗 https: / / www.cntraveller.com/ topic/ inspiration. Zusammenfassend bieten Ritualtheorien eine gute Ausgangsbasis für die Analyse touristischen Verhaltens vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Strukturen und Zustände. Selbst das scheinbar absurdeste Verhalten kann demnach im Sinne Webers deutend verstanden werden. 3.10 Rituale 159 <?page no="160"?> Literatur Klassiker (nach Erscheinungsjahr) van Gennep, A. (1986). Übergangsriten. Frankfurt a.M.: Campus (Original: Les Rites de Passage, Paris 1909). Durkheim, E. (1981) (zuerst 1912). Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (Original: 1912). Goffman, E. (1997). Interaktionsrituale. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (Original: Interaction Ritual, 1967, New York: Anchor Books). Turner, V. (1989). Das Ritual: Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt a.M.: Campus (Original: The Ritual Process, Structure and Anti-Structure, New York 1969). Gesamtdarstellungen: Bellinger, A. & Krieger, D. J. (1998). Ritualtheorien: Ein einführendes Handbuch. Opladen: Westdeutscher Verlag. 3.11 Devianz Jede Gesellschaft kennt Devianz als abweichendes Verhalten, das von der Gesellschaft oder von Teilen der Gesellschaft nicht akzeptiert wird. Es weicht von einer Regel ab, ist unerwünscht und wird (häufig) mit Sanktionen bestraft. Der Etikettierungsansatz (labeling approach) betont den Aspekt, dass abweichendes Verhalten durch soziale Umstände generiert wird und ob‐ jektiv nicht vorhanden ist (Becker, 2014). Sowohl der Maßstab für das Normale (die Regeln) als auch der Grad der noch erlaubten Abweichung und personenbezogene Bewertungen (z.B. Ausnahmen für prominente Per‐ sonen) sind gesellschaftlich definiert. Ein Blick auf historische und kulturelle Unterschiede, wie die Tötung eines Menschen bewertet wird, macht die‐ ses deutlich, z.B. Menschenopfer, Mord, Todesstrafe. Viele interkulturelle Probleme resultieren aus unterschiedlichen Ansichten über erlaubtes und deviantes Verhalten. Devianz und Normalität bzw. Konformität sind somit durch soziale Prozesse bestimmt und bedingen sich gegenseitig. So finden sich in jeder Gesellschaft, in jeder Gruppe Verhaltensweisen, die als normal angesehen werden. Variationen von der Norm werden bis zu einem gewissen Grad akzeptiert. Ob und unter welchen Umständen eine Variation als deviantes Verhalten bezeichnet wird, ist gesellschaftlich bedingt und abhängig von Person und Kontext. 160 3 Soziologische Zugänge <?page no="161"?> Ein Beispiel für Devianz auf gesamtgesellschaftlicher Ebene sind alle gegen geltendes Strafrecht verstoßende Taten, z.B. Mord, Totschlag und erpresserischer Menschenraub. Aber auch für diese gibt es mildernde Umstände. Manche Formen der Kriminalität, z.B. Wirtschaftskriminalität, werden von der Gesellschaft nicht einhellig als abweichend betrachtet. Zu den rechtlich verankerten Normen kommen allgemein geteilte Normen hinzu, die sich aus kulturell definierten Werten ableiten. Innerhalb einer Gesellschaft existieren starke Schwankungen hinsichtlich der Bewertung von Devianz. Beispiele für abweichendes Verhalten, das in vielen Ländern als solche definiert ist, sind die bereits genannten Straftaten, verfassungsfeind‐ liche Handlungen, Betrug und Fälschung. Weiterhin lassen sich Phasen und Situationen beschreiben die deviantes Verhalten eher erlauben als andere. In diesen Phasen gelten andere Regeln und die Besonderheit der Situation (z.B. Karneval, Kegelausflug, Jungge‐ sellenabend) dient als Entschuldigung resp. die dann geltenden Normen ersetzen die üblichen. Graburn (→ Kapitel 2.2.6) hat dieses sehr anschaulich beschrieben. Soziologische Arbeiten zu Ritualen (→ Kapitel 3.10) erklären, warum Gesellschaften solche Phasen benötigen und wie diese verlaufen. Typische Beispiele für Devianz im Tourismus sind Prostitution, Alko‐ hol- und Drogenkonsum, verschwenderischer Umgang mit natürlichen Ressourcen, Glückspiel, (unbewusste) Tierquälerei und Jagd. Hinzu kommen Handlungen, die im Alltag als »etwas über die Stränge schlagen« bezeichnet werden. Steigende Zahlen in diesen Bereichen erfordern eine kritische Betrachtung des touristischen Handelns (→ Kapitel 5). Problematisch wird das deviante Verhalten im Tourismus vor allem dann, wenn Menschen, Kulturen oder die Natur beschädigt und zerstört werden und »Urlaub« als Legitimation genommen wird. Literatur Becker, H. S. (2014). Außenseiter, 2. A., Wiesbaden: Springer. Lamnek, S. (2013). Theorien abweichenden Verhaltens I. 9. A., Paderborn: Fink/ UTB. Sack, F. (2020). Abweichung und Kriminalität. In H. Joas, S. Mau (Hrsg.). Lehrbuch der Soziologie. 4. A. (S. 275-320). Frankfurt a. M.: Campus. 3.11 Devianz 161 <?page no="162"?> 3.12 Gruppen Gesellschaft findet zu einem großen Teil in Gruppen statt. Menschen werden in Familien groß. Später haben Kindergartengruppen, Schulklassen, Sport‐ mannschaften, Vereine und Teams am Arbeitsplatz einen maßgeblichen Einfluss auf die Sozialisation eines Menschen. Darüber hinaus suchen Menschen Gruppen aus und auf, um in diesen ihr soziales Selbst zu entwi‐ ckeln (Tajfel & Turner, 2004). Tipp │ Erklärungsansätze für die Entstehung von Gruppen Sozialpsychologische Theorien (vgl. zum Einstieg Stürmer, 2009 und Stürmer & Siem, 2022) bieten unterschiedliche Erklärungsansätze für die Entstehung von Gruppen. So bringt das Zusammenleben in Gruppen Überlebensvorteile, da sich die Menschen gegenseitig unterstützen, schützen und in den Fähigkeiten ergänzen können. Menschen bilden in allen Gesellschaften Gruppen und Menschen haben ein angeborenes Bedürfnis zur Gruppenbildung. Weiterhin erleichtern Gruppen den Austausch von Gütern und anderen Ressourcen. Somit dient die Gruppenzugehörigkeit der individuellen Bedürfnisbefriedigung. Die eben beschriebene Bedürfnisbefriedigung reicht jedoch nicht aus, dass Menschen eine Gruppe im soziologischen Verständnis bilden. Wesentlich ist, dass sie sich tatsächlich mit dieser Gruppe identifizieren und Gemeinsamkeiten teilen. Eine Gruppe im strengen soziologischen Sinn ist eine Menge von Menschen (mehr als drei Personen), die miteinander in Beziehung stehen und sich dessen bewusst sind (Schäfers, 2016). Es ist wesentlich, dass sich die Mit‐ glieder einer Gruppe selbst als solche definieren und miteinander verbunden fühlen. Die Beziehungen innerhalb der Gruppe sind regelmäßig und zeitlich dauerhaft, so dass sich eine soziale Struktur entwickelt, in die alle Mitglie‐ der der Gruppe integriert sind. Geteilte Erfahrungen, gemeinsame Werte, Normen und Ziele sind Grundlage für ein Wir-Gefühl (Gruppenkohäsion). Die direkte Interaktion zwischen den Gruppenmitgliedern steigert das Bewusstsein über die Gemeinsamkeiten. Gruppe ist demnach mehr als eine soziale Kategorie (z.B. alle Kinder in Deutschland) oder als eine spontane Ansammlung von Menschen (z.B. Menge von Menschen, die an einer Haltestelle auf einen Bus warten). 162 3 Soziologische Zugänge <?page no="163"?> Die Übergänge zwischen Gruppe und Kategorie sind fließend, da durch äußere Einflüsse eine Menge von Merkmalsträgern zu einer Gruppe geformt werden kann (z.B. wenn der Bus nicht kommt und die Menschen an der Haltestelle sich organisieren, um eine Alternative für den Transport zu finden). Experimente und Arbeiten im Bereich der Kleingruppenforschung haben gezeigt, dass Menschen sehr schnell Kategorien aufgrund eines Merkmals (z.B. Hautfarbe, Sprache, Alter) bilden. Diese Kategorisierung führt zu einer perzeptuellen Akzentuierung von Gemeinsamkeiten und Unterschie‐ den. Das führt zur Assimilation einerseits und zur Kontrastierung an‐ dererseits. Assimilation bedeutet, dass Menschen, Ereignisse und Objekte ähnlicher bewerten, als sie tatsächlich sind. Kontrastierung hingegen be‐ schreibt, dass Unterschiede stärker wahrgenommen und das Gegenüber als unähnlicher angesehen wird. Übertragen auf die Gruppe bedeutet das, dass innerhalb der Gruppe eine Assimilation und gegenüber der Umwelt eine Kontrastierung stattfindet. Sozial geteilte Überzeugungen bezüglich der Eigenschaften von Mitglie‐ dern einer Gruppe werden soziale Stereotype genannt. Sie sind eine vereinfachte Darstellung und sozial konstruiert (→ Kapitel 3.6). Stereotype können sich sowohl auf die eigene Gruppe (Autostereotype) als auch auf eine Fremdgruppe (Heterostereotype) beziehen. Vorurteile sind im Gegensatz zu Stereotypen wertende und emotional besetzte Aussagen. Der Übergang zwischen Stereotyp und Vorurteil ist allerdings fließend, da eine Beschrei‐ bung sehr schnell wertende Aussagen enthält. Stereotype dienen zur Abgrenzung von anderen Gruppen. Die positive Bewertung geteilter Eigenschaften führt zu einem Gefühl der Überlegenheit. Da Menschen den Wert der eigenen Gruppe und damit die soziale Identität durch einen Vergleich mit anderen ermitteln, haben sie Interesse daran, die eigene Gruppe besser als eine Vergleichsgruppe zu bewerten. Stereotype werden weiterhin zur Erklärung komplexer Sachverhalte genutzt. Zustände innerhalb der Gesellschaft werden darauf zurückgeführt, dass eine Gruppe bzw. die Mitglieder der Gruppe so sind, wie sie laut Stereotyp sind. Schließlich dienen Stereotype als Rechtfertigung für die ungleiche Be‐ handlung anderer Menschen resp. dafür, dass Lebensumstände akzeptiert werden, die sonst nicht angemessen sind. Beispiele dafür sind das Leben im Überfluss von Filmstars und die oft unwürdigen Lebensumstände in Townships. 3.12 Gruppen 163 <?page no="164"?> Denkübung | Tourismus und Stereotype Überlegen Sie, welche Stereotype im Tourismus existieren. Denken Sie an unterschiedliche Nationalitäten und Regionen sowie an Rollen (→ Kapitel 3.5) und die Interaktion zwischen Tourist: innen und Einhei‐ mischen. Schauen Sie sich Werbematerial von Destinationen an: Wie sind dort die Menschen dargestellt (Stichwort: Lebensfreude, Sinnlichkeit, Naivität)? Welche Stereotype werden eingesetzt. Erkennen Sie eine Wertung innerhalb der Darstellung der Stereotype? Die Existenz von Umwelt und Fremdgruppen ist ein wesentlicher Aspekt bei der Analyse von Gruppen (Homans, 2013). Gruppen definieren sich in ihrem Wir immer durch eine Abgrenzung von etwas anderem. Somit ist die Existenz einer Umwelt wichtig für Bildung und den Zusammenhalt einer Gruppe. Konkurrenzsituationen erhöhen den Druck auf eine Gruppe und können die Mitglieder enger zusammenbringen. Dieser Mechanismus kann instru‐ mentalisiert werden, beispielsweise indem ein Feindbild konstruiert wird. Beispiel │ Reisegruppe Geführte Reisegruppen sind ein zentrales Element des Tourismus. Diese Reisegruppen bestehen nur für eine begrenzte Zeit. Allerdings verfolgen alle Personen ein gemeinsames Ziel, die Reise. Eine besondere Bedeu‐ tung kommt der Reiseleitung (→ Box in Kapitel 3.5) zu. Diese Person ist allen anderen deutlich überlegen (z.B. Sprachkompetenz, Wissen über das Land, Kontakte) und muss zwischen Gruppe und Umfeld vermitteln. Mitglieder einer Reisegruppe teilen das gemeinsame Interesse an der Reise. Während der Reise erleben sie Situationen und interagieren. Es kommt zu Begegnungen mit anderen Gruppen, was dazu führen kann, dass sich ein Wir-Gefühl bildet. Bei manchen Reisen werden durch die Reiseleitung absichtlich Gruppen gebildet, z.B. bei Jugendreisen durch die Einteilung in namentlich bezeichnete Häuser oder Camps. Andererseits wählen Reisegruppen selbst erkennbare Merkmale aus, um eine Gemeinsamkeit zu schaffen und sich von anderen abzugrenzen, z.B. gleiche Kleidung. 164 3 Soziologische Zugänge <?page no="165"?> Innerhalb von Gruppen bilden sich Strukturen, Normen und Rollen heraus. Menschen passen ihr Verhalten an das Gruppenverhalten an, da sie Deutungs- und Verhaltensmuster übernehmen und das Bedürfnis haben, von der Gruppe akzeptiert zu werden. Das kann dazu führen, dass Menschen innerhalb einer Gruppe ein Verhalten wählen und als legitim erachten, welches sie außerhalb der Gruppe nicht respektieren würden. Ein verstärkender Effekt ist die durch die Zugehörigkeit zur Gruppe gewonnene Anonymität. Ein weiteres Merkmal von Gruppen ist die Ausbildung von Rollen (→ Kapitel 3.5). Bei Rollen handelt es sich um normierte Erwartungen, die an Personen, die eine bestimmte Positionen innerhalb einer Gruppe be‐ setzen, gerichtet werden. Zumeist findet sich die Rolle einer anführenden Person, welche die Leitung der Gruppe übernimmt. Im Gegensatz dazu stehen Querulant: in und Sündenbock, welche die Leitung hinterfragen und von den Vorgaben abweichen. Beide sind für die Gruppe wichtig, da sie die innere Kohäsion stärken. Sie sind die in die Gruppe integrierte Fremdgruppe und sorgen dafür, dass die Umwelt nicht vergessen wird. Sobald ein: e Querulant: in zu sehr abweicht und aus der Gruppe gestoßen wird, übernimmt eine andere Person die Rolle des bzw. der Querulant: in. Auch der Clown bringt Bewegung in die Gruppe, allerdings auf eine positive und aufmunternde Weise. Die meisten Mitglieder der Gruppe verhalten sich unauffällig und sind Mitläufer. Oft unbeachtet und unter‐ bewertet ist der stille Experte, der das eigentliche Wissen hat, dieses aber nicht sonderlich betont. Tipp │ Wer ist wer innerhalb einer Gruppe? Egal, ob ein Mensch ein Mitglied in einer Gruppe ist oder als Reiseleiterin arbeitet, es ist immer hilfreich, typische Vorgänge innerhalb einer Gruppe zu kennen. Beispielsweise hilft die Aufdeckung von Rollen dabei zu verstehen, warum sich Menschen auf eine bestimmte Weise verhalten. Es kann aufschlussreich sein, der Rollenbildung - vor allem Querulant: in und Clown - entgegenzuwirken oder diese zu lenken. Ratgeber zur Teamführung greifen gruppensoziologische Erkenntnisse auf. 3.12 Gruppen 165 <?page no="166"?> Literatur zur Einführung Neidhardt, F. (Hrsg.) (1983). Gruppensoziologie: Perspektiven und Materialien. Sonderheft 25. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Schäfers, B. (2002). Einführung in die Gruppensoziologie. Geschichte, Theorien, Analysen. München: UTB. Stürmer, S. (2009). Sozialpsychologie. München: UTB Stürmer, S., & Siem, B. (2022). Sozialpsychologie der Gruppe. München: UTB. 3.13 Identität, Lebensstil und Körper Identität ist ein Begriff, der sowohl in der Psychologie als auch in der Soziologie verwendet wird. Er ist eine Antwort auf die Frage, wer man selbst ist. Aus psychologischer Sicht ist es von Interesse zu untersuchen, wie eine lebensgeschichtliche und situationsübergreifende Gleichheit der Wahrnehmung der eigenen Person möglich ist, obwohl ein Mensch sich im Laufe des Lebens sowohl äußerlich als auch innerlich verändert. Somit existiert Identität nicht, sondern wird in Interaktion mit dem Umfeld geschaffen. Sie ist das Ergebnis gesellschaftlicher Konstruktion (→-Kapitel 3.6) und damit ein Untersuchungsgegenstand der Soziologie. Wissen-│-Identität, Persönlichkeit und Selbst Persönlichkeit (Wahrnehmbare Merkmale) beschreibt die einzigartige Kombination von Merkmalen einer Person sowie das Wechselspiel dieser Merkmale. Die Beschreibung erfolgt zumeist im Vergleich mit anderen Personen. Ein bekanntes Modell ist das OCEAN-Modell (open‐ ness (Offenheit), conscientiousness (Gewissenhaftigkeit), agreeableness (Verträglichkeit), extraversion (Extraversion), neuroticism (emotionale Labilität). Die auch Big Five genannten Dimensionen der Persönlichkeit bilden die Grundlage für gängige Persönlichkeitstests Das Selbst (Einstellung zur und Bewertung der eigenen Person) be‐ schreibt die Innensicht und Selbstreflexion. Menschen machen sich zum Gegenstand des Denkens. Sie entwickeln ein Selbstkonzept und organisieren ihre Erfahrungen gemäß diesem Konzept. Identität (Schnittstelle zwischen Innen und Außen) ist eng mit dem Selbstkonzept verbunden. Die Betonung liegt stärker auf der sozialen Bedingtheit und der kontinuierlichen Konstruktion der Identität. Mead 166 3 Soziologische Zugänge <?page no="167"?> (1973, S. 295) beschreibt die Bedeutung der Interaktion mit Anderen für die Entwicklung der Identität: »Wir müssen andere sein, um wir selbst sein zu können.« Zum Weiterlesen: Neyer, F. J., & Asendorpf, J. B. (2017). Psychologie der Persönlichkeit. Heidelberg: Springer-Verlag. Mead, G.H. (1973). Geist, Identität und Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Identität bedeutet, dass das subjektive Innen und das gesellschaftliche Außen miteinander abgeglichen werden. Das Individuum verortet sich innerhalb der Gesellschaft und erlangt auf diese Weise Anerkennung. Der Preis, der dafür bezahlt werden muss, ist die - mehr oder weniger starke - Anpassung des Innen an das Außen. Das Individuum benötigt für diesen Prozess ein bestimmtes Maß an Souveränität und Selbstvertrauen, da Kontinuität und Kohärenz der Identität trotz Veränderungen erreicht werden müssen. In modernen Gesellschaften wird zunehmend die Schaffung einer stabi‐ len, gesicherten und konsistenten Identität eingeschränkt. Es wird nicht mehr von einer stetigen Entwicklung im Sinne eines Reifungsprozesses ausgegangen, sondern von einer Abfolge von Identitätsprojekten oder der gleichzeitigen Verfolgung von mehreren Identitätsprojekten. Sowohl die inneren Bedürfnisse als auch die äußeren Zustände sind nicht konsistent. Aus diesem Grund muss Identitätsarbeit geleistet werden. Bei dieser han‐ delt es sich um einen kontinuierlichen Prozess, der die inneren Bedürfnisse harmonisieren und an die äußeren Zustände anpassen soll. Dabei sollen die inneren Bedürfnisse möglichst wenig eingeschränkt und den äußeren Zuständen möglichst gut entsprochen werden. Es handelt sich um ein kontinuierliches Abwägen und Austarieren. Anthony Giddens (*1938) stellt einen Bezug zwischen der Moderne und der Identität eines Menschen (self-identity) her, indem er argumentiert, dass in modernen Gesellschaften jeder Mensch gezwungen ist, sich mit der Identität auseinanderzusetzen. Die in traditionellen Gesellschaften vorhan‐ denen vorgegebenen Rollen und Verhaltensweisen verlieren an Bedeutung. Daher muss sich jeder Mensch Gedanken über alltägliche Aspekte wie Kleidung und Freizeitaktivitäten und über schwerwiegende Entscheidungen wie Beziehung und Berufswahl machen. 3.13 Identität, Lebensstil und Körper 167 <?page no="168"?> Zitat »What to do? How to act? Who to be? These are focal questions for everyone living in circumstances of late modernity - and ones which, on some level or another, all of us answer, either discursively or through day-to-day social behaviour.« (Giddens, 1991, S. 70). Identität ist nach Giddens ein reflexives Projekt, an dem Menschen konti‐ nuierlich arbeiten. Reflexive Modernization (reflexive Modernisierung) betont, dass der Mensch sich selbst erfindet und sich dessen bewusst ist. Es handelt sich um einen narrativen Prozess, in dem der Mensch seine Biografie auf eine bestimmte Art und Weise erzählt. Dazu müssen Ereignisse, Verhaltensweisen und Einstellungen in einen sinnhaften Zusammenhang gebracht werden, der sowohl einen Bezug zur Vergangenheit als auch zur Zukunft hat. Starke Abweichungen und Brüche in der Erzählung müssen argumentiert werden, da sie sonst ein Problem für die eigene Identität und das soziale Umfeld bedeuten. Eine erfolgreiche Geschichte ist somit einerseits erforderlich, um ein gesundes Selbstbewusstsein aufzubauen, und zweitens, um soziale Anerkennung zu erfahren. Letzteres hat wiederum einen positiven Effekt auf das Selbstbewusstsein. Wenn Zuhörer: innen die erzählte Geschichte anerkennen, fühlt sich die erzählende Person in ihrer Erzählung bestärkt. Zitat »It [the individual’s biography] must continually integrate events which occur in the external world, and sort them into the ongoing ›story‹ about the self.« (Giddens, 1991, S. 54). Zahlreiche Branchen haben die Reflexivität der Identität aufgegriffen und vermarkten ihre Produkte und Dienstleistungen als identitätsbildend oder -stärkend. Beispiele sind der gesamte Kleidungs- und Kosmetikbereich, die Unterhaltungselektronik sowie die Automobilindustrie. Aber auch Ge‐ nussmittel wie Getränke und Zigaretten können Aspekte der Identität unterstreichen. 168 3 Soziologische Zugänge <?page no="169"?> Denkübung | Tourismus und Identität Giddens zeigt, dass die Vorstellung der romantischen Liebe eng mit dem Erscheinen der romantischen Liebe in der Literatur verknüpft ist. Durch die Novelle gewinnt die romantische Liebe an Bedeutung und wird zum wesentlichen Teil der Identität. Gleiches gilt für die Sexualität, die einen wichtigen Teil der Identität ausmacht. Auch die Vorstellungen vom und von Reisen werden gesellschaftlich beeinflusst und in den Prozess der Identitätsbildung integriert. Reisen als Lebensform gewinnt in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung. Sowohl in der Literatur als auch im Fernsehen und im Internet in der Form von Blogs, YouTube-Kanälen, Instragram und TikTok. Die Vorstellung eines erfüllten Lebens schließt (aufregende) Reisen mit ein. Welche Auswirkungen hat diese Entwicklung auf die Identitätsentwick‐ lung von Menschen? Welche Anforderungen ergeben sich daraus an den Tourismus? Wie wichtig sind Reisen für Ihr Leben? Stellen Sie sich vor, Sie würden eine Reise gewinnen, die nicht zu ihnen passt, z.B. in ein Land, das Sie nie besuchen wollten oder eine Kreuzfahrt und Sie lehnen diese Reiseform ab: Würden Sie die Reise trotzdem antreten? Wie würden Sie darüber berichten? Die alltägliche Identitätsarbeit kann als kontinuierliches Streben nach einem Gefühl von Vollständigkeit und Harmonie verstanden werden. Sie findet in einem Raum statt, der - auch wenn traditionelle Rollen aufbrechen - durch gesellschaftliche Vorstellungen geprägt ist. Strukturen und Ideologien beeinflussen die persönlichen Vorstellungen und erfordern die Anpassung oder sogar Unterwerfung der individuellen Bedürfnisse. In Abhängigkeit von der theoretischen Perspektive stehen Identität, Selbst oder auch Subjekt und Aktor in veränderlicher Relation zur Gesellschaft. Während normativen Rollentheorien (→ Kapitel 3.5) das Subjekt fast ausblenden, konzipiert Habermas (1973) es mit der Ausbildung der Ich-Identität als freies Wesen. Das handelnde Subjekt erreicht durch reflektierte Auseinandersetzung in sozialer Interaktion eine Individuierung. 3.13 Identität, Lebensstil und Körper 169 <?page no="170"?> Zitat »Unter Persönlichkeit verstehe ich die Kompetenzen, die ein Subjekt sprach- und handlungsfähig machen, also instandsetzen, an Verständi‐ gungsprozessen teilzunehmen und dabei die eigene Identität zu behaup‐ ten.« (Habermas, 1995, Band-2, S.-209) Zentral für den Tourismus ist erstens die hohe Bedeutung von Interaktion vor dem Hintergrund der oft fehlenden Interaktion zwischen Tourist: innen und Einheimischen. Zweitens betont Habermas die Ausbildung eines mora‐ lischen Bewusstseins. Wie kann dieses im oft normfreien Feld Tourismus gesichert werden (→ Kapitel 5)? Ulrich Beck (2016) hat die Folgen der reflexiven Modernisierung auf Individuen untersucht und den Begriff der Risikogesellschaft geprägt. Eine wichtige Ergänzung sind Ansätze, die das Subjekt nicht mehr als in Zusammenhang resp. in Loslösung von gesellschaftlichen Erwartungen sehen. Das postmoderne Subjekt findet in kulturellen und ästhetischen Codes seine Identität (Reckwitz, 2007). Zentrale Konzepte sind in dem Zusammenhang kulturalistische Milieu- und Lebensstilanalysen (s.u.). Diese Zwänge führen dazu, dass Menschen andere Welten aufsuchen, um dort eine neue Identität auszuprobieren oder im Alltag nicht gelebte Verhaltensweisen zu leben (→ Kapitel 4.8 Gay Tourism). So bietet der Tourismus Gegen- und Scheinwelten an. In → Kapitel 4.8 wird der Zusammenhang zwischen Identität und Tourismus weiter diskutiert. Beispiel │ Reisen, Erzählung und Identität Tourismus kann zu unterschiedlichen Zwecken hinsichtlich der Iden‐ titätsbildung dienen. Erstens sind Geschichten über das Reisen ein Standardelement von Biografien. Zweitens werden besondere Reiseerfahrungen genutzt, um auf indivi‐ duelle Besonderheiten hinzuweisen. Eine Weinliebhaberin wird im Urlaub Wert auf weinbezogene Erlebnisse legen, während eine sportaf‐ fine Person, sportliche Aktivitäten betonen wird. Drittens können Reisen genutzt werden, um einen neuen Aspekt in die Lebensgeschichte einzubinden, z.B. die Entdeckung der Freude am Wandern. Der vermeintliche Bruch mit dem üblichen Erzählstrang wird verhindert, da die Reise an sich eine Ausnahmesituation bedeutet und den Raum für neue Erfahrungen schafft. 170 3 Soziologische Zugänge <?page no="171"?> Viertens können Reisen ein zentraler Bestandteil der virtuellen Iden‐ tität (→-Kapitel 4.8) eines Menschen sein. Lebensstil Ein ergänzender Begriff zur Identität ist Lebensform oder Lebensstil. Dieser gibt eine bestimmte Richtung für die Ausgestaltung der persönlichen Geschichte und der Identität vor. Er enthält ein Set von Einstellungen und Verhaltensweisen. Laut Giddens können Menschen verschiedene Lebensstil‐ sektoren (lifestyle sectors) aufbauen und darin ihre Identität gegenüber unterschiedlichen Zuschauern zur Geltung bringen. Zitat »A lifestyle can be defined as a more or less integrated set of practices which an individual embraces, not only because such practices fulfil utilitarian needs, but because they give material form to a particular narrative of self-identity.« (Giddens, 1991, S. 81) Der Tourismus bietet eine Vielzahl von Urlaubsformen an, die einen be‐ stimmten Lebensstil ausdrücken. Bekannte Beispiele sind Camping, Ruck‐ sackreisen, Wellnessurlaub, Pilgern oder auch eine Kreuzfahrt. Selbst die Kombination von Formen, wie z.B. Kulturreise plus Badeurlaub, sind vorge‐ fertigte Varianten, die etwas über das Selbst - in diesem Falle Vielseitigkeit - ausdrücken soll. Der im Urlaub gewählte Lebensstil ist häufig eine Ergänzung zu den all‐ täglichen Lebensstilen resp. er kompensiert, die im Alltag nicht realisierten Lebensstile. Wissen-│-Lebensstil und Milieu Innerhalb von Gesellschaften können Gruppierungen beschrieben wer‐ den, die horizontal oder vertikal angeordnet sind. Klassische Einteilun‐ gen basierten auf Einkommensunterschieden. Bourdieu (1987) hat darauf hingewiesen, dass das ökonomische Kapitel allein nicht ausschlagge‐ bend für die gesellschaftliche Position eines Menschen ist und als Er‐ gänzung das kulturelle, soziale und symbolische Kapital eingeführt (→ 3.13 Identität, Lebensstil und Körper 171 <?page no="172"?> Kapitel 3.9). Kulturelles und soziales Kapitel bestimmen den Habitus (Sozialverhalten) eines Menschen. Habitus (vgl. dazu auch Elias, 1997) umfasst Denk-, Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster, die unbewusst vom sozialen Feld übernommen wurden. Ein Element des Habitus ist der Lebensstil, der kulturelle Vorlieben beschreibt und eine Abgrenzung gegenüber anderen Personen ermöglicht. Ein weiterer Begriff ist Milieu. Ein Milieu fasst eine Menge von Menschen mit ähnlichen Lebensauffassungen, Wertorientierungen und Einstellungen zu Arbeit, Konsum, Familie und Partnerschaft zusammen. Milieu und Lebensstil bedingen einander und werden oft synonym verwendet. Während der Begriff Milieu jedoch auf die Gruppierung und relative stabile Werte fokussiert, setzt Lebensstil beim Individuum und relativ leicht zu verändernden Formen des Äußeren an. Ein Beispiel für die Milieus sind die Arbeiten von Schulze (1992) zu Erlebnismilieus, die das Konsumverhalten von Menschen in den Mit‐ telpunkt stellen. Empirische Studien, z. B. Sinus-Milieus, zeigen eine Vielfalt an Lebensstilen und Milieus. Identität und Körper In der bisherigen Darstellung wurde die Erzählung und Schaffung des Selbst unabhängig vom menschlichen Körper betrachtet. Giddens (1991) weist jedoch explizit darauf hin, dass der Körper nicht nur ein passives Objekt, sondern ein aktives Handlungssystem ist. Er ist wesentlich für die kohärente Wahrnehmung des Selbst und der Entwicklung einer Identität. Giddens Annahmen werden durch psychologische Studien, z.B. Daniel Kahnemans (2011) Arbeiten, belegt. Dieser zeigt die körperliche Bedingtheit von Gedanken. Zitate »The body is our general medium for having a world.« (Merleau-Ponty 2002, S.-169) »Cognition is embodied: you think with your body, not only with our brain.« (Kahneman, 2012, S.-51) 172 3 Soziologische Zugänge <?page no="173"?> Tipp-│-Körpersoziologie Die Soziologie des Körpers behandelt die Veränderungen der gesell‐ schaftlichen Bedeutung des Körpers sowie die daraus resultierenden Konsequenzen im Umgang mit Gefühls- und Körperreaktionen. Klassi‐ sche körpersoziologische Theorien umfassen Arbeiten von Durkheim zur Religionssoziologie (1983), Mauss zu Körpertechnologien (2010), Simmels Soziologie des Blicks (1983), Merleau-Ponty zur Interkorporali‐ tät (2002), Douglas zu Verkörperungsmechanismen (1981) und Goffman zu Stigma (2010). Zu aktuellen Darstellungen vgl. Bette (2005) und Gugutzer (2002). Laut Giddens (1991, S. 101ff.) dient erstens das äußere Erscheinungsbild (appearance) incl. Frisur, Kleidung, Schmuck etc. dazu, dem Umfeld Hinweise auf die Identität zu geben. Das Gebaren (demanour) bestimmt, wie das Erscheinungsbild im Alltag von dem Individuum eingesetzt wird. Beispiels‐ weise kann eine große Frau die Körperlänge betonen oder sich krumm machen, um diese zu verdecken. Die Sinnlichkeit (sensuality) beschreibt den Umstand, dass mit dem Körper Sinneswahrnehmungen aufgenommen und erlebt werden. Um den Körper zu gestalten, zu formen und gesund zu halten, gibt es Behandlungsweisen (regimes), u.a. Diäten, Sportprogramme und kosmetische Operationen. Auch Gugutzer (2002) formuliert, dass der Körper als »Objekt der Identitätskonstruktion« eingesetzt wird. Zitat »We become responsible for the design of our own bodies, and in a certain sense noted above are forced to do so the more post-traditional the social contexts in which we move.« (Giddens, 1991, S. 102) Die Bedeutung des Körpers für Identität und Selbst und die daraus resultie‐ renden Schwierigkeiten werden bei krankhaftem Essverhalten deutlich. Es ist ein Beispiel für eine Störung des Verhältnisses von Identität und dem gesellschaftlich erwarteten (jungen) Körper. Das Gefühl für Hunger und den Körper geht verloren und es wird ein (medial vermitteltes und idealisiertes) Erscheinungsbild angestrebt (Fuchs, 2015). Weitere Beispiele sind steigende Zahlen im Bereich der plastischen Chirurgie. 3.13 Identität, Lebensstil und Körper 173 <?page no="174"?> Beispiel │ Appearance, demanour, sensuality und regime des deutschen Wanderers Anhand der typisch deutschen Wandernden werden vier mit dem Kör‐ per verbundene Aspekte illustriert. Die typisch deutschen Wandernden beziehen sich auf aktive und regelmäßig wandernde Menschen. Das Erscheinungsbild umfasst: Meindl-Schuhe, eine Jack-Wolfskin-Jacke und einen Deuter-Rucksack (Interview Zewe). Das Gebaren, das deutsche Wandernde an den Tagen legen, drückt Kompetenz, Souveränität und Kontrolliertheit aus, selbst wenn die Person zum ersten Mal wandert. Sinnlichkeit wird an das Naturerleben geknüpft; klare Luft, unberührte Wälder, sauberes Wasser. Der typisch deutsche Wandernde ernährt sich bewusst, bevorzugt lokale und ökologisch angebaute Produkte und übernachtet gerne in Bio-Ho‐ tels. Tourismus umfasst jedoch nicht nur Tourist: innen, sondern ebenfalls Ein‐ heimische, die vom Tourismus betroffen sind, sei es gewollt oder ungewollt. Wenn es sich um eine professionelle Beziehung handelt, können Auswirkun‐ gen auf die Identität dadurch abgefangen werden, dass eine Rolle (→ Kapitel 3.5) gespielt wird, die nur bedingt etwas mit dem Selbst zu tun hat. Gleiches gilt bis zu einem gewissen Maß (→ Kapitel 3.6 Objectification) für alle be‐ ruflich oder professionell am Tourismus beteiligten Personen. Ganz anders ist es bei Einheimischen, die ungefragt und oft gegen ihren Willen zum touristischen Objekt werden. Das Bild von sich und daraus resultierend die Identität werden somit maßgeblich durch touristische Vorstellungen geprägt. Tipp-│-Radi-Aid Auf eine intelligente und amüsante Weise decken Videos der inzwischen abgeschlossenen Kampagne norwegischer Studierender gängige Stereo‐ type zu »Afrika« (auch das ist bereits eine vereinfachte Betrachtung) auf. Indem Beziehungen umgedreht werden - ein Chor fordert zur Hilfe für Norwegen auf, weil dort alle Menschen frieren - wird die Absurdität generalisierter Annahmen - alle Menschen in Afrika haben Hunger - entlarvt. 174 3 Soziologische Zugänge <?page no="175"?> Im Video »Who wants to be a volunteer? « zeigt sich deutlich die Instru‐ mentalisierung vermeintlich armen Menschen für die Inszenierung des Selbst als Retter: in im Voluntourismus (→ Kapitel 4.7) 🔗 https: / / www.radiaid.com/ Zitat »They [inhabitants of traditional societies] reinvent for them [foreig‐ ners] fêtes, shows, costumes, culinary practices or funeral rites in a new spirit of aestheticism.« (Lanfant, 1995, S. 38) Literatur Bette, K.-H. (2005). Körperspuren. Bielefeld: Transcript. Giddens, A. (1991). Modernity and self-identity. Cambridge: Polity. Gugutzer, R. (2002). Leib, Körper und Identität. Eine phänomenolo‐ gisch-soziologische Untersuchung zur personalen Identität. Wiesbaden: Westdt. Verlag. Kahneman, D. (2011). Thinking, Fast and Slow. London: Penguin. Lanfant, M.-F., Allcock, J. & Bruner, E. (Hrsg.) (1995). International Tourism. Identity and Change. London: Sage. Merleau-Ponty, M. (2002). Phenomenology of Perception. Psychology Press. 3.14 Mediale Darstellung Die Analyse von medial vermittelten Informations- und Kommunikations‐ prozessen hat in der Soziologie eine lange Tradition. In den 1920er-Jahren zogen Massenmedien - damals Zeitungen und Radio - die Aufmerksamkeit von Soziolog: innen auf sich. Unterschiedliche Theorien und empirische Ar‐ beiten untersuchten die Wirkungen der massenhaften Informationsverbrei‐ tung (Lippman, 2018). Im Vordergrund standen als Anwendungsbereiche Politik und Wirtschaft (Werbung). Sehr schnell wurde deutlich, dass Medien einerseits die Öffentlichkeit beeinflussen. Diese Beeinflussung erfolgt vor allem durch die Auswahl von Themen (agenda setting). So finden manche Themen, Produkte und Politiker: innen Aufmerksamkeit, während andere 3.14 Mediale Darstellung 175 <?page no="176"?> nicht oder nur kurz beachtet werden. Einen großen Einfluss haben die Nach‐ richtenfaktoren (Kaase, 2013). Andererseits können Medien nicht beliebig die Art und Weise, wie Themen diskutiert werden, beeinflussen. Darüber entscheiden opinion leader (Meinungsführer), die in Gruppen (→ Kapitel 3.12 Gruppen) einen besonders hohen Einfluss auf die Meinungsbildung und Entscheidungsfindung haben). Influencer in den sozialen Medien sind die neuen opinion leader, die vor dem Hintergrund der Mediatisierung (→-Kapitel 4.10) an vielen Stellen in der Gesellschaft Einfluss nehmen. Während bei Massenmedien Informationsprozesse im Vordergrund ste‐ hen, rückt bei digitalen Medien Interaktion, die nicht gleichbedeutend mit Kommunikation ist, in den Vordergrund. Da es sich um digitale Technolo‐ gien handelt, kann eine Reaktion ermittelt werden ohne dass die Person aktiv reagiert. Diese Daten sind beispielsweise Grundlage für Netnografie und Big Data (→-Kapitel 2.3.10). Wissen-│-Information und Kommunikation Bei Informationen handelt es sich um Zeichen, die zur Vermeidung oder Verminderung von Unwissenheit genutzt werden. Sie sind Ele‐ mente eines - gesellschaftlich geschaffenen - Zeichensystems. Sämtli‐ che Prozesse, in denen Kenntnisse und Wissen kreiert werden, stehen in Zusammenhang mit Informationen. Dazu zählen neben der Schaffung des grundlegenden Zeichensystems (z. B. Sprache) das Senden, Vermit‐ teln, Empfangen. Kommunikation ergänzt den Begriff der Information um den Aspekt des Verstehens und betont den Aspekt der Interaktion. Erst wenn die Information gedeutet und verstanden wird und darauf reagiert wird, handelt es sich um Kommunikation (vgl. auch Habermas Theorie des kommunikativen Handelns sowie Hepp, 2020, S. 592ff., zu Grundtypen von Kommunikation). Medien sind technisch basierte Mittel der Informationsverbreitung und Kommunikation. Die Technologien haben sich in den letzten hundert Jahren erheblich verändert mit Folgen für Quantität und Qualität der Interaktion. Gedruckte Zeitungen und analoges Radio erreichen ein anderes Publikum als ein Instagram oder TikTok-Kanal. In Befragungen wird regelmäßig erhoben, welche Informationsquellen für Reiseentscheidungen maßgeblich sind. Eine zentrale Komponente spielt dabei Vertrauen, das Menschen in eine Informationsquelle haben. Tourismus 176 3 Soziologische Zugänge <?page no="177"?> basiert aufgrund der Immaterialität resp. Intangibilität der Dienstleistungen im besonderen Maße auf Informationen und damit auf den Medien, die diese vermitteln (Freyer, 2011, S. 135). Da Menschen touristische Produkte nicht vorab testen können, müssen sie auf die Korrektheit der bereitgestellten Informationen vertrauen. Tourist: innen geben viele Informationen über sich preis, damit Anbietende passende Produkte und Dienstleitungen anbieten können. Sie vertrauen sich dem Gegenüber an und müssen darauf vertrauen, dass die komplexe touristische Dienstleistungskette funktioniert. Bei den klassischen Mittlern wie Reiseveranstaltern und Reisebüros steht speziell geschultes Personal bereit, um das Vertrauen aufzubauen. Sie empfehlen Transportwege und -mittel sowie Unterkunft und Verpflegung. Lang eta‐ blierte Strukturen und Prozesse sichern die Dienstleistungskette ab. Spezia‐ lisierte Rollen (→ Kapitel 3.5) und entsprechende Symbole (z. B. Uniform des Flugpersonals) garantieren Professionalität. Die steigende Mediatisierung (→ Kapitel 4.10) verändert die Art und Weise, wie Menschen sich informie‐ ren und kommunizieren. Ein weiterer wichtiger Aspekt sind die Formen der medialen Darstellung und ihre Auswirkungen auf Individuen und Gesellschaft. Im vorherigen Kapitel wurde bereits auf die Ausbildung der Identität im Wechselspiel mit dem Umfeld eingegangen. Ein Kernelement des Umfeldes sind Medien, da diese Bilder und Erwartungen darstellen, an denen sich Menschen orientieren. Tipp-│-Gender Display Goffman (→ Kapitel 2.1.5) hat neben der direkten Interaktion im Alltag auch die mediale Darstellung insbesondere von Gender untersucht. In einer Studie definiert er anhand von Werbefotografien typische Darstellungen und ordnet diese in sechs Kategorien, u. a. relative Größe, feminine Berührung, Rangfolge der Funktionen, Familienbezug und Orientierungslosigkeit, ein. Eine vergleichende Studie untersuchte die Darstellung der Frau in der Werbung in den Jahren 2006 und 2016 und bestätigte Goffmans Ergeb‐ nisse. Der Anteil sexistischer Darstellungen lag 2016 bei 30 Prozent (Baetzgen & Leute, 2017, S.-15). Die Darstellung und Inszenierung mit und in digitalen Medien steht zu‐ nächst viel mehr Menschen offen als es bei den Massenmedien der Fall 3.14 Mediale Darstellung 177 <?page no="178"?> ist. Wenn finanzielle, technische und politische Rahmenbedingungen es zulassen, kann jede: r ein Publikum finden. Im Gegensatz zur Face-to-Face-Interaktion erlaubt die mediale Darstel‐ lung eine höhere Kontrolle und Optimierung der Inszenierung, z. B. durch die Auswahl der Motive und Bildbearbeitung. Der Blick des Gegenübers kann gelenkt werden. Wie bei anderen Medien auch, hat sich bei den Sozialen Medien eine eigene Bildsprache entwickelt. Diese wird durch Filter und spezielle Apps noch verstärkt. Bekannte Beispiele sind Hasenohren und die Hundeschnauze bei Snapchat. Auf Instagram überwiegen bearbeitete und gefilterte Fotos und Videos, die aufsehenerregend sind und/ oder von witzigen Kommentaren begleitet werden. Das gilt nicht nur für die Person an sich, sondern auch für das Essen, Bauwerke, Tiere etc. Medien üben somit einen starken Einfluss darauf aus, was, wie, wem, wann und wo erzählt wird. Literatur Castells, M. (2009). Communication Power. Oxford: Oxford University Press. Goffman, E. (1976). Gender Advertisements. London: Palgrave. Hepp, A. (2020). Medien. In H. Joas, S. Mau (Hrsg.), Lehrbuch der Soziologie. 4. Aufl., (S. 587-615). Frankfurt a. M.: Campus. Lippmann, W. (2004). Public Opinion. Transaction Publishers. Ziemann, A. (2012). Soziologie der Medien. Bielefeld: Transkript. 3.15 Umfeld, Objekte und Technologien Die bisher beschriebenen Ansätze stellen Gesellschaft und soziale Struk‐ turen, z.B. Rollen und Gruppen, sowie damit verbundene Prozesse und Praktiken, z.B. Machtprozesse, Inszenierungen und abweichendes Verhalten in den Vordergrund. Im unterschiedlichen Maße finden Menschen als inter‐ pretierende, reflektierte und handelnde Subjekte Berücksichtigung. Kaum berücksichtigt sind den Menschen umgebende natürliche und technische Objekte sowie ihre Wirkung auf soziales Handeln. Eine wichtige Ergänzung kommt aus dem Bereich der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT). Akteur-Netzwerk-Theorien (ANT) sind eng den Namen Bruno Latour (*1947 † 2022) und weniger bekannt Michel Callon (*1945) sowie John Law (*1946) verbunden. Das ANT-Konzept wurde ursprünglich entwickelt, um wissenschaftliche und technische Innovationen zu erklären. Es ging darum, die Unterscheidung zwischen Gesellschaft und Natur/ Technik zu 178 3 Soziologische Zugänge <?page no="179"?> überwinden. Gesellschaft und Natur/ Technik schreiben sich demnach in‐ nerhalb von Netzwerken gegenseitig Handlungsoptionen zu. Heterogene Komponenten werden zu Netzwerken verknüpft. Dazu müssen sich die beteiligten Komponenten aufeinander abgestimmt verhalten. Sowohl die Komponenten als auch die Verknüpfung zwischen ihnen wird im Prozess der Verknüpfung verändert. Beispiele für Komponenten sind Natur, technische Artefakte, soziale Akteure, Normen und Institutionen. Die Akteur-Netzwerk-Theorie bringt den Vorteil, dass struktur- und handlungsorientierte Betrachtungsweisen kombiniert werden. Das Netz‐ werk ist einerseits eine Einheit (wie ein System) und andererseits verweist es eindeutig auf die Komponenten, die dieses Netzwerk bilden. Der Begriff Netzwerk suggeriert das Ganze, die Teile des Ganzen und die wie auch immer gearteten Beziehungen zwischen den Komponenten. Von Handlung wird dann gesprochen, wenn eine Komponente Auswir‐ kungen haben kann. Damit wird die Trennung zwischen reinen Handlungs‐ objekten und Handlungssubjekten aufgehoben. Akteure oder Aktanten sind alle Komponenten, die in Netzwerkbildungsprozesse eingebunden und damit in der Lage sind, neue Aktanten mit eigener Identität, Geschichte und Beziehungen aufzubauen. Das ANT-Konzept schließt einige Besonderheiten im Sprachgebrauch ein. Beispielsweise wird das Handeln von Dingen wie das Handeln von Menschen beschrieben. Die Verwendung von Begriffen aus der Semiotik dient ebenfalls der Schaffung eines symmetrischen Vokabulars. Latour und Callon verwenden Begriffe wie translation und enrolment. Ein weiteres Merkmal der Akteur-Netzwerk-Theorien ist, dass die sozio‐ materielle Hybridität und Historizität von Dingen besonders berücksichtigt wird. Dinge sind nicht nur Materie, sondern auch Zeichen und müssen mit geschichtlichem Bezug erklärt werden. Dieses ist auch die Grundlage dafür, dass Dinge - und nicht nur Menschen oder soziale Akteure - Aktanten sein können und soziale Beziehungen aufbauen. Dinge und Menschen sind in Netzwerkbildungsprozesse eingebunden und produzieren gemeinsam neue Aktanten. Dieser Ansatz ist für den Tourismus relevant, da menschliche und nichtmenschliche Akteure zusammenwirken. Beispiele für nichtmenschli‐ che Akteure sind sämtliche touristischen Infrastrukturen, »natürliche« und »künstliche« Attraktionen sowie das physische Umfeld. Latour (1996) erläutert anhand des gusseisernen Hotelschlüsselanhän‐ gers, wie Aussagen durch Dinge befrachtet werden, um ihren Weg über mehrere Adressaten hinweg besser vorhersagen zu können. Laut Latour reicht allein die moralische Befrachtung nicht aus, da Menschen vergesslich 3.15 Umfeld, Objekte und Technologien 179 <?page no="180"?> sind oder sie sich einer Aufforderung verweigern. Um die Rückgabe des Zimmerschlüssels zu garantieren, werden Hotelschlüssel mit schweren Anhängern versehen. Hotelmitarbeiter: in und Schlüsselanhänger wirken gemeinsam auf den Gast ein. Wenn sich eine Reiseleiter: in neben einen Stein stellt und in und mit der Gegenwart dieses Steins eine historische Episode vermittelt, agieren sie und der Stein gemeinsam vermittelt durch die Präsenz des Steins, der schon dort lag, als das Ereignis geschah. Zitat »Where the sign, the inscription, the imperative, discipline, or moral obligation all failed, the hotel manager, the innovator, and the metal weight succeeded.« (Latour, 1991, S. 104) »The hotel manager successively adds keys, oral notices, written notices, and finally metal weights; each time he modifies the attitude of some part of the ›hotel customers‹ group.« (ebenda, S. 107) Anwendungsbereiche im Tourismus finden sich erstens im Bereich von Destinationen, die als Netzwerke beschrieben werden können. Aktanten sind in diesem Fall die Destinations-Management-Organisation und touris‐ tische Leistungserbringer, die natürlichen Gegebenheiten der Destination sowie Tourist: innen und Einheimische. Auch die Dürre am Western Cape in Südafrika kann ein Aktant sein, da sie Auswirkungen auf das gesamte Netzwerk hat. Wenn eine Strategie für nachhaltige Tourismusentwicklung umgesetzt werden soll, müssen die Interessen und Auswirkungen aller Beteiligten untersucht werden. Es muss eine Organisationsform geschaffen werden, welche das Netzwerk abbildet und alle relevanten Komponenten einbezieht. Im Wesentlichen geht es um Macht, Interessen und die gegen‐ seitige Einflussnahme. Zweitens ist Digitalisierung (→ Kapitel 4.10) eng damit verbunden, dass Menschen und technische Systeme zu Netzwerken verknüpft werden. Technische Systeme sind in diesem Zusammenhang nicht vom Menschen geschaffen, sondern gleichgestellte Komponenten auf die sich menschliche Einheiten einstellen müssen. Im Tourismus mit der hohen Bedeutung von Informationen einerseits und der zugrundeliegenden Veränderung des Ortes andererseits, haben digitale Netzwerke besondere Relevanz. Die Akteur-Netzwerk-Theorie wurde in den 1990er-Jahren in der Geogra‐ fie aufgegriffen und genutzt, um das Raumverständnis und die Relation zwi‐ 180 3 Soziologische Zugänge <?page no="181"?> schen physischen und humanbasierten Aspekten neu zu beschreiben. Der Mensch nimmt nicht mehr die Schlüsselstellung ein. Ebenfalls überlagern Netzwerke Dualismen, wie beispielsweise lokal und global, und brechen diese auf. Zitat »[…] that a geography of associations, which traces how actions are embedded in materials and then extended through time and space, provides one means of overcoming the dualisms.« (Murdoch, 1997, S. 321). Cohen & Cohen (2017) beschreiben die durch die Akteur-Netzwerk-Theorie bedingte Aufhebung der Dualität als recent turn im Tourismus. Es besteht eine enge Verknüpfung mit dem Thema Mobilitäten (→-Kapitel 4.3). Der aktuell vermutlich wichtigste Anwendungsbereich der Ak‐ teur-Netzwerk-Theorie sind sozio-technische Großsysteme. Die starke und weiterhin steigende Verknüpfung von Tourismus und Technik erfordert eine genaue Analyse des gemeinsamen Handelns von technischen und menschlichen Akteuren sowie der Aufteilung des Handelns. Am offenkun‐ digsten sind die Verflechtungen und Kopplungen im Bereich des Transports, bei Luft- und Seefahrt. Dort planen, steuern und kontrollieren sowohl tech‐ nische als auch menschliche Akteure einzelne Maschinen, wie das Flugzeug oder das Schiff, als auch komplexe Systeme, wie die Flugsicherung. Doch auch in der Beherbergung finden sich Beispiele, wie das Zusammenspiel von Buchungssystem und der Person an der Rezeption. Denkübung | Technische Systeme im Tourismus Wo und in welchem Umfang basieren touristische Leistungen auf technischen Systemen? Gehen Sie gedanklich die touristische Dienstlei‐ tungskette (Beratung, Buchung, Transport, Beherbergung etc.) durch. Denken Sie an Informations- und Kommunikationssysteme, sowie an Sicherheitssystem- und Steuersysteme. Denken Sie anschließend an Situationen, in denen aufgrund eines Ausfalls eines Systems es zu Problemen kam? Recherchieren Sie, warum das System ausgefallen war. Inwieweit waren Menschen für den Aus‐ fall verantwortlich, z. B. Bedienfehler oder fehlerhafte Planung? Das 3.15 Umfeld, Objekte und Technologien 181 <?page no="182"?> folgende Beispiel veranschaulicht die mehrfachen Verflechtungen von technischen und menschlichen Akteuren: »Die Lufthansa musste am Mittwoch zahlreiche Flüge annullieren, darunter zeitweise alle Verbindungen ab Frankfurt. […] Lufthansa zu‐ folge funktionierten unter anderem die Systeme für das Einchecken der Passagiere und die Abfertigung der Flugzeuge nicht mehr. Fällt etwa das Check-in-System aus, kann das Unternehmen nicht nachvollzie‐ hen, welche Passagiere an Bord sind oder nicht. Der Vorgang wird seit vielen Jahren elektronisch durchgeführt. […] Bei Arbeiten an einer Bahntrasse in Frankfurt hatte offenbar ein Bagger mehrere Glasfaserkabel durchtrennt. Dadurch waren unter anderem Sprach- und Internetdienste der Telekom in einem Teil des Stadtgebietes und westlich von Frankfurt betroffen. Dort befinden sich der Flughafen und das Flugbetriebszentrum der Lufthansa.« (Quelle: Süddeutsche Zeitung, 23.2.2023) (Hervorhebungen der Autorin) Der Nebensatz, dass „[…] ein beauftragtes Bauunternehmen gegen 19 Uhr ein Kabel in einem Kabelbündel der Telekom AG durchtrennt hatte“ (ebenda), verweist auf eine weitere Verflechtung, hier zwischen Unternehmen, die kostenoptimierend agieren. So ist es üblich, Unter‐ aufträge zu vergeben, häufig mit einer fehlerhaften Weitergabe von Informationen, bspw. den erforderlichen Hinweisen auf zentrale Kabel. Sprachbasierte Systeme und Künstliche Intelligenz ermöglichen zunehmend die Abwicklung von kommunikativen Prozessen, z. B. die Beantwortung von Fragen oder auch die Textproduktion. Somit können technische Akteure einen Bereich abdecken, der lange Zeit als menschlichen Akteuren vorbe‐ halten angesehen war. Solange sozio-technische Systeme ohne Zwischenfall funktionieren, wer‐ den diese zumeist nicht kritisch hinterfragt. Spätestens bei Unfällen oder auch bei Ausfällen beginnt eine Diskussion, die bis hin zu ethischen Frage‐ stellungen nach Verantwortung reichen. Ein Blick in die Ursachen zeigt, dass neben menschlichem oder technischem Versagen oft die kaum noch zu kontrollierenden Verflechtungen und Abhängigkeiten Ursache für die Probleme waren. 182 3 Soziologische Zugänge <?page no="183"?> Literatur Latour, B. (1991). Technology is society made durable. In J. Law (Hrsg.). A Sociology of Monsters Essays on Power, Technology and Domination, Sociological Review Monograph N°38, 103-132. Latour, B. (2007). Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Law, J. (2002). Aircraft stories: decentering the object in technoscience. Durham, North Carolina: Duke University Press. Rammert, W. (2003). Technik in Aktion: verteiltes Handeln in soziotechnischen Konstellationen. (TUTS - Working Papers, 2-2003). Rammert, W., & Schulz-Schaeffer, I. (2002). Technik und Handeln: wenn soziales Handeln sich auf menschliches Verhalten und technische Artefakte verteilt (S. 11-64). Frankfurt a. M.: Campus Verlag. Zwischenfazit Die Soziologie lenkt den Blick auf soziale Tatsachen resp. soziale Prak‐ tiken. Sie macht darauf aufmerksam, dass Menschen nicht nur von der Natur oder den eigenen Interessen geprägt und gelenkt sind. Menschliches Handeln wird im erheblichen Maße durch gesellschaftli‐ che Bedingungen, eine soziale Ordnung, bestimmt. Zu diesen zählen Normen und Werte sowie Rollen und Rituale. Mit Gruppen, Institutio‐ nen und Systemen bilden sich Einheiten aus, die eine eigene Logik resp. Gesetzmäßigkeiten aufweisen, die ebenfalls auf das Handeln wirken. Gesellschaftliche Bedingungen oder auch Rahmen (Goffman, 1980) sind die Grundlage für soziale Interaktion, da sie das Handeln von Menschen koordinieren. Sie erleichtern einerseits dem Individuum das Handeln, da der übliche Rahmen eine Orientierung bietet und hilft zu entscheiden, was da vor sich geht und welches Handeln adäquat ist. Allerdings muss der Mensch sich kontinuierlich den Vorgaben zu einem gewissen Maße anpassen und sein Innen mit dem Außen abgleichen. Dieses kann auf eine spielerische Weise erfolgen, wenn Subjekte Handlungskompetenz (Habermas, 1995) entwickelt haben. In der Moderne ist dieses Vorhaben ein kontinuierlicher, risikobehafteter (Beck, 1986; Giddens, 1997) Pro‐ zess. Ein Blick auf gesellschaftliche Vorgänge - insbesondere unter den Stichworten gesellschaftliche Konstruktion, Konflikte und Macht - zeigt andererseits die Abhängigkeit der sozialen Tatsachen von dem tatsäch‐ 3.15 Umfeld, Objekte und Technologien 183 <?page no="184"?> lichen Handeln. Nur durch tatsächliches Handeln von Menschen und laut Akteur-Netzwerk-Theorie technischen Akteuren erhalten soziale Fakten Geltung. Genderbasierte Stereotype sind bspw. solange gültig, wie sie von Menschen übernommen und dargestellt werden (Butler, 1991). Rituale, Devianz und Identität machen auf die Anstrengungen und die Kreativität sowie auf die Notwendigkeit des Ausgleichs und Aus‐ weichens aufmerksam. Soziale Praktiken werden gelockert und geben Platz für Veränderungen, Innovation und spielerisches Ausprobieren. Wichtige Element sind der Körper, Sinneseindrücke und Emotionen, da diese die Handlungsfähigkeit beeinflussen. Tourismus kann als eine der sozialen Praktiken beschrieben werden, die Veränderung, Abweichung und die Auseinandersetzung mit dem Anderen und Fremden, aber auch mit dem Selbst ermöglichen. Zu disku‐ tieren ist, ob und wie stark Tourismus mit gesellschaftlichen Strukturen und Bedingungen verflochten ist: Handelt es sich um eine Gegenwelt, die aber ebenso von (abweichenden) Normen, Werten, Gruppen- und Identitätsprozessen geprägt ist wie der Alltag? Oder hat Tourismus inzwischen eigene (kulturelle) Praktiken entwickelt, die über einen Gegenentwurf hinausgehen? Die Beantwortung dieser Frage(n) leitet über zur Diskussion, wie Tourismus zukünftig gestaltet werden kann und muss. 184 3 Soziologische Zugänge <?page no="185"?> 4 Tourismussoziologische Anwendungsfelder Das letzte Kapitel schloss mit der Frage, ob Tourismus eine Gegenwelt zum Alltag bereitstellt oder ob sich mit der Zeit eine »neue« Form sozialen Handelns entwickelt hat. Müssen Webers Idealtypen des Handelns (→ Kapitel 2.1.1) und Habermas Grundbegriffe des Handelns (→ Kapitel 3.3) um einen neuen Typ - das touristische Handeln - ergänzt werden? Lässt sich dieses durch eine Kombination, z. B. wertrationales und traditionales Handeln oder dramaturgisches und kommunikative Handeln, beschreiben? Folgen alle beteiligten Personen derselben Logik: Handeln Tourist: innen dramaturgisch, während Leistungserbringer: innen normorientiert agieren? Zuletzt wäre Baumans (→ Kapitel 2.2.12) Sichtweise zu prüfen, der alles menschlichen Handeln mit dem Handeln von Tourist: innen gleichsetzt. Im Mittelpunkt dieses Kapitels steht in Anlehnung an Goffman (→ Kapitel 2.1.5) die Beantwortung der Frage »Was da eigentlich im Tourismus vor sich geht.« Das Augenmerk richtet sich also sowohl auf die Gründe, warum Menschen reisen, was sie dort suchen, als auch auf die Begegnungen und die Folgen des Reisens. Sämtliche Aspekte sollen deutend (→ Kapitel 2.1.1 Weber) aus Sicht der involvierten Personen verstanden werden. Hinzu kommt eine Betrachtung der Logik oder auch Eigendynamik des Tourismus als wirtschaftlich-politisches System. Um die Fragen zu beantworten, werden nachfolgend die im vorherigen Kapitel vorgestellten soziologischen Konzepte auf aktuelle touristische Fragestellungen angewendet. Auf diese Weise kann festgestellt werden, ob die im Alltag gültigen Begriffe auch im Tourismus wirksam werden, welche Variationen zu finden sind und welche Lücken in den Theorien existieren. Bislang wurde undifferenziert vom Tourismus (im Sinne von Urlaubsrei‐ sen) als »System«, als das Reisen von Menschen oder auch als berufliches Handeln von Menschen gesprochen. In Abhängigkeit von der gewählten soziologischen Meta-Perspektive (→ Kapitel 3) lassen sich analytisch min‐ destens drei Ebenen unterscheiden, die jedoch in der Praxis eng miteinander verflochten sind: <?page no="186"?> Tourismus als gesellschaftliches Phänomen: ● »Warum reisen Menschen? « ● »Nach welcher Logik entwickelt sich der Tourismus? « Touristische Handlungen und Interaktionen: ● »Wie handeln Menschen beim Reisen? « ● »Welche Erwartungen werden gestellt? « Konsequenzen des Tourismus: ● »Welche Auswirkungen haben Reisen und Tourismus auf die Identität von Menschen? « ● »Welche Folgen hat das Reisen für Umwelt, Wirtschaft, Kultur(en)? « Für einige der formulierten Fragen zeichnen sich erste Antworten ab. Zen‐ trale Aussagen dazu finden sich im Zwischenfazit von → Kapitel 2 und → Kapitel 3. So zeigt sich deutlich das Motiv der Suche nach Abwechslung und Risiko. Das gewohnte Umfeld wird verlassen und es werden Begegnungen mit dem Neuartigen, dem Fremden, den eigenen Emotionen oder auch mit unangenehmen Themen wie sozialer Ungleichheit gesucht. Das alles geschieht jedoch aus einer kontrollierten und mächtigen Position heraus. Zweitens lässt sich mit Blick auf die Auswirkungen des Tourismus zeigen, dass dieser sowohl das natürliche Umfeld als auch Menschen instrumentali‐ siert und zu Objekten macht. Das abgesicherte Wagnis der Reisenden basiert auf einem ignoranten Umgang mit dem Gegenüber oder mit Blick auf Touris‐ mus als System aus der Funktionsweise heraus. Am Beispiel von Gender und Tieren im Tourismus kann die Wirkungsweise veranschaulicht werden. Die Ignoranz wird durch Forderung nach Verantwortung begleitet. Es kann jedoch gezeigt werden, dass Verantwortung innerhalb der touristischen Logik bereits zu einem Produkt (z.-B. Voluntourismus) geworden ist. Die Forderungen nach einem neuen Tourismus, nach Beschränkungen des Reisens und damit zusammenhängend die Frage nach der Zukunft des Reisens stehen in direktem Zusammenhang mit Illusion und Spiel. So bietet Tourismus einerseits einen Raum für Träume, andererseits entstehen zunehmend virtuelle Welten, die aufregender und gleichzeitig bequemer und günstiger eine Gegenwelt anbieten als das Reisen. Werden Menschen zukünftig nur noch virtuell reisen? Die beschriebenen Themen werden in einzelnen Kapiteln vorgestellt: 186 4 Tourismussoziologische Anwendungsfelder <?page no="187"?> 26 Es muss ergänzt werden, dass viele naturbedingte Bedrohungen, z.B. Überschwemmun‐ gen, auf menschliches Handeln, z.B. Bau von Staudämmen, zurückgehen. Abwechslung und Risiko: ● Gefahren (→ Kapitel 4.1) ● Angst als Konsumgut (→ Kapitel 4.2) ● Begegnung mit sozialer Ungleichheit (→ Kapitel 4.3) Ignoranz und Verantwortung: ● Logik des Tourismus (→ Kapitel 4.4) ● Gender und Tourismus (→ Kapitel 4.5) ● Tiere im Tourismus (→ Kapitel 4.6) ● Voluntourismus (→ Kapitel 4.7) Illusion und Spiel: ● Inszenierung: Körper und Identität (→ Kapitel 4.8) ● Gesundheit und Medizintourismus (→ Kapitel 4.9) ● Mediatisierung (→ Kapitel 4.10) Jeder Abschnitt endet mit einem Hinweis auf zentrale soziologische Begriffe und Konzepte sowie mit ausgewählten Literaturhinweisen. Diese sollen einen ersten Einstieg in das Thema ermöglichen. 4.1 Gefahren Reisen beinhaltet im Vergleich zum Alltag ein größeres Risiko, da das gewohnte Umfeld verlassen und ein neues, unbekanntes aufgesucht wird. In Abhängigkeit von persönlichen Vorlieben variiert das Maß an Neuartig‐ keit und Unbekanntheit. Cohen (→ Kapitel 2.2.8) hat dieses bereits 1972 beschrieben und darauf basierend eine Typologie erstellt. Die mit einer Reise verbundenen Unsicherheiten und die daraus resultie‐ rende Abwechslung vom Alltag ist, wie in den vorhergehenden Kapiteln erläutert, ein wesentlicher Grund, warum gereist wird. Entscheidend ist, dass die Reisenden den Eindruck haben, die Unsicherheit kontrollieren zu können, Gefahren zu kennen bzw. von diesen nicht betroffen zu sein oder im Ernstfall gerettet zu werden. Mögliche Gefahrenquellen sind Natur 26 und Mensch. Die meisten natur‐ bedingten Bedrohungen, wie Erdbeben, Vulkanausbrüche, Überflutungen, 4.1 Gefahren 187 <?page no="188"?> Waldbrände, kündigen sich frühzeitig an, so dass Tourist: innen die entspre‐ chenden Gebiete meiden können. Eine Ausnahme war u.a. der Tsunami 2004, bei dem in Indonesien, Sri Lanka, Indien und Thailand mehr als 200.000 Men‐ schen starben. In den Medien wurde häufig nur von Thailand berichtet, da dort sehr viele Tourist: innen (ca. 8.000) unter den Opfern waren. Der Grund für diese Form der Bericherstattung liegt in den Nachrichtenfaktoren (→ Kapitel 3.14 Mediale Darstellung). So ist der Tod nahestehender Menschen, hier Tourist: innen, berichtenswerter als der Tod entfernter Menschen. Auch Bedrohungen, die vom Menschen ausgehen, sind bis zu einem gewissen Maße kalkulierbar. Jede Reisewebsite enthält Warnungen vor bestimmten Orten und rät zur Vorsicht, um Überfälle und Diebstähle zu verhindern. Auch ist der Terrorismus kein neues Phänomen im Tourismus, da die Anschläge der IRA zwischen 1970 und 1995 und die der ETA in den Jahren 1969 bis 2011 in Spanien bereits Auswirkungen auf den Tourismus hatten. Allerdings richteten sich die Anschläge dieser Gruppen gegen Politiker: innen, Polizist: innen und Journalist: innen. Tourist: innen wurden nicht gezielt angegriffen. Gezielte Anschläge auf Tourist: innen fanden in den 1990er-Jahren in Ägypten und 2007 im Jemen statt. Europäische Länder waren nicht betrof‐ fen. Somit war das Reisen in westlichen Ländern, vor allem in Europa, für viele Jahre nur durch wenige Restriktionen eingeschränkt. Eine gemeinsame Währung, keine oder wenig Grenzkontrollen und die weite Verbreitung des Englischen ermöglichten eine hohe Mobilität. Bedrohungen erschienen gering, da Krankheiten, Unfälle und Kriminalität kontrollierbar und ver‐ meidbar waren. Kleinere Betrügereien und der Verlust des Portemonnaies verärgerten, hielten jedoch nicht vom Reisen ab. Das Reisen schien sicher zu sein. Selbst 9/ 11 konnte nicht dauerhaft für Verunsicherung sorgen, da sich die Angriffe gegen die USA richteten bzw. dementsprechend interpretiert und dargestellt wurden. Zitat »Die Gefahr, Opfer eines Anschlages zu werden, ist im Vergleich zu anderen Risiken, die Reisen ins Ausland mit sich bringen, wie Unfällen, Erkrankungen oder gewöhnlicher Kriminalität, nach wie vor vergleichs‐ weise gering. Dennoch sollten Reisende sich der Gefährdung bewusst sein.« (Quelle: Website Auswärtiges Amt) 188 4 Tourismussoziologische Anwendungsfelder <?page no="189"?> Seit 2015/ 2016 haben die Anschläge einen veränderten Charakter. Der Überfall im Juni 2015 auf Strandurlauber im tunesischen Badeort Sousse (Schusswaffen), die Anschlagserie in Paris im November 2015 (Schusswaf‐ fen, Sprengstoff), Terroranschläge in Brüssel im März 2016, in Nizza im Juli 2016 (LKW) und auf dem Berliner Weihnachtsmarkt im Dezember 2016 (LKW) sowie in Barcelona und Cambrils im August 2017 sind Beispiele für Angriffe, die sich gegen jede beliebige Person richten, die gerade an diesem Ort ist bzw. gezielt gegen Menschen während ihrer Freizeit. Der Besuch eines Konzerts oder einer Sportveranstaltung, das Bummeln über beliebte Straßen und der Aufenthalt am Strand können zum Tod führen. Europa erscheint unsicher und Menschen weichen in andere Länder aus. Destinationen wie Südafrika und die Kapverdischen Inseln profitieren davon, da die - teilweise sehr hohe - Kriminalität sich nicht gegen Tou‐ rist: innen richtet oder auf Eigentumsdelikte beschränkt bleibt. Eine weitere Bedrohung resultiert aus politischen und gesellschaftli‐ chen Unruhen innerhalb eines Landes. 2011 war vor allem Tunesien davon im starken Maße betroffen. Etwas skurril muten Sicherheitshinweise an, die vor Balkonstürzen in Spanien warnen. Das Eidgenössische Department für auswärtige Angele‐ genheiten EDA legt hingegen den Fokus auf Maritime Piraterie. Zitat »There have been a number of very serious accidents (some fatal) as a result of falls from balconies. Many of these incidents have involved British nationals under the influence of drink or drugs. Your travel insurance may not cover you for incidents that take place while you’re under the influence of drink or drugs.« (Quelle: Website Government UK) Eine letzte Einschränkung des Reisens ergibt sich aus dem Tourismus selbst. Das unter dem Begriff Overtourism diskutierte Phänomen der Überfüllung eines Ortes wird in →-Kapitel 4.4 diskutiert. Zusammenfassend wird jede Bedrohung kommuniziert, wahrgenommen, und bewertet. Einflussfaktoren sind individuelle Merkmale und gesellschaft‐ liche Zustände. Bedrohungen sind demnach nicht rein objektiv gegeben, sondern gesellschaftlich konstruiert. Wichtige Einflussfaktoren sind die 4.1 Gefahren 189 <?page no="190"?> Rahmung des Ereignisses (→ Kapitel 2.1.5) sowie die persönliche Haltung gegenüber Gefahren, wie Plog (→-Kapitel 2.2.9) sie beschrieben hat. Aus soziologischer Sicht ist zu untersuchen, wie die genannten Bedro‐ hungen auf den Tourismus - konzipiert als System - wirken. Studien zu den Folgen von Naturkatastrophen, Anschlägen und politischen Unruhen zeigen, dass das System in der Lage ist, die Störungen aufzunehmen, zu verarbeiten und zu vergessen (Hall, 2022). Unmittelbar nach einem Anschlag oder einer Naturkatastrohe sind wirtschaftliche Folgen zu registrieren. Flüge und Hotelbuchungen werden storniert, Restaurants und Shopping-Zentren verzeichnen Einbrüche der Besuchszahlen, Sport- und Kulturveranstaltun‐ gen sowie Kongresse und Messen werden abgesagt. Oft leistet der Staat in solchen Situationen Unterstützung und es kommt zu einer Marktbereini‐ gung. Schwächere Unternehmen - die mittelfristig ohnehin nicht rentabel gewesen wären - stellen das Geschäft ein. Gesunde Unternehmen hingegen können nach der Krise von dem bereinigten Markt profitieren. Ebenfalls pro‐ fitieren Destinationen, die eine Alternative zur betroffenen Region bieten, von dem Ausfall dieser Zielregion. Türkeireisende weichen beispielsweise nach Spanien und Italien aus. Nach einer gewissen Zeit erholen sich die betroffenen Gebiete und die Tourismuszahlen (Ankünfte, Übernachtungen und Ausgaben) sind fast auf dem Niveau, auf dem sie auch ohne den Anschlag oder die Katastrophe gewesen wären. In Ergänzung zur Betrachtung des Tourismus als System bestehend aus wirtschaftlichen und politischen Akteuren sowie Reisenden und Einheimi‐ schen adressiert Unsicherheit darüber hinaus die Ebene des Individuums. Der zentrale Begriff ist Risiko oder genauer Risikowahrnehmung resp. wahrgenommenes Risiko (tourism risk perception). Risikowahrnehmung ist das Gegenstück zur Sicherheit. Sie bietet gegenüber der Sicherheit den Vorteil messbar und vergleichbar zu sein. Grundlage dafür sind Kog‐ nitionswissenschaft und Konsumierendenforschung. Daraus resultierend verbinden Modelle zur risk perception subjektive und objektive Aspekte und setzen diese in Relation zu Prozessen der Kaufentscheidung (Dolnicar, 2005). Subjektive Einflussgrößen sind neben demographischen Merkmalen auch bereits gemachte Erfahrungen, Persönlichkeit und kognitive Fähigkeiten. Zum objektiven Bereich gehören in Abhängigkeit vom gewählten Modell psychologische, finanzielle, Performanz, Gesundheits- und soziale Risiken. Hinzu kommen als weitere Faktoren, der Typ der Destination und die Reiseform sowie die Unterscheidung in Erstbesuch und wiederholter Besuch (Fuchs & Reichel, 2011). Die kurze Darstellung der zu berücksichtigenden 190 4 Tourismussoziologische Anwendungsfelder <?page no="191"?> Faktoren zeigt bereits die Komplexität des Bereichs. Diese wird durch die Hinzunahmen statistischer Daten erhöht. Einen verstärkenden Effekt haben allerdings Reisewarnungen. Es lässt sich beobachten, dass offizielle Reisewarnungen zum langfristigen Abbruch des Tourismus in einer Region führen. Wissen │ Reisewarnungen Reise- und Teilreisewarnungen werden in Deutschland vom Auswärti‐ gen Amt ausgesprochen. Wenn eine Warnung für ein Land oder eine Region des Landes ausgesprochen wird, haben Tourist: innen in der Regel die Möglichkeit, kostenfrei Flug und Unterkunft zu stornieren oder umzubuchen. Die Liste des Auswärtigen Amtes umfasst aktuell (Stand April 2023) zwölf Reisewarnungen (Afghanistan, Belarus, Haiti, Iran, Jemen, Libyen, Myanmar, Somalia, Südsudan, Syrien, Ukraine, Zentralafrikanische Re‐ publik) und 27 Teilreisewarnungen, u.a. für Japan, Ägypten, Philippinen und die Russische Föderation. Bei den meisten der genannten Länder handelt es sich um Kriegsgebiete oder um Regionen, die von politischen Unruhen betroffen sind. In Japan wird vor Reisen in die radioaktiv ver‐ seuchte Region rund um das Atomkraftwerk Fukushima I. gewarnt. Die Philippinen werden in einigen Regionen wegen der Kämpfe zwischen Sicherheitskräften und terroristischen Gruppen als unsicher bewertet. Kritische Stimmen weisen darauf hin, dass Reisewarnungen durch politische und wirtschaftliche Interessen beeinflusst sind. Ein Vergleich der Reisewarnungen aus Deutschland, Großbritannien, der Schweiz und Österreich zeigt deutliche Unterschiede hinsichtlich der Einschätzung, in welchen Land Gefahren drohen. Weiterhin sind Krisenherde häufig lokal begrenzt, so dass das Ausspre‐ chen einer Reisewarnung auch Regionen betrifft, die friedlich sind. Verantwortlich für die Bewertung der Lage sind die deutschen Auslands‐ vertretungen, die zumeist in der Hauptstadt des Landes ansässig sind. Die Lage dort kann sich sehr von anderen Regionen unterscheiden. Oft sind vor allem Grenzregionen betroffen. Die Übertragung der dor‐ tigen Situation, z.B. Grenzregion Kenia-Somalia, auf das gesamte Land erscheint unangemessen. Ein weiterer Effekt der steigenden Verunsicherung ist die vermehrte Nut‐ zung - vermeintlich - sicherer Angebote. Komplett organisierte Reisen, 4.1 Gefahren 191 <?page no="192"?> die Angebote heimischer Reiseveranstalter und großer Konzerne sowie der Kreuzfahrttourismus sind Beispiele dafür. Länder und die Tourismuswirtschaft reagieren ebenfalls auf Verunsiche‐ rungen. Destinationen verschärfen Einreisebestimmungen, die Kontrollen an Flughäfen werden verstärkt, Türen zum Cockpit verschlossen und Ho‐ tels mit weiteren Sicherheitsmechanismen ausgestattet. Ein Großteil des Tourismus findet jedoch weiterhin und aufgrund der Suche nach dem echten Leben in der Öffentlichkeit statt. Dieses kann nicht abgesichert werden. Denkübung | Sicherheits-Apps im Tourismus Behörden, Tourismuszentralen und Destinationen entwickeln Sicher‐ heits-Apps speziell für Reisende. Die Japan Tourism Organization bietet die Earthquake Early Warning App zum Download an. Ausländische Tourist: innen erhalten eine Push-Nachricht, wenn ein Erdbeben droht und stellt allgemeines Sicherheitsinformationen bereit. Die MyShake-App der University of California, Berkeley, warnt und zeigt gemeldete Beben auf einer Karte an. Weiterhin bietet sie umfangreiche Informationen zum Verhalten vor, während und nach Erdbeben an. Abb. 11: Screenshot Warnung Japan (links) und MyShake-App (rechts) 192 4 Tourismussoziologische Anwendungsfelder <?page no="193"?> Abb 10 Abb. 12: Screenshot Sicher Reisen Das Auswärtige Amt stellt über die App Sicher Reisen länderspezifische Informationen bereit. Wie bewerten Sie solche Angebote? Würde Ihnen eine App ein stärkeres Gefühl der Sicherheit geben? Was denken Sie, welche Tourist: innen solch eine App nutzen? Eine andere Reaktionsweise auf Gefahren ist das Aufgreifen der Gefahr und die Umwandlung in ein Erlebnis. In Israel wird beispielsweise angeboten, einen inszenierten Terrorangriff zu erleben und sich währenddessen mit Schusswaffen etc. zu verteidigen. Beispiel │ Caliber 3 Caliber 3 wurde 2003 von Israeli Defense Forces (IDF) Col. Sharon Gat (Res.) gegründet und ist seitdem die führende Counter Terror & Security Trainingsakademie in Israel. Sie bieten Sicherheitslösungen, 4.1 Gefahren 193 <?page no="194"?> Bedrohungsschutz, nachrichtendienstliche Operationen und taktisches Training für Militär, Strafverfolgungsbehörden, Regierungsbehörden und kommerzielle Kunden auf der ganzen Welt. Caliber 3 bietet seit einigen Jahren ebenfalls Programme für Tourist: in‐ nen an und schreibt dazu »Israel’s newest tourist attraction is counter-ter‐ ror courses«. Das Angebot wird unter dem Begriff Commando Tourism vermarktet. Das Tourismussystem ist hochkomplex, kurzfristig sehr störanfällig und dennoch langfristig sehr stabil. Es ist ein globaler Markt mit einer Vielzahl nationaler und lokaler Märkte. Diese operieren mit Informationen und werden stark durch mediale Darstellungen beeinflusst. Hinzu kommt, dass das Wissen über Motivation und Entscheidungsprozesse von Reisenden, über Lern- und Sättigungseffekte sowie über Risikobereitschaft und -ein‐ schätzung noch unzureichend ist. Immer wieder überraschen Tourist: innen die Marktforscher: innen mit ihrem Verhalten. Touristisches Verhalten kann nicht vereinheitlicht werden und übliche Denkweisen treffen nicht zu. Die Systemtheorie sowie die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) kön‐ nen dabei helfen, zu beschreiben, wie Störungen auf den Tourismus wirken, wie dieses die Störungen verarbeitet und wie Akteure Strategien entwickeln, um mit dem Risiko umzugehen. Wichtige Ergänzungen kommen aus der Psychologie und dem Bereich der Konsumierendenforschung. In diesem Unterkapitel wurden Abwechslung, Gefahren und Risiko als ein Element des Tourismus beschrieben, das bewusst gesucht und kalkuliert wird. Im nächsten Kapitel wird ergänzend auf die mit dem Risiko verbundenen Emotionen eingegangen. Soziologische Begriffe ● Systemtheorie (→-Kapitel 3.2) ● Gesellschaftliche Konstruktion (→-Kapitel 3.6) ● Akteur-Netzwerk-Theorie ANT (→-Kapitel 3.15) Literatur Dolnicar, S. (2005). Understanding barriers to leisure travel: tourist fears as a marketing basis. J Vacat Mark 11(3): 197-208. 194 4 Tourismussoziologische Anwendungsfelder <?page no="195"?> Fuchs, G., Reichel, A. (2011). An exploratory inquiry into destination risk perceptions and risk reduction strategies of first time vs. repeat visitors to a highly volatile destination. Tour Manag 32(2): 266-276. Goffman, E. (1980). Rahmenanalyse. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Hall, C. M. (2002). Travel safety, terrorism and the media: The significance of the issue-attention cycle. Current Issues in Tourism, 5 (5) (2002), 458-466. Kozak, M., Crotts, J. C., & Law, R. (2007). The impact of the perception of risk on international travellers. International Journal of Tourism Research, 9(4), 233-242. Plog, S. (2001). Why destination areas rise and fall in popularity. The Cornell Hotel and Restaurant Administration Quarterly; June 2001; Volume 42, Issue 3, 13-24. 4.2 Angst als Konsumgut - Emotionen im Tourismus Ein zentrales Element des Tourismus sind die mit einer Reise oder einem Ur‐ laub verbundenen Gefühle. Bereits während der Überlegungen zum nächs‐ ten Urlaub spüren Menschen Aufregung und Freude. Unter Umständen empfinden sie ebenfalls Unsicherheit, etwa wenn das Reiseziel unbekannt ist, der Preis für die Reise hoch ist oder andere Unwägbarkeiten relevant sind. Letzteres ist in den meisten Fällen relevant, da Intangibilität und Hete‐ rogenität eine Besonderheit touristischer Produkte darstellen (Freyer, 2011). Die in → Kapitel 4.1 dargestellten Bedrohungen können die Unsicherheit verstärken. Wissen │ Emotionen und Gefühle Emotionen sind komplexe Phänomene, die vier Komponenten umfas‐ sen: 1. eine subjektive Erlebniskomponente, 2. eine neurophysiologische Erregungskomponente, 3. eine kognitive Bewertungskomponente, 4. eine interpersonale Ausdrucks- und Mitteilungskomponente (Gerhards, 1988). Das Zusammenspiel der vier Komponenten ist komplex. Es beweist, dass Emotionen abhängig von individuellen Aspekten - dem Erleben, der Erregung und der Bewertung - sind. Ein entscheidendes Element ist die Einschätzung (appraisal) der Situation, da diese weitere Prozesse initiiert.Soziale Aspekte fließen über die Ausdrucks- und 4.2 Angst als Konsumgut - Emotionen im Tourismus 195 <?page no="196"?> Mitteilungskomponente ein, da die Art und Weise, wie Emotionen ausgedrückt und mitgeteilt werden, erlernt und kulturell geprägt ist. Umgangssprachlich wird zumeist der Begriff Gefühl verwendet, um den erlebten Zustand in den Vordergrund zu stellen. Das Bewusstsein bemerkt, dass etwas von außen die Person berührt. Es kann eine Situation, eine Erinnerung oder auch eine andere Person sein. Das Ereignis aktiviert ein (erlerntes) Schema und kann dadurch bewertet werden. Aus soziologischer Sicht sind vor allem die Sozialeinflüsse, wie kulturelle Gefühlsschablonen und sprachliche Etikettierung, sowie Sozialisationseinflüsse von Interesse. Emotionen sind demnach erlebte Zustände, die in Abhängigkeit von persönlichen und sozialen Merkmalen gedeutet und bewertet werden. Somit gibt es keine an sich guten oder schlechten Gefühle. Zwar wird in vielen Gesellschaften Angst als negativ und Freude als positiv beschrieben, aber auch diese Bewertungen sind das Ergebnis einer Deutung. Die Übergänge zwischen guten und schlechten Gefühlen sind fließend. So kann beispielsweise eine positive Verblüffung in negative Verwirrtheit umschlagen oder Gelassenheit in Langeweile. Auf die Kommerzialisierung von Gefühlen im Tourismus wird in → Ka‐ pitel 4.5 eingegangen. Während des Aufenthalts werden verschiedene Gefühle erlebt und es werden häufig Situationen aufgesucht, die zu positiv besetzten Gefühlen führen. Das sind beispielsweise Freude oder Gelassenheit. Doch neben den genannten positiv besetzten Gefühlen suchen Menschen während einer Reise ebenfalls nach negativ besetzten Gefühlen, wie Angst. Angst ist eine grundlegende Emotion, die sich in bedrohlich empfun‐ denen Situationen als Besorgnis oder Unlust äußert (Dörner, 2001). Die Bedrohung kann sich auf den Körper, die Gefühle oder das Selbstbild beziehen. Wesentlich ist das persönliche Empfinden und somit die Abhän‐ gigkeit von individuellen Merkmalen sowie von erlernten Angstmustern. Eine selbstbewusste Person, die sehr dominant ist, wird sich von weniger Situationen bedroht fühlen als eine unsichere Person, die schon öfters unterlegen war. Angst erhöht die Aufmerksamkeit des Menschen und sichert diesen da‐ durch ab. Der Körper gerät durch Angst in einen erhöhten Aktivierungszu‐ stand. Die Freisetzung von Adrenalin und Endorphinen sowie die Reduktion 196 4 Tourismussoziologische Anwendungsfelder <?page no="197"?> anderer Körperfunktionen (z.B. kein Appetit vor der Matheklausur) erhöhen die Leistungsbereitschaft des Körpers. Im Tourismus ist das bewusste Erleben von mit Angst verbundenen Situationen an unterschiedlichen Stellen zu finden. Beispiele sind Extrem‐ sportarten, Aktivitäten wie das Shark-Cage Diving sowie der Besuch von Townships oder geführte Gangster-Touren. Auch einige Museen, wie das mittelalterliche Foltermuseum in Rüdesheim am Rhein, können eingerech‐ net werden. Aus soziologischer Sicht ist erstens nach den sozialen Bedingungen von Emotionen, insbesondere von Angst, zu suchen. Ulrich Becks (*1944 †2015) Risikogesellschaft (Menschen erzeugen global wirkende Risiken durch technologische und soziale Entwicklungen) und Baumans Flüch‐ tige Moderne (liquid modernity) (→ Kapitel 2.2.12) sind Beispiele für Theorien, die Risiko, Unsicherheit und Instabilität in den Mittelpunkt ihrer Theorien stellen. Es sind Gegenwartsdiagnosen, die Angst als ein zentrales Merkmal moderner Gesellschaften beschreiben. Zu den wesentlichen Ursachen der Entstehung von Angst gehören eine Vielzahl konkreter Bedrohungen, eine gesteigerte Kontingenz sowie die Eigendy‐ namik von Angst. Letztere bezieht sich darauf, dass eine grundlegende Verunsicherung in alle Bereiche des Lebens ausstrahlt und diese hinter‐ fragt. Wissen │ Kontingenz Kontingenz beschreibt die prinzipielle Unbestimmtheit, mit der ein Mensch in der modernen Gesellschaft konfrontiert ist. Lebenserfahrun‐ gen sind offen und ungewiss. Wenn etwas auch anders möglich wäre, ist es kontingent. Dadurch, dass es weder notwendig noch unmöglich ist, beinhaltet es die Möglichkeit des Andersseins. Die daraus resultierende Komplexität führt zu Verunsicherung. Der Begriff der Kontingenz wird in der Soziologie vor allem mit der Systemtheorie (→ Kapitel 3.2) und dort mit Niklas Luhmann verbunden. Um die zuvor beschriebenen Annahmen über moderne Gesellschaften als verunsicherte Gesellschaften zu prüfen, müssen zweitens die Zunahme und die Verbreitung von Angst im Allgemeinen und als Element des Tourismus im Speziellen empirisch erforscht werden. Drittens ist nach den Gründen dafür, dass Menschen während einer Reise oder während des Urlaubs angstbesetzte Situationen aufsuchen, zu 4.2 Angst als Konsumgut - Emotionen im Tourismus 197 <?page no="198"?> suchen. Dieses Verhalten scheint zunächst im Widerspruch zu den üblichen Ablenkungsmechanismen zu stehen, die Bauman beschreibt. Er bezieht sich zwar auf den Konsum, genauer auf das Shopping, aber eine Übertragung auf den Tourismus ist plausibel, da Tourismus als Konsum von Erlebnissen konzipiert werden kann. Demnach ist Tourismus eine Ablenkung vom angstdurchzogenen Alltag. Zitat »Whatever else compulsive/ addictive shopping may be, it is also a daytime ritual to exorcize the gruesome apparitions of uncertainty and insecurity which keep haunting the nights.« (Bauman, 2000, S. 81) Angst kann als Konsumgut in diese Beschreibung eingefügt werden. Sie ist ein Produkt, das aktiv ausgewählt, gekauft und damit kontrolliert werden kann. Die ständig präsente Bedrohung, die den Menschen in eine passive Rolle drängt, wird in etwas Konkretes umgeformt. Dadurch wird Handlungshoheit zurückgewonnen. Eine auf diese Weise gehandhabte Angst lässt sich nach dem Urlaub sehr gut erzählen oder bereits während des Erlebens posten. Der Bungee-Sprung, das Tauchen mit Haien oder der Spaziergang durch ein Township bieten den Rahmen für die Inszenierung eines Ichs, das mit Bedrohungen umgehen kann. Auch wenn die Beschreibung der verunsicherten Gesellschaft zutrifft, kann es ebenfalls sein, dass Menschen ihren Alltag als langweilig und reizarm empfinden. Für sie könnte das Erleben bedrohlicher Situationen einen Gegenentwurf zum Alltag bedeuten Weiterhin sind die im Tourismus eingesetzten Angstmechanismen und Angstmuster genauer zu untersuchen. Welche Angstprodukte werden angeboten und worauf basiert die Bedrohung? Gibt es kulturelle Unter‐ schiede? Gerhards (1988) hat den Begriff Emotionskulturen eingeführt. Da Kultur Deutungs- und Erklärungsmuster umfasst, bietet sie ebenfalls Interpretationsmuster für Emotionen an. Dazu gehört, dass Normen und Regeln hinsichtlich der Angemessenheit und der erlaubten Ausdrucksform festgelegt werden. Schließlich ist danach zu fragen, welchen Einfluss die Kommerzialisie‐ rung von Angst durch die Tourismusindustrie hat. Welche Folgen hat es, wenn Angst als Konsumgut angeboten wird? 198 4 Tourismussoziologische Anwendungsfelder <?page no="199"?> Emotionen im Tourismus Angst ist jedoch wie einführend erläutert nur eine von mehreren Emotionen. Die Bedeutung von Emotionen für den Tourismus wird in den letzten Jahren zunehmend erkannt und sowohl theoretisch als auch empirisch untersucht. Ein Grund dafür ist die parallel verlaufende steigende Anerkennung des Körpers in Zusammenhang mit kognitiven Prozessen (→ Kapitel 4.8) sowie tiefergehende Einblicke in die »Funktionsweise« von Gefühlen in Bezug auf das Verhalten von Konsumierenden, was eine wissenschaftliche Ausein‐ andersetzung mit diesem vermeintlich weichen und irrationalen Bereich erlaubt. Emotionen sind an mehreren Stellen im Tourismus relevant. Der erste Bereich, das touristische Erlebnis, wurde bereits am Beispiel der Angst erläutert. Neben den intensiven Eindrücken, die Angst, Neugier und Freude bereiten, werden Emotionen ebenfalls bei der Gestaltung von Hotelzim‐ mern, der Auswahl von Bordmusik und der Formulierung von Begrüßungen an der Rezeption berücksichtigt. Ein zweiter Bereich ist die Interaktion zwischen Tourist: innen und touristischen Dienstleistenden (vgl. Hochschild, 1981). Drittens umfasst die Begegnung mit Tourist: innen Gefühle auf beiden Seiten. Während Tourist: innen Gefühle bewusst suchen - auch wenn es un‐ ter Umständen andere sind als jene, die sie erleben - werden die Menschen in den Destinationen nicht gefragt, ob sie sich diesen Situationen aussetzen wollen. Beispiel │ Framing the other Die Dokumentation Framing the other zeigt eindrucksvoll, wie sowohl die Einheimische als auch die Touristin durch die Begegnung emotional berührt werden. Beide müssen nach der Begegnung Gefühlsarbeit leis‐ ten. 🔗 https: / / www.willemtimmers.com/ framing-the-other Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Tourismus stark durch Emotionen beeinflusst ist. Beispiele dafür sind das touristische Erleben und die emotionale Arbeit von Leistungserbringenden. Tourismus stellt sich als ein Raum dar, der eine höhere emotionale Aktivierung zeigt. Das kann daran liegen, dass Situationen während einer Reise anders eingeschätzt werden als im vertrauten Umfeld. Darüber hinaus ist das soziale Umfeld ein anderes, so dass Emotionen anders ausgedrückt werden können. 4.2 Angst als Konsumgut - Emotionen im Tourismus 199 <?page no="200"?> Soziologische Begriffe ● Liquid Modernity (→-Kapitel 2.2.12) ● System (→-Kapitel 3.2) ● Identität (→-Kapitel 3.13) Literatur Bauman, Z. (2000). Liquid modernity. Polity Press. Beck, U. (2016). Risikogesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Buda, D., d’Hauteserre, A.-M., Johnston, L. (2014). Feeling and tourism studies. Annals of Tourism Research, 46, 102-114. Gerhards, J. (1988). Soziologie der Emotionen. Juventa Verlag, Weinheim/ Mün‐ chen. Hochschild, A.R. (1981). The managed heart. University of California Press. Rothermund, K. & Eder, A. B. (2009). Emotion und Handeln. In V. Brandstätter & J. H. Otto (Hrsg.), Handbuch der Allgemeinen Psychologie: Motivation und Emotion (Band 11, S. 675-685). Göttingen: Hogrefe. 4.3 Begegnung mit Ungleichheiten Aus westeuropäischer Perspektive scheint das Reisen fast eine Selbstver‐ ständlichkeit zu sein und es wird vergessen, nach den gesellschaftlichen Grundlagen der Mobilität zu fragen. Selbst die durch Covid-19 bedingten Reisebeschränkungen waren für viele Menschen nur eine kurze Episode. Für Menschen in anderen Regionen der Welt ist sowohl die Möglichkeit, ein Land zu verlassen, als auch in ein anderes einzureisen, keine Selbstver‐ ständlichkeit. Gleiches gilt für das Vorhandensein ausreichender zeitlicher und finanzieller Ressourcen sowie der für das Reisen erforderlichen Kom‐ petenzen, wie Sprachkenntnisse. Denkübung | Einreisebestimmungen Stellen Sie sich vor, Sie haben während des Aufenthalts in Nepal Freundschaft mit einer Nepalesin geschlossen und Sie möchten, dass diese Sie in Deutschland besuchen kommt. Informieren Sie sich über Einreisebedingungen nach Deutschland. Welche Bedingungen muss 200 4 Tourismussoziologische Anwendungsfelder <?page no="201"?> 27 Der Begriff Lebensstil geht ursprünglich ebenfalls auf Weber zurück. Bourdieu hat die Theorie des Lebensstils jedoch maßgeblich und nachhaltig geprägt, so dass vor allem sein Name damit verbunden ist (→ Kapitel 3.13). diese Person erfüllen? Was müssen Sie als Gastgeberin beachten, z.B. Verpflichtungserklärung? Auch wenn eine Tendenz besteht, dass nicht nur Menschen aus dem »Globa‐ len Norden« reisen, bestehen große Unterschiede hinsichtlich der Mobilität innerhalb eines Landes und zwischen den Ländern. Einflussfaktoren sind u.a. Einkommen, Bildung, Alter und Gender. Vor diesem Hintergrund ist nach dem Zusammenhang zwischen gesell‐ schaftlicher Ungleichheit und Tourismus zu fragen. Es handelt sich um einen zweifachen Zusammenhang, der mit den folgenden Fragen verbunden ist: [1] Spiegelt sich gesellschaftliche Ungleichheit innerhalb eines Landes im Reiserverhalten der Menschen dieses Landes wider? Wenn ja, auf welche Weise? Stichworte sind Reiseerwartungen und -formen. [2] Welche Auswirkungen hat Tourismus auf gesellschaftliche Ungleich‐ heiten in den besuchten Ländern und zwischen den Ländern? Werden Ungleichheiten ausgenutzt, verstärkt oder verringert? Soziale Ungleichheit ist ein etabliertes soziologisches Thema, das die ungleiche Verteilung von Gütern und Lebenschancen, von Rechten und Einflussmöglichkeiten sowie von Deutungsmacht beschreibt. Damit besteht ein enger Bezug zu Konflikten (→ Kapitel 3.8) und zu Macht (→ Kapitel 3.9). Soziale Ungleichheit wird innerhalb der Soziologie unterschiedlich dis‐ kutiert. So existieren zwei Betrachtungsweisen der Ursachen für Un‐ gleichheit. Klassiker der Soziologie wie Weber und Marx haben soziale Ungleichheit an vertikalen Merkmale, vor allem Einkommen und Bildung, festgemacht. Im Gegensatz dazu stehen horizontale Merkmale wie Gender und Alter oder auch regionale Unterschiede zwischen Stadt und Land. Es sind Milieus und Lebensstile 27 und nicht mehr nur Klassen oder Schichten über die soziale Ungleichheit wirken. Klassen- und Schichtungstheorien so‐ wie Milieu- und Lebensstilkonzeptionen ergänzen sich und ermöglichen die Aufdeckung gesellschaftlicher Vorgänge und Zustände, die Ungleichheiten kreieren und aufrechterhalten. 4.2 Angst als Konsumgut - Emotionen im Tourismus 201 <?page no="202"?> Übertragen auf den Tourismus lässt sich feststellen, dass das Reisever‐ halten ebenso durch sozioökonomische Aspekte wie durch Milieu und Lebensstil beeinflusst ist. In → Kapitel 3.13 wurde der Zusammenhang zwischen Tourismus und Lebensstil bereits erläutert. Ein ergänzender Aspekt, der in den letzten Jahren zunehmend berücksich‐ tigt wird, ist der Aufbau weiterer Ungleichheiten resp. Ungleichbehandlun‐ gen. Ein Stichwort hier ist Tourismus für alle im Sinne eines barrierefreien Tourismus. Beispiel │ Tourismus für alle - Barrierefreier Tourismus Für Menschen mit Behinderungen sind viele touristische Angebote mit Barrieren verbunden, die einen Zugang erschweren oder unmöglich machen. Bereits die Suche nach Informationen kann für Menschen mit Sehbehinderung, für blinde Menschen oder für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen schwierig sein. Ein flächendeckendes Angebot barrierefreier Transport- und Beherbergungsmöglichkeiten ist nicht gegeben. Das Kennzeichnungs- und Informationssystem »Rei‐ sen für alle« versucht, einheitliche Standards (Ausstattungsmerkmale für verschiedene Formen der Behinderung) zu definieren und zu kom‐ munizieren. Menschen mit Behinderungen sind weiterhin nicht nur als Kund: innen, sondern auch als Mitarbeitende zu berücksichtigen. Die Tourismuswirt‐ schaft hat im Vergleich zu anderen Branchen Aufholbedarf, da Men‐ schen mit Behinderungen eher selten im Gastgewerbe vertreten sind (Statistisches Bundesamt, 2012). Beispiele dafür, wie eine Integration erreicht werden kann, zeigen das Stadthaushotel Hamburg oder das Inklusionshotel Rossi in Berlin. Informationen zum Reisen für Alle bietet u.a. die Website: 🔗 www.reisen-fuer-alle.de Unterschiede zwischen den Lebensverhältnissen von Menschen in Ländern drücken sich darin aus, dass Menschen aus besser gestellten Ländern in weniger gut gestellte Länder reisen. Lange Zeit existierte eine klare Unterscheidung in reisende und in bereiste Länder. Diese Situation hat sich geändert. Zum einen gibt es immer mehr Länder, die sowohl Quellmarkt als auch Destination sind. Weiterhin entwickeln sich Länder wie China, Indien und Brasilien oder einzelne Gebiete und Bevölkerungsschichten dieser Länder zunehmend zum Quellmarkt. 202 4 Tourismussoziologische Anwendungsfelder <?page no="203"?> Doch auch wenn sich die Länder hinsichtlich des Reiseverhaltens anglei‐ chen, existieren weiterhin innerhalb der Länder soziale Ungleichheiten, die eine Basis für Tourismus sind. So basieren viele touristische Leistungen auf der Verfügbarkeit billiger Arbeitskräfte, die wiederum auf der schwa‐ chen Position von Menschen beruhen. Die Analyse der Auswirkungen des Tourismus auf soziale Ungleichheit innerhalb des bereisten Landes ist weder trivial, noch ist sie eindeutig zu beantworten. Eine Schwierigkeit besteht bereits darin, dass sich die Zustände von einem Land nicht auf ein anderes Land übertragen lassen. Lebensumstände, die in einem Land Armut bedeuten, sind in einem anderen Land unter Umständen Normalität. Auch die Ursachen der Ungleichheit variieren. Beispielsweise haben ethnische Unterschiede, z.B. Zugehörigkeit zu einem Clan oder Stamm, in afrikanischen Ländern einen größeren Einfluss als in europäischen Ländern. Gleiches gilt für die Gleichbehandlung von Männern und Frauen oder die Rechte von nicht heteronormativen Menschen. Eine Minimalforderung sollte die menschenrechtliche Sorgfalt im Tou‐ rismus sein. Ebenso sollten besonders wehrlose Menschen, wie Kinder, besonders geschützt werden (ECPAT, 2018). Beispiel │ Reisen in fragilen Kontexten Der Roundtable Human Rights in Tourism (2016) zeigt am Beispiel des Tourismus in Sri Lanka, wie Reiseanbieter durch ihre Geschäftstätigkeit Gefahr laufen, Konflikte in Ländern zu verstärken und Verstöße gegen Menschenrechte zu akzeptieren. Es wird gezeigt, wie ausgehend von einer eingehenden Analyse der Situation menschenrechtliche Risiken aufgedeckt und Handlungsalternativen entwickelt werden können. 🔗 https: / / www.humanrights-in-tourism.net/ In tourismuswissenschaftlichen Studien finden sich sowohl positive als auch negative Beschreibungen der Wirkungen des Tourismus. Zum einen exis‐ tieren Studien, die zeigen, dass Tourismus ökonomische Effekte hat, die sich positiv auf die Lebenssituation von Menschen auswirken, und Unterschiede, etwa in der Bildung, durch den Aufbau von Schulen verringert werden (UNWTO, 2019). Andere Studien belegen, dass Tourismus die Situation nicht verbessert, sondern eher noch zu einer Verstärkung der Ungleichheit beiträgt. Dieses ist dann der Fall, wenn nicht alle, sondern nur bereits besser gestellte Personen vom Tourismus profitieren. 4.2 Angst als Konsumgut - Emotionen im Tourismus 203 <?page no="204"?> Hinzu kommt, dass sich Tourismus zumeist dort entwickelt, wo grund‐ legende infrastrukturelle Bedingungen erfüllt sind. Ausgebaute Straßen, fließendes Wasser und eine zuverlässige Stromversorgung sind Beispiele dafür. Abseits gelegene Regionen, die ohnehin benachteiligt sind, profitieren deswegen nicht oder weniger. Die GIZ (2018) formuliert deswegen, dass neben ökonomischen Überle‐ gungen der sparsame Umgang mit natürlichen Ressourcen, ein respektvoller kultureller Austausch sowie die Schaffung eines stabilen politischen Um‐ felds Bedingungen sind. Zitat »With a 9 percent share of annual global economic output, tourism is one of the largest industrial sectors worldwide and a principal source of foreign exchange for a third of all developing countries. Tourism has the potential to reduce poverty and generate income. But it is not just a matter of economics. It is also about using natural resources sparingly, dealing respectfully with each country’s cultural heritage and creating a stable political framework and a secure environment for visitors.« (GIZ, 2018) Ansätze, die dafür sorgen sollen, dass Tourismus gerechter ist, werden unter dem Begriff des nachhaltigen oder verantwortungsvollen Tourismus entwickelt (Goodwin, 2016). Soziologische Begriffe ● Konflikte (→-Kapitel 3.8) ● Macht (→-Kapitel 3.9) ● Identität, Lebensstil und Körper (→ 3.13) Literatur Goodwin, H. (2016). Responsible Tourism: Using Tourism for Sustainable De‐ velopment. 2. A. Oxford: Goodfellow. Heuwinkel, K. (2024). Community-based Tourism. München: UVK. Kempf, F. M., & Corinth, T. (Hrsg.) (2023). Barrierefreier Tourismus: Destinatio‐ nen, Verkehrsträger, Hotels, Zertifizierungen. München: UVK. 204 4 Tourismussoziologische Anwendungsfelder <?page no="205"?> Roundtable Human Rights in Tourism (2016). Tourism in fragile contexts. Unter: 🔗 www.fairunterwegs.org Empfehlenswert sind die Sympathie Magazine des Studienkreises für Tourismus und Entwicklung e.V. ( 🔗 www.sympathiemagazin.de) 4.4 Logik des Tourismus Cohen (→ Kapitel 2.2.8) hat beschrieben, wie sich Tourismus in Regionen entwickelt. Explorer entdecken einen Ort und ziehen durch ihre Erzählun‐ gen und Berichte andere Reisende an. Es entstehen die ersten touristischen Angebote und damit wird die Region auch für Menschen interessant, die einen gewissen Komfort erwarten. Butler (→ Kapitel 2.2.9) konkretisierte Cohens Annahmen, indem er einen (typischen) Destinationslebenszyklus (TALC) beschreibt. Das ursprüngliche Modell geht davon aus, dass eine touristische Destination sechs aufeinander folgende Phasen durchläuft, nämlich Exploration, Beteiligung, Entwicklung, Konsolidierung, Stagnation und schließlich entweder Verjüngung oder Rückgang, je nach den Aktivtä‐ ten der relevanten Akteure in der Destination, z.B. DMO, Hoteliers und Reiseveranstalter. Ein übergeordnetes Konzept, das dem Modell zugrunde liegt, ist die sogenannte Tragfähigkeit einer touristischen Destination (car‐ rying capacity). Butler (2011) definiert diese als die maximale Anzahl von Tourist: innen, die ein Resort ohne negative wirtschaftliche, soziokulturelle oder ökologische Auswirkungen beherbergen kann. In den Jahren 2015 bis 2020 hat das steigende Reiseaufkommen dazu geführt, dass viele Orte überlaufen waren resp. dass darüber berichtet wurde. Die carrying capacity war erreicht und die einheimische Bevölkerung wehrte sich gegen Tourist: innen. Neben den Einheimischen beschwerten sich auch einige Tourist: innen über das Zuviel an Tourismus. Die Debatte erinnert an die frühe Tourismuskritik (→ 2.2.4). Während der Pandemie kam der Tourismus zeitweise zum Erliegen und es wurde recht unterschiedlich über die Zukunft spekuliert. Ähnlich wie bei anderen Krisen (→ Kapitel 4.1) zuvor wurden nach Ende der Reisebeschränkungen ähnliche Zahlen verzeichnet. Unter dem Begriff Overtourism findet eine Diskussion über die Über‐ füllung von Orten, insbesondere Städte wie Amsterdam, Barcelona, Berlin und Lissabon, statt. Faktisch sind solche massenhaften Ansammlungen von Tourist: innen jedoch nicht neu. Lange Zeit jedoch blieben touristische Akti‐ vitäten auf Zonen und Infrastrukturen (z.B. Hotels und Ressorts) beschränkt, 4.2 Angst als Konsumgut - Emotionen im Tourismus 205 <?page no="206"?> die speziell auf den Tourismus ausgerichtet waren. Dramatisch sind die Entwicklungen vor allem in solchen Städten, in denen Tourist: innen nicht mehr in Hotels und Ferienwohnungen übernachten, sondern in Häusern und Wohnungen von Einheimischen. Der Wunsch nach Authentizität (→ Kapitel 2.2.8) und die vergleichsweise niedrigen Preise lassen die Nachfrage nach solchen Angeboten mitten im »echten Leben« steigen. Plattformen wie AirBnB, und Booking.com führen zu einer Verdrängung der Einheimischen. Overtourism ist erstens ein Thema, weil durch den Tourismus Menschen in ihrem normalen Wohnumfeld betroffen sind, und zweitens, weil das Touris‐ mussystem die Kritik am Tourismus aufgegriffen und in die Kommunikation eingebunden hat. Die Branche diskutiert über sich selbst und hat für diese Diskussion noch einen schönen Namen gefunden. Die Soziologie kann die oben gemachten Beschreibungen theoretisch ergänzen und empirisch absichern bzw. widerlegen. Beispielsweise erlauben systemtheoretische Ansätze eine Analyse der Entwicklung eines Touris‐ mussystems in einem Ort und die Übertragung der systemeigenen Logik auf das gesamte Umfeld. Standardisierung und Kommerzialisierung liegen darin begründet. Dazu gehört auch, dass neben den typischen Souvenirs Markenfirmen wie Le Creuset, Lego und adidas innerhalb touristischer Flaniermeilen Shops eröffnen, da Shopping ein zentrales Element des Tou‐ rismus ist. Gleiches gilt für die Geschlossenheit des Systems und damit für die Kommunikation über sich selbst. (→ Kapitel 3.2 Luhmann) Beispiel │ Stellenbosch, Südafrika Stellenbosch, Südafrika, ist eine Stadt, die 55 km von Kapstadt entfernt in einem Weinanbaugebiet liegt. Seit 1994 reisen Sportteams aus Deutsch‐ land und anderen europäischen Ländern im Winter (November-März) dorthin, um zu trainieren. Sie nutzen die Sportanlagen der Universität sowie die Trainingsmöglichkeiten in den Bergen und am Meer. Das Preis-Leistungs-Verhältnis ist sehr gut und die Atmosphäre wird als exotisch, luxuriös und sicher beschrieben. Allerdings hat Stellenbosch seit der Jahrtausendwende bedeutende Veränderungen erfahren. Eine ständig wachsende studentische und Allgemeinbevölkerung (Anstieg von mehr als 30 Prozent zwischen 2001 und 2011), verbunden mit dem wachsenden Ruf als eines der beliebtes‐ ten Reiseziele der Region, hat dazu geführt, dass der Ort vor einer Überlastung steht. Da Sportler: innen andere Zwecke mit dem Aufenthalt verbinden als die Urlauber: innen, die nur für ein oder zwei Nächte in 206 4 Tourismussoziologische Anwendungsfelder <?page no="207"?> Stellenbosch sind, haben die Entwicklungen stärkere Auswirkungen auf sie. Butlers Modell des Destinationslebenszyklus muss demnach ergänzt werden. In Abhängigkeit von den Motiven resp. dem Blick und der Logik der Reisenden wird die Destination unterschiedlich empfunden (Heuwinkel & Venter, 2018). Der Maßstab für die carrying capacity sind Reisemotive und die damit verbundenen Erwartungen. Während für Weintourist: innen ein überfülltes Restaurant ein Zeichen von Beliebt‐ heit ist und die mittelmäßige Qualität des Essens nicht bemerkt wird, ist beides für Athlet: innen nicht akzeptabel. ANT-Theorien (→ Kapitel 3.15) sind eine weitere Möglichkeit, um die Entwicklungen innerhalb einer Destination zu analysieren. Es kann gezeigt werden, wie Elemente der Landschaft oder natürliche Gegebenheiten, z.B. Hitzewelle auf andere Elemente des Netzwerks wirken. Schließlich kann der Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen und touristischen Entwicklungen analysiert werden. Die Überfüllung von Orten resultiert aus dem Mehr an Freizeit und der gesteigerten Mobilität vieler Menschen im Alltag. Soziologische Begriffe ● Der touristische Blick (→-Kapitel 2.2.7) ● Destinationslebenszyklus (→-Kapitel 2.2.9) ● Systemtheorie (→-Kapitel 3.2) ● Konstruktion (→-Kapitel 3.6) ● Umfeld, Objekte und Technologien (→-Kapitel 3.15) Literatur Boissevain, J. (Ed.). (1996). Coping with tourists: European reactions to mass tourism (Vol. 1). Berghahn Books. Butler, R. (1980). The concept of a tourist area cycle of evolution: implications for management of resources. Canadian Geographer, 24, 5-12. Butler, R. (2006a). The TALC volume I: Applications and limitations. Clevedon: Channel View Publications. Butler, R. (2006b). The TALC volume II: Applications and limitations. Clevedon: Channel View Publications. 4.2 Angst als Konsumgut - Emotionen im Tourismus 207 <?page no="208"?> Butler, R. (2011). Tourism Area life Cycle. Oxford: Goodfellow Publishers Limited. Goodwin, H. (2017). The challenge of overtourism. Responsible tourism part‐ nership, 4, 1-19. Heuwinkel, K., Venter, G. (2018). Applying the Tourist Area Life Cycle within Sport Tourism: The Case of Stellenbosch and German Athletes. Journal of Sport & Tourism (RJTO). DOI: 10.1080/ 14775085.2018.1504691. Kagermeier, A. (2021). Overtourism. München: UTB. Kagermeier, A., & Erdmenger, E. (2019). Das Phänomen Overtourism: Erkun‐ dungen am Eisberg unterhalb der Wasseroberfläche. Tourismus und Gesell‐ schaft: Kontakte-Konflikte-Konzepte. Berlin. 4.5 Gender und Tourismus Innerhalb des Tourismus, verstanden als Zusammenspiel von Unternehmen, Destinationen, Einheimischen und reisenden Menschen, bilden sich unter‐ schiedliche Strukturen und Verhaltensweisen aus. Am Beispiel von Gender und Tourismus wird in diesem Unterkapitel diskutiert, wie Unterschiede etabliert werden resp. existierende Differenzierungen aus der Gesellschaft übernommen und gegebenenfalls variiert oder verstärkt werden. Die Kategorie Gender (→ Kapitel 3.7) ist innerhalb der Gesellschaft neben ethnischer Zugehörigkeit, Religion und soziodemografischen Merkmalen ein Kriterium, über das Menschen sich von anderen abgrenzen resp. andere bewusst ausgrenzen. Im Tourismus wird dieses aufgegriffen und genutzt. Zitat »Tourism undoubtedly promotes specific representations of gender, sexuality and social relationships […]. That tourism commodifies the body has been recognised by some in the academy although not in the industry itself or, if it has been, little concern is expressed unless there is public outrage or condemnation at the more extreme uses of the body (usually female) to promote tourism products.« (Ryan, C. & Hall, C.M., 2001, S. ix) 208 4 Tourismussoziologische Anwendungsfelder <?page no="209"?> 28 Die Millenniumsziele wurden 2015 durch die 2030 Agenda für eine nachhaltige Ent‐ wicklung (Agenda for Sustainable Development and 17 sustainable development goals) ergänzt und fortgeführt. 29 Figueroa-Domecq et al. (2015) nennen als Top 10 der am meisten untersuchten Themen zu Gender und Tourismus: Konsumverhalten, Entscheidungsfindung und Motivation, Sextourismus, ländlicher Tourismus und Ökotourismus, Wahrnehmung von Destina‐ tionen, Marktsegmentierung und Marketing, Risikowahrnehmung, Medizintourismus, LGBTQI* Tourismus, touristische Typologien, touristische Erfahrung. Gender und Tourismus wurde ausgehend von den im Jahr 2000 definierten Millenniums-Entwicklungszielen 28 der UN direkt adressiert. Die Gleichstel‐ lung von Gender (gender equality) und die Stärkung der Frauen (women empowerment) sind Bausteine für eine gerechte Gesellschaft. Laut UNWTO (2019) kann Tourismus einen Beitrag zu beiden Zielen leisten, da viele Frauen im Tourismus beschäftigt oder selbständig sind. Tourismus könnte Jobs schaffen (employment), Selbständigkeit ermöglichen (entrepreneurship), Ausbildung (education) und Führungskompetenzen (leadership) vermitteln sowie zur Entwicklung in communities beitragen. Eine Analyse von Gender und Tourismus kann in vier unterschiedliche Bereiche unterteilt werden. Diese werden nachfolgend zunächst einzeln untersucht. Abschließend werden zentrale Aspekte herausgearbeitet. 29 Wissen │ Prostitutionstourismus und sexuelle Ausbeutung im Tourismus In der Literatur und im alltäglichen Sprachgebrauch wird undifferen‐ ziert von Sex- und Prostitutionstourismus oder auch von Romantik-Ur‐ laub (für Frauen) gesprochen. Da das Gegenüber für den sexuellen Kontakt entlohnt (Geld, Geschenke, Gefälligkeiten) wird und in den meisten Fällen aufgrund von wirtschaftlichen, sozialen und politischen Missständen keine andere Alternative hat oder von anderen dazu ge‐ zwungen wird, sollte zur deutlichen Abgrenzung der Begriff Prostitution und nicht Sex oder Romantik verwendet werden. Eine umfassende Diskussion der Begriffe Prostitution, Sexarbeit, trans‐ aktionaler Sex und survival sex findet sich bei McMillan et al. 2018. Bei Kindern (Personen unter 18 Jahren) muss eindeutig von sexueller Ausbeutung (SECTT = sexual exploitation of children in travel and tourism) gesprochen werden. UNICEF (2009) schätzt, dass jährlich 150 Millionen weibliche und 73 Millionen männliche Kinder sexuell ausgebeutet werden. Welchen Anteil der Tourismus daran hat, ist nicht 4.5 Gender und Tourismus 209 <?page no="210"?> 30 Deutschland ist in Europa der größte Prostitutionsmarkt. Somit ist kommerzielle sexu‐ elle Ausbeutung ein zentrales gesellschaftliches Problem und nicht nur ein Sonderfall des Tourismus. bekannt. In einigen Ländern überwiegt die Zahl der einheimischen Straftäter: innen die Zahl der aus dem Ausland angereisten Personen. Weiterhin besteht eine direkte Verbindung zur sexuellen Ausbeutung von Kindern durch Pornografie. Ein Großteil des Materials zeigt den sexuellen Missbrauch in einem touristischen Setting. Das Internet und Kommunikationstechnologien führen seit einigen Jahren zu einem Anstieg der Zahlen in diesem Bereich. »In den Touristenzentren an der Küste Kenias wurden nach einer Recherche von UNICEF und der kenianischen Regierung im Jahr 2006 etwa 15.000 Jugendliche als Prostituierte ausgebeutet. Etwa 10 Prozent der Mädchen waren jünger als 12 Jahre, als sie sich das erste Mal prostituierten. Zwei Drittel der Kunden waren wohlhabende Touristen aus den Industrieländern - darunter auch viele Deutsche.« (UNICEF, 2009, o.S.) Zahlen zur Prostitution veröffentlicht die Scelless Foundation in ihren Publikationen und auf der Website 🔗 https: / / www.globalprostitutionre port.org/ »Prostitution is neither work, nor sex. It is the commodification of human beings. It is the outrageous exploitation of the bodies of women, children, and an increasing amount of men.« (Scelles Foundation, 2018, o.S.) Gender und Objectification In → Kapitel 3.7 wurde der Begriff der sexual objectification erläutert. Im Tourismus finden sich zahlreiche Beispiele dafür. Am offensichtlichsten ist die Verdingung von Menschen hin zum Sexobjekt im Prostitutionstourismus und sexuelle Ausbeutung (→ Box). Prostitutionstourismus ist definiert als Reise mit dem Hauptmotiv, eine sexuelle Dienstleistung zu konsumieren. Prostitutionstourismus findet weltweit statt. Häufig genannte Destinatio‐ nen sind Thailand, die Philippinen, Kambodscha, Indonesien, Südkorea, Sri Lanka, Goa, Kuba, die Dominikanische Republik, Brasilien, Costa Rica, Osteuropa sowie Kenia, Tunesien, Südafrika und Gambia. 30 Prostitutions‐ tourismus ist oft ein Vorreiter für andere Formen des Tourismus. 210 4 Tourismussoziologische Anwendungsfelder <?page no="211"?> Der Großteil des Prostitutionstourismus basiert darauf, dass (zumeist) Frauen dazu gezwungen werden, eine sexuelle Dienstleistung und somit den eigenen Körper anzubieten. Diese kommerzielle sexuelle Ausbeutung nutzt die Verletzlichkeit, finanzielle Notlagen, fehlende Alternativen und Machtunterschiede zwischen Menschen aus. Sie sind gezwungen, sich für Geld anzubieten, da es die einzige Möglichkeit ist, Einkommen zu generieren resp. das eigene Überleben und das der Familie zu sichern. Prostitutionstourismus ist eng mit der touristischen Struktur einer De‐ stination verbunden. Hotels, Gastronomie und Transportdienstleister pro‐ fitieren davon, auch wenn sie sich öffentlich vom Prostitutionstourismus distanzieren ( Jeffreys, 2008). Wissen │ Sex und Tourismus als Forschungsfeld Sex und Tourismus sowie Prostitutionstourismus sind Themen, die aus soziologischer Sicht sehr interessant sind, da sie sowohl hinsichtlich der Theorien als auch der Methoden äußerst anspruchsvoll sind. Auch handelt es sich um ein vergleichsweise unerforschtes Gebiet, da nur wenig forschende Menschen sich an dieses Thema herantrauen. Sex ist eng mit Tourismus verbunden. Beispiele sind die ersten sexuellen Erfahrungen von Jugendlichen in einem Feriencamp, die Hoffnung von Menschen auf eine Romanze oder der Versuch von Paaren, die Beziehung neu zu beleben. Auf vielen Geschäftsreisen gehört ein Flirt dazu. Die genannten Beispiele zählen zu erlaubtem Verhalten, das zwar nicht offen ausgesprochen, aber akzeptiert wird. Prostitutionstourismus ist ein von vielen Stereotypen, Vorurteilen und Mythen durchzogenes Feld, das nicht gesellschaftlich akzeptiert ist. Emotionen, Sensationen und Tabus beeinflussen die Diskussion. Beim Prostitutionstourismus und der sexuellen Ausbeutung kommt der As‐ pekt der Straftat hinzu. Eine mangelnde Datenbasis und fehlende Be‐ grifflichkeiten (z.B. darf der Körper als Ware bezeichnet werden oder wann arbeitet eine Frau »freiwillig« als Prostituierte) erschweren den Einstieg in das Thema. Empirische Forschung in Form einer Beobach‐ tung oder Befragung ist nur schwer möglich. Ryan und Hall (siehe Literaturempfehlung) wählen als theoretischen Ansatz die Liminalität (→ Kapitel 3.10). Sie beschreiben, dass sie durch die Forschung gezwungen waren, sich mit der eigenen Sexualität auseinanderzusetzen und somit durch den Forschungsprozess verändert wurden. Ebenfalls gibt es nicht die eine Wahrheit, sondern eine Vielzahl 4.5 Gender und Tourismus 211 <?page no="212"?> von Geschichten, die das Verhalten von sex workern und den Kunden sowie die Interaktion zwischen ihnen beschreiben. Literaturempfehlung: Einen sehr guten Überblick bietet: Jeffreys, S. (1999). Globalizing sexual exploitation: Sex tourism and the traffic in women. Leisure studies, 18(3), 179-196. Ryan, C., Hall, C. M. (2001). Sex tourism. London: Routledge. Eine kritische Betrachtung von Prostitution findet sich bei: Schwarzer, A. (Hrsg.). (2013). Prostitution - Ein deutscher Skandal: Wie konnten wir zum Paradies der Frauenhändler werden? . Köln: Kiepenheuer & Witsch. Informationen zu aktuellen Debatten finden sich bei: Terre de Femmes. Website: 🔗 www.frauenrechte.de Eine frühe empirische Untersuchung kommt von Cohen: Cohen, E. (1982). Thai Girls and Farang men: The Edge of Ambiguity Annals of tourism Research, 9 (3), 403-428 Ein weiterer Bereich von Gender und Objectification ist genderabhängige Werbung. Goffman (→ Kapitel 2.1.5) hat 1976 analysiert, wie genderbasierte Darstellung in der Werbung funktioniert. Aspekte sind die relative Größe (die Frau wird erheblich kleiner als der Mann dargestellt), die Berührung (die Finger der Frau berühren ein Produkt), die untergeordnete Rolle in der Gesellschaft (Flugbegleiterinnen umgeben den Piloten) sowie sexualisierte Darstellungen (liegende Frau). Eine Untersuchung von Baetzgen & Leute aus dem Jahr 2017 zeigt eine weiterhin stereotypisierte Darstellung von Frauen in der Werbung. In mehr als der Hälfte aller Fälle (56 Prozent) übernimmt die Frau ein klassisches Rollenbild wie Hausfrau, Mutter oder Ehefrau. Die Rolle der Freizeitfrau ist stärker vertreten als zuvor. In Abhängigkeit von der Branche ist die Sexualisierung zurückgegangen. Die aktive Verführerin und freizügige Darstellungen (noch immer 18 Prozent) werden weniger in der Werbung eingesetzt. Die Sexualisierung hat mit 30 Prozent allerdings weiterhin einen hohen Wert. Schließlich spielt Gender dann eine Rolle, wenn Menschen, die im Tou‐ rismus arbeiten, ihren Körper und ihr Aussehen einsetzen (müssen), um den Anforderungen gerecht zu werden. Beispiele für Bereiche, in denen es zur Betonung des Körpers und des Aussehens kommt sind alle Servicebereiche, z.B. Kabinenbesatzung, Animation, Messeservice. 212 4 Tourismussoziologische Anwendungsfelder <?page no="213"?> Gender und Arbeit Gender und Arbeit ist ein umfassendes Thema, das von der Verfügbarkeit und dem Zugang zu Arbeitsstellen über Aufstiegschancen und Unterschiede in der Bezahlung bis zu Diskriminierungen und sexuellen Übergriffen am Arbeitsplatz reicht (Vizcaino, P., Jeffrey, H., & Eger, C., 2020). Der Tourismus weist einige genderbasierte Besonderheiten auf (vgl. dazu ausführlich Heu‐ winkel, 2021, S. 71ff.). Enloe (→ Kapitel 2.2.11) formuliert, dass Tourismus auf dem Patriarchat und den damit verbundenen Machstrukturen beruht. Auch Goffman (1987) schrieb, dass Weiblichkeit oft mit Unterordnung und Machtlosigkeit verbunden ist. In den meisten Regionen der Welt stellen Frauen die Mehrheit der Beschäftigten im Tourismus dar (UNWTO, 2019; ILO, 2013). Allerdings sind Frauen in der Regel auf die am schlechtesten bezahlten Arbeitsplätze im Tourismus konzentriert. Dazu gehören beispielsweise Reinigungsarbeiten in Hotels und Gastronomie. Frauen leisten weiterhin eine große Menge unbezahlter Arbeit in Familienbetrieben, z. B. kleinen Beherbergungsbetrie‐ ben und Restaurants. Enloe (vgl. Zitat) stellt fast schon zynisch fest, dass stereotype Annahmen zu weiblichen Fähigkeiten perfekt zum Tourismus passen. Zitat »Like retail services, tourism and hospitality are sectors which are dominated by women and managed by men.« (Aitchinson et al., 1999, S.-123) »Women in most societies are presumed to be naturally capable cleaners, washers, cooks, and servers.« (Enloe, 2014, S.-69). Als Konsequenz ist ein weiterer Aspekt von Gender und Arbeit im Touris‐ mus die Aufrechterhaltung von genderbezogenen Rollenvorstellungen (→ Kapitel 3.5), den damit verbundenen Machtunterschieden (→ Kapitel 3.9) und den Folgen für einzelne Personen und gesellschaftliche Strukturen. So fokussiert Hochschild (→ Kapitel 2.2.10) auf die Belastung der emotionalen Arbeit und veranschaulicht dieses am Beispiel von Flugbegleiter: innen. Eine Befragung zeigte, dass Gründe für die geringe Anzahl weiblicher Pilot: innen sich aus einer Kombination von fehlender Sichtbarkeit, sexueller 4.5 Gender und Tourismus 213 <?page no="214"?> Diskriminierung (insbesondere in der Flugausbildung) und wirtschaftlichen Aspekten (Kosten der Ausbildung) ergibt (Heuwinkel, 2023). Gender und die Folgen des Tourismus Tourismus beeinflusst als Wirtschaftszweig die Sozialstruktur eines Landes, da neue Infrastrukturen geschaffen werden und Beschäftigungsmöglich‐ keiten entstehen. Beschäftigung geht in den meisten Fällen einher mit einer größeren finanziellen Unabhängigkeit und als Konsequenz mit einer Verschiebung von Machtbalancen (→ Kapitel 3.9). Der zuvor beschrieben hohe Anteil weiblicher Beschäftigter im Tourismus kann zu Veränderungen von Abhängigkeiten innerhalb von Beziehungen und Familien führen. Eine große Herausforderung für viele Frauen ist die Versorgung der Kinder und anderer abhängiger Personen während der Abwesenheit (vgl. dazu ausführlich Heuwinkel, 2021, S.-74ff.). Neben einer Veränderung von Sozialstrukturen kommt es auch zu kultu‐ rellen Beeinflussungen, wenn Tourist: innen ihre Praktiken und die damit verbundenen Normen und Werte in einer anderen Kultur leben. Eine pauschale Bewertung der sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Kulturen eines Landes und insbesondere für die in dem Land lebenden Frauen ist kaum möglich. Es finden sich sowohl optimistische als auch pessimistische Betrachtungen der kulturellen Annäherung (→ Kapitel 3.4 Kultur), diese reichen von einem gesteigerten Selbstbewusstsein und Eman‐ zipation bis hin zum Verlust von Identität. Auch wenn kein Kontakt zwischen Einheimischen und Tourist: innen oder Tourismusindustrie stattfindet, erfolgt eine Beeinflussung der Lebens‐ bedingungen von Menschen im Allgemeinen und von Frauen im Speziellen. So sind die Folgen des Tourismus auf die Umwelt und insbesondere auf natürliche Ressourcen wie beispielsweise Wasser seit Jahrzehnten sowohl qualitativ als auch quantitativ dargestellt (Cole et al., 2020). So ist Wasser eine zentrale Ressource für die Tourismusindustrie. Das gilt insbesondere für die Hotellerie, die sich mit Pools, Spas, Golf- und Gartenanlagen positioniert. In den meisten Ländern sind Frauen für die Beschaffung und Zubereitung von Essen, die Einhaltung von Hygiene und als Grundlage für beides die Versorgung mit Wasser zuständig (UNICEF, 2017). Besondere Herausforde‐ rungen ergeben sich während der Schwangerschaft und Stillzeit sowie bei der Versorgung von Säuglingen, Heranwachsenden und Kranken. Eine zunehmend geforderte Herangehensweise ist die gendersensible Berücksichtigung lokaler Bedürfnisse wie beispielsweise die Sicherstellung 214 4 Tourismussoziologische Anwendungsfelder <?page no="215"?> 31 Maier hat 1991 typisch weibliche und männliche Posen auf Urlaubsfotografien unter‐ sucht. einer stabilen Wasserversorgung bei Planung und Bau touristischer Infra‐ strukturen. Internationale Projetkonsortien wie Gender and Water Alliance (GWA) sind politisch aktiv, initiieren Projekte und stellen Informationen zur Verfügung. Gender und Tourist: innen Ein letzter, kaum beachteter Bereich ist jener, der den Einfluss von Gender auf die reisende Person in den Mittelpunkt der Betrachtungen stellt. Gibt es bestimmte Reiseverhalten, die aufgrund von Gender erwartet werden? Sind Wellnesswochenenden von Frauen und Brauereitouren von Männern statistisch belegbar oder nur stereotyp verzerrte Annahmen? Gendersen‐ sible Datenerhebungen und -auswertungen wie beispielsweise eine Analyse typischer Inszenierungen des Familienurlaubs auf Instagram könnte darüber Aufschluss geben. 31 In diesen Bereich fällt auch die Herausbildung spezialisierter Tourismusangebote - Frauentouristik oder Rainbow Tourism - einschließlich der damit verbundenen Standardisierung und Kommerzialisierung. Diese Angebote werden rund um Gender und Sexualverhalten konstruiert; beispielsweise die Entwicklung von Reisen rund um den Begriff frau; von Frauen für Frauen gemacht. Ergänzende Begriffe sind fair, nachhaltig, regional, bewusst und sinnlich. Welchen Einfluss haben traditionelle Rollenvorstellungen auf Reiseent‐ scheidungen und wer trifft die Entscheidung? Welche Erwartungen sind mit dieser Entscheidung verbunden? Wenn Tourismus eine Gegenwelt zum Alltag bietet, muss er mehrere Gegenwelten anbieten. Familienreisen sind ein guter Ansatzpunkt, um dieses zu untersuchen (Harms & Heuwinkel, 2024). Die Vorstellung davon, was eine Familie ist, wer dazu gehört und wie sich die Personen zu verhalten haben, wird gesellschaftlich definiert. Lassen sich Reiseformen auf Gendervorstellungen zurückführen? Ein Bei‐ spiel könnte der Prostitutionstourismus mit den beiden unterschiedlichen Ausprägungen reiner Prostitutionstourismus und vermeintlicher Romantik‐ urlaub sein (→ Kapitel 3.7). Diese Unterscheidung basiert auf der Annahme hinsichtlich des vermeintlich gendertypischen Sexualverhaltens. Schließlich kann die Geschichte des Reisens hinsichtlich Gender unter‐ sucht werden. Welche Menschen gehören zum Kanon der Reisenden? Wieso ist Marco Polo so bekannt, Freya Stark aber nicht? 4.5 Gender und Tourismus 215 <?page no="216"?> Zitat »Although women are significant consumers and producers of tourism products and experiences, tourism enquiry has been surprisingly gen‐ der-blind and reluctant to engage gender-aware frameworks in compa‐ rison to cognate disciplines and subject fields.« (Figueroa-Domecq, 2015, S. 97) Zusammenfassend finden sich im Tourismus zahlreiche Ansatzpunkte für eine Untersuchung des Themenbereichs Gender. Genderrollen und -erwartungen beeinflussen Reiseformen und prägen das Reiseverhalten. Sie finden ihren Ausdruck in beruflichen Rollen. Tourismus könnte den Rahmen für Variationen und das Erproben neuer Verhältnisse bieten. Oft scheinen jedoch traditionelle Verhältnisse eher verfestigt zu sein, als dass sie durchbrochen werden. Wenn Tourismus und Tourismuswissen‐ schaft tatsächlich einen Beitrag zur Gendergleichheit und zur Stärkung von Frauen beitragen sollen, müssen diese Bereiche kritisch analysiert und offen angesprochen werden. Wünschenswert ist eine systematische Integration in Lehre und Forschung um die bislang herrschende Gender‐ blindheit zu beseitigen. Soziologische Begriffe ● Rollen (→-Kapitel 3.5) ● Konstruktion (→-Kapitel 3.6) ● Feminismus und Genderforschung (→-Kapitel 3.7) ● Macht (→ Kapitel 3.9) Literatur Cole, S. (Hrsg.) (2018). Gender equality and tourism: Beyond empowerment. Wallingford: CABI. Enloe, C. (2014 [1990]). Bananas, Beaches and Bases: Making Feminist Sense of International Politics. 2. A. Berkeley. University of California Press. Figueroa-Domecq, C. et al. (2015). Tourism gender research: A critical accoun‐ ting. Annals of Tourism Research, 52, 87-103. Grütter, K., Plüss, Ch. (1996). Herrliche Aussichten! - Frauen im Tourismus. Zürich: Rotpunktverlag. 216 4 Tourismussoziologische Anwendungsfelder <?page no="217"?> Heuwinkel, K. (2021). Frauen im Tourismus. München: UVK. Pritchard, A. (Hrsg.) (2007). Tourism and Gender. Wallingford: CABI Swain, M.B. (1995). Gender in tourism. Annals of Tourism Research, 22(2), 247-266. UNWTO World Tourism Organization (2019). Global Report on Women in Tourism. 2. A. Abgerufen von: 🔗 https: / / www.e-unwto.org/ doi/ pdf/ 10.18111/ 9789284420384. Vizcaino, P., Jeffrey, H., & Eger, C. (Hrsg.). (2020). Tourism and Gender-based Violence: Challenging Inequalities. Wallingford: Cabi. 4.6 Tiere im Tourismus Tiere sind auf vielfältige Weise in touristische Aktivitäten eingebunden oder mit dem Tourismus verbunden. Einige dienen als Attraktion, um Menschen anzuziehen (z.B. die Big-Five in afrikanischen Ländern), während andere manche Menschen von einem Besuch abhalten (z.B. Mücken und Schlangen). Menschen nutzen Tiere während einer Reise als Transportmittel (z.B. Esel beim Trekking), andere freuen sich, wenn das eigene Haustier mit in die Kabine des Flugzeugs darf. Tiere werden von Reisenden fotografiert und gestreichelt, gejagt und gegessen. Es wird mit ihnen geschwommen (z.B. Delfine) und spazieren gegangen (z.B. Elefanten). Tier- Souvenirs reichen von Kuscheltieren und lebenden Tieren über Tierhäute, Taschen und be‐ malte Eier bis hin zu T-Shirts mit Tierabbildungen. Begegnungen mit Tieren gelten als authentisches Erlebnis, das eine hohe Social-Media-Eignung hat und gut in Geschichten eingebunden werden kann. Schließlich können tierrettende Aktivitäten als Episode oder sogar als ganze Reise wie beim Voluntourismus (→-Kapitel 4.7) gestaltet werden. 4.6 Tiere im Tourismus 217 <?page no="218"?> Abb. 13: Tiere und touristische Aktivitäten in Südafrika Abb. 14: Tiere im Tourismus (eigene Darstellung basierend auf Markwell, 2015, S.-7) 218 4 Tourismussoziologische Anwendungsfelder <?page no="219"?> Soziologische Fragestellungen in diesem Bereich beziehen sich auf die gesellschaftliche Konstruktion des Wesens und der Bedeutung von Tieren. Es sind grundlegende ethische Fragen zu beantworten. Kulturelle Deutungs‐ muster und etablierte soziale Praktiken beeinflussen die Interaktion, da die Wertschätzung und daraus folgend der Umgang mit Tieren abhängig vom gesellschaftlichen Kontext ist. Ob, für welche Tiere und in welchem Maße sich Menschen für Tiere begeistern und für entsprechende Tierbeobachtun‐ gen Geld bezahlen, variiert in Abhängigkeit von der Gesellschaft. Diese auf den ökonomischen Wert gerichtete und der Logik touristisch attraktiv | nicht attraktiv folgenden Betrachtung von Tieren macht diese zu Objekten. Beispiel │ Pinguine Pinguine sind flugunfähige Seevögel, die hervorragend schwimmen und tauchen können. An Land wirken sie eher unbeholfen und bewegen sich wenig. Ihre nächsten Verwandten, die Seetaucher und Röhrennasen, ziehen kaum das Interesse von Menschen auf sich. Pinguine werden häufig als etwas rundliche, niedliche und kuschelige Wesen dargestellt. Grundlage dafür ist die Körperform der frisch ge‐ schlüpften Pinguine, die in den ersten Wochen einen birnenförmigen Körper und ein flauschiges Fell haben. Die Musterung am Kopf erweckt den Eindruck sehr großer Augen. Pinguine gehen wie der Mensch aufrecht auf zwei Beinen und sie scheinen einen Frack zu tragen. Filme wie Die Reise der Pinguine, Die Pinguine von Madagaskar und die Kinderserie Jasper Pinguin oder auch Tux, das Linux Maskottchen, greifen diese Merkmale auf und kreieren das Bild eines süßen, drolligen und schutzbedürftigen Wesens. Da Pinguine keine Angst vor Menschen haben und sehr neugierig sind, lassen sie sich gut aus der Nähe betrachten. Am Western Cape, Südafrika, sind Pinguine eine Attraktion. Besonders gut lassen sie sich in Boulders Beach und Betty’s Bay beobachten. In Gansbaai befindet sich eine Auffangstation für verletzte Pinguine, gefördert u.a. von Unternehmen, die Shark Cage Diving anbieten. Eine Person schreibt in einem Blog: »Thanks, Janice! These little guys are definitely a reason to go back to South Africa. And I’m jealous of your Antarctica experience - I would love to go there myself and not just for the penguins.« 4.6 Tiere im Tourismus 219 <?page no="220"?> Der soziologische Ansatz der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit (→ Kapitel 3.6), Urrys tourismussoziologische Arbeiten zum tourist gaze (→ Kapitel 2.2.7) sowie das Zusammenspiel von Authentizität und Authentication (→ Kapitel 2.2.8) von Cohen & Cohen beschreiben gesell‐ schaftliche Vorgänge und menschliche Verhaltensweisen, die zu Deutungs- und Bewertungsmustern führen. Mit diesen kann die steigende Wertschät‐ zung von Tierbegegnungen im Tourismus erklärt werden. Hintergrund ist, dass Tiere - insbesondere wildlebende Tiere - für ursprüngliche Natur und Authentizität stehen. Von Menschen weiß man inzwischen, dass sie im Tourismus Rollen spielen, bei Tieren kann die Annahme aufrechterhalten bleiben, dass sie das nicht tun. Doch auch diese Annahme gerät ins Wanken bei der Betrachtung der Eichhörnchen auf der Insel Seurasaari, Helsinki. Dort beobachten die Tiere die Tourist: innen und lernen, wie sie sich ver‐ halten müssen, um Futter zu erhalten. Gleiches gilt für die Baboon-Gangs am Western Cape, Südafrika, die touristische Verhaltensweisen kennen und darauf abgestimmt agieren, beispielsweise in Autos einbrechen oder Picknickkörbe erbeuten. Abb. 15: Eichhörnchen-Kind-Interaktion 220 4 Tourismussoziologische Anwendungsfelder <?page no="221"?> 32 Geburtstourismus als Reise in ein anderes Land, um dort ein Kind zur Welt zu bringen, ist eine Form des Gesundheitstourismus (→-Kapitel 4.9). Selbst das Töten von Tieren im Falle des Jagdtourismus kann als extreme Form der Authentizität interpretiert werden. Denn was ist echter und ursprünglicher als das Töten? Ergänzend findet eine Konstruktion der Tiere als »alt«, »überflüssig« oder sogar »schädigend« statt, um das Töten zu legitimieren. Eine andere Legitimation erfolgt auf Basis von Statistiken zum Bestand von Tierarten in Regionen. Die Korrektheit solcher Statistiken wird regelmäßig angezweifelt. Beispiel │ Das Jagen »alter« Tiere Im Jagdtourismus findet sich die Argumentation, dass nur alte und damit vermeintlich überflüssige Tiere gejagt werden. Alte Tiere sind aber ebenso wenig überflüssig wie alte Menschen. Bei Elefanten besitzen alte Tiere sehr viel Wissen, das sie an andere weitergeben. Bei Löwen existieren komplexe Machtstrukturen. Das plötzliche Verschwinden eines Tieres führt zu Problemen. Auch die grundlegende Festlegung, wann ein Tier alt ist, ist problematisch. Der Konstruktion des alten Tieres steht die anthropomorphe Gestaltungs‐ weise junger Tiere - der Tierbabies - gegenüber. Neu geborene oder frisch geschlüpfte und junge Tiere gelten als hilfsbedürftige, süße, kuschelige Wesen. Sie wecken zärtliche Gefühle sowie das Gefühl angenehmer Überle‐ genheit. Es kann weiter spekuliert werden, wann die ersten Destinationen und Reiseveranstalter einen Geburtstourismus 32 - verstanden als das Miterleben einer Tiergeburt - vermarkten. In Ansätzen existiert dieses bereits als ein Event des Urlaubs auf dem Bauernhof. Zitat »Ausgiebige Ausritte in die ländliche Umgebung, Pferde füttern & striegeln gehören hier genauso zum Hofalltag wie Ställe ausmisten. Mit etwas Glück können Sie vielleicht sogar live bei der Geburt eines Fohlens dabei sein.« (Quelle: Website LandReise) 4.6 Tiere im Tourismus 221 <?page no="222"?> Ein zweiter Themenbereich mit soziologischem Bezug dreht sich um die objectification von Tieren im Tourismus. Die Tourismusindustrie gestaltet Tiere als touristische Objekte und bindet diese als Produkte in Erlebnisse ein. Die nachfolgende Liste nennt Produktformen und Beispiele. [1] Transport: Menschen und/ oder Gepäck werden getragen. [2] Beobachtung und Betrachtung: Lebendige und/ oder tote Tiere wer‐ den in freier Wildbahn, in Parks, im Zoo oder in Museen beobachtet. [3] Abbildung: Tiere werden fotografiert, gefilmt und gezeichnet. Sym‐ bole werden zur Kommunikation eingesetzt. [4] Berührung: Tiere werden gestreichelt, geführt, gemolken, gestriegelt, gewaschen und gebürstet. [5] Begleitung: Das eigene Haustier dient als Begleitung während der Reise/ Spaziergänge mit Elefanten, Pinguinen und Geparden/ Reiten auf Pferden, Eseln, Kamelen, Elefanten, Straußen/ Schwimmen mit Elefanten und Pinguinen [6] Unterhaltung: Shows mit Delfinen, Robben, Vögeln/ Fütterungen [7] Jagd: Tiere werden gejagt, geangelt und gefischt. [8] Nahrung: Tiere dienen als grundlegendes und/ oder exotisches Nah‐ rungsmittel. [9] Souvenir: Kleidung, Schmuck, Dekoration. [10] Rettung: Tiere werden gerettet (→-Kapitel 4.7). [11] Therapie: Tiere werden in Therapien eingesetzt, z.B. Putzerfische, Delfintherapie, Blutegel. [12] Inszenierung: Tiere sind ein Element der Inszenierung auf Fotos und in Filmen, die zunehmend direkt über Social Media (→ Kapitel 4.10) gepostet werden. Bei allen genannten Punkten werden Tiere eingesetzt, um ein Erlebnis für Tourist: innen zu produzieren. Die Instrumentalisierung basiert auf be‐ stimmten Annahmen über die Stellung der Menschen gegenüber den Tieren. Demnach ist der Mensch dem Tier überlegen. Auch das Retten von Tieren basiert auf der Annahme der Überlegenheit. Die Einbeziehung ethischer Fragestellungen und die Überlegungen hinsichtlich eines verantwortungs‐ vollen Tourismus ermöglichen einen veränderten Blick auf das konsumtive Verhalten und die touristischen Strukturen, die dieses ermöglichen. Auch 222 4 Tourismussoziologische Anwendungsfelder <?page no="223"?> 33 In vielen Fällen wird lediglich dafür gesorgt, dass Tourist: innen die Tiere nicht sehen oder mit ihnen in Kontakt kommen. Bei scheuen Geparden ist das einfach, bei Mücken und Schlangen helfen Fliegengitter. wenn Tiere das touristische Erlebnis bedrohen, werden sie als Objekte beschrieben, die kontrolliert und beseitigt 33 werden können. Trotz aller Inszenierung darf die kulturelle Einbettung von Tieren und die gesellschaftliche Bedeutung bestimmter Tieraktionen nicht vergessen werden. Der Stierkampf in Spanien, Hahnenkämpfe auf Bali oder auch die Spanische Hofreitschule in Wien und das CHIO Turnier in Aachen sind traditional verankert und müssen vor diesem Kontext diskutiert werden. Ein letzter aus soziologischer Sicht interessanter Bereich umfasst sämtli‐ che Fragestellungen, die sich ergeben, wenn Menschen mit den eigenen Haustieren verreisen möchten. Neben zahlreichen reisepraktischen und organisatorischen Fragen bietet der Aspekt »Tier als Reisegefährte« interes‐ sante Untersuchungsansätze. So kann erstens nach den gesellschaftlichen Hintergründen gefragt werden, die dazu führen, dass eine Reise ohne das eigene Tier für viele Menschen nicht vorstellbar ist und dass die Ansprüche des Tieres bei der Reiseentscheidung berücksichtigt werden. Zweitens können Auswirkungen auf das Verhalten während der Reise untersucht werden. Welche Auswirkungen hat die Präsenz des Tieres auf die Reisenden, andere Mitreisende und das Umfeld? Soziologische Begriffe ● Der touristische Blick (The Tourist Gaze) von Urry (→ Kapitel 2.2.7) ● Authentizität und Authentication von Cohen & Cohen (→ Kapitel 2.2.8) ● Gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit und Objectification (→-Kapitel 3.6) ● Macht (→-Kapitel 3.9) Literatur Einen sehr guten Überblick sowie Beiträge zu wesentlichen Themen bieten: Markwell, K. (Hrsg.) (2015). Animals and Tourism. Channel View Publications. Carr, N. (Hrsg.) (2009). Special Issue. Animals in the tourism and leisure experience. Current Issues in Tourism 12 (5-6), 409-587. 4.6 Tiere im Tourismus 223 <?page no="224"?> Die folgenden Publikationen legen den Schwerpunkt auf Wildlife Tou‐ rism: Higginbottom, K. (Hrsg.) (2004). Wildlife Tourism. Impacts, Management, and Planning. Altona, Melbourne: Common Ground and Sustainable Tourism CRC. Shackley, M. (1996). Wildlife Tourism. London: International Thomson Business Press. Lovelock, B. (Hrsg.) (2008). Tourism and the Consumption of Wildlife: Hunting, Shooting and Sport Fishing. London und New York: Routledge. Ethische Aspekte untersucht: Fennell, D. A. (2012). Tourism and Animal Ethics. London und New York: Routledge. Kline, C. (Hrsg.). (2018). Animals, food, and tourism. Oxon: Routledge. Detaillierte Untersuchungen zu Destinationen resp. Tierarten finden sich u.a. bei: Cohen, E. (2014). Bullfighting and tourism. Tourism Analysis 19(5): 545-556. Higham, J., Neves, K. (2015). Whales, tourism and manifold capitalist fixes: New relationships with the driving force of capitalism. In Markwell (Hrsg), 109-127. 4.7 Voluntourismus Freiwilligenarbeit (Volunteering) allgemein und im Ausland im Speziellen existiert seit fast 100 Jahren. Ursprünglich diente diese ehrenamtliche Arbeit als Friedensprojekt, um nach dem Ersten Weltkrieg Menschen in betroffe‐ nen Ländern zu unterstützen. Verantwortlich für die Organisation waren staatliche, kirchliche und zivilgesellschaftliche Einrichtungen. Nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden sowohl auf lokaler als auch auf nationaler und internationaler Ebene (UNESCO) Organisationen, die Freiwillige ins Ausland vermitteln. In zunehmendem Maße erfolgten die Arbeitseinsätze in Entwicklungs- und Schwellenländern. Nach Aufbau- und Friedenprojekten gewannen Entwicklungsprojekte an Bedeutung. Die Aufenthalte erstrecken sich normalerweise über mehrere Monate (z.B. weltwärts: zwischen sechs und 24 Monaten) und die Freiwilligen werden intensiv auf den Einsatz vorbereitet. Oft sind besondere Qualifikationen, beispielsweise aus dem 224 4 Tourismussoziologische Anwendungsfelder <?page no="225"?> medizinisch-pflegerischen, handwerklichen oder pädagogischen Bereich hilfreich. G8 und das Aussetzen der Wehrpflicht (1. Juli 2011) haben in den letzten Jahren dazu geführt, dass viele Schulabsolvent: innen nach dem Schulab‐ schluss eine Auszeit nehmen. Sie möchten nach der stressigen Schulzeit erst einmal entspannen, die Welt sehen und etwas erleben, bevor es mit Studium oder Ausbildung weitergeht. Klassische Angebote wie Work & Travel, eine Sprachreise oder die Arbeit als Aupair werden um Freiwilligenarbeit ergänzt. Wertewandel (→ Kapitel 3.3) und ein bestimmter Lebensstil (→ Kapitel 3.13) betonen sowohl die Betrachtung des Selbst als auch die stärkere Berücksichtigung ideeller Werte. Die genannten gesellschaftlichen Veränderungen führen zu einer stei‐ genden Nachfrage nach der Möglichkeit, im Ausland Freiwilligenarbeit zu leisten. Die eingangs beschriebene klassische Freiwilligenarbeit dauert in vielen Fällen zu lang, erfordert eine intensive Vorbereitung und wird als zu anstrengend und hart eingeschätzt. Hinzu kommt, dass viele Schulabsol‐ vent: innen noch sehr jung sind. Oft äußern Eltern Bedenken hinsichtlich des Arbeitseinsatzes im Ausland. Voluntourismus bietet die Möglichkeit, Freiwilligenarbeit mit Erholung und Erlebnissen zu kombinieren. Der Aufenthalt wird komplett organisiert und bietet Komfort. Es ist möglich, nur einige Stunden während eines Urlaubs zu helfen oder mehrere Wochen und Monate im Ausland aktiv zu sein und an den Wochenenden das Land zu erkunden. Sowohl kommerzielle als auch nicht kommerzielle Anbieter bieten Volun‐ tourismus an. Letztere kooperieren häufig mit Reiseveranstaltern, da ihnen das touristische Wissen fehlt. Ihr Motiv ist die Gewinnung zusätzlicher Einnahmen. Kommerzielle Anbieter sind meist aus Sprachreiseveranstaltern hervorgegangen, die nun die Produktpalette erweitern. Die Sprachreise nach Malaga wird durch die Arbeit als Volunteer in Südafrika ersetzt. Es handelt sich um einen Markt, der in Amerika, Australien und Neusee‐ land bereits seit einigen Jahren komplett entwickelt ist, in Europa ist ein starkes Wachstum zu erkennen. Die Kommerzialisierung von Freiwilligenarbeit stellt die Anforderungen und Erwartungen der Kund: innen - Reisende und die (finanzierenden) Eltern - in den Mittelpunkt. Interessen der Einheimischen und der Or‐ ganisationen vor Ort müssen an diese angepasst werden. Es werden Pro‐ jekte ausgesucht, die Erlebnisse, kurzfristige Erfolge, Geschichten und Instagram-taugliche Situationen garantieren. Beispiele dafür sind Rettungen von Tieren oder sportliche Aktivitäten mit Kindern. Weiterhin wird von 4.7 Voluntourismus 225 <?page no="226"?> den Organisationen in den Ländern eine Zuverlässigkeit erwartet, die oft aufgrund der lokalen Begebenheiten nicht erreicht werden kann. Es findet eine Objectification der Menschen, Tiere und Pflanzen statt. Diese werden so eingesetzt, dass sie dem Wunsch der Volunteers zu helfen, entsprechen. Beispiel │ Kinder Kinder werden wegen ihrer augenfälligen Schutzbedüftigkeit oft schutz‐ los im Voluntourismus eingesetzt. Sie leiden besonders unter Armut, Hunger und Gewalt und sind diesen Situationen ausgesetzt. Sie lassen sich gut auf den Arm nehmen und von ihnen geht (in den meisten Fällen) keine Bedrohung aus. Volunteers werden eingesetzt, um mit den Kindern zu spielen, Sport zu machen, zu zeichnen, ihnen Essen zu geben und sie zu unterrichten. Letzteres erfolgt häufig ohne die erforderlichen pädagogischen Fähigkeiten. Literatur ECPAT (2018). Kinderrechte und Kinderschutz - Trainingsmaterialien für die Vorbereitung auf internationale Freiwilligeneinsätze Einige Anbieter versuchen, Voluntourismus verantwortungsvoll und nach‐ haltig zu gestalten. Es werden Projekte ausgesucht, wo das involvierte Gegenüber nicht zu Schaden kommt. Beispielsweise gibt es Aktionen, bei denen Müll gesammelt oder Gebäude repariert und gereinigt werden. Interaktionen mit Kindern und Tieren werden vermieden. Ebenso wird darauf geachtet, dass die Volunteers keine Arbeiten übernehmen, die mög‐ licherweise von Einheimischen übernommen werden könnten. Soziologische Begriffe Die folgenden Begriffe und Konzepte haben eine besondere Relevanz: ● Wertewandel (→-Kapitel 3.3) ● Objectification (→-Kapitel 3.6) ● Identität und Lebensstil (→-Kapitel 3.13) 226 4 Tourismussoziologische Anwendungsfelder <?page no="227"?> Literatur Eine sehr gute Einführung in das Thema bietet: Brot für die Welt (Hrsg.) (2018). Vom Freiwilligendienst zum Voluntourismus. 2. A. Profil 18, Berlin Clemmons, D. (2012). »Voluntourism«: Entwicklungshilfe im Urlaub. Unter: 🔗 http: / / cms.ifa.de/ index.php? id=9127&L=0 Fairunterwegs bietet auf der Website eine Zusammenstellung von Studien, Flyern, Checklisten und weiteren Links. Sullivan, H. R. (2019). Voluntourism. AMA Journal of Ethics, 21(9), 815-822. Tomazos, K., Butler, R. (2010): Volunteer tourists in the field: a question of balance? Tourism Management 33 (2012), 177-187. Wearing, S., & McGehee, N. G. (2013). Volunteer tourism: A review. Tourism management, 38, 120-130. 4.8 Inszenierung: Körper und Identität In den Abschnitten über Tiere im Tourismus (→ Kapitel 4.6) und Voluntou‐ rismus (→ Kapitel 4.7) zeigte sich bereits die Bedeutung des Reisens für die Identität (→ Kapitel 3.13). Menschen erleben aus ihrer Sicht authenti‐ sche Erlebnisse und ergänzen das bloße Entspannen um etwas Sinnvolles oder auch Spannendes. Die Reisemotivforschung (→ Kapitel 2.3.4) belegt theoretische Annahmen, wonach der Wunsch, sich selbst im Urlaub zu verwirklichen und die eigene Persönlichkeit zu stärken, ein wesentlicher Aspekt der touristischen Erfahrung ist. Neue Erlebnisse sollen die Annah‐ men über das Selbst bestätigen resp. die Geschichte des Selbst verändern. Anthony Giddens hat Identität als reflexiven und narrativen Prozess des Menschen vor dem Hintergrund der Moderne beschrieben (→ Kapitel 3.13). Demnach machen neun Aspekte die Selbst- oder Identitätskon‐ struktion aus. In →-Tabelle 3 werden die Aspekte aufgeführt, die einen deutlichen Bezug zur touristischen Erfahrung haben bzw. wo ein solcher hergestellt werden kann. 4.8 Inszenierung: Körper und Identität 227 <?page no="228"?> Aspekt Tourismusbezug Wir sind, was wir aus uns machen. / Ich erzähle mich selbst. / Die Reflexi‐ vität des Selbst ist kontinuierlich und alles durchdringend. / Ich muss meine Lebenserzählung in sich stimmig prä‐ sentieren. Touristische Erfahrungen sind ein Teil der Erzählung und ein Bestandteil des‐ sen, was wir aus uns machen. Die Refle‐ xivität des Selbst durchdringt ebenfalls touristische Erfahrungen. Touristische Erfahrung muss entweder stimmig mit der Lebenserzählung oder als bewusster Umbruch formuliert werden. Selbstverwirklichung bedeutet die Schaffung persönlicher Zeitzonen, die bewusst gegen die äußere Zeit gesetzt werden. / Identität vollzieht sich in »Übergängen«, die ohne gesellschaft‐ liche Stützrituale gelebt und gestaltet werden. Touristische Erfahrung kann als per‐ sönliche Zeitzone verstanden werden. Sie bietet Übergänge abseits der eta‐ blierten Rituale an. Das Selbst bildet eine entwicklungsmä‐ ßige Verlaufskurve. Eine Analyse von Reisebiografien könnte helfen, Verlaufskurven und Rei‐ severhalten zusammenzubringen. Die Selbstreflexivität bezieht den Kör‐ per ein. Touristische Erfahrung sollte den Kör‐ per mit einbeziehen. Selbstverwirklichung wird im Span‐ nungsfeld von Chancen und Risiken verstanden. Das Spannungsfeld von Chancen und Risiken ist bei touristischen Erlebnissen zu berücksichtigen. Authentizität wird zum Leitfaden der Selbstverwirklichung. Daraus erklärt sich die Suche nach Authentizität im Tourismus. Tab. 3: Identität als reflexiver und narrativer Prozess (basierend auf Giddens, 1991) Die Tabelle zeigt einige wiederkehrende Aspekte. Die ersten beiden ver‐ weisen auf den Bezug zwischen Kreation des Selbst im Allgemeinen und während einer touristischen Erfahrung. Wesentlich ist erstens, dass Men‐ schen kontinuierlich sich selbst kreieren, indem sie sich und dem Umfeld eine Geschichte des Selbst erzählen. Touristische Erfahrung muss demnach in die Geschichte integriert werden und übereinstimmend mit dieser erzählt werden. Oder - und das ergibt sich aus dem zweiten Punkt - bietet touristische Erfahrung persönliche Räume und Übergänge, die benötigt werden, um die Geschichte des Selbst zu ergänzen, abzuändern und zu variieren. 228 4 Tourismussoziologische Anwendungsfelder <?page no="229"?> Beispiel-│-Gay Tourism Der Prozess der Identitätsbildung beinhaltet neben der Hervorhebung einiger Merkmale auch das Verbergen von Aspekten, die vom sozialen Umfeld oder der Person selbst als auffällig, unangenehm oder negativ bewertet werden. Ein Beispiel dafür sind sexuelle Orientierungen, die nicht den Vorstellungen des sozialen Umfeldes entsprechen. Waitt & Markwell (2006) beschreiben das Reisen als Möglichkeit, einen Raum der Freiheit zu finden, in dem das wahre Ich gezeigt werden kann. Zitat »Frequently, the travel is undertaken as a quest for a utopia, a place where one can be apparently „free“ from heterosexism.« (Waitt & Markwell, 2006, S. 4) »[…] we argue that the oppressive qualities of heteronormativity are key for the relatively high level of mobility characterizing gay travel cultures.« (ebd.) »[…] where they [gay men] can discover or become themselves by their performativity of gender and sex roles.« (Waitt & Markwell, 2006, S. 6) Der dritte Aspekt verweist auf eine Verlaufskurve, die das Selbst bildet. Die in → Kapitel 2.3.5 beschriebene Reisebiografieforschung entspricht dieser Vorstellung. Menschen machen in der Kindheit erste Reiseerfahrungen, gestalten diese in der Jugend und im Erwachsenenalter aus und führend diese im Alter zunehmend fort. Viertens findet eine Einbeziehung des Körpers in die Identitätsbildung statt. Dieser Aspekt wird weiter unten erläutert. Chancen und Risiken entsprechen dem Spannungsfeld zwischen Fremdartigkeit und Bekanntem. Die Bedeutung von Authentizität für touristische Erlebnisse ist ein klas‐ sisches Thema der tourismussoziologischen Forschung (→ Kapitel 2.2). Die Verknüpfung mit der Identitätsbildung bietet einen Erklärungsansatz und betont darüber hinaus die Bedeutung von Authentizität. - Darstellung und Inszenierung des Selbst Ein zentraler Aspekt, der im engen Zusammenhang mit der Identität steht, ist die Frage, wie eine Person das Selbst erzählt und darstellt bzw. bewusst in 4.8 Inszenierung: Körper und Identität 229 <?page no="230"?> Szene setzt. Von Darstellung wird dann gesprochen, wenn das Verhalten dazu dient, die Sichtweisen anderer auf die eigene Person zu beeinflussen (→ Kapitel 2.1.5 Goffman). Um einen bestimmten Eindruck zu vermitteln, kann auf kulturell und gesellschaftlich geprägte und standardisierte Ele‐ mente zurückgegriffen werden (→-Kapitel 3.13). Die Darstellung unter Verwendung von Medien kann besser geplant und gesteuert werden als die direkte Interaktion, da die Wahrnehmung des Gegenübers gelenkt werden kann. Medien üben somit einen starken Einfluss darauf aus, was, wie, wem, wann und wo erzählt wird. Früher waren es die Urlaubsfotos, die nach dem Urlaub gezeigt wurden, und Postkarten, die verschickt wurden. Heutzutage ermöglichen digitale Medien die syn‐ chrone Darstellung und bewusste Inszenierung während der touristischen Erfahrung. Untersuchungen weisen darauf hin, dass mediale Stereotypen, vor allem »männlich« und »weiblich« in der Onlineselbstdarstellung auf‐ gegriffen werden (Döring, 2013). Das Aufgreifen von stereotypisierten Darstellungsstrategien steigert die Chance auf soziale Anerkennung - viele Likes - in den Medien. Als Konsequenz werden Stereotype bestätigt und verfestigt. Medien eröffnen nicht nur die Möglichkeit sich zu inszenieren, sie geben oft die Form vor. So überwiegen auf Instagram - bearbeitete und gefilterte - Fotos und Videos, die aufsehenerregend sind und/ oder von witzigen Kommentaren begleitet werden. Beispiel │ Für Instagram geeignet? Instagram ist quadratisch, praktisch (einfach zu bedienen) und domi‐ niert den Einblick, den Menschen anderen in ihr Leben geben. Gleichzei‐ tig lenken das Format und die technischen Möglichkeiten, wie »liken«, kommentieren, Personen taggen und Posts mit Hashtags versehen, die Art und Weise, wie Menschen nach Motiven und Situationen suchen. Einige Destinationen, Hotels und Restaurants bieten Instagram-taugli‐ che Blicke, Hotelzimmer und Speisen bewusst an. Berühmt ist der Rain‐ bow-Bagel von Scot Rossilon aus Brooklyn, der aufgrund der intensiven Farbe eine Berühmtheit wurde. Es existieren Listen von Speisen und deren Inszenierung, die auf Instagram garantiert für Aufmerksamkeit sorgen (Instagram: Delish). Ein Beispiel ist der Drink am Pool oder der Madonna-Burger in einem Restaurant in Wilderness. Der Park-Inn-by-Radisson-Blog beschreibt, wie Gäste in drei Schritten zum idealen Frühstücksbild gelangen. 230 4 Tourismussoziologische Anwendungsfelder <?page no="231"?> Zitat: »Wenn Sie davon träumen, ein Instagram-Star zu werden, sind Fotos vom Frühstück und von Reisen der beste Weg, dieses Ziel zu erreichen. Glücklicherweise können Sie mit Park Inn by Radisson beides«. (Blog Park Inn) Eine Reise nach Paris kann durch Posts vom Eiffelturm, von bunten Türen in Marais, Blicke in alte Bibliotheken und Galerien sowie Fassa‐ den von Cafés und Restaurants präsentiert werden. Social-Media-Plattformen sind somit nicht einfach nur Instrumente, die von Menschen eingesetzt werden, sondern sie sind Akteure, die Auswirkungen auf andere Akteure haben. Es ist ein Zusammenwirken von menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren, wie es von der Akteur-Netzwerk-Theorie (→-Kapitel 3.15) beschrieben wird. - Körper, Sinne, Emotionen Die Bedeutung des Körpers für das Denken ist wissenschaftlich erwie‐ sen. Körper und Psyche wirken aufeinander ein und beeinflussen sich (Kahnemann, 2011). So ist die Wahrnehmung der Außenwelt in einem stärkeren Maße durch den Körper beeinflusst als häufig angenommen. Die Beschreibung einer körperunabhängigen Wahrnehmung der Außenwelt als bloße Informationsaufnahme mittels der fünf Sinne (Riechen, Sehen, Hören, Schmecken und Fühlen resp. Tastsinn) ist nicht ausreichend. So ist es offenkundig, dass die Wahrnehmung des eigenen Körpers über mehr als die genannten Sinne erfolgt und eng mit Prozessen der Aufmerksamkeit und Reflexion verbunden ist. Tourismus adressiert den gesamten Körper und alle Sinne. Er basiert (noch) darauf, dass der menschliche Körper sich von dem Wohnort entfernt und sich für eine gewisse Zeit an einem anderen Ort befindet. Im Marketing findet sich häufig der Hinweis darauf, dass Urlaub mit allen Sinnen erlebt werden soll. Damit ist gemeint, dass Urlaub alle Sinne anspricht. Konkret kann das wie folgt geschehen: [1] Bewusstsein der körperlichen Präsenz: Das vermeintliche Urlaubs‐ gefühl ist ein Gemenge einer Vielzahl von Eindrücken. Viele von ihnen sind unbewusst. So wird beispielsweise der Geruch des Meeres nur in den ersten Stunden nach der Ankunft bewusst wahrgenommen. [2] Das Wetter: Temperaturen, Wind und Regen werden gefühlt und der Körper reagiert darauf. Menschen beginnen zu schwitzen, die 4.8 Inszenierung: Körper und Identität 231 <?page no="232"?> Haut wird braun oder rot, in einigen Fällen kommt es zu allergischen Reaktionen. [3] Das Essen: Auch wenn der Geschmacksinn der am intensivsten ange‐ sprochene Sinn ist, gehören zum Erleben des Essens das Riechen und Sehen dazu. Ebenfalls ist gerade beim Essen die Eigenwahrnehmung des Körpers besonders angesprochen. [4] Aktivitäten: Sämtliche Aktivitäten beziehen den Körper ein. Beim Sandburgenbauen ist es das Fühlen des Sandes, beim Bungee-Sprung das Gefühl des Fallens. [5] Shopping: Shopping dient dazu, das Erscheinungsbild und damit quasi den Körper zu verändern. Es werden neue Stile, Formen und Farben ausprobiert. [6] Tattoo: Erinnerungen an den Urlaub können durch ein Tattoo (vgl. auch Literatur zum Tattoo-Tourismus) oder ein Piercing festgehalten werden. Wesentlich ist bei allen Beispielen, dass zwar ein Sinn im Vordergrund steht, aber alle anderen Sinne ebenfalls angesprochen und mit dem Urlaubsgefühl unterlegt sind. Die Einbeziehung des Körpers und der Sinne ist eng mit einer stärkeren Berücksichtigung von Emotionen im Tourismus verbunden. Der Begriff Embodiment oder auch embodied experience adressiert ein in den letzten Jahren intensiv erforschten Bereich. Es wird die Art und Weise untersucht, wie der touristische Körper durch verkörperte und sinnliche Erfahrungen erlebt, gestaltet und konstruiert wird (Palmer & Andrews, 2019). Es kann spekuliert werden, ob die steigende Bedeutung des Körpers bis hin zum Festmachen im Körper (Tattoo, Piercing) eine Reaktion auf die fluide Gesellschaft ist (→ Kapitel 2.2.12). Die These würde lauten, dass in einer Gesellschaft, in der sich alles auflöst, die Festigkeit des Körpers Halt gibt. Denkübung | Warum Retsina nur in Griechenland schmeckt Fragen Sie Bekannte und Familienangehörige danach, ob ein Getränk oder eine Speise im Urlaub anders als zu Hause schmeckt. Sie werden viele Geschichten hören. Fragen Sie nach Erklärungen. 232 4 Tourismussoziologische Anwendungsfelder <?page no="233"?> Wie würden Sie den Unterschied zwischen dem Geschmack im Urlaub und Zuhause erklären? Wieso ist es wichtig, dass es diesen Unterschied gibt? Tourismus und touristische Erfahrungen sind in einem starken Maße durch die Verbindung mit dem Selbst und der Identitätsbildung verbunden. Ein wesentliches Element ist das Erzählen einer Geschichte, die heutzutage durch Soziale Medien inszeniert wird. Die Bedeutung des Körpers ist in vielen Fällen nicht bewusst, aber die Beispiele zeigen, dass körperliche Präsenz und komplexe Wahrnehmung wesentlich für touristische Erlebnisse sind. Soziologische Begriffe ● Liquid Modernity (→-Kapitel 2.2.12) ● Identität und Körper (→-Kapitel 3.13) ● Umfeld, Objekte und Technologien (→Kapitel 3.15) Literatur Zur Darstellung und Inszenierung: Döring, N. (2003). Sozialpsychologie des Internet. Die Bedeutung des Internet für Kommunikationsprozesse, Identitäten, soziale Beziehungen und Grup‐ pen. 2. Auflage. Göttingen: Hogrefe. Döring, N. (2013). Wie Medienpersonen Emotionen und Selbstkonzept der Me‐ diennutzer beeinflussen. Empathie, sozialer Vergleich, parasoziale Beziehung und Identifikation. In: Schweiger, W./ Fahr, A. (Hrsg.). Handbuch Medienwir‐ kungsforschung. Wiesbaden: Springer Fachmedien, 295-310. Kneidinger-Müller, B. (2023). Identitätsbildung in sozialen Medien. In Handbuch Soziale Medien (S. 191-212). Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden. Zu Sinnen und Körper: Kahneman, D. (2011). Thinking, Fast and Slow. London: Penguin. Palmer, C., & Andrews, H. (Hrsg). (2019). Tourism and embodiment. Routledge. 4.8 Inszenierung: Körper und Identität 233 <?page no="234"?> 4.9 Gesundheit und Medizintourismus Das vorherige Unterkapitel veranschaulichte den Zusammenhang von Rei‐ sen und Identität. Die Bedeutung der körperlichen Erfahrung zeigte sich deutlich. Auch in diesem Kapitel steht der Körper bzw. an den Körper gestellt gesellschaftliche Erwartungen im Vordergrund, wenn Gesundheit und Schönheit ein Zweck des Reisens sind. Reisen der Gesundheit zuliebe hat viele Formen. Diese reichen von plastischer und kosmetischer Chirurgie (Schönheitsoperationen) in Thailand über komplett organisierte Reisen in die Türkei für eine iLasik OP (Augenoperation) bis zu einer Ayurveda Kur in Kerala, Indien. Die genannten Beispiele können um viele weitere ergänzt werden. Sie zeigen die Vielfalt des Bereichs, der unter den Begriffen Gesundheitsresp. Medizintourismus diskutiert wird. Die Ansätze zur begrifflichen Differenzierung des Gesundheitstouris‐ mus sind vielfältig. Dabei werden nicht nur die Begriffe Gesundheit und Medizin sowie Tourismus als solche, sondern ebenfalls die Kriterien für die Klassifizierung und darauf aufbauende Typologien diskutiert. Es kann zunächst danach unterschieden werden, ob ein medizinischer Eingriff erfolgt oder nicht. Ist das der Fall, dann wird von Medizintourismus gesprochen. Der Begriff Medizintourismus stellt die medizinische Leistung und damit verbunden die medizinischen Dienstleister in den Mittelpunkt der Betrachtungen. Zu den Dienstleistern gehören Kliniken, Ärzt: innenhäuser, niedergelassene Ärzt: innen und Therapiezentren. Touristische Dienstleister ergänzen das Angebot, da sie für den Transport, die Beherbergung (wenn Patient: innen nicht in der Klinik untergebracht sind, sowie für mitreisende Angehörige) und unter Umständen Unterhaltung und Entspannung wäh‐ rend oder nach der Behandlung zuständig sind. 234 4 Tourismussoziologische Anwendungsfelder <?page no="235"?> 34 Stiftung Warentest hat 2013 insgesamt 53 Gütesiegel für Wellnessangebote untersucht und nur neun von diesen als hilfreich bewertet (Stiftung Warentest, 2013). Abb. 16 Gesundheitstourismus Personalaustausch Aus-, Weiter- und Fortbildung Technologietransfer Medizinische Reise »medical travel« Medizintourismus »medical tourism« Gesunder Urlaub »wellness tourism« Onkologie plastische Chirurgie Schwerwiegende und langdauernde Behandlungen Bypass, Herzklappen künstliche Befruchtung Rehabilitation, Kur Executive Check-up Augenoperation Orthopädie Zahnbehandlung Medical Wellness Wellness Prävention Spa Work-Life-/ Family-Balance BGM Abb. 16: Gesundheitstourismus Angebote, die das allgemeine Wohlergehen adressieren und bei denen das An‐ gebot stärker auf touristischen Leistungen basiert, zählen zum Wellness-Tou‐ rismus. Der inflationäre Gebrauch des nicht-geschützten Begriffs Wellness erschwert die Analyse des Angebots, da manche Anbieter bereits von Wellness sprechen, wenn sie eine kleine Sauna im Keller vorweisen. Gütesiegel 34 helfen nur wenig. Eine Abgrenzung soll über den Begriff Medical Wellness erreicht werden. Zitat »Gesundheitlich motivierte Reisen haben ein enormes Potenzial für die globale Tourismusindustrie. Laut einem aktuellen Report von VISA und Oxford Economics besitzt die Medical Tourism-Industrie derzeit welt‐ weit einen Wert von rund 50 Milliarden US-Dollar. Die prognostizierte Wachstumsrate liegt in den nächsten zehn Jahren bei bis zu 25 Prozent jährlich. Die steigende internationale Nachfrage im Segment Medical 4.9 Gesundheit und Medizintourismus 235 <?page no="236"?> Tourism auf der weltweit größten Reisemesse [ITB] unterstreicht diesen Trend.« (ITB Presseinformation, 2018) Neben begrifflichen Unklarheiten ergeben sich Unklarheiten aus den Moti‐ ven der Reisenden. Manche müssen ins Ausland reisen, da eine Behandlung im eigenen Land nicht angeboten wird. Deutliche Preisunterschiede sind ein weiteres Motiv. Hinzu kommen rechtliche Unterschiede. Verlässliche Daten sind nicht existent und so kommt es, dass der Bereich von einigen als Zukunftsmarkt und von anderen nur als Nische ohne Relevanz für die gesamte Branche gesehen wird. Immer wieder greifen Medien spezielle Formen des Gesundheitstourismus auf und berichten darüber. Ein Beispiel dafür ist der Geburtstourismus. Frauen reisen in die USA, häufig nach Miami, um dort die letzten Monate der Schwangerschaft zu verbringen und das Kind zur Welt zu bringen. Dieses erhält automatisch die US-amerikanische Staatsbürgerschaft. Damit hat das Kind das Recht, in den USA zu leben und zu arbeiten und mit Erreichen der Volljährigkeit (21 Jahre) für die Eltern eine Green Card zu beantragen. Weitere Gründe, die für eine Geburt in den USA sprechen, sind die Qualität der medizinischen Betreuung sowie das Wetter und das Ambiente. Hinzu kommt, dass ein solcher Aufenthalt als Statussymbol dient und einen gehobenen Lebensstil ausdrückt. Wie viele Frauen tatsächlich diese Möglichkeit nutzen, wie es ihnen dabei geht und wer mit diesem Geschäft Geld verdient, ist nicht bekannt. Eine grundlegende soziologische Fragestellung bezieht sich auf den Wert und die Wertschätzung von Gesundheit innerhalb einer Gesellschaft sowie Unterschiede zwischen Gesellschaften. Die steigende Wertschätzung von Gesundheit in westlichen Ländern und die Vorstellung, den Körper gesund und jung halten zu können, steigern die Nachfrage nach gesundheitsbezo‐ genen Dienstleistungen. Hinzu kommt, dass der Einzelne zunehmend für die Gesunderhaltung verantwortlich ist. Werte sind eng mit ethischen Fragestellungen verknüpft, beispielsweise bei der in einem Land verbotenen und im anderen Land gesetzlich erlaubten Leihmutterschaft oder hinsichtlich der Kontrolle von Organspenden. Wei‐ terhin ergeben sich Veränderungen in gesellschaftlichen Strukturen, wenn Menschen sich nicht mehr am Wohnort, sondern in einem anderen Land be‐ handeln lassen. Oft werden soziale Ungleichheiten ausgenutzt, etwa, wenn Menschen aus reicheren Ländern die günstigen Preise in ärmeren Ländern nutzen. Das Argument, dass die Anwesenheit internationaler Patient: innen 236 4 Tourismussoziologische Anwendungsfelder <?page no="237"?> zu einem generellen Aufbau medizinischer Infrastrukturen in dem Land führt, kann nicht eindeutig bestätigt werden. Aus soziologischer Sicht sind weiterhin veränderte Rollen und Rol‐ lenbeziehungen von Relevanz. Die typische Ärzt: innen-Patient: innen-In‐ teraktion wird durch die Beziehung Gastgeber: in/ Einheimische: r - Tourist: in/ Fremde: r ergänzt oder überlagert und die touristischen Hand‐ lungsfelder werden um medizinische erweitert. Ein Resultat sind standardi‐ sierte Produkte und Pakete bestehend aus medizinischer und touristischer Leistung. Abb. 17: Gesundheitstourismuspakete Neben gesundheitlich motivierten Reisen bilden Tourismus und Gesundheit eine zweite Schnittmenge im Bereich der medizinisch begleiteten Reisen. Das Interesse an solchen Angeboten steigt, da die Anzahl der Menschen, die sich besser fühlen, wenn sie medizinisches Fachpersonal und Infrastrukturen in der Nähe haben, steigt. Es handelt sich dabei nicht nur um ältere Menschen, sondern ebenfalls um Menschen mit chronischen Erkrankungen, z.B. Diabetes, Nierenerkrankungen. Die bisherigen Darstellungen zeigten einen Zusammen‐ hang zwischen gesellschaftlichen Erwartungen und zweckorientierten Reisen in Form des Gesundheits- und Medizintourismus. Auch wenn günstigere Preise 4.9 Gesundheit und Medizintourismus 237 <?page no="238"?> und besserer Service dazu motivieren können, sich im Ausland behandeln zu lassen, reichen diese als alleinige Gründe nicht aus. Die enge Verbindung von Reisen und Gesundheit sowie die Idee, dass in der Ferne mehr Freiheit und ein besseres Leben zu finden sind, müssen berücksichtigt werden. Soziologische Begriffe ● Werte (→-Kapitel 3.3) ● Rollen (→-Kapitel 3.5) ● Macht (→-Kapitel 3.9) Literatur Cassens, M. (2013). Gesundheitstourismus und touristische Destinationsent‐ wicklung. München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag. Connell, J. (2011). Medical tourism. Wallingford: Cabi. Groß, M. (2017). Gesundheitstourismus. München: UTB. Heuwinkel, K. (2011). Reisen der Gesundheit zuliebe - Das 1x1 des Medizintou‐ rismus. Saarbrücken: VDM-Verlag. Rulle , M. (2010): Gesundheitstourismus in Europa im Wandel. In: Becker, C., Hopfinger, H., Steinecke, A. (Hrsg.). Geographie der Freizeit und des Tourismus. Bilanz und Ausblick. München, Wien: Oldenbourg. S. 225-236. 4.10 Mediatisierung In den vorherigen Unterkapiteln zeigte sich die Bedeutung des Tourismus für Individuen und Identität sowie die Wichtigkeit der körperlichen Erfah‐ rung (embodiment). Es wurde vermutet, dass die Solidität und Präsenz des Körpers sowie das intensive Erleben im Nicht-Alltäglichen eine Gegenwelt zum fluiden Alltag kreieren. In den letzten Jahren und beschleunigt durch die Pandemie, beeinflussen digitale Technologien sowohl Arbeitsprozesse als auch Freizeit, Sport und Tourismus. Scheuch beschrieb die »vorüberge‐ hende Herauslösung aus normalen sozialen Bezügen« (Scheuch, 1972, S. 304) in Kombination mit der zeitlichen Befreiung als das zentrale Merkmal von Tourismus. Normal war das, was den Menschen direkt umgab. Die menschliche Umgebung hat sich jedoch durch digitale Informations- und Kommunikationstechnologien verändert und erweitert. Die zuvor noch nicht besuchte Destination, Hotels und Campingplätze können vorab bereits 238 4 Tourismussoziologische Anwendungsfelder <?page no="239"?> aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden (Heuwinkel, 2019b). Somit verschwimmen die Grenzen zwischen nah und fern. Ein weiterer Schritt ist die Erweiterung hin zur Virtual Reality. Was geschieht, wenn das Reisen demnächst ohne eine Ortsveränderung möglich ist? Mediatisierung und Digitalisierung beeinflussen schon immer die touris‐ tische Erfahrung und damit den Tourismus. Mediatisierung beschreibt die Durchdringung eines Bereichs durch Medien. Im Vordergrund stehen dabei Informations- und Kommunikationsprozesse. Digitalisierung fokussiert auf digitale Medien, hier vor allem das Zusammenspiel von Computern, mobilen Endgeräten und drahtlosen Netzwerken. Der Begriff Digitaler Wandel schließlich beschreibt das Zusammenspiel von technologischen und gesellschaftlichen Veränderungen. Dabei werden manche Beziehungen ersetzt, mache ergänzt und einige entstehen neu. Vorstellungen vom Urlaub, die Liste der Sehenswürdigkeiten und Ideen über das echte Leben in einer Region wurden schon immer durch Medien vermittelt. In früheren Jahren waren es Poster, Postkarten, Reiseliteratur sowie Reportagen in Zeitschriften und im Fernsehen. Inzwischen sind es vor allem digitale Medien und Inhalte auf Onlineplattformen wie Websites, Blogs, YouTube und Instagram, die die Erwartungen von Reisenden durch Bilder und Filme prägen. Digitale Medien ermöglichen folgende Ergänzungen der klassischen Medien: ● Zu jeder Zeit und an jedem Ort: Informationen sind in einem sehr hohen Maß zu jeder Zeit und an jedem Ort erhältlich, wenn eine Person über die technologische Ausstattung und die erforderlichen Kenntnisse verfügt und die infrastrukturellen Gegebenheiten dieses ermöglichen. Die Tourismuswirtschaft kann somit Tourist: innen an‐ ders ansprechen als sie es bislang getan hat. Theoretisch können neue Anbieter die veränderten Strukturen nutzen, um sich am Markt zu etablieren, wenn sie eine kritische Masse erreichen. ● Veränderung des Raums: Ebenfalls verliert die räumliche Distanz an Bedeutung. Nachdem zunächst Transportmittel dafür sorgten, dass Entfernungen an Bedeutung verlieren, sorgt die digitale Erreichbarkeit dazu, dass das Empfinden von Entfernung anders wahrgenommen wird. ● Transparenz und Interaktivität: Konsumierende haben die Möglich‐ keit, auf die angebotenen Informationen zu reagieren. Sie können Angebote vergleichen, bewerten, mitgestalten und die Informationen an andere weiterleiten. Voraussetzung dafür sind jedoch besondere Kenntnisse. 4.10 Mediatisierung 239 <?page no="240"?> 35 Sämtliche Zahlen über Blogs und Zugriffe auf Blogs beruhen auf Schätzungen und Hochrechnungen bzw. beinhalten Fehler, die sich aus Mehrfachzählungen ergeben. ● Produktion von Inhalten: Es existieren Technologien, die es ermög‐ lichen, dass alle Inhalte produzieren und publizieren können. Allerdings müssen diese Inhalte ein Publikum finden. Von rund 1.500 deutschspra‐ chigen Reiseblogs erreichen nur die Top Five täglich im Durchschnitt 1.500 Menschen. 35 Eine Besonderheit ist dabei, dass die angebotenen In‐ halte sehr speziell auf Interessen ausgerichtet sind, z.B. Kreuzfahrt-Blog, Kuba-Blog. ● Ergänzung und Simulation von Wirklichkeit: Augmented Reality und Virtual Reality ermöglichen die Ergänzung der direkten Erfahrung, indem zusätzliche Elemente dargestellt werden. ● Mensch und Maschine 1: Für viele Menschen ist das Smartphone ein Teil des Ichs, da es die Kommunikation mit anderen ermöglicht, Erinnerungen speichert und die Identität widerspiegelt. ● Mensch und Maschine 2: Die Netzwerke schließen zunehmend Da‐ tenbanken, Software-Programme und Hardware ein. Die Auswirkungen dieser nichtmenschlichen Akteure müssen analysiert werden. Ein An‐ satz kann die Akteur-Netzwerk-Theorie (→Kapitel 3.15) sein. Da Tourismus eine informationsintensive Branche ist, wird angenommen, dass Digitalisierung sie in einem besonders hohen Maß beeinflussen wird und es bereits getan hat. Dieses gilt sowohl für die Tourismuswirtschaft als solche als auch für die Beziehung zwischen Anbietenden touristischer Leistungen und den diese nutzenden Personen. Entsprechende zahlenmäßige Nachweise sind jedoch nicht immer ein‐ deutig. Grundsätzlich sollte nicht vergessen werden, dass offline- und on‐ linebasiertes Handeln sehr viel enger als häufig angenommen miteinander verbunden sind und dass nicht nur, weil neue Technologien verfügbar sind, tradierte Machtstrukturen und typisches Konsumierendenverhalten plötzlich obsolet sind. So ist die Empfehlung von Freunden und Bekannten weiterhin ein zentrales Entscheidungskriterium hinsichtlich einer Desti‐ nation, allerdings wird diese Empfehlung häufig nicht mehr in einem persönlichen Gespräch ausgesprochen, sondern per WhatsApp gesendet oder auf Instagram gepostet. Die Möglichkeit der direkten Inszenierung und damit die Erzählung des Selbst hat Konsequenzen auf die Herausbildung der Identität (→-Kapitel 4.8). 240 4 Tourismussoziologische Anwendungsfelder <?page no="241"?> Zitat »[…] in periods of transition such as the one we have been going through, it often appears as if there are new rules of competition. But as market forces play out, as they are now, the old rules regain their currency. The creation of true economic value once again becomes the final arbiter of business success.« (Porter, 2001, S. 65) Eine maßgebliche Veränderung ergibt sich daraus, dass über das Internet touristische Leistungserbringende ihre Dienstleistungen auch direkt und nicht nur via Reiserveranstalter und/ oder Reisebüro vertreiben können. Flug- und Hotelbuchungen, die Reservierung von Mietwagen sowie der Kauf von Fahrkarten für Bahn und Bus oder Eintrittskarten für Veranstaltungen können direkt gebucht werden, häufig sogar weltweit. Allerdings existieren weiterhin Reiseveranstalter und Reisebüros. Ein wesentliches Element bei informationsintensiven Leistungen ist Vertrauen. Dieses basiert auf stabilen Erwartungen, die durch gemeinsam geteilte Normen und Werte geschaffen wird. Weiterhin finden sich einige Beispiele für neue, rein onlinebasierte Ge‐ schäftsmodelle wie Airbnb und Booking.com. Das eigentliche Produkt ist jedoch auch dort eine traditionelle touristische Leistung, z.B. die Übernach‐ tung in einem Hotel. Es bleibt abzuwarten, ob und wann ein rein virtuelles touristisches Produkt auf den Markt kommt. Entscheidend sind dabei die Bedeutung der touristischen Erfahrung und (noch) die Anwesenheit des Körpers (→ Kapi‐ tel 4.8). Tipp-│-Test ChatGPT Testen Sie einmal ChatGPT zu einem Thema, in dem Sie sich gut auskennen. Wie gut und detailliert ist die Antwort. Vergleichen Sie die Antwort mit einem wissenschaftlichen Paper. Wozu ist die Antwort gut geeignet? Was fehlt bei der Antwort von ChatGPT? Auszug aus der Antwort auf die Anfrage: Wie beeinflusst TikTok Reise‐ entscheidungen? »TikTok hat sich zu einer beliebten Plattform entwickelt, auf der Be‐ nutzer ihre Reiseerlebnisse teilen und Tipps und Empfehlungen für Reiseziele und Aktivitäten geben. TikTok kann eine wichtige Rolle bei 4.10 Mediatisierung 241 <?page no="242"?> der Beeinflussung von Reiseentscheidungen spielen, da es eine Möglich‐ keit bietet, authentische Einblicke in Reiseziele und -erfahrungen zu erhalten. Durch kurze Videos können TikTok-Benutzer Reiseerlebnisse in Echtzeit teilen, einschließlich Sehenswürdigkeiten, Aktivitäten, Re‐ staurants und Unterkünften. Diese Videos können potenzielle Reisende inspirieren und beeinflussen, indem sie ihnen einen Vorgeschmack auf die Erfahrung geben, die sie an einem bestimmten Reiseziel erwarten können.« (ChatGPT, 2.4.2023) Stellen Sie dann eine Anfrage, die mit Werten und Wertungen verbunden ist. Wie geht die KI damit um? Ist die Antwort so, wie Sie es von Technik erwartet hätten? Erwarten Sie von Technik Neutralität? Auszug aus der Antwort auf die Anfrage: Planen Sie mir eine Rundreise durch Nordkorea »Ich bitte um Verständnis, aber als KI-Modell ist es nicht angebracht, eine Reise durch Nordkorea zu empfehlen, da es ein totalitäres Regime ist, das für seine Einschränkungen der Grundfreiheiten und für Men‐ schenrechtsverletzungen bekannt ist. Es gibt auch zahlreiche Berichte von Touristen, die von der nordkoreanischen Regierung überwacht und kontrolliert wurden.« (ChatGPT, 2.4.2023) Abb. 18: Digitalisiert Euch Digitalisierung erhöht die Mobilität von Menschen, da sie auch ohne die kör‐ perliche Präsenz vermittelt durch Medien präsent sein können. Bei jüngeren 242 4 Tourismussoziologische Anwendungsfelder <?page no="243"?> Menschen lässt sich beobachten, dass die Anwesenheit des Gegenübers nicht unbedingt gegeben sein muss. Die Aufforderung »Digitalisiert Euch! « wird Konsequenzen haben - für die Gesellschaft und damit verbunden den Tourismus. Zentrale Fragestellungen bewegen sich im Spannungsfeld von Freiheiten und Kontrolle (Castell, 2011). Digitale Technologien bringen sowohl für einzelne Personen als auch für Gruppen und Gesellschaften Risiken mit sich, die diskutiert und bei Bedarf durch entsprechende Maßnah‐ men kontrolliert werden müssen. Die Debatte um ChatGPT (→ Box Test ChatGPT) und ähnliche Systeme ist ein sehr gutes Beispiel für die Chancen (schnelle Produktion von Texten, Inspiration) und die Risiken (Täuschungen und Lügen). Technologien verändern ebenso wie menschliche Akteure gesellschaftliche Strukturen und Machtverhältnisse. Soziologische Begriffe ● Macht (→ Kapitel 3.9) ● Identität (→-Kapitel 3.13) ● Umfeld, Objekte und Technologien (→-Kapitel 3.15) Literatur Castells, M. (2011). The rise of the network society. Hoboken: John Wiley & Sons. Egger, R. (2010). Web 2.0 im Tourismus - eine Auswahl theoretischer Erklä‐ rungsansätze. In: D. Amersdorffer et al. (Hrsg.). Social Web im Tourismus: Strategien-Konzepte-Einsatzfelder, 17-30. Heuwinkel, K. (2017). Vertrauensmanagement im M-Tourismus: Möglichkeiten und Grenzen. In: Landvogt/ Brysch/ Gardini (Hrsg.). Tourismus - E-Touris‐ mus - M-Tourismus. Schriften zu Tourismus und Freizeit Band. 20. Berlin. ESV-Verlag. Lupton, D. (2014). Digital sociology. London: Routledge. Porter, M. E. (2001). Strategy and the Internet. Harvard Business Review. Ausgabe März. Zwischenfazit Die dargestellten Anwendungsfelder zeigen einen Ausschnitt der aktu‐ ell im Tourismus diskutierten Themen, die einen deutlichen Bezug zur Tourismussoziologie haben. Sowohl klassische soziologische Ansätze 4.10 Mediatisierung 243 <?page no="244"?> und Konzepte - wie Normen, Rollen und Lebensstil - als auch moderne Ansätze - wie Akteur-Netzwerk-Theorie und Mobilitäten - sind rele‐ vant und helfen bei der Analyse der Phänomene. 244 4 Tourismussoziologische Anwendungsfelder <?page no="245"?> 36 Der Mixed-Methods-Ansatz (mixed methods approach) verzahnt bewusst qualitative und quantitative Methoden (→ Kapitel 2.3) und versucht dadurch, die Stärken dieser Ansätze zu kombinieren. 37 Diese Formulierungen stellen Tourist: innen und Quellregionen in den Vordergrund. Hinzu kommen solche, die die Zielregionen oder die Interaktion als zentrales Element sehen. 5 Reisen ist soziales Handeln Cohen stellte 1979 fest, dass die Tourismussoziologie (sociology of tourism) nicht existiert. Vielmehr handelt es sich um die Anwendung unterschied‐ licher soziologischer Ansätze auf das Phänomen Tourismus. An dieser Aussage hat sich nicht viel geändert. Tourismus ist fast so vielfältig wie die Gesellschaft an sich und erfordert deswegen nicht nur einen Mixed-Me‐ thods-Ansatz 36 , sondern auch einen Mixed-Theory-Ansatz. Diese pluralistische Herangehensweise ist anspruchsvoll, da sie Kennt‐ nisse in vielen Bereichen sowie die Offenheit gegenüber unterschiedlichen, teilweise widersprüchlichen Ansätzen betont. Die Erklärung des Besonderen am Tourismus kann aus verschiedenen Perspektiven erfolgen. Die Soziologie bietet u.a. die folgenden Deutungen an: ● Tourismus ist ein Massenprodukt, das auf Fernweh basierende Träume standardisiert und kommerzialisiert. ● Tourismus ist nur eine von zahlreichen habitualisierten und mit sozia‐ lem Status verbundenen Verhaltensweisen moderner Gesellschaften, die von der Kindheit an gelebt werden. ● Tourismus ist Teil der Geschichte, die Menschen über sich selbst erzäh‐ len, und Gesprächsstoff für die Gesellschaft. ● Tourismus ist ein Resultat fluider Gesellschaften und eine Mobilität unter vielen. 37 ● Tourismus ist Entspannung, Spiel, Freiheit und Abenteuer. Die Analyse der existierenden tourismussoziologischen Arbeiten, die Be‐ schreibung soziologischer Konzepte und die Zusammenführung derselben <?page no="246"?> mit aktuellen Themen des Tourismus zeigt, dass Tourismussoziologie sich häufig um die folgenden Aspekte dreht: ● Bruch mit dem Alltag/ Gegenwelt/ Scheinwelt, ● Identitätsprojekt/ Inszenierung/ Körper, ● Ritual/ Spiel, ● Soziale Praktiken/ Habitualisierung/ Tradition, ● Macht/ Interessen/ Deutungen, ● Konsum/ Standardisierung/ System. Während die ersten zwei Punkte auf Tourist: innen bezogen sind, fokussieren die drei folgenden Punkte auf gesellschaftliche Vorgänge. Zum einen handelt es sich um nicht intendierte Entwicklungen, die sich im Laufe der Zeit ausbilden (vgl. die fremde Macht → Kapitel 2.1.2 Marx). Hinzu kommen intendierte Vorgänge, bei denen es um die Durchsetzung von Interessen geht (→ Kapitel 2.2.11 Enloe). Der letzte Punkt führt Aspekte auf, die sich auf das System touristischer Dienstleistender beziehen. Der Vergleich mit anderen Wirtschaftszweigen wie die Unterhaltungs- und Sportindustrie, die ebenfalls Ablenkungen und Scheinwelten anbieten, liegt nahe. Die Besonderheit des Tourismus ist jedoch, dass das touristische Erlebnis (experience) wie kein anderes sowohl die Anbietenden von Dienstleistungen und Produkten als auch die Nutzer: innen als soziale Wesen einbindet und auf der Interaktion zwischen Menschen - zunehmend ergänzt um Objekte und digitale Technologien als Aktanten (→ Kapitel 3.15) - beruht. Besondere Vorsicht ist deswegen geboten, weil die Leistungserbringenden zum Bestandteil der Dienstleistung oder des Produktes und somit zum Konsumgut werden. Tourismus ist soziales Handeln, dessen subjektiver Sinn die Erfahrung von Differenz einschließt. Tourismus ist eine Welt neben der Alltags‐ welt. Beide Welten sind auf vielfältige Weise miteinander verflochten. Egal, ob touristisches Verhalten sich bewusst vom Alltag distanziert, den Alltag weiterführt oder diesen im Spiel variiert - die Ausgangslage ist der Alltag. Mit der Zeit jedoch haben sich im Tourismus ähnlich wie in Kultur und Digitalisierung eigene Praktiken und Logiken entwickelt, die nicht mehr nur als Gegenwelt beschrieben werden können. Wie der Sport beinhaltet der Tourismus als zentrales Element die Vergänglich‐ keit, das körperliche Erleben und die Kontrolle über den Augenblick. 246 5 Reisen ist soziales Handeln <?page no="247"?> Der sportliche Erfolg verweist auf zukünftige Niederlagen, der Schatten der Abreise liegt über der touristischen Erfahrung. Tourismussoziologie kann die gesellschaftlichen Bedingungen des Touris‐ mus sowie Gründe für bestimmte Formen des Tourismus und touristisches Handeln untersuchen. Berufsgruppen im Tourismus sowie Beziehungen zwischen Tourist: innen und touristischen Dienstleistenden und Einheimi‐ schen stellen weitere Forschungsfelder dar. Tourismussoziologie kann ebenfalls Basis für eine Tourismuskritik - nicht zu verwechseln mit Tourist: innenkritik - sein. Klassische soziologische Konzepte, wie Rollen, Rituale, Devianz und Macht, erleichtern den Blick auf verborgene Mechanismen innerhalb von Gesellschaften. Abb. 19: Warnung 5 Reisen ist soziales Handeln 247 <?page no="248"?> Beim Lesen jüngerer soziologischer Arbeiten entsteht bisweilen der Ein‐ druck, dass weder traditionelle noch moderne oder postmoderne Gesell‐ schaften existieren. Vielmehr handele es sich um eine Ansammlung von Elementen, die für eine begrenzte Zeit flüchtige Beziehungen eingehen, und die Trennung von Beginn an mit vorgesehen ist. Insofern wäre die Analogie zum Tourismus angemessen. Tourismus als Mobilität ist eingebunden in zahlreiche andere Mobilitäten. Ein anderer Ansatz geht von einer Konsumgesellschaft aus. Alles mensch‐ liche Handeln ist nur noch Konsum und das touristische Produkt ist eines von vielen. Daraus erklärt sich der zunehmende Einfluss der Konsumie‐ rendenforschung auf die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Tourismus. Um diese und andere Annahmen zu diskutieren und systematisch zu untersuchen, braucht es Menschen, die Tourismus in einen größeren gesell‐ schaftlichen Zusammenhang stellen und touristisches Verhalten sowohl distanziert als auch emphatisch betrachten können. Die Soziologie kann einerseits Theorien und Methoden bereitstellen. Die Erkenntnisse, die sich aus der soziologischen Betrachtung des Tourismus ergeben, können andererseits genutzt werden, um die soziologische Theoriediskussion zu überprüfen und zu ergänzen. Abb. 18 Abb. 20: Blick von oben 248 5 Reisen ist soziales Handeln <?page no="249"?> Literaturverzeichnis Tipp Wenn dieses Buch Ihr Interesse an der Soziologie geweckt hat, dann empfehle ich das Lehrbuch von Joas und Mau (2020). Es umfasst fast tausend Seiten Text, umfangreiche Literaturhinweise sowie Übungen und Tipps zum Weiterlesen. Deutlich kürzer sind die Sternstunden der Soziologie (2010) von Neckel et al. oder noch knapper Soziologie - Ein Sachcomic (2019) von Nagle und Piero. Wenn Sie ein klassisches soziologisches Werk lesen möchten, empfehle ich Elias (1993) und Goffman (2003) zum Einstieg. Apostolopoulos, Y., Leivadi, S., Yiannakis, A. (Hrsg.) (2002). The Sociology of Tourism. London: Routledge Austin, J. L. (1986). Zur Theorie der Sprechakte. How to do things with Words. Stuttgart: Reclam Baecker, D. (2007). Operieren im Dunkeln. Interview mit Dirk Baecker. Spiegel 35/ 2007. 140-141 Baetzgen, A., Leute, H. (2017). Die Darstellung der Frau in der Werbung - Auszug. Hochschule der Medien Stuttgart. Abgerufen von: 🔗 https: / / www.hdm-stuttgart .de/ news/ news20171121112005/ Darstellung%20der%20Frau%20in%20der%20Wer bung_Auszug.pdf. 7.4.2018 Barthes, R. (1996). Mythen des Alltags. Frankfurt a.M.: Suhrkamp BAT-Stiftung für Zukunftsfragen (2018). Tourismusanalyse 2018. Hamburg. Abge‐ rufen von: 🔗 http: / / www.tourismusanalyse.de/ 17.4.2018 Bauman, Z. (1996). Tourists and vagabonds: heroes and victims of postmodernity. (Reihe Politikwissenschaft / Institut für Höhere Studien, Abt. Politikwissenschaft, 30). Wien: Institut für Höhere Studien (IHS), Wien. 🔗 https: / / nbnresolving.org / urn: nbn: de: 0168-ssoar-266870 Bauman, Z. (1998). Globalisation: The Human Consequences. Cambridge: Polity Bauman, Z. (2000). Liquid Modernity. Cambridge: Polity Bauman, Z. (2001). Community - Seeking Safety in an Insecure World. Cambridge: Polity <?page no="250"?> Bauman, Z. (2002). Society Under Siege. Cambridge: Polity Bauman, Z. (2003). The tourist syndrom. An interview with Zygmund Bauman. Interviewed by Franklin, A. Tourist Studies, vol 3(2). London: Sage. 205-217 Beck, U. (2016). Risikogesellschaft: Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag Becker, C. (1992). Erhebungsmethoden und ihre Umsetzung in Tourismus und Freizeit. Trier: Geographische Gesellschaft Trier Becker, H. S. (2014). Außenseiter. 2. A.. Wiesbaden: Springer Becker-Schmidt, R. (2003). Zur doppelten Vergesellschaftung von Frauen. Soziolo‐ gische Grundlegung, empirische Rekonstruktion. http: / / web. fuberlin. de/ gpo/ pd f/ becker_schmidt/ becker_schmidt_ohne.pdf. Bellinger, A., Krieger, D. J. (1998). Ritualtheorien: Ein einführendes Handbuch. Opladen: Westdeutscher Verlag Berg, R. C., Molin, S. B., & Nanavati, J. (2019). Women who trade sexual services from men: A systematic mapping review. The Journal of Sex Research. 104-118 Berger, P., Luckmann, T. (1996). Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Berry, J.W. (2019). Acculturation: A Personal Journey across Cultures. Cambridge: Cambridge University Press Bertram, J. (1995). »Arm, aber glücklich...« Wahrnehmungsmuster im Ferntourismus und ihr Beitrag zum (Miß-)Verstehen der Fremde(n). Fremde Nähe, Beiträge zur interkulturellen Diskussion. 6. LIT-Verlag Bette, K.-H. (2005). Körperspuren. Bielefeld: Transcript Bette. K.-H. (2010). Sportsoziologie. Bielefeld: transcript Bieger, T. & Beritelli, P. (2013). Management von Destinationen. 8. Auflage. Mün‐ chen: Oldenbourg Verlag Bonacker, T. (2005). Sozialwissenschaftliche Konflikttheorien (Vol. 32005). Wiesba‐ den: VS Verlag für Sozialwissenschften Boorstin, D. (1964). The Image: A Guide to Pseudo-Events in America. New York: Harper Bourdieu, P. (1983). Interview. Dokumentation des Hessischen Rundfunks vom 3.11.1983 über den französischen Sozialphilosophen Pierre Bourdieu. YouTube: 🔗 https: / / www.youtube.com/ watch? v=gQSYewA03BU 4.8.2017 Bourdieu, P. (1987). Die feinen Unterschiede. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Brot für die Welt (Hrsg.) (2015). Vom Freiwilligendienst zum Voluntourismus. Berlin: Profil Buda, D., d’Hauteserre, A.-M., Johnston, L. (2014). Feeling and tourism studies. Annals of Tourism Research. 46. 102-114 250 Literaturverzeichnis <?page no="251"?> Butler, J. (1991). Das Unbehagen der Geschlechter (Gender studies, Bd. 722). Frank‐ furt a.M.: Suhrkamp Butler, R. (1980). The concept of a tourist area cycle of evolution: implications for management of resources. Canadian Geographer. 24. 5-12 Butler, R. (2006a). The TALC volume I: Applications and limitations. Clevedon: Channel View Publications Butler, R. (2006b). The TALC volume II: Applications and limitations. Clevedon: Channel View Publications Butler, R. (2011). Tourism Area life Cycle. Oxford: Goodfellow Publishers Limited Callon, M. (1986). Some Elements for a Sociology of Translation: Domestication of the Scallops and the Fishermen of St-Brieuc Bay. In LAW J., (ed.), Power, Action and Belief: a New Sociology of Knowledge? London: Sociological Review Monograph: Routledge and Kegan Paul Callon, M., Law, J. (1988). Engineering and Sociology in a Military Aircraft Project: a Network Analysis of Technological Change. Social Problems. 35. 284-297 Carr, N. (Hrsg.) (2009). Special Issue. Animals in the tourism and leisure experience. Current Issues in Tourism 12 (5-6). 409-587 Cassens, M. (2013). Gesundheitstourismus und touristische Destinationsentwick‐ lung. München: Oldenbourg Verlag Castells, M. (2009). Communication Power. Oxford: Oxford University Press Castells, M. (2011). The rise of the network society. Hoboken: John Wiley & Sons Christaller, W. (1963). Some considerations of tourism location in Europe: the peripheral regions - underdeveloped countries - recreation areas’. Regional Science Association Papers. 12. 95-105 Clemmons, D. (2012). »Voluntourism«: Entwicklungshilfe im Urlaub. Abgerufen von: 🔗 http: / / cms.ifa.de/ index.php? id=9127&L=0. 17.4.2018 Hinweis: Cohen hat mehr als 200 Artikel verfasst. Eine Liste findet sich unter: 🔗 https: / / sociology.huji.ac.il/ sites/ default/ files/ sociology/ files/ cohen_cv.pdf Cohen, E. (1971). Arab Boys and Tourist Girls in a Mixed Jewish-Arab Community. International Journal of Comparative Sociology, 12(4), 217-233 Cohen, E. (1972). Towards a Sociology of International Tourism. Social Research 39 (1), 164-182 Cohen, E. (1979a). A Phenomenology of Tourism Experiences. Sociology, 13(2), 179-201 Cohen, E. (1979b). Rethinking the Sociology of Tourism. Annals of Tourism Research, 6(1), 18-35 Cohen, E. (1984). The Dropout Expatriates. A Study of Marginal Farangs in Bangkok. Urban Anthropology, 13(1), 91-114 Literaturverzeichnis 251 <?page no="252"?> Cohen, E. (1985). The tourist guide. The Origins, Structure and Dynamics of a Role. Annals of Tourism Research, Vol. 12, 5-29 Cohen, E. (1988). Authenticity and commoditization in tourism. Annals of Tourism Research, 15(3), 371-386 Cohen, E. (Hrsg.) (2004). Contemporary Tourism: Diversity and Change. Amster‐ dam: Elsevier. Cohen, E. (2006). Pai—A backpacker enclave in transition. Tourism Recreation Research, 31(3), 11-27 Cohen, E. (2007). »Authenticity« in tourism studies: Apre´s la lutte. Tourism Recreation Research, 32(2), 75-82 Cohen, E. (2008a). Explorations in Thai tourism. Bingley: Emerald. Cohen, E. (2008b). The tsunami waves and the paradisiac cycle: The changing image of the Andaman coastal region of Thailand. Tourism Analysis, 14(3), 221-232 Cohen, E. (2009). Death in paradise: Tourist fatalities in the tsunami disaster in Thailand. Current Issues in Tourism, 12(2), 183-199 Cohen, E. (2010a). Tourism, Leisure and Authenticity. Tourism Recreation Research. Vol. 35(19): 67-73 Cohen, E. (2010b). Medical Travel - A Critical Assessment. Tourism Recreation Research. 35(3), 225-237 Cohen, E. (2011). The people of tourism cartoons. Anatolia, 22(3), 323-349 Cohen, E. (2012). Globalization, global crises and tourism. Tourism Recreation Research, 37(2), 1-9 Cohen, E. (2013). Tattoo Tourism in the West and in Thailand. In M. Smith & G. Richards (Eds.) The Routledge Handbook of Cultural Tourism. Oxon: Routledge. 183-189 Cohen, E. (2014). Bullfighting and tourism. Tourism Analysis 19(5). 545-556 Cohen, E. (2017). The paradoxes of space tourism. Tourism Recreation Research 42(1). 22-31 Cohen, E. (2017). Mass Tourism in Thailand: The Chinese and Russians. In D. Harrison and R. Sharpley (eds.) Mass Tourism in a Small World. Wallingford Oxon: CABI. 159-167 Cohen, E. (2017). Towards a Convergence of Tourism Studies and Island Studies. Acta Turistica 28(1). 7-31 Cohen, E., & Cohen, S.A. (2012). Authentication: Hot and cool. Annals of Tourism Research, 39(3). 1295-1314 Cohen, E., Cohen, S.A., Li, X. (R.) 2017. Subversive Mobilities. Applied Mobilities 2(2). 115-133 Cohen, S.A. (2011). Lifestyle travellers: Backpacking as a way of life. Annals of Tourism Research, 38(4), 1535-1555 252 Literaturverzeichnis <?page no="253"?> Cohen, S.A. (2013). A portrait of Erik Cohen. Anatolia: An International Journal of Tourism and Hospitality Research, 24(1), 104-111. DOI: 10.1080/ 13032917.2013.785694 Cohen, S.A. & Cohen, E. (2012). Current sociological theories and issues in tourism. Annals of Tourism Research. Vol. 39. No. 4. 2177-2202 Cohen, S.A. & Cohen, E. (2017). New directions in the sociology of tourism. Current Issues in Tourism, DOI: 10.1080/ 13683500.2017.1347151 Connell, R. (1999). Der gemachte Mann. Konstruktionen und Krisen von Männlich‐ keit. Opladen: VS Verlag für Sozialwissenschaften Corbin, A. (1994). Meereslust Frankfurt a.M.: Fischer Coser, L. (1965). Theorie sozialer Konflikte. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissen‐ schaften Csikszentmihalyi, M. (1990). Flow: The Psychology of Optimal Experience. New York: Harper & Row Dahrendorf, R. (1992). Der moderne soziale Konflikt. Essay zur Politik der Freiheit. Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt Dahrendorf, R. (2006). Homo Sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle. 16. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Dann, G. (1977). Anomie, ego enhancement and tourism. Annals of Tourism Re‐ search. 4(2). 184-194 Dann, G. (1981). Tourism Motivation: An Appraisal. Annals of Tourism Research. 8(2). 187-219 Dann, G., Cohen, E. (1991). Sociology and tourism. Annals of Tourism Research. 18. 155-169 Dann, G., Liebman-Parrinello, G. (Hrsg.) (2009). The Sociology of Tourism: European Origins and Developments. Bingley: Emerald Degele, N. (2008). Gender/ Queer Studies. München: UTB Dolnicar S (2005) Understanding barriers to leisure travel: tourist fears as a marke‐ ting basis. Journal of Vacation Marketing. 11(3): 197-208 Döring, N. (2003). Sozialpsychologie des Internet. Die Bedeutung des Internet für Kommunikationsprozesse, Identitäten, soziale Beziehungen und Gruppen. 2. Auflage. Göttingen: Hogrefe Döring, N. (2013). Wie Medienpersonen Emotionen und Selbstkonzept der Medien‐ nutzer beeinflussen. Empathie, sozialer Vergleich, parasoziale Beziehung und Identifikation. In: Schweiger, W./ Fahr, A. (Hrsg.). Handbuch Medienwirkungs‐ forschung. Wiesbaden: Springer Fachmedien. 295 -310 Dörner, D. (2001). Bauplan für eine Seele. Reinbek: Rowohlt Literaturverzeichnis 253 <?page no="254"?> Doxey, G. (1976). A causation theory of visitor-resident irritants: Methodology and research inferences. In: The Impact of Tourism Proceedings. 6 th Annual Conference Travel Research Association, San Diego, California, 195-198 Dumazedier, J. (1967). Toward a Sociology of Leisure. New York: Free Press Dumazedier, J. (1974). Sociology of Leisure. Amsterdam: Elsevier Durbarry, R. (Hrsg.) (2018). Research Methods for Tourism Students. London: Routledge Durkheim, É. (1981). Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Durkheim, É. (1983). Der Selbstmord. Frankfurt a.M.: Suhrkamp ECPAT (2018). Kinderrechte und Kinderschutz - Trainingsmaterialien für die Vor‐ bereitung auf internationale Freiwilligeneinsätze. Abgerufen von: 🔗 www.ecp at.at/ materialien-und-publikationen/ trainingshandbuecher/ 17.4.2018 Egger, R. (2010). Web 2.0 im Tourismus-eine Auswahl theoretischer Erklärungsan‐ sätze. In: D. Amersdorffer et al. (Hrsg.). Social Web im Tourismus: Strategien-Kon‐ zepte-Einsatzfelder. Springer. 17-30 Eisenstein, B. (2018). Markenführung von Destinationen-Zwischen ökonomischem Nutzen, sozialer Konstruktion und Machbarkeit. Zeitschrift für Tourismuswis‐ senschaft, 10(1), 67-95 Elias, N. (1993). Was ist Soziologie? Weinheim/ München: Juventa Elias, N. (1997). Über den Prozess der Zivilisation: soziogenetische und psychoge‐ netische Untersuchungen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Enloe, C. (2014). Bananas, Beaches and Bases: Making Feminist Sense of Internatio‐ nal Politics. 2. Aufl. Berkeley: University of California Press Enzensberger, H. M. (1958). Eine Theorie des Tourismus. In: Einzelheiten, hrsg. v. Enzensberger, H. M. Vergebliche Brandung der Ferne. Eine Theorie des Touris‐ mus. In: Merkur. 12. Jg. 701-720 Fennell, D. A. (2012). Tourism and Animal Ethics. London und New York: Routledge Figueroa-Domecq, C., Pritchard, A., Segova-Pérez, M., Morgan, N. & Villacé-Moli‐ nero, T. (2015). Tourism gender research: A critical accounting. Annals of Tourism Research. 52. 87-103 Forster, J. (1964). The sociological consequences of tourism. International Journal Comparative Sociology. 5(2). 217-227 Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen e.V (2018). ReiseAnalyse 2018. Foucault, M. (1996). Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt am Main: Fischer. Foucault, M. (1988). Die Geburt der Klinik. Frankfurt a. M.: Fischer French, J. & Raven, B. (1959). The bases of social power. University of Michigan Frenzel, F., Koens, K., Steinbrink, M. (Hrsg.) (2012). Slum tourism: poverty, power and ethics. London: Routledge 254 Literaturverzeichnis <?page no="255"?> Freyer, W. (2011). Tourismus: Einführung in die Fremdenverkehrsökonomie. Mün‐ chen: Oldenbourg Verlag Friedrichs, J. (1990). Methoden empirische Sozialforschung. Opladen: Westdeutscher Verlag Fuchs, G., Reichel, A. (2011). An exploratory inquiry into destination risk perceptions and risk reduction strategies of first time vs. repeat visitors to a highly volatile destination. Tourism Managagement 32(2): 266-276 Fuchs, W. (Ed.). (2021). Tourismus, Hotellerie und Gastronomie von A bis Z. Berlin: Walter de Gruyter Funk, W. (2018). Gender Studies. München: UTB Garfinkel, H. (1967). Studies in Ethnomethodology. Cambridge Geertz, C. (1973). The interpretation of cultures (Vol. 5043). New York: Basic books Gerhards, J. (1988). Soziologie der Emotionen. Weinheim/ München: Juventa Verlag Giddens, A. (1991). Modernity and self-identity. Cambridge: Polity Giddens, A. (1997). Die Konstitution der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Campus Gide, A. (1996). Gesammelte Werke, 12 Bde, Bd. 6, Reisen und Politik. München: DVA Gide, A. (2008). Kongo und Tschad: Mit einem Nachwort zur Neuauflage (Bibliothek Verbrannter Bücher). Hildesheim: Olms Gildemeister, R., & Hericks, K. (2012). Geschlechtersoziologie: theoretische Zugänge zu einer vertrackten Kategorie des Sozialen. Berlin: Walter de Gruyter GIZ (2018). Tourism. Abgerufen von: 🔗 https: / / www.giz.de/ expertise/ html/ 6499.h tml. 17.4.2018 Goffman, E. (1959). The Presentation of Self in Everyday Life. New York: Doubleday Goffman, E. (1977). The Arrangement between the Sexes. In: Theory and Society. 4. 301-331 Goffman, E. (1979). Gender Advertisement. Harmondsworth Goffman, E. (1980). Rahmenanalyse. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Goffman, E. (1997). Interaktions-Rituale. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Goffman, E. (2003). Wir alle spielen Theater. München: Piper Goodwin, H (2016). Responsible Tourism: Using Tourism for Sustainable Develop‐ ment. 2. A. Oxford: Goodfellow Goodwin, H. (2017). The challenge of overtourism. Responsible tourism partnership, 4, 1-19 Gottlieb, A. (1982). Americans’ Vacations. Annals of Tourism Research 9. 165-187 Graburn, N. (1977). Tourism: The sacred journey. In: Smith, V. (Hrsg.). Hosts and Guests. Philadelphia: University of Philadelphia Press. 17-32 Graburn, N. (1983). The Anthropology of Tourism. Annals of Tourism Research 10 (1). 9-33 Groß, M. (2017). Gesundheitstourismus. Konstanz/ München: UVK Literaturverzeichnis 255 <?page no="256"?> Grütter, K., Plüss, Ch. (1996). Herrliche Aussichten! - F rauen im Tourismus. Zürich: Rotpunktverlag Gugutzer, R. (2002). Leib, Körper und Identität. Eine phänomenologisch-soziologi‐ sche Untersuchung zur personalen Identität. Wiesbaden: Westdt. Verlag Gursoy, D., Uysal, M., Sirakaya-Turk, E., Ekinci, Y., & Baloglu, S. (2015). Handbook of scales in tourism and hospitality research. Wallingford: CABi Habermas, J. (1962). Strukturwandel der Öffentlichkeit. Darmstadt: Luchterhand Habermas, J. (1973). Kultur und Kritik: Verstreute Aufsätze. Frankfurt a. M.: Suhr‐ kamp Habermas, J. (1995). Theorie des kommunikativen Handelns. Band 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Habermas, J. (1995). Theorie des kommunikativen Handelns. Band 2. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Häußling, R. (2019). Techniksoziologie. 2.A. München: UTB Hahn, H., Kagelmann, H.J. (Hrsg.) (1993). Tourismuspsychologie und Tourismussozi‐ ologie. Ein Handbuch zur Tourismuswissenschaft. München/ Wien: Profil Verlag Hall, C.M. (2002). Travel safety, terrorism and the media: The significance of the issue-attention cycle. Current Issues in Tourism, 5 (5). 458-466 Hennig, C. (1997). Jenseits des Alltags. Theorien des Tourismus. In: Voyage. Jahrbuch für Reise und Tourismusforschung, Bd. 1, Köln 1997. 35-53 Hennig, C. (1999). Reiselust. Tourist: innen, Tourismus und Urlaub. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Hepp, A. (2020). Medien. In: H. Joas, S. Mau (Hrsg.). Lehrbuch der Soziologie. 4. A. Frankfurt a. M.: Campus. Heuwinkel, K. (2004). Zwischen Heinzelmann und Frankenstein - Ansatz zur Etablierung Digitaler Begleiter als moderne Vertraute des Menschen. Düsseldorf. d-nb.info/ 971864624/ 34 Heuwinkel, K. (2011). Reisen der Gesundheit zuliebe - Das 1x1 des Medizintouris‐ mus. Saarbrücken: Vdm-Verlag. Heuwinkel, K. (2013). Framing the Invisible - The Social Background of Trust, In: Trappl, R. (Hrsg.). Your Virtual Butler. Lecture Notes in Artificial Intelligence. LNAI 7407. Berlin/ Heidelberg: Springer. 16-26 Heuwinkel, K. (2015). Geschäftstourismus - ein neues Segment im Gesundheitstou‐ rismus oder vice versa? In: Brittner-Widmann, A., Rulle, M. & Kagermeier, A. (Hrsg.) (2015). Gesundheitstourismus - vom klassischen Tourismussegment zum Wachstumsbringer? Zeitschrift für Tourismuswissenschaft. Heft 1/ 2015. 169-191 Heuwinkel, K. (2017a). CSR und Gesundheitstourismus - Neue Märkte, neue Ver‐ antwortung. In: Lund-Durchlacher, D. (Hrsg.). CSR und nachhaltiger Tourismus. Springer. 101-114 256 Literaturverzeichnis <?page no="257"?> Heuwinkel, K. (2017b). Gesundheits- und Sporttourismus im ländlichen Raum. In: Roth, R., Schwark, J. (Hrsg.). Wirtschaftsfaktor Sporttourismus. Schriften zu Tourismus und Freizeit Band. 19. Berlin. ESV-Verlag. 77-88 Heuwinkel, K. (2017c). Vertrauensmanagement im M-Tourismus: Möglichkeiten und Grenzen. In: Landvogt, M., Brysch, A., Gardini, M. (Hrsg.). Tourismus - E-Tourismus - M-Tourismus. Schriften zu Tourismus und Freizeit Band. 20. Berlin. ESV-Verlag. 131-144 Heuwinkel, K. (2017d). Betriebliches Gesundheitsmanagement - Die neuen Freizeit- und Ferienmacher? In: Freericks, R., Brinkmann, D. (Hrsg.). Gesundheit in der entwickelten Erlebnisgesellschaft. Bremen: Ifka. 191-206 Heuwinkel, K. (2018). CSR in Luxusunterkünften - Verantwortung als Element des Change Managements, dargestellt am Beispiel des Grootbos Private Nature Reserve. In: Ehlen, T., Scherhag, K. (Hrsg.). Aktuelle Herausforderungen in der Hotellerie. Schriften zu Tourismus und Freizeit Band. 22. Berlin. ESV-Verlag. 345-360 Heuwinkel, K., Venter, G. (2018). Applying the Tourist Area Life Cycle within Sport Tourism: The Case of Stellenbosch and German Athletes. Journal of Sport & Tourism (RJTO). DOI: 10.1080/ 14775085.2018.1504691 Heuwinkel, K. (2019a). Macht und Mächtige im Tourismus: Eine soziologische Betrachtung von Machtphänomenen. Schriften zu Tourismus und Freizeit, 24, S. 235-250 Heuwinkel, K. (2019b). Sandburgin‘, Selfiesticks und Silikon: Der Körper in der digitalen Freizeit und im Tourismus. In: R. Freericks, D. Brinkmann (Hrsg.). Digitale Freizeit 4.0. Bremen: Ifka Heuwinkel, K. (2021a). Frauen im Tourismus. München: UVK Heuwinkel, K. (2021b). Granny auf Reisen: Altersbasierte Stereotype des Medi‐ eneinsatzes beim Reisen. Zeitschrift Medien & Altern. Heft 18/ 21, Reisen & Reisemedien. 22-34 Heuwinkel, K. (2021c). Reisemotivation. In: W. Fuchs (Hrsg.). (2021). Tourismus, Hotellerie und Gastronomie von A bis Z. Berlin: Walter de Gruyter Heuwinkel, K. (2022). Die Destinationsmarke-ein diskursives Machtphänomen? . In: B. Eisenstein, K. Scherhag (Hrsg.). Images, Branding und Reputation von Destinationen. Berlin: Erich Schmidt Verlag. 177-180 Heuwinkel, K. (2024). Community-based Tourism. München: UVK. Higginbottom, K. (Hrsg.) (2004). Wildlife Tourism. Impacts, Management, and Planning. Altona, Melbourne: Common Ground and Sustainable Tourism CRC Higham, J., Neves, K. (2015). Whales, tourism and manifold capitalist fixes: New relationships with the driving force of capitalism. In: Markwell (Hrsg). 109-127 Literaturverzeichnis 257 <?page no="258"?> Hiller, H. (1976). Escapism, penetration and response: Industrial tourism in the Caribbean. Caribbean Studies. 16(2). 92-116 Hillman, W., Radel, K. (2018). Qualitative Methods in Tourism Research. Bristol: Channel View Publications Hillman, Wendy and Radel, Kylie. Qualitative Methods in Tourism Research: Theory and Practice, Bristol, Blue Ridge Summit: Channel View Publications, 2018. http s: / / doi.org/ 10.21832/ 9781845416416 Hochschild, A. R. (1979). Emotion work, feeling rules, and social structure. American journal of sociology, 85(3), 551-575 Hochschild, A.R. (1983). The managed heart. Berkeley: University of California Press Hochschild, A.R. (2003). The managed heart. 20 th Anniversary Edition. Berkeley: University of California Press Hofstede, G., Hofstede, G.J., Minkov, M. (2010). Cultures and Organizations: Software of the Mind. 3. A. New York: McGraw-Hill Homans, G. C. (2013). The human group. Routledge Hömberg, E. (1977). Tourismus. Funktionen, Strukturen, Kommunikationskanäle. München: Herbert Utz Hollinshead, K. (1994). The Unconscious Realm of Tourism. In: Annals of Tourism Research. 21. 387-391 Hovinen, G. (1982). Visitor Cycles: Outlook for Tourism in Lancaster County. Annals of Tourism Research. 9. 565-583 Hunziker, W. (1943). System und Hauptprobleme einer wissenschaftlichen Fremden‐ verkehrslehre. St. Gallen Inglehart, R. (1977). The Silent Revolution: Changing Values and Political Styles among Western Publics. Princeton: Princeton University Press Inglehart, R. (1998). Modernisierung und Postmodernisierung. Kultureller, wirt‐ schaftlicher und politischer Wandel in 43 Gesellschaften. Frankfurt a.M.: Campus IPK International (2017). World Travel Monitor Abgerufen von: 🔗 http: / / www.ip kinternational.com/ en/ world-travel-monitor/ data-inquiry. 31.12.20117 International Labour Office ILO (2013). Toolkit on Poverty Reduction through Tourism. 2. A. Genf: ILO. www.ilo.org (13-02-2023) Irmscher, G. (2020). Die Touristin Wanda Frisch. Berlin: Transcript Jacobsen, J. (2015). Sun, sea, sociability and sightseeing: Mediterranean summer holidaymaking revisited. Anatolia 2015 (vol. 26): 186-199 Jeffreys, S. (1999). Globalizing sexual exploitation: Sex tourism and the traffic in women. Leisure studies, 18(3), 179-196. Joas, H., Mau, S. (Hrsg.) (2020). Lehrbuch der Soziologie. 4. A. Frankfurt am Main: Campus 258 Literaturverzeichnis <?page no="259"?> Kaase, M. (2013). Massenkommunikation: Theorien, Methoden, Befunde (Vol. 30). Opladen: Westdeutscher Verlag Kahneman, D. (2011). Thinking, Fast and Slow. London: Penguin Kagermeier, A. (2021). Overtourism. München: UTB Kagermeier, A., & Erdmenger, E. (2019). Das Phänomen Overtourism: Erkundungen am Eisberg unterhalb der Wasseroberfläche. Berlin: Zeitschrift für Tourismus und Gesellschaft: Kontakte-Konflikte-Konzepte Kant, I. (2013). Die Metaphysik der Sitten. Holzinger Kempf, F. M., Corinth, T. (Hrsg.) (2023). Barrierefreier Tourismus: Destinationen, Verkehrsträger, Hotels, Zertifizierungen. München: UVK. Klages, H. (1984). Wertorientierungen im Wandel. Rückblick, Gegenwartsanalyse, Prognosen. Frankfurt a.M.: Campus Klages, H. (2001). Wertedynamik. Über die Wandelbarkeit des Selbstverständlichen, Zürich 1988; ders., Brauchen wir eine Rückkehr zu traditionellen Werten? , In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 29 (2001), 7-14. Abgerufen von 🔗 http: / / www.b pb.de/ apuz/ 26130/ brauchen-wir-eine-rueckkehr-zu-traditionellen-werten? p=all. 17.5.2018 Kline, C. (Hrsg.). (2018). Animals, food, and tourism. Oxon: Routledge Knebel, H.-J. (1960). Soziologische Strukturwandlungen im modernen Tourismus. Stuttgart: Enke Kneidinger-Müller, B. (2023). Identitätsbildung in sozialen Medien. In Handbuch Soziale Medien (S. 191-212). Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden. Knoll, G. M. (2016). Handbuch Wandertourismus. Konstanz/ München: UVK Verlags‐ gesellschaft GmbH Kozinets, R. (2010). Netnography: Doing Ethnographic Research Online. London: Sage Krippendorf, J. (1984). Die Ferienmenschen: für ein neues Verständnis von Freizeit und Reisen. Zürich Lackner, M., & Werner, M. (1998). Der cultural turn in den Humanwissenschaf‐ ten. Area Studies im Auf- oder Abwind des Kulturalismus? Bad Homburg: Werner-Reimers-Stiftung Lamers, M., Van der Duim, R., Spaargaren, G. (2017). The Relevance of Practice Theories for Tourism Research. Annals of Tourism Research. 62. 54-63 Lamnek, S. (2013). Theorien abweichenden Verhaltens I. 9. A., Paderborn: Fink/ UTB Lanfant, M., Allcock, J. & Bruner, E. (Hrsg.) (1995). International Tourism. Identity and Change. London: Sage Langton, R. (2009). Sexual Solipsism: Philosophical Essays on Pornography and Objectification, Oxford: Oxford University Press. Literaturverzeichnis 259 <?page no="260"?> Latour, B. (1991). Technology is society made durable. In: Law, J. (Hrsg.). A Sociology of Monsters. Essays on Power, Technology and Domination, Sociological Review Monograph N°38. 103-132 Latour, B. (2007). Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Law, J. (2002). Aircraft stories: decentering the object in technoscience. Durham, North Carolina: Duke University Press Leiper, N. (1979). The framework of tourism: Towards a definition of tourism, tourist and the tourist industry. Annaly of Tourism Research. 6(4). 390-407 Lett, J. (1983). Ludic and Liminoid Aspects of Charter Yacht Tourism in the Carib‐ bean. Annals of Tourism Research 10 (1). 35-56 Lévi-Strauss, C. (1978). Traurige Tropen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Lippmann, W. (2018). Die öffentliche Meinung: Wie sie entsteht und manipuliert wird. Frankfurt a. M.: Westend Verlag Lovelock, B. (Hrsg.) (2008). Tourism and the Consumption of Wildlife: Hunting, Shooting and Sport Fishing. London und New York: Routledge Luhmann, N. (1984). Soziale Systeme. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Luhmann, N. (1986) Ökologische Kommunikation. Opladen: Westdeutscher Verlag Luhmann, N. (1994). Liebe als Passion. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Luhmann, N. (1997). Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Luhmann, N. (2000). Vertrauen. München: UTB Luhmann, N. (2006). Das Kind als Medium der Erziehung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Lupton, D. (2014). Digital sociology. London: Routledge MacCannell, D. (1973). Staged Authenticity: Arrangements of social space in tourist settings. The American Journal of Sociology. 79 (3). 589-603 MacCannell, D. (1976). The Tourist: A New Theory of the Leisure Class. London: Routledge (2. A. 1989 mit neuer Einleitung, 3. A. 1999 mit Vorwort von Lucy Lippard) MacCannell, D. (1992). Empty meeting grounds: The tourist papers. London: Rout‐ ledge MacCannell, D. (1999). The Tourist: A New Theory of the Leisure Class. London: Routledge (2. A. 1989 mit neuer Einleitung, 3. A. 1999 mit Vorwort von Lucy Lippard) Maier, H. (1991). Der heitere Ernst körperlicher Herrschaftsstrategien. Über »weibli‐ che« und »männliche« Posen auf privaten Urlaubsfotografien, in: Fotogeschichte, 11. Jg., H. 41. 47-59 Mann, M. (1986). The Sources of Social Power, Volume I: A History from the Beginning to 1760 AD. Cambridge University Press 260 Literaturverzeichnis <?page no="261"?> Markwell, K. (Hrsg.) (2015). Animals and Tourism. Bristol: Channel View Publicati‐ ons Marx, K. (2020). Das Kapital. München: Anaconca Matthews, H. (1978). International Tourism - A Political and Social Analysis. Cambridge, MA: Schenkman Mayring, P. (2003). Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. Wein‐ heim: Beltz Mayring, P. (2016). Einführung in die qualitative Sozialforschung. Weinheim: Beltz Mayring, P. (2022). Qualitative Inhaltsanalyse: Grundlagen und Techniken. 13. A. Weinheim: Beltz McCabe, S. (2005). Who is a Tourist? A Critical Review. Tourist Studies. Vol.5 (1). 85-106 McMillan, K., Worth, H., Rawstorne, P. (2018). Usage of the terms prostitution, sex work, transactional sex, and survival sex: Their utilityin HIV prevention research, in: Archives of Sexual Behavior, Vol. 47, 1517-1527 Merten, K. (1995). Inhaltsanalyse. Einführung in Theorie, Methode und Praxis. Opladen: Westdeutscher Verlag Merton, R. (1957). The Role-Set. Problems in Sociological Theory. The British Journal of Sociology. Vol. 8/ 2. S. 106-120 Merton, R. K. (1968). Social theory and social structure. New York: Macmillan Merton, R. (1985). On the shoulders of giants: A Shandean postscript (The Vicennial Edition). San Diego, New York, London: Harcourt Brace Jovanovich MEW Marx-Engels-Werke. Digitale Ausgabe als PDF. Verlag Olga Benario und Herbert Baum. 🔗 https: / / marx-wirklich-studieren.net/ Mody, M., & Day, J. (2014). Rationality of social entrepreneurs in tourism: Max Weber and the sociology of tourism development. International Journal of Tourism Anthropology. 3(3). 227-244 Moore, A. (1980). Walt Disney World. Bounded Ritual Space and the Playful Pilgrimage Center. Anthropological Quarterly 53 (4). 207-218 Moscardo, G. (1996). Mindful visitors: Heritage and tourism. Annals of Tourism Research. 23(2). 376-397 Murdoch, J. (1997): Towards a geography of heterogenous associations. In: Progress in Human Geography 21 (3). 321-337 Nagle, J., Piero (2019). Soziologie - Ein Sachcomic. Mülheim a.d.R.: Tibia Press Nash, D. (1977). Tourism as a Form of Imperialism. In: V. Smith. Hosts and guests. University of Pennsylvania Press. 37-47 Nash, D. (1981). Tourism as an anthropological subject. Current Anthropology. 22(5). 461-481 Literaturverzeichnis 261 <?page no="262"?> Neckel, S. (2010). Sternstunden der Soziologie: wegweisende Theoriemodelle des soziologischen Denkens. Frankfurt a. M.: Campus Neffe, J. (2018). Marx Der Unvollendete. München: Pantheon Neidhardt, F. (Hrsg.) (1983). Gruppensoziologie: Perspektiven und Materialien. Sonderheft 25. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie Nuñez, T. (1963). Tourism, tradition and acculturation: Weekendismo in a Mexican village. Ethnology 2(3). 347-352 Nussbaum, M. (1999). Sex and Social Justice. Oxford: Oxford University Press Pagenstecher, C. (1998). Enzensbergers Tourismusessay von 1958 - ein Forschungs‐ programm für 1998? in: Tourismus Journal, 2. 533-552 Palmer, C., & Andrews, H. (Hrsg). (2019). Tourism and embodiment. London: Routledge Parsons, T. (1994). Aktor, Situation und normative Muster: Ein Essay zur Theorie sozialen Handelns. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Parsons, T. (2013). The social system. London: Routledge Pearce, P. (1980). Tourism and regional development: A genetic approach. Annals of Tourism Research. 7(1). 69-82 Pearce, P. (1982). The Social Psychology of Tourist Behaviour. Oxford: Pergamon Press Pearce, P. (1993). Fundamentals of Tourist Motivation. In: Pearce, D. & Butler, R. (Hrsg.). Tourism Research: Critiques and Challenges. London: Routledge. 85-105 Pearce, P., Moscardo, G. (1986). Historic Theme Parks. Australien Psychologist. Volume 20. Issue 3 Pearce, P. L., & Zare, S. (2017). The orchestra model as the basis for teaching tourism experience design. Journal of Hospitality and Tourism Management, 30, 55-64 Pearce, P. L. (2011). Tourist behaviour and the contemporary world. Bristol: Channel view publications Pi-Sunyer, O. (1971). Through Native Eyes: Tourists and Tourism in a Catalan Maritime Community. In: Smith, V. (Hrsg.). Hosts and Guests: The Anthropology of Tourism. 149-155 Picard, M. (1990). »Cultural tourism« in Bali: cultural performances as tourist attractions. Indonesia. 49. 37-74 Plog, S. (2001). Why destination areas rise and fall in popularity. The Cornell Hotel and Restaurant Administration Quarterly; June 2001; Volume 42, Issue 3.13-24 Popitz, H. (2004). Phänomene der Macht. 2. A. Tübingen: Mohr (Paul Siebeck) Quante, M. (2009). Karl Marx. Ökonomisch-philosophische Manuskripte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Porter, M. E. (2001). Strategy and the Internet. Harvard Business Review. Ausgabe März. 262 Literaturverzeichnis <?page no="263"?> Pritchard, A. (Hrsg.) (2007). Tourism and Gender. Wallingford: CABI Pritchard, A., Morgan, N. (2000). Privileging the male gaze: Gendered tourism landscapes. Annals of Tourism Research. Volume 27, Issue 4, 884-905 Pritchard, A., Morgan, N., & Ateljevic, I. (2011). Hopeful tourism: A new transfor‐ mative perspective. Annals of Tourism Research, 38(3), 941-963 Raich, F. (2006). Governance von Tourismus—Destinationen. Governance räumli‐ cher Wettbewerbseinheiten: Ein Ansatz für die Tourismus-Destination, 145-232 Rammert, W. (2003). Technik in Aktion: verteiltes Handeln in soziotechnischen Konstellationen. (TUTS - Working Papers, 2-2003). Berlin: Technische Universi‐ tät Berlin, Fak. VI Planen, Bauen, Umwelt, Institut für Soziologie Rammert, W., & Schulz-Schaeffer, I. (2002). Technik und Handeln: wenn soziales Handeln sich auf menschliches Verhalten und technische Artefakte verteilt (S. 11-64). Frankfurt a. M.: Campus Verlag Reckwitz, A. (2000). Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms. Weilerswist: Velbrück Verlag Rojek, C. (2010). The Labour of Leisure. London & Thousand Oaks: SAGE Rothermund, K., Eder, A. B. (2009). Emotion und Handeln. In: V. Brandstätter, J. H. Otto (Hrsg.). Handbuch der Allgemeinen Psychologie: Motivation und Emotion (Band 11). Göttingen: Hogrefe. 75-685 Roundtable Human Rights in Tourism (2016). Tourism in fragile contexts. Abgerufen von: 🔗 www.fairunterwegs.org/ fileadmin/ user_upload/ Dokumente/ PDF/ Doku mente_extern/ Guideline_Tourism_in_fragile_contexts_Roundtable2016_EN.pdf 26.3.2018 Ryan, C., Hall, C.M. (2001). Sex Tourism: Marginal People and Liminalities. London: Routledge Sack, F. (2020). Abweichung und Kriminalität. In Lehrbuch der Soziologie. 4. Aufl., Hrsg. Hans Joas & Steffen Mau, S. 275-319. Frankfurt a. M.: Campus Verlag Schäfers, B. (2002). Einführung in die Gruppensoziologie. Geschichte, Theorien, Analysen. München: UTB Schäfers, B. (2016). Die soziale Gruppe. In: H. Korte, B. Schäfers (Hrsg.). Einführung in Hauptbegriffe der Soziologie. Wiesbaden: Leske+ Budrich. 153-172 Schatzki, T., Cetina, K., von Savigny, E. (2001). The Practice Turn in Contemporary Theory. London: Routledge. Scherle, N., Grabher, B., Hartmann, R., Heuwinkel, K. (2023). „Alles Kultur“ - Ein zentraler Faktor im Tourismus. In: H. Hopfinger et al. (Hrsg.). Geographien der Freizeit und des Tourismus. Berlin: Springer Scheuch, E. (1981). Tourismus. In: Die Psychologie des 20. Jahrhunderts. 13. 1089- 1114 Schimank, U. (1996). Theorien gesellschaftlicher Differenzierung. München: UTB Literaturverzeichnis 263 <?page no="264"?> Schimank, U. (2007). Handeln und Strukturen. Einführung in die akteurtheoretische Soziologie. 3. Auflage. Weinheim/ München: Juventa Schimank, U. (2000). Handeln und Strukturen. München: Juventa Schnell, R., Hill, P., Esser, E. (2011). Methoden der empirischen Sozialforschung. 9. A. München: Oldenbourg Schütz, A. (1972). Der Fremde, ein sozialpsychologischer Versuch in: Ders. (Hg.), Gesammelte Aufsätze, Bd. 2: Studien zur soziologischen Theorie. 53-69 Schulz-Schaeffer, I. (2000): Akteur-Netzwerk-Theorie: zur Koevolution von Gesell‐ schaft, Natur und Technik. In: Weyer, J. (Ed.): Soziale Netzwerke: Konzepte und Methoden der sozialwissenschaftlichen Netzwerkforschung München: Ol‐ denbourg. 187-210 Schulze, G. (2005). Die Erlebnisgesellschaft. 2. A. Frankfurt a.M.: Campus Selwyn, T. (1990). Anthropology and tourism. Tourism Management. Volume 11, Issue 1, March 1990. 68-69 Shackley, M. (1996). Wildlife Tourism. London: International Thomson Business Press Sharpley, R. (1999). Tourism, Tourist, and Society. 2. A. Huntington: ELM Sharpley, R. (2018). Tourism, Tourist, and Society. 5. A. London: Routledge Simmel, G. (1903). Soziologie des Raums, Soziologische Institut der Universität Zürich. Abgerufen von: socio.ch/ im Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich (Das »Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwal‐ tung und Rechtspflege des Deutschen Reiches« Neue Folge), herausgegeben von Gustav Schmoller, 27.Jg., I. Band, 1903, 27-71 (Leipzig) Simmel, G. (1908). Exkurs über den Fremden. In: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Berlin: Duncker & Humblot, 509-512. Simmel, G. (1992). Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaf‐ tung. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt a.M. Sloan, P., Legrand, W., Simons-Kaufmann, C. (2014). A survey of social entrepre‐ neurial community-based hospitality and tourism initiatives in development countries: a new business approach for industry. Worldwide Hospitality and Tourism Themes, 6(1). 51-61 Sombart, W. (2018). Die Modernität des Kapitalismus. Wiesbaden: Springer Spode, H. (2003). Wie die Deutschen »Reiseweltmeister« wurden. Eine Einführung in die Tourismusgeschichte. Erfurt: Landeszentrale für Politische Bildung Spode, H. (2012). Geburt einer Wissenschaft: Zur Professionalisierung der Touris‐ musforschung. In: Themenportal Europäische Geschichte, 2012, Abgerufen von: 🔗 www.europa.clio-online.de/ essay/ id/ artikel-3721. 17.4.2018 264 Literaturverzeichnis <?page no="265"?> Statistisches Bundesamt (2012). Lebenslagen der behinderten Menschen. Abgerufen von: 🔗 https: / / www.destatis.de/ DE/ Publikationen/ WirtschaftStatistik/ Soziallei stungen/ Lebenslagenbehinderte032012.html 15.4.2018 Steinbrink, M., Buning, M., Legant, M., Schauwinhold, B., Süßenguth, T. (2017). Touring Katutura! Poverty, Tourism, and Poverty Tourism in Windhoek, Namibia (= Potsdamer Geographische Praxis, Bd. 11). Potsdam: Universitätsverlag Stiftung Warentest (2013). Kein Durchblick. Gütesiegel für Wellnessangebote. Test 10/ 2013. Berlin. 88-97 Stürmer, S. (2009). Sozialpsychologie. München: UTB Stürmer, S., & Siem, B. (2022). Sozialpsychologie der Gruppe. München: UTB Swain, M.B. (1995). Gender in tourism. Annals of Tourism Research. 22(2). 247-266 Tajfel, H., & Turner, J. C. (2004). The social identity theory of intergroup behavior. In Political psychology. Psychology Press. 276-293 Taylor, A. (1932). Tourism - The business of organized hospitality. Commercial Report. 35. 188-190 Thiem, M. (1994). Tourismus und kulturelle Identität. Die Bedeutung des Tourismus für die Kultur touristischer Ziel- und Quellgebiete. Bern: Berner Studien zu Freizeit und Tourismus Thimm, T., May, C., J. Reif (Hrsg.) (2018): Raum und Tourismus: Konstruktion und Inszenierung touristischer Erfahrungswelten. Themenheft der Zeitschrift für Tourismuswissenschaft Vol. 11, 1/ 2018 Tönnies, F. (2017). Gemeinschaft und Gesellschaft. München/ Wien: Profil-Verlag Tomazos, K., Butler, R. (2010). Volunteer tourists in the field: a question of balance? Tourism Management 33 (2012). 177-187 Turner, V., Turner, V. W. (1970). The forest of symbols: Aspects of Ndembu ritual (Vol. 101). Ithaca: Cornell University Press Turner, V. (1974). Liminal to liminoid, in play, flow, and ritual: An essay in compa‐ rative symbology. Rice Institute Pamphlet-Rice University Studies, 60(3) Turner, L., Ash, J. (1975). The Golden Hordes: International Tourism and the Pleasure Periphery. London: Constable Turner, V. (1989). Das Ritual: Struktur und Anti-Struktur. Frankfurt a.M.: Campus Ulich, D., Mayring, Ph. (2003). Psychologie der Emotionen. Stuttgart: Kohlhammer. UNESCO (1983). Weltkonferenz über Kulturpolitik. Schlussbericht der von der UNESCO vom 26. Juli bis 6. August 1982 in Mexiko-Stadt veranstalteten interna‐ tionalen Konferenz. München: K. G. Saur 1983. (UNESCO-Konferenzberichte, Nr. 5) UNWTO (2010). Global Report on Women in Tourism. Abgerufen von: 🔗 http: / / www2.unwto.org/ sites/ all/ files/ pdf/ folleto_globarl_report.pdf 17.4.2018 Literaturverzeichnis 265 <?page no="266"?> UNWTO (2019). Global Report on Women in Tourism. 2. A. Madrid: UNWTO Urbain, J.D. (2008). An interview with Jean Didier Urbain: Tourism beyond the grave: a semiology of culture DOI: 10.1177/ 1468797608099247 Tourist Studies 2008; 8; 175 Anne Doquet and Olivier Evrard semiology of culture Urry, J. (1990). The Tourist Gaze. London: Sage Urry, J. (2002). The Tourist Gaze. 2. A. London: Sage Urry, J. (2011). The Tourist Gaze 3.0. London: Sage Van den Berghe, P. (1980). Tourism as ethnic relations: A case study of Cuzco, Peru. Ethnical Racial Studies. 3(4). 375-392 Van Gennep, A. (1986). Übergangsriten. Frankfurt a.M.: Campus Vester, H.-G. (1997). Tourismus im Licht soziologischer Theorie. In: Voyage. Jahrbuch für Reise- und Tourismusforschung. Band. 1. Köln: Dumont. 67-85 Von Wiese, Leopold (1915). Gedanken über Menschlichkeit. München: Duncker & Humblot Von Wiese, L. (1930). Fremdenverkehr als zwischenmenschliche Beziehung. Archiv für Fremdenverkehr. 1-3 Wagner, V. (1977). Out of Time and Place - Mass Tourism and Charter Trips. Ethnos 42(1/ 2). 38-52 Waitt, G., & Markwell, K. (2006). Gay tourism: Culture and context. Binghamton: Haworth Press Waldenfels, B. (2010). Topographie des Fremden. Frankfurt am Main: Suhrkamp Wang, N. (1999). Rethinking authenticity in tourism experience. Annals of Tourism Research, Vol. 26, No. 2. 349-370 Weber, M. (1980). Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen: Mohr Siebeck Weber, M. (2170). Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Stutt‐ gart: Reclam Wöhler, K. (2011). Touristifizierung von Räumen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozial‐ wissenschaften Yousefi, H. R., Braun, I. (Hrsg.) (2016). Interkulturelles Handbuch der Kulturwissen‐ schaften: Grundlagen und Schlüsselbegriffe. Nordhausen: Traugott Bautz - Internet, Blog, Instagram Auswärtiges Amt. Weltweiter Sicherheitshinweis. 🔗 https: / / www.auswaertiges-amt.de/ de/ ReiseUndSicherheit/ 10.2.8Reisewarnung en (6.6.2023) Berge & Meer. 🔗 https: / / www.berge-meer.de/ thema/ privatreisen (6.6.2023) 266 Literaturverzeichnis <?page no="267"?> BMZ Bundeministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. 🔗 https: / / www.bmz.de/ de/ themen/ tourismus (6.6.2023) Butterfly Art Project 🔗 http: / / www.butterflyartproject.org/ Caliber 3. 🔗 https: / / www.caliber3range.com/ idf-shooting-adventure (6.6.2023) Eat With. 🔗 https: / / www.eatwith.com/ (6.6.2023) Literaturverzeichnis 267 <?page no="268"?> FaRK. 🔗 http: / / fark-messe.de/ (6.6.2023) Gender and Water Alliance GWA. 🔗 http: / / genderandwater.org/ en (6.6.2023) Government UK. Foreign travel advices. 🔗 https: / / www.gov.uk/ foreign-travel-advice/ spain/ safety-and-security (6.6.2023) Great Himalaya Trails. 🔗 https: / / www.welcomenepal.com/ (6.6.2023) Integrationshotel Rossi. 🔗 https: / / hotel-rossi.de/ (6.6.2023) Japan National Tourism Organization. 🔗 https: / / www.jnto.go.jp/ eng/ basic-info/ emergency-info/ earthquake-early-warni ng-app.html (6.6.2023) LandReise. 🔗 https: / / www.landreise.de/ (6.6.2023) Lonelyplanet. 🔗 https: / / www.lonelyplanet.de/ reiseziele/ backpacking-tipps-und-routen/ tourenfuer-backpacker.html (6.6.2023) Loss mer singe. 🔗 http: / / www.lossmersinge.de/ (6.6.2023) Meet the Locals, Westschweden. 🔗 https: / / meetthelocals.se/ en/ (6.6.2023) Naturpark der Nordvogesen. 🔗 https: / / www.selfnessferien.com/ (6.6.2023) Neckermann Reise. 🔗 https: / / www.neckermann-reisen.de/ urlaub/ griechenland/ (6.6.2023) Park Inn by Radisson Blog. 🔗 http: / / blog.parkinn.de/ innsiderguides/ das-am-meisten-instagram-tauglichefruhstuckbild/ 22.4.2018 Radi Aid. 🔗 https: / / www.radiaid.com/ 03.05.2023 268 Literaturverzeichnis <?page no="269"?> Social Entrepreneurship Competition in Tourism. 🔗 https: / / socialtourismcompetition.com/ About 03.05.2023 Stadthaushotel Hamburg (2018). 🔗 http: / / www.stadthaushotel.com/ start.php (6.6.2023) Südliche Weinstraße (2018). 🔗 https: / / www.suedlicheweinstrasse.de/ reisen-erleben/ vital/ ichzeit/ 22.2.2018 Traveller (2018). 🔗 http: / / www.traveller.com.au/ ten-travel-experiences-that-will-change-your-life -10fnzy#ixzz57eR6XPpX (6.6.2023) Um die Weltreise. 🔗 http: / / umdieweltreise.ch/ 24.8.2017 WDR2. Onlinequelle. 🔗 https: / / www1.wdr.de/ radio/ wdr2/ aktionen/ der-perfekte-familienurlaub-oester reich/ galerie-familienurlaub-rafting-mountainbike-wandern-klettern-100.html 2 4.2.2018 Literaturverzeichnis 269 <?page no="270"?> Sachregister Abenteuer-59 Abhängigkeitsmodell-63 Abwechslung-186 agenda setting-175 Akkulturation-127 Akteurkonstellationen-115 Akteur-Netzwerk-Theorie-181 Ambiguitätstoleranz-133 Ängste-76 Anwendungsfelder-185 Arbeit-213 Ästhetik-155 Aufnahme-86 Ausdifferenzierung-60 Authentizität-30, 35, 37, 47ff., 66, 68, 72f., 77ff., 86, 95, 101, 137, 206, 220f., 223, 228f. Backpacker-58 Berufsrolle- professionelle Rollen-129, 132 Betrachtung- makroperspektivische Betrachtung-113 mikrosoziologische Betrachtung 114 Big Data-98 Bimmelbahnen-58 Bourdieu, Pierre-149 carrying capacity-86 ChatGPT-241, 243 cultural turn-126 Denkmaltourismus-→ Erbetourismus dependency model-63 Destination 24, 26, 60f., 63, 67f., 83, 85ff., 122 Destinationen-63 development model-63 Differenzierung- funktionale Differenzierung-118 Digitalisierung-239 Dualität von Struktur-115 Eindrucksmanagement-34 Einheimische-29, 86 Emotionen-90f. Entfremdung-27 Entwertung-27 Entwicklungsmodell-63 Erbetourismus-76 experience-67 Fremde-39 Gay Tourism-229 Gefühle-90 Gender-11, 36, 142, 208f., 212-216 Gender and Water Alliance-215 Gender Display-177 Gesetz des Nichtwiedersehens-117 Gringo-Trails-60 Gruppe-162 Gütesiegel-235 Habitus-172 Handeln- soziales Handeln-113, 115 Handlungsroutinen-116 hegemoniale Männlichkeit-92 <?page no="271"?> heritage tourism-76 Hinterbühne-34 Idealtypen- des menschlichen Handelns-22 Identität-166 Ignoranz-186 Illusion-186 Influencer-176 Informationen-176 Informationsprozesse-175 Informationsquellen-176 Instagram-176 Interdependenz-118 Interrollenkonflikte-131 Intersektionalität-141 Intrarollenkonflikte-131 Isomorphie-36 Kapital-151 Kategorien-163 Kathedralen des Tourismus-42 Klasse-26 Kommunikation-176 Kommunikationsprozesse-175 Konflikte-26, 145 Konflikttheorie-147 Kontrollverlust-28 Krisenmanagement-75 Kritische Theorie-140 Kultur-126 Kulturtourismus-76 Künstliche Intelligenz-182 Lebensstil-172 Leistungserbringenden-29 Leitbilder- touristische Leitbilder-42 Liminalität-158f., 211 Macht-148, 151f. Makrosoziologie-20 Massentourismus-55 Mediatisierung-239 Medien-176 Mikrosoziologie-20 Milieu-172 Nomadentum- neues Nomadentum-73 OCEAN-Modell-166 opinion leader-176 Ordnung- soziale Ordnung-115 Paradigma- interpretatives Paradigma-130f. normatives Paradigma-127 Persönlichkeit-166, 170 Phänomenologie-66 Produktionsverhältnisse-27 Prostitutionstourismus-209 qualitative Methoden-107 Queer-143 Radi-Aid-174 Reiseanlass-68 Reisegrund-28 Reisemotivforschung-105 Reisewarnungen-191 Risiko-186, 190 risk perception-190 Rituale-157 touristische Rituale-49 Rolle-36, 61f., 68, 108, 114, 125, 127ff., 131f., 134, 136, 138, 143, 146, 149, 155f., 164f., 167, 169, 183, 216, 220, 237f., 244, Sachregister 271 <?page no="272"?> 247 soziale Rolle-34 temporäre Rolle-69 Rollentheorie-127, 130, 134 Rollenträger-127 Selbst-166 sexuelle Ausbeutung-209 Skalen-105 Souvenirs-58, 217 Sozialsysteme-118 Soziologie des Körper-173 Spiel-186 Sprachkenntnisse-60 Stereotype-163 Strukturalismus-49 Studien- komparative Studien-65 superficial nitwit-63 survival sex-209 Systeme-118, 120 Theorie des kommunikativen Handelns-133 TikTok-176, 241 tourism risk perception-190 Tourismus- affektueller Tourismus-23 institutionalisierter Tourismus 58, 60 nicht institutionalisierter Tourismus-58, 60 traditionaler Tourismus-23 wertrationaler Tourismus-23 zweckrationaler Tourismus-23 Tourismussoziologie- moderne Tourismussoziologie-46 Tourismussystem-60 Tourist-46, 68 Tourist: innen-44, 55, 61, 63 Isolierung-60 Tourist: innenzüge-58 tourist spaces-48 Tragfähigkeit-86 Transportmittel-217 Typologien-105 Übergangsriten-157 Verantwortung-186 Verfügungsgewalt-149 Verteilungskonflikte-147 Voluntourismus-186 Vorderbühne-34 Vorreiter-60 Vorwort-11 Ware-28 Werte-123 Wiedersehen-117 272 Sachregister <?page no="273"?> Personenregister Bauman, Zygmund-14, 72, 93, 197 Boorstin, Daniel J.-63 Butler, Richard-82, 85 Christaller, Walter-82, 85 Cohen, Erik-38, 54, 63-66, 74, 77, 84 Cohen, Scott A.-74, 77 Connell, Raewyn-92 Dahrendorf, Ralf-146 Dann, Graham-38 Dumazedier, Joffré-38 Durkheim, Émile-29, 113, 124, 128, 136 Enloe, Cynthia-9, 92 Enzensberger, Hans Magnus-40, 83 Frisch, Wanda-106 Giddens, Anthony-115, 168f., 171f., 227 Goffman, Erving-34, 74 Graburn, Nelson-49, 51, 158, 161 Habermas, Jürgen-133f. Hochschild, Arlie-9, 90 Hollinshead, Keith-38 Irmscher, Gerlinde-106 Jafari, Jafar-38 Knebel, Hans-Joachim-33, 43, 55 Lanfant, Marie-Françoise-38 Lévi-Strauss, Claude-49 Luhmann, Niklas-117ff., 145, 197 MacCannell, Dean-38, 46, 49, 63f. Marx, Karl-9, 26, 28 McCabe, Scott-38 Ning, Wang-38 Parsons, Talcott-118, 124, 128 Picard, Michel-38 Plog, Stanley-86 Rojek, Chris-38 Selwyn, Tom-38 Sharpley, Richard-38 Simmel, Georg-21, 31 Tönnies, Ferdinand-21 Urbain, Jean Didier-38 Urry, John-38, 51 van den Berghe, Pierre-38 Weber, Max-21 Wiese, Leopold von-33, 43 <?page no="274"?> ISBN 978-3-8252-6037-8 Alle Ansätze und Paradigmen im Überblick Tourismus nur durch die ökonomische Brille zu betrachten, greift zu kurz. Die Tourismuswirtschaft ist bedingt durch gesellschaftliche Zustände und Praktiken. Schließlich agieren Besucher: innen, Einheimische und touristische Dienstleister: innen miteinander. Auf dieses Beziehungsgeflecht geht Kerstin Heuwinkel ein: Sie stellt tourismussoziologische Ansätze und Paradigmen vor, skizziert wichtige Methoden und vermittelt die Vielzahl von soziologischen Zugängen zum Tourismus - z. B. Werte und Normen, Rollen, Macht und Identität. Soziologische Anwendungsfelder skizziert sie zudem - u. a. Verantwortung im Tourismus, Mobilitäten, Embodiment und soziale Medien. Ein Buch für Studierende der Tourismuswissenschaft, Soziologie und Humangeografie. Tourismus | Soziologie Geowissenschaften Dies ist ein utb-Band aus dem UVK Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehr- und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel
