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Grundlagen der Medienökonomie

Medien, Wirtschaft und Gesellschaft

0904
2023
978-3-8385-6077-9
978-3-8252-6077-4
UTB 
Christian Fuchs
10.36198/9783838560779

Das Buch führt in eine Vielzahl von Methoden und Themen ein, darunter die politische Ökonomie der Kommunikation im Kapitalismus, Medienkonzentration, Werbung, globale Medien und transnationale Medienkonzerne, Klassenverhältnisse und Arbeitsbedingungen in der Medien- und Kommunikationsindustrie, das Internet und digitale Medien, die Informationsgesellschaft und der digitale Kapitalismus, die Medien in der Öffentlichkeit, öffentlich-rechtliche Medien, das öffentlich-rechtliche Internet und das Medienmanagement. Die Kapitel enthalten leicht zugängliche Einführungen, empfohlene Lektüre und viele praktische Übungen, in denen Sie den Ansatz der Politischen Ökonomie auf konkrete Beispiele und Fälle anwenden können.

<?page no="0"?> Christian Fuchs Grundlagen der Medienökonomie Medien, Wirtschaft und Gesellschaft <?page no="1"?> utb 6077 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Brill | Schöningh - Fink · Paderborn Brill | Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen - Böhlau · Wien · Köln Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Narr Francke Attempto Verlag - expert verlag · Tübingen Psychiatrie Verlag · Köln Ernst Reinhardt Verlag · München transcript Verlag · Bielefeld Verlag Eugen Ulmer · Stuttgart UVK Verlag · München Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld Wochenschau Verlag · Frankfurt am Main <?page no="2"?> Dr. Christian Fuchs ist Professor für Mediensysteme und Medienorgani‐ sation am Institut für Medienwissenschaften an der Universität Paderborn. Er ist der weltweit führende Experte, wenn es darum geht, die Rolle von sozialen Medien, digitalen Medien und dem Internet in der Gesellschaft kritisch zu untersuchen und zu theoretisieren. <?page no="3"?> Christian Fuchs Grundlagen der Medienökonomie Medien, Wirtschaft und Gesellschaft UVK Verlag · München <?page no="4"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.36198/ 9783838560779 © UVK Verlag 2023 ‒ ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Ver‐ vielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. 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Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: siegel konzeption | gestaltung CPI books GmbH, Leck utb-Nr. 6077 ISBN 978-3-8252-6077-4 (Print) ISBN 978-3-8385-6077-9 (ePDF) ISBN 978-3-8463-6077-4 (ePub) Umschlagabbildung: © fotosipsak iStockphoto Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 1 15 1.1 15 15 16 1.2 17 20 21 2 23 2.1 23 2.2 24 25 27 2.3 38 38 40 43 46 53 59 2.4 60 60 61 62 2.5 63 67 71 Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungstraditionen in der Medien- und Kommunikationswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Lasswell-Formel: Ein traditioneller Forschungsansatz Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Über dieses Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . TEIL I: GRUNDLAGEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist Politische Ökonomie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Definitionen der Politischen Ökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . Politik und Ökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlagen der Politischen Ökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . Ansätze der Politischen Ökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ibn Khaldûn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mainstream-Ökonomie und „Heterodoxe“ Ökonomie . . . . Die Klassische Politische Ökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karl Marx: Die Kritik der Politischen Ökonomie . . . . . . . . . Die Neoklassische Politische Ökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . Die Keynesianische Politische Ökonomie . . . . . . . . . . . . . . Weitere Ansätze der Politischen Ökonomie . . . . . . . . . . . . . Feministische Politische Ökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Politische Ökonomie des Rassismus . . . . . . . . . . . . . . . . Die Politische Ökonomie der Umwelt (Politische Ökologie) Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Empfohlene Lektüre und Übungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 3 75 3.1 75 3.2 75 75 78 82 3.3 87 3.4 88 89 91 4 93 4.1 93 4.2 94 94 98 102 4.3 105 105 112 122 4.4 125 4.5 133 135 139 144 Was ist die Medienökonomie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Definitionen der Medienökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlagen der Medienökonomie: Was sind eigentlich Medien? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medien- und Kommunikationswissenschaft als wissenschaftliches Feld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ansätze der Medienökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Modell der Medienökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Empfohlene Lektüre und Übungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Definitionen der Politischen Ökonomie der Kommunikation und der Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine Definition der Politischen Ökonomie der Kommunikation und der Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Politische Ökonomie der Kommunikation: Ansätze . . . . . . Prinzipien und Dimensionen der Politischen Ökonomie der Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prinzipien der Politischen Ökonomie der Kommunikation Dimensionen der Politischen Ökonomie der Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Zyklus der Kapitalakkumulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine Beispielanalyse: Die Politische Ökonomie von Facebook . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Empfohlene Lektüre und Übungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anhang 4.1: IBM und die Shoah . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> 5 147 5.1 147 5.2 148 148 150 151 156 159 5.3 163 163 165 169 170 5.4 173 174 182 185 6 187 6.1 187 6.2 187 191 194 6.3 199 199 205 208 Die Kritische Tradition in der Analyse von Medien, Kommunikation, Wirtschaft und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Name des Ansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Geschichte des Ansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Sektion Politische Ökonomie der IAMCR . . . . . . . . . . . Publikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwestlichung und Dekolonisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitalismus, Patriarchat, Rassismus & die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien . . . . . . . . . Kapitalismus, Patriarchat, Rassismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien & die Cultural Studies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien & der Feminismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien & die Analyse des Rassismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Empfohlene Lektüre und Übungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . TEIL 2: ANWENDUNGEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Politische Ökonomie der Medienkonzentration . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strategien der Medienkonzentration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konzentrationsstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Walt Disney Corporation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ursachen und Auswirkungen der Medienkonzentration . . Ursachen der Medienkonzentration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auswirkungen der Medienkonzentration auf die Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Strukturwandel der Öffentlichkeit: Reiche kapitalistische Medien, arme Demokratie . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 7 <?page no="8"?> 6.4 210 212 212 213 216 217 6.5 219 220 222 225 227 7 229 7.1 229 7.2 230 234 238 7.3 242 244 248 253 7.4 255 255 257 259 7.5 260 261 262 7.6 264 264 265 266 267 269 Definition und Messung der Medienkonzentration . . . . . . Der C4-Koeffizient . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Herfindahl-Hirschman-Index . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Berechnung der Medienkonzentration: Der britische Pressemarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Berechnung der Medienkonzentration: Der deutsche Pressemarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Berechnung der Medienkonzentration: Suchmaschinen Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Empfohlene Lektüre und Übungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anhang 1: Lösung der Übung 6.2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anhang 2: Lösung der Übung 6.3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Politische Ökonomie der Werbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist Werbung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marx über Werbung im Kapitalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werbung und Täuschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entwicklung der Werbung im Kapitalismus . . . . . . . . . Die historische Entwicklung der Werbung im Kapitalismus Werbung und die Entwicklung des Kapitalismus . . . . . . . . Die Messung der Werbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dallas Smythe: Das Publikum als Ware . . . . . . . . . . . . . . . . Die politische Ökonomie der Werbung . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Einschaltquotenindustrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitalakkumulation in der Werbeindustrie . . . . . . . . . . . . Die Bewertung der Werbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kritische Positionen zur Werbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werbung als Ideologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diamanten sind der beste Freund des Kapitalismus… . . . . . Was ist Ideologie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Warenfetisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herman und Chomsky: Das Propaganda-Modell . . . . . . . . Branding (Markenbildung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt <?page no="9"?> 7.7 271 271 272 274 274 275 7.8 275 277 280 286 8 289 8.1 289 8.2 289 290 294 296 8.3 298 298 299 303 306 8.4 316 316 317 317 318 321 8.5 331 331 Die Hinterfragung von Werbung, Markenbildung und Warenkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verbraucherschutzbewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Protest: Das Beispiel von Adbusters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unternehmens-Watchdogs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Regulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nichtkommerzielle Alternativen zu werbefinanzierten Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Empfohlene Lektüre und Übungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anhang 7.1: Leitfaden zur Werbeanalyse: Ideologie in der Werbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Politische Ökonomie Globaler Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist die Globalisierung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Globalisierung und Kapitalakkumulation . . . . . . . . . . . . . . . Die Folgen der kapitalistischen Globalisierung . . . . . . . . . . Die Kommerzialisierung, Liberalisierung und Globalisierung der Telekommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . Globale Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Macht der Transnationalen Konzerne . . . . . . . . . . . . . . Der Transnationalitätsindex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Globale Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entwicklung der Weltwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kultur- und Medien-Imperialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kultur-Imperialismus und das amerikanische Imperium . . Kritik an der Theorie des Kultur- und Medien-Imperialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herbert Schiller: Transnationale kulturelle Herrschaft . . . Der Globale Kapitalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Medien und der globale Kapitalismus . . . . . . . . . . . . . . China, globaler Kapitalismus und Kulturimperialismus . . . China und der Westen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 9 <?page no="10"?> 8.6 340 341 344 9 347 9.1 347 9.2 348 348 349 354 356 359 363 9.3 365 365 9.4 371 371 381 9.5 382 382 9.6 392 393 396 10 399 10.1 399 10.2 400 400 401 407 410 10.3 411 411 Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Empfohlene Lektüre und Übungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medienarbeit: Die Politische Ökonomie der Kulturellen Arbeit und der Arbeit in der Medienindustrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist Arbeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist Kultur? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist Werktätigkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Verwertungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirtschaftliche Entfremdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Arbeiterklasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Analyse der Arbeitsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist Kulturelle Arbeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kulturelle Arbeit und Kulturwaren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeit in der Kulturindustrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prekäre Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kulturgenossenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeit und die COVID-19-Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Raum-zeitliche Aspekte der Veränderungen der Arbeit im Kontext von COVID-19 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Empfohlene Lektüre und Übungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Politische Ökonomie des Internets und der Digitalen Medien Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Politische Ökonomie der Sozialen Medien . . . . . . . . . . Zielgerichtete Werbung und die Politik der Internetplattformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Google und zielgerichtete Werbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Unterschiede zwischen klassischer und digitaler, zielgerichteter Werbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internet-Ideologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Digitale Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die internationale Teilung der digitalen Arbeit . . . . . . . . . . 10 Inhalt <?page no="11"?> 414 416 10.4 421 422 423 10.5 425 10.6 427 428 431 11 435 11.1 435 11.2 436 436 438 439 11.3 440 440 440 11.4 442 442 445 446 449 451 455 456 459 459 463 Digitale Waren und digitale Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die politische Ökonomie des Apple-iPhone: Die Ausbeutung von Arbeitskräften bei Foxconn . . . . . . . . . . . Digitale Überwachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internet-Überwachung in China . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Facebook und der Cambridge Analytica-Skandal . . . . . . . . Auf dem Weg zu einer Alternativen Politischen Ökonomie des Internets . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Empfohlene Lektüre und Übungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Politische Ökonomie der Informationsgesellschaft und des Digitalen Kapitalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theorien der Informationsgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . Fritz Machlups Theorie der Informationsgesellschaft . . . . . Daniel Bells Theorie der Informationsgesellschaft . . . . . . . Manuel Castells‘ Theorie der Informationsgesellschaft . . . Skepsis und Kritik an Theorien der Informationsgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ist die Informationsgesellschaft eine neue Gesellschaft? . . Kritik an der Theorie der Informationsgesellschaft . . . . . . Kapitalismus oder Informationsgesellschaft? . . . . . . . . . . . . Was ist der Kapitalismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Informationskapitalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine Typologie von Theorien der Informationsgesellschaft Kapitalismus oder Informationsgesellschaft? . . . . . . . . . . . . Manuel Castells: Der informationelle Kapitalismus . . . . . . Radovan Richtas Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entwicklung der landwirtschaftlichen, industriellen und informationellen Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie Theoretiker: innen der Informationsgesellschaft auf ihre Kritiker: innen reagieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der kognitive Kapitalismus in der Gesellschaft der Singularitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der kognitive Kapitalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 11 <?page no="12"?> 465 467 11.5 471 472 475 12 479 12.1 479 12.2 479 479 483 12.3 496 12.4 501 502 507 13 509 13.1 509 13.2 510 510 511 513 517 519 519 521 13.3 527 528 13.4 535 536 539 Datenkapitalismus, Plattform-Kapitalismus, Überwachungskapitalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der digitale Kapitalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Empfohlene Lektüre und Übungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Politische Ökonomie der Öffentlichkeit und der Digitalen Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Politische Ökonomie der Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . Jürgen Habermas’ Strukturwandel der Öffentlichkeit . . . . Slavko Splichal: Öffentlichkeit und Öffentliche Sphäre . . . Die Digitale Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Empfohlene Lektüre und Übungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Politische Ökonomie Öffentlich-Rechtlicher Medien und des Öffentlich-Rechtlichen Internets . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Öffentlich-Rechtliche Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Medien und die Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vier politische Ökonomien der Medien . . . . . . . . . . . . . . . . Definitionen der öffentlich-rechtlichen Medien . . . . . . . . . Ein Modell öffentlich-rechtlicher Medien . . . . . . . . . . . . . . . Öffentlich-rechtliche Medien und Entwicklungsländer . . . British Broadcasting Corporation (BBC) . . . . . . . . . . . . . . . Öffentlich-rechtliche Medien in Deutschland . . . . . . . . . . . Das Öffentlich-Rechtliche Internet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Manifest für Öffentlich-Rechtliche Medien und ein Öffentlich-Rechtliches Internet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Empfohlene Lektüre und Übungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Inhalt <?page no="13"?> 14 543 14.1 543 14.2 543 543 548 551 553 14.3 555 14.4 559 559 563 14.5 569 569 572 14.6 574 576 579 582 584 Die Politische Ökonomie des Medienmanagements . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist Management? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entstehung des Managements als Teil der Arbeitsteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Management und Manager: in: Etymologie und Definition CEOs in transnationalen Digitalkonzernen . . . . . . . . . . . . . Die selbstverwalteten Betriebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist Medienmanagement? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fordistisch-tayloristisches und postfordistisches Management . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fordismus und Taylorismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das postfordistische Management . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Management von Kultur, Medien und Kreativität . . . . Kreativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kultur- und Medienmanagement als Destruktivkraft: Vom Management zur Selbstverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Empfohlene Lektüre und Übungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 13 <?page no="15"?> Link / www Checkliste Ziele 1 Einleitung Was Sie in diesem Kapitel lernen werden: Sie erhalten einen Überblick über den Inhalt dieses Buches und eine Übersicht über die einzelnen Kapitel. 1.1 Forschungstraditionen in der Medien- und Kommunikationswissenschaft Dieses Buch ist eine Einführung in die kritische Untersuchung der Rolle von Medien und Kommunikation in Wirtschaft und Gesellschaft. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie die Beziehungen zwischen Medien, Kommunikation, Wirtschaft und Gesellschaft kritisch theoretisiert und analysiert werden können. Es gibt verschiedene Wege, Ansätze und Traditionen, dies zu tun. Die Tradition und der Ansatz, die in diesem Buch vorgestellt werden, sind auch als kritische Forschungstradition bekannt. Sie unterscheidet sich von anderen Forschungstraditionen. Die Lasswell-Formel: Ein traditioneller Forschungsansatz Die Medien- und Kommunikationswissenschaft ist ein akademisches For‐ schungsgebiet, das untersucht, wie Menschen in der Gesellschaft kommu‐ nizieren und Medien nutzen. Ein weit verbreitetes Verständnis der Aufgaben der Medien- und Kommunikationswissenschaft ist die Lasswell-Formel, die von Harold Lasswell (1948) aufgestellt wurde: Wer sagt was über welchen Kanal zu wem mit welchem Effekt? Abbildung 1.1. veranschaulicht die Lasswell-Formel und die darin definierten Dimensionen der Medien- und Kommunikationswissenschaft. <?page no="16"?> WER SAGT WAS ÜBER WELCHEN KANAL ZU WEM MIT WELCHEM EFFEKT SENDER NACHRICHT MEDIUM EMPFÄNGER EFFEKT Kommunikatorforschung Inhaltsanalyse Medienanalyse Mediennutzungsforschung Medienwirkungsforschung Abbildung 1.1: Die Lasswell-Formel Lassen Sie uns ein Beispiel betrachten. Wir wollen eine Untersuchung über Apple und das iPhone durchführen. Geleitet von der Lasswell-Formel könnten wir also Forschungsfragen wie die folgenden stellen: ● Wer ist der/ die typische iPhone-Nutzer: in? ● Für welche Zwecke nutzen die Menschen das iPhone? Wie oft nutzen sie bestimmte Apps? ● Wie oft nutzen sie das iPhone im Vergleich zu anderen Medien? ● Mit wem kommuniziert der/ die iPhone-Nutzer: in normalerweise? Und wie oft? ● Welche Auswirkungen hat die Nutzung des iPhones auf den Alltag der Nutzer: innen? Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien (PÖKM) ist ein Ansatz und eine Tradition der Analyse von Medien und Kommunikation in der Gesellschaft. Sie ist ein Teilbereich der Medien- und Kommunikations‐ wissenschaft, der die Lasswell-Formel und Forschungsfragen wie die eben formulierten als unzureichend ansieht. Die PÖKM gehört zu dem, was Paul Lazarsfeld (1941) als kritische Kommunikationsforschung in Abgrenzung zur traditionellen Kommunikationsforschung und Max Horkheimer (1937) als kritische Theorie in Abgrenzung zur traditionellen Theorie charakteri‐ siert (siehe auch Smythe & Van Dinh 1983). Die PÖKM stellt Fragen zu Klasse, Machtstrukturen, Ethik, Gesellschaft, Kapitalismus, Herrschaft und Ideologie, die in der traditionellen Kommu‐ nikationsforschung fehlen. Sie bedient sich der Gesellschaftstheorie, der empirischen Sozialforschung und der Moralphilosophie, um Medien und Kommunikation im Kontext der Interaktion von Wirtschaft und Politik zu analysieren. Kritische Forschung untersucht Machtstrukturen, Ungleichhei‐ 16 1 Einleitung <?page no="17"?> ten und Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft. Die PÖKM ist eine besondere Form der kritischen Forschung, da sie sich auf Medien und Kommunika‐ tion im Kontext der Gesellschaft konzentriert und den wirtschaftlichen Strukturen und ihrer Interaktion mit der Politik und der Gesellschaft im Allgemeinen besondere Aufmerksamkeit schenkt. Das bedeutet, dass die PÖKM besonders an der Analyse der Interaktion von Kommunikation, Klasse und Kapitalismus interessiert ist. In Bezug auf das iPhone und Apple stellt die PÖKM zum Beispiel For‐ schungsfragen wie die folgenden: ● Wer sind die Eigentümer von transnationalen Kommunikationsunter‐ nehmen wie Apple? ● Welche Waren verkauft Apple? Wie haben sich die Profite und die Kapitalakkumulationsstrategien des Unternehmens entwickelt? ● Wie konzentriert sind die Eigentumsverhältnisse auf dem Mobiltele‐ fonmarkt, auf dem Apple tätig ist? Welche Auswirkungen hat ein konzentrierter Mobiltelefonmarkt auf die Gesellschaft? ● Wie präsentiert sich Apple in der Werbung? Was sind die Probleme dieser Werbung für die Gesellschaft? Welche Ideologien (Sexismus, Stereotypisierung, Rassismus, Neoliberalismus usw.) finden sich im Zusammenhang mit Apple und der iPhone-Werbung und was sind ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft? ● Wie agieren transnationale Medienkonzerne wie Apple im globalen Kapitalismus? Wer profitiert von diesem System der Globalisierung und wer hat Nachteile? ● Wer produziert das iPhone unter welchen Arbeitsbedingungen? Welche Rolle spielen dabei die Klassen? Wie interagiert Klasse mit Geschlecht und Rassismus im Kontext von Apple? ● Mit welchen gesellschaftlichen Problemen, zu denen Apple beiträgt, ist die Gesellschaft konfrontiert? Welche Rolle spielt Apple im Zusammen‐ hang mit diesen gesellschaftlichen Problemen? 1.2 Über dieses Buch In meiner eigenen Lehre zur Politischen Ökonomie der Kommunikation und der Medien (PÖKM) habe ich einen spezifischen Ansatz entwickelt, den ich in diesem Buch dokumentieren und vorstellen möchte. Der Ansatz konzen‐ 1.2 Über dieses Buch 17 <?page no="18"?> triert sich auf bestimmte Themen, die jeweils ein Kapitel in diesem Buch bzw. eine oder mehrere Unterrichtseinheit(en) einer Lehrveranstaltung bilden. Jedes Kapitel konzentriert sich auf ein bestimmtes Kommunikationsthema, das für die Gesellschaft von Bedeutung ist. Die Kapitel beschäftigen sich mit den folgenden Themen: ● Kapitel 2: Was ist Politische Ökonomie? ● Kapitel 3: Was ist die Medienökonomie? ● Kapitel 4: Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien ● Kapitel 5: Die Kritische Tradition in der Analyse von Medien, Kommu‐ nikation, Wirtschaft und Gesellschaft ● Kapitel 6: Die Politische Ökonomie der Medienkonzentration ● Kapitel 7: Die Politische Ökonomie der Werbung ● Kapitel 8: Die Politische Ökonomie Globaler Medien ● Kapitel 9: Die Politische Ökonomie der Kulturellen Arbeit ● Kapitel 10: Die Politische Ökonomie des Internets und der Digitalen Medien ● Kapitel 11: Die Politische Ökonomie der Informationsgesellschaft und des Digitalen Kapitalismus ● Kapitel 12: Die Politische Ökonomie der Öffentlichkeit und der Digitalen Öffentlichkeit ● Kapitel 13: Die Politische Ökonomie Öffentlich-Rechtlicher Medien und des Öffentlich-Rechtlichen Internets ● Kapitel 14: Die Politische Ökonomie des Medienmanagements Das Buch besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil (Grundlagen) behandelt die Grundlagen der kritischen Analyse des Verhältnisses von Medien, Kommunikation, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Kapitel 2-5 gehören zu Teil 1. Teil 2 ist auf Anwendungen ausgerichtet. Der „Anwendungs“-Teil des Buches enthält die Kapitel 6-14. Er wendet die kritischen Grundlagen auf konkrete Medienphänomene an, darunter Medienkonzentration, Werbung, globale Medien, kulturelle Arbeit, das Internet, die Informationsgesellschaft, den digitalen Kapitalismus, die Öffentlichkeit, öffentlich-rechtliche Medien, das öffentlich-rechtliche Internet und Medienmanagement. Jedes Kapitel stellt eine oder mehrere grundlegende Fragen, die wir beantworten müssen, um zu verstehen, wie Medien und Kommunikation in der kapitalistischen Gesellschaft und darüber hinaus funktionieren. Die folgenden Fragen werden in diesem Buch behandelt: 18 1 Einleitung <?page no="19"?> ● Kapitel 2: Was ist die Politische Ökonomie? ● Kapitel 3: Was ist die Medienökonomie? ● Kapitel 4: Was ist die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien (PÖKM)? ● Kapitel 5: Was sind die Merkmale der kritischen Erforschung des Zusam‐ menhangs von Medien, Kommunikation, Wirtschaft und Gesellschaft? ● Kapitel 6: Wie funktioniert die politische Ökonomie der Medienkon‐ zentration? Was sind die Ursachen, Auswirkungen und Probleme der Medienkonzentration? ● Kapitel 7: Was ist die Rolle der Werbung im Kapitalismus? Was sind die Probleme der Werbung für die Gesellschaft? ● Kapitel 8: Wie funktionieren transnationale Medienkonzerne und wel‐ che Rolle spielen sie im Kapitalismus? ● Kapitel 9: Wie sehen die Klassenverhältnisse und Arbeitsbedingungen in der kapitalistischen Medien- und Kommunikationsindustrie aus? ● Kapitel 10: Wie sieht die politische Ökonomie des Internets und der digitalen Medien aus? ● Kapitel 11: In welcher Art von Gesellschaft leben wir? Leben wir in einer Informationsgesellschaft oder in einer kapitalistischen Gesellschaft? Was ist der digitale Kapitalismus? ● Kapitel 12: Wie funktioniert die politische Ökonomie der Öffentlichkeit und der digitalen Öffentlichkeit? ● Kapitel 13: Wie sieht die politische Ökonomie der öffentlich-rechtlichen Medien und des öffentlich-rechtlichen Internets aus? ● Kapitel 14: Was ist Medienmanagement und wie sieht seine politische Ökonomie aus? Jedes Kapitel enthält empfohlene Lektüre sowie Übungen, die ich selbst im Unterricht eingesetzt habe und die daher in der Praxis erprobt worden sind. Es gibt zwei weitere Lehrbücher über die Politische Ökonomie der Kom‐ munikation und der Medien, nämlich das Buch von Vincent Mosco (2009) The Political Economy of Communication und Jonathan Hardys (2014) Critical Political Economy of the Media: An Introduction. Ich habe beide Bücher zusammen mit anderen Büchern, Kapiteln und Aufsätzen als Materialien in meiner Lehre verwendet. Es gibt nie das eine perfekte Lehrbuch, daher ist es wichtig, dass für die Institutionalisierung eines bestimmten Feldes eine Reihe von Lehrbüchern entwickelt wird. Ich sehe mein Buch daher nicht als Konkurrenz zu den 1.2 Über dieses Buch 19 <?page no="20"?> Lehrbüchern von Mosco und Hardy, sondern als Ergänzung, die es Lehren‐ den, Studierenden und Forscher: innen ermöglicht, auf eine breite Palette von Materialien zuzugreifen, die sie im Lern- und Forschungsprozess nutzen können. Literatur Hardy, Jonathan. 2014. Critical Political Economy of the Media: An Introduction. Abingdon: Routledge. Horkheimer, Max. 1937. Traditionelle und kritische Theorie. Zeitschrift für Sozial‐ forschung 6 (2): 245-294. Lasswell, Harold. 1948. The Structure and Function of Communication in Society. In The Communication of Ideas, hrsg. von Lyman Bryson, 32-51. New York: Harper & Row. Lazarsfeld, Paul F. 1941. Remarks on Administrative and Critical Communications Research. Studies in Philosophy and Social Science (Zeitschrift für Sozialfor‐ schung) 9 (1): 2-16. Mosco, Vincent. 2009. The Political Economy of Communication. London: SAGE. Second edition. Smythe, Dallas W. & Tran Van Dinh. 1983. On Critical and Administrative Research: A New Critical Analysis. Journal of Communication 33 (3): 117-127. DOI: https: / / doi.org/ 10.1177/ 0896920513501351 20 1 Einleitung <?page no="21"?> TEIL I: GRUNDLAGEN <?page no="23"?> Aufgabe Merke Frage Literatur Wissen Zusatz Link / www Checkliste Ziele ICON SET 5 2 Was ist Politische Ökonomie? Was Sie in diesem Kapitel lernen werden: Sie werden ein Verständnis der Grundlagen der Politischen Ökonomie erlangen. Sie werden über die Unterschiede zwischen den verschiedenen Ansät‐ zen der Politischen Ökonomie lesen: Klassische Politische Ökonomie, Kritik der Politischen Ökonomie, Neoklassische Politische Ökonomie und Keynesianische Politische Ökonomie. Sie werden weitere Ansätze kennenlernen, nämlich die Feministische Politische Ökonomie, die Politische Ökonomie des Rassismus und die Politische Ökonomie der Umwelt (Politische Ökologie). 2.1 Einleitung Dieses Kapitel beschäftigt sich mit der Frage, wie die Wirtschaft theoretisch analysiert werden kann. In diesem Kontext sind die Begriffe der Wirtschafts‐ theorie, der Denkschulen der Wirtschaftswissenschaft, der Politischen Öko‐ nomie und der Volkswirtschaftstheorie von Bedeutung. Das Kapitel stellt die Frage: Was ist Politische Ökonomie? Politik und Ökonomie sind zwei Bereiche der Gesellschaft. Traditionell werden sie oft getrennt analysiert, was sich in der Existenz der beiden separaten Wissenschaftsdisziplinen der Wirtschaftswissenschaft und der Politikwissenschaft äußert. Die Wirtschaft wird aber heute vom Staat durch Gesetze reguliert. In der heutigen Wirtschaft gibt es auch oft Interessen‐ sgegensätze, die sich in der Form von organisierten Interessensvertretungs‐ organisationen wie Gewerkschaften und Unternehemsverbänden und öf‐ fentlichen Diskussionen über Reichtumsverteilung und sozio-ökonomische (Un-)Gerechtigkeit äußern. Der Begriff der Politischen Ökonomie betont die Verkopplung von Wirtschaft und Politik. Abschnitt 2.2 befasst sich mit Definitionen der Politischen Ökonomie. In Abschnitt 2.3 werden vier Ansätze der Politischen Ökonomie vorgestellt. Abschnitt 2.4 erörtert einige weitere Ansätze. In Abschnitt 2.5 werden Schlussfolgerungen gezogen. <?page no="24"?> 2.2 Definitionen der Politischen Ökonomie ÜBUNG 2.1: Brainstorming Schreiben Sie bis zu drei Stichworte auf, die Sie mit dem Begriff „Politik“ assoziieren. Schreiben Sie anschließend drei Stichworte auf, die Sie mit dem Begriff „Wirtschaft“ assoziieren. Diskutieren Sie anschließend in der Klasse/ Gruppe oder denken Sie einzeln darüber nach, welche Zusammenhänge und Beziehungen es zwischen Politik und Wirtschaft gibt. Versuchen Sie, Beispiele zu finden, die zeigen, wie Politik und Wirtschaft miteinander verbunden sind. Die größten digitalen Unternehmen der Welt sind wegen vielerlei Dingen in die Kritik geraten, darunter Steuervermeidung und die Verletzung der Privatsphäre ihrer Nutzer: innen. Die Europäische Union hat darauf mit einer Verschärfung des Datenschutzes durch die Datenschutzverordnung, mit Plänen für eine Steuer auf digitale Dienstleistungen, die die digitalen Giganten betreffen, und mit Anti-Monopolmaßnahmen in Form des Geset‐ zes über digitale Märkte (Digital Markets Act) reagiert. Das Politische ist ökonomisch: Das bedeutet, dass die Politik die Wirtschaft in der Form von Strategien und Gesetzen reguliert. Staaten sind der Gefahr ausgesetzt, dass Unternehmen ihre Aktivitäten in andere Länder auslagern. Sie sind mit den verschiedenen Interessen von Unternehmen, Bürger: innen, Zivilgesell‐ schaft, Verbänden usw. konfrontiert. Aus einem Bericht geht hervor, dass Technologiekonzerne jährlich rund 100 Millionen Euro für Lobbyarbeit bei der EU im Bereich der Digitalpolitik ausgeben (Corporate Europe Observatory und Lobby Control 2021, 6). Gemessen am jährlich investierten Geld sind Google, Facebook und Microsoft die größten Lobbyisten in Brüssel, größer als beispielsweise das Pharmaunternehmen Bayer und der Ölkonzern Shell (Corporate Europe Observatory and Lobby Control 2021, 11). Facebook bezahlte das Gehalt von 14 Lobbyisten, die sich mit EU-Angelegenheiten befassen, Google 5 (Corporate Europe Observatory and Lobby Control 2021, 15). Die Ökono‐ mie ist politisch: Unternehmen versuchen, die Gesetzgebung in ihrem Sinne zu beeinflussen. Konzerne sind nicht nur Wirtschaftsunternehmen, 24 2 Was ist Politische Ökonomie? <?page no="25"?> sondern auch politische Akteure, die versuchen, die Gesetzgebung ihren wirtschaftlichen Interessen gemäß zu beeinflussen. Große Unternehmen investieren dazu in Lobbying. Die Politische Ökonomie befasst sich sowohl mit der wirtschaftlichen Di‐ mension der Politik als auch mit der politischen Dimension der Wirtschaft. Sie analysiert die Wirtschaft, die Politik und die Wechselwirkungen und Verzahnungen zwischen diesen Bereichen. Politische Ökonomie ist zum einen ein spezifischer Aspekt der Gesell‐ schaft. Andererseits ist sie auch der Name einer akademischen Analyset‐ radition. Im Mittelpunkt ihrer Analyse steht die Schnittstelle zwischen Wirtschaft und Politik. Um eine Antwort auf die Frage zu finden, was Politische Ökonomie ist, müssen wir verstehen, was Politik und Wirtschaft sind. Politik und Ökonomie B A C BC AC AB ABC A: Öffentlichkeit B: Regierung C: Entscheidungsmacht Nichtpolitische Öffentlichkeit Nichtpolitische Entscheidungsmacht Nichtpolitische Aspekte der Regierung Abbildung 2.1: Konzeptionen von Politik, basierend auf Caporaso und Levine (1992, 20) Abbildung 2.1 zeigt das Modell der Politikkonzepte von Caporaso und Levine. Sie argumentieren, dass Konzepte des Politischen mit Öffentlichkeit (A) und/ oder Regierung (B) und/ oder Entscheidungsmacht (C) zu tun haben. Die Öffentlichkeit umfasst alle Menschen in einer Gesellschaft. „»Öffent‐ lich« nennen wir Veranstaltungen, wenn sie, im Gegensatz zu geschlossenen Gesellschaften, allen zugänglich sind - so wie wir von öffentlichen Plätzen sprechen oder von öffentlichen Häusern“ (Habermas 1990, 54). Eine Regie‐ 2.2 Definitionen der Politischen Ökonomie 25 <?page no="26"?> rung ist ein System, in dem Menschen die Macht haben, Entscheidungen zu treffen, die für alle Mitglieder der Öffentlichkeit kollektiv verbindlich sind. Entscheidungsmacht ist der Prozess und die Fähigkeit, Einfluss zu nehmen und kollektive Entscheidungen zu treffen, die für alle Mitglieder der Gesellschaft gelten. Aus der Kombination dieser Kategorien ergeben sich unterschiedliche Auffassungen von Politik. Politik als Öffentlichkeit umfasst beispielsweise alle Individuen in einer Gesellschaft und ihre Notwendigkeit, kollektive Entscheidungen zu treffen. Caporaso und Levine plädieren dafür, Politik als Schnittmenge aller drei Kategorien zu verstehen (ABC). „Politics refers to the activities and institutions that relate to the making of authorative public decisions for society as a whole” (Caporaso & Levine 1992, 20). In der Politik geht es um die Bürger: innen, die die Öffentlichkeit (A: Öffentlichkeit) bilden und eine Regierung (B: Regierung) hervorbringen, die kollektiv verbindliche Entscheidungen (C: Entscheidungsmacht) - Gesetze und Regeln - trifft, die für die Öffentlichkeit gelten. Die Politische Ökonomie ist nicht nur eine Analyse der Politik, sondern auch der Ökonomie. Caporaso und Levine (1992, 31) skizzieren drei Auffas‐ sungen der Ökonomie: 1. die Ökonomie als Versorgung, d. h. die Produktion und Befriedigung von menschlichen Bedürfnissen und Wünschen durch produzierte Güter; 2. die Wirtschaft als eine „wirtschaftliche“ (sparsame, effektive, effiziente) Organisation, die ein wirtschaftliches Kalkül beinhaltet, wie man Zu‐ gang zu knappen Ressourcen erhält, wie man effizient arbeitet und den Arbeitsaufwand minimiert; 3. die Ökonomie als Wirtschaftssystem, Marktinstitutionen und Tausch‐ wirtschaft. Die Ökonomie ist der Bereich, in dem Menschen arbeiten und Güter und Dienstleistungen produzieren, die ihre Bedürfnisse befriedigen und die ver‐ teilt und konsumiert werden. Die Produktion ist einerseits ein spezifischer Aspekt der Ökonomie, in der Menschen Güter herstellen. Gleichzeitig ist das Ökonomische in allen anderen sozialen Systemen und Bereichen der Gesellschaft zu finden, denn Menschen sind sozial und gesellschaftlich pro‐ duzierende Wesen. Sie produzieren Güter, Entscheidungen, Weltanschau‐ ungen, Information, Bedeutungen, usw. Die soziale und gesellschaftliche Produktion kann daher als Grundlage der Gesellschaft angesehen werden 26 2 Was ist Politische Ökonomie? <?page no="27"?> (Fuchs 2020, Kapitel 2 & 3). Kommunikation und Produktion stehen in einem dialektischen Verhältnis. Die Politik befasst sich mit kollektiven Entscheidungen. In der Ökonomie geht es um die Produktion, die Distribution (Verteilung) und den Konsum von Gütern. Die Politische Ökonomie konzentriert sich auf die Analyse der Überschneidung, Interaktionen und Verzahnungen von Ökonomie und Politik. Sie analysiert die Produktion, die Distribution und den Konsum von Gütern und wie politische Interessen, Konflikte, Entscheidungen und Institutionen die Ökonomie beeinflussen und von der Ökonomie beeinflusst werden. Grundlagen der Politischen Ökonomie Der Begriff „Wirtschaft“/ „Ökonomie“ stammt vom griechischen Wort oikos ab, das die Verwaltung des Haushalts bezeichnet (Gibson-Graham 2005; Mosco 2009, 23). „Political economy referred to the management of the eco‐ nomic affairs of the state. […] In its earliest period, political economy sought to advise the statesman on how he could best manage the economic affairs of the state so that the wants of the citizens would be met. The emergence of political economy brought with it a debate over the responsibilities of the state (or statesman) with regard to the economy. […] Should, for example, housing, medical care, education, welfare be provided by private citizens using the resources they have available to them? Or should they be provided by the state? “ (Caporaso & Levine 1992, 1). Die Politische Ökonomie als Analysefeld hat ihren Ursprung in der Analyse und Beratung darüber, wie der Staat die Ökonomie managen sollte. - Ibn Khaldûn Die Politische Ökonomie wird oft als ein Fachgebiet dargestellt, das rein eu‐ ropäische Ursprünge hat. Frühe Beiträge kamen von Antoine de Montchré‐ tien in Frankreich, der 1615 Traité de L’Economie Politique veröffentlichte, und William Petty, der in England 1690 Political Arithmetick publizierte. Karl Marx weist darauf hin, dass unter Politischer Ökonomie all jene Ökonom: in‐ nen und ihre Theorien und Studien zu verstehen sind, die die kapitalistischen Produktionsverhältnisse analysieren: „Um es ein für allemal zu bemerken, verstehe ich unter klassischer politischer Ökonomie alle Ökonomie seit W. Petty, die den innern Zusammenhang der bürgerlichen Produktionsverhält‐ 2.2 Definitionen der Politischen Ökonomie 27 <?page no="28"?> nisse erforscht” (Marx 1867, 95: Fußnote 32). Die Politische Ökonomie hat nicht nur europäische Wurzeln: Ibn Khaldûn (1332-1406) war ein Philosoph, Historiker und Soziologe. Er wurde in Tunis, das zur Ifriqiya (heute Tunesien und Teile von Libyen und Algerien) gehörte, geboren und lebte dort. Die Ifriqiya wurde von der Dynastie der Hafsiden regiert. Khaldûn gilt als einer der Begründer der „Ökonomie, Anthropologie, Politikwissenschaft und his‐ torischen Geografie“ (Deen 2010, 157) und „einer der großen Begründer der modernen Sozialwissenschaften“ (Santos 2017, 279). Seine „Fortschritte in Richtung eines wissenschaftlichen Nachdenkens über die Gesellschaft sind beispiellos vor ihm und unübertroffen bis ins achtzehnte und neunzehnte Jahrhundert“ (Amin 2009, 133). Die 1377 verfasste Muqaddima („Einleitung“, „Prolegomena“) ist das Hauptwerk von Khaldûn (2011). Das Buch ist ein grundlegendes Werk der Politischen Ökonomie. - Definitionen der Politischen Ökonomie James Steuart (1712-1780) war ein schottischer Aristokrat und der Autor von An Inquiry Into the Principles of Political Economy, einem Buch, das von einigen als das erste in englischer Sprache veröffentlichte Wirtschaftsbuch angesehen wird. Steuart charakterisiert die Politische Ökonomie wie folgt: „What oeconomy is in a family, political oeconomy is in a state, […] The principal object of this science is to secure a certain fund of subsistence for all the inhabitants, to obviate every circumstance which may render it precarious; to provide every thing necessary for supplying the wants of the society, and to employ the inhabitants (supposing them to be free-men) in such a manner as naturally to create reciprocal relations and dependencies between them, so as to make their several interests lead them to supply one another with their reciprocal wants. […] In order to communicate an adequate idea of what I understand by political oeconomy, I have explained the term, by pointing out the object of the art; which is, to provide food, other necessaries, and employment to every one of the society” (Steuart 1767, 2-3, 15). Steuart definiert Politische Ökonomie als die Untersuchung dessen, was in einer Gesellschaft getan werden muss und wie die Gesellschaft zu organisieren ist, um die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Adam Smith (1723-1790) war ein schottischer Philosoph und Wirtschafts‐ wissenschaftler. Seine beiden Hauptwerke sind The Theory of Moral Senti‐ ments (Theorie der ethischen Gefühle) und An Inquiry into the Nature and 28 2 Was ist Politische Ökonomie? <?page no="29"?> Causes of the Wealth of Nations (Der Wohlstand der Nationen: Eine Unter‐ suchung seiner Natur und seiner Ursachen). Smith definiert die Politische Ökonomie als eine Wissenschaft, die untersucht, wie die Subsistenzgüter der Gesellschaft produziert werden sollen und wie öffentliche Dienste finanziert werden können: „Die Politische Ökonomie verfolgt als Zweig der Wissenschaft, die eine Lehre für den Staatsmann und Gesetzgeber entwickeln will, zwei unterschiedliche Ziele. Einmal untersucht sie, wie ein reichliches Einkommen zu erzielen oder der Lebensuntrhalt für die Bevölkerung zu verbessern ist, zutreffender, wodurch der einzelne in die Lage versetzt werden kann, beides für sich selbst zu beschaffen, und ferner erklärt sie, wie der Staat oder das Gemeinwesen Einnahmen erhalten können, mit deren Hilfe sie öffentliche Aufgaben durchführen. Die Politische Ökonomie beschäftigt sich also mit der Frage, wie man Wohlstand und Reichtum des Volkes und des Staates erhöhen kann“ (Smith 1776/ 2001, 347). James Mill (1773-1836) war ein schottischer Historiker und Wirtschaftswis‐ senschaftler, der von dem Ökonomen David Ricardo beeinflusst wurde. Mill vertritt die Auffassung, dass die Analyse der politischen Ökonomie vier Dimensionen umfasst: „It thus appears, that four inquiries are comprehended in this science. 1st. What are the laws, which regulate the production of commodities: 2dly. What are the laws according to which the commodities, produced by the labour of the community, are distributed: 3dly. What are the laws according to which commodities are exchanged for one another: 4thly. What are the laws which regulate consumption” (Mill 1824, 4). Für James Mill ist also die Analyse der Produktion, der Distribution, der Aus‐ tausch und der Konsum von Waren die Aufgaber der Politischen Ökonomie. Der Wirtschaftswissenschaftler, Philosoph und Abgeordnete der Liberalen Partei im britischen Parlament John Stuart Mill, der älteste Sohn von James Mill, definierte den Begriff der Politischen Ökonomie wie folgt: „Political Economy informs us of the laws which regulate the production, distribution, and consumption of wealth“ (Mill 1844, 72). Sein Verständnis der Politischen Ökonomie ist also dem seines Vaters sehr ähnlich. John Stuart Mill und James Mill vertreten die Auffassung, dass die Politi‐ sche Ökonomie die Produktion, die Verteilung und den Konsum von Gütern analysiert. David Ricardo (1772-1823) war ein englischer Wirtschaftswissen‐ 2.2 Definitionen der Politischen Ökonomie 29 <?page no="30"?> schaftler und Whig-Abgeordneter im britischen Parlament. Sein bekanntes‐ tes Buch ist On the Principles of Political Economy and Taxation (Über die Grundsätze der Politischen Ökonomie und der Besteuerung). Während Steuart, Smith, James Mill und John Stuart Mill allgemeine Definitionen der Politischen Ökonomie gegeben haben, denen gemeinsam ist, dass die Politische Ökonomie analysiert, was die Gesellschaft tun muss, um Güter zu produzieren und zu verteilen, die die Wünsche und Bedürfnisse der Menschen befriedigen, was für jede Gesellschaft gilt, beschränkt Ricardo die Politische Ökonomie auf die Analyse des Kapitalismus: „Die Produkte der Erde - alles, was von ihrer Oberfläche durch die vereinte Anwendung von Arbeit, Maschinerie und Kapital gewonnen wird - werden unter drei Klassen der Gesellschaft verteilt, nämlich die Eigentümer des Bodens, die Eigentümer des Vermögens oder des Kapitals, as zu seiner Bebauung notwendig ist und die Arbeiter, durch deren Tätigkeit er bebaut wird. Die Anteile am Gesamtprodukt der Erde, die unter den Mane Rente, Profit und Lohn jeder dieser Klassen zufallen, werden jedoch in den verschiedenen Entwick‐ lungsstufen der Gesellschaft sehr unterschiedlich sein, da sie hauptsächlich von der jeweiligen Fruchtbarkeit des Bodens, von der Akkumulation des Kapitals und der Vermehrung der Bevölkerung und von der Fertigkeit, Erfindungsgabe und den Geräten abhängen, die in der Landwirtschaft angewendet werden. Das Hauptproblem der Politischen Ökonomie besteht im Auffinden der Gesetze, welche diese Verteilung bestimmen“ (Ricardo 1824/ 2006, 1). Ricardo argumentiert, dass die Politische Ökonomie verstehen will, wie Arbeit, Maschinen und Kapital eingesetzt werden, um Rente, Profit und Lohn zu produzieren. Er sagt damit, dass die Politische Ökonomie die Analyse des Kapitalismus ist. Im dritten Band des Marx‘schen Kapitals findet sich ein Kapitel über „Die trinitarische Formel“, in dem Marx Ricardos Verständnis der Politischen Ökonomie aufgreift und reflektiert. „In der kapitalistischen Gesellschaft verteilt sich dieser Mehrwert oder dies Mehrprodukt - wenn wir von den zufälligen Schwankungen der Verteilung absehn und ihr regelndes Gesetz, ihre normierenden Grenzen betrachten - unter den Kapitalisten als Dividende im Verhältnis zu der Quote, die jedem vom gesellschaftlichen Kapital gehört. […] Das Kapital pumpt die Mehrarbeit, die sich im Mehrwert und Mehrprodukt darstellt, direkt aus den Arbeitern aus. Es kann also in diesem Sinn als Produzent des Mehrwerts betrachtet werden. Das Grundeigentum hat mit dem wirklichen Produktionsprozess nichts zu schaffen. 30 2 Was ist Politische Ökonomie? <?page no="31"?> Seine Rolle beschränkt sich darauf, einen Teil des produzierten Mehrwerts aus der Tasche des Kapitals in seine eigne hinüberzuführen. […] Der Arbeiter endlich, als Eigentümer und Verkäufer seiner persönlichen Arbeitskraft, erhält unter dem Namen Arbeitslohn einen Teil des Produkts, worin sich der Teil seiner Arbeit darstellt, den wir notwendige Arbeit nennen, d. h. die zur Erhaltung und Reproduktion dieser Arbeitskraft notwendige Arbeit, seien die Bedingungen dieser Erhaltung und Reproduktion nun ärmlicher oder reicher, günstiger oder ungünstiger. […] So disparat diese Verhältnisse nun sonst erscheinen mögen, sie haben alle eins gemein: Das Kapital wirft jahraus, jahrein dem Kapitalisten Profit ab, der Boden dem Grundeigentümer Grundrente und die Arbeitskraft - unter normalen Verhältnissen, und solange sie eine brauchbare Arbeitskraft bleibt - dem Arbeiter Arbeitslohn” (Marx 1894, 828-829). Einerseits erkennt Marx an, dass die Klassische Politische Ökonomie mit der trinitarischen Formel von Rente, Profit und Lohn drei wichtige Elemente des Kapitalismus umreißt, die die Politische Ökonomie analysiert. Andererseits kritisiert er, dass die Vertreter der Klassischen Politischen Ökonomie oft Kapital, Boden und Arbeit als unabhängig voneinander darstellen und keine Klassenanalyse durchführen. Der „ganze innere Zusammenhang” des Kapitalismus wird dabei „ausgelöscht“ (Marx 1894, 838). Die dualistische Interpretation der trinitarischen Formel „entspricht zugleich dem Interesse der herrschenden Klassen, indem sie die Naturnotwendigkeit und ewige Berechtigung ihrer Einnahmequellen proklamiert und zu einem Dogma erhebt“ (Marx 1894, 838). Marx argumentiert, dass im Kapitalismus das Kapital die Arbeit ausbeutet, die Profit, Lohn und Rente produziert. - Zwei Aspekte der Politischen Ökonomie Marx stützt sich einerseits auf bestimmte Erkenntnisse von Smith, Ricardo und anderen Politischen Ökonomen. Gleichzeitig argumentiert er, dass diese Klassischen Politischen Ökonomen die zentrale Bedeutung der Klassenver‐ hältnisse, die analysiert werden müssen, ignorieren oder den Kapitalismus so analysieren, als wäre er eine Analyse der Gesellschaft im Allgemeinen. Marx spricht von der Kritik der Politischen Ökonomie, womit er eine empirische und theoretische kritische Analyse des Kapitalismus sowie eine Kritik der Klassischen Politischen Ökonomie meint. Marx argumentiert, dass es einen exoterischen und einen esoterischen Aspekt der Politischen Ökonomie gibt (Marx 1862/ 1863, Teil 2, 161-166). Das 2.2 Definitionen der Politischen Ökonomie 31 <?page no="32"?> klingt kompliziert, aber was er damit meint, ist, dass man eine konkrete politische Ökonomie von außen analysieren kann, so dass man sich auf allgemeine Aspekte konzentriert, die über die spezifische Produktionsweise hinausgehen. Das ist die exoterische Analyse. Die esoterische Analyse konzentriert sich auf die Analyse der inneren Verfassung der Produktions‐ weise. Marx argumentiert, dass die Klassische Politische Ökonomie den Kapitalismus oft so analysiert, als ob er für alle Gesellschaften charakteris‐ tisch wäre, oder Analysen der Gesellschaft im Allgemeinen vorlegt, ohne sie mit der Analyse des Kapitalismus und der Klassengesellschaften zu verbinden. „Diese beiden Auffassungsweisen” unterscheiden sich dadurch, dass „die eine in den innren Zusammenhang, sozusagen in die Physiologie des bürgerlichen Systems eindringt, die andre nur beschreibt, katalogisiert, erzählt und unter schematisierende Begriffsbestimmungen bringt, was sich in dem Lebensprozeß äußerlich zeigt” (Marx 1862/ 1863, Teil 2, 162). Marx plädiert für eine Analyse der Dialektik von esoterischer und exo‐ terischer Politischer Ökonomie, innerer Dynamik/ äußerer Erscheinung, Partikularität/ Universalität, Besonderheit/ Allgemeinheit, Kapitalismus/ Ge‐ sellschaft im Allgemeinen, Ökonomie/ Gesellschaft, kapitalistischer Ökono‐ mie/ kapitalistischer Gesellschaft und Klassengesellschaft usw. Für Marx ist die Kritik der Politischen Ökonomie eine dialektische Analyse von der „innre[n] Physiologie der bürgerlichen Gesellschaft“ (esoterische Analyse) und deren „äußerlich erscheinenden Lebensformen“ (Marx 1862/ 1863, Teil 2, 162) (exoterische Analyse) sowie den Verhältnissen zwischen beiden. Sie analysiert die Grundlage, „auf der der innre Zusammenhang, die wirkliche Physiologie der bürgerlichen Gesellschaft beruht oder die ihren Ausgangs‐ punkt bildet” und „wie es sich überhaupt mit diesem Widerspruch zwischen der scheinbaren und wirklichen Bewegung des Systems verhält“ (Marx 1862/ 1863, Teil 2, 163). Marx kritisiert Analysen, die Teile der inneren Dynamik des Kapitalismus, also historischer Aspekte der Gesellschaft, zu ewigen Naturnotwendigkeiten aller Gesellschaftsformationen erklären, die esoterische und die exoterische Betrachung also vermischen und den historischen Charakter des Kapitalismus und der Klassengesellschaften dadurch vernachlässigen. In diesem Zusammenhang spielt sein Begriff des Fetischcharakters eine bedeutende Rolle (Marx 1867, Kapitel 1.4). Vincent Mosco erläutert zwei Auffassungen von Politischer Ökonomie: 32 2 Was ist Politische Ökonomie? <?page no="33"?> 1. „[the] study of the social relations, particularly the power relations, that mutually constitute the production distribution, and consumption of resources” (Mosco 2009, 24) - „die Untersuchung der gesellschaftlichen Verhältnisse, insbesondere der Machtverhältnisse, die die Produktion, die Distribution und den Konsum von Ressourcen wechselseitig be‐ dinge“. 2. „the study of control and survival in social life” (Mosco 2009, 25) - „die Untersuchung der Kontrolle und des Überlebens in der Gesellschaft“, wobei die Kontrolle ein politischer Prozess ist und das Überleben der wirtschaftlicher Prozess der Produktion von Gebrauchswerten. Ich formuliere diese Definitionen der Politischen Ökonomie neu: 1. Die Kritik der Politischen Ökonomie ist die Analyse von Klassen- und anderen Machtverhältnissen in Klassengesellschaften und kapitalisti‐ schen Gesellschaften mit besonderem Schwerpunkt auf die Analyse der Auswirkungen wirtschaftlicher Verhältnisse auf die Gesellschaft; und 2. Die Politische Ökonomie ist die Analyse der Produktion, der Distribu‐ tion und des Konsums von Gütern, mit denen die Menschen sich selbst und die Gesellschaft reproduzieren und so überleben. Diese beiden Ebenen sind das, was Marx als die esoterische und die exoteri‐ sche Ebene der Analyse bezeichnete. Die Analyse des Kapitalismus erfordert eine allgemeine Gesellschaftstheorie, aber eine solche allgemeine Theorie muss als Analyse der tatsächlichen Gesellschaften, in denen wir heute leben, also als Analyse der kapitalistischen Gesellschaft und des kapitalistischen Weltsystems konkretisiert werden (siehe Fuchs 2020 als Beispiel für eine sol‐ che Analyse, die sich auf Kapitalismus und Kommunikation konzentriert). Ein Beispiel für die Wechselwirkung zwischen der exoterischen und der esoterischen Ebene der Analyse ist Marx‘ Konzept der Ware. Er beginnt seine Analyse der Kritik der Politischen Ökonomie des Kapitalismus, die er in seinem Hauptwerk Das Kapital darlegt, mit der Analyse der Ware: „Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ‚ungeheure Warensammlung‘, die einzelne Ware als seine Elementarform. Unsere Untersuchung beginnt daher mit der Analyse der Ware” (Marx 1867, 49). Eine Ware ist ein Gut, das auf einem Markt verkauft und gegen eine bestimmte Menge Geld zu einem bestimmten, in Geld gemessenen Preis 2.2 Definitionen der Politischen Ökonomie 33 <?page no="34"?> getauscht wird. Die Ware hat nach Marx einen Gebrauchswert und einen Tauschwert: „Die Ware ist zunächst ein äußerer Gegenstand, ein Ding, das durch seine Eigenschaften menschliche Bedürfnisse irgendeiner Art befriedigt. Die Natur dieser Bedürfnisse, ob sie z. B. dem Magen oder der Phantasie entspringen, ändert nichts an der Sache [….] Jedes nützliche Ding, wie Eisen, Papier usw., ist unter doppelten Gesichtspunkt zu betrachten, nach Qualität und Quantität. […] Die Nützlichkeit eines Dings macht es zum Gebrauchswert. […] Der Gebrauchswert verwirklicht sich nur im Gebrauch oder der Konsumtion. Gebrauchswerte bilden den stofflichen Inhalt des Reichtums, welches immer seine gesellschaftliche Form sei. In der von uns zu betrachtenden Gesellschaftsform bilden sie zugleich die stofflichen Träger des - Tauschwerts. Der Tauschwert erscheint zunächst als das quantitative Verhältnis, die Proportion, worin sich Gebrauchswerte einer Art gegen Gebrauchswerte anderer Art austauschen, ein Verhältnis, das beständig mit Zeit und Ort wechselt. […] Die einfache relative Wertausdruck einer Ware, z. B. der Leinwand, in der bereits als Geldware funktionierenden Ware, z. B. dem Gold, ist Preisform. Die ‚Preisform‘ der Leinwand daher” (Marx 1867, 49, 50, 84) Marx betont in dieser Passage, dass eine Ware eine qualitative und eine quantitative Seite hat. Wie alle Waren befriedigt auch die Ware menschliche Bedürfnisse. Dies ist die Seite des Gebrauchswertes. Wir essen Brot, weil wir unser Bedürfnis zu essen und unser Verlangen nach gutem Essen befriedigen wollen. Wir sehen und lesen Nachrichten, weil wir unser Bedürfnis befriedigen wollen, darüber informiert zu sein, was an unserem Wohnort geschieht. Der Gebrauchswert ist der exoterische Aspekt der Ware, er stellt den Aspekt der Ware dar, der über die Ware hinausgeht und nicht nur in warenproduzierenden Gesellschaften, sondern in allen Gesellschaften existiert. Auch Güter, die keine Waren sind, wie zum Beispiel das öffentliche Bildungswesen und die öffentliche Gesundheitsfürsorge, sind Gebrauchswerte, die die menschlichen Bedürfnisse nach Lernen und dem Erhalt von Leben und Gesundheit befriedigen. Brot und Nachrichten sind beides Gebrauchswerte. Gebrauchswerte können entweder stofflichen oder nichtstofflichen Charakter haben. Sie entstehen entweder aus dem Körper oder aus dem Gehirn, „dem Magen oder der Phantasie“, wie Marx sagt (Marx 1867, 49, siehe das längere Zitat oben). Die Ware hat auch eine esoterische Seite, Eigenschaften, die nur für die Ware spezifisch sind, nämlich den Tausch in der Form x Ware A = y 34 2 Was ist Politische Ökonomie? <?page no="35"?> Ware B auf einem Warenmarkt. Beispiele sind: ein Laib Brot = 3,50 €; oder ein Monatsabonnement einer Zeitung = 50 €. Das Beispiel der Warenanalyse zeigt, dass die Politische Ökonomie so‐ wohl allgemeine, universelle Merkmale der Gesellschaft als auch besondere, konkrete Merkmale sozialer Systeme, sozialer Beziehungen, gesellschaft‐ licher Verhältnisse und von Gesellschaftsformationen analysiert. In der Politischen Ökonomie der Kommunikation müssen wir analysieren, welche Bedürfnisse Mediengüter als Gebrauchswert befriedigen und wie sie dies tun oder nicht tun und wie sie als Waren gehandelt werden, die einen Tauschwert haben und dem Kapital Profit einbringen. - Ein Modell der Politischen Ökonomie Abbildung 2.2 zeigt ein Modell der Politischen Ökonomie als Analyse der Gesellschaft. Medienbetriebswirtschaft, Medienorganisationswissenschaft, Medienmanagement, Soziologie der Medienarbeit Analyse der Medien-, Kreativ-, Informations, Kultur- und Digitalindustrie Politische Ökonomie der Kommunikation, Kultur und Medien Abbildung 2.2: Ein Modell der Politischen Ökonomie 2.2 Definitionen der Politischen Ökonomie 35 <?page no="36"?> 1 Datenquelle: Forbes 2000 Liste (2022), https: / / www.forbes.com/ global2000/ #6c84e0243 35d, abgerufen am 12. Dezember 2022. 2 Siehe: https: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Ireland_v_Commission Die Politische Ökonomie unterscheidet sich von der Betriebswirtschafts‐ lehre, der Organisationslehre, den Management Studies, der Arbeitssozi‐ ologie und der Industrieforschung. Sie befasst sich zwar auch mit der Analyse von Unternehmen, Organisationen, Arbeit, Management und In‐ dustrie, führt diese Forschung jedoch auf der Grundlage der Analyse der Wechselwirkungen von Organisationen und Industrien mit dem breiteren Bild und Kontext der Gesellschaft, d. h. der kapitalistischen Gesellschaft, durch. Sie konzentriert sich im Bereich der Analyse der Medien und der Kommunikation auf die Interaktion von Medienwirtschaft und Kommuni‐ kationspolitik im Makrokontext der Gesellschaft, wozu der Kapitalismus, Klassenstrukturen, Staat, Politik, Gesetzgebung, Öffentlichkeit, Globalisie‐ rung, Machtstrukturen, Herrschaft, Ungleichheiten usw. gehören. Die Politische Ökonomie ist ein Ansatz zur Analyse der Gesellschaft, der sich auf Gesellschaftstheorie, empirische Sozialforschung und Moralphilo‐ sophie stützt. Sie analysiert, wie das Zusammenspiel von Politik und Ökono‐ mie aussieht und welche Rollen diese Wechselwirkungen in der Gesellschaft spielen. Sie betrachtet das dialektische Verhältnis von Ökonomie und Politik als den wichtigsten Faktor, der die Gesellschaft prägt. Ein bedeutender Schwerpunkt ist die Analyse der Produktion, der Distribution und des Konsums von Waren und Dienstleistungen im Kontext der Gesellschaft. Politische Ökonomie ist oft eine kritische Analyse der Arbeitsweise und der Organisation der kapitalistischen Gesellschaft und ihrer Auswirkungen auf das Leben der Menschen in der Gesellschaft. Dieser Ansatz wird auch als die Kritik der Politischen Ökonomie bezeichnet. Im Jahr 2022 war Apple das siebentgrößte Unternehmen der Welt 1 . Es ist das weltweit größte Unternehmen im Bereich der digitalen Technologien, der Medien und der Kommunikation(ssysteme). Apple ist berüchtigt für seine Steuervermeidung, was die EU dazu veranlasste, Apple zu einer Steuernachzahlung in Höhe von 13 Milliarden Euro zu verurteilen. Diese Entscheidung wurde vom Gerichtshof der Europäischen Union aufgehoben, wogegen die EU-Kommission Berufung einlegte 2 . Die EU argumentierte, dass Apple Milliarden von Euro an Profite über seine irische Tochtergesell‐ schaft verschoben hat und von einem Steuerabkommen mit der irischen Regierung profitiert hat, welches diese Gewinne von der Steuer befreit hat. 36 2 Was ist Politische Ökonomie? <?page no="37"?> 3 Datenquelle: https: / / www.opensecrets.org/ federal-lobbying/ clients/ summary? cycle=2 019&id=D000021754, abgerufen am 26. Oktober 2021. 4 Ebd. Das Beispiel zeigt, dass die Wirtschaft politisch ist: Verschiedene Gruppen in der Gesellschaft haben unterschiedliche Interessen. Kapitalisti‐ sche Unternehmen haben das Interesse, immer mehr Profit zu machen. Sie akkumulieren Kapital. Apple hat das politische Interesse, niedrige Steuern und niedrige Löhne zu zahlen. Solche Konzerne setzen sich dafür ein, niedrige Steuern zu zahlen. Transnationale Unternehmen wie Apple sind nicht nur Unternehmen, sondern auch politische Akteure, die Einfluss auf die staatliche Politik, z. B. auf die Steuergesetze, nehmen. Dass die Ökonomie politisch ist, bedeutet auch, dass es Klassenverhältnisse und Klas‐ senkämpfe gibt. Kapitaleigentümer und Arbeitende haben unterschiedliche, gegensätzliche Interessen. Viele transnationale Konzerne investieren in Lobbyarbeit, d. h. sie bezahlen Beratungsfirmen, PR-Mitarbeiter: innen und Lobbyist: inn: en, die ihnen helfen, Strategien und Praktiken zu entwickeln, wie sie Politiker: innen und Regierungen beeinflussen können. Das Beispiel zeigt auch, dass die Politik ökonomisch ist und von der Ökonomie beeinflusst wird: Die Nationalstaaten haben oft Angst, dass Unternehmen ihren Hauptsitz verlagern. Daher konkurrieren die Staaten untereinander um ein „investitionsfreundliches“ Klima, einschließlich nied‐ riger Unternehmenssteuern und niedriger Löhne. Dies erklärt, warum Irland Steueroasen für transnationale Konzerne schafft. Die nationalstaatliche Politik reguliert die Ökonomie und ist mit den Interessen von Unternehmen, Bürger: innen, der Zivilgesellschaft, Parteien usw. konfrontiert. Im Jahr 2019 gab Apple 7,4 Millionen US-Dollar für Lobbyarbeit aus, im Jahr 2020 6,6 Mil‐ lionen US-Dollar 3 . Apple zahlte die Gehälter von 46 Lobbyist: innen im Jahr 2019 und von 48 im Jahr 2020 4 . Die Bezahlung von Lobbyist: innen ist eine Strategie, mit der Wirtschaftsakteure versuchen, politische Entscheidungen zu beeinflussen. Nachdem wir uns mit der Frage beschäftigt haben, wie die Politische Ökonomie zu definieren ist, werden wir im nächsten Abschnitt verschiedene Ansätze der Politischen Ökonomie diskutieren. 2.2 Definitionen der Politischen Ökonomie 37 <?page no="38"?> 2.3 Ansätze der Politischen Ökonomie Ibn Khaldûn Im vorangegangenen Abschnitt haben wir bereits erwähnt, dass Ibn Khal‐ dûn einer der Begründer der Politischen Ökonomie ist. Seine Muqaddima (Prolegomena, Einleitung) ist ein Frühwerk der Politischen Ökonomie. Khaldûn formulierte die Annahme, dass Arbeit die Quelle von Reichtum und Gewinn ist: „Alsdann musst du wissen, dass der Erwerb nur durch die Bemühung, ihn anzu‐ schaffen, und die Absicht, ihn zu erlangen, zustande kommt. Es ist auch bei der Versorgung unerlässlich, dass man sich anstrengt und arbeitet […] Jedoch ist bei allem, was zu erwerben und an Kapital anzusammeln ist, die menschliche Arbeit unerlässlich. Wenn dies eine eigene Arbeit ist, wie irgendein Handwerk, dann ist das offenkundig. Wenn die Quellen des Erwerbs jedoch Tiere, Pflanzen oder Mineralien sind, so ist dabei die menschliche Arbeit (ebenfalls) unumgänglich, wie du siehst. Wenn nicht, dann kommt nichts zustande, und es fällt kein Nutzen an. […] Wenn nun dies alles feststeht, dann musst du wissen, dass das Kapital, das der Mensch gewinnt und erwirbt, wenn es aus dem Handwerk kommt, der Wert der Arbeit ist, (die) dafür (geleistet) wurde“ (Khaldûn 2011, 340-341). Die Analyse der Arbeit als Quelle des Reichtums und der Arbeitszeit als Maß für den Reichtum wird auch als Arbeitswerttheorie bezeichnet. Sie besagt, dass der Wert einer Ware dem durchschnittlichen Arbeitsaufwand entspricht, der für ihre Herstellung erforderlich ist. Ein Gut wird als wertvol‐ ler angesehen, wenn es schwieriger zu produzieren ist und mehr Arbeitszeit für seine Herstellung benötigt wird. In Tauschgesellschaften führt dies dazu, dass die Preise für wertvollere Güter, deren Produktionszeit länger ist, tendenziell höher sind. Die Arbeitswerttheorie findet sich in der Klassischen und Kritischen Politischen Ökonomie, insbesondere in den Werken von Adam Smith, David Ricardo und Karl Marx. Adam Smith formulierte die Arbeitswerttheeorie mit den folgenden Worten: „Der wirkliche oder reale Preis aller Dinge, also das, was sie einem Menschen, der sie haben möchte, in Wahrheit kosten, sind die Anstrengung und Mühe, die er zu ihrem Erwerb aufwenden muss. Was Dinge wrklich für jemanden wert sind, der sie erworben hat und der über sie verfügen oder 38 2 Was ist Politische Ökonomie? <?page no="39"?> sie gegen ewas anderes tauschen möchte, sind die Anstrengung und Mühe, die er sich damit ersparen und dier er anderen aufbürden kann“ (Smith 1776/ 2001, 28). „Anstrengung und Mühe“ ist die Formulierung, mit der Smith zum Aus‐ druck bringt, dass der Wert eines Gutes von der aufgewendeten Arbeitszeit abhängt, die zu seiner Produktion erforderlich ist. Auch David Ricardo formulierte eine Arbeitswertlehre. Er betont, dass die Arbeitszeit das Maß für den Wert einer Ware ist: „Sobald sie Nützlichkeit besitzen, beziehen Waren ihren Tauschwert aus zwei Quellen: aus ihrer Seltenheit und der zu ihrer Gewinnung nötigen Arbeitsmenge. […] Wenn die in den Waren enthaltene Arbeitsmenge ihren Tauschwert bestimmt, dann muss jede Vergrößerung des Arbeitsquantums den Wert der Ware, für die es aufgewendet wurde, erhöhen, ebenso wie jede Verminderung ihn senken muss“ (Ricardo 1824/ 2006, 5, 7). Karl Marx hat ähnlich argumentiert: „Die Grundlage, der Ausgangspunkt der Physiologie des bürgerlichen Systems - des Begreifens seines innren organischen Zusammenhangs und Lebensprozesses - ist die Bestimmung des Werts durch die Arbeitszeit” (Marx 1862/ 1863, Teil 2, 163). Marx argumentiert, dass die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit, d. h. die durchschnittliche Arbeitszeit, die zur Produktion einer Ware erforderlich ist, den Wert der Ware bestimmt: „Ein Gebrauchswert oder Gut hat also nur einen Wert, weil abstrakt menschliche Arbeit in ihm vergegenständlicht oder materialisiert ist. Wie nun die Größe seines Werts messen? Durch das Quantum der in ihm enthaltenen ‚wertbilden‐ den Substanz‘, der Arbeit. Die Quantität der Arbeit selbst misst sich an ihrer Zeitdauer, und die Arbeitszeit besitzt wieder ihren Maßstab an bestimmten Zeitteilen, wie Stunde, Tag usw. […] Gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ist Arbeitszeit, erheischt, um irgendeinen Gebrauchswert mit den vorhandenen gesellschaftlich-normalen Produktionsbedingungen und dem gesellschaftlichen Durchschnittsgrad von Geschick und Intensität der Arbeit darzustellen“ (Marx 1867, 53). Marx unterscheidet sich von Smith und Ricardo dadurch, dass sein Ansatz eine Kritik der Politischen Ökonomie ist, die eine Wertkritik beinhaltet. Er betont, dass das Kapital die Arbeit in einem Klassenverhältnis ausbeutet, in dem die Arbeitenden dazu gebracht werden, einen Teil der Ware und des Arbeitstages ohne Bezahlung zu produzieren. In diesem Zusammenhang 2.3 Ansätze der Politischen Ökonomie 39 <?page no="40"?> führt er die Begriffe der Mehrarbeit und des Mehrwerts ein. Seine Theorie will verstehen, wie der Mehrwert produziert wird, und formuliert den Kategorischen Imperativ, den Mehrwert zu vergesellschaften, damit der gesellschaftliche Überschuss nicht von einzelnen Kapitalist: innen, sondern von der Gesellschaft kontrolliert wird. „Wir haben gesehn, dass der Arbeiter während eines Abschnitts des Arbeitspro‐ zesses nur den Wert seiner Arbeitskraft produziert, d. h. den Wert seiner notwen‐ digen Lebensmittel. […] Den Teil des Arbeitstags also, worin diese Reproduktion vorgeht, nenne ich notwendige Arbeitszeit, die während derselben verausgabte Arbeit notwendige Arbeit. Notwendig für den Arbeiter, weil unabhängig von der gesellschaftlichen Form seiner Arbeit. Notwendig für das Kapital und seine Welt, weil das beständige Dasein des Arbeiters ihre Basis. Die zweite Periode des Arbeitsprozesses, die der Arbeiter über die Grenzen der notwendigen Arbeit hinaus schanzt, kostet ihm zwar Arbeit, Verausgabung von Arbeitskraft, bildet aber keinen Wert für ihn. Sie bildet Mehrwert, der den Kapitalisten mit allem Reiz einer Schöpfung aus Nichts anlacht. Diesen Teil des Arbeitstags nenne ich Surplusarbeitszeit, und die in ihr verausgabte Arbeit: Mehr‐ arbeit (suplus labour). So entscheidend es für die Erkenntnis des Werts überhaupt, ihn als bloße Gerinnung von Arbeitszeit, als bloß vergegenständlichte Arbeit, so entscheidend ist es für die Erkenntnis des Mehrwerts, ihn als bloße Gerinnung von Surplusarbeitszeit, als bloß vergegenständlichte Mehrarbeit zu begreifen. Nur die Form, worin diese Mehrarbeit dem unmittelbaren Produzenten, dem Arbeiter, abgepreßt wird, unterscheidet die ökonomischen Gesellschaftsformationen, z. B. die Gesellschaft der Sklaverei von der der Lohnarbeit“ (Marx 1867, 231, 230-231). Für Marx ist die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit jene Zeit, die benötigt wird, um die für die Gesellschaft nowendigen Güter zu prodzieren. Die darüber hinaus geleistete Arbeitszeit bezeichnet er als Mehrarbeitszeit. Sie ist im Kapitalismus die materielle Grundlages des Profits, der den Kapitalist: innen gehört, von den Arbeiter: innen produziert wird und durch den Verkauf von Waren erzielt wird. Mainstream-Ökonomie und „Heterodoxe“ Ökonomie Die Mainstream-Ökonomie tendiert dazu, die Arbeitswerttheorie weitge‐ hend zu ignorieren. So diskutieren weit verbreitete Lehrbücher der Wirt‐ schaftswissenschaft wie Blanchards (2017) Macroeconomics oder William‐ sons (2018) Macroeconomics nicht die Arbeit, definieren Geld als Maß für 40 2 Was ist Politische Ökonomie? <?page no="41"?> den wirtschaftlichen Wert (z. B. Mankiw 2018, 321) und lassen die Rolle der Arbeiterklasse und ihrer Arbeit im Kapitalismus außer Acht. Obwohl die Arbeitswerttheorie in der heutigen Mainstream-Ökonomie keine wichtige Rolle spielt, ist sie im Zeitalter des digitalen Kapitalismus weiterhin von Bedeutung. Zum Beispiel sind die Kämpfe um die Automatisierung und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft Kämpfe um Wert und Arbeitszeit (siehe Fuchs 2021, Kapitel 5). Das Kapital versucht, durch digitale und heutzutage KI-basierte Automatisierung die Produktivität der Arbeit zu steigern, so dass mehr Wert in weniger Zeit produziert werden kann, was die Einstellung und Bezahlung von weniger Arbeitskräften erfordert und mehr Profit verspricht. Vertreter: innen von Arbeiterklasseinteressen hingegen befürchten und be‐ tonen, dass die Automatisierung im Kapitalismus Arbeitslosigkeit, Armut und Ungleichheit erhöhen kann. Seit der Weltwirtschaftskrise 2008 gibt es neue Forderungen nach einer Überarbeitung der wirtschaftswissenschaftlichen Lehrpläne und Versuche, alternative, heterodoxe Lehrbücher für Makroökonomie/ Politische Ökono‐ mie zu etablieren (siehe z.-B. De und Thomas 2018, Thomas 2021). Die Krise und die zunehmende Kritik am Neoliberalismus und damit auch an der neoklassischen Wirtschaftslehre hat zu einigen Veränderungen in der Wirtschaftstheorie geführt. N. Gregory Mankiw ist der Autor von sehr weit verbreiteten Lehrbüchern der Wirtschaftswissenschaften wie Principles of Economics (Mankiw 2021, neunte Auflage) und Economics (Mankiw & Taylor 2020, fünfte Auflage). In der dritten Auflage von Economics gibt es keine wirkliche Diskussion über kritische Ansätze wie die marxistische und femi‐ nistische Wirtschaftstheorie (Mankiw & Taylor 2014). Die Autoren fügten der vierten Auflage eine Diskussion derartiger Ansätze, einschließlich Mar‐ xismus und Feminismus, hinzu und erkannten an, dass diese Ansätze den „neoklassischen Ansatz“, der auch als „Mainstream-Ökonomie“ bezeichnet wird, und die neoklassische Ansicht, dass „der Markt ein zentrales Merkmal bei der Schaffung von Wohlstand ist“, in Frage stellen (Mankiw & Taylor 2014, 16). In der fünften Auflage von Economics unterscheiden Mankiw und Taylor (2020, 25-26) vier ökonomische Denkschulen: Neoklassische Ökonomie, Feministische Ökonomie, Marxistische Ökonomie und die Österreichische Schule. In den Kapiteln über den Arbeitsmarkt, den Wohlstand, die Ar‐ beitslosigkeit, die heterodoxe Ökonomie und die Ungleichheit gibt es nun auch Diskussionen des Marxismus und des Feminismus (siehe Mankiw & Taylor 2020, 325-327, 363-364, 422-425, 433-434, 501). In der fünften Auflage 2.3 Ansätze der Politischen Ökonomie 41 <?page no="42"?> wurde ein Kapitel über „Heterodox Theories in Economics“ hinzugefügt (Mankiw & Taylor 2020, Kapitel 19: 416-431). Unter Heterodoxer Ökonomie verstehen die beiden Autoren Ansätze, die „außerhalb des ‚Mainstreams‘ der Ökonomie liegen, wobei der Begriff ‚Mainstream‘ mit dem neoklassischen Ansatz assoziiert wird“ (Mankiw & Taylor 2020, 418) und die „aufgrund von Fragen, die nach der Krise [2007/ 2008] gestellt wurden, wiederbelebt wurden“ (Mankiw & Taylor 2020, 428). Die Kategorie der Heterodoxen Ökonomie ist sehr weit gefasst und umfasst oft so unterschiedliche Ansätze wie den Marxismus und die Österreichische Schule. Diese Änderungen in einem wichtigen Wirtschaftslehrbuch sind ein Hinweis darauf, dass die Mainstream-Wirtschaftswissenschaft zwar lange Zeit kritische Ansätze ignoriert hat, ihre Vertreter: innen sich nun aber zunehmend gezwungen sehen, zumindest die Existenz von Theorien und Analysen anzuerkennen, die die Rolle von unbezahlter Arbeit, Klasse und Ungleichheiten in der heutigen Wirtschaft betonen. Die Unterscheidung zwischen Klassischer, Neoklassischer, Marx‘scher und Keynesianischer Ökonomik ist eine weit verbreitete Methode zur Klassifizierung von Wirtschaftstheorien (Caporaso & Levine 1992, Hunt & Lautzenheiser 2011, Lee 2011, Wolff & Resnick 2012). Die Marx‘sche und die Keynesianische Politische Ökonomie werden häufig zusammen mit weiteren Ansätzen als Heterodoxe Ökonomie oder Heterodoxe Politische Ökonomie bezeichnet. Der Begriff „Heterodoxe Politische Ökonomie“ ist etwas unklar und verwirrend, denn Heterodoxie bedeutet Ansätze, die vom vorherrschenden Ansatz abweichen. Folglich umfasst der Begriff „Heterodoxe Politische Ökonomie“ eine breite Palette von Ansätzen. So werden zum Beispiel marxistische Ansätze oft ebenso dazu gezählt wie die Österreichische Schule der Ökonomie, die auf die Arbeiten von Carl Menger zurückgeht, der neoliberale Denker wie Friedrich Hayek beeinflusst hat. Marx und Hayek haben gegensätzliche analytische und politische Ansätze. Abgesehen von einem dynamischen Konzept der Wirtschaft haben sie wenig gemeinsam. Es ist daher besser, die Heterodoxe Politische Ökonomie in verschiedene Ansätze zu unterteilen. Im Folgenden werden einige Ansätze der Politischen Ökonomie kurz vorgestellt. 42 2 Was ist Politische Ökonomie? <?page no="43"?> Die Klassische Politische Ökonomie Ibn Khaldûn war, wie bereits erwähnt, ein früher nicht-westlicher Vertre‐ ter der Klassischen Politischen Ökonomie. Laut Karl Marx, der sich in seinen Theorien über den Mehrwert (Marx 1862/ 1863) mit den Werken der Klassischen Politischen Ökonomie auseinandersetzte, gehören dazu u. a. James Steuart, Adam Smith, Jean Charles Léonard de Sismondi, Germain Garnier, Charles Ganilh, David Ricardo, James Frederick Ferrier, James Maitland (Earl of Lauderdale), Jean-Baptiste Say, Destutt de Tracy, Henri Storch, Nassau Senior, Pellegrino Rossi, Thomas Chalmers, Jacques Necker, François Quesnay, Simon-Nicolas-Henri Linguet, Thomas Hobbes, William Petty, Dudley North, John Locke, David Hume, Joseph Massie, Louis-Gabriel Buat-Nançay, John Gray, Karl Rodbertus, John Barton, Nathaniel Forster, Thomas Hopkins, Henry Charles Carey, Thomas Robert Malthus, James Deacon, Thomas Hodgskin, James Anderson, Robert Torrens, James Mill, Samuel Bailey, John Ramsay McCulloch, Edward Gibbon Wakefield, Patrick James Stirling, John Stuart Mill, Piercy Ravenstone, John Francis Bray, Sir George Ramsay, Antoine-Eliseé Cherbuliez, Richard Jones, Pierre-Joseph Proudhon und Martin Luther. Die bekanntesten Werke der Klassischen Politischen Ökonomie sind Adam Smiths (1776/ 2001) Wealth of Nations (Der Wohlstand der Nationen), David Ricardos (1824/ 2006, erstmals 1817 veröffentlicht) Principles of Politi‐ cal Economy and Taxation (Über die Grundsätze der Politischen Ökonomie und der Besteuerung) und John Stuart Mill's (1848) Principles of Political Economy. Diesen Denkern ist gemeinsam, dass sie sich relativ stark auf das kon‐ zentrieren und das propagieren, was als „Laissez-faire“-Wirtschaftslehre bekannt geworden ist. Sie verkünden, dass die Märkte sich selbst regulieren können und dass der Staat nicht in die Wirtschaft eingreifen sollte. Smith und Mill argumentieren, dass eine zivilisierte Gesellschaft das Ergebnis von nach Profit strebenden Individuen ist, die auf die Maximierung ihrer Gewinne abzielen. Smith hat in diesem Zusammenhang die Metapher der unsichtbaren Hand geprägt. Er argumentiert, dass unabhängig han‐ delnde, eigennützige Wirtschaftsakteure (Unternehmen, Kapitalist: innen), die versuchen, ihre wirtschaftlichen Profite zu maximieren, von einer unsichtbaren Hand (dem Markt) geleitet werden, so dass ihr privater Zweck der Gewinnerzielung das öffentliche Wohl fördert. Das Individuum, das lediglich „nach eigenem Gewinn“ strebt, wird „von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zu fördern, den zu erfüllen er in keiner Weise 2.3 Ansätze der Politischen Ökonomie 43 <?page no="44"?> beabsichtigt hat. […] gerade dadurch, dass er das eigene Interesse verfolgt, fördert er häufig das Interesse der Gesellschaft nachhaltiger, als wenn er wirklich beabsichtigt, es zu tun. Alle, die jemals vorgaben, ihre Geschäften dienten dem Wohl der Allgemeinheit, haben meines Wissens niemals etwas Gutes getan“ (Smith 1776/ 2001, 371). Die Grundannahme ist, dass das Gemeinwohl am besten ohne Eingriffe der Politik in die Wirtschaft erreicht werden kann, also ohne durch z.B eine Umverteilung des Reichtums von den Reichen zu den Armen und vom Kapital zur Arbeit. Die Rolle des Staates ist auf die Verteidigung des Nationalstaates und des Kapitals beschränkt. Smith erörtert die Aufgaben des Staates (Smith 1776/ 2001, Band-2, Buch 5, Kapitel 1): 1. Schutz vor Invasion, 2. Schutz der Bürger: innen, 3. öffentliche Einrichtungen, die den Handel erleichtern (Straßen, Brü‐ cken, Kanäle, Bildung usw.). Smith (1776/ 2001, 605) sagt, eine wichtige Aufgabe des Staates sei es, „das Eigentum zu sichern“, „die Besitzenden gegen Übergriffe der Besitzlosen zu schätzen“. Smiths anderes Hauptwerk neben Wealth of Nations (Der Wohlstand der Nationen) ist The Theory of Moral Sentiments (Theorie der ethischen Gefühle), eine Moralphilosophie, die Moral vor allem als individuelle menschliche Eigenschaft betrachtet und sich kaum mit Aspekten des Eigentums, des Kapitals und der Märkte befasst. Smith argumentiert, dass Menschen mit den Gefühlen anderer mitfühlen und sich um ihr Wohlergehen sorgen. Er führte die Idee der unsichtbaren Hand erstmals in Theorie der ethischen Gefühle (Theory of Moral Sentiments) ein: „Nur dass die Reichen aus dem ganzen Haufen dasjenige auswählen, was das Kostbarste und ihnen Angenehmste ist. Sie verzehren wenig mehr als die Armen; trotz ihrer natürlichen Selbstsucht und Raubgier und obwohl sie nur ihre eigene Bequemlichkeit im Auge haben, obwohl der einzige Zweck, welchen sie durch die Arbeit all der Tausende, die sie beschäftigen, erreichen wollen, die Befriedigung ihrer eigenen eitlen und unersättlichen Begierden ist, trotzdem teilen sie doch mit den Armen den Ertrag aller Verbesserungen, die sie in ihrer Landwirtschaft einführen. Von einer unsichtbaren Hand werden sie dahin geführt, beinahe die gleiche Verteilung der zum Leben notwendigen Güter zu verwirklichen, die zustandegekommen wäre, wenn die Erde zu gleichen Teilen unter alle ihre 44 2 Was ist Politische Ökonomie? <?page no="45"?> Bewohner verteilt worden wäre; und so fördern sie, ohne es zu beabsichtigen, ja ohne es zu wissen, das Interesse der Gesellschaft und gewähren die Mittel zur Vermehrung der Gattung. Als die Vorsehung die Erde unter eine geringe Zahl von Herren und Besitzern verteilte, da hat sie diejenigen, die sie scheinbar bei ihrer Teilung übergangen hat, doch nicht vergessen und nicht ganz verlassen. Auch diese letzteren genießen ihren Teil von allem, was die Erde hervorbringt. In all dem, was das wirkliche Glück des menschlichen Lebens ausmacht, bleiben sie in keiner Beziehung hinter jenen zurück, die scheinbar so weit über ihnen stehen. In dem Wohlbefinden des Körpers und in dem Frieden der Seele stehen alle Lebensstände einander nahezu gleich und der Bettler, der sich neben der Landstraße sonnt, besitze jene Sicherheit und Sorglosigkeit, für welche Könige kämpfen“ (Smith 1759/ 2010, 296-297). Die unsichtbare Hand, die Smith in diesem Zitat beschreibt, bedeutet die Annahme, dass der Markt und das egoistische Profitstreben eine gerechte Gesellschaft hervorbringen und daher keine Eingriffe des Staates in den Markt notwendig sind. Gerechtigkeit hat für Smith (1759/ 2010, 134) mit dem Schutz des Privat‐ eigentums zu tun: „Desjenigen beraubt zu werden, was wir bereits in usnerem Besitz hatten, ist ein größeres Übel, als um Dinge gebracht zu werden, die wir bloß erwarten durften. Darum sind Eigentumsverletzungen, Diebstahl und Raub, die uns nehmen, was wir bereits im Besitze tragen, schwerere Verbrechen als Verletzungen von Verträ‐ gen, die uns um das bringen, was wir nur erwartet haben. Die heiligsten Gesetze der Gerechtigkeit, diejenigen, deren Verletzung am lautesten nach Ahndung und Bestrafung zu rufen scheint, sind deshalb die Gesetze, welche das Leben und die Person unseres Nächsten schützen; die nächstwichtigen sind diejenigen, die sein Eigentum und seine Besitzungen schützen; und als letzte von allen kommen jene, die seine sogenannten persönlichen Rechte oder die Ansprüche, die ihm aus den Versprechungen anderer zustehen, in ihren Schutz nehmen“. John Stuart Mill (1859, 37) verstand Freiheit als das individuelle Recht auf Besitz: „The only freedom which deserves the name, is that of pursuing our own good in our own way, so long as we do not attempt to deprive others of theirs, or impede their efforts to obtain it“. Mill (1848, 16-17) erkannte an, dass der Kapitalismus Ungleichheit schafft, und argumentierte, dass die volle individuelle Freiheit des Eigentums der Gleichheit vorzuziehen sei: 2.3 Ansätze der Politischen Ökonomie 45 <?page no="46"?> „The perfection both of social arrangements and of practical morality would be, to secure to all persons complete independence and freedom of action, subject to no restriction but that of not doing injury to others: and the education which taught or the social institutions which required them to exchange the control of their own actions for any amount of comfort or affluence, or to renounce liberty for the sake of equality, would deprive them of one of the most elevated characteristics of human nature“. Für Mill ist also eine Gesellschaft, in der wenige im Luxus leben und andere Menschen an Hunger und Überarbeitung sterben, eine freie Gesellschaft, solange es Marktwirtschaft und Privateigentum gibt. Dass das Privateigen‐ tum in so einem Fall soziale Unfreiheit produziert anerkennt Mill nicht. Karl Marx: Die Kritik der Politischen Ökonomie Karl Marx (1818-1883) war ein deutscher Philosoph, Politischer Ökonom, Soziologe und Sozialist. Sein Hauptwerk sind die drei Bände von Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Seine Bedeutung für das Studium der Politischen Ökonomie wird schon im Buchtitel deutlich. Er arbeitete mit Friedrich Engels (1820-1895) zusammen, mit dem er auch gemeinsam Werke verfasste wie das Manifest der Kommunistischen Partei (Marx & Engels 1848). Der Ansatz von Marx und die gesamte Denk- und Forschungstradition, die auf seinem Werk aufbaut, wird auch als Kritik der Politischen Ökonomie bezeichnet, weil er a) auf der Klassischen Politischen Ökonomie aufbaute und diese kritisierte und b) seine Analyse darauf abzielte, eine Kritik des Kapitalismus voranzutreiben, nämlich eine so genannte immanente Kritik, die zeigt, dass die Realität der Gesellschaft im Kapitalismus oft nicht ihren Möglichkeiten entspricht. Er argumentiert, dass die Politische Ökonomie „bürgerlich“ sei, wenn die „kapitalistische Ordnung“ als „absolute und letzte Gestalt der gesell‐ schaftlichen Produktion“ aufgefasst wird (Marx 1867, 19-20). Marx argu‐ mentiert, dass die Klassischen Politischen Ökonomen den Kapitalismus oder bestimmte Phänomene, die für kapitalistische Gesellschaften oder Klassengesellschaften charakteristisch sind, naturalisieren. Sie lassen diese Phänomene als universell und in allen Gesellschaften vorhanden erscheinen: „Die Ökonomen stellen die bürgerlichen Produktionsverhältnisse, Arbeitsteilung, Kredit, Geld etc., als fixe, unveränderliche, ewige Kategorien hin. […] Die Ökonomen erklären uns, wie man unter den obigen gegebenen Verhältnissen 46 2 Was ist Politische Ökonomie? <?page no="47"?> produziert; was sie uns aber nicht erklären, ist, wie diese Verhältnisse selbst produziert werden, d.-h. die historische Bewegung, die sie ins Leben ruft“ (Marx 1847, 126). „Ricardo, der die bürgerliche Produktion als notwendig zur Bestimmung der Rente voraussetzt, wendet die Vorstellung der Bodenrente nichtsdestoweniger auf den Grundbesitz aller Zeiten und aller Länder an. Es ist das der Irrtum aller Ökonomen, welche die Verhältnisse der bürgerlichen Produktion als ewige hinstellen“ (Marx 1847, 170). Schauen wir uns an, wie Marx die Klassischen Politischen Ökonomen, nämlich Adam Smith und David Ricardo, kritisiert. Adam Smith (1776/ 2001, 16) vertritt die Auffassung, dass die Ware in allen Gesellschaften zu finden ist und daher ein natürliches Merkmal der Gesellschaft darstellt. Er schreibt von „einer natürlichen Neigung des Menschen, zu handeln und Dinge gegeneinander auszutauschen. […] Jene Eigenschaft ist allen Menschen gemeinsam, und man findet sie nirgends in der Tierwelt, wo es im Übrigen weder einen Austausch noch eine andere Form gegenseitigen Übereinkommens zu geben scheint“. Smith argumen‐ tiert, dass diese Natur des Menschen als Wesen, das auf Märkten Waren tauscht, „die notwendige Folge der menschlichen Fähigkeit, denken und sprechen zu können“ sei (Smith 1776/ 2001, 16). David Ricardo argumentiert, dass Kapital, Geld und Profit natürliche Bestandteile der menschlichen Wirtschaft sind, die in allen Wirtschaften zu finden sind: „Kapital ist der zur Produktion verwendete Teil des Reichtums eines Landes, der aus Nahrungsmitteln, Kleidung, Werkzeugen, Rohstoffen, Maschinerie usw. besteht, Dingen, die nötig sind, damit die Arbeit Resultate erzielt“ (Ricardo 1824/ 2006, 81). Er verallgemeinert den Begriff des Kapitals und spricht zum Beispiel vom Kapital „des Jägers […], also der Waffe“ (Ricardo 1824/ 2006, 15) und sieht Geld als „das allgemeine Tauschmittel zwischen allen zivilisierten Ländern“ (Ricardo 1824/ 2006, 39). Ricardo stellt das Streben nach Profit als eine natürliche menschliche Eigenschaft dar. „So‐ lange es jedermann freisteht, sein Kapital dort anzulegen, wo es ihm gefällt, wird er selbstverständlich die vorteilhafteste Anlage aussuchen. Er wird natürlich mit einem Profit von 10 Prozent zufrieden sein, wenn er durch eine andere Anlage seines Kapitals einen Profit von 15 Prozent erzielen kann“ (Ricardo 1824/ 2006, 76). Ricardo charakterisiert das Kapital gleichzeitig als in allen Gesellschaften vorhanden und als Werkzeug der Kapitalakkumulation im Kapitalismus, wodurch er die kapitalistische Gesellschaft, die Märkte, das 2.3 Ansätze der Politischen Ökonomie 47 <?page no="48"?> Geld, die Waren und die Logik der Akkumulation als den natürlichen und idealen Zustand jeder Gesellschaft naturalisiert. Marx argumentiert, dass das Kapital ein gesellschaftliches Verhältnis zwischen dem/ der Kapitaleigentümer: in und den Arbeiter: innen ist, das die Ausbeutung der Arbeitskraft erfordert und die Akkumulation sowie den Austausch als Teil der Klassengesellschaften ermöglicht. Er kritisiert, dass Ricardo die Klassenverhältnisse als ein Merkmal aller Gesellschaften ansieht: Ricardo „macht endlich bewußt den Gegensatz der Klasseninteres‐ sen, des Arbeitslohns und des Profits, des Profits und der Grundrente, zum Springpunkt seiner Forschungen, indem er diesen Gegensatz naiv als gesellschaftliches Naturgesetz auffaßt“ (Marx 1867, 20). Marx spricht in diesem Zusammenhang auch vom Fetischcharakter der Ware, des Geldes und des Kapitals, worunter er versteht, dass die Wirtschaft als von Dingen bestimmt erscheint und die entscheidende Rolle der Arbeit als gesellschaftliches Verhältnis durch die Dinge (Waren, Geld, Kapital) verschleiert wird: „Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt“ (Marx 1867, 86). Gegenüber Ricardo können wir fragen: Sind alle unsere sozialen Bezie‐ hungen durch Geld und Märkte vermittelt? Denken wir in der Medienwelt zum Beispiel an Wikipedia, wo enzyklopädisches Wissen als Allgemeingut zur Verfügung gestellt wird und nicht mit Waren gehandelt wird. Was würde passieren, wenn alle unsere sozialen Beziehungen auf Geld, Märkten und Tausch beruhen würden? Hätte das nicht sehr negative Folgen? Stellen Sie sich das folgende Beispiel vor: Zwei angehende Liebhaber treffen sich zu einem Candlelight-Dinner, das einer der beiden kocht. Sie essen das köstliche Essen und trinken Wein. Am Ende des Treffens legt die eingeladene Person einen 100-Euro-Schein auf den Tisch, bevor sie geht, und sagt: „Das war ein so schöner und romantischer Abend mit köstlichem Essen, ich weiß das sehr zu schätzen und möchte meinen Dank in Form von Geld ausdrücken“. Wie würde die andere Person reagieren? Sie könnte wütend sein und schreien: „Bist du verrückt? Mit Geld kann man keine Liebe kaufen. Die Logik des Geldes gehört nicht zu einem Candlelight-Dinner. Ich dachte, wir könnten uns verlieben und ein Paar werden. Geld macht alles kaputt. Das macht mich traurig. Ich möchte dich nicht mehr sehen. Bitte geh! “. Das Beispiel zeigt, dass die Logik des Geldes durchaus entfremdende Wirkungen haben kann. Marx argumentiert nun, dass Geld und Kapital 48 2 Was ist Politische Ökonomie? <?page no="49"?> Aufgabe Merke Frage Literatur Wissen Zusatz Link / www Checkliste Ziele ICON SET 5 als solche entfremdend sind und die Menschen von der selbstbestimmten Kontrolle über ihr Leben entfremden. Sie werden gezwungen, für andere zu arbeiten und die Welt über Waren zu definieren. Liebe und Solidarität sind für die auf Marx aufbauende Denktradition eine Gegenlogik zu Tausch und Konkurrenz. ÜBUNG 2.2: Die Entfremdung und die Logik des Geldes Diskutieren Sie in Gruppen: Sollten alle unsere sozialen Beziehungen durch Geld, Märkte und Tausch vermittelt werden? Warum bzw. warum nicht? Wenn nein, was sind Beispiele für soziale Beziehungen, die nicht durch Geld, Märkte und Tausch vermittelt werden sollten? Können Sie Beispiele nennen, wo die Anwendung der Logik des Geldes und der Waren Schaden angerichtet hat? Wie sieht es in der Welt der Medien aus? Fallen Ihnen Beispiele ein, wo die Logik des Geldes im Bereich der Medien der Gesellschaft Schaden zugefügt hat? Für Crawford Macpherson (1962) ist der Besitzindividualismus die „Auf‐ fassung, dass das Individuum im Wesentlichen Eigentümer seiner eigenen Person oder seiner Fähigkeiten ist und der Gesellschaft nichts dafür schul‐ det“ (Macpherson 1962, 3). Nach Macpherson ist der Besitzindivudalismus die der liberal-demokratischen Theorie seit John Locke und John Stuart Mill zugrunde liegende Weltanschauung. Marx kritisierte den von der Klassischen Politischen Ökonomie vertrete‐ nen Besitzindividualismus in Bezug auf vier Aspekte: - 1. Marx argumentiert, dass es keine rein individuelle Existenz gibt. Die gesamte menschliche Existenz ist gesellschaftlich bedingt. Marx be‐ schrieb die Stellung des Verhältnisses von Privatem und Allgemeinem in den Theorien der Klassischen Politischen Ökonomen: „Die Ökonomen drücken das so aus: Jeder verfolgt sein Privatineresse und nur sein Privatineresse und dient dadurch, ohne es zu wollen und zu wissen, den Pri‐ vatinteressen aller, den allgemeinen Interessen. Der Witz besteht nicht darin, daß, indem jeder sein Privatinteresse verfolgt, die Gesamtheit der Privatinteressen, 2.3 Ansätze der Politischen Ökonomie 49 <?page no="50"?> also das allgemeine Interesse erreicht wird. […] Die Pointe liegt vielmehr darin, dass das Privatinteresse selbst schon ein gesellschaftlich bestimmtes Interesse ist und nur innerhalb der von der Gesellschaft gesetzten Bedingungen und mit den von ihr gegebnen Mitteln erreicht werden kann, also an die Reproduktion dieser Bedingungen und Mittel gebunden ist. Es ist das Interesse der Privaten; aber dessen Inhalt, wie Form und Mittel der Verwirklichung, durch von allen unabhängige gesellschaftliche Bedingungen gegeben“ (Marx 1857/ 1858, 90). Marx argumentiert, dass der Begriff des Privaten in der Klassischen Politi‐ schen Ökonomie individualistisch ist und vernachlässigt, dass alle individu‐ ellen Handlungen innerhalb der Gesellschaft stattfinden und von ihr bedingt werden. - 2. Marx argumentiert, dass der von liberalen Theorien geförderte Individualismus zu einem Egoismus führt, der dem Gemeinwohl schadet: Marx hebt außerdem hervor, dass die kapitalistische Gesellschaft nicht nur auf Individualismus, sondern auch auf Egoismus beruht (Marx 1843b, 354-357, 364, 366, 369-370). Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft ist „Freiheit des Menschen als isolierter auf sich zurückgezogener Monade […] Die praktische Nutzanwendung“ der Freiheit ist das Privateigentum (Marx 1843b, 364, 365). Marx argumentiert, dass die grenzenlose Anhäufung von Kapital in den Händen einzelner der Gemeinschaft und dem sozialen Wohl‐ ergehen der anderen schade. Dies führe zum Eigennutzen als „Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft“ (Marx 1843b, 365). Der Kapitalismus fördere den „egoistischen Menschen“, dem „vom Gemeinwesen getrennten Menschen“ (Marx 1843b, 364). Marx kritisiert weiter, dass die Kapitalakkumulation zu einer Konzentration des Kapitals und damit des Reichtums führe: „Die Akkumulation, welche unter der Herrschaft des Privateigentums Konzen‐ tration des Kapitals in wenigen Händen ist, ist überhaupt eine notwendige Konsequenz, wenn die Kapitalien ihrem natürlichen Lauf überlassen wer‐ den, und durch die Konkurrenz bricht sich diese natürliche Bestimmung des Kapitals erst recht freie Bahn“ (Marx 1844, 488). Das heißt, Marx sagt hier, dass das Kapital die Tendenz hat, Monopole zu bilden. 50 2 Was ist Politische Ökonomie? <?page no="51"?> 3. Marx argumentiert, dass die Konzepte des Privateigentums und des Individualismus ideologische Grundlagen der modernen Klassenstruktur sind: Marx sagt, dass das „Prinzip des Individualismus“ (285) des Kapitalismus „den Menschen in die Beschränktheit seiner Privatsphäre zurückzustürzen“ versucht (Marx 1843a, 285). Marx argumentiert, dass die private Sphäre im Kapitalismus mit dem Klassenantagonismus verbunden ist. „Aber die Arbeit, das subjektive Wesen des Privateigentums als Ausschließung des Ei‐ gentums, und das Kapital, die objektive Arbeit als Ausschließung der Arbeit, ist das Privateigentum als sein entwickeltes Verhältnis des Widerspruchs, darum ein energisches, zur Auflösung treibendes Verhältnis“ (Marx 1844, 533). Die kapitalistische Produktionsweise beruht zum einen auf der „Verge‐ sellschaftung der Arbeit“ und den „gesellschaftlich ausgebeutete[n], also gemeinschaftliche[n] Produktionsmittel“ (Marx 1867, 790). Diese gesell‐ schaftliche Dimension des Kapitalismus wird nach Marx durch das Privat‐ eigentum an den Produktionsmitteln unterminiert: „Privateigentum, als Gegensatz zum gesellschaftlichen, kollektiven Eigentum, besteht nur da, wo die Arbeitsmittel und die äußeren Bedingungen der Arbeit Privatleuten gehören“ (Marx 1867, 789). Laut Marx ist der Kapitalismus ein System „der Erzeugung und Aneignung der Produkte, die auf Klassengegensätzen, auf der Ausbeutung der einen durch die andern“ basiert (Marx & Engels 1848, 475). Für Marx ist die kapitalistische Wirtschaft politisch, weil sie für ihn von einem Klassenkonflikt zwischen Arbeiter: innen und Kapitalist: inn: en geprägt ist, zwei Klassen, die seiner Meinung nach entgegengesetzte Inter‐ essen haben. Marx stellte die klassische Auffassung in Frage, dass sich die Märkte selbst regulieren, und argumentierte, dass der Kapitalismus von Natur aus krisenanfällig ist. Für Marx basiert die kapitalistische Wirtschaft auf der Akkumulation von Kapital, was bedeutet, dass die Unternehmen gezwungen sind, immer mehr Profit zu machen, d. h. das investierte Geld zu vermehren, um auf dem Markt überleben zu können. Er spricht in diesem Zusammen‐ hang von Mehrwert, Mehrarbeit und Mehrprodukt, womit er meint, dass die Arbeiter mehr produzieren als sie bezahlt bekommen. In Das Kapital Band 1 beschreibt er die Logik des Kapitalismus mit folgenden Worten: 2.3 Ansätze der Politischen Ökonomie 51 <?page no="52"?> „Akkumuliert, Akkumuliert! Das ist Moses und die Propheten! ‚Die Industrie liefert das Material, welches die Sparsamkeit akkumuliert.‘ Also spart, spart, d. h., rückverwandelt möglichst großen Teil des Mehrwerts oder Mehrprodukts in Kapital! Akkumulation um der Akkumulation, Produktion um der Produktion willen, in dieser Formel sprach die klassische Ökonomie den historischen Beruf der Bourgeoisperiode aus. Sie täuschte sich keinen Augenblick über die Geburts‐ wehn des Reichtums, aber was nützt der Jammer über historische Notwendigkeit? Wenn der klassischen Ökonomie der Proletarier nur als Maschine zur Produktion von Mehrwert, gilt ihr aber auch der Kapitalist nur als Maschine zur Verwandlung dieses Mehrwerts in Mehrkapital. Sie nimmt seine historische Funktion in bitterm Ernst“ (Marx 1867, 621). Marx argumentiert in diesem Zitat, dass der Kapitalismus auf der Akkumu‐ lation von Geldkapital beruht und dass die Akkumulation dadurch zum Selbstzweck wird. Er betont außerdem, dass das Kapital die Arbeiter: innen, die den Mehrwert produzieren, ausbeutet. Marx charakterisiert den Warenverkauf als x Ware A = y Ware B: Eine bestimmte Menge einer Ware wird gegen eine bestimmte Menge einer anderen Ware getauscht. Geld ist für Marx die verallgemeinerte Ware, die gegen jede andere Ware getauscht werden kann, so dass x Ware A = y Ware B = z Geldmenge. Dies nennt er die Geldform. In den drei Bänden von Das Kapital analysiert Marx den Zyklus der Kapitalakkumulation, den er wie folgt charakterisiert: G - W (Pm, Ak) . . P . . W’ - G’. Das bedeutet, dass Unternehmen in der kapitalistischen Wirtschaft Geld G investieren, um Waren W zu kaufen, nämlich Produkti‐ onsmittel (Pm: Technologien, Ressourcen, Gebäude) und Arbeitskraft (Ak: das Arbeitsvermögen, die Fertigkeiten, Subjektivtäten und Kenntnisse, die die Arbeitenden im Produktionsprozess einsetzen). Im Produktionsprozess P setzen die Arbeitnehmer ihre Arbeitskraft ein, um die Produktionsmittel zu nutzen, wodurch eine neue Ware W' entsteht. Die neue Ware W' enthält ein Mehrprodukt: Die Arbeit macht mehr aus der Ware als die zu ihrer Herstellung verwendeten Waren. Und die Ware enthält durch die Arbeit Mehrwert, was bedeutet, dass die durchschnittliche Anzahl von Stunden, die zur Produktion einer Ware benötigt wird, ein Äquivalent der Stunden enthält, für die die Arbeiter: innen bezahlt werden, plus einen unbezahlten Teil. Die neue Ware W' wird dann auf einem Markt verkauft. Wenn der Verkauf erfolgreich ist, wird eine höhere Geldsumme G' geschaffen, die größer ist als die investierte Geldsumme G: G’ = G + ΔG. Der Überschuss ΔG 52 2 Was ist Politische Ökonomie? <?page no="53"?> über den investierten Geldbetrag G wird auch als Profit bezeichnet. Nach Marx ist das Kapital ein dynamischer Prozess, der eine „Metamorphose“ durchläuft, d. h. es nimmt im Zyklus der Kapitalakkumulation die Form von Geld (G, G') und Waren (W, W') an. Ein Teil des Kapitals G' wird für die Zahlung von Zinsen an Banken, Miete an diejenigen, von denen die Unternehmen Eigentum pachten, Dividenden an Aktionäre und Boni an Manager verwendet. Der Rest wird reinvestiert. Das Ziel besteht darin, in kürzerer Zeit mehr zu produzieren, um immer mehr Profit zu machen. Dies ist nach Marx die Logik der kapitalistischen Wirtschaft. Die Neoklassische Politische Ökonomie Die Neoklassische Politische Ökonomie ist ein Ansatz, der in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts entstanden ist. Zu den grundlegenden Werken gehören William S. Jevons’ (1863) General Mathematical Theory of Political Economy, Carl Mengers (1871) Principles of Economics, Léon Walras’ (1874) Elements of Pure Economics und Alfred Marshalls (1890) Principles of Economics. Zwei Dinge werden aus diesen Buchtiteln deutlich: Erstens konzentrieren sich viele der neoklassischen Ansätze auf mathematische Modelle der Wirtschaft. Und zweitens haben viele neoklassische Ansätze den Begriff „Politische Ökonomie“ (Political Economy) aufgegeben und verwenden statt‐ dessen den Begriff „Economics“ („Wirtschaftswissenschaft“). Klassische Politische Ökonomen wie Smith und Ricardo und die Kritik der Politischen Ökonomie von Marx unterscheiden sich in ihren Theorien, haben aber das Interesse gemeinsam, die Analyse der Wirtschaft mit der Moralphilosophie zu verbinden. Sie waren nicht nur Ökonomen, sondern auch Philosophen. „In dem Bestreben, eine mathematische und sparsame Wissenschaft zu werden, hat die Wirtschaftswissenschaft die meisten der grundlegenden Merkmale, die die Politische Ökonomie kennzeichnen, abgelegt“ (Mosco 2009, 46). In der Neoklassischen Politischen Ökonomie spielt die Philosophie eine untergeordnete oder gar keine Rolle. Man kann sogar sagen, dass die Mathematik in den neoklassischen Ansätzen den Fokus und das Interesse der Klassischen und Kritischen Politischen Ökonomie an Ethik und Philosophie weitgehend ersetzt hat. William Jevons schreibt, man solle „den Namen Politische Ökonomie“ durch den „einzigen bequemen Begriff Economics (Wirtschaftswissenschaft)“ ersetzen (xxxv). Politische Ökonomie wäre ein „alter, lästiger Doppelname“ (xxxv). Gleichzeitig argumentiert er, dass die 2.3 Ansätze der Politischen Ökonomie 53 <?page no="54"?> „Wirtschaftswissenschaft, wenn sie überhaupt eine Wissenschaft sein soll, eine mathematische Wissenschaft sein muss“ (3). Für Jeremy Bentham (2000) hat die Nützlichkeit mit Schmerz und Vergnü‐ gen zu tun (14). „[Action can] augment or diminish the happiness of the party whose interest is in question“ (Bentham, 2000 14). Aufbauend auf Benthams Konzept der Nützlichkeit („utility“ im Englischen) argumentieren viele Neoklassische Politische Ökonomen, dass die Menschen in der Wirtschaft dazu neigen, so zu handeln, dass sie die Nützlichkeit der Güter für sich selbst und die individuelle Zufriedenheit maximieren. „Pleasure and pain are undoubtedly the ultimate objects of the Calculus of Economics. To satisfy our wants to the utmost with the least effort - to procure the greatest amount of what is desirable at the expense of the least that is undesirable - in other words, to maximise pleasure, is the problem of Economics“ ( Jevons 1871, 37). „[The] object of Economics is to maximise happiness by purchasing pleasure, as it were, at the lowest cost of pain“ ( Jevons 1871, 23). Neoklassische Ökonom: inn: en sehen die Preise und den Wert von Gütern durch die subjektiven Nützlichkeit bestimmt, was bedeutet, dass der Wert für sie nicht objektiv durch die Arbeitszeit definiert ist, sondern subjektiv durch das, was die Marktteilnehmer für den Wert eines Gutes halten. „Repeated reflection and inquiry have led me to the somewhat novel opinion, that value depends entirely upon utility. Prevailing opinions make labour rather than utility the origin of value; and there are even those who distinctly assert that labour is the cause of value“ ( Jevons 1871, 1). Die Neoklassische Ökonomik geht davon aus, dass wirtschaftliches Han‐ deln auf rationalen Berechnungen und Präferenzordnungen beruht. Dies wird auch als rationale Entscheidung oder rationale Wahl (Rational Choice) bezeichnet. Diese Ökonomen sagen, dass Individuen Verhaltensweisen wählen, die ihr eigenes Wohlergehen maximieren und dass das Wohlergehen der Gruppe aus individuellen rationalen Entscheidungen resultiert. Sie argumentieren, je wettbewerbsfähiger die Märkte sind, desto mehr Wahl‐ möglichkeiten gibt es und desto wahrscheinlicher ist sozialer Wohlstand. Sie lehnen in der Regel eine Regulierung der Wirtschaft durch den Staat ab und reduzieren die Rolle des Staates auf die Sicherung des Privateigentums. Die Chicagoer Schule der Wirtschaftswissenschaft (Chicago School of Eco‐ nomics) ist eine besondere Version und Weiterentwicklung der Neoklassi‐ schen Politischen Ökonomie. Zu ihren Vertretern gehören u. a. George Stig‐ ler (1911-1991), Friedrich Hayek (1899-1992), Milton Friedman (1912-2006) und Gary Becker (1930-2014). Hayek erhielt 1974 den Nobel-Gedächtnispreis 54 2 Was ist Politische Ökonomie? <?page no="55"?> für Wirtschaftswissenschaften, Friedman im Jahr 1976, Stigler im Jahr 1982 und Becker im Jahr 1992. Die Chicagoer Schule ist für ihren Marktradika‐ lismus bekannt, d. h. sie propagiert den Markt als Organisationsprinzip für große Teile der Gesellschaft. Sie beeinflusste Politiker und Regierungen wie die von Ronald Reagan und Margaret Thatcher, die als politische Wegberei‐ ter des Neoliberalismus bekannt wurden, eines Gesellschaftsmodells, das weitgehend auf der Logik des Marktes und der Waren beruht und die Welt von den 1980er Jahren bis in die 2010er Jahre dominierte. Hayek vertritt das Theorem der unsichtbaren Hand von Adam Smith: „We are led - for example, by the pricing system in market exchange - to do things by circumstances of which we are largely unaware and which produce results that we do not intend“ (Hayek 1988, 14). Er propagiert Wettbewerb statt Kooperation und egoistisches Handeln des Einzelnen statt Solidarität. Hayek argumentiert, dass es zwei Formen von Ordnungen gibt: spontane, sich selbstbildende, selbstorganisierende Ordnungen (Kosmos) und geplante Ordnungen (Taxis). Er meint, dass jeder Versuch des Menschen und des Staates, in die Märkte einzugreifen, schädlich ist und Probleme schafft. Nur sich selbst überlassen, würde die Wirtschaft gute Ergebnisse hervorbringen. Für Hayek ist die Annahme, dass der Mensch die Welt seinen Wünschen gemäß gestalten könne („that man is able to shape the world around him according to his wishes“, Hayek 1988, 27), eine verhängnisvolle Anmaßung („fatal conceit“), die die Grundlage des Sozialismus darstelle. Für Hayek ist der Markt ein Informationssystem, das die Wirtschaft spontan ordnet und Wohlstand schafft. Der Kapitalismus habe die überlegene Fähigkeit zur Nutzung von verteiltem Wissen („[the] superior capacity to utilise dispersed knowledge“, Hayek 1988, 8). Milton Friedman argumentierte ähnlich wie Hayek. Er sagt, dass der Markt nicht in die Einkommensverteilung in der Gesellschaft eingreifen sollte: „Das ethische Grundprinzip, das die Einkommensverteilung in einer vom freien Markt geprägten Gesellschaft unmittelbar rechtfertigen würde, müsste lauten: ‚Jedem dasjenige, was er und die in seinem Besitz befindli‐ chen Mittel erwirtschaften‘“ (Friedman 2004, 193). Sowohl Hayek als auch Friedman vertraten die Ansicht, dass Eingriffe des Staates in die Wirtschaft zu Tyrannei wie in Stalins Russland führen und dass der Staat daher besser nicht die Märkte regulieren sollte. Damit setzen sie die Sozialdemokraten, die eine Gesellschaft, die allen zugutekommt, mit Demokratie verbinden wollen, mit dem Stalinismus gleich, der antidemokratisch ist und für eine bürokratisch kontrollierte Wirtschaft eintritt. 2.3 Ansätze der Politischen Ökonomie 55 <?page no="56"?> Auch Friedman propagiert Adam Smiths Idee der unsichtbaren Hand: „[gute Ergebnisse sind] die Folge der Initiative und des Unternehmungs‐ geistes von Einzelnen, die im freien Markt zusammenarbeiten. Staatliche Maßnahmen behinderten diese Entwicklung, anstatt sie zu unterstützen. […] Die unsichtbare Hand erreichte mehr Fortschritt als die sichtbare Hand Rückschritt“ (Friedman 2004, 237). Überzeugt vom Theorem der unsichtba‐ ren Hand argumentiert Friedman, dass es „die soziale Verantwortung der Unternehmen ist, ihre Gewinne zu steigern“ (Friedman 1970/ 2015, 110). Hayek und Friedman haben eine individualistische Auffassung von Frei‐ heit. Freiheit bedeutet für sie, dass der Einzelne tun und lassen kann, was er will, ohne dass ihm Grenzen gesetzt werden. Konzepte der sozialen Freiheit argumentieren dagegen, dass individuelle Freiheit wichtig ist, solange sie anderen nicht schadet, und dass Egoismus dem Gemeinwohl schaden kann, was eine Politik erfordert, die die Verteilung von Einkommen und Vermögen regelt und egoistischem Handeln Grenzen setzt. Hayek und Friedman betrachten soziale und gesellschaftliche Phänomene ausschließlich auf indi‐ vidueller Basis. Sie argumentieren, dass egoistisches individuelles Handeln zu guten Ergebnissen auf der gesellschaftlichen Ebene führt. Dieser Ansatz wird auch als methodologischer Individualismus bezeichnet. Dialektische Ansätze hingegen gehen davon aus, dass die soziale Ebene der Gesellschaft und die individuelle Ebene zusammenwirken und dass Strukturen wie der Staat und das individuelle Handeln in ihrer Wechselwirkung die Gesellschaft hervorbringen und reproduzieren. Der neokeynesianische Ökonom Thomas Piketty charakterisiert die Welt‐ anschauung, die von Hayek und Friedman vertreten wurde, als Neopro‐ prietarismus - die Propagierung eines radikalen Rechts auf individuelle Reichtumssteigerung ohne staatliche Umverteilung hin zu den Ärmeren, ohne Gerechtigkeitsüberlegungen und ohne Rücksicht auf Leid. „Es waren die konservative Revolution der 1980er Jahren, der Zusammenbruch des Sowjetkommunismus und das Aufkommen eienr neuen Ideologie neopro‐ prietaristischen Typs, die der Welt in diesem beginnenden 21. Jahrhundert beeindruckende Niveaus einer Einkommens- und Vermögenskonzentration beschert haben, die offenbar außer Kontrolle geraten sind“ (Piketty 2020, 1185-1186). Der Kritische Politische Ökonom David Harvey argumentiert, dass Hayek und Friedman, die eine Schlüsselrolle in der Mont Pelerin Society spielten, die neoliberale Theorie begründeten, die sich „zutiefst gegen staatsinter‐ ventionistische Theorien wie die von John Maynard Keynes“ wendet, an 56 2 Was ist Politische Ökonomie? <?page no="57"?> den „Prinzipien des freien Marktes der neoklassischen Ökonomie“ festhält (Harvey 2005, 20) und in der Politik sehr einflussreich wurde, als Margaret Thatcher im Vereinigten Königreich 1979 und Ronald Reagan in den USA 1981 an die Macht kamen. Harvey charakterisiert den Neoliberalismus wie folgt: „Neoliberalism is in the first instance a theory of political economic practices that proposes that human well-being can best be advanced by liberating individual entrepreneurial freedoms and skills within an institutional framework characte‐ rized by strong private property rights, free markets, and free trade. The role of the state is to create and preserve an institutional framework appropriate to such practices. The state has to guarantee, for example, the quality and integrity of money. It must also set up those military, defence, police, and legal structures and functions required to secure private property rights and to guarantee, by force if need be, the proper functioning of markets. Furthermore, if markets do not exist (in areas such as land, water, education, health care, social security, or environmental pollution) then they must be created, by state action if necessary. But beyond these tasks the state should not venture. State interventions in markets (once created) must be kept to a bare minimum because, according to the theory, the state cannot possibly possess enough information to second-guess market signals (prices) and because powerful interest groups will inevitably distort and bias state interventions (particularly in democracies) for their own benefit. There has everywhere been an emphatic turn towards neoliberalism in political-economic practices and thinking since the 1970s“ (Harvey 2005, 2). Für Harvey ist der Neoliberalismus eine Theorie, Ideologie und Form der Politik, die die Ausweitung der Marktwirtschaft als Organisationsprinzip auf viele Bereich der Gesellschaft fordert, auch auf jene, die in vielen Gesellschaften als öffentliche Dienstleistungen organisiert sind. Harvey argumentiert, dass der Neoliberalismus die Ungleichheit verstärkt hat: „Redistributive effects and increasing social inequality have in fact been such a persistent feature of neoliberalization as to be regarded as structural to the whole project. Gérard Duménil and Dominique Lévy, after careful reconstruction of the data, have concluded that neoliberalization was from the very beginning a project to achieve the restoration of class power“ (Harvey 2005, 16; siehe auch Duménil & Lévy 2004). Neoliberale Politiker: innen wie Ronald Reagan und Margaret Thatcher haben die Lehren von Hayek und Friedman in die politische Praxis umge‐ setzt. Ihre Politik war geprägt durch Privatisierungen, Steuergeschenke 2.3 Ansätze der Politischen Ökonomie 57 <?page no="58"?> für Wohlhabende und Unternehmen, die Unterfinanzierung öffentlicher Dienste und des Wohlfahrtsstaates, die Zurückdrängung des Einflusses von Gewerkschaften, die Deregulierung der Wirtschaft und der Finanzmärkte sowie die Umverteilung des Wohlstandes von der lohnabhängig arbeitenden Bevölkerung zu den Reichen und Kapitaleigentümern. Das Ergebnis waren wachsende Ungleichheiten und das Entstehen hochriskanter Finanzmärkte, die 2008 eine Weltwirtschaftskrise auslösten. Die Journalistin Naomi Klein (2007, 703) argumentiert, dass sich extreme „Einkommensunterschiede […] als Folge des umfassenden Triumphs der Wirtschaftsphilosophie der Chicagoer Schule einstellten“. Land 1975 1980 1990 2000 2008 2024 USA 61,1 61,7 60,8 61,4 58,5 56,7 Großbritan‐ nien 66,4 59,3 55,4 55,0 57,4 55,5 Deutschland 64,1 63,7 58,8 59,0 55,2 56,9 Frankreich 65,8 65,9 58,3 55,9 55,7 55,9 Italien 66,5 63,4 58,4 50,9 52,7 52,5 Norwegen 59,9 54,2 52,8 45,7 44,5 41,1 Türkei n. a. - 72,6 55,0 42,0 43,6 Japan n. a. 71 62,7 61,5 59,2 57,0 Tabelle 2.1: Die Entwicklung der Lohnquote in ausgewählten Ländern, Datenquelle: AMECO, bereinigte Lohnquote, Gesamtwirtschaft, BIP zu jeweiligen Marktpreisen, aufge‐ rufen am 13. Februar 2023 Die Lohnquote ist der Anteil der Löhne am Volksvermögen, dem Brutto‐ inlandsprodukt (BIP). Tabelle 2.1 zeigt, wie sich die Lohnquote in ausge‐ wählten Ländern in der Phase des neoliberalen Kapitalismus entwickelt hat. Die Daten bestätigen die zunehmende sozioökonomische Ungleichheit. In allen ausgewählten Ländern war die Lohnquote 2008, als eine neue Weltwirtschaftskrise begann, deutlich niedriger als 1975 oder 1980, als der Neoliberalismus begann, die Gesellschaften weltweit zu verändern. Im Jahr 2024, also mehr als 15 Jahre später, hatte sich die Lage der Arbeiterklasse hinsichtlich der Lohnquote nicht verbessert. Ein Rückgang der Lohnquote 58 2 Was ist Politische Ökonomie? <?page no="59"?> bedeutet gleichzeitig eine Zunahme der Macht des Kapitals, da der vom Kapital kontrollierte Reichtum im Verhältnis zum Rückgang der Lohnquote wächst. Selbst die skandinavischen Länder wie Norwegen, die oft für ihre Wohlfahrtsstaaten gelobt werden, sind von einer sinkenden Lohnquote betroffen. Die Keynesianische Politische Ökonomie John Maynard Keynes (1883-1946) war ein englischer Wirtschaftswissen‐ schaftler, der die Neoklassische Wirtschaftswissenchaft in Frage stellte und die Idee des Wohlfahrtsstaates vorantrieb und verbreitete. Sein wichtigstes Buch ist The General Theory of Employment, Interest and Money (Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, Keynes 1936/ 2017). Keynes‘ Theorie unterscheidet sich von der Klassischen und Neoklassi‐ schen Politischen Ökonomie durch die Annahme, dass privatkapitalistisches Handeln nicht automatisch dem Gemeinwohl dient. Er geht davon aus, dass es ein Spannungsverhältnis zwischen Kapital und Arbeit gibt. Marx nahm an, dass es eine grundlegende Inkongruenz und einen Antagonismus gibt. Keynes argumentiert, dass die Märkte Probleme der Gesamtnachfrage verursachen. Er stellt die Selbstregulierungsfähigkeit des Marktes in Frage. „Unsere Argumentation bringt uns also zu dem Schluss, dass das Wachstum des Wohlstandes unter derzeitigen Bedingungen weit davon entfernt ist, von der Enthaltsamkeit der Reichen abhängig zu sein, wie gemeinhin ange‐ nommen wird. Es ist vielmehr wahrscheinlich, dass es dadurch behindert wird“ (Keynes 1936/ 2017, 309). Keynes war ein Gegner der Neoklassischen Politischen Ökonomie. Er argumentierte, dass der Kapitalismus, wenn er sich selbst überlassen wird und der Staat nicht eingreift, zu Problemen wie Ungleichheit und Arbeits‐ losigkeit führt: „Die auffälligsten Fehler unserer Volkswirtschaft sind ihre Unfähigkeit, für Vollbeschäftigung zu sorgen, und ihre willkürliche und ungerechte Verteilung von Vermögen und Einkommen“ (Keynes 1936/ 2017, 308). Keynes‘ Kritik an der Neoklassischen Ökonomik und der von ihr postulierten Wirtschaftsordnung ist, „dass sie die wirtschaftlichen Problem der realen Welt nicht zu lösen“ vermögen (312). Er argumentiert, dass die „Wirtschaftskräfte“ des Kapitalismus „eingeschränkt oder gesteuert“ (313) werden müssen. Keynes schreibt, dass die Schaffung des Wohlfahrts‐ staates mit ihren „Maßnahmen zur Einkommensumverteilung […] die Konsumneigung aller Wahrscheinlichkeit nach“ erhöht und „günstig für 2.3 Ansätze der Politischen Ökonomie 59 <?page no="60"?> die Kapitalbildung“ ist (308). Er sagt, dass es Ungleichheiten geben kann, aber sie sollten nicht extrem sein. Keynes‘ Ziel war es, Wege zu finden, wie man den Kapitalismus zähmen kann. Seine Idee des Wohlfahrtsstaa‐ tes basiert auf kostenlosen öffentlichen Dienstleistungen, einem „System starker Besteuerung von hohen Einkommen“ (311), der Schaffung von Arbeitsplätzen durch öffentliche Investitionen und Projekte, Einkommens‐ umverteilung, kollektiven Lohnverhandlungen, dem Staat als Arbeitgeber sowie staatlichen Kreditaufnahme und Ausgaben. „[Dazu bedarf es] einer gewaltigen Ausweitung der traditionellen Aufaben der Regierungen“ (313). Der Laissez-faire-Kapitalismus würde die Kriegsgefahr erhöhen (315-316). Keynes formulierte auch eine Kritik an der Finanzialisierung, die auch heute noch aktuell ist: „Wenn die Kapitalbildung in einem Land ein Neben‐ produkt der Aktivitäten eiens Spielkasinos wird, dann wird diese Aufgabe alles andere als gut erledigt“ (Keynes 1936/ 2017, 139). 2.4 Weitere Ansätze der Politischen Ökonomie Es gibt nicht nur diese vier Ansätze der Politischen Ökonomie, die hier aufgeführt wurden, sondern noch weitere. Wir können diese nicht alle erör‐ tern, sondern nur einige Beispiele für weitere Stränge anführen. Drei davon sind die Feministische Politische Ökonomie, die Politische Ökonomie des Rassismus und die Politische Ökonomie der Umwelt (Politische Ökologie). Sie überschneiden sich teilweise mit der Marx’schen Politischen Ökonomie und der Keynesianischen Politischen Ökonomie. Feministische Politische Ökonomie Die Feministische Politische Ökonomie widmet der Analyse der geschlechts‐ spezifischen Aspekte des Kapitalismus besondere Aufmerksamkeit, ein‐ schließlich der Analyse der Rolle der Frauen in den Klassenbeziehungen, der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und der Reproduktionsarbeit, d. h. der Arbeit, die zur Reproduktion der Arbeitskraft beiträgt, wie z. B. die Arbeit im Haushalt und die Pflegearbeit. ● „Gender, race/ ethnicity and regionality/ nationality interact with class in various ways with one being more salient than another at different points in time. The problem for socialist feminism is to develop a 60 2 Was ist Politische Ökonomie? <?page no="61"?> theoretical account of these different types of oppression and the relations between them with a view to ending them all. To end the subordination of women, we need theory, research and action. Theory guides our research and action, and research and action provide the basis for our theorizing“ (Armstrong & Connelly 1989, 5-6). ● „The gendered organization of political economic processes has been insisted upon; issues of biological reproduction and of sexuality have been incorporated; important studies of women‘s paid work, women in the trade union movement and of the development of state management of women‘s domestic lives, have been done“ (Smith 1989, 48). Die Feministische Kritische Politische Ökonomie ist eine Analyse der Bezie‐ hung zwischen Patriarchat und Kapitalismus. Der Begriff kapitalistisches Patriarchat unterstreicht „die sich gegenseitig verstärkende dialektische Beziehung zwischen der kapitalistischen Klassenstruktur und der hierar‐ chischen Geschlechterstruktur“ (Eisenstein 1979, 5). Der Begriff des kapi‐ talistischen Patriarchats ist für einige Vertreter: innen der Feministischen Politischen Ökonomie die „Anerkennung der Hausarbeit als produktive Arbeit und als Bereich der Ausbeutung und als Quelle der Kapitalakkumula‐ tion“ (Mies 2014, 32). Sylvia Walby (1990, 13) argumentiert, dass „Hausfrauen und Ehemänner sind Klassen, aber Männer und Frauen sind es nicht. Das heißt, dass bestimmte Aspekte der patriarchalischen Verhältnisse durch das Konzept der Klasse erfasst werden können, aber nicht alle. Außerdem wirkt sich das Geschlecht auf die Klassenverhältnisse im Kapitalismus aus. Das bedeutet, dass es zwei Klassensysteme gibt, das eine basiert auf dem Patriarchat, das andere auf dem Kapitalismus“. Die Politische Ökonomie des Rassismus Die Politische Ökonomie des Rassismus untersucht die Beziehung zwischen Rassismus und Kapitalismus in der Form von rassistischer Lohndiskrimi‐ nierung („ungleiche Bezahlung für die gleiche Arbeit“, Leiman 1993, 146), rassistischer Beschäftigungsdiskriminierung („Schwarze werden aufgrund ihrer Rassenzuschreibung nicht eingestellt, was zu einer höheren Arbeits‐ losenquote für Schwarze als für Weiße führt“, 147), rassistischer berufli‐ cher Diskriminierung („Einstellung von mehr Schwarzen als Weißen in minderwertigen Berufen“, 147) und rassistischer Zugangsdiskriminierung („Verweigerung der Möglichkeit für Schwarze, Qualifikationen zu erwer‐ 2.4 Weitere Ansätze der Politischen Ökonomie 61 <?page no="62"?> ben“, 214). Die Kritik der Politischen Ökonomie des Rassismus „trägt dazu bei, die grundlegenden Realitäten des Rassismus zu beleuchten, indem sie den Schwerpunkt auf die sich verändernde sozioökonomische Struktur, die Beziehung zwischen Klasse und Rasse und das politische Bewusstsein der historischen Akteure legt“ (Leiman 1993, 147). Rassistischer Kapitalismus (racial capitalism) ist ein Konzept, das in der Kritik der Politischen Ökonomie des Rassismus eingeführt wurde. Cedric J. Robinson zeigt, dass die Ausbeutung farbiger Menschen ein wichtiger Aspekt der politischen Ökonomie des Kapitalismus seit den Anfängen dieser Gesellschaftsformation ist. Die rassistische Arbeitsteilung des Kapitalismus begann mit dem transatlantischen Sklavenhandel im 16. Jahrhundert. Der Rassismus entstand als Ideologie, die die „Beherrschung, Ausbeutung und/ oder Ausrottung von Nicht-Europäern (einschließlich Slawen und Juden)“ rechtfertigte (Robinson 2000, 27). „Rassistischer Kapitalismus könnte ein Name für die Extraktion von Mehrwert aus untergeordneten Gruppen sein, oder er könnte ein Name für die rassifizierte Enteignung von Ressourcen aus Bevölkerungsgruppen sein, die als entbehrlich gelten, oder er könnte auf Prozesse der Vertreibung hinweisen - und er könnte, höchstwahrschein‐ lich, ein Name für die Welt sein, die aus diesen kombinierten Prozessen hervorgeht“ (Bhattacharyya 2018, 181). Rassistischer Kapitalismus bedeutet, dass Rassismus genutzt wird, um kapitalistische Interessen durchzusetzen (Bhattacharyya 2018, 103). Die Politische Ökonomie der Umwelt (Politische Ökologie) Die Politische Ökonomie der Umwelt (Politische Ökologie) hat versucht, die Politische Ökonomie und die Umweltwissenschaft zu integrieren. Sie analysiert, „wie Menschen die Institutionen und Organisationen, die die Materialflüsse, die die Menschen ernähren, produzieren und regulieren (Unternehmen und der Staat), kontrollieren und regelmäßig um diese Kontrolle kämpfen. Die Forschung zur Politischen Ökonomie der Umwelt konzentriert sich auf die Umweltauswirkungen dieser Flüsse und darauf, wie Regulierungsbehörden versuchen, die Bemühungen um die Anhäufung von Reichtum zu gestalten, ohne dabei lebenswichtige Umweltleistungen wie einen sicheren Ort zum Leben und sichere Lebensmittel und Wasser zu gefährden. Die wissenschaftliche Arbeit zur Politischen Ökonomie der Umwelt umfasst auch die Bemühungen nichtstaatlicher Akteure - das 62 2 Was ist Politische Ökonomie? <?page no="63"?> Unternehmen und soziale Umweltbewegungen -, Umweltpolitik und -ver‐ halten zu gestalten“ (Rudel, Roberts & Carmin 2011, 222). Clapp (2018) unterscheidet zwischen einem liberalen, einem institutionel‐ len und einem politischen Ansatz der Politischen Ökonomie der Umwelt. „Environmental political economists have extended the focus of political economy. Some scholars focus their analysis on trying to understand the ways in which economic activity affects environmental outcomes, while others concentrate their efforts on the political challenges of designing and implementing economic policy tools to address environmental problems“ (Clapp 2018, 430). Die Kritik der Politischen Ökonomie der Umwelt untersucht das Ver‐ hältnis von Kapitalismus und Natur. So argumentiert James O'Connor (1998), dass es im Kapitalismus nicht nur einen Klassenantagonismus und einen Antagonismus zwischen Produktivkräften und Produktionsverhält‐ nissen gibt, sondern auch einen „zweiten Widerspruch des Kapitalismus“ (O'Connor 1998, 158-177), „den Widerspruch zwischen den kapitalistischen Produktionsverhältnissen (und Produktivkräften) und den Bedingungen der kapitalistischen Produktion oder ‚kapitalistischen Verhältnissen und den Kräften der gesellschaftlichen Reproduktion‘“ (O'Connor 1998, 160). Dies bedeutet, dass es „einen potenziellen katastrophalen Konflikt zwischen dem globalen Kapitalismus und der globalen Umwelt“ gibt (Foster 2002, 10). Die Analyse von Geschlecht, Rassismus und Umwelt ist für die Politische Ökonomie von Bedeutung. Geschlechtsspezifische Diskriminierung und Ausbeutung, Rassismus und die Zerstörung der Umwelt können nicht auf den Kapitalismus reduziert werden, sondern haben in der kapitalistischen Wirtschaft und Gesellschaft eine besondere Rolle gespielt, die die Politische Ökonomie untersuchen sollte. 2.5 Schlussfolgerungen Dieses Kapitel hat die Frage gestellt: Was ist Politische Ökonomie? Wir können nun die wichtigsten Ergebnisse zusammenfassen: - Erkenntnis 1: Politische Ökonomie Die Politische Ökonomie ist ein Ansatz zur Analyse der Gesellschaft, der sich auf Gesellschaftstheorie, empirische Sozialforschung und Moralphilosophie 2.5 Schlussfolgerungen 63 <?page no="64"?> stützt. Sie analysiert, wie das Zusammenspiel von Politik und Ökonomie aussieht und welche Rollen diese Wechselwirkungen in der Gesellschaft spielen. Sie betrachtet das dialektische Verhältnis von Ökonomie und Politik als den wichtigsten Faktor, der die Gesellschaft prägt. Ein bedeutender Schwerpunkt ist die Analyse der Produktion, der Distribution und des Konsums von Waren und Dienstleistungen im Kontext der Gesellschaft. Politische Ökonomie ist oft eine kritische Analyse der Arbeitsweise und der Organisation der kapitalistischen Gesellschaft und ihrer Auswirkungen auf das Leben der Menschen in der Gesellschaft. Es wird dabei auch von der Kritik der Politischen Ökonomie gesprochen. Die Kritik der Politischen Ökonomie ist die Analyse von Klassen- und anderen Machtverhältnissen in Klassengesellschaften und kapitalistischen Gesellschaften mit besonderem Schwerpunkt auf die Analyse der Auswir‐ kungen wirtschaftlicher Verhältnisse auf die Gesellschaft. Die Politische Ökonomie ist die Analyse der Produktion, der Distribution und des Konsums von Gütern, mit denen die Menschen sich selbst und die Gesellschaft reproduzieren und so überleben. - Erkenntnis 2: Ibn Khaldûn Ibn Khaldûn war ein früher Vertreter der Politischen Ökonomie, der Grund‐ lagen der Arbeitswerttheorie formulierte. - Erkenntnis 3: Vier Ansätze der Politischen Ökonomie Vier wichtige Ansätze der Politischen Ökonomie sind die Klassische Poli‐ tische Ökonomie, die Kritik der Politischen Ökonomie, die Neoklassische Politische Ökonomie und die Keynesianische Politische Ökonomie. - Erkenntnis 4: Die Klassische Politische Ökonomie Die Klassische Politische Ökonomie untersucht die Produktion, die Vertei‐ lung und den Konsum von Gütern in der Gesellschaft. Wichtige Vertreter waren Adam Smith, John Stuart Mill und David Ricardo. 64 2 Was ist Politische Ökonomie? <?page no="65"?> Erkenntnis 5: Die Kritik der Politischen Ökonomie Die Kritik der Politischen Ökonomie umfasst das Werk von Karl Marx und die Arbeiten denjenigen, die auf ihm aufbauen. Marx analysiert, wie die kapitalistische Produktionsweise und die Klassengesellschaften arbeiten. Er legt einen besonderen Schwerpunkt auf die Untersuchung von Klassenver‐ hältnissen, Arbeit und Warenproduktion. - Erkenntnis 6: Die Neoklassische Politische Ökonomie Die Neoklassische Politische Ökonomie hat die politische Ökonomie in „Economics“ (Wirtschaftswissenschaft) umbenannt. Sie konstruiert häufig mathematische Modelle der Wirtschaft und verzichtet meist auf die Moral‐ philosophie. Friedrich Hayek und Milton Friedman sind Vertreter der Chicagoer Schule. Sie haben Adam Smiths Theorem der unsichtbaren Hand aktuali‐ siert, das besagt, dass Märkte sich selbstordnende und selbstorganisierende Systeme sind, in die der Staat nicht eingreifen sollte. Diese Annahme hat den Aufstieg dessen beeinflusst, was oft als Neoliberalismus bezeichnet wird, ein Marktfundamentalismus, der die Kommodifizierung von allem predigt. - Erkenntnis 7: Die Keynesianische Politische Ökonomie Die Keynesianische Politische Ökonomie stützt sich auf die Arbeiten von John Maynard Keynes. Keynes argumentiert, dass der Kapitalismus Un‐ gleichheiten schafft und dass ein Wohlfahrtsstaat erforderlich ist, um die kapitalistische Wirtschaft und ihre Ungleichheiten zu zähmen. - Erkenntnis 8: Weitere Ansätze zur Politischen Ökonomie Weitere Ansätze der Politischen Ökonomie sind unter anderem die Feminis‐ tische Politische Ökonomie, die Politische Ökonomie des Rassismus und die Politische Ökonomie der Umwelt (Politische Ökologie). 2.5 Schlussfolgerungen 65 <?page no="66"?> Dimension Neoklassische Ökonomik Kritik der Politischen Ökonomie Prinzip der Struktu‐ rierung Märkte strukturieren die Wirtschaft Klassen strukturieren die Wirtschaft Ökonomische Logik Der Markt reguliert sich selbst und ist ein sich selbstorganisierendes Sys‐ tem, Krise und Monopol sind die Ausnahme von der Regel Die Märkte regulieren sich nicht selbst, sondern Krise und Monopol sind der ka‐ pitalistischen Wirtschaft und ihren Märkten imma‐ nent Modelle und Kon‐ zepte der Wirtschaft statische Gleichgewichts‐ modelle Dynamik, Geschichte, Dialektik Scope Mikroökonomie Totalität: Makroökono‐ mie, Wirtschaft und Ge‐ sellschaft Wert Subjektives Konzept des Werts Objektives Konzept des Wertes: Arbeitswerttheo‐ rie Ansatz und Metho‐ den Mathematik Moralphilosophie, Gesell‐ schaftstheorie, empirische Sozialforschung Rolle des Staates Nichteinmischung des Staa‐ tes in die Märkte, Umvertei‐ lung von der Arbeit zum Kapital Regulierung der Wirt‐ schaft durch den Staat, Wohlfahrtsstaat, Umver‐ teilung von den Reichen zu den Armen und vom Kapital zur Arbeit Handlung, Praktiken Methodologischer Indivi‐ dualismus Dialektik von Struktur und Handeln, Analyse von Klassenkämpfen und ge‐ sellschaftlichen Kämpfen und Widersprüchen Begriff der Freiheit Individuelle Freiheit des Ei‐ gentums, die Ungleichheit rechtfertigt Soziale und gesellschaftli‐ che Freiheit, die ein gutes Leben für alle garantiert Rolle der Ethik Die Behauptung, die Wirt‐ schaftswissenschaft sei eine wertneutrale Wissenschaft Ausdrückliche Anwen‐ dung der Moralphiloso‐ phie Tabelle 2.2: Unterschiede zwischen Neoklassischer Ökonomik und Kritik der Politischen Ökonomie 66 2 Was ist Politische Ökonomie? <?page no="67"?> Erkenntnis 9: Feminismus, Rassismus und Umweltschutz Die Feministische Politische Ökonomie untersucht das Zusammenspiel von Kapitalismus und Patriarchat. Die Politische Ökonomie des Rassismus ana‐ lysiert den rassistischen Kapitalismus. Die Politische Ökonomie der Umwelt (Politische Ökologie) untersucht das Verhältnis von Kapitalismus und Natur. Die Analyse von Geschlecht, Rassismus und Umwelt ist für die Politische Ökonomie von Bedeutung. Geschlechtsspezifische Diskriminierung und Ausbeutung, Rassismus und Umweltzerstörung lassen sich nicht auf den Kapitalismus reduzieren, sondern haben in der kapitalistischen Wirtschaft und Gesellschaft eine besondere Rolle gespielt, die die Politische Ökonomie untersuchen sollte. Die wichtigste Trennlinie in der zeitgenössischen Politischen Ökonomie verläuft zwischen der Neoklassischen Politischen Ökonomie und der Kritik der Politischen Ökonomie. Tabelle 2.2 zeigt die Unterschiede zwischen diesen beiden Richtungen der Politischen Ökonomie. Literatur Amin, Samir. 2009. Eurocentrism. New York: Monthly Review Press. Armstrong, Pat and M. Patricia Connelly. 1989. 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Marx Engels Werke (MWQ) Band-26, drei Teile (MEW 26.1, 26.2, 26.3). Berlin: Dietz. Marx, Karl. 1857/ 1858. Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Marx Engels Werke (MEW) Band-42. Berlin: Dietz. Marx, Karl. 1847. Das Elend der Philosophie. Antwort auf Proudhons „Philosophie des Elends“. In Marx Engels Werke (MEW) Band-4, 63-182. Berlin: Dietz. Marx, Karl. 1844. Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahr 1844. In Marx Engels Werke (MEW) Band-40, 465-588. Berlin: Dietz. Marx, Karl. 1843a. Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Kritik des Hegel‐ schen Staatsrechts. In Marx Engels Werke (MEW) Band-1, 203-333. Berlin: Dietz. Marx, Karl. 1843b. Zur Judenfrage. In Marx Engels Werke (MEW) Band 1, 347-377. Berlin: Dietz. Marx, Karl & Friedrich Engels. 1848. Manifest der Kommunistischen Partei. In Marx Engels Werke (MEW) Band-4, 459-493. Berlin: Dietz. Literatur, empfohlene Lektüre und Übungen 69 <?page no="70"?> Menger, Carl. 1871. Principles of Economics. 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An Introduction. Cambridge: Cambridge University Press. Walby, Sylvia. 1990. Theorizing Patriarchy. Oxford: Basil Blackwell. Walras, Léon. 1874. Elements of Pure Economics. Abingdon: Routledge. 70 2 Was ist Politische Ökonomie? <?page no="71"?> Aufgabe Merke Frage Literatur Wissen Zusatz Link / www Checkliste Ziele ICON SET 5 Williamson, Stephen D. 2018. Macroeconomics. Global edition. Harlow: Pearson. Sechste Auflage. Wolff, Richard D. und Stephen A. Resnick. 2012. Contending Economic Theories. Neoclassical, Keynesian, and Marxian. Cambridge, MA: MIT Press. Empfohlene Lektüre und Übungen - Lektüre Die folgenden Texte werden als Begleitlektüre zu diesem Kapitel empfohlen: Vincent Mosco. 2009. The Political Economy of Communication. London: Sage. Zweite Auflage: Kapitel 2: What is Political Economy? Definitions and Charac‐ teristics / Kapitel 3: What is Political Economy? Schools of Thought James A. Caporaso & David P. Levine. 1992. Theories of Political Economy. Cambridge: Cambridge University Press: Kapitel 1: Politics and Economics / Kapitel 2: The Classical Approach / Kapitel 3: Marxian Political Economy / Kapitel 4: Neoclas‐ sical Political Economy / Kapitel 5: Keynesian Political Economy Dorothy E. Smith. 1989. Feminist Reflections on Political Economy. Studies in Political Economy 30: 37-59. DOI: https: / / doi.org/ 10.1080/ 19187033.1989.11675506 ÜBUNG 2.3: NEOLIBERALISMUS UND NEOKLASSISCHE PO‐ LITISCHE ÖKONOMIE 1 Milton Friedman (1912-2006) war einer der führenden neoklassischen politischen Ökonomen. Sein wichtigstes Buch heißt Kapitalismus und Freiheit. Sehen Sie sich das Video seines Vortrags „Is Capitalism Humane? “ (Ist der Kapitalismus menschenfreundlich? ) an. Milton Friedman: Is Capitalism Humane? Cornell University, 27. September 1977 https: / / www.youtube.com/ watch? v=27Tf8RN3uiM https: / / miltonfriedman.hoover.org/ objects/ 57281/ is-capitalism-huma ne Diskutieren Sie: Was sind die wichtigsten Argumente von Milton Friedman? Wie lautet seine Antwort auf die Frage: Ist der Kapitalismus men‐ schenfreundlich? Literatur, empfohlene Lektüre und Übungen 71 <?page no="72"?> Aufgabe Merke Frage Literatur Wissen Zusatz Link / www Checkliste Ziele ICON SET 5 Was sind wichtige Elemente der von Milton Friedman vertretenen Version der Politischen Ökonomie? Erörtern Sie Beispielargumente aus seinem Vortrag und der Diskussion. Welche Art der Politischen Ökonomie vertritt er? Wie beurteilen Sie seine Ansichten und seinen Ansatz? Milton Friedman sagt in seinem Vortrag, dass alles eine Ware sein sollte, ein Gut, das auf Märkten gegen Geld verkauft wird. Was sind die Folgen für die Gesellschaft, wenn alles die Warenform hat? Was sind die Folgen davon, wenn die Gesundheitsversorgung, die Bildung, Nachrichten und das Internet Waren sind? Was ist die Rolle der Ware in diesen Bereichen? Sollten Waren in diesen Bereichen eine Rolle spielen oder nicht? Warum bzw. warum nicht? ÜBUNG 2.4: NEOLIBERALISMUS UND NEOKLASSISCHE PO‐ LITISCHE ÖKONOMIE 2 Naomi Klein ist eine kanadische Schriftstellerin und Filmemacherin. Sie ist bekannt für Bücher wie „No Logo! “, „Die Schock-Strategie: Der Aufstieg des Katastropen-Kapitalismus”, „Die Entscheidung: Kapita‐ lismus vs. Klima“. „The Shock Doctrine“ ist ein Film aus dem Jahr 2009 über Kleins Buch „The Shock Doctrine. The Rise of Disaster Capitalism” („Die Schock-Strategie: Der Aufstieg des Katastropen-Kapitalismus”). Sehen Sie sich den folgenden Film an: Whitecross, Mat and Michael Winterbottom (directors). 2009. The Shock Doctrine. Renegade Pictures, Revolution Films, Channel 4. Filminformation. https: / / www.imdb.com/ title/ tt1355640/ Lesen Sie außerdem das folgende Kapitel im Buch von Naomi Klein: Naomi Klein. 2007. Die Schock-Strategie. Der Aufstieg des Katastro‐ phen-Kapitalismus. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag. Kapitel 2: Der andere Dr. Schock: Milton Friedman und die Suche nach einem Laissez-faire-Labor Diskutieren Sie: Wie bewertet Naomi Klein den Neoliberalismus? Wie bewertet Naomi Klein das Denken von Milton Friedman? Wie denken Sie über Naomi Kleins Kritik? 72 2 Was ist Politische Ökonomie? <?page no="73"?> Wessen Ansicht stimmen Sie eher zu, Naomi Klein oder Milton Friedman? Warum? Versuchen Sie, Argumente für Ihre Meinung zu nennen. Literatur, empfohlene Lektüre und Übungen 73 <?page no="75"?> Aufgabe Merke Frage Literatur Wissen Zusatz Link / www Checkliste Ziele ICON SET 5 3 Was ist die Medienökonomie? Was Sie in diesem Kapitel lernen werden: Sie lernen die Grundlagen der Medienökonomie kennen. Sie werden sich mit verschiedenen Definitionen der Medienökonomie beschäftigen. Sie werden sich mit einem Modell der Medienökonomie auseinander‐ setzen, das die verschiedenen Dimensionen dessen, was es bedeutet, die Medienwirtschaft zu studieren, umreißt. 3.1 Einleitung Viele von uns konsumieren jeden Tag Medieninhalte wie Nachrichten, Musik, Filme, Videostreams usw. Wir tun dies, indem wir Tablets, Telefone, Laptops und andere mit Software ausgestattete Hardware nutzen. Hard‐ ware, Software und Inhalte sind Medienprodukte, die in der Medienwirt‐ schaft entstehen. Die Medienökonomie ist ein Studienbereich, der analysiert, wie die Medienwirtschaft aussieht. In diesem Abschnitt erörtern wir die Grundlagen dieses Fachgebiets. Das Ziel dieses Kapitels ist es, eine grundlegende Einführung in die Medienökonomie zu geben. Erstens geht es zunächst um Definitionen der Medienökonomie (Abschnitt 3.2). Zweitens wird ein Modell der Medien‐ ökonomie skizziert (Abschnitt 3.3). Drittens werden Schlussfolgerungen gezogen (Abschnitt 3.4). 3.2 Definitionen der Medienökonomie Grundlagen der Medienökonomie: Was sind eigentlich Medien? Die Menschen sind gesellschaftliche und soziale Wesen. Das bedeutet, dass sie in und durch Beziehungen und Verhältnisse zu anderen Menschen leben. Nicht nur Mensch und Gesellschaft, sondern die gesamte Natur und die Welt sind relational. In der dialektischen Philosophie wird das so ausgedrückt, dass gesagt wird, die Welt besteht aus dialektischen Verhält‐ <?page no="76"?> nissen zwischen Momenten, die jeweils ihre eigene Existenz haben und sich wechselseitig beeinflussen, wodurch Dynamik, Produktion von Neuem und die Reproduktion des Gesamtzusammenhangs, in dem sich diese Momente befinden, gegeben sind. Der dialektische Philosoph Hegel sagt, dass Etwas ein unvermitteltes Eigenleben hat - „es ist so, weil es ist“ -, und es ist zugleich „vermittelt durch einen Kreis von Umständen, - es ist so, weil die Umstände so sind“ (Hegel 1830, §149). Medien sind Strukturen, die ein Verhältnis zwischen zwei dialektischen Momenten ermöglichen und beschränken, sodass das Eine in ein Anderes und das Andere in das Eine übergreift. Die Vermittlung (oder Mediatisie‐ rung) ist der Prozess dieser Reflexion und Interaktion. So reproduzieren sich Zellen vermittelt durch Organe und den Organismus. Die Reproduktion des Körpers eines Lebewesens wird vermittelt durch das Gehirn, das Ner‐ vensystem und das Blutsystem, die das Zusammenspiel der Organe regeln. In der Gesellschaft interessiert uns, wie Menschen ihr Zusammenleben alltäglich organisieren. Sie tun dies, indem sie gesellschaftliche Verhältnisse produzieren und reproduzieren. Die Existenz der Menschen ist vermittelt, sie wird durch Strukturen ermöglicht und bedingt. Jedes Verhältnis zwi‐ schen Menschen ist vermittelt. Menschen, soziale Systeme, techno-soziale Systeme (wie Kommunikationstechnologien), Teilsysteme der Gesellschaft (wie die Wirtschaft, das politische System und die Kultur) und die Gesell‐ schaft als Ganzes sind Formen der Sozialität, die Vermittler von Kommuni‐ kation sind. Das bedeutet, dass Sozialität auf der Basis von bestehenden sozialen und gesellschaftlichen Strukturen produziert und reproduziert wird. Jean-Paul Sartre (1967, 112) drückt das so aus, dass es in der Gesell‐ schaft „Beziehung durch die Vermittlung eines Dritten“ gibt. Beim Kommunikationsprozess interagieren mindestens zwei Menschen miteinander, wobei sie Teile ihres Informations- und Wissensstandes über die Welt teilen, sodass eine soziale Beziehung produziert oder reprodu‐ ziert wird. Kommunikation ist ein Produktionsprozess, bei dem Menschen Sozialität, soziale Beziehungen, soziale Strukturen, soziale Systeme, gesell‐ schaftliche Verhältnisse und schließlich die Gesellschaft produzieren oder reproduzieren (Fuchs 2020, Kapitel 4 & 6). Es gibt eine Dialektik von Produktion und Kommunikation. Wir produzieren Kommunikation und kommunizieren produktiv. Kommunikation ist immer vermittelt. Wo es Kommunikation gibt, gibt es Vermittler (Medien). Und umgekehrt. Daher ist eine strikte Unterscheidung zwischen Medienwissenschaft und Kommuni‐ kationswissenschaft nicht sinnvoll. Bereits Marx (1857/ 1858, 429) sprach von 76 3 Was ist die Medienökonomie? <?page no="77"?> der Bedeutung der Kommunikationsmittel in Kapitalismus und Gesellschaft als Teil der Produktivkräfte, wodurch er den Zusammenhang von Kom‐ munikation und Medien verdeutlicht. Für Raymond Williams (1980/ 2005, 53-72) sind Kommunikationsmittel Produktionsmittel. Mit der Hilfe von Kommunikationsmitteln produzieren die Menschen Bedeutungen, Informa‐ tion, Nachrichten, Unterhaltung, Kultur, Weltanschauungen, Ideologie, etc. Kommunikationsmittel sind „die Institutionen und Formen, mit denen Ideen, Information und Einstellungen vermittelt und erhalten werden“ (Williams 1976, 9) Sind Kommunikationsmittel immer auch Produktionsmittel so wird deut‐ lich, dass die Medien immer auch eine ökonomische Dimension haben. Sie sind Arbeits- und Kommunikationsmittel. Mit Medien wird die Kommuni‐ kation in der Wirtschaft organisiert. Mit Medien wie dem Computer produ‐ zieren Wissensarbeiter: innen Inhalte, die das menschliche Bedürfnis nach Information befriedigen und die im Kapitalismus im Kontext spezifischer Warenformen stehen wie Medieninhalte, Werbung und Medientechnologien als Waren. Medien als Kommunikationsmittel sind „Maschinen der gesellschaftli‐ chen Vernetzung“, die mit Symbolen, Codes und Zeichen operieren, Medien‐ technologien benötigen, Form und Inhalt haben, Raum und Zeit überwinden und im Alltag der Menschen und in der Gesellschaft ubiquitär, also all‐ gegenwärtig, sind (Winkler 2008, 11). Medien sind auch Maschinen der Zeichenproduktion und der Strukturgenerierung (Winkler 2008, 313). Bei der Produktion, Distribution und Rezeption spielen Medien als Mittler unterschiedliche Rollen, wodurch unterschiedliche Medienarten existieren (Fuchs 2020, Kapitel 6). Zwei wichtige Eigenschaften des vernetzen Compu‐ ters sind zum Beispiel, dass er zugleich die Produktion und den Konsum von Information ermöglicht, wodurch Konsument: inn: en von Information zu Produzent: inn: en werden, sogenannten Prosument: inn: en. Der Computer ist daher Kommunikationsmedium und auch ein Arbeitswerkzeug. Der vernetzte Computer unterstützt das Verschwimmen der Grenzen zwischen Sphären und Phänomenen wie Arbeit und Freizeit, Arbeit und Spiel, Pro‐ duktion und Konsum, Öffentlichkeit und Privatheit, etc. Er ist also eine Konvergenztechnologie. In der modernen Gesellschaft haben sich Medienorganisationen heraus‐ gebildet, in denen Medientechnologien, Medieninhalte, Medien als Infra‐ strukturen der Gesellschaft, etc. produziert werden. Medienorganisationen sind Organisationen, in denen Menschen Informationen produzieren, die 3.2 Definitionen der Medienökonomie 77 <?page no="78"?> der Gesellschaft öffentlich zugänglich gemacht werden, damit die Mitglieder der Gesellschaft diese Inhalte interpretieren können. Medienorganisatio‐ nen haben spezifische Eigentums- und Produktionsstrukturen (Wirtschaft), Entscheidungsstrukturen (Politik) und Interpretationen der Welt (Kultur). Ein Mediensystem ist die Gesamtheit der Medienorganisationen innerhalb eines bestimmten gesellschaftlichen Umfelds, das sich durch einen gemein‐ samen Kontext auszeichnet, der aus gemeinsamen Mediengesetzen und -vorschriften, einem gemeinsamen Wirtschaftssystem, einem gemeinsamen kulturellen Kontext, gemeinsamen Normen und Erfahrungen in der Medien‐ arbeit und Publika, die Medien konsumieren, besteht. Durch die Bedeutung von Medienorganisationen und Mediensysteme ist die Medienökonomie als Teilsystem der modernen Wirtschaft entstanden. Medienökonomie ist also ein Teilaspekt der Wirtschaft und der Gesellschaft, dessen Analyse eine wichtige Aufgabe für die Medien- und Kommunikationswissenschaften ist. Marx (1857/ 1858, 429) argumentiert, dass die Kommunikationsmittel ei‐ ner speziellen Analyse bedürfen, „da sie eine Form des capital fixe bilden, die eigne Gesetze der Verwertung hat”. In der kapitalistischen Ökonomie sind Kommunikationsmittel ebenso wie andere Produktionsmittel für längere Zeit im Produktionsprozess fixiert, weshalb Marx von fixem Kapital spricht. Das Mediensystem produziert Information und deren Infrastruktur. Eine Medienorganisation hat also Eigenschaften, die sie von einer Bank, einer Wurstfabrik oder einem Ölkonzern unterscheiden. Die Medienökonomie ist daher nicht ein Teilbereich der Betriebswirtschaftslehre, sondern ein eigenständiges Teilgebiet der Medien- und Kommunikationswissenschaft, das die Besonderheiten und Widersprüche von Medien, Information und Kommunikation als wirtschaftliche und gesellschaftliche Phänomene ana‐ lysiert. Medien- und Kommunikationswissenschaft als wissenschaftliches Feld Die Medienökonomie ist ein Teilbereich der Medien- und Kommunikati‐ onswissenschaft. Die Medien- und Kommunikationswissenschaft ist selbst ein inter- und transdisziplinäres Fach: Wenn wir die Medien und die Kommunikation studieren, tun wir dies aus bestimmten Blickwinkeln, wie z. B. politische Kommunikation, Medienpsychologie, Medienethik und -phi‐ losophie usw., die das Studium der Medien mit anderen Studienbereichen verbinden. 78 3 Was ist die Medienökonomie? <?page no="79"?> Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über einige Teilbereiche der Medien- und Kommunikationswissenschaften (siehe auch Beck 2020, 175; Pfau 2008). Jedes Teilgebiet ergibt sich aus der Überschneidung und Inter‐ aktion der Medien- und Kommunikationswissenschaft mit einem anderen Fachgebiet. Das einzige Teilgebiet, das ursprünglich in der Medien- und Kommunikationswissenschaften selbst beheimatet ist, ist die Publizistikwis‐ senschaft und Journalistik. Die Tabelle enthält nur Beispiele. Sie erhebt weder den Anspruch auf Vollständigkeit, noch sind die für die Teilgebiete verwendeten Bezeichnungen die endgültigen oder einzigen, die verwendet werden. Medienwissenschaft, Kommunikationswissenschaft - Publizistikwissenschaft, Journalistik Anthropologie Medienanthropologie Arealwissenschaften und Regionalstu‐ dien (Area Studies), Globale Studien (Global Studies) Internationale und interkulturelle Kommunikation Critical Race Theory, Rassismusfor‐ schung Medien, Migration, Rassismus und Postkolonialität Cultural Studies, Kulturwissenschaft Populärkultur und Medien Feministische Wissenschaft, Ge‐ schlechterforschung Medien und Geschlecht, Gender/ Queer Studies und Medien Geographie Mediengeographie Geschichte Medien- und Kommunikationsge‐ schichte Gesundheitswissenschaft Gesundheitskommunikation Informatik Digitale Kommunikation und Medien, Internetforschung, Data Studies Kunstwissenschaften, Theaterwissen‐ schaft Filmwissenschaft, Medienästhetik, Me‐ dien und Kunst Musikwissenschaft Populäre Musik und Medien Pädagogik, Erziehungswissenschaft Medienbildung, Medienpädagogik 3.2 Definitionen der Medienökonomie 79 <?page no="80"?> Medienwissenschaft, Kommunikationswissenschaft Philosophie Kommunikations- und Medienethik, Medienphilosophie, Kommunikations‐ theorie, Politikwissenschaft Politische Kommunikation Psychologie Medienpsychologie, Kommunikations‐ psychologie Rechtswissenschaft Medienrechtsstudien Religionswissenschaft Medien und Religion Soziologie Mediensoziologie Sportwissenschaft Mediensport, Sportkommunikation, Game Studies Sprachwissenschaft Medienlinguistik, Mediensprachfor‐ schung, Mediendiskursforschung Umweltwissenschaften Umweltkommunikation Wirtschaftswissenschaft Medienökonomie, Medienindustriefor‐ schung, Politische Ökonomie der Kom‐ munikation und der Medien, PR und Organisationskommunikation … … Tabelle 3.1: Die Medien- und Kommunikationswissenschaften und einige ihrer Unterfelder Die Medienökonomie als Teilaspekt der Medien- und Kommunikationswis‐ senschaft ist laut dem in der Tabelle dargestellten Verständnis eine Kombi‐ nation der Analyse der Medien mit Aspekten der Wirtschaftswissenschaft. Wären die Medien- und Kommunikationswissenschaften echte Inter- und Transdisziplinen, dann würden viele ihrer Teilbereiche ständig interagieren und zusammenarbeiten. Dieses wissenschaftliche Feld könnte dann als eine blühende Blume dargestellt werden, deren Blätter sich kreuzen. Oft arbeiten die Teilgebiete jedoch eher getrennt voneinander, weshalb Rosengren (1993) argumentiert, dass die Medien- und Kommunikationswissenschaft kein Feld ist, sondern aus isolierten Froschteichen besteht. Ihm zufolge fehlt es an Kohärenz und Einheit. So drastisch ist die Situation heute sicherlich nicht. Es gibt Querschnittsthemen wie das Internet und die digitalen Medien, die aus unterschiedlichen Perspektiven behandelt werden. Bestimmte Ansätze 80 3 Was ist die Medienökonomie? <?page no="81"?> wie die Politische Ökonomie der Kommunikation sind Kombinationen aus einer Vielzahl anderer Teilgebiete wie Medienökonomie, Politische Kommu‐ nikation, Medienpolitik, Mediensoziologie, Medienphilosophie, Kommuni‐ kationstheorie sowie Medien- und Kommunikationsethik. Silvio Waisbord (2019) spricht von den Medien- und Kommunikationswissenschaften als Post-Disziplin. Er argumentiert, dass die Pluralität und Vielfalt des Fachs auch etwas Positives ist, fordert aber auch die Überwindung der Fragmen‐ tierung und mehr Zusammenarbeit. „Weiter darauf zu warten, dass die Kommunikationswissenschaft zu einem zusammenhängenden Forschungs‐ bereich wird, ist wie das Warten auf Godot“ (Waisbord 2019, 74). Waisbord argumentiert: „Die Kommunikationswissenschaft verkörpert Post-Disziplinarität. Sie hat sich historisch gesehen weniger mit disziplinären Grenzen beschäftigt als die tradi‐ tionellen Disziplinen. […] Die Kommunikationswissenschaft war ein Treffpunkt für verschiedene disziplinäre Ansätze innerhalb spezifischer Forschungslinien […] Als Proto-Postdisziplin war die Kommunikationswissenschaft schon in ihren Anfängen zu vielfältig, um sich einer einzigen Vision von Wissenschaft oder einer einzelnen Disziplin zu unterwerfen, sei es in den Vereinigten Staaten, Europa oder anderen Regionen der Welt. […] Die Forschung innerhalb in sich geschlossener, ständig schrumpfender Spezialgebiete hält davon ab, sich mit großen, übergrei‐ fenden Fragen zu befassen.[…] Abschließend möchte ich zwei analytische Wege vorschlagen, um die gegenseitige Befruchtung zu kultivieren […] Eine Möglich‐ keit, dies anzugehen, besteht darin, über große Ideen nachzudenken, die mehrere Spezialgebiete durchdringen: vom Management der Informationsunsicherheit bis zum Nachrichtenframing, von den Faktoren, die den Informationsaustausch vor‐ antreiben, bis zur Mediatisierung, von der effektiven Gestaltung von Nachrichten bis zu geeigneten Bedingungen für demokratische Beratungen. Finden Sie heraus, was verschiedene Bereiche der Wissenschaft gemeinsam haben, und entwickeln und verfeinern Sie übergreifende Argumente. […] Ein zweiter Weg, um Brücken zu bauen, besteht darin, Kommunikationsprobleme in den Vordergrund zu stellen, die für die verschiedenen Forschungscluster von Bedeutung sind. […] Die Kom‐ munikationswissenschaft umfasst mehrere Forschungsrichtungen, die sich mit vielen öffentlichen Problemen befassen, wie z. B. Intoleranz, mangelndes soziales Einfühlungsvermögen, Fehlinformationen, soziale Ausgrenzung, Ungleichheiten im Gesundheitswesen, institutioneller Rassismus, Sexismus und Klimawandel” (Waisbord 2019, 130, 131, 139, 140, 141). 3.2 Definitionen der Medienökonomie 81 <?page no="82"?> Eine Disziplin ist ein bestimmter Bereich der Analyse, der sich auf einen bestimmten Aspekt der Welt konzentriert, mit eigenen Theorien, Metho‐ den, Veröffentlichungen wie Zeitschriften und Handbüchern, akademischen Konferenzen, Studienprogrammen usw. Die Medien- und Kommunikati‐ onswissenschaft hatte schon immer lose Grenzen mit Verbindungen zu vielen anderen Forschungsbereichen. Gleichzeitig hat sie sich aber auch stark spezialisiert. Silvio Waisbord betont, dass sich das Fachgebiet stärker auf die großen globalen Herausforderungen der heutigen Gesellschaften konzentrieren sollte, was dazu beitragen würde, die Fragmentierung in isolierte Teildisziplinen in der Medien- und Kommunikationswissenschaft zu überwinden. Fuchs und Qiu (2018) argumentieren, dass zu den aktuellen wichtigen Entwicklungen in den Medien- und Kommunikationswissenschaften die Analyse globaler Medien und Kommunikation, die Bedeutung digitaler Medien und Kommunikation, eine neue kritische und materialistische Wende sowie eine Kommunikationspraxis gehören, die Ungerechtigkeiten im Bereich Kommunikation/ Medien/ Digitales analysiert und herausfordert. „Unserer Ansicht nach ist es wichtig, dass die Kommunikationswissenschaft ihre Zukunft als theoretisch innovativ und politisch engagiert, ganzheitlich statt fragmentiert, wirklich global und interdisziplinär, reflexiv und praxis‐ orientiert sieht” (Fuchs and Qiu 2018, 231). Die Medienökonomie verbindet den Bereich der Medien- und Kommuni‐ kationswissenschaft mit dem Bereich der Wirtschaftswissenschaften. Dies geschieht auf unterschiedliche Weise, was zu verschiedenen Ansätzen in der Medienökonomie geführt hat. Ansätze der Medienökonomie Die Wirtschaft hat verschiedene Dimensionen. Wenn wir uns vorstellen, dass wir die Ökonomie mit einem Mikroskop oder einer Lupe betrachten, dann können wir in das Wirtschaftssystem hinein- und herauszoomen. Diese Vorstellung vom Hinein- und Herauszoomen in die Wirtschaft ermög‐ licht es uns, verschiedene Ebenen zu unterscheiden: die Mikroökonomie, die Mesoökonomie und die Makroökonomie. Die Wörter „Mikro“, „Meso“ und „Makro“ stammen von den griechischen Begriffen mikrós, mésos und makrós. mikrós bedeutet „klein“, mésos „mittel“ und makrós „groß“. Man kann zwischen der Untersuchung der (Medien-)Wirtschaft auf der Mikroebene, der Mesoebene und der Makroebene unterscheiden. Die Makroökonomie 82 3 Was ist die Medienökonomie? <?page no="83"?> befasst sich mit dem großen Ganzen der Wirtschaft, während die Mikro‐ ökonomie auf individuelle und organisatorische Aspekte der Wirtschaft ausgerichtet ist. Die Mesoökonomie ist eine mittlere Ebene der Wirtschaft, die die wirtschaftlichen Institutionen analysiert. Hier ein Überblick über die drei Dimensionen der Medienökonomie: ● Die mikroökonomische Analyse der Medien: die Analyse individu‐ eller und organisatorischer Aspekte der Medienwirtschaft, d. h. der Me‐ dienorganisationen, des individuellen und des Gruppenverhaltens von Medienarbeitenden/ -produzent: innen, Medienmanager: inn: e: n, Medi‐ enbesitzer: innen, Medieninvestor: inn: en, Medienvermarkter: innen, Me‐ dienwerbetreibenden und Medienkonsument: inn: en; ● Die mesoökonomische Analyse der Medien: die Analyse von Me‐ dieninstitutionen wie der Medien-, Kultur-, Digital- und Kreativwirt‐ schaft, der Medienmärkte, des Banken- und Geldsystems, der Rechte an geistigem Eigentum, internationaler Handelsabkommen und Handels‐ organisationen; ● Die makroökonomische Analyse der Medien (auch Politische Öko‐ nomie der Kommunikation und der Medien genannt): die Analyse des Gesamtbildes der Medienwirtschaft; die Analyse der Medienwirtschaft im Kontext der Gesellschaft als Ganzes; die Analyse der Medien und der Kommunikation im Kontext der kapitalistischen Gesellschaft, der Wirtschaft als Ganzem, des Staates, der Kultur und der Ideologie. Es gibt unterschiedliche Definitionen für den Bereich der Medienökonomie. Es gibt Verständnisse und Definitionen, die sich mehr auf die mikroöko‐ nomische, die mesoökonomische oder die makroökonomische Dimension konzentrieren. Hier sind einige Beispiele. - Mikroökonomische Definitionen der Medienökonomie: ● „Media economics provides a means to understand the activities and functions of media companies as economic institutions“ (Albarran 2004, 303). ● „Media economics […] (develops an) understanding of the way in which media businesses operate and are managed“ (Doyle 2002, 2). 3.2 Definitionen der Medienökonomie 83 <?page no="84"?> ● „Medienökonomie untersucht, wie die Güter Information, Unterhaltung und Verbreitung von Werbebotschaften in aktuell berichtenden Massen‐ medien produziert, verteilt und konsumiert werden“ (Heinrich 2000, 20). ● „Media economics is a term employed to refer to the business operations and financial activities of firms producing and selling output into the various media industries“ (Owen, Carveth & Alison 1998, 5). ● „Media economics is concerned with how media operators meet the informational and entertainment wants and needs of audiences, adver‐ tisers and society with available resources. It deals with the factors influencing production of media goods and services and the allocation of those products for consumption“ (Picard 1989, 7). Diesen Definitionen ist gemeinsam, dass die Medienwirtschaft als Analyse der Tätigkeit von Medienunternehmen und ihrer Produkte verstehen. - Mesoökonomische Definitionen der Medienökonomie: ● „Media economics is the study of how media industries use scarce resources to produce content […] to satisfy various wants and needs“ (Albarran 1996, 5). ● „The media economy is the study of how media firms and industries function across different levels of activity in tandem with other forces through the use of theories, concepts, and principles drawn from macroeconomic and microeconomic perspectives“ (Albarran 2010, 17). ● „Das Erkenntnisobjekt der Medienökonomie sind die wirtschaftlichen Zusammenhänge auf Medienmärkten und in Medienunternehmen“ (Beyer & Carl 2012, 9). ● Medienindustrieforschung (Media Industry Studies) ist die „critical ana‐ lysis of how individuals, institutions, and industries produce and circulate cultural forms in historically and geographically contextualized ways“ (Herbert, Lotz & Punathambekar 2020, 7). ● „Medienökonomie untersucht in unserer Auffassung vor allem die insti‐ tutionellen und organisatorischen Bedingungen der Produktion und der Verbreitung von Nachrichten/ Berichten, Unterhaltung und Werbung. Medienökonomie ist die stakeholdertheoretische Analyse der Medien. Sie erhellt die ökonomischen Bedingtheiten journalistischen Berufshan‐ delns und analysiert Möglichkeiten und Grenzen der (ökonomischen, 84 3 Was ist die Medienökonomie? <?page no="85"?> ethischen, demokratischen, pädagogischen etc.) Leistungsfähigkeit von Medien“ (Karmasin 1998, 55). ● „Media economics is a specific application of economic laws and theories to media industries and firms, showing how economic, regulatory, and financial pressures direct and constrain activities and their influences on the dynamics of media markets“ (Picard 2006, 23). Diesen Auffassungen von Medienökonomie ist gemeinsam, dass sie sich auf die Analyse von Medienunternehmen im Kontext von Institutionen wie Medienmärkten, rechtlichen Rahmenbedingungen und dem Staat konzen‐ trieren. - Makroökonomische Definitionen der Medienökonomie Das makroökonomische Verständnis der Medienökonomie wird oft auch als Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien bezeichnet. Werfen wir einen Blick auf einige Definitionen: ● Die Medienökonomik ist „eine Teildisziplin der PKW [Publikzistik- und Kommunikationswissenschaft], die wirtschaftliche und publizistische Phänomene des Mediensystems kapitalistischer Marktwirtschaften mit Hilfe ökonomischer Theorien untersucht. Bei der Aufgabenbeschrei‐ bung ist wieder zwischen einer positiven und einer normativen Ver‐ sion von Medienökonomie zu unterscheiden. Positive Medienökonomie analysiert und erklärt die wirtschaftlichen und publizistischen Phä‐ nomene des Mediensystems, normative Medienökonomie entwickelt Gestaltungsoptionen mit Blick auf gesellschaftlich konsentierte Ziele des Mediensystems“ (Kiefer 2001, 41; Kiefer & Steininger 2014, 51). Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien „versucht Gesamtzusammenhänge von politischen, soziologischen und ökonomi‐ schen Faktoren (der Medien) zu erklären. Und sie bezieht Werturteile in ihre Analyse ein“ (Kiefer 2001, 53). Es wird gefragt, „welche Steue‐ rungsmechanismen das Medienangebot in unserer Gesellschaft eigent‐ lich bestimmen und ob diese Steuerungsmechanismen und die ihnen zugrunde liegenden institutionellen Arrangements, eine Erreichung die‐ ser, wenn auch nur vage definierten, gesellschaftlichen Ziele überhaupt wahrscheinlich machen“ (Kiefer 2001, 61). „Medienökonomie der hier konzeptualisierten Art untersucht Mediensysteme in kapitalistischen Marktwirtschaften“ (Kiefer 2001, 69). 3.2 Definitionen der Medienökonomie 85 <?page no="86"?> Diesen Definitionen ist gemeinsam, dass sie Medienökonomie als die Analyse der Medien im Kontext der Gesellschaft und gesellschaftlicher Zusammenhänge wie der kapitalistischen Gesellschaft verstehen. Zahlreiche makroökonomische Ansätze betonen, dass es nicht ausreicht, die mikro- und mesoökonomische Ebene der Medien zu analysieren, son‐ dern dass die Analyse der Medien im Zusammenhang mit ihrem breiteren gesellschaftlichen Kontext wichtig ist und jede Analyse der Medien und der Kommunikation anleiten sollte. Diesen Aspekt betonen zum Beispiel Manfred Knoche und Werner A. Meier: ● „Media economics should not be reduced to economics of the media (microlevel), but should be developed above all as a political economy of the mass media (partial-analysis and macrolevels)“ (Knoche 1999, 86). „Zu den Grundfragen einer kommunikationswissenschaftlichen Medi‐ enökonomie als Kritik der Politischen Ökonomie der Medien gehört die Analyse des Verhältnisses von Medienindustrie und kapitalistischer Gesellschaft, also die Rolle der Medien für das gesamte materielle, wirt‐ schaftliche, gesellschaftliche, soziale, politische und kulturelle mensch‐ liche Leben. Zentrale Untersuchungsgegenstände sind also einerseits die spezifischen Entwicklungen der Medienproduktion, -distribution und -konsumtion, andererseits deren Funktionsweise für die Entwicklung des gesamten kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems“ (Knoche 2002, 105). ● „Der Politischen Ökonomie der Medien kommt die Aufgabe zu, öf‐ fentliche Kommunikationsprozesse als spezifisch gesellschaftlich zu analysieren. Sie hat herauszuarbeiten, auf welche Weise kapitalisti‐ sche/ marktwirtschaftliche Produktionsverhältnisse die über Massenme‐ dien vollzogene gesellschaftliche Kommunikation beeinflussen. […] Im Unterschied zur traditionellen Medienökonomie, die eine Mikroanalyse ‚rein‘ wirtschaftlicher Vorgänge bei Unternehmen und auf Märkten liefert, erfasst die Politische Ökonomie der öffentlichen Kommunikation die wirtschaftlichen und politischen Strukturmerkmale von Medien und deren Beziehungen untereinander aus einer Makroperspektive“ (Meier 2003, 229, 233). Zusammenfassend kann man sagen, dass die Medienökonomie als politische Ökonomie der Medien und der Kommunikation das Verhältnis von Medien, Wirtschaft und Gesellschaft analysiert. 86 3 Was ist die Medienökonomie? <?page no="87"?> 3.3 Ein Modell der Medienökonomie Altmeppen und Karmasin geben eine allgemeine Definition der Medien‐ ökonomie: „Medienökonomie ist ein Lehr- und Forschungsprogramm, das die Grundlagen, Formen und Folgen der öffentlichen Kommunikation im Hinblick auf deren ökonomische Verfasstheit zum Inhalt hat. Im Zentrum der Medienökonomie steht das Zusammen- und Wechselspiel ökonomischer und publizistischer Faktoren. Die ökonomischen Strukturen, Leistungen und Funktionen der Kommunikation und ihrer Entwicklung werden im Hin‐ blick auf ihren Einfluss auf die Herstellung von Öffentlichkeit (private und institutionelle Kommunikation, Individual- und Massenkommunikation) erforscht“ (Altmeppen & Karmasin 2003, 44; siehe auch Altmeppen 2013, 218). Diese Definition ist ein wenig zu allgemein. Sie benennt keine unter‐ schiedlichen Analyseebenen und macht daher nicht deutlich, dass es ver‐ schiedene Formen der Medienökonomie gibt, die sich auf unterschiedliche Analyseebenen konzentrieren. Während makro- und mesoökonomische Analysen der Medien den Blick auf die Gesellschaft als Ganzes (Politische Ökonomie) oft ausklammern und daher eher reduktionistisch vorgehen, müssen die Ansätze der Politischen Ökonomie wirtschaftliche Institutionen, Organisationen, Gruppen und In‐ dividuen in ihre Analysen einbeziehen. Die obere Ebene der Medienanalyse umfasst, umschließt und umhüllt die unteren Ebenen, während die Analyse der unteren Ebene nicht automatisch die oberen Ebenen einschließt. Auf der Grundlage der oben angeführten Definitionsbeispiele können wir nun eine zusammenfassende Definition der Medienökonomie geben: Die Medienökonomie analysiert Kommunikationsprozesse und die Produktion, die Distribution und den Konsum von Information und Medien im Hinblick auf Medienakteure wie Arbeitende/ Produzent: inn: en, Eigentümer: innen, Mana‐ ger: innen, Werbetreibende, Marketing- und PR-Abteilungen, Konsument: inn: en und Medienorganisationen (Medien-Mikroökonomie); medienwirtschaftliche In‐ stitutionen wie die Medien-, Kultur-, Digital- und Kreativ-Industrien, Medien‐ märkte, das Banken- und Geldsystem, geistige Eigentumsrechte und internatio‐ nale Handelsabkommen und Handelsinstitutionen (Medien-Mesoökonomie); und die Gesellschaft als Ganzes, einschließlich der kapitalistischen Gesellschaft, der Wirtschaft als Ganzem, des Staates, der Kultur und der Ideologie (Medien-Ma‐ kroökonomie, Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien). 3.3 Ein Modell der Medienökonomie 87 <?page no="88"?> Abbildung 3.1 zeigt ein Modell der drei verschachtelten Ebenen der Medi‐ enökonomie und ihrer Analyse. Medienmakroökonomie, Medienmesoöko‐ nomie und Medienmikroökonomie sind ineinander verschachtelt. Medienorganisationen und ihre Akteure Medieninstitutionen Gesellschaft Ökonomie als Ganzes Politisches System, der Staat Kultur Mikroökonomie Mesoökonomie Makroökonomie, Politische Ökonomie Abbildung 3.1: Ein Modell der Medienökonomie 3.4 Schlussfolgerungen In diesem Kapitel wurden Grundlagen der Medienökonomie vorgestellt. Wir können die wichtigsten Ergebnisse zusammenfassen: - Erkenntnis 1: Medienökonomie Die Medienökonomie analysiert Kommunikationsprozesse und die Produk‐ tion, die Distribution und den Konsum von Information und Medien im Hin‐ blick auf Medienakteure wie Arbeitende/ Produzent: inn: en, Eigentümer: in‐ nen, Manager: innen, Werbetreibende, Marketing- und PR-Abteilungen, Konsument: inn: en) und Medienorganisationen (Medien-Mikroökonomie); medienwirtschaftliche Institutionen wie die Medien-, Kultur-, Digital- und 88 3 Was ist die Medienökonomie? <?page no="89"?> Kreativ-Industrien, Medienmärkte, das Banken- und Geldsystem, geistige Eigentumsrechte und internationale Handelsabkommen und Handelsins‐ titutionen (Medien-Mesoökonomie); und die Gesellschaft als Ganzes, ein‐ schließlich der kapitalistischen Gesellschaft, der Wirtschaft als Ganzem, des Staates, der Kultur und der Ideologie (Medien-Makroökonomie, Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien). - Erkenntnis 2: Ebenen der Medienökonomie Es gibt verschiedene Formen und Analyseebenen der Medienökonomie. Die Medienmikroökonomie und die Medienmesoökonomie berücksichtigen oft nicht die (kapitalistische) Gesellschaft als Ganzes als den Kontext der Medien und der Kommunikation. Literatur Albarran, Alan B., Hrsg. 2019. A Research Agenda for Media Economics. Cheltenham: Edward Elgar. Albarran, Alan B. 2017. The Media Economy. New York: Routledge. Zweite Auflage. Albarran, Alan B. 2010. The Media Economy. New York: Routledge. Erste Auflage. Albarran, Alan B. 2004. Media Economics. In The SAGE Handbook of Media Studies, hrsg. von John Downing, Denis McQuail, Philip Schlesinger & Ellen Wartella, 291-307. London: Sage. Albarran, Alan B. 1996. Media Economics: Understanding Markets, Industries and Concepts. Ames: Iowa State University Press. Alexander, Alison et al., Hrsg. 2004. Media Economics. Theory and Practice. Mahwah, NJ: Lawrence Erlbaum Associates. Dritte Auflage. Altmeppen, Klaus-Dieter. 2013. Medienökonomie. In Lexikon Kommunikations- und Medienwissenschaft, hrsg. von Günter Bentele, Hans-Bernd Brosius & Otfried Jarren, 217-218. Zweite Auflage. Altmeppen, Klaus-Dieter & Matthias Karmasin. 2003. Medienökonomie als transdis‐ ziplinäres Lehr- und Forschungsprogramm. In Medien und Ökonomie. Band-1/ 1: Grundlagen der Medienökonomie: Kommunikations- und Medienwissenschaft, Wirtschaftswissenschaft, hrsg. von. Klaus-Dieter Altmeppen & Matthias Karma‐ sin, 19-51. Opladen: Westdeutscher Verlag. Anderson, Simon P., Joel Waldfogel, & David Strömberg, Hrsg. 2016. Handbook of Media Economics. Amsterdam: Elsevier. Literatur, empfohlene Lektüre und Übungen 89 <?page no="90"?> Beck, Klaus. 2020. Kommunikationswissenschaft. Stuttgart: UTB. Sechste Auflage. Beyer, Andrea & Petra Carl. 2012. Einführung in die Medienökonomie. München: UVK. Dritte Auflage. Hoskins, Colin, Stuart McFadyen, & Adam Finn. 2004. Media Economics: Applying Economics to New and Traditional Media. Thousand Oaks, CA: Sage Doyle, Gillian. 2013. Understanding Media Economics. Los Angeles: Sage. Zweite Auflage. Doyle, Gillian. 2002. Understanding Media Economics. London: Sage. Erste Auflage. Fuchs, Christian. 2020. Kommunikation und Kapitalismus. Eine kritische Theorie. München: UVK/ utb. Fuchs, Christian and Jack L. Qiu. 2018. Ferments in the Field: Introductory Reflec‐ tions on the Past, Present and Future of Communication Studies. Journal of Communication 68 (2): 219-232. DOI: https: / / doi.org/ 10.1093/ joc/ jqy008 Heinrich, Jürgen. 2001 Medienökonomie. Band-1: Mediensystem, Zeitung, Zeitschrift, Anzeigenblatt. Opladen: Westdeutscher Verlag. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. 1830. Enzyklopädie der philosophischen Wissen‐ schaften im Grundrisse. Erster Teil: Die Wissenschaft der Logik. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Herbert, Daniel Amanda D. Lotz, & Aswin Punathambekar. 2020. Media Industry Studies. Cambridge: Polity. Karmasin, Matthias. 1998. Medienökonomie als Theorie (massen-)medialer Kommu‐ nikation. Graz: Nausner & Nausner. Kiefer, Marie Luise. 2001. Medienökonomik. München: Oldenbourg. Kiefer, Marie Luise & Christian Steininger. 2014. Medienökonomik. München: Olden‐ bourg. Dritte Auflage. Knoche, Manfred. 2002. Kommunikationswissenschaftliche Medienökonomie als Kritik der Politischen Ökonomie der Medien. In Medienökonomie in der Kommu‐ nikationswissenschaft, hrsg. von Gabriele Siegert, 101-109. Münster: Lit. Knoche, Manfred. 1999. Media Economics as a Subdiscipline of Communication Sciences. In The German Communication Yearbook, hrsg. von Hans-Bernd Brosius & Christina Holtz-Bacha, 69-99. Cresskill, NJ: Hampton Press. Marx, Karl. 1857/ 1858. Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Marx Engels Werke Band (MEW) 42. Berlin: Dietz. Meier, Werner A. 2003. Politische Ökonomie. In Medien und Ökonomie. Band-1/ 1: Grundlagen der Medienökonomie: Kommunikations- und Medienwissenschaft, Wirtschaftswissenschaft, hrsg. von Klaus-Dieter Altmeppen & Matthias Karmasin, 215-243. Opladen: Westdeutscher Verlag. 90 3 Was ist die Medienökonomie? <?page no="91"?> Picard, Robert. 2006. Historical Trends and Patterns in Media Economics. In Hand‐ book of Media Management and Economics, hrsg. von Alan B. Albarran, Sylvia M. Chan-Olmsted & Michael O. Wirth, 23-36. Mahwah, NJ: Lawrence Erlbaum. Pfau, Michael. 2000. Epistemological and Disciplinary Intersections. Journal of Com‐ munication 58 (4): 597-602. DOI: Epistemological and Disciplinary Intersections. Journal of Communication 58 (4): 597-602. DOI: https: / / doi.org/ 10.1111/ j.1460-24 66.2008.00414.x Picard, Robert G. 2001. The Economics and Financing of Media Companies. New York: Fordham University Press. Zweite Auflage. Picard, Robert G. 1989. Media Economics: Concepts and Issues. London: Sage. Rosengren, Karl Erik. 1993. From Field to Frog Ponds. Journal of Communication 43 (3): 6-17. DOI: https: / / doi.org/ 10.1111/ j.1460-2466.1993.tb01271.x Sartre, Jean-Paul. 1967. Kritik der dialektischen Vernunft. 1. Band: Theorie der gesell‐ schaftlichen Praxis. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Waisbord, Silvio. 2019. Communication. A Post-Discipline. Cambridge: Polity. Williams, Raymond. 1980/ 2005. Culture and Materialism. London: Verso Books. Williams, Raymond. 1976. Communications. Harmondsworth: Penguin. Winkler, Hartmut. 2008. Basiswissen Medien. Frankfurt am Main: Fischer. Empfohlene Lektüre und Übungen - Lektüre Die folgenden Texte werden als Begleitlektüre zu diesem Kapitel empfohlen: Marie Luise Kiefer & Christian Steininger. 2014. Medienökonomik. München: Olden‐ bourg. Dritte Auflage: Kapitel 2: Grundlagen einer Medienökonomik (S.-41-74). Manfred Knoche. 2002. Kommunikationswissenschaftliche Medienökonomie als Kritik der Politischen Ökonomie der Medien. In Medienökonomie in der Kommu‐ nikationswissenschaft, hrsg. von Gabriele Siegert, 101-109. Münster: Lit. Werner A. Meier. 2003. Politische Ökonomie. In Medien und Ökonomie. Band-1/ 1: Grundlagen der Medienökonomie: Kommunikations- und Medienwissenschaft, Wirtschaftswissenschaft, hrsg. von Klaus-Dieter Altmeppen & Matthias Karmasin, 215-243. Opladen: Westdeutscher Verlag. Literatur, empfohlene Lektüre und Übungen 91 <?page no="92"?> Aufgabe Merke Frage Literatur Wissen Zusatz Link / www Checkliste Ziele ICON SET 5 AUFGABE 3.1: EBENEN DER MEDIENÖKONOMIE Arbeiten Sie in Gruppen. Wählen Sie ein Medienphänomen aus, an dem Ihre Gruppe besonders interessiert ist und das in letzter Zeit in der Öffentlichkeit viel diskutiert wurde. Erstellen Sie eine Liste mit medienökonomischen Forschungsfragen, auf die sich Studien zu diesem Medienphänomen konzentrieren könn‐ ten. Ordnen Sie die Forschungsfragen nach den drei Ebenen der Medi‐ enökonomie (Medienmakroökonomie/ Politische Ökonomie der Kom‐ munikation und der Medien, Medienmesoökonomie, Medienmikroö‐ konomie). Beachten Sie, dass Sie auf jeder der drei Analyseebenen mindestens fünf Forschungsfragen formulieren. 92 3 Was ist die Medienökonomie? <?page no="93"?> Aufgabe Merke Frage Literatur Wissen Zusatz Link / www Checkliste Ziele ICON SET 5 4 Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien Was Sie in diesem Kapitel lernen werden: Sie werden darüber lesen, worum es in der Politischen Ökonomie der Kommunikation und der Medien geht. Sie werden sich mit den Prinzipien der Politischen Ökonomie der Kommunikation und der Medien auseinandersetzen. Sie werden lernen, die Grundsätze der Politischen Ökonomie auf konkrete Fälle und Beispiele anzuwenden. 4.1 Einleitung Die Analyse der Medien und der Medienwirtschaft im Kontext der Gesell‐ schaft hat den Vorteil, dass sie die Medien nicht isoliert und unkritisch analysiert, indem sie nur beschreibt, was sie tun, sondern die großen Probleme der Gesellschaft als Ausgangspunkt für die Analyse von Medien und die Gesellschaft nimmt. In diesem Kapitel stellen wir einen Ansatz zur Analyse der Beziehungen zwischen Medien, Wirtschaft und Gesellschaft vor - die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien. Ziel dieses Kapitels ist es, eine grundlegende Einführung in den Ansatz der Politischen Ökonomie der Kommunikation zu geben. Zunächst wird auf Definitionen der Politischen Ökonomie der Kommunikation eingegangen (Abschnitt 4.2). Zweitens werden die Prinzipien und Dimensionen der Politischen Ökonomie der Kommunikation erörtert (Abschnitt 4.3). Drittens wird ein Beispiel für die Durchführung einer Analyse der Politischen Öko‐ nomie der Kommunikation vorgestellt, nämlich die Politische Ökonomie von Facebook (Abschnitt 4.4). Viertens werden Schlussfolgerungen gezogen (Abschnitt 4.5). <?page no="94"?> 4.2 Was ist die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien? Definitionen der Politischen Ökonomie der Kommunikation und der Medien Wir beginnen mit einigen klassischen Definitionen der politischen Ökono‐ mie der Kommunikation. Später in diesem Kapitel werde ich meine eigene Definition liefern. Dallas W. Smythe (1960, 564) hat in seinem Aufsatz „On the Political Eco‐ nomy of Communications“ eine frühe Definition dieses Ansatzes gegeben: „The central purpose of the study of the political economy of communications is to evaluate the effects of communication agencies in terms of the policies by which they are organized and operated. Our concern will therefore be with the structure and policies of these communication agencies in their social settings”. Smythe weist darauf hin, dass der Ansatz der Politischen Ökonomie daran interessiert ist, wie Medienorganisationen im breiteren gesellschaftlichen Kontext agieren, und sich darauf konzentriert, wie sie in diesem Umfeld arbeiten und welche Rolle der Staat und die Politik dabei spielen. Vincent Mosco gibt die folgende Definition der Politischen Ökonomie der Kommunikation: Political Economy of Communication „is the study of the social relations, parti‐ cularly the power relations, that mutually constitute the production, distribution, and consumption of resources, including communication resources” (Mosco 2009, 2). Die Politische Ökonomie der Kommunikation „ist die Untersuchung der gesell‐ schaftlichen Verhältnisse, insbesondere der Machtverhältnisse, die die Produk‐ tion, die Distribution und den Konsum von Ressourcen, einschließlich der Kommunikationsressourcen, wechselseitig konstituieren“ (Mosco 2009, 2). Diese Definition unterstreicht, dass der Schwerpunkt des Ansatzes a) auf der Analyse von Machtverhältnissen im Kontext von Medien und Kommu‐ nikation (Medienmacht, Kommunikationsmacht) liegt und b), dass diese Macht eine wirtschaftliche Dimension hat, da sie mit der Produktion, der Distribution und dem Konsum von Informationen zu tun hat. Hervorzuhe‐ ben ist, dass in einer Studie der Politischen Ökonomie unter den untersuch‐ 94 4 Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien <?page no="95"?> ten Machtverhältnissen die sozioökonomischen Verhältnisse, insbesondere die Klassenverhältnisse, eine besondere Rolle spielen. Wir können davon ausgehen, dass in Klassengesellschaften alle Machtverhältnisse mit den Klassenverhältnissen interagieren, von ihnen beeinflusst und durch sie eingeschränkt werden. Robert W. McChesneys Verständnis der Politischen Ökonomie der Kom‐ munikation legt den Schwerpunkt auf die Analyse der Klassenverhältnisse: „The scholarly study of the political economy of communication entails two main dimensions. First, it addresses the nature of the relationship between media and communication systems on the one hand and the broader social structure of society. In other words, it examines how media and communication systems and content reinforce, challenge or influence existing class and social relations. It does this with a particular interest in how economic factors influence politics and social relations. Second, the political economy of communication looks specifically at how ownership, support mechanisms (e.g. advertising) and government policies influence media behavior and content. This line of inquiry emphasizes structural factors and the labor process in the production, distribution and consumption of communication. […] Although the political economy of communication can be applied to the study of precapitalist and postcapitalist societies and communication systems, it is primarily concerned with capitalist societies and commercial media systems, as these models dominate across the world” (McChesney 2000, 110). McChesney betont, dass die Politische Ökonomie der Kommunikation Kom‐ munikation(ssysteme) im Kontext der Gesellschaft untersucht, wobei der Schwerpunkt auf den Klassenverhältnissen und der Wirtschaft liegt. Seinem Verständnis ist hinzuzufügen, dass die Analyse der Klassenverhältnisse nicht nur aus der Analyse der Kommunikation im Zusammenhang mit der Stellung der Arbeit in den Produktionsverhältnissen, d. h. der Ausbeutung der Arbeit und der Produktion von Mehrwert, besteht, sondern auch aus der Analyse des tatsächlichen und potenziellen Widerstands der Arbeitenden, d.-h. der Klassenkonflikte. Armand Mattelart und Seth Siegelaub betonen die Bedeutung der Klas‐ senanalyse in der Politischen Ökonomie der Kommunikation. Sie plädieren für eine Klassenanalyse der Kommunikation (Mattelart 1979, Siegelaub 1979). Eine solche Analyse umfasst für Mattelart a) die Analyse der Wech‐ selwirkung von Kommunikation und den „grundlegenden wirtschaftlichen, sozialen, ideologischen und kulturellen Kräften“, die Rolle der Kommu‐ 4.2 Was ist die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien? 95 <?page no="96"?> nikationspraxis und der Kommunikationstheorie in der kapitalistischen Produktionsweise und c) die Wechselwirkung von Kommunikation und „dem Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung“ (Siegelaub 1979, 19). Graham Murdock und Peter Golding erläutern den Ansatz der Politischen Ökonomie der Kommunikation wie folgt: „The obvious starting point for a political economy of mass communications is the recognition that the mass media are first and foremost industrial and commercial organizations which produce and distribute commodities. […] In addition to producing and distributing commodities, however, the mass media also disseminate ideas about economic and political structures. It is this second and ideological dimension of mass media production which gives it its importance and centrality and which requires an approach in terms of not only economics but also politics” (Murdock & Golding 1973, 205-207). „Der offensichtliche Ausgangspunkt für eine Politische Ökonomie der Massen‐ kommunikation ist die Erkenntnis, dass die Massenmedien in erster Linie in‐ dustrielle und kommerzielle Organisationen sind, die Waren produzieren und vertreiben. […] Neben der Produktion und dem Vertrieb von Waren verbreiten die Massenmedien jedoch auch Ideen über wirtschaftliche und politische Strukturen. Es ist diese zweite und ideologische Dimension der Massenmedienproduktion, die ihr ihre Bedeutung und Zentralität verleiht und die einen Ansatz erfordert, der sich nicht nur auf die Wirtschaft bezieht, sondern auch auf die Politik“ (Murdock & Golding 1973, 205-207). Murdock und Golding betonen, dass die Politische Ökonomie der Kommu‐ nikation den wirtschaftlichen Charakter von Kommunikationssystemen analysiert, was im Kapitalismus ihre Rolle bei der Produktion, der Distribu‐ tion und dem Konsum von Waren bedeutet. Sie erörtern Phänomene, deren Analyse in dieser Hinsicht wichtig ist, darunter die Medienkonzentration, Krisen und Medienkonsolidierung, horizontale und vertikale Integration, Diversifizierung, Internationalisierung, eingeschränkte Wahlmöglichkeiten als Folge der kommerziellen Medienorganisation, die Kontrolle von Infor‐ mationen oder Versuche, den Konsens im Kapitalismus über die Medien zu festigen. Darüber hinaus betonen Murdock und Golding, dass die Medien im Kapitalismus eine doppelte Rolle spielen, indem sie a) die Kommodifizierung und b) Ideologien fördern. Kommunikation und Kommunikationssysteme (Medien) sind insofern eine besondere Ware, als dass sie die Produktion, Distribution und Orga‐ nisation von Ideen organisieren. Das bedeutet, dass Kommunikation und 96 4 Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien <?page no="97"?> Kommunikationssysteme, die als Waren organisiert sind, kulturelle Waren sind. Kultur ist das System und die Dimension der Gesellschaft, in der Bedeu‐ tungen produziert und in der Gesellschaft zirkuliert werden. Während jede Ware eine kulturelle Dimension hat, da mit Waren Bedeutungen verbunden sind, die durch Mechanismen wie Markenbildung und Werbung geschaffen werden, organisieren Kommunikations- und Kommunikationssysteme die Produktion, die Distribution und den Konsum von Ideen und Inhalten. Eine Nachrichtensendung unterscheidet sich von einem Bier, denn erstere ist eine Produktion, Präsentation, Speicherung und Übertragung aktueller Informa‐ tionen über die Gesellschaft, während das Bier keine Informationen enthält. Medien und Kommunikation repräsentieren Ideen und Wissen, weshalb sie eine besondere Rolle bei der politischen Konstitution der Gesellschaft, der Öffentlichkeit und der Frage spielen, ob und inwiefern eine Gesellschaft demokratisch ist oder nicht. Manfred Knoche (2002, 103) betont, dass die Kritik der politischen Öko‐ nomie der Medien und der Kommunikation mit Hilfe der Gesellschaftsheorie und der empirischen Sozialforschung analysiert, wie „Medienproduktion und -konsumtion über die übrige Warenproduktion hinausgehend auch ele‐ mentare unverzichtbare gesamtökonomische und gesamtgesellschaftliche politisch-ideologische Funktionen für die Herrschaftssicherung und Absi‐ cherung des kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems insge‐ samt erfüllt“ (Knoche 2002, 103). Wie Murdock und Golding betont auch Knoche, dass die Kritik der Politischen Ökonomie den Warencharakter und den ideologischen Charakter der Kommunikation(ssysteme) im Kapitalis‐ mus analysiert. In einem weiteren Aufsatz präzisieren Murdock und Golding den Schwer‐ punkt der Analyse der Kritischen Politischen Ökonomie der Kommunika‐ tion. Sie analysiert „the wider structures that envelop and shape everyday action, looking at how the economic organisation of media industries impinges on the production and circulation of meaning and the ways in which people’s opinions for consumption and use are structured by their position within the general economic formation. […] [It] starts with sets of social relations and the play of power. It is interested in seeing how the making and taking of meaning is shaped at every level by the structured asymmetries in social relations. […] What marks critical political economy out as distinctive is that it always goes beyond situated action to show 4.2 Was ist die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien? 97 <?page no="98"?> how particular micro contexts are shaped by general economic dynamics and the wider formations they sustain” (Murdock & Golding 2005, 61-62). „die umfassenderen Strukturen, die das alltägliche Handeln umhüllen und for‐ men, indem sie untersucht, wie die wirtschaftliche Organisation der Medienin‐ dustrie die Produktion und Zirkulation von Bedeutungen beeinflusst und wie die Meinungen der Menschen zum Konsum und zur Mediennutzung durch ihre Position innerhalb der allgemeinen Wirtschaftsformation strukturiert werden. […] [Die Analyse] beginnt mit gesellschaftlichen Verhältnissen und dem Spiel der Macht. Sie ist daran interessiert, zu sehen, wie die Produktion und die Interpre‐ tation von Bedeutungen auf jeder Ebene von den strukturierten Asymmetrien der gesellschaftlichen Verhältnisse geprägt werden. […] Was die Kritische Politische Ökonomie auszeichnet, ist, dass sie immer über das situierte Handeln hinausgeht, um zu zeigen, wie bestimmte Mikrokontexte durch allgemeine wirtschaftliche Dynamiken und die breiteren Formationen, die sie tragen, geformt werden” (Murdock & Golding 2005, 61-62). Murdock und Golding argumentieren, dass die Kritische Politische Ökono‐ mie analysiert, wie Ungleichheit und Machtasymmetrien in der Interaktion von Kapitalismus und Kommunikation eine Rolle spielen. Sie weisen darauf hin, dass die Kritische Politische Ökonomie nicht nur eine kritische Gesell‐ schaftstheorie und kritische empirische Sozialforschung ist, sondern auch eine kritische Moralphilosophie der Kommunikation. Eine Definition der Politischen Ökonomie der Kommunikation und der Medien Auf der Grundlage solcher Definitionen möchte ich meine eigene Definition des Ansatzes der politischen Ökonomie der Kommunikation und der Medien geben: Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien ist ein Ansatz, der sich der Gesellschaftstheorie, der empirischen Sozialforschung und der Moralphilosophie bedient, um die Rollen der Kommunikation und der Kommunikationssysteme (Medien, Kommunikationstechnologien) in der Gesellschaft zu analysieren, insbesondere die Interaktion von Politik und Wirtschaft im Kontext von Medien und Kommunikation. Sie unter‐ sucht, wie die Interaktion von Kommunikation, Politik und Wirtschaft aussieht und welche Rollen diese Interaktion in der Gesellschaft spielt. Sie betrachtet das dialektische Verhältnis von Wirtschaft und Politik als 98 4 Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien <?page no="99"?> den wichtigsten Faktor, der Kommunikation und Gesellschaft prägt. Ein wichtiger Schwerpunkt ist die Analyse der Produktion, der Distribution und des Konsums von Information im Kontext der Gesellschaft. Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien ist oft eine kritische Analyse der Art und Weise, wie Kommunikation und Kommunikationssysteme in der kapitalistischen Gesellschaft arbeiten und organisiert sind und wie sie sich auf die Gesellschaft und das Leben der Menschen in der Gesellschaft auswirken und wie sie mit ihr interagieren. Diese kritische Analyse wird auch als Kritik der Politischen Ökonomie der Kommunikation und der Medien bezeichnet. Besonderes Augenmerk wird auf die Analyse der kapitalistischen Produktion von Information, der Kommunikationsarbeit, der Produktion, der Distribution und des Konsums von Informationen und Kommunika‐ tion(systemen) als Waren, des Raums und der Zeit der Kommunikation, der Interaktion von Politik und Medienwirtschaft, der Ideologiekritik, der Kommunikation im Kontext von Klassen- und gesellschaftlichen Konflikten und der Alternativen zur kapitalistischen Kommunikation (nicht-kapitalis‐ tische Kommunikation(ssysteme)) gelegt. Abbildung 4.1 veranschaulicht den Ansatz der Politischen Ökonomie der Kommunikation und der Medien. 4.2 Was ist die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien? 99 <?page no="100"?> Medienbetriebswirtschaftslehre, Medienorganisationswissenschaft, Medienmanagement, Soziologie der Medienarbeit Analyse der Medien-, Kreativ-, Informations, Kultur- und Digitalindustrie Politische Ökonomie der Kommunikation, Kultur und Medien Abbildung 4.1: Visualisierung des Ansatzes der Politischen Ökonomie der Kommunikation und der Medien Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien unterschei‐ det sich von der Medienbetriebswirtschaftslehre und der Medien-/ Krea‐ tiv-/ Kulturwirtschaftslehre (Media/ Creative/ Cultural Industries Studies). Die Medienbetriebswirtschaftslehre und Medienmanagement (Media Busi‐ ness Studies, Media Management) konzentrieren sich auf die Analyse von Medienorganisationen. Die Medienindustrieforschung beschäftigt sich mit der Analyse von Medienindustrien. Die Politische Ökonomie der Kom‐ munikation und der Medien ist auch, aber nicht nur, eine Analyse von Medienorganisationen und Medienindustrien. Sie analysiert Medien und Kommunikation - einschließlich Medienorganisationen, Medienindustrien, Kommunikationsprozesse, Medien- und Kommunikationssysteme, Kommu‐ nikationstechnologien - im Kontext eines breiteren Gesellschaftsbildes. Sie berücksichtigt daher die gesellschaftlichen Kontexte der Kommunika‐ tion(ssysteme) wie die kapitalistische Gesellschaft, Klassenstrukturen, die Öffentlichkeit, den Staat, die Politik, die Globalisierung, Strukturen der Ungleichheit, Ideologie, Herrschaft usw. 100 4 Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien <?page no="101"?> Es gibt eine Reihe von weiteren Definitionen der Politischen Ökonomie der Kommunikation. Einige von ihnen sollen hier kurz erwähnt werden. Sie fügen dem bereits Angeführten nichts Neues hinzu, sollten aber ebenfalls erwähnt werden. Jonathan Hardy betont, dass der Ansatz der Kritischen Politischen Öko‐ nomie mit einem problemorientierten Ansatz die Interaktion der politischen und der wirtschaftlichen Dimension der Medien im Kontext der Macht analysiert: „The political economy of communications describes all forms of enquiry into the political and economic dimensions of communication. […] I take the critical political economy approach to encompass studies that consider political and economic aspects of communications and which are critical in regard to their concerns with the manner in which power relations are sustained and challenged. […] Critical political economic of communications is a critical realist approach that investigates problems connected with the political and economic organization of communication resources” (Hardy 2014, 3, 4, 14). Im Vorwort zu Hardys (2014) Buch lobt James Curran Hardys Einfüh‐ rungsbuch zur Politischen Ökonomie der Kommunikation als wesentlich besser als das von Vincent Mosco (2009). Hardys eigene Definition unter‐ scheidet sich nicht von der von Mosco, sondern eine praktikable Reproduk‐ tion von Moscos Verständnis. Nicholas Garnham (1979, 127) schreibt: „the purpose of a political eco‐ nomy of culture is to elucidate what Marx and Engels meant in the German Ideology by ’control of the means of mental production’ […] Further the political economy of mass-media is the analysis of a specific historical phase of this general development linked to historically distinct modalities of cultural production and reproduction”. Garnham konzentriert sich auf den Begriff der Kontrolle und auf den dynamischen und historischen Charakter der politischen Ökonomie. Es gibt wirtschaftliche Formen der Kontrolle der Medien (z. B. Kontrolle durch Eigentum), politische Formen der Kontrolle (z. B. staatliche Zensur, Überwachung und Gewalt) und ideologische Formen der Kontrolle. Garnham weist auf Aspekte der Politischen Ökonomie der Kommunikation hin, liefert aber keine klare und eindeutige Definition. Nach der Einführung einiger grundlegender Definitionen der Politischen Ökonomie der Kommunikation werden wir uns im Folgenden mit der Klassifizierung ihrer verschiedenen Ansätze befassen. 4.2 Was ist die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien? 101 <?page no="102"?> Politische Ökonomie der Kommunikation: Ansätze Dwayne Winseck (2011) unterscheidet vier Ansätze der Politischen Ökono‐ mie der Kommunikation und der Medien: 1. Neoklassische Politische Ökonomie der Medien (basierend auf neoklas‐ sischer und neoliberaler Ökonomik); 2. Radikale/ Kritische Politische Ökonomie der Medien (auf der Grundlage von Marx und Marxschen Ansätzen); 3. Institutionelle Politische Ökonomie der Medien (mit Schwerpunkt auf Institutionen wie der Kreativwirtschaft, den Gemeingütern, Netzwerken und Märkten); 4. the Cultural Industries School (mit Schwerpunkt auf den besonderen Merkmalen von Medien und Kultur, z. B. die Arbeiten von Miège 1979, 1987, 2011). Winseck argumentiert, dass die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien „kein einheitliches Feld“ ist, weshalb er die Pluralform „Politische Ökonomien“ (Political Economies) verwendet. Es gibt sicherlich verschiedene Ansätze im Bereich der Medienökonomie, im Wesentlichen die, die Winseck aufzählt, aber nicht alle bezeichnen sich als Politische Ökonomie. Verschiedene Ansätze, die sich auf „mikroökonomische Fragen“ beschränken und darauf konzentrieren, „wie Medienindustrien und -unter‐ nehmen erfolgreich sein, gedeihen oder sich weiterentwickeln können“ (Wasko, Murdock & Sousa 2011), bezeichnen sich selbst als „Medienökono‐ mie“ (Media Economics; z. B. Albarran 2019, 2017; Anderson, Waldfogel & Strömberg 2016; Doyle 2013; Hoskins, McFadyen & Finn 2004; Picard 2001, 1989) und nicht als Politische Ökonomie. Robert Picard (1989, 7) definiert Medienökonomie als die Analyse von „how media operators meet the informational and entertainment wants and needs of audiences, advertisers and society with available resources”. Gillian Doyle skizziert einen vorwiegend mikroökonomischen Ansatz zur Analyse der Medienöko‐ nomie (Doyle 2013, 3). Es ergibt wenig Sinn, solche Ansätze als Politische Ökonomie zu bezeichnen, wie Winseck es tut, wenn sie diese Bezeichnung nicht für sich beanspruchen und der Moralphilosophie keinen wichtigen Stellenwert einräumen. „While competition may be assessed, little emphasis is placed on questions of ownership or the implications of concentrated ownership and control. These approaches avoid the kind of moral grounding adopted by political economists, as most studies emphasize description 102 4 Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien <?page no="103"?> rather than critique” (Wasko, Murdock & Sousa 2011, 3). Das Verständnis der Medienökonomie in neoklassischen Ansätzen ist zu eng und ignoriert oft die Existenz der Politischen Ökonomie der Kommunikation. Die Politische Ökonomie der Kommunikation ist sicherlich ein spezifischer Ansatz der Medienökonomie. Der Ansatz der Politischen Ökonomie der Kommunikation wurde stark von Marx und dem Marxschen Denken beeinflusst. Murdock und Gold‐ ing (2005, 61) schreiben, dass der Ansatz der Politischen Ökonomie der Kommunikation „weitgehend marxistisch“ ist. In ihrem Rückblick auf die Entwicklung des Ansatzes der Politischen Ökonomie der Kommunikation führt Janet Wasko (2014, 260) aus: „often, those working within a political economic approach in media and communication studies have adopted a Marxist/ neo-Marxist theoretical framework and thus a critical perspective“. Die Politische Ökonomie der Kommunikation ist sicherlich nicht ausschließ‐ lich von der Kritik der Politischen Ökonomie geprägt, die Marx begründet hat und die seither weiterentwickelt wurde, aber dieser kritische Ansatz ist die dominierende Version der Politischen Ökonomie der Kommunikation, weshalb die Begriffe Politische Ökonomie der Kommunikation, Kritik der Politischen Ökonomie der Kommunikation und Kritische Politische Öko‐ nomie der Kommunikation oft synonym verwendet werden. „Meanwhile, institutional political economy represents an approach that focuses on technological and institutional factors that influence markets. While some work in communication studies draws on institutional analysis, a radical, critical or Marxian political economy is likely to be the tradition that is represented when one refers to ‘the political economy of communication’” (Wasko 2005, 26). Es gibt eine Vielzahl von Klassifizierungen von medienökonomischen Ansätzen. Wir werden nun einen Blick auf einige von ihnen werfen. Albarran (2010, 21) und Picard (2006, 28) unterscheiden zwischen drei Theorietraditionen der Medienökonomie: die Theoretische Medienökono‐ mie, die von der Neoklassischen Ökonomie beeinflusst ist; die Angewandte Medienökonomie, die branchenbezogen und vom Neoklassischen Ansatz beeinflusst ist; und die Kritischen Ansätze wie der Marxismus, die British Cultural Studies und die Politische Ökonomie. Kiefer und Steininger (2014, 47) identifizieren die folgenden vier Ansätze in der Medienökonomie: Medienbetriebswirtschaftslehre, Neoklassische und Neoliberale Medienökonomie, Neue Institutionenökonomik und Neue 4.2 Was ist die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien? 103 <?page no="104"?> Politische Ökonomie der Medien, Kritische und Marxistische Politische Ökonomie der Medien. Meier (2003, 221) unterscheidet zwischen der Radikalen Politischen Öko‐ nomie und der Neuen Politischen Ökonomie, um die Ansätze zur Politischen Ökonomie der Kommunikation zu charakterisieren. Meier zufolge wurde die Neue Politische Ökonomie von der Neoklassischen Ökonomie, der Libe‐ ralen Politischen Ökonomie und der Institutionellen Politischen Ökonomie beeinflusst und die Radikale Politische Ökonomie von der Marxistischen Politischen Ökonomie und der Institutionellen Politischen Ökonomie. Just und Latzer (2010, 73-76) identifizieren die folgenden Ansätze: Klassische Politische Ökonomie, Neoklassische Politische Ökonomie, Kritische und (Neo-)Marxistische Politische Ökonomie, Institutionelle Politische Ökono‐ mie, Neue Politische Ökonomie. Auf die eine oder andere Weise wird bei all diesen Klassifizierungen davon ausgegangen, dass ein Teilbereich der Medienökonomie die Heterodoxe Medienökonomie ist (auch Radikale Politische Ökonomie, Kritische Politi‐ sche Ökonomie, Kritischer Ansatz usw. genannt). Demgegenüber macht Manfred Knoche (1999) eine vierfache Unterscheidung der medienökono‐ mischen Ansätze: Neoklassizismus/ Neoliberalismus, Neue Institutionenö‐ konomik/ Neue Politische Ökonomie/ Systemtheorie, Kritische Politische Ökonomie der Medien, Marxistische Politische Ökonomie der Medien/ Kritik der Politischen Ökonomie der Medien. In Knoches Klassifizierung geht die Kritische Politische Ökonomie im Gegensatz zur Kritik der Politischen Ökonomie nicht von den Werken von Karl Marx aus, sondern tendiert dazu, deren Bedeutung zu ignorieren oder herunterzuspielen. Anders als Knoche unterscheidet Sevignani (2016, 2022) nicht zwischen Kritik der Politischen Ökonomie der Medien und Kritischer Politischer Ökonomie der Medien. Er neigt dazu, den zweiten Begriff für eine Vielzahl von Ansätzen zu verwenden, den ersten Begriff mit dem Zweiten zu vermischen oder den Ersten nicht zu verwenden. Dadurch geht er in die Richtung eines pluralistischen, allumfassenden und postmodernen Ansatzes der Medienökonomie, bei dem die Bedeutung von Marx und die Tradition der Analyse, die sich auf Marx stützt, leicht vergessen werden kann. Ein wichtiges Thema ist die Frage, wie eine politisch-ökonomische Ana‐ lyse bestimmter Kommunikationsphänomene durchgeführt werden kann, die sich auf Gesellschaftstheorie, empirische Sozialforschung und Moral‐ philosophie stützt. Dazu benötigen wir Prinzipien und Dimensionen der 104 4 Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien <?page no="105"?> Politischen Ökonomie der Kommunikation. Im nächsten Abschnitt werden wir solche Prinzipien und Dimensionen diskutieren. 4.3 Prinzipien und Dimensionen der Politischen Ökonomie der Kommunikation Prinzipien der Politischen Ökonomie der Kommunikation Es gibt nicht nur Definitionen und eine Vielzahl von Ansätzen für die Politische Ökonomie der Kommunikation. Es gibt auch Prinzipien, die man bei einer politökonomischen Analyse von Kommunikationsphänomenen anwendet. Wir werden zunächst einen Blick auf die Prinzipien und Dimen‐ sionen der Analyse werfen, die der deutsche Politische Ökonom Horst Holzer eingeführt hat. Horst Holzer (1994, 202-203) argumentiert, dass die Kritik der Politischen Ökonomie der Medien und der Kommunikation fünf Aspekte der Medien im Kapitalismus analysiert: „die kapitalökonomische Funktion (Herstellung und Verkauf medialer Produkte - -Presseerzeugnisse, Rundfunkprogramme, Anzeigenplätze, Werbezeiten); die warenzirkulierende Funktion (Verbreitung von ,Konsumklima‘ und ,Bewer‐ bung‘ spezifischer Produkte und Dienstleistungen); die herrschaftliche Funktion (Legitimierung und Propagierung des gesellschaft‐ lichen Organisationsprinzips, auf dem nicht nur die Existenz der Medien, sondern auch die der deutschen Gesellschaft insgesamt basiert); die regenerative Funktion (Bedienung von Informations- und Unterhaltungsan‐ sprüchen des Publikums, die an den zuvor genannten Funktionen ausgerichtet sein muss). - Dazu kommt noch ein weiterer Funktionsbereich, der sich daraus ergibt, dass die Medien Absatzsphären für andere Unternehmen sind. Man könnte dies die ab‐ satzökonomische Funktion der Medien nennen. Sie manifestiert sich in zweierlei: zum einen darin, dass die Medienorganisationen als Käufer von produktions- und vertriebsrelevanten Gerätschaften, Arbeitsmitteln und Dienstleistungen auftre‐ ten (Bau- , Elektro<nik>-, Chemie- und Geräteindustrie; Unternehmen der Film-, Fernsehserien- und Tonträgerproduktion); zum anderen darin, dass insbesondere die Hörfunk- und Fernsehanstalten ihre Klientel animieren, auf dem Großmarkt der Empfangsapparate als Kunden tätig zu werden“. 4.3 Prinzipien und Dimensionen der Politischen Ökonomie der Kommunikation 105 <?page no="106"?> Holzer vertritt die Auffassung, dass sich eine Untersuchung der Kommuni‐ kation auf Basis der Politischen Ökonomie auf Aspekte des Kapitals, der Waren, der Ideologie, der Werbung, des Marketings, das Warenverkaufs so‐ wie der Konsumkultur in der Freizeit konzentriert. Seine fünf „Funktionen“ der Kommunikation im Kapitalismus sind nicht klar abgegrenzt, so dass sie sich überschneiden. Außerdem werden Arbeit, Klassenverhältnisse und Klassenkämpfe nicht als analytische Aspekte berücksichtigt. Das bedeutet, dass Holzer ein strukturalistisches Verständnis der Politischen Ökonomie der Kommunikation vertritt. In den britischen und nordamerikanischen Ansätzen zur Politischen Ökonomie der Kommunikation wurden auch Prinzipien zur Analyse von Kommunikationsphänomenen eingeführt. Mosco (2009, 2-4, 26-36) und Murdock & Golding (2005) stellen insgesamt sieben Prinzipien der Politischen Ökonomie der Kommunikation (PÖK) vor: ● Die Warenform und die Kommodifizierung ● Raum (lokal, regional, national, international, global) ● Strukturierung (Klasse, Geschlecht, Rassismus) ● Geschichte ● Gesellschaftliche Totalität ● Moralphilosophie ● Praxis - Prinzip 1: Die Warenform und die Kommodifizierung Eine Ware ist eine Ware oder Dienstleistung, die auf einem Markt getauscht wird. Die Ware wird gegen eine Geldsumme getauscht. Eine bestimmte Menge einer Ware wird dabei in eine Tauschbeziehung mit Geld gesetzt: x Ware A = y Geld (x Menge der Ware A wird gegen y Geldeinheiten einer bestimmten Währung getauscht). Kommodifizierung „is the process of transforming things valued for their use into marketable produces that are valued for what they can bring in exchange” (Mosco 2009, 2). Kommo‐ difizierung bedeutet, dass etwas, das keine Ware ist, zu einer Ware gemacht wird. Bei der Kommodifizierung wird also etwas in die Warenform x Ware A = y Geld verwandelt. Die Ware hat dabei nicht nur einen Gebrauchswert, der menschliche Bedürfnisse befriedigt, sondern auch einen Tauschwert, der zur Förderung von Absatz- und Profitinteressen der Unternehmen beiträgt. 106 4 Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien <?page no="107"?> Mosco argumentiert, dass wir in der Welt der Medien drei typische Formen der Ware vorfinden: die Kommodifizierung von Inhalten, die Kom‐ modifizierung des Publikums und die Kommodifizierung der Arbeitskraft. Medienunternehmen verkaufen verschiedene Waren, darunter auch Medi‐ eninhalte, um Geld zu verdienen. Werbefinanzierte Medien verkaufen nicht in erster Linie Inhalte, sondern bieten kostenlosen Zugang zu Inhalten, um Zuschauer: innen/ Publikumsmitglieder zu gewinnen. Sie verkaufen den Zugang zu einem geeigneten Publikum an die Werbetreibenden, was Dallas W. Smythe (1977) als die Publikumsware bezeichnet. Die Kommodifizierung der Arbeit bedeutet, dass die Menschen im Kapitalismus durch den Arbeits‐ markt strukturell gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um zu überleben. Sie werden zu Lohnarbeitenden. Es gibt Arbeiter: innen in der Kommunikationsindustrie. Die Politische Ökonomie der Kommunikation untersucht deren Arbeitsbedingungen. Hier sind drei Beispiele dafür, wie die Kommodifizierung in der Me‐ dienbranche funktioniert: Softwarelizenzen sind Mechanismen, die von Konzernen wie Microsoft eingesetzt werden, um Inhalte, nämlich Software wie Microsoft Office, zu Waren zu machen. Google ist eine der größten Werbeagenturen der Welt. Der Digitalkonzern verkauft den Zugang zu seinen Nutzer: innen als Ware. Beispiele für Kommunikationsarbeitende, die ihre Arbeitskraft als Ware verkaufen, sind Journalist: innen, Software-Inge‐ nieur: inn: e: n und PR-Mitarbeiter: innen. - Prinzip 2: Raum (lokal, regional, national, international, global) Verräumlichung (Spatialisation) „is the process of overcoming the const‐ raints of geographical space with, among other things, mass media and communication technologies” (Mosco 2009, 2). Durch Prozesse der Ver‐ räumlichung werden geographische Distanzen überwunden. Kommunika‐ tionstechnologien spielen dabei eine wichtige Rolle. Der Raum ist das Nebeneinander von Materieeinheiten. Die Produktion ist in Raum und Zeit organisiert. Der lokale, nationale, regionale, internationale und globale Raum spielt bei der Analyse der Kommunikation eine Rolle. Globalisierung ist der Prozess der Ausdehnung menschlicher Praktiken über räumliche Dis‐ tanzen hinweg. Kommunikationstechnologien helfen der Kommunikation, Entfernungen zu überwinden. Sie sind unter anderem auch Technologien der Globalisierung. Wir haben die Globalisierung der Medien und der 4.3 Prinzipien und Dimensionen der Politischen Ökonomie der Kommunikation 107 <?page no="108"?> Kommunikation (globale Medien, globale Kommunikation) erlebt. Kommu‐ nikationstechnologien sind Medium und Ergebnis der Globalisierung. - Prinzip 3: Strukturierung (Klasse, Geschlecht, Rassismus) Eine Struktur ist ein relativ konstantes und über längere Zeit hinweg existierendes Verhältnis zwischen Menschen, in dem es bestimmte Rollen, routinisierte (also sich stetig wiederholende) Handlungen und bestimmte Resultate gibt. Strukturierung „is the process of creating social relations, mainly those organized around social class, gender, and race” (Mosco 2009, 2). Strukturierung bedeutet also die Schaffung von neuen Strukturen, ins‐ besondere von Machtstrukturen. Strukturierung hat mit Machtstrukturen zu tun. Macht ist, allgemein gesprochen, die Kapazität und Möglichkeit von Menschen, Veränderungen in der Gesellschaft zu beeinflussen. In asymme‐ trischen Machtstrukturen haben bestimmte Gruppen oder Individuen die Fähigkeit, das Geschehen in der Gesellschaft oder in Teilen davon stark zu beeinflussen und diese Fähigkeit auf Kosten anderer auszunutzen. Besonderes Augenmerk legt die Politische Ökonomie der Kommunikation auf die Analyse von Klassenstrukturen, d. h. auf das Verhältnis zwischen privaten Besitzer: innen von Produktionsmitteln, die die Macht haben, Ar‐ beitenden zur Produktion von Mehrwert und Waren zu zwingen, die nicht Eigentum der Produzent: inn: en, sondern der Besitzer: innen der Produkti‐ onsmittel sind. Die Politische Ökonomie der Kommunikation (PÖK) sieht die Klassenverhältnisse als das grundlegende Merkmal von Klassengesellschaf‐ ten und der Kommunikation in Klassengesellschaften. Klassenverhältnisse stehen in Wechselwirkung mit anderen Machtstrukturen, einschließlich Geschlechterbeziehungen und Rassismus. Die PÖK interessiert sich daher auch für die Analyse von Kommunikation im Kontext der Interaktion von Klassenverhältnissen und anderen Formen von Herrschaft. Herrschaft bedeutet, dass bestimmte Gruppen oder Individuen über Zwangsmittel verfügen, die es ihnen ermöglichen, sich auf Kosten anderer Vorteile zu verschaffen. Ausbeutung, patriarchalische Herrschaft und Sexismus sowie Rassismus sind einige der wichtigsten Formen von Herrschaft. - Prinzip 4: Geschichte Die PÖK analysiert die Kommunikation auch im Kontext der historischen Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft. Sie untersucht die Dynamik 108 4 Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien <?page no="109"?> und die Veränderungen des Kapitalismus, die durch Krisen und Klassen‐ konflikte hervorgerufen werden. Sie will auch die Rolle von grundlegenden Transformationen im gesellschaftlichen Wandel verstehen (z. B. die Franzö‐ sische Revolution). Sie verbindet die Analyse der Kommunikation mit der Analyse der Geschichte der Medien, des Kapitalismus, der Zivilgesellschaft, der Kommodifizierung, des Staates, der Ideologie, der Technologien usw. (Murdock und Golding 2005, 64). - Prinzip 5: Gesellschaftliche Totalität Die PÖK analysiert die Kommunikation im Kontext der gesamten Gesell‐ schaft, der Gesellschaft als Totalität. „Political economy has always believed that there is a big picture of society. […] The political economist asks: How are power and wealth related and how are these in turn connected to cultural and social life? The political economist of communication wants to know how all of these influence and are influenced by our systems of mass media, information, and entertainment” (Mosco 2009, 4). Es geht der PÖK also darum, wie das große Bild der Gesellschaft, die großen Themen, Veränderungen und Entwicklungen der Gesellschaft, die Medienlandschaft und die Kommunikation sowie die Medien- und Kommunikations-Ökono‐ mie prägen. Politische Ökonomie (der Kommunikation) ist daher auch Gesellschaftsanalyse. Kommunikation im Kontext der gesellschaftlichen Totalität zu analysie‐ ren bedeutet, dass die PÖK die Rolle der Kommunikation in der Gesellschaft als Ganzes analysiert. Die PÖK betrachtet die heutigen Gesellschaften als kapitalistische Gesellschaft und argumentiert, dass es ein kapitalistisches Weltsystem gibt. Auch die globale Dimension der Gesellschaft ist eine Form der Totalität, die einen Kontext der Kommunikation bildet, den die PÖK analysiert. Der Kapitalismus ist ein Gesellschaftstyp - eine Gesellschaftsformation -, in der die Masse der Menschen von den Bedingungen der wirtschaftli‐ chen, politischen und kulturellen Produktion entfremdet ist, was bedeutet, dass sie die Bedingungen, die ihr Leben prägen, nicht kontrollieren, was privilegierten Gruppen die Anhäufung von Kapital in der Wirtschaft, Ent‐ scheidungsmacht in der Politik und Ansehen, Aufmerksamkeit und Respekt in der Kultur ermöglicht (Fuchs 2022, Kapitel 1). 4.3 Prinzipien und Dimensionen der Politischen Ökonomie der Kommunikation 109 <?page no="110"?> Prinzip 6: Moralphilosophie Die Moralphilosophie fragt danach, wie eine gute Gesellschaft aussieht, was eine schlechte Gesellschaft ist und wie letztere vermieden werden kann. Die PÖK interessiert sich für die Moralphilosophie, um zu erörtern, was gute Kommunikationssysteme in einer guten Gesellschaft sind und wie wir solche Formen der Kommunikation erreichen können. „[The Political Economy of Communication argues for] extending democracy to all aspects of social life” (Mosco 2009, 4), wozu Politik, Wirtschaft, der Arbeitsplatz und das Alltagsleben gehören. Diese Form der Demokratie wird als partizipative Demokratie bezeichnet. Die Mainstream-Wirtschaftswissenschaft ignoriert heute eher die Moral‐ philosophie. „Today’s leading mainstream economists are less averse to using moral language in their economic discourse. […] it is chiefly the heterodox schools of thought, rooted in political economy, that take up the moral concern. […] The Marxian and institutional traditions are steeped in debates over the place of moral philosophy” (Mosco 2009, 34). - Prinzip 7: Praxis Praxis bedeutet menschliche und politische Aktivitäten und Politik, die die Welt verändern und sie zu einem besseren Ort machen wollen, an dem alle Menschen Vorteile und ein gutes Leben haben. Die Praxis umfasst politische Reformen, Politikgestaltung sowie Klassenkonflikte und gesellschaftliches Engagement der sozialen Bewegungen für eine bessere Gesellschaft. Die PÖK ist an der Analyse der Rolle der Kommunikation in gesellschaftlichen Konflikten und Kämpfen und der Analyse von solchen Auseinandersetzun‐ gen und Kämpfen für demokratische Kommunikation(ssysteme) in einer guten Gesellschaft interessiert. Sie interessiert sich dafür, wie Menschen die Gesellschaft verändern (wollen), Transformationen der Gesellschaft kommunizieren und Kommunikation(ssysteme) und Gesellschaft transfor‐ mieren. Die PÖK ist in dieser Hinsicht von Karl Marx inspiriert, der in der elften These über Feuerbach sagt: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern“ (Marx 1845, 7). Diese These bedeutet im Kontext der PÖK, dass sie kritische Ana‐ lysen von Kommunikation und Gesellschaft durchführt, um die Schaffung einer guten Gesellschaft und demokratischer Kommunikation(ssysteme) zu unterstützen. 110 4 Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien <?page no="111"?> Die sieben oben genannten Prinzipien sind sicherlich wichtige Aspekte bei der Durchführung einer politökonomischen Analyse von Kommunika‐ tionsphänomenen. Der Fokus auf Totalität und Geschichte ist ein onto-epis‐ temologisches Merkmal der PÖM. Die Ontologie untersucht, wie die Welt aussieht. Die Epistemologie untersucht, wie Menschen Wissen über die Welt schaffen. Die Onto-Epistemologie befasst sich damit, wie die Welt - im Falle der Sozial- und Gesellschaftswissenschaften ist das die soziale Welt der Gesellschaft - aussieht und wie Menschen Wissen über die Welt schaffen. Die PÖK interessiert sich für das große Bild der Welt. Sie nutzt Theorie und empirische Forschung zur Analyse der Kommunikation in der Gesellschaft. Und sie stellt normative, ethische und moralische Fragen zu Kommunikation und Gesellschaft. Das bedeutet, dass sie Theorie, empirische Forschung und Ethik/ Moralphilosophie miteinander verbindet. Die Ebene der Ethik/ Moralphilosophie wird manchmal auch Axiologie oder Praxeologie genannt. Axiologie leitet sich von dem griechischen Wort axios ab, das „wertvoll“, „würdig“ und „ehrenwert“ bedeutet und somit auf Ethik, Moral, Normen und moralische Werte verweist. Praxeologie kommt von dem griechischen Wort praxis, was bedeutet, dass Ethik nicht nur aus Ideen besteht, sondern aus Handlungen, die Ideen in die Realität umsetzen. Die Dialektik ist ein wichtiges Merkmal der Onto-Epistemologie der PÖK. Die Dialektik ist eine Analyseform, die die Realität als widersprüchlich analysiert, was bedeutet, dass sie untersucht, wie Phänomene durch ihre Beziehungen konstituiert werden und wie diese Beziehungen aussehen, Ver‐ änderungen auf verschiedenen Ebenen und das Entstehen neuer Momente und Totalitäten bewirken. Das heißt, sie untersucht Geschichte, Krisen und Transformationen als Dialektik von Vergangenheit/ Gegenwart und Konti‐ nuität/ Diskontinuität. Darüber hinaus analysiert die Dialektik dialektische Beziehungen wie die zwischen Praktiken/ Strukturen, Subjekten/ Objekten, Produktivkräften/ Produktionsverhältnissen, Gut/ Böse (Ethik, Moralphilo‐ sophie), Produktion/ Konsum, Arbeit/ Kapital, Nichteigentümer: inn: n/ Eigen‐ tümer: inn: n, Armen/ Reichen, Elend/ Reichtum, Gebrauchswert/ Tauschwert, konkreter Arbeit/ abstrakter Arbeit, der einfachen Wertform/ der relativen und erweiterten Wertform, den gesellschaftlichen Verhältnissen zwischen Menschen/ Beziehungen zwischen Dingen, Fetisch der Ware und des Geldes/ fetischistisches Denken, Warenzirkulation/ Geldzirkulation, Ware/ Geld, Arbeitskraft/ Lohn, Arbeitsprozess/ Verwertungsprozess, Subjekt der Arbeit (Arbeitskraft, Arbeitende)/ Objekt der Arbeit (Produktionsmittel), variables Kapital/ konstantes Kapital, Mehrarbeit/ Mehrprodukt, notwen‐ 4.3 Prinzipien und Dimensionen der Politischen Ökonomie der Kommunikation 111 <?page no="112"?> dige Arbeitszeit/ Mehrarbeitszeit, Einzelarbeiter: in/ Kooperation, Einzelun‐ ternehmen/ Industriezweig, Einzelkapital/ konkurrierende Kapitale usw. Dimensionen der Politischen Ökonomie der Kommunikation Auf der Grundlage einer dialektischen Onto-Epistemologie und einer Moral‐ philosophie untersucht die PÖK die Rolle der Medien und der Kommunika‐ tion in der Gesellschaft und widmet dabei einer Reihe von Analyseaspekten besondere Aufmerksamkeit, die in Abbildung 4.2 dargestellt sind. Produktion von Information Zirkulation von Information Konsum von InformationKonsumkultur, Freizeit und Freizeitaktivitäten, Reproduktion der Arbeitskraft Medienmärkte, Werbung und Branding, Warenverkauf, Medienkonzentration, Globalisierung der Märkte Nichtkapitalistische Kommunikationsökonomie: öffentlich-rechtliche Medien, zivilgesellschaftliche Medien, Community-Medien usw. Kapitalistische Kommunikationsindustrie: POLITI- SCHES SYSTEM KULTUR- SYSTEM Gesetze und Policies, politische Information, Lobbying, soziale Bewegungen und Gesellschaftskämpfe Ideen, Weltanschauungen, Ideologien, Wissen, Bedeutungs-Produktion G - W .. P .. W’ - G’ Arbeitskraft (Ak) Produktionsmittel (PM): Maschinen/ Technologien, Ausrüstung, Ressourcen Ak: Eigenschaften der Arbeitenden, geistige und körperliche Gesundheit, Arbeitserfahrungen Produktionsprozess (P): Wo? Arbeitsräume; Wann? Arbeitszeit, notwendige Arbeitszeit und Mehrarbeitszeit; Wie? Arten der Arbeitsaktivitäten, Kontrollformen, absolute und relative Mehrwertproduktion Resultate der Produktion (W’, G’): Arbeitsprodukt, Mehrwert, Waren, Kapital Produktionsverhältnisse Dimensionen der Politischen Ökonomie der Kommunikation MEDIEN- UND KOMMUNIKATIONSÖKONOMIE Klassenkämpfe, Arbeitsverträge, Löhne und Sozialleistungen, ökonomische Aspekte der Herschaft, Interaktion von Klasse und Herrschaft Produktivkräfte Abbildung 4.2: Die Analysedimensionen der Politischen Ökonomie der Kommunikation und der Medien Abbildung 4.3 zeigt ein Modell der politischen Ökonomie der Kommunika‐ tion. Es zeigt, auf welche Dimensionen (D) sich die PÖK in ihren Analysen konzentriert: ● D1: PÖK analysiert die Produktion von Information, die Art und Weise der Produktion von Information (siehe auch die Dimensionen D6-D12). ● D2: PÖK analysiert die Zirkulation von Information: Die PÖK-Analysen umfassen Analysen der Medienmärkte, der Werbung und der Marken‐ bildung, des Verkaufs von Waren, der Medienkonzentration, der Globa‐ lisierung der Märkte usw. und der Auswirkungen dieser Prozesse auf die Gesellschaft. 112 4 Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien <?page no="113"?> ● D3: Die PÖK analysiert den Konsum von Information: Die PÖK analy‐ siert die Konsumkultur, bei der es um den Konsum von Waren und nicht-kommodifizierten Aktivitäten im Alltag, in der Freizeit und bei Freizeitaktivitäten sowie bei der Reproduktion der Arbeitskraft geht. ● D1-D3 bilden zusammen die innere Dynamik der Medien- und Kommu‐ nikationsökonomie. ● D4: Die PÖK analysiert die Wechselwirkungen zwischen der Medien- und Kommunikationswirtschaft und dem politischen System. DIe PÖK analysiert daher staatliche und zivilgesellschaftliche Politik im Kontext von Medien und Kommunikation, was die Analyse von Gesetzen und Policies einschließt, die das Medien- und Kommunikationssystem und seine Ökonomie regulieren, Lobbying-Prozesse, mit denen politische und andere Akteure die Medien beeinflussen wollen, die Art und Weise, wie politische Informationen in die Medien gelangen oder nicht, die Beziehungen sozialer Bewegungen zu den Medien, die Kommunikati‐ onsformen sozialer Bewegungen; die Kämpfe sozialer Bewegungen für Medienreformen sowie Veränderungen der Medien und der Öffentlich‐ keit. ● D5: Die PÖK analysiert die Wechselwirkungen zwischen der Medien- und Kommunikationsökonomie und dem kulturellen System. Die PÖK analysiert daher, wie Ideen, Weltanschauungen, Ideologien, Wissen, Bedeutungen und Moral in der Medien- und Kommunikationswirtschaft eine Rolle spielen, wie Medien Ideen und Ideologien vermitteln, wie Nutzer: innen und Zuschauer: innen die politische Ökonomie interpre‐ tieren und wie die politische Ökonomie, einschließlich des Kapitalismus, in der Kultur dargestellt wird. Diese Dimension umfasst Ideologiekritik. ● Die Analyse der Produktion in der Medien- und Kommunikationsöko‐ nomie hat mehrere Dimensionen. In der kapitalistischen Gesellschaft gibt es sowohl kapitalistische als auch nicht-kapitalistische Medien- und Kommunikationsorganisationen. Die PÖK analysiert beide. Kapi‐ talistische Medienorganisationen produzieren Kommunikationswaren, um Kapital zu akkumulieren. Nicht-kapitalistische Medienorganisatio‐ nen haben einen Not-for-Profit-Imperativ. Ihr Fokus liegt auf dem Ge‐ brauchswert der Medien und nicht auf ihrem Tauschwert und dem Pro‐ fitimperativ. Die PÖK analysiert auch die Produktivkräfte der Medien und ihre Produktionsverhältnisse. Die Produktivkräfte bestehen aus den Arbeitenden, die die Produktionsmittel zur Schaffung neuer Güter und Dienstleistungen einsetzen, im Falle der Medienwirtschaft sind dies 4.3 Prinzipien und Dimensionen der Politischen Ökonomie der Kommunikation 113 <?page no="114"?> Informationsgüter und -dienstleistungen. Die Produktionsverhältnisse sind die sozialen Beziehungen und gesellschaftlichen Verhältnissen und Praktiken, mit denen die Menschen die Wirtschaft organisieren. ● D6: Die PÖK analysiert die nicht-kapitalistische Medien- und Kommuni‐ kationsökonomie. Sie analysiert, wie gemeinnützige Medienorganisati‐ onen wie öffentlich-rechtliche Medien, zivilgesellschaftliche Medien, Bürger: innenmedien, Medienkooperativen, Plattformkooperativen, öf‐ fentlich-rechtliche Internetplattformen usw. organisiert sind und wel‐ che Rolle sie in der Gesellschaft und im Kapitalismus spielen. ● D7: Die PÖK analysiert die Medien- und Kommunikationsaspekte der Pro‐ duktionsverhältnisse (der Klassenverhältnisse und der Machtverhältnisse). Dazu gehört die Analyse von Medien und Kommunikation im Kontext von Klassenkämpfen, Arbeitsverträgen, Löhnen und Sozialleistungen, der wirtschaftlichen Dimensionen der Herrschaft und der Wechsel‐ wirkung von Klasse und Herrschaft (einschließlich Geschlechterbezie‐ hungen, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Nationalismus, Patriarchat, Sexismus usw.). ● D8: Die PÖK analysiert die kapitalistischen Produktivkräfte in der Me‐ dien- und Kommunikationsökonomie. Das bedeutet, dass sie analysiert, wie der Kapitalakkumulationsprozess G - W .. P .. W‘ - G‘ im Kon‐ text der Produktion von Information, Medien und Kommunikation als Waren funktioniert, die vom Profitinteresse und der Logik der Kapital‐ akkumulation angetrieben werden. Die Analyse der Produktivkräfte der kapitalistischen Medien umfasst mehrere Teilbereiche, die in den Dimensionen D9-D12 zusammengefasst sind. ● D9: Die PÖK analysiert die Rolle der Produktionsmittel in der Medien- und Kommunikationsökonomie (Objekte, die im Produktionsprozess eingesetzt werden, konstantes Kapital wie Maschinen/ Technologien, Ausrüstung und Ressourcen). ● D10: Die PÖK analysiert Merkmale der Arbeitskräfte in der Medien- und Kommunikationsökonomie (Merkmale der Arbeitenden, psychische und physische Gesundheit der Arbeitenden, Subjektivitäten und Arbeitser‐ fahrungen). ● D11: Die PÖK analysiert den Produktions- und Arbeitsprozess in der Medien- und Kommunikationsökonomie, das Wo, Wann und Wie der Produktion: Arbeitsräume (der Arbeitsplatz, die räumliche Organisa‐ tion der Arbeit, einschließlich der geografischen Arbeitsteilung, städ‐ tische/ ländliche Aspekte, lokale, regionale, nationale, internationale, 114 4 Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien <?page no="115"?> transnationale und globale Aspekte), Arbeitszeit (Arten von Arbeit und Mehrwertproduktion, typische Arbeitszeiten und Überstunden) sowie Formen der Arbeitskontrolle (Arten von Management, Überwachung, absolute und relative Mehrwertproduktion usw.). ● D12: Die PÖK analysiert die Produkte, die der Arbeitsprozess in der Medien- und Kommunikationsökonomie hervorbringt (Gebrauchswerte, Waren, Kapital, Profite, verschiedene Arten von Informationswaren, verschiedene Arten von Kapital, die in der Medien- und Kommunikati‐ onsökonomie agieren, usw.). Tabelle 4.1 gibt einen Überblick über typische Fragen, die die PÖK in Bezug auf ihre verschiedenen Analysedimensionen stellt. Dimen‐ sion Aspekt Frage(n) D2 Die Zirkulation von Information: Medien‐ märkte Wie sehen die Medienmärkte aus und wie entwickeln sie sich? Wie konzen‐ triert sind die Medienmärkte? Welche Rolle spielen der Raum und die Globa‐ lisierung auf den Medienmärkten? D2 Die Zirkulation von Information: Werbung, Branding, Warenver‐ kauf Wie versucht das Kapital, den Waren‐ verkauf zu steigern? Wie setzt es in diesem Zusammenhang Medien und Kommunikation ein? Wie funktionie‐ ren Werbung und Branding? Welche Rolle spielen Werbung und Branding in den Medien? Welche Auswirkungen haben Werbung und Branding auf die Gesellschaft? D3 Der Konsum von Infor‐ mation Wie funktioniert die Konsumkultur und wie fördert sie den Warenkonsum? Welche Rolle spielen Waren, die Medi‐ atiserung der Waren, die Warenkultur und die nicht-kommodifizierte Kultur im Alltagsleben? Wie tragen die Medien und die Kommunikation zur Freizeit und zur Reproduktion der Arbeitskraft bei? D4 Wechselwirkungen zwischen der Medien- und Kommunikations‐ wirtschaft und dem po‐ litischen System: der Welche Gesetze und Policies regulieren die Medien- und Kommunikationsöko‐ nomie? Wie sehen sie aus? Was sind die Akteure, Prozesse, Inhalte und Auswir‐ kungen der Kommunikationspolitik? 4.3 Prinzipien und Dimensionen der Politischen Ökonomie der Kommunikation 115 <?page no="116"?> Dimen‐ sion Aspekt Frage(n) Staat, die Gesetzgebung und die Politik D4 Wechselwirkungen zwischen der Medien- und Kommunikations‐ wirtschaft und dem po‐ litischen System: Lob‐ bying und politische Information Wie versuchen Akteure durch Lob‐ bying und andere Mechanismen, die Nachrichten und Medieninhalte zu be‐ einflussen? Welche politischen Infor‐ mationen sind in den Medien vorhan‐ den oder nicht vorhanden? Warum? Wie berichten die Medien über Politik? D4 Wechselwirkungen zwischen der Medien- und Kommunikations‐ wirtschaft und dem politischen System: so‐ ziale Bewegungen und die Medien Wie treten soziale Bewegungen für Re‐ formen und Veränderungen der Medien und des öffentlichen Raums ein? In wel‐ chem Verhältnis stehen die Aktivitäten der sozialen Bewegungen zu den Me‐ dien? Welche Akteure, Prozesse gesell‐ schafliche Konflikte und Kämpfe gibt es bei der Transformation der Medien und der Öffentlichkeit? Welche Aspekte der Praxis gibt es im Zusammenhang mit dem untersuchten Kommunikati‐ onsphänomen? D5 Wechselwirkungen zwischen der Medien- und Kommunikations‐ wirtschaft und dem kul‐ turellen System: Ideolo‐ giekritik Ideologiekritik: Welche Rolle spielen die Ideologien in der kapitalistischen Gesellschaft? Wie werden solche Ideo‐ logien produziert und kommuniziert? Wie interpretieren und reagieren die Bürger: innen auf Ideologien? D5 Wechselwirkungen zwischen der Medien- und Kommunikations‐ wirtschaft und dem kulturellen System: Ideen, Weltanschauun‐ gen, Wissen, Bedeutun‐ gen und Moral der und in der Politischen Öko‐ nomie Wie werden Ideen, Weltanschauungen, Wissen und Bedeutungen, die von po‐ litischer Ökonomie und vom Kapitalis‐ mus handeln, produziert, verbreitet und interpretiert? Wie werden politische Ökonomie und Kapitalismus in der Kul‐ tur dargestellt? Welche Rollen spielen Ideen, Weltanschauungen, Wissen und Bedeutungen in der politischen Öko‐ nomie und im Kapitalismus sowie in der Medienökonomie? Welche Rollen spielt die Moralphilosophie bei der Ana‐ lyse der moralischen Aspekte des unter‐ suchten Kommunikationsphänomens? 116 4 Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien <?page no="117"?> Dimen‐ sion Aspekt Frage(n) D6, D1 Die nicht-kapitalisti‐ sche Kommunikations‐ wirtschaft -- Wie arbeiten gemeinnützige Medien‐ organisationen? Wie unterscheiden sie sich von kapitalistischen Medien‐ unternehmen? Was sind ihre Realitä‐ ten, Chancen und Herausforderungen? Welche Akteure, Prozesse, Inhalte und Auswirkungen auf die Gesellschaft fin‐ den wir in nicht-kapitalistischen Medi‐ enorganisationen? Welche Rolle spielen nicht-kapitalistische Medienorganisati‐ onen in der Gesellschaft? Welche Rollen spielen nicht-kapitalistische Medienor‐ ganisationen im Kapitalismus? D7, D1 Produktionsver‐ hältnsse: Klassen‐ kämpfe Welche Art von Klassenkonflikten gibt es in den analysierten Organisationen und Systemen? Welche Interessen, Stra‐ tegien, Praktiken und Klassenpositio‐ nen haben die beteiligten Akteure? Wie organisieren sich die Arbeiter: in‐ nen und wie gestalten sie ihre Be‐ ziehungen zum Kapital? Welche Rol‐ len spielen Arbeiter: innenproteste, Gewerkschaften und Streiks? Besteht die Möglichkeit, dass Medi‐ enarbeiter: innen Vereinigungen bilden (Vereinigungsfreiheit)? Wenn ja, gibt es Arbeitervereinigungen und Gewerk‐ schaften? Was tun diese? Wie organisiert sich das Kapital, wie setzt es seine Interessen durch und wie präsentiert es sie? Gibt es Verhand‐ lungsmechanismen zwischen Kapital und Arbeit? Wenn ja, wie funktionieren sie und wie wirken sie sich aus? D7, D1 Produktionsverhält‐ nisse: Arbeitsverträge, Löhne und Sozialleistungen Welche Art von Verträgen haben die Ar‐ beitenden? Welche Bedingungen sind in diesen Verträgen festgelegt und wel‐ che Folgen haben sie? Wie hoch oder niedrig ist das Lohnniveau? Welche an‐ deren materiellen, sozialen oder sonsti‐ gen Vorteile bzw. Nachteile haben die Arbeitenden? D7, D1 Produktionsverhält‐ nisse: die ökonomi‐ schen Dimensionen der Welche Rolle spielen Herrschaftsstruk‐ turen (einschließlich Rassismus, Na‐ tionalismus, Patriarchat, Sexismus, 4.3 Prinzipien und Dimensionen der Politischen Ökonomie der Kommunikation 117 <?page no="118"?> Dimen‐ sion Aspekt Frage(n) Herrschaft und die Wechselwirkungen von Klasse und Herrschaft - Geschlechterverhältnisse usw.) im Zu‐ sammenhang mit den Medien? Wie prägen Herrschaftsstrukturen Arbeits‐ prozesse, Arbeitsbedingungen und Klassenverhältnisse? Wie interagieren Klasse und Herrschaft im Zusammen‐ hang mit den Medien und der Kommu‐ nikation in der Gesellschaft? D9, D1, D8 Produktionsmittel: Ma‐ schinen und Ausrüs‐ tung Welche Technologien werden im Pro‐ duktionsprozess mit welchen Zielen und Interessen eingesetzt? Welche Technologien oder Kombinationen da‐ von werden in den landwirtschaftli‐ chen, industriellen und informationel‐ len Produktionsprozessen eingesetzt, die Medien und Inhalte erzeugen? D9, D1, D8 Produktionsmittel: Res‐ sourcen Welche Ressourcen werden im Produk‐ tionsprozess eingesetzt? Welche Res‐ sourcen oder Kombinationen davon werden bei der landwirtschaftlichen, industriellen und informationellen Pro‐ duktion von Medien und Inhalten ein‐ gesetzt? D10, D1, D8 Arbeitskraft: Eigen‐ schaften der Arbeits‐ kräfte Was sind wichtige Merkmale der Ar‐ beitenden, z.-B. in Bezug auf Alter, Geschlecht, Herkunft, Bildung, Klasse usw.? D10, D1, D8 Arbeitskraft: geistige und körperliche Ge‐ sundheit Wie wirken sich die eingesetzten Pro‐ duktionsmittel und der Arbeitsprozess auf die psychische und physische Ge‐ sundheit der Arbeitenden aus? D10, D1, D8 Arbeitskraft: Subjekti‐ vität und Erfahrungen der Arbeiteneden Wie erleben und bewerten die Arbeiten‐ den ihre Arbeitsbedingungen? D11, D1, D8 Produktionsprozess: Arbeitsorte Wo findet der Produktionsprozess statt? Wie ist der Arbeitsplatz organisiert? Welche räumlichen Aspekte der Ar‐ beit in der Medien- und Kommunikati‐ onswirtschaft gibt es (lokal, regional, national, international, global, städti‐ sche/ ländliche Unterschiede, geografi‐ sche Arbeitsteilung)? Gibt es eine räum‐ 118 4 Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien <?page no="119"?> Dimen‐ sion Aspekt Frage(n) liche Arbeitsteilung? Wenn ja, wie sieht sie aus? D11, D1, D8 Produktionsprozess: Arbeitszeit Wie viele Arbeitsstunden sind in einem bestimmten Sektor üblich? Wie werden die Arbeitszeiten durchgesetzt? Wie ist das Verhältnis zwischen Arbeitszeit und Freizeit? Wie ist das Verhältnis zwi‐ schen notwendiger Arbeitszeit (bezahlt) und Mehrarbeitszeit (unbezahlt)? D11, D1, D8 Produktionsprozess: Arbeitsaktivitäten Welche Arten von geistigen und/ oder körperlichen Tätigkeiten üben die Ar‐ beitenden aus? D11, D1, D8 Produktionsprozess: Kontrollmechanismen, Formen des Manage‐ ments, Arten des Managements, Überwa‐ chung, absolute und relative Mehrwertpro‐ duktion usw. Welche Art von Kontrollmechanismen der Arbeit gibt es? Welche Art von Managementstrategien und -praktiken gibt es? Gibt es Formen der wirtschaftli‐ chen Überwachung? Wenn ja, wie funk‐ tionieren sie? Werden Methoden der Produktion des absoluten Mehrwerts eingesetzt? Wenn ja, wie funktionie‐ ren sie? Werden Methoden der relati‐ ven Mehrwertproduktion angewandt? Wenn ja, wie funktionieren sie? Gibt es Formen der Verlängerung des Arbeits‐ tages (absolute Mehrwertproduktion) und wie funktionieren sie? Gibt es For‐ men des Technologieeinsatzes, die auf eine Steigerung der Arbeitsproduktivi‐ tät abzielen? Gibt es Formen der Auto‐ matisierung und wie funktionieren sie? Welche Auswirkungen haben die Kon‐ trollmechanismen auf die Arbeitenden und die Gesellschaft? D12, D1, D8 Arbeitsprodukte Welche Arten von Medienprodukten oder -dienstleistungen produzieren die Abeitenden? Wer sind die Eigentü‐ mer: innen der produzierten Waren und des Kapitals (Eigentumsverhältnisse)? Wie haben sich die jeweiligen Profite und Profitraten entwickelt? Was sind 4.3 Prinzipien und Dimensionen der Politischen Ökonomie der Kommunikation 119 <?page no="120"?> Dimen‐ sion Aspekt Frage(n) die Ursachen und Quellen der Krise des untersuchten Kapitals? Tabelle 4.1: Arten der Forschungsfragen, die die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien stellt - Einige erläuternde Anmerkungen zu den Dimensionen der Politischen Ökonomie der Kommunikation Es bedarf einiger Erläuterungen zu den grundlegenden Aspekten der PÖK. Produktion, Distribution und Konsum/ Interpretation von Information sind die drei grundlegenden Dimensionen der Medien- und Kommunikations‐ ökonomie. Sie stehen in einem dialektischen Verhältnis zueinander. Das bedeutet, dass sie sich gegenseitig bedingen, gleiche und unterschiedliche Aspekte haben. In der „Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie“ (Marx 1857/ 1858, 19-45) skizziert Karl Marx die Dialektik von Produktion, Zirkulation und Konsum: die Produktion ist der Konsum der Produktions‐ mittel; die Zirkulation ist die Produktion des Zugangs zu den produzierten Gütern; der Konsum ist die Produktion der Bedürfnisbefriedigung, des zusätzlichen Bedarfs an Produktion und der Reproduktion der Arbeitskraft. „In der Produktion eignen (bringen hervor, gestalten) die Gesellschaftsglieder die Naturprodukte menschlichen Bedürfnissen an; die Distribution bestimmt das Verhältnis, worin der einzelne teilnimmt an diesen Produkten; der Austausch führt ihm die besondren Produkte zu, in die er das ihm durch die Distribution zugefallne Quatum umsetzen will; endlich in der Konsumtion werden die Pro‐ dukte Gegenstände des Genusses, der individuellen Aneignung. Die Produktion bringt die den Bedürfnissen entsprechenden Gegenstände hervor; die Distribu‐ tion verteilt sie nach gesellschaftlichen Gesetzen; der Austausch verteilt wieder das schon Verteilte nach dem einzelnen Bedürfnis; endlich in der Konsumtion tritt das Produkt aus dieser gesellschaftlichen Bewegung heraus, es wird direkt Gegenstand und Diener des einzelnen Bedürfnisses und befriedigt es im Genuß. Produktion erscheint so als der Ausgangspunkt, Konsumtion als der Endpunkt, Distribution und Austausch als die Mitte, die selbst wieder doppelt ist, indem die 120 4 Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien <?page no="121"?> Distribution als das von der Gesellschaft, der Austausch als das als das von den Individuen ausgehende Moment bestimmt ist“ (Marx 1857/ 1858, 24). Der Kulturwissenschaftler Stuart Hall (1973/ 2003) interpretierte Marx‘ „Ein‐ leitung zur Kritik der Politischen Ökonomie“. Er hebt hervor, dass die „Ein‐ leitung“ zeigt, wie Marx seine eigene dialektische Methode entwickelt. Hall setzt die Dialektik von Produktion, Zirkulation und Konsumtion nicht in den Kontext der Medien. Spätere Cultural Studies-Arbeiten haben dies getan, indem sie eine Dialektik der Produktion, der Zirkulation und des Konsums von Informationen in einem Modell darstellten, das sie als Kreislauf der Kultur bezeichnen (siehe Johnson 1986/ 1987; du Gay, Hall, Janes, Mackay & Negus 1997, 3). Sie sehen jedoch nicht die besondere Rolle der Produktion in der Gesellschaft. Viele Cultural Studies Arbeiten konzentrieren sich auf den Informationskonsum und nicht so sehr auf die Arbeitsverhältnisse in der Medienproduktion. Marx macht im Gegensatz dazu deutlich, dass die Produktion die allgemeine Dimension von Wirtschaft und Gesellschaft ist: „Produktion, Distribution, Austausch, Konsumtion bilden so einen regelrechten Schluss; Produktion die Allgemeinheit, Distribution und Austausch die Beson‐ derheit, Konsumtion die Einzelheit, worin sich das Ganze zusammenschließt“ (Marx 1857/ 1858, 25). Die Politische Ökonomie der Kommunikation ist keine rein produktions- und arbeitsorientierte Analyse. Vielmehr analysiert sie auch die Zirkulation und den Konsum von Waren und Gütern und setzt diese Analysen in Beziehung zu Klassen- und Produktionsstrukturen. Die kapitalistische Produktionsweise ist auf die Akkumulation von Ka‐ pital ausgerichtet. Kapital ist Geld, das durch die Arbeit vermehrt wird, wobei Arbeitenden Waren produzieren, die zur Erzielung von Profit verkauft werden. Marx verwendet die Formel G - W .. P .. W' - G' für die Analyse des Kapitalakkumulationsprozesses. Die PÖK analysiert die Kapitalakkumula‐ tionszyklen der Medien- und Kommunikationsökonomie und das Verhältnis der Medien- und Kommunikationswirtschaft zur Kapitalakkumulation in anderen Wirtschaftssektoren. Werfen wir einen Blick auf den Kapitalakku‐ mulationszyklus (siehe Abbildung 4.3). 4.3 Prinzipien und Dimensionen der Politischen Ökonomie der Kommunikation 121 <?page no="122"?> Der Zyklus der Kapitalakkumulation Ak G 1 + G 2 G W { .. P .. W’=W+ Δ w G’=G+ Δ g Pm Realisierung v c zir c fix c fix = c fix - Δ c , if c fix = 0 OR entwertet then Erneuerung Akkumulation, Kapitalisierung des Mehrwerts Zirkulationssphäre Produktionssphäre Zirkulationssphäre Beständige Reproduktion Beständige Reproduktion Unbeständige Reproduktion c zir : Roh- und Hilfsstoffe, Betriebsstoffe, Halbfertigprodukte c fix : Maschinen, Gebäude, Ausrüstung; zirkulierendes Kapital: z cir , v; fixes Kapital: c fix Abbildung 4.3: Der Prozess der Kapitalakkumulation Eine Erklärung der Symbole in Abbildung 4.3: G … Geld W … Waren Ak … Arbeitskraft Pm … Produktionsmittel P … Produktion W’ … eine neue Ware G’ … mehr Geld c cir … zirkulierendes konstantes Kapital c fix … festes konstantes Kapital v … variables Kapital 122 4 Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien <?page no="123"?> Im zweiten Band von Das Kapital, nämlich im ersten Kapitel (Titel: „Der Kreislauf des Geldkapitals“), führt Marx die Formel der Kapitalakkumulation ein: G - W (Pm, Ak) .. P .. W’ - G’ (Marx 1885, 31). Abbildung 4.3 veranschaulicht den Prozess der Kapitalakkumulation. Unternehmer: innen investieren Geldkapital G (das sie oft von Banken erhalten, denen sie Zinsen für Kredite zahlen), um Arbeitskraft Ak und Produktionsmittel Pm zu kaufen. Der Geldwert der Arbeitskraft wird als variables Kapital bezeichnet, der Geldwert der Produktionsmittel als kon‐ stantes Kapital. Marx unterscheidet zwischen zwei Formen des konstanten Kapitals: dem zirkulierenden konstanten Kapital und dem fixen konstanten Kapital. Zirkulierendes konstantes Kapital sind Ressourcen, die ihren Wert durch vollständige produktive Konsumtion im Produktionsprozess verlie‐ ren. Dazu gehören Roh- und Hilfsstoffe, Betriebsmittel und Halbfabrikate. Fixes konstantes Kapital hingegen verbleibt länger im Produktionsprozess und verliert erst nach und nach an Wert und überträgt diesen auf die Ware. Zu dieser Form des Kapitals kann man Maschinen, Gebäude und Anlagen zählen. Im Produktionsprozess P verrichten die Arbeitenden ihre Arbeit, um den Wert von Teilen der Produktionsmittel auf eine neue Ware zu übertragen und den Wert ihrer Arbeitskraft sowie neuen Mehrwert zu schaffen. Der Wert der neuen Ware W' ist c + v + m, er ist größer als der Wert der ursprünglichen Ware. Der Warenwert wurde um einen Mehrwert (gemessen in Arbeitsstunden) und ein Mehrprodukt Δw erhöht. Die neue Ware W' wird zu einem Preis G' verkauft, der größer ist als das Anfangskapital G, so dass ein Profit p entsteht und G’ = G + p = G + Δg. Ein Teil des Profits wird für die Ausweitung der Wirtschaftstätigkeit reinvestiert, ein anderer Teil wird für andere Zwecke verwendet, z. B. für die Zahlung von Zinsen an Banken und von Dividenden an die Aktionäre. Das Hauptziel und der Zweck des Kapitalismus bestehen darin, dass sich das Kapital vermehrt, d. h. akkumuliert wird. Profit wird durch die Ausbeutung menschlicher Arbeit erzielt. Marx argumentiert in Das Kapital Band-3, dass die allgemeine Definition der kapitalistischen Wirtschaft, d. h. ihre grundlegende Eigenschaft, die Kombination von verallgemeinerter Warenproduktion und der Ausbeutung von Mehrwert schaffender Arbeit ist, so dass Kapital akkumuliert wird (Marx 1894, 886-889). Für Marx ist die kapitalistische Wirtschaft das System der erweiterten Kapitalreproduktion in der Form G - W … P … W‘ - G‘, in 4.3 Prinzipien und Dimensionen der Politischen Ökonomie der Kommunikation 123 <?page no="124"?> dem der Unternehmer mit Geld G die Waren W (Arbeitskraft, Produktions‐ mittel) kauft, so dass die Arbeit im Produktionsprozess eine neue Ware W' schafft, die einen Mehrwert enthält, der beim Verkauf auf dem Markt einen Profit p realisiert, der das investierte Kapital G um einen Überschuss erhöht und die Akkumulation von Kapital und neue Investitionen ermöglicht. Für Marx verwandelt der Kapitalismus die Arbeitskraft und die Produktionsmit‐ tel in Instrumente für die Kapitalakkumulation, d.-h. in ein Instrument, das unter das Kapital subsummiert ist, also unter „Geld heckendes Geld, Wert heckender Wert“ (Marx 1885, 84). Die kapitalistische Wirtschaft ist eine Form der verallgemeinerten Wa‐ renproduktion: Die Ware ist die wichtigste Form der Organisation des Eigentums. Die Arbeit ist gezwungen, Waren zu produzieren, die verkauft werden, damit die Unternehmen immer mehr Kapital anhäufen können, d. h. Geld, das dazu bestimmt ist, sich selbst zu vermehren. Die kapitalistische Wirtschaft ist eine Einheit aus vielen Elementen - Geld, Ware, Arbeitskraft, Produktionsmittel, Warenproduktion und Kapital. Diese funktionale Einheit hat emergente Qualitäten, so dass die Summe dieser Elemente mehr ist als jedes einzelne Element. Die Kapitalakkumulation wird durch alle diese Elemente ermöglicht, ist aber selbst eine neue Qualität der kapitalistischen Gesellschaft im Vergleich zu anderen Wirtschaftsformationen. Die Ware ist eine der Zellen des Kapitalismus. Die Akkumulation von Kapital ist der ganze Körper. Das Kapital ist ein Körper, der versucht, sich zu vergrößern, indem er die Arbeit Waren produzieren lässt, die auf den Märkten verkauft werden, damit das Kapital wächst. Es gibt einen Unterschied zwischen der kapitalistischen Wirtschaft und der kapitalistischen Gesellschaft. Kapitalismus kann sowohl eine Organi‐ sationsform der Wirtschaft als auch der Gesellschaft bezeichnen. Man kann argumentieren, dass die kapitalistische Wirtschaftsweise die moderne Gesellschaft im Allgemeinen prägt: Die moderne Gesellschaft ist eine Gesell‐ schaftsform, die von der Akkumulation (Anhäufung) von Geldkapital in der Wirtschaft, von Macht in der Politik und von Reputation/ Unterscheidung in der Kultur beherrscht wird. Diese Formen der Akkumulation sind alle miteinander verknüpft. Die Wirtschaft formt die moderne Gesellschaft und ihre Teilsysteme in Form der Logik der Akkumulation, die in jedem dieser Teilsysteme spezifische Formen mit relativer Autonomie annimmt, die sich gegenseitig beeinflussen. Die Teilsysteme der Gesellschaft sind also zugleich identisch und unterschiedlich. 124 4 Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien <?page no="125"?> Marx argumentiert, dass der Arbeitstag aus dem Teil des Tages besteht, in dem der Arbeiter „den Wert seiner Arbeitskraft produziert“ (Marx 1867, 230). Der Wert der Arbeitskraft wird im Lohn ausgedrückt und bezahlt. Er nennt diesen Teil des Tages notwendige Arbeitszeit. Die restliche Zeit ist Mehrarbeitszeit; der/ die Arbeitende „bildet Mehrwert“ (Marx 1867, 231) während dieser Zeit. Die Mehrarbeitszeit drückt sich in der Geldform als Profit aus. Der Mehrwert ist der Wert der Ware, der über die notwendige Arbeitszeit hinausgeht. Marx (1867, Abschnitte 3, 4, 5) unterscheidet zwei Formen der Mehrwert‐ produktion: absolute und relative Mehrwertproduktion. Bei der absoluten Mehrwertproduktion verlängert das Kapital den Arbeitstag ohne Lohnerhö‐ hung, damit die Arbeitenden absolut mehr Waren und Profite produzieren. Bei der relativen Mehrwertproduktion setzt das Kapital Technologien ein, um die Produktivität zu erhöhen, so dass die Arbeit in der gleichen Zeit‐ spanne wie zuvor, also relativ betrachtet, mehr Waren und Profit produziert. Im nächsten Abschnitt werden wir eine beispielhafte Analyse der politi‐ schen Ökonomie der Kommunikation vornehmen. 4.4 Eine Beispielanalyse: Die Politische Ökonomie von Facebook ● Hier sind einige Beispiele typischer politisch-ökonomische Fragestel‐ lung zur Erforschung Facebooks. Zu ihrer Beantwortung benötigt man die Kombination von Gesellschaftstheorie, empirischer Sozialforschung und Moralphilosophie/ Ethik: ● Welche Rolle spielen Facebook und das Modell digitaler, zielgerichteter Werbung im digitalen Kapitalismus? ● Wie beurteilen die Nutzer: innen Facebooks ökonomisches Modell und dessen Auswirkungen auf Demokratie und Gesellschaft? ● Was ist die Rolle der Überwachung im „Überwachungskapitalismus“ im Allgemeinen und speziell bei Facebook? ● Welche Alternativen zu Facebook und dem kapitalistischen Internet können sich Nutzer: innen vorstellen? Welche Alternativen wollen sie (nicht)? Wie beurteilen Nutzer: innen potentielle Alternativen? Wir wollen zeigen, was eine politökonomische Analyse von Facebook entlang der folgenden Dimensionen bedeutet: D2 Zirkulation, D3 Konsum, 4.4 Eine Beispielanalyse: Die Politische Ökonomie von Facebook 125 <?page no="126"?> 5 Datenquelle: https: / / www.emarketer.com/ content/ duopoly-still-rules-global-digital-ad -market-alibaba-amazon-on-prowl, abgerufen am 22. Oktober 2021. 6 Ebd. D4 Politik, D5 Ideologie, D6 nicht-kapitalistische Formen, D7 Produktions‐ verhältnisse, D8 Kapitalakkumulationszyklus. Im Hinblick auf die Zirkulation (D2 Zirkulation) kann die politökonomi‐ sche Forschung z. B. untersuchen, wie die zielgerichtete Werbung von Facebook funktioniert und welche Auswirkungen sie auf die Gesellschaft hat. Dies erfordert ein theoretisches und praktisches Verständnis der digi‐ talen Werbung und ihrer Auswirkungen auf die Gesellschaft. Facebook ist (nach Google) die zweitgrößte Werbeagentur der Welt. Es verkauft gezielte Werbung als Ware. Im Jahr 2023 kontrollierte Facebook Schätzungen zufolge 25,2 % der weltweiten Einnahmen aus digitaler Werbung 5 . Zusammen kon‐ trollieren Facebook und Google mehr als die Hälfte dieser Einnahmen 6 und bilden somit ein digitales Werbeduopol. Die Profitinteressen von Facebook haben die Demokratie bedroht. Facebooks Fokus auf die Förderung von immer mehr Datenströmen auf seinen Plattformen, um Profite zu erzielen, hat die Verbreitung von Fake News unterstützt, wie im Fall des Cambridge Analytica-Skandals, bei dem rechtsgerichtete Demagogen massive Mengen an persönlichen Facebook-Daten sammelten, um im Zusammenhang mit der Trump-Kampagne bei den US-Präsidentschaftswahlen 2016 und anderen Wahlen gezielt Fake News an die Nutzer: innen zu senden. Studien zur Facebook-Nutzung können Interviews, Fokusgruppen usw. mit Nutzer: innen durchführen, um mehr darüber zu erfahren, wie sie die Plattform bewerten und wie sie den digitalen Kapitalismus prakti‐ zieren (Dimension D3: Konsum). Empirische Studien haben gezeigt, dass Facebook-Nutzer: innen die Möglichkeit schätzen, mit Bekannten und Freund: inn: en in Kontakt zu bleiben und neue Verbindungen zu knüpfen, also den sozialen Gebrauchswert von Facebook. Gleichzeitig haben sie starke Bedenken hinsichtlich der Kommodifizierung von Daten durch Facebook, der digitalen Überwachung und der Verletzung der Privatsphäre (siehe Allmer, Fuchs, Kreilinger & Sevignani 2014; Fuchs 2010a, 2010b). In Bezug auf Facebook im Kontext der Politik (D4 Interaktion von Wirt‐ schaft und Politik) kann PÖK politische Analysen darüber durchführen, wie die staatliche Politik Facebook und ähnliche digitale Giganten reguliert oder nicht reguliert. Zu den Themen, die in der Öffentlichkeit diskutiert werden, gehören beispielsweise Steuervermeidung, der laxe Datenschutz und die 126 4 Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien <?page no="127"?> 7 Datenquelle: https: / / www.facebook.com/ , abgerufen am 21. Oktober 2021. Regulierung des Schutzes der Privatsphäre bei Facebook, die fehlende Re‐ gulierung zielgerichteter Werbung, die der digitalen Überwachung Vorschub geleistet hat, und Bedrohungen für die Demokratie wie im Fall des Skandals um Cambridge Analytica. Konkrete Forschung kann Nachrichtenanalysen zu solchen Aspekten von Facebook und der politischen Regulierung durch‐ führen, Interviews und Fokusgruppen mit Facebook-Nutzer: inne: n zu ihrer Einschätzung der Regulierung von Facebook; eine Analyse der politischen Botschaften, die Mark Zuckerberg in den parlamentarischen Anhörungen transportierte, in denen er befragt wurde; wie Facebook Lobbyisten einsetzt, um die Politik zu beeinflussen, usw. D4 hat auch mit der Beziehung zwi‐ schen sozialen Bewegungen und politischer Ökonomie zu tun. Es hat viele öffentliche Debatten über die Verletzung der Privatsphäre durch Facebook gegeben. PÖK-Forscher können zum Beispiel diese Debatten untersuchen. Eine Ideologiekritik (Dimension D5) von Facebook untersucht, wie Face‐ book selbst Ideologie verbreitet und wie Ideologie auf Facebook verbreitet wird. Dies sind zwei Aspekte der Ideologiekritik. In Bezug auf den ersten As‐ pekt kann man die Kritische Diskursanalyse als Methode verwenden, um zu analysieren, wie sich Facebook und seine Manager wie Mark Zuckerberg in der Öffentlichkeit und in den Nachrichten präsentieren. Zum Beispiel wirbt Facebook für sich selbst als Plattform „[that] helps you connect and share with the people in your life” 7 . Facebook stellt sich selbst als Schöpferin einer besseren Welt dar, in der Menschen sich verbinden, austauschen und etwas Neues schaffen. Dies ist eine Ideologie, denn mit solchen Darstellungen wird versucht, von den negativen Seiten von Facebook abzulenken, zu denen die Massenüberwachung von Nutzer: innen als Kapitalakkumulationsmodell, Verletzungen der Privatsphäre, die Verbreitung von Fake News auf der Plattform usw. gehören. (siehe Fuchs 2021, Kapitel 6). Es gibt nicht-kapitalistische Alternativen zu den Digitalgiganten. Eine Aufgabe der PÖK ist es, Alternativen zu untersuchen (D6 Nichtkapitalistische Medien und Kommunikation). Eine Alternative sind Plattformkooperativen, d. h. selbstverwaltete Internetplattformen, bei denen Arbeiter: innen und Nutzer: innen gemeinsam die Plattform besitzen und verwalten (siehe Scholz & Schneider 2016; Fuchs 2021, Abschnitte 12.3 und 15.2; Sandoval 2020). Solchen alternativen Projekten innerhalb des Kapitalismus mangelt es oft an den notwendigen Ressourcen, um zu überleben und mit den den Markt dominierenden kapitalistischen Unternehmen zu konkurrieren, was häufig 4.4 Eine Beispielanalyse: Die Politische Ökonomie von Facebook 127 <?page no="128"?> 8 https: / / www.forbes.com/ lists/ global2000, aufgerufen am 3. Dezember 2022. 9 Ebd. 10 Datenquelle: IMF World Economic Outlook Oktober 2022, https: / / www.imf.org/ extern al/ datamapper/ , abgerufen am 13. Februar 2023. zu prekärer, selbstausbeuterischer Arbeit führt. Die PÖK kann mit Hilfe von Interviews, Fokusgruppen usw. untersuchen, wie Plattformkooperationen funktionieren, welche Herausforderungen und Chancen sie für die Gesell‐ schaft bieten und was die Nutzer: innen darüber denken. Eine weitere Alter‐ native sind öffentlich-rechtliche Internetplattformen. Öffentlich-rechtliche Internetplattformen sind digitale Plattformen, die von öffentlich-rechtlichen Medienanstalten wie BBC und ARD auf gemeinnütziger Basis betrieben werden und den öffentlich-rechtlichen Auftrag zur Förderung von qualitativ hochwertigen Nachrichten, Unterhaltung, Kultur, Bildungsinhalten, Bürger‐ beteiligung und demokratischer Kommunikation in das digitale Zeitalter tragen, indem sie die Möglichkeiten digitaler Plattformen wie Prosumtion (produktive Konsumtion wie zum Beispiel bei nutzergenerierten Inhalten), Partizipation und Konvergenz nutzen (siehe Fuchs 2021, Abschnitt 15.3; Fuchs & Unterberger 2021). Die PÖK kann die Herausforderungen, Realitäten und Möglichkeiten öffentlich-rechtlicher Medien im digitalen Kapitalismus untersuchen, For‐ schung über das öffentlich-rechtliche Internet betreiben, die die Entwick‐ lung und Einführung solcher Plattformen begleitet, usw. Die grundlegende Aufgabe einer PÖK-Analyse der Alternativen zu Facebook besteht darin, aus Experimenten zur Etablierung von Alternativen (wie Diaspora* oder Mastodon) zu lernen, wie die Logik von Geld und Kapital die Entwicklung solcher Projekte prägt. Ein wichtiger Aspekt einer PÖK-Studie ist die Analyse des Kapitalakku‐ mulationszyklus (D1, D8). Im Kontext von Facebook stellt eine solche Studie die Frage: Wie akkumuliert Facebook Kapital? Im Jahr 2022 war Facebook das 34. größte transnationale Unternehmen der Welt 8 . Im Jahr davor hatte das Unternehmen einen Gewinn von 39,4 Milliarden US-Dollar erzielt 9 . 2022 war ein Jahr, in dem viele Länder mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatten, die auf Faktoren wie die starke Inflation, den Krieg in der Ukraine, globale Lieferkettenprobleme infolge der COVID-19-Pandemie usw. zurückzuführen waren. Im Jahr 2022 betrug das reale BIP-Wachstum 1,8 % in Nordamerika, 1,9 % in Europa und 3,2 % in China, während es 2021 in Nordamerika 5,5 %, in Europa 5,4 % und in China 8,1 % betrug 10 . 128 4 Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien <?page no="129"?> Infolgedessen investierten die Unternehmen weniger Geld in Werbung, was zu einem Rückgang der Gewinne von Unternehmen wie Facebook im Jahr 2022 führte. Im November 2022 entließ Facebook 11.000 Mitarbeiter, was mehr als 10-Prozent seiner Belegschaft entsprach. Abbildung 4.4 zeigt die Entwicklung von Facebooks Profiten. Der Schlüs‐ selaspekt von Facebooks Kapitalakkumulationsmodells besteht darin, dass es den Zugang zur Plattform nicht als Ware verkauft, sondern die Nutzer‐ daten, die durch die Überwachung der Nutzer: innen gewonnen werden, zur Ware macht, damit zielgerichtete Werbung personalisiert und verkauft werden kann. Das Kapitalakkumulationsmodell von Facebook basiert auf dem Verkauf zielgerichteter Werbung und der Verwertung der Online-Ak‐ tivitäten der Nutzer: innen (digitale Arbeit) (siehe Fuchs 2021, Kapitel 5 und 7). Die PÖK-Forschung kann untersuchen, wie Nutzer-Arbeiter: innen die digitale Arbeit und die Praktiken von Facebook bewerten und erleben. 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022 -0,138 -0,056 0,229 0,606 1 0,053 1,5 2,94 3,688 10,217 15,934 22,112 18,485 29,146 39,37 23,2 -2 -10123456789 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 Facebooks Profite (Datenquelle: SEC 10-K), in Mrd. US$ Abbildung 4.4: Die Entwicklung von Facebooks Profiten Die räumliche Organisation der Arbeit ist ein weiterer Aspekt des Kapitalak‐ kumulationszyklus. Facebook-Nutzer: innen sind digitale Arbeiter: innen. Sie sind weltweit in fast allen Ländern mit Ausnahme einzelner Länder wie 4.4 Eine Beispielanalyse: Die Politische Ökonomie von Facebook 129 <?page no="130"?> 11 Datenquelle: https: / / www.statista.com/ statistics/ 268136/ top-15-countries-based-on-nu mber-of-facebook-users/ , abgerufen am 22. Oktober 2021. China aktiv. Im Jahr 2021 lag der größte Anteil der Facebook-Nutzer: innen mit 340 Millionen in Indien, gefolgt von 200 Millionen in den USA, 140 Millionen in Indonesien, 130 Millionen in Brasilien und 98 Millionen in Mexiko 11 . Die PÖK-Forschung kann zum Beispiel eine international verglei‐ chende Studie durchführen, die untersucht, wie Facebook-Nutzer: innen ihre digitale Arbeit und Facebook in einer Reihe ausgewählter Länder bewerten. Die Arbeitszeit ist ein weiterer wichtiger Aspekt einer PÖK-Analyse. Eine solche Analyse kann zum Beispiel die Arbeitszeiten der bezahlten Mitarbeiter von Facebook in Form von semi-strukturierten Interviews un‐ tersuchen. Facebook akkumuliert Kapital durch den Verkauf zielgerichteter Werbung. Es hat ein Interesse daran, dass die Nutzer: innen immer mehr Zeit auf der Plattform verbringen und immer mehr Inhalte erstellen. Die ehemalige Facebook-Mitarbeiterin Frances Haugen (2021) sagte in einer Zeugenaussage vor dem US-Kongress, dass Facebook seine Algorithmen so gestaltet, dass es versucht, die Nutzer: innen dazu zu bringen, mehr Zeit auf der Plattform zu verbringen, indem es sie zu sensationsheischenden Inhalten führt. Haugen (2021) sagte, Facebook verwende „gefährliche Algo‐ rithmen, die […] die extremen Stimmungen aufgreifen“ und „die Inhalte herauspicken“, die am besten geeignet sind, um die Nutzer: innen dazu zu bringen, „mehr Zeit auf ihrer Plattform zu verbringen“, damit „sie mehr Geld verdienen“. „Soft interventions are about making slightly different choices to make the platform less viral, less twitchy. Mark [Zuckerberg] was presented with these options and chose to not remove [the current way algorithms work]” (Haugen 2021). Haugen dokumentierte in ihrer Aussage, dass Facebook Algorithmen als Technologie der absoluten Mehrwertproduktion einsetzt, mit der versucht wird, die Nutzer: innen dazu zu bringen, mehr Zeit auf der Plattform zu verbringen, mehr Inhalte und Daten zu erstellen, sich mehr mit Inhalten zu beschäftigen und potenziell auf mehr Anzeigen zu klicken, wodurch Facebook Profit erzielt. „There is a pattern of behavior that I saw at Facebook of Facebook choosing to prioritize its profits over people”(Haugen 2021). Die PÖK-Forschung kann zum Beispiel semi-strukturierte Interviews, Fokusgruppen oder Umfragen verwenden, um zu analysieren, wie die Nutzer: innen die Art und Weise bewerten, wie Facebook Gewinn macht und seine Nutzer: innen dazu bringt, Mehrwert zu schaffen. 130 4 Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien <?page no="131"?> 12 Facebook Proxy Statement 2021, https: / / www.sec.gov/ Archives/ edgar/ data/ 1326801/ 0 00132680121000022/ facebook2021definitiveprox.htm, abgerufen am 22. Oktober 2021. 13 Meta Inc. Proxy Statement 2022, https: / / www.sec.gov/ Archives/ edgar/ data/ 1326801/ 00 0132680122000043/ meta2022definitiveproxysta.htm, abgerufen am 3. Dezember 2022. 14 Datenquelle: Meta Inc. SEC-Filings Form 10-K for financial year 2021. 15 Datenquelle (Facebooks Profite und Einnahmen): https: / / www.forbes.com/ lists/ global 2000, abgerufen am 22. Oktober 2021. 16 Datenquelle: https: / / diversity.fb.com/ read-report/ , abgerufen am 22. Oktober 2021. In Bezug auf die Produktionsverhältnisse (D7) fragt die PÖK, wie die Klas‐ senverhältnisse bei Facebook aussehen. Facebook wurde von seinem heuti‐ gen CEO Mark Zuckerberg gegründet, der 2021 81,7 % der Klasse-B-Aktien von Facebook besaß und 52,9 % der gesamten Stimmrechte kontrollierte 12 . Im Jahr 2022 kontrollierte Zuckerberg 84,7% der Aktien der Klasse B und 54,4% der gesamten Stimmrechte 13 . Facebook ist durch seinen Klassencha‐ rakter zu einem so profitablen Unternehmen geworden, nämlich durch die Ausbeutung der digitalen Arbeit seiner Milliarden von Nutzer: innenn und seiner (im Jahr 2022) mehr als 70.000 14 bezahlten Arbeitenden. Da der Wert von Facebook größtenteils von unbezahlten Mitarbeitern geschaffen wird, die nicht entlohnt werden, kann das Unternehmen hohe Profite und eine hohe Profitrate erzielen. Im Jahr 2020 lag die Profitrate von Facebook bei 51 % 15 . Die Profitrate ist das rechnerische Verhältnis von Profit zu Investitionskosten (Produktionsmittel und Arbeitskosten). Je höher die Profitrate ist, desto mehr Profit macht ein Unternehmen im Verhältnis zu seinen Investitionskosten. Eine Profitrate von 51-% ist extrem hoch. Die Klassenstrukturen von Facebook stehen in Wechselwirkung mit geschlechtsspezifischer Diskriminierung und Rassismus. Im Jahr 2021 waren 65,4 % der Facebook-Manager: innen weiß, aber nur 3,1 % der Manager: innen und 1,5 % der angestellten Techniker: innen waren schwarz. Schätzungen zufolge waren im Jahr 2021 77 % des technischen Facebook-Personals männlich und nur 23 % weiblich. 57,2 % des Verkaufspersonals von Face‐ book waren männlich, 42,8 % weiblich 16 . Die bestbezahlten Facebook-Jobs (Manager, Programmierer) werden von weißen Männern kontrolliert (Ma‐ nagement), während in den niedrig qualifizierten Verwaltungsjobs Frauen und Schwarze dominieren. Die PÖK sollte das Verhältnis von Klasse und Herrschaft im Kontext von Kommunikationssystemen wie Facebook analy‐ sieren. Die Analyse der Klassenbeziehungen umfasst auch Aspekte des Klassen‐ kampfes. PÖK-Wissenschaftler: innen können analysieren, wie Facebook 4.4 Eine Beispielanalyse: Die Politische Ökonomie von Facebook 131 <?page no="132"?> einen Klassenkampf gegen die Nutzer: innen als Arbeiter: innen geführt hat und wie die Nutzer: innen darauf reagiert haben. Eine typische Methode ist die Befragung von Nutzer: innen, Aktivist: inn: en für den Schutz der Privatsphäre, Gewerkschaften, Facebook-Mitarbeiter: innee: n, politischen Entscheidungsträgern usw. Das Kunstprojekt Wages for Facebook formu‐ lierte das feministische Manifest Wages Against Housework von Sylvia Federici (1975) neu, indem es „Hausarbeit“ und ähnliche Begriffe durch „Facebook“-Nutzung ersetzte. Das Ergebnis zeigt und erinnert uns auf künstlerisch-aktivistische Weise daran, dass Facebook seine Nutzer: innen ausbeutet. Im Jahr 2019 rief Wikipedia-Mitbegründer Larry Sanger zu einem #SocialMediaStrike auf. Er plädierte für ein dezentrales Social-Media-Sys‐ tem und trat gegen die Überwachung der Nutzer: innen durch Facebook auf (Sanger 2019). Die Proteste gegen die Überwachung sind von einer praktischen Mo‐ ralphilosophie geprägt, die sich auf das Zusammenspiel von Kultur und politischer Ökonomie bezieht (Dimension D5). Die Moralphilosophie muss sich bei Facebook die Frage stellen, ob die Plattform die Nutzer: innen entfremdet und enteignet oder ob sie die öffentliche Kommunikation und soziale Kontakte fördert. Das öffentliche Image von Facebook hat gelitten, was mit der kritischen Berichterstattung über Facebook zu tun hat. Man kann solche Nachrichten und Berichte empirisch untersuchen. Frances Haugen ist eine ehemalige Produktmanagerin von Facebook, die im Team für zivile Integrität der Plattform arbeitete. Sie ging an die Öffentlichkeit, um die Profitlogik von Facebook zu kritisieren. Solche Aus‐ sagen sind hervorragende Quellen für empirische Datenanalysen. In einer Anhörung vor dem US-Senat sagte sie, dass die Algorithmen von Facebook so programmiert sind, dass sie Nutzer: innen, darunter auch Kinder, zu sensationslüsternen Inhalten führen, wobei Facebook „seine Profite mit unserer Sicherheit erkauft“ (Milmo und Paul 2021). „We have a few choice documents that contain notes from briefings with Mark Zuckerberg where he chose metrics defined by Facebook like ‘meaningful social interactions’ over changes that would have significantly decreased misinformation, hate speech and other inciting content” (Milmo and Paul 2021). Zuboff (2018, 117) argumentiert, dass Facebook und Google entscheidende Akteure im Überwachungskapitalismus sind. „Die gesamte Logik dieser Kapitalakkumulation umreißen wir am präzisesten mit dem Begriff Überwa‐ chungskapitalismus, der Fundament und Rahmen für eine auf Überwachung 132 4 Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien <?page no="133"?> fußende Wirtschaftsordnung bildet: die Überwachungsökonomie” (Zuboff 2018, 117). Öffentliche Erklärungen, Interviews usw. über Facebook, die sich auf Kontroversen konzentrieren, sind hervorragende Ausgangspunkte für die Moralphilosophie. Die grundlegende moralische Frage, die dem Organisati‐ onsmodell von Facebook zugrunde liegt, ist, ob a) Facebook ein großartiges Unternehmen ist, das einen fairen Deal mit seinen Nutzer: innen eingeht, die den freien Zugang zur Plattform dafür eintauschen, überwacht zu werden, oder b) ob Facebook seine Nutzer: innen ausbeutet und die Demokratie gefährdet. 4.5 Schlussfolgerungen In diesem Kapitel wurden Grundlagen, Definitionen, Prinzipien und Di‐ mensionen des Ansatzes der Politischen Ökonomie der Kommunikation vorgestellt. Wir können die wichtigsten Ergebnisse zusammenfassen: - Erkenntnis 1: Die Politische Ökonomie der Kommunikation Die Politische Ökonomie der Kommunikation ist ein Ansatz, der sich der Gesellschaftstheorie, der empirischen Sozialforschung und der Moralphi‐ losophie bedient, um die Rolle der Kommunikation und der Kommunika‐ tionssysteme (Medien, Kommunikationstechnologien) in der Gesellschaft zu analysieren, insbesondere die Interaktion von Politik und Wirtschaft im Kontext von Medien und Kommunikation. Sie untersucht, wie die Interaktion von Kommunikation, Politik und Wirtschaft funktioniert und welche Rolle diese Interaktion in der Gesellschaft spielt. Sie betrachtet das dialektische Verhältnis von Wirtschaft und Politik als den wichtigsten Faktor, der die Kommunikation und die Gesellschaft prägt. Ein wichtiger Schwerpunkt ist die Analyse der Produktion, der Distribution und des Kon‐ sums von Informationen im Kontext der Gesellschaft. Die Politische Öko‐ nomie der Kommunikation ist oft eine kritische Analyse der Art und Weise, wie Kommunikation und Kommunikationssysteme in der kapitalistischen Gesellschaft funktionieren und organisiert sind und wie sie sich auf die Gesellschaft und das Leben der Menschen in der Gesellschaft auswirken und wie sie mit ihr interagieren. Diese kritische Analyse wird auch als die Kritik der Politischen Ökonomie der Kommunikation und der Medien bezeichnet. Beson‐ 4.5 Schlussfolgerungen 133 <?page no="134"?> deres Augenmerk wird auf die Analyse der kapitalistischen Produktion von Information, der Kommunikationsarbeit, der Produktion, der Distribution und des Konsums von Information und Kommunikation(ssysteme) als Waren, des Raums und der Zeit der Kommunikation, der Interaktion von Politik und Medienwirtschaft, der Ideologiekritik, der Kommunikation im Kontext von Klassen- und gesellschaftlichen Kämpfen und der Alternativen zur kapitalistischen Kommunikation, also der Analyse der nicht-kapitalisti‐ schen Kommunikation(ssysteme), gelegt. - Erkenntnis 2: Prinzipien der Politischen Ökonomie der Kommunikation Zu den Grundsätzen des Ansatzes der Politischen Ökonomie der Kommu‐ nikation, wie sie von Vincent Mosco (2009) sowie Graham Murdock und Peter Golding (2005) herausgearbeitet wurden, gehören: P1: Die Warenform und die Kommodifizierung P2: Raum (lokal, regional, national, international, global) P3: Strukturierung (Klasse, Geschlecht, Rassismus) P4: Geschichte P5: Gesellschaftliche Totalität P6: Moralphilosophie P7: Praxis - Erkenntnis 3: Die Methode der Politischen Ökonomie der Kommunikation Der Ansatz der Politischen Ökonomie der Kommunikation nutzt Gesell‐ schaftstheorie, empirische Forschungsmethoden und Moralphilosophie, um die Interaktion von Politik und Wirtschaft im Kontext von Medien und Kommunikation zu untersuchen. Er wird von dialektischem Denken als me‐ thodischem Ansatz geleitet, der die Gewinnung von Erkenntnissen darüber unterstützt, wie die politische Ökonomie der Kommunikation funktioniert. - Erkenntnis 4: Dimensionen der Politischen Ökonomie der Kommunikation Eine Analyse der politischen Ökonomie der Kommunikation hat mehrere Dimensionen: D1: die Produktion von Information, D2: die Zirkulation von Information, D3: der Konsum der Information, 134 4 Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien <?page no="135"?> D4: die Wechselwirkungen zwischen der Medien- und Kommunikations‐ ökonomie und dem politischen System, D5: die Wechselwirkungen zwischen der Medien- und Kommunikations‐ ökonomie und dem kulturellen System, das die Ideologiekritik einschließt, D6: die nichtkapitalistische Medien- und Kommunikationswirtschaft, D7: die Medien- und Kommunikationsaspekte der Produktionsverhält‐ nisse (Klassenverhältnisse und Machtverhältnisse), D8: die kapitalistischen Produktivkräfte in der Medien- und Kommuni‐ kationsökonomie, D9: die Produktionsmittel in der Medien- und Kommunikationsökono‐ mie, D10: die Arbeitskräfte in der Medien- und Kommunikationsökonomie, D11: der Produktions- und Arbeitsprozess in der Medien- und Kommu‐ nikationsökonomie, das Wo, Wann und Wie der Produktion, D12: die Produkte, die der Arbeitsprozess in der Medien- und Kommuni‐ kationsökonomie hervorbringt (Gebrauchswerte, Waren, Kapital, Profit). In diesem Kapitel haben wir den Ansatz der Politischen Ökonomie der Kommunikation vorgestellt. Er ist einer der Ansätze der Medienökonomie und ein einflussreicher Ansatz innerhalb der Medien- und Kommunikati‐ onswissenschaft. Im nächsten Kapitel werden wir diesen Ansatz in den Kontext der kritischen Tradition der Analyse von Medien, Kommunikation und Gesellschaft einordnen. Literatur Adorno, Theodor W. 1966. Negative Dialektik. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Albarran, Alan B., Hrsg. 2019. A Research Agenda for Media Economics. Cheltenham: Edward Elgar. Albarran, Alan B. 2017. The Media Economy. New York: Routledge. Zweite Auflage. Albarran, Alan B. 2010. The Media Economy. New York: Routledge. Allmer, Thomas, Christian Fuchs, Verena Kreilinger & Sebastian Sevignani. 2014. Social Networking Sites in the Surveillance Society: Critical Perspectives and Empirical Findings. In-Media, Surveillance and Identity. Social Perspectives, hrsg. von André Jansson & Miyase Christensen, 49-70. 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Empfohlene Lektüre und Übungen - Lektüre Die folgenden Texte werden als Begleitlektüre zu diesem Kapitel empfohlen: Literatur, empfohlene Lektüre und Übungen 139 <?page no="140"?> Aufgabe Merke Frage Literatur Wissen Zusatz Link / www Checkliste Ziele ICON SET 5 Manfred Knoche. 2002. Kommunikationswissenschaftliche Medienökonomie als Kritik der Politischen Ökonomie der Medien. In Medienökonomie in der Kommu‐ nikationswissenschaft, hrsg. Gabriele Siegert, 101-109. Münster: Lit. Christian Fuchs. 2020. Marx heute: Eine Einführung in die kritische Theorie der Kommunikation, der Kultur, der digitalen Medien und des Internets. München: UVK Verlag: Kapitel 4: Waren, Kapital, Kapitalismus (S.-42-77). Werner A. Meier. 2003. Politische Ökonomie. In Medien und Ökonomie. Band-1/ 1: Grundlagen der Medienökonomie: Kommunikations- und Medienwissenschaft, Wirtschaftswissenschaft, hrsg. Von Klaus-Dieter Altmeppen & Matthias Karmasin, 215-243. Opladen: Westdeutscher Verlag. Vincent Mosco. 2009. The Political Economy of Communication. London: Sage. Zweite Auflage: Kapitel 1: Overview of the Political Economy of Communication (S.-1-20). Graham Murdock & Peter Golding. 2005 (oder frühere Versionen: 1991, 1996, 2000). Culture, Communications and Political Economy. In Mass Media and Society, hrsg. von James Curran & Michael Gurevitch, 60-83. London: Hodder Arnold. Graham Murdock & Peter Golding. 1973. For a Political Economy of Mass Commu‐ nications. Socialist Register 10 (1973): 205-234. DOI: http: / / socialistregister.com/ i ndex.php/ srv/ article/ view/ 5355#.Ud_T3lMWGP9 ÜBUNG 4.1: Political Economy of Communication and Media Industry Studies Es gibt Debatten darüber, wie man die Medienökonomie am besten untersuchen kann. Die folgende Lektüre befasst sich mit zwei dieser Debatten, die sich auf den Unterschied zwischen den Medienwirt‐ schaftsstudien (Media Industry Studies, die hauptsächlich auf der mesoökonomischen Ebene operieren) und der Politischen Ökonomie der Kommunikation (die die Interaktion der Ebenen und die Bedeu‐ tung der Gesellschaft als Ganzes und der Makroökonomie betont) konzentrieren. Lesen Sie die folgenden Texte und diskutieren Sie sie. Lesen Sie die folgenden drei Texte: David Hesmondhalgh. 2010. Media Industry Studies, Media Produc‐ tion Studies. In Media and Society, hrsg. von James Curran, 145-163. London: Bloomsbury. Timothy Havens, Amanda D. Lotz & Serra Tinic. 2009. Critical Media Industry Studies: A Research Approach. Communication, Culture & 140 4 Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien <?page no="141"?> Critique 2 (2): 234-253. DOI: https: / / doi.org/ 10.1111/ j.1753-9137.2009. 01037.x Eileen R. Meehan & Janet Wasko. 2013. In Defence of a Political Economy of the Media. Javnost - The Public 20 (1): 39-53. DOI: https: / / doi.org/ 10.1080/ 13183222.2013.11009107 Diskutieren Sie: Was sind die Hauptmerkmale der von David Hesmondhalgh und Havens/ Lotz/ Tinic vertretenen Ansätze? Welches sind die Hauptmerkmale des von Meehan und Wasko vertre‐ tenen Ansatzes? Worin bestehen die Unterschiede zwischen diesen Ansätzen? Wo und warum stimmen sie nicht überein? Wie beurteilen Sie diese Kontroverse? Was ist Ihr eigener Standpunkt? Lesen Sie die folgenden Texte: Paul Dwyer. 2015. Theorizing Media Production: The Poverty of Political Economy. Media, Culture & Society 37 (7): 988-1004. DOI: htt ps: / / doi.org/ 10.1177%2F0163443715591667 Graham Murdock & Peter Golding. 2016. Political Economy and Media Production: A Reply to Dwyer. Media, Culture & Society 38 (5): 763-769. DOI: https: / / doi.org/ 10.1177%2F0163443716655094 Paul Dwyer. 2016. Understanding Media Production: A Rejoinder to Murdock and Golding. Media, Culture & Society 38 (8): 1272-1275. DOI: https: / / doi.org/ 10.1177%2F0163443716671495 Diskutieren Sie: Welches sind die Hauptmerkmale des von Dwyer vertretenen Ansat‐ zes? Welches sind die Hauptmerkmale des von Murdock/ Golding vertrete‐ nen Ansatzes? Was sind die Unterschiede zwischen diesen Ansätzen? Wo und warum stimmen sie nicht überein? Wie beurteilen Sie diese Kontroverse? Was ist Ihr eigener Standpunkt? Literatur, empfohlene Lektüre und Übungen 141 <?page no="142"?> Aufgabe Merke Frage Literatur Wissen Zusatz Link / www Checkliste Ziele ICON SET 5 Aufgabe Merke Frage Literatur Wissen Zusatz Link / www Checkliste Ziele ICON SET 5 ÜBUNG 4.2: Die politische Ökonomie der größten Medien- und Digitalkonzerne der Welt Arbeiten Sie in Gruppen oder einzeln. Wenden Sie die sieben Prinzipien (Erkenntnis 1) und Dimensionen (Er‐ kenntnis 4) der Politischen Ökonomie der Kommunikation auf einige der weltweit größten Medien- und Digitalkonzerne an und diskutieren Sie sie. Erstellen Sie eine Liste von Fragen, die die Politische Ökonomie der Kommunikation in Bezug auf das untersuchte Phänomen stellt, mindestens eine Frage für jedes der sieben PÖK-Prinzipien und jede der PÖK-Dimensionen. Wenn Sie in einer Klasse oder Lerngruppe sind, empfehle ich Ihnen, Gruppen von 2-4 Personen zu bilden, dass sich jede Gruppe auf ein Unternehmen konzentriert und dass Sie die Ergebnisse präsentieren. Apple, Amazon, BBC, Samsung Electronics, Alphabet/ Google, Micro‐ soft, Verizon Communications, Alibaba Group, Comcast, SoftBank Group, Tencent Holdings, China Mobile, Facebook, Sony, Intel, Deut‐ sche Telekom, IBM, Taiwan Semiconductor, Oracle, Cisco Systems, Charter Communications, Dell Technologies, Hon Hai Precision (Fox‐ conn) Wenn Sie in einer größeren Klasse oder Lerngruppe arbeiten, können Sie Gruppen bilden und jede Gruppe kann sich auf ein Beispiel konzentrieren. Vergleichen Sie die Ergebnisse. ÜBUNG 4.3: IBM und die Nazis Arbeiten Sie in Gruppen oder einzeln. Wenden Sie die sieben Prinzipien (Ergebnis 1) und Dimensionen (Ergebnis 4) der politischen Ökonomie der Kommunikation auf das Beispiel von IBM und den Nazis an und diskutieren Sie darüber. Sehen Sie sich das vorgeschlagene Video als Grundlage für die Analyse und Diskussion an. Edwin Black ist ein Journalist, der das Buch IBM und der Holocaust geschrieben hat. Er zeigt, dass das Naziregime in Deutschland von der IBM-Zentrale in New York Rechenmaschinen mietete, um den Transport und die Vernichtung von Millionen von Juden und Jüdinnen und anderen Gruppen, die es als Feinde betrachtete, zu organisieren. 142 4 Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien <?page no="143"?> Black (2001, 9) sagt, dass es eine „bewusste Beteiligung - direkt und durch ihre Tochtergesellschaften -“ von IBM „am Holocaust sowie […] an der Nazi-Kriegsmaschinerie, die Millionen anderer Menschen in ganz Europa ermordete“ gab. The Corporation ist ein Dokumentarfilm aus dem Jahr 2003 unter der Regie von Mark Achbar und Jennifer Abbott. Mark Achbar & Jennifer Abbott (directors). 2003. The Corporation. Big Picture Media Corporation. Filminformation: https: / / www.imdb.com / title/ tt0379225/ , https: / / thecorporation.com/ film/ about-film Sehen Sie sich Szene 19 „Taking the Right Side“ an, in der es um IBM und die Shoah/ den Holocaust geht. Der Film ist auf der Website Cinema Politica verfügbar https: / / vimeo.com/ ondemand/ thecorporat ioncp) und auf DVD. Es gibt auch ein Buch von Edwin Black zu diesem Thema, das als ergänzendes Material verwendet werden kann: Edwin Black. 2001. IBM and the Holocaust: The Strategic Alliance between Nazi Germany and America's Most Powerful Corporation. New York: Crown. Erörtern Sie die Bedeutung der Prinzipien und Dimensionen der Politischen Ökonomie der Kommunikation im Zusammenhang mit dem Beispiel von IBM und den Nazis. Vergleichen Sie nach der Einzelbzw. Gruppenarbeit Ihre Ergebnisse. Diskutieren Sie Aspekte der Moral und des Kapitalismus im Zusammenhang mit diesem Beispiel, insbesondere die Frage: Trägt IBM eine Verantwortung für die Ermordung der Juden in den Gaskammern der Nazis, weil es den Nazis Rechenmaschinen verkauft hat, die den Holocaust mitorganisiert haben oder nicht? Warum bzw. warum nicht? Verkauft IBM nur Maschinen und ist nicht für deren Nutzung verantwortlich? Oder muss sich das Unternehmen mit den Anwendungen dieser Maschinen befassen, insbesondere im Zusammenhang mit Krieg und totalitären Regimen? Was ist der Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Faschismus? Eine Diskussion der PÖK-Prinzipien im Zusammenhang mit IBM und dem Holocaust finden Sie im Anhang zu diesem Kapitel. Führen Sie die Übung zunächst selbst durch und lesen Sie anschließend diesen Anhang. Literatur, empfohlene Lektüre und Übungen 143 <?page no="144"?> Anhang 4.1: IBM und die Shoah In diesem Anhang wird eine Möglichkeit erörtert, die sieben Prinzipien der Politischen Ökonomie auf die Analyse des Beispiels IBM und den Holocaust anzuwenden (Aufgabe 4.2): ● P1: Die Warenform und die Kommodifizierung ● P2: Raum (lokal, regional, national, international, global) ● P3: Strukturierung (Klasse, Geschlecht, Rassismus) ● P4: Geschichte ● P5: Gesellschaftliche Totalität ● P6: Moralphilosophie ● P7: Praxis P1: Die Warenform und die Kommodifizierung Edwin Blacks (2001) Buch IBM and the Holocaust und die Szene aus The Corporation zeigen, dass IBM Rechenmaschinen an die Nazis verkaufte, die sie für die Organisation der Shoah/ des Holocausts einsetzten. IBM profitierte finanziell vom Holocaust. Die Computer als Ware hatten für die identifi‐ zierten Feinde der Nazis tödliche Folgen, denn sie wurden als Werkzeuge für die Organisation eines massenhaften industriellen Vernichtungsprojekts eingesetzt. Das Beispiel zeigt die Wechselwirkung von Wirtschaft und Politik. IBM als Wirtschaftsunternehmen handelte mit einem faschistischen politischen System, nämlich Hitlers Nazideutschland. P2: Raum (lokal, regional, national, international, global) Es gibt eine nationale und eine internationale/ globale Dimension: IBM ist ein globales Unternehmen, das internationalen Handel mit Nazi-Deutschland betrieb. Hitlers Nazistaat löste den Zweiten Weltkrieg aus. Er war durch Nationalismus, Rassismus und Imperialismus motiviert. P3: Strukturierung (Klasse, Geschlecht, Rassismus) Das Beispiel zeigt, dass der Nazi-Faschismus ein exterminatorisches, rassis‐ tisches und antisemitisches Projekt ist und welche Rolle kapitalistische Interessen in totalitären Systemen spielen können. P4: Geschichte Das Beispiel zeigt, dass die Geschichte der Datenverarbeitung im Kontext von Völkermord und Krieg steht. Es ist ein historisches Beispiel, das im Zusammenhang mit der Geschichte des Zweiten Weltkriegs und der Geschichte des Faschismus und des Völkermords steht. 144 4 Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien <?page no="145"?> P5: Gesellschaftliche Totalität Das Beispiel zeigt, dass es einen Zusammenhang zwischen Informatik und Faschismus gab, nämlich zwischen den Profiten von IBM und dem Nazifaschismus als gesellschaftlicher Totalität in Deutschland in den Jahren von 1933 bis 1945. Der kritische politische Theoretiker Franz L. Neumann sah den Faschismus als ein gesellschaftliches System, eine gesellschaftliche Totalität. Er gab die folgende Definition: „[Fascism is] the dictatorship of the Fascist […] party, the bureaucracy, the army, and big business, the dictatorship over the whole of the people, for complete organization of the nation for imperialist war” (Neumann 1936, 35). Franz L. Neumann 1936. European Trade Unionism and Politics. New York: League for Industrial Democracy. P6: Moralphilosophie In dem Film The Corporation wird argumentiert, dass der Kommunikations‐ konzern IBM unmoralisch gehandelt hat, indem er von der Ermordung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden durch die Nazis profitierte, indem er ihnen Rechenmaschinen verkaufte, die bei der Organisation des Holocausts halfen. Es gibt hierbei zwei grundlegende moralische Positionen: (1) IBM stellte seine Profitinteressen über die Interessen der Menschen und handelte daher unmoralisch. Sie spielte eine Rolle bei der Ermordung von Jüdinnen und Juden. (2) Ein Unternehmen kann nicht dafür verantwortlich gemacht werden, wie seine Kunden seine Produkte nutzen. IBM ist nicht dafür verantwortlich, wie die Nazis IBM-Rechenmaschinen nutzten. In dem Filmausschnitt nimmt der damalige IBM-Vizepräsident für Tech‐ nologie und Strategie Irving Wladawsky-Berger die erste moralische Posi‐ tion ein: „Generally, you sell computers and they are used in a variety of ways, and you always hope they are used in the more positive ways possible. If you ever found out they’re used in ways that are not positive, then you would hope that you stop supporting that. But, do you always know? Can you always tell? Can you always find out? ” Edwin Black nimmt im Film und in seinem Buch die zweite Position ein: Literatur, empfohlene Lektüre und Übungen 145 <?page no="146"?> „IBM would of course say that it had no control over its German subsidiary but here in October 9th of 1941 a letter is being written directly to Thomas J. Watson with all sorts of detail about the activities of the German subsidiary. None of these machines were sold, they were all leased by IBM. And they had to be serviced on site once a month. Even if that was at a concentration camp such as Dachau Buchenwald. This is a typical contract with IBM and the Third Reich, which was instituted in 1942. It’s not with the Dutch subsidiary. It’s not with the German subsidiary. It is with the IBM corporation in New York”. P7: Praxis Das Beispiel zeigt, dass Faschismus ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist und dass diejenigen, die Menschlichkeit und Demokratie gegen den Fa‐ schismus verteidigen wollen, eine antifaschistische Praxis betreiben sollten. Nach dem kritischen Theoretiker Theodor W. Adorno bedeutet Antifaschis‐ mus, eine Gesellschaft zu schaffen, in der Faschismus und Auschwitz nicht mehr möglich sind: „Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, daß Ausch‐ witz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe” (Adorno 1966, 356). Theodor W. Adorno. 1966. Negative Dialektik. Frankfurt am Main: Suhr‐ kamp. 146 4 Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien <?page no="147"?> Aufgabe Merke Frage Literatur Wissen Zusatz Link / www Checkliste Ziele ICON SET 5 5 Die Kritische Tradition in der Analyse von Medien, Kommunikation, Wirtschaft und Gesellschaft Was Sie in diesem Kapitel lernen werden: Sie werden mehr über die kritische Tradition in der Erforschung von Medien, Kommunikation, Wirtschaft und Gesellschaft erfahren. Sie werden etwas über das Verhältnis von Klasse, Kapitalismus, Rassis‐ mus und Patriarchat im Kontext des Zusammenwirkens von Medien, Kommunikation, Ökonomie und Gesellschaft erfahren. 5.1 Einleitung Medien sind Teil der Gesellschaft. Die Gesellschaft ist ein großer Zusammen‐ hang von sozialen Verhältnissen zwischen Menschen. Wo viele Menschen zusammenkommen, gibt es Machtfragen darüber, wie für die Gesellschaft wichtige Entscheidungen getroffen werden sollen und wer welche und wieviel Ressourcen kontrolliert. Medien als Informations- und Kommuni‐ kationssysteme spielen in der Gesellschaft eine wichtige Rolle. Daher stellt sich die Frage, wie die Medien organisiert sein sollen, wer über diese Organisationen entscheiden soll, wie kommunikative Ressourcen verteilt werden sollen, usw. Die kritische Medienanalyse setzt sich mit der Analyse von Medien, Kommunikation, Macht und Gesellschaft auseinander. Die kritsche Tradition in der Analyse von Medien, Kommunikation, Wirtschaft und Gesellschaft betont wirtschaftliche Aspekte im Zusammenhang von Macht, Medien und Kommunikation in der Gesellschaft. In diesem Kapitel wird die kritische Forschungstradition zu Medien, Wirtschaft und Gesellschaft erörtert. Es führt in die Tradition der Politischen Ökonomie der Kommunikation und der Medien ein (Abschnitt 5.2), erörtert das Verhältnis von Kapitalismus, Patriarchat und Rassismus im Kontext der Politischen Ökonomie der Kommunikation und der Medien (Abschnitt 5.3) und zieht Schlussfolgerungen (Abschnitt 5.4). <?page no="148"?> 5.2 Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien Das vorliegende Buch skizziert einen Ansatz für die Analyse der Politischen Ökonomie der Kommunikation und der Medien. Es erhebt nicht den An‐ spruch, die ultimative oder einzig mögliche Einführung zu sein. Es ist nicht so sehr daran interessiert, die Geschichte des Feldes der Politischen Ökono‐ mie der Kommunikation und der Medien zu erzählen, und konzentriert sich eher auf die Analyse bestimmter Themen aus einer Perspektive der Politischen Ökonomie, die von Marx und auf Marx basierenden Ansätzen ausgeht. Dieser Ansatz wird häufig auch als Kritik der Politischen Ökonomie der Kommunikation und der Medien bezeichnet. Der Name des Ansatzes Der in diesem Buch vorgestellte Ansatz wurde auf verschiedene Weise benannt, darunter Politische Ökonomie der Kommunikation (Mosco 2009; Garnham 1979; Garnham & Fuchs 2014), Kritische Politische Ökonomie der Medien (Hardy 2014), Kritik der Politischen Ökonomie der Medien (Knoche 2002), Politische Ökonomie der Kommunikation (Gandy 1992; Murdock & Golding 1973; Smythe 1960; Wasko, Murdock & Sousa 2011), Politische Ökonomie der Medien (Fuchs & Mosco 2015; Golding & Murdock 1997; McChesney 2008), Politische Ökonomie der Information (Mosco & Wasko 1988), Politische Ökonomien der Medien (Winseck & Jin 2011), Politische Ökonomie der Kultur (Calabrese & Sparks 2004) oder Kulturelle Politische Ökonomie (Sayer 2002; Sum & Jessop 2013). Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien (PÖKM) umfasst eine Reihe von Ansätzen, denen gemeinsam ist, dass sie sich auf die Analyse der Interaktion der politischen und wirtschaftlichen Aspekte der Medien und der Kommunikation konzentrieren. Kommunikation ist der Prozess der symbolischen menschlichen Interaktion, bei dem Menschen Informationen über die Welt produzieren, soziale Beziehungen schaffen, indem sie Informationen miteinander teilen, und der Welt, der Gesellschaft und einander einen Sinn geben. Ein Medium ist eine Struktur, die Ver‐ halten ermöglicht und einschränkt. Wo immer es in einer Gesellschaft Kommunikation gibt, gibt es auch ein Kommunikationsmedium. Medien und Information existieren nicht nur im menschlichen Bereich. So speichert beispielsweise die DNA genetische Informationen von Lebewesen, und das 148 5 Die Kritische Tradition in der Analyse von Medien u.a. <?page no="149"?> Blutsystem ist ein Medium, über das die Organe eines lebenden Systems miteinander kommunizieren. Wenn wir von der Politischen Ökonomie der Kommunikation und der Medien sprechen, wird deutlich, dass wir gesellschaftliche Prozesse analysieren. Überall dort, wo es in der Gesell‐ schaft Kommunikation gibt, gibt es auch Medien der Kommunikation und umgekehrt sowie Informationen. Der englische Begriff „Communications“ wird auch manches Mal bei der Beschreibung des hier diskutierten Feldes benutzt („Political Economy of Communications“). „Communications“ steht für Kommunikationssysteme und Kommunikationstechnologien. Ich übersetze den Begriff „Communi‐ cations“ ins Deutsche als „Kommunikationsmittel“ oder „Kommunikations‐ systeme“. Diese Begriffe werden oft synonym mit dem Begriff der Medien verwendet. Kultur wird in der Literatur oft als ein Begriff gesehen, der weiter gefasst ist als die Medien und auch die Live-Aufführung von Musik, Theater, Poesie usw. umfasst. Aber Unterhaltung und Kommunikation von Angesicht zu Angesicht sind nicht unvermittelt, sondern bedienen sich der Medien des Körpers, der Luft, des Klangs und des Lichts. Wenn wir von Medien und Kommunikation sprechen, schließen wir immer auch die Bedeutungs‐ bildungsprozesse der Kultur und der gespeicherten, verarbeiteten, kodierten und dekodierten Informationen ein. Es gibt sicherlich verschiedene Ansätze innerhalb der PÖKM, aber den Namen als „Politische Ökonomien“ zu pluralisieren (wie von Winseck und Jin 2011 vorgeschlagen), halte ich für einen Fehler, da die Pluralform a) von der Tatsache ablenkt, dass es keine große Vielfalt an Ansätzen innerhalb der PÖKM gibt, b) außer Acht lässt, dass die PÖKM in erster Linie ein kritischer Ansatz ist, so dass Kritik ein relativ konstantes und universelles Merkmal ist, und c) nicht anerkennt, dass der kritische Ansatz der Politischen Ökonomie (Kritik der Politischen Ökonomie) der dominierende Strang der PÖKM ist. In diesem Buch konzentriere ich mich nicht darauf, die institutionelle Geschichte der Politischen Ökonomie der Kommunikation zu erzählen. Es geht mir nicht so sehr darum, darzustellen, wer wo lehrt und forscht, wer welche Positionen innehat oder nicht innehat oder welche Kontroversen es gegeben hat (Politische Ökonomie der Kommunikation VS. Cultural Stu‐ dies, Marxistische Politische Ökonomie VS. Nicht-marxistische Politische Ökonomie, Politische Ökonomie der Kommunikation VS. Media Produc‐ tion/ Industry Studies, etc.). Ich halte es für fruchtbarer, dass man sich mit bestimmten medienbezogenen Fragen beschäftigt, die das Leben der 5.2 Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien 149 <?page no="150"?> Menschen in der Gesellschaft betreffen, und mit der Frage, wie diese mit Hilfe eines PÖKM-Rahmens analysiert werden können. Die Geschichte des Ansatzes Mosco (2009, Kapitel 5 und 6) gibt einen Überblick über die institutionelle Geschichte der PÖKM. Er unterscheidet zwischen einer nordamerikani‐ schen und einer britischen Tradition in der PÖKM. Dallas W. Smythe und Herbert Schiller waren die Begründer der PÖKM in Nordamerika, einer Tradition, zu der Wissenschaftler: innen wie Lee Artz, Benjamin Birkinbine, Enda Brophy, Andrew Calabrese, Paula Chakravartty, Noam Chomsky, Nicole Cohen, Greig de Peuter, Nick Dyer-Witheford, Oscar Gandy, Edward Herman, Sut Jhally, Dal Yong Jin, Micky Lee, Richard Maxwell, Robert McChesney, Catherine McKercher, Eileen Meehan, Vincent Mosco, Manjunath Pendakur, Victor Pickard, Dan Schiller, Gerald Sussman, Janet Wasko, Dwayne Winseck, Yuezhi Zhao und viele andere in den USA und Kanada Beiträge geleistet haben. In der britischen Tradition stehen einerseits die Arbeiten und die Tradition der Politischen Ökonomie von Graham Murdock und Peter Golding, die an der Universität von Leicester und der Universität Loughborough tätig waren. Zum anderen gibt es seit den 1970er Jahren Wissenschaftler: innen, die PÖKM an der University of Westminster praktizieren. Zu ihnen gehören unter anderem Miriyam Ao‐ uragh, Steven Barnett, Dimitris Boucas, Charles Brown, James Curran (der nach einer Zeit in Westminster an der Gründung des Fachbereichs Medien-, Kommunikations- und Kulturwissenschaften in Goldsmiths beteiligt war, wo er mit Natalie Fenton, Des Freedman, Gholam Khiabany und anderen zusammengearbeitet hat), Alessandro D'Arma, Christian Fuchs, Nicholas Garnham, Peter Goodwin, Jill Hills, Maria Michalis, Naomi Sakr, Jean Seaton, Jeanette Steemers, Colin Sparks, Pieter Verdegem, Xin Xin. Im deutschen Sprachraum haben zur Tradition der Politischen Ökonomie der Kommunikation und der Medien u. a. Thomas Allmer, Jörg Becker, Franz Dröge, Christian Fuchs, Andrea Grisold, Horst Holzer, Wulf D. Hund, Bärbel Kirchhoff-Hund, Manfred Knoche, Christine Leidinger, Werner A. Meier, Sabine Pfeiffer, Dieter Prokop, Rudi Schmiede, Marisol Sandoval, Sebastian Sevignani und Josef Trappel beigetragen. Auf der Grundlage von Marx‘ Arbeiten haben vor allem Holzer, Knoche und Fuchs den Ansatz der Kritik der Politischen Ökonomie der Kommunikation und der Medien begründet und entwickelt. 150 5 Die Kritische Tradition in der Analyse von Medien u.a. <?page no="151"?> Eine gute Informationsquelle für alle, die sich für die Entwicklung des Ansatzes der Politischen Ökonomie der Kommunikation und der Medien interessieren, sind die von John Lent und Michelle Amazeen geführten und in den beiden Büchern A Different Road Taken: Profiles in Critical Communication (Lent 1995) und Key Thinkers in Critical Communication Scholarship. From the Pioneers to the Next Generation (Lent und Amazeen 2015). Der erste Band enthält Interviews mit Dallas W. Smythe, George Gerbner, Herbert Schiller, James D. Halloran und Kaarle Nordenstrengt; der zweite Band präsentiert Interviews mit Noam Chomsky, Christian Fuchs, Edward S. Herman, John A. Lent, Robert W. McChesney, Eileen R. Meehan, Vincent Mosco, Graham Murdock, Manjunath Pendakur, Gerald Sussman, Janet Wasko und Yuezhi Zhao. Die Sektion Politische Ökonomie der IAMCR Die PÖKM ist nicht auf Großbritannien und Nordamerika beschränkt, sondern findet sich heute in vielen Ländern wieder. Der internationale Charakter der PÖKM zeigt sich in der Geschichte der Sektion Politische Ökonomie der International Association for Media and Communication Research (IAMCR, https: / / iamcr.org/ s-wg/ section/ poe). Janet Wasko (2013) erzählt die institutionelle Geschichte dieser 1978 gegründeten Sektion. Im Jahr 2021 gehörten der IAMCR 15 Sektionen und 17 Arbeitsgruppen an. Von diesen 32 Einheiten war die Sektion Politische Ökonomie mit 206 Mitgliedern die sechstgrößte (siehe Tabelle 5.1). Dies zeigt, dass die Politi‐ sche Ökonomie ein wichtiger Bereich innerhalb der IAMCR und auch ein wichtiges Unterfeld der Medien- und Kommunikationswissenschaft ist. Die IAMCR hat traditionell einen großen Anteil von Wissenschaftler: innen an‐ gezogen, die der kritischen Tradition in der Kommunikationswissenschaft angehören. Sie war daher ein fruchtbarer Boden für die Entwicklung einer Sektion, die sich auf PÖKM konzentriert. Die International Communication Association (ICA) ist in Bezug auf ihre Mitgliederzahl wesentlich größer als die IAMCR und viel stärker auf die USA ausgerichtet. In der ICA hat sich keine Gruppe für Politische Ökonomie entwickelt. Tabelle 5.2 zeigt die Anzahl der Mitglieder der IAMCR-Sektion Politische Ökonomie aus bestimmten Ländern im Jahr 2021. 5.2 Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien 151 <?page no="152"?> IAMCR Sektion/ Arbeitsgruppe: Name Anzahl der Mitglieder (2021) Audience Section 202 Communication Policy & Technology Section 198 Community Communication and Alter‐ native Media Section 205 Emerging Scholars Network Section 166 Gender and Communication Section 271 History Section 115 International Communication Section 271 Journalism Research and Education Sec‐ tion 311 Law Section 50 Media, Communication and Sport Section 54 Media Education Research Section 135 Mediated Communication, Public Opi‐ nion & Society Section 207 Participatory Communication Research Section 229 Political Communication Research Sec‐ tion 236 Political Economy Section 212 Comic Art Working Group 30 Communication in Postand Neo-Autho‐ ritarian Societies Working Group 61 Crisis, Security and Conflict Communica‐ tion Working Group 91 Diaspora and Media Working Group 82 Digital Divide Working Group 147 Environment, Science & Risk Communi‐ cation Working Group 128 152 5 Die Kritische Tradition in der Analyse von Medien u.a. <?page no="153"?> IAMCR Sektion/ Arbeitsgruppe: Name Anzahl der Mitglieder (2021) Ethics of Society & Ethics of Communi‐ cation Working Group 104 Global Media Policy Working Group 89 Health Communication Working Group 136 Islam and Media Working Group 48 Media Production Analysis Working Group 113 Media Sector Development Working Group 43 Music, Audio, Radio and Sound Working Group 35 Popular Culture Working Group 204 Public Service Media Policies Working Group 67 Religion and Communication Working Group 62 Rural Communication Working Group 61 Table 5.1: Die Anzahl der Mitglieder der IAMCR-Gruppen (Sektionen und Arbeitsgruppen), Datenquelle: https: / / iamcr.org/ , abgerufen am 4, November 2021 Die Daten zeigen, dass die beiden größten IAMCR Mitgliedergruppen in Bezug auf den Wohnsitz die USA und das Vereinigte Königreich sind. Ange‐ sichts der Tatsache, dass Wissenschaftler: innen an Universitäten in ärmeren Ländern oft nicht über die nötigen Mittel verfügen, um an Konferenzen teil‐ zunehmen und Mitgliedsbeiträge zu zahlen, ist dies keine Überraschung. Die IAMCR ist wie jede andere akademische Organisation von den Strukturen der globalen Ungleichheit betroffen. Es gibt jedoch eine beträchtliche Anzahl von Mitgliedern aus nicht-westlichen Ländern, darunter China, Indien, Argentinien, Indonesien, Uruguay, Brasilien usw., was die Bemühungen der IAMCR widerspiegelt, ihre Jahreskonferenzen auch in nicht-westlichen Ländern zu veranstalten und Wissenschaftler: innen aus armen Ländern erhebliche Mitgliedsrabatte zu gewähren. Im Jahr 2021 betrug der reguläre 5.2 Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien 153 <?page no="154"?> 17 https: / / iamcr.org/ membership-fees, abgerufen am 5. November 2021. 18 https: / / www.icahdq.org/ page/ PastFuture, abgerufen am 5. November 2021. jährliche Mitgliedsbeitrag für Wissenschaftler: innen aus Ländern mit ho‐ hem Einkommen 180 US-Dollar, für Wissenschaftler: innen aus Ländern mit mittlerem Einkommen 80 US-Dollar und für Wissenschaftler: innen aus Ländern mit niedrigem Einkommen 30 US-Dollar 17 . Von 2000 bis 2022 fand die IAMCR-Konferenz 22 mal statt, darunter in Singapur, Brasilien, Taiwan, Ägypten, Mexiko, der Türkei, Südafrika, Indien, Kolumbien, Kenia und China. Im gleichen Zeitraum fand die ICA-Konferenz neunmal in den USA und fast immer in westlichen Ländern statt 18 . Das bedeutet, dass die IAMCR aktive Schritte unternommen hat, um Wissen‐ schaftler: innen in ärmeren und nicht-westlichen Ländern zu erreichen. Land Anzahl der Mitglieder USA 45 Großbritannien 21 China 13 Kanada 12 Australien 10 Belgien 9 Indien 8 Spanien 8 Argentinien 5 Indonesien 5 Uruguay 5 Brasilien 4 Deutschland 4 Irland 4 Südafrika 4 Österreich 3 154 5 Die Kritische Tradition in der Analyse von Medien u.a. <?page no="155"?> Land Anzahl der Mitglieder Dänemark 3 Philippinen 3 Portugal 3 Bangladesch 2 Kolumbien 2 Kroatien 2 Tschechische Republik 2 Frankreich 2 Griechenland 2 Kenia 2 Mexiko 2 Neuseeland 2 Pakistan 2 Schweden 2 Taiwan 2 Türkei 2 Chile 1 Estland 1 Finnland 1 Ghana 1 Israel 1 Italien 1 Jamaica 1 Korea 1 Malaysia 1 Martinique 1 5.2 Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien 155 <?page no="156"?> Land Anzahl der Mitglieder Niederlande 1 Norwegen 1 Singapur 1 Schweiz 1 Taiwan 1 Thailand 1 Trinidad und Tobago 1 Vereinigte Arabische Emirate 1 Gesamtanzahl: 212 Tabelle 5.2: Anzahl der Mitglieder aus bestimmten Ländern in der Sektion Politische Ökonomie der IAMCR, Datenquelle Tabelle 5.2: Anzahl der Mitglieder aus bestimmten Ländern in der Sektion Politische Ökonomie der IAMCR, Datenquelle: https: / / iamcr.org/ , abgerufen am 4. November 2021 Publikationen Ein Forschungsfeld hat auch seine Publikationen, die das in ihm produzierte Wissen repräsentieren. Es gibt Sammelbände, Lehrbücher, Monografien und Zeitschriften, die in der Tradition der Politischen Ökonomie der Kommuni‐ kation und der Medien stehen. Wir haben bereits die Lehrbücher von Mosco (2009) und Hardy (2014) erwähnt. Zu den Sammelbänden gehören zum Bei‐ spiel: Communication and Class Struggle (Mattelart & Siegelaub 1979, 1983), Labor, the Working Class and the Media (Mosco & Wasko 1983), The Political Economy of Information (Mosco & Wasko 1988), Illuminating the Blindspots: Essays Honoring Dallas W. Smythe (Wasko, Mosco & Pendakur 1993), The Political Economy of the Media (Golding & Murdock 1997), Culture Works: The Political Economy of Culture (Maxwell 2001), Sex & Money. Feminism and Political Economy in the Media (Meehan & Riordan 2002), Media in the Age of Marketization (Murdock & Wasko 2007), Global Communications: Toward a Transcultural Political Economy (Chakravartty & Zhao 2008), The Handbook of Political Economy of Communications (Wasko, Murdock & Sousa 2011), The Political Economies of Media (Winseck & Jin 2011), Marx and the Political 156 5 Die Kritische Tradition in der Analyse von Medien u.a. <?page no="157"?> Economy of the Media (Fuchs & Mosco 2015a), Marx in the Age of Digital Capitalism (Fuchs & Mosco 2015b), Global Media Giants (Birkinbine, Gómez & Wasko 2017), Political Economy of Media Industries: Global Transformations and Challenges (Nichols & Martinez 2019), Communicative Socialism/ Digital Socialism (Fuchs 2020b), Engels@200: Friedrich Engels in the Age of Digital Capitalism (Fuchs 2021b). Media, Culture & Society ist eine seit 1979 erscheinende wissenschaftliche Zeitschrift, die in ihrer Geschichte viele Artikel veröffentlicht hat, die auf dem Ansatz der Politischen Ökonomie der Kommunikation und der Medien (PÖKM) beruhen. Sie war nie ausschließlich der PÖKM verpflichtet. In der ersten Ausgabe von Media, Culture & Society beschrieb James Curran den Fokus der Zeitschrift als ein „Forum für Forschung und Diskussion über die Massenmedien (in erster Linie, aber keineswegs ausschließlich, die Presse und den Rundfunk) in ihren größeren gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Zusammenhängen“ (Curran 1979, 1) und ein Publikationsmedium für Artikel mit einem Fokus auf „die größeren Zusammenhänge, in denen die Medien agieren“ (1). Die Zeischrift sprach davon, dass sie „Forschung und Debatte innerhalb und zwischen“ (2) empi‐ rischer Forschung und marxistischer Theorie publiziere. In einem Reader von 1986, in dem ausgewählte Aufsätze aus der Zeit‐ schrift vorgestellt wurden, erklärten die Herausgeber, dass ein wichtiges Merkmal der Artikel in Media, Culture & Society darin besteht, dass sie die Medien im Kontext „einer Reihe von institutionellen Mitteln, mit denen in jeder Gesellschaft symbolische Formen und die von ihnen geschaffenen und getragenen Bedeutungen produziert, verbreitet und konsumiert wer‐ den“ (Collins, Curran, Garnham, Scannell, Schlesinger & Sparks 1986, 1), analysieren. Diese Beschreibung ist eine Art von Definition der Politischen Ökonomie der Medien. Die Herausgeber sagen auch, die Zeitschrift sei „stark von einer ausdrücklich ‚marxistischen‘ Tradition beeinflusst“ (Collins, Cur‐ ran, Garnham, Scannell, Schlesinger & Sparks 1986, 3) und gleichzeitig kritisch gegenüber dem Althusserianismus und dem Postmodernismus. In einer anderen Auswahl von Aufsätzen aus Media, Culture & Society, die 1992 veröffentlicht wurde, führen die Herausgeber die Politische Ökonomie der Medien als wichtigen Aspekt der Zeichrschrift an (Scannell, Schlesinger & Sparks 1992, 5) und schreiben, dass die Zeitschrift einer die Aufklärung fortsetzenden Kritik „der Gegenwart im Namen einer besseren Zukunft“ verpflichtet ist. 5.2 Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien 157 <?page no="158"?> 19 https: / / www.triple-c.at/ index.php/ tripleC/ about/ editorialPolicies#focusAndScope, ab‐ gerufen am 6. November 2021. 20 https: / / www.polecom.org/ index.php/ polecom/ index, abgerufen am 6. November 2021. Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien und insbe‐ sondere ihre von Marx und der Marx‘schen Theorie inspirierten Versionen sind heute kein dominanter oder besonders hervorgehobener Ansatz in Media, Culture & Society. Die PÖKM ist vielmehr nur eine von vielen Perspektiven, die in der Zeitschrift vertreten sind. Media, Culture & Society hat sich natürlich nie ausschließlich der PÖKM gewidmet, aber es wird schwer zu leugnen sein, dass die PÖKM darin heute eine weitaus weniger wichtige Rolle spielt als in der Anfangsphase der Zeitschrift. In der Zwischenzeit sind zwei weitere Zeitschriften entstanden, die in der Tradition der PÖKM stehen: tripleC: Communication, Capitalism & Critique und The Political Economy of Communication. tripleC: Commu‐ nication, Capitalism & Critique (http: / / www.triple-c.at) ist eine im Jahr 2003 gegründete Zeitschrift, die vom Autor dieses Buches zusammen mit Marisol Sandoval und Thomas Allmer herausgegeben wird. Sie ist eine gemeinnützige Open-Access-Zeitschrift, die sich der Veröffentlichung kriti‐ scher Analysen der Kommunikation im Kapitalismus widmet, d. h. sie basiert auf kritischen Versionen der PÖKM. Die Zeitschrift definiert sich als „Forum zur Diskussion der Herausforderungen, denen sich die Menschheit heute in der kapitalistischen Informationsgesellschaft gegenübersieht. tripleC ist eine Open Access-Zeitschrift, die sich mit der kritischen Untersuchung von Kapitalismus und Kommunikation befasst” 19 . The Political Economy of Communication (https: / / www.polecom.org/ ) ist eine Open-Access-Zeitschrift, die mit der Political Economy Sektion der IAMCR (International Association for Media and Communication Research) verbunden ist. Sie wurde 2013 gegründet und beschreibt ihre Ziele wie folgt: „Die Zeitschrift präsentiert Originalarbeiten etablierter und aufstrebender Wissenschaftler: innen sowie Kommentare zu aktuellen medienbezogenen Themen. Die Zeitschrift lädt insbesondere zu Beiträgen ein, die sich mit der Politischen Ökonomie der Kommunikation als einem sich entwickelnden intellektuellen Forschungsfeld befassen“ 20 . Zwei weitere Zeitschriften, die den PÖKM-Perspektiven viel Platz einge‐ räumt haben, sind Democratic Communiqué (https: / / journals.flvc.org/ demc om/ about), die Zeitschrift der Union for Democratic Communications mit 158 5 Die Kritische Tradition in der Analyse von Medien u.a. <?page no="159"?> Sitz in Nordamerika, und das Global Media Journal (https: / / www.globalme diajournal.com/ ). Entwestlichung und Dekolonisation Im Jahr 2000 forderten James Curran und Myung-Jin Park (2000) eine Entwestlichung der Medienwissenschaft: „This book is part of a growing reaction against the self-absorption and parochi‐ alism of much Western media theory. It has become routine for universalistic observations about the media to be advanced in English language books on the basis of evidence derived from a tiny handful of countries. Whether it be middle range generalization about, for example, the influence of news sources on reporting, or grand theory about the media’s relationship to postmodernity, the same few countries keep recurring as if they are a stand-in for the rest of the world. These are nearly always rich Western societies, and the occasional honorary ‘Western’ country like Australia” (Curran & Park 2000, 2). Curran und Park betonen also, dass in vielen Analysen der Medien nur westliche Staaten vorkommen. Es sei an der Zeit, auch nichtwestliche Mediensysteme zu analysieren. Ähnliche Forderungen werden seither un‐ ter Schlagwörtern wie der „Internationalisierung der Medienwissenschaft“ (Thussu 2009), „Entwestlichung der Kommunikationsforschung“ (Wang 2011) und der Dekolonisation der Medien- und Kommunikationswissen‐ schaft erhoben (Chakravartty, Kuo, Grubbs & McIllwain 2018; Chasi & Rodny-Gumede 2018; Chiumbu & Radebe 2020; Dutta 2020; Mano & milton 2021b; Mohammed 2021; Ngwenya 2022; Willems & Mano 2016). Gewisse Fortschritte wurden bei der Entwicklung dessen erzielt, was Paula Chakravartty und Yuezhi Zhao (2008) als Transkulturelle Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien bezeichnen, die Medien und Kommunikation im Kontext des globalen Kapitalismus untersucht, Wissenschaftler: innen aus ärmeren Ländern einbezieht und die Medien in armen Ländern in den Mittelpunkt der Analyse stellt. So gibt es beispiels‐ weise Monographien und Analysen zur politischen Ökonomie der Medien in Afrika (Chuma 2019; Moyo & Chuma 2010; Salawu 2021; Teer-Tomaselli 2018), der arabischen Welt (Della Ratta, Sakr & Skovgaard-Petersen 2015; Della Ratta 2018; Sakr 2007), Asien (George 2008), China (Zhao 2008, 1998; Qiu 2009, 2017; Hong 2011, 2017), Indien (Thomas 2010; Banaji 2017; Sulehria 2018), Indonesien (Masduki 2021; Tapsell 2017), Iran (Khiabany 5.2 Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien 159 <?page no="160"?> 21 Diese Liste ist exemplarisch, erhebt also keineswegs den Anspruch auf Vollständigkeit. Es gibt auch zahlreiche Werke in anderen Sprachen als Englisch. Idealerweise würden die Werke sowohl in den Landessprachen als auch in Englisch veröffentlicht, da die Landessprachen im täglichen Leben gesprochen werden und es eine schlichte Tatsache ist, dass Englisch die akademische Lingua franca ist. Die politische Ökonomie der aka‐ demischen Welt im Kapitalismus führt zu einer ungleichen Verteilung der Ressourcen, weshalb mehrsprachige Ausgaben von akademischen Werken die Ausnahme von der Regel sind. 2010; Sreberny-Mohammadi & Mohammadi 1994), Lateinamerika (Artz 2017; Bolaño, Mastrini & Sierra Martens 2012; Vivares & McChesney 2014), Pakistan (Ashraf 2021; Sulehria 2018), Palästina (Aouragh 2012), Singapur (George 2012), Südafrika (Ngwenya 2021; Olurunnisola & Tomaselli 2011; Radebe 2020), Südkorea ( Jin 2011), Türkei (Karlidag & Bulut 2020; Yesil 2016), Sambia (Hamusokwe 2018), etc 21 . Colin Sparks zieht nach zwanzig Jahren der Versuche, die Medien- und Kommunikationswissenschaft zu entwestlichen, eine pessimistische Bilanz und betont, dass die Entwestlichung nicht einfach eine moralische Frage des Willens, sondern eine Frage der politischen Ökonomie ist: „the best-funded research universities remain in the Global North; the most important publishers are all headquartered there; the most-cited journals are all edited there; many of the most prestigious conferences take place there; the most ambitious of the new generation of scholars seek to study, to publish, and often to work, there. Even those few universities outside of that privileged environment which enjoy the funding and the freedom to pursue independent research agendas tend to be dominated by faculty educated in, and to recruit graduates from, the ‘best’ universities in the developed world. Certainly in China, and probably elsewhere, Presidents and Deans are fixated on university rankings and Social Science Citation Index impact factors” (Sparks 2018, 391). Sparks steht also dem Projekt der Entwestlichung der Medien- und Kommu‐ nikationswissencahft kritischgegenüber. Das Projekt sei bisher weitgehend gescheitert und folge einer neoliberalen Logik, bei der es nur um Rankings, Studiengebühren und Zitierungen geht. Die meisten internationalen, nicht-westlichen und dekolonisierten Stu‐ dien über Medien und Kommunikation, einschließlich Studien über die politische Ökonomie der Medien und der Kommunikation, sind Ein-Län‐ der-Studien. Der methodologische Nationalismus ist die Folge der nationa‐ listischen Organisation der Forschungsfinanzierung. Eine vergleichende 160 5 Die Kritische Tradition in der Analyse von Medien u.a. <?page no="161"?> internationale Forschung zur politischen Ökonomie der Medien und der Kommunikation, die auf transnationalen und transdisziplinären Methoden und Theorien beruht, die von internationalen Forschungsteams auf der Grundlage der Dialektik des Universellen und des Partikulären gemeinsam entwickelt wird, ist dringend erforderlich. Die Durchführung einer solchen Forschung ist jedoch zeit- und ressourcenintensiv, da die Wissenschaftler: in‐ nen über die Zeit, den Raum und die Ressourcen verfügen müssen, die für die Zusammenarbeit erforderlich sind. Die Forschungsfinanzierung basiert in erster Linie auf den Zielen und Interessen nationaler und regionaler Regierungen, andere Nationen und Regionen in der Wirtschaft und damit auch in Wissenschaft und Technologie zu übertreffen. Die Agenden der Forschungsförderung werden weitgehend von kapitalistischen Imperativen bestimmt. Infolgedessen liegt der Schwerpunkt kaum auf der Finanzierung wirklich transnationaler und transdisziplinärer Forschung. Sicherlich ist „eine neue Art des Denkens erforderlich, die Ideen und Perspektiven wertschätzt, die von nicht-metropolitanen Zentren des globa‐ len Wissens ausgehen“ (Thussu 2009, 25), aber die Entwicklung solcher Rahmenbedingungen, Projekte, Methoden, Theorien und Studien ist in ers‐ ter Linie keine moralische Frage oder ein „moralischer Imperativ“ (Thussu 2009, 27), sondern eine Frage der politischen Ökonomie. Das Hauptproblem ist nicht Desinteresse, Unwissenheit oder mangelnde Bereitschaft, sondern eine wissenschafts- und technologiepolitische Agenda, die von Wettbewerb, Neoliberalismus und instrumenteller Vernunft statt von Kooperation, So‐ lidarität und kritischer Vernunft bestimmt wird. Thussu (2009, 27) gibt einen Hinweis darauf, welche Veränderungen in der politischen Ökonomie erforderlich sind, wenn er schreibt, dass ein „Gegenmittel für ein unhaltbares kommerzielles Medienmodell dringend erforderlich ist - ein globales öffent‐ liches Medium, das von einem globalen ‚kreativen Gemeingut‘ profitiert, in dem der freie Zugang zu Wissen garantiert ist“. Gleichzeitig müssen wir aber auch sehen, dass etablierte Wissenschaftler: innen weiterhin Zeitschriften herausgeben, die von kommerziellen, profitorientierten Verlagen veröffent‐ licht werden, deren Inhalte nicht kostenlos zur Verfügung gestellt werden und von denen private Eigentümer monetär profitieren und das öffentliche Interesse und den öffentlichen Zugang untergraben. Der Neokolonialismus hat zu dem geführt, was Boaventura de Sousa San‐ tos (2018, 356) als „Universitätskapitalismus“ bezeichnet, d. h. die Universität als „kapitalistisches Unternehmen“ und als eine Organisation, die „nach den Kriterien des Kapitalismus“ arbeitet. Infolgedessen fehlt es der transnationa‐ 5.2 Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien 161 <?page no="162"?> len, transdisziplinären, kritischen und konvivialen Forschung und Lehre an materiellen Voraussetzungen, nämlich an angemessener Finanzierung, In‐ frastruktur und Ressourcen. Eine kritische, transdisziplinäre, transnationale und konviviale Medien- und Kommunikationswissenschaft (siehe Mano und milton 2021a) erfordert die Abschaffung der kapitalistischen Universität in der ganzen Welt und ihre Ersetzung durch die gemeinwohlorientierte Universität (Fuchs 2022b, Kapitel 4). Um den akademischen Bereich zu dekolonisieren, müssen wir vom Uni‐ versitätskapitalismus zur gemeinwohlorientierten Universität übergehen. Dies bedeutet eine neue politische Agenda der Vergemeinschaftung, Demo‐ kratisierung und Selbstverwaltung als Dekolonisierung der akademischen Welt. Ein solcher veränderter Rahmen würde die Dekommodifizierung des akademischen Publikationswesens ermöglichen und erfordern, so dass aka‐ demisches Wissen als kreatives Gemeingut, das von öffentlich finanzierten, gemeinnützigen akademischen Verlagen und Zeitschriften bereitgestellt wird, weltweit für alle verfügbar ist. Teil einer solchen Veränderung wären die Abschaffung von akademischen Rankings, Metriken und Reputations‐ hierarchien; die Etablierung neuer transparenter, inklusiver, offener und demokratischer Formen der akademischen Arbeit; öffentlich finanzierte Universitäten, die überall auf der Welt das Menschenrecht auf Bildung verwirklichen, was das Recht eines jeden auf den Besuch einer Universität und einen gleichberechtigten Zugang zur Hochschulbildung einschließt und eine angemessene Besteuerung von Kapital und Reichtum erfordert, um die Finanzierung der Hochschulbildung auf der ganzen Welt zu unterstützen; die Überwindung der Kluft in Bezug auf Wohlstand, Ansehen, Einfluss und Ressourcen zwischen reichen und armen Universitäten; die angemes‐ sene globale Besteuerung von Kapital, um öffentliche Dienstleistungen, ein‐ schließlich öffentlicher Forschung und öffentlicher Hochschulbildung, zu finanzieren; die Umwandlung der neoliberalen Universität in selbstverwal‐ tete Universitäten, die demokratisch von den akademisch Arbeitenden und Studierenden verwaltet werden und keine CEOs und Vorstände haben; die Schaffung eines klassenlosen Hochschul-, Forschungs- und akademischen Systems, in dem der Klassenstatus nicht über die Chancen von Menschen entscheidet, in die akademische Welt einzutreten und erfolgreich zu sein bzw. von ihr ausgeschlossen zu werden und zu scheitern; mehr finanzielle Unterstützung für junge Menschen aus armen und Arbeiterfamilien, um eine Universität zu besuchen; öffentliche Mittel nicht für Public-Private-Part‐ nerships, sondern für internationale Forschungskooperationen, die einen 162 5 Die Kritische Tradition in der Analyse von Medien u.a. <?page no="163"?> kritischen Ansatz zur Untersuchung der drängenden Probleme der Welt verfolgen. 5.3 Kapitalismus, Patriarchat, Rassismus & die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien Kapitalismus, Patriarchat, Rassismus Für jede: n, der/ die sich mit Politischer Ökonomie beschäftigt, stellt sich die Frage, wie Klasse und Kapitalismus mit Geschlecht und Rassismus zusammenhängen. In kritischen Gesellschaftstheorien gibt es verschiedene Ansätze, wie das Verhältnis von Klasse und Identität theoretisiert wird. Ein Ansatz wird von den Philosophen Michael Hardt und Antonio Negri (2018) skizziert. Sie argumentieren, dass Rassismus und Patriarchat ein in‐ härenter Bestandteil des Kapitalismus sind: „Rassistische und kapitalistische Hierarchibe sind relativ autonom, weder untergeordnet noch abgeleitet, und andererseits sind beide in der heutigen Gesellschaft eng miteinander verflochten“ (Hardt & Negri 2018, 443); „das Geschlecht hat sich wie der Rassismus, obwohl es eng mit den kapitalistischen Hierarchien verwoben ist, eine relative Autonomie bewahrt“ (443). Rassismus, Patriarchat und Ka‐ pitalismus haben „gleiches Gewicht und relative Unabhängigkeit“ (443-444) und sind gleichzeitig „wechselseitig konstitutiv“ (444). Die Implikation ist, dass der Kapitalismus von Natur aus patriarchalisch und rassistisch ist, weshalb Hardt und Negri vom rassistischen Kapitalismus und patriarchalen Kapitalismus sprechen, womit sie zum Ausdruck bringen wollen, dass Rassismus und Patriarchat notwendige Bestandteile des Kapitalismus sind. Für Hardt und Negri bilden Kapitalismus einerseits und Rassismus und das Patriarchat andererseits eine Vielzahl von Widersprüchen, die eine relative Autonomie haben. Der Politische Ökonom und Wirtschaftsgeograf David Harvey vertritt einen anderen Ansatz. Harvey (2014, 8) argumentiert, dass die Widersprüche des Kapitals den „wirtschaftlichen Motor des Kapitalismus“ bilden. „Contemporary capitalism plainly feeds of gender discriminations and violence as well as upon the frequent dehumanisation of people of colour. The intersections and interactions between racialisation and capital accumulation are both highly visible and powerfully present. But an examination of these tells me nothing 5.3 Kapitalismus, Patriarchat, Rassismus & die Politische Ökonomie 163 <?page no="164"?> particular about how the economic engine of capital works, even as it identifies one source from where it plainly draws its energy. […] wars, nationalism, geopolitical struggles, disasters of various kinds all enter into the dynamics of capitalism, along with heavy doses of racism and gender, sexual, religious and ethnic hatreds and discriminations“ (Harvey 2014, 8). Harvey argumentiert also, dass es einen ökonomischen Kern des Kapita‐ lismus gebe, der mit verschiedenen Herrschaftsformen wie Patriarchat, Gewalt, Rassismus, Krieg, Nationalismus etc. interagiere. „[Racism and gender] are not specific to the form of circulation and accumulation that constitutes the economic engine of capitalism“ (7-8). Während für Hardt und Negri Patriarchat und Rassismus unter den Kapitalismus subsumiert sind und integrale Bestandteile desselben sind, gibt es für Harvey eine Dialektik von Kapitalismus auf der einen Seite und Rassismus und Patriarchat auf der anderen Seite, was bedeutet, dass er Rassifizierung und Geschlecht außerhalb des Kapitalismus ansiedelt. Harvey sieht die Klasse und die Ausbeutung der Arbeitskraft als die primären Aspekte des Kapitalismus. Er reduziert Rassismus und Patriarchat nicht auf die Ökonomie, sondern sagt, dass sie dialektisch mit dem Kapital verknüpft sind. „[The term capitalist patriarchy emphasises] the mutually reinforcing dialecti‐ cal relationship between capitalist class structure and hierarchical sexual struc‐ turing” (Eisenstein 1979, 5). Nancy Fraser vertritt die Auffassung, dass Klasse, Rassismus, Geschlecht und Sexualität zwar unabhängig voneinander sind, aber miteinander in Verbindung stehen und sich überschneiden: „Schließlich sind gender, »Rasse«, Sexualität und Klasse keineswegs sauber von‐ einander abgetrennt. Vielmehr kreuzen sich all diese Achsen der Benachteiligung derart, dass sie die Interessen und Identitäten eines jeden betreffen. Niemand ist Mitglied in nur einer dieser Gruppierungen. Und Einzelpersonen, denen auf einer Achse der sozialen Gliederung ein nur untergeordneter Rang zukommt, können auf einer anderen Achse ohne weiteres eine beherrschende Stellung einnehmen“ (Fraser & Honneth 2003, 41). Fraser plädiert für einen „sowohl als auch“-Ansatz - „sowohl Klasse als auch Status, sowohl Umverteilung als auch Anerkennung“ (Fraser & Jaeggi 2020, 21). In Frasers Ansatz sind Klasse, Rassismus und Geschlecht relativ unab‐ hängig voneinander, einander äußerlich und gleich wichtig. Im Gegensatz 164 5 Die Kritische Tradition in der Analyse von Medien u.a. <?page no="165"?> zu Harvey sieht sie die Klassenverhältnisse nicht als primär an, sondern postuliert eine Multifaktoranalyse der Macht, bei der alle Faktoren gleich wichtig sind. Sylvia Walby verfolgt einen Ansatz, der mit dem von Fraser vergleichbar ist. In ihrer Theorie „prägt das Geschlecht die Klasse ebenso wie die Klasse das Geschlecht“ (Walby 1997, 12) und „Geschlecht und Klasse bedingen sich gegenseitig“ (Walby 1997, 14). „Gender relations impact on the economy as a whole, and thus on class structure“ (Walby 1997, 13). In Klassengesellschaften sind die Klassen die Produktionsverhältnisse, in denen die Arbeitenden einen Mehrwert produzieren, der von der herrschen‐ den Klasse angeeignet wird und ihr gehört. Die Produktionsverhältnisse sind die wirtschaftlichen Dimensionen der Gesellschaft. Die gesellschaft‐ liche Produktion ist das grundlegende Merkmal der Gesellschaft (Fuchs 2020a). Die Klassenverhältnisse sind die wirtschaftlichen Produktionsver‐ hältnisse. Rassismus und Patriarchat sind einerseits Teil der Ökonomie in der Form von rassistischen und patriarchalen Ausbeutungsformen. Ande‐ rerseits sind sie aber auch Produktionsverhältnisse, die sich im politischen und kulturellen System abspielen. Das heißt, Rassismus und Patriarchat haben einen ökonomischen Aspekt, der der kapitalistischen Wirtschaft immanent ist, und sie haben eine ökonomische Dimension der Produktion, die außerhalb der Wirtschaft als die Produktion von geschlechtsspezifischer und rassistischer politischer Macht, sexistischer Ideologie und rassistischer Ideologie funktioniert. Im Kapitalismus sind rassistische Arbeitsverhältnisse oft Formen extremer Ausbeutung. Hausarbeit als „Reproduktionssphäre“ ist „eine Quelle der Wertschöpfung und Ausbeutung“ (Federici 2004, 7). Gleichzeitig gibt es politische und ideologische Dimensionen von Rassismus und Patriarchat, die mit der kapitalistischen Ökonomie zusammenhängen, da letztere die Regulierung, Rechtfertigung und Mystifizierung „der in ihre sozialen Beziehungen eingebauten Widersprüche“ erfordert (Federici 2004, 17). Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien & die Cultural Studies Die Frage, wie Klasse, Rassismus und Geschlecht zusammenhängen, hat auch in der Kontroverse zwischen PÖKM und Cultural Studies in den 1990er Jahren eine wichtige Rolle gespielt. Die Cultural Studies sind ein weiterer Ansatz innerhalb der Medien- und Kommunikationswissenschaften. Er ent‐ stand in den 1960er Jahren am Centre for Contemporary Cultural Studies an 5.3 Kapitalismus, Patriarchat, Rassismus & die Politische Ökonomie 165 <?page no="166"?> der Universität Birmingham. Stuart Hall (1932-2014), der das Zentrum von 1969 bis 1979 leitete, ist der einflussreichste Wissenschaftler der Cultural Studies. Die Cultural Studies haben ihren Ursprung im Vereinigten König‐ reich und haben sich in viele Teile der Welt ausgebreitet. Zu den bekannten Vertreter: innen der Cultural Studies gehören neben Hall beispielsweise Paul Du Gay, John Fiske, Paul Gilroy, Lawrence Grossberg, John Hartley, Dick Hebdige, Henry Jenkins, Richard Johnson, David Morley, Angela McRobbie und Paul Willis. In den 1990er Jahren gab es Kontroversen und Debatten zwischen der Politischen Ökonomie und den Cultural Studies. Im Grunde handelte es sich um einen Konflikt um die Hegemonie in der Kritischen Medien- und Kommunikationswissenschaft. Eine Kernfrage war, wie wir über das Verhältnis von Wirtschaft und Kultur sowie über Klassen- und Identitäts‐ politik denken sollten. Eine solche Kontroverse fand zwischen Nicholas Garnham und Lawrence Grossberg in der Zeitschrift Critical Studies in Mass Communication statt (Garnham 1995a, 1995b; Grossberg 1995). Garnham argumentierte: „[Political Economy sees] class - namely, the structure of access to the means of production and the structure of the distribution of the economic surplus - as the key to the structure of domination, while cultural studies sees gender and race, along with other potential markers of difference, as alternative structures of domination in no way determined by class. […] How is it possible to study multi-culturalism or diasporic culture without studying the flows of labor migra‐ tion and their determinants that have largely created these cultures? […] How is it possible to study advertising or shopping, let alone celebrate their liberating potential, without studying processes of manufacturing, retailing and marketing that make those cultural practices possible“ (Garnham 1995a, 70, 71). Für Garnham sind also Klassenfragen die Hauptfragen der heutigen Gesell‐ schaft, mit der sich die kritische Medien- und Kommunikationswissenschaft auseinandersetzen müsse. Er lehnt es nicht ab, sich mit Rassimus und Patriarchat im Kontext der Medien zu beschäftigten, betont aber, dass solche Analysen mit Klassenanalysen integriert werden müssten. Grossberg hat eine andere Auffassung und antwortete wie folgt: „For Garnham, apparently, capital determines in a mechanical way from start to finish. […] [His] version of political economy is too reductionist and reflectionist for cultural studies. […] [For] political economy, in every instance, in every 166 5 Die Kritische Tradition in der Analyse von Medien u.a. <?page no="167"?> context, somehow, almost magically, the economic appears to be the bottom line, the final and real solution to the problem, the thing that holds everything together and makes everything what it is. That is why, I believe, Hall argues that such reductionism and reflectionism are intrinsic to Marxism (and by extension, to political economy). Everything seems to be locked into place, guaranteed by economic relations. Garnham’s own vocabulary betrays this“ (Grossberg 1995, 76, 78, 79). Grossberg wirft Garnham also vor, dass dieser Gesellschaft und Medien auf die Ökonomie reduziere. Für Garnham sind Rassismus und Geschlech‐ terverhältnisse notwendigerweise mit dem Klassenverhältnis verbunden, während für Grossberg die Wirtschaft relativ autonom von anderen Teilen der Gesellschaft funktioniert und die Klasse relativ autonom von Geschlecht und Rassismus ist. Douglas Kellner schlug einen multiperspektivischen Ansatz vor, der sowohl die Politische Ökonomie als auch die Cultural Studies umfasst, eine „multikulturelle Perspektive von Geschlecht, Rasse und Klasse“ (Kellner 1997, 110). Es ist unbestritten, dass alle drei Kategorien in vielen Analysen wichtig sind, aber ein multiperspektivischer Ansatz hat das Problem, dass es sich um eine Multifaktoranalyse handelt, die einfach Faktoren addiert, ohne die Dominanzverhältnisse zwischen diesen Faktoren zu sehen. Die Politische Ökonomie vertritt dagegen die Auffassung, dass die Klasse „das axiale Prinzip“ des Kapitalismus und „der Ort primärer gesellschaftlicher Unterschiede“ ist (Ferguson & Golding 1997, xxv). Das bedeutet nicht, dass die Klassenverhältnisse die Geschlechterverhältnisse und den Rassismus bestimmen, sondern dass im Kapitalismus Geschlecht und Rassismus not‐ wendigerweise in einer Beziehung zur Klasse stehen und nicht unabhängig von Kapital und Arbeit existieren. Die Ökonomie - und im Kapitalismus heißt das Klasse - bestimmt, wie Stuart Hall (1996, 44) sagt, „in erster Instanz“ die Gesellschaft. Was das genau bedeutet, lässt Stuart Hall offen. Ich neige dazu, diese Formulierung so zu verstehen, dass, wie Raymond Williams sagt, das Ökonomische in der Gesellschaft im Allgemeinen und die Klasse in Klassengesellschaften und im Kapitalismus in ihrer Beziehung zum Nicht-Ökonomischen als „das Setzen von Grenzen und das Ausüben von Druck“ (Williams 2005, 34) gedacht werden sollten. Darüber hinaus wirkt das Ökonomische außerhalb des Wirtschaftssystems in Form von Produktionsprozessen innerhalb anderer Systeme, was bedeutet, dass in Klassengesellschaften Klassenverhältnisse Grenzen setzen, Druck ausüben 5.3 Kapitalismus, Patriarchat, Rassismus & die Politische Ökonomie 167 <?page no="168"?> und von der Wirtschaft aus in andere Systeme hineinreichen, wo sie mit anderen sozialen Beziehungen und gesellschaftlichen Verhältnissen interagieren. Kurz vor seinem Tod sagte Stuart Hall, dass die zeitgenössischen Cultu‐ ral Studies oft nicht „eine marxistische Tradition des kritischen Denkens erweitern - […] und das ist eine echte Schwäche“ ( Jhally 2016, 338). In „ihrem Versuch, sich vom ökonomischen Reduktionismus wegzubewegen, haben sie vergessen, dass es überhaupt eine Ökonomie gibt“ (337). Er forderte eine „Rückkehr zu dem, worum es in den Cultural Studies eigentlich gehen sollte und was sie in der Anfangsphase waren“ (338). Heute konzentrieren sich die Cultural Studies mehr auf Medienkonsum, Publikum, Rezeption, Populärkultur, Fankultur, Jugendkultur, Subkulturen, Rassismus und Sexismus in den Medien und in der Kultur, Darstellung von Identitäten in den Medien und kulturelle Deutungskämpfe als die Politische Ökonomie. Und die Politische Ökonomie beschäftigt sich mehr mit Medienproduktion, Kulturarbeit, Medienunternehmen, Klasse und Me‐ dien, Ideologiekritik, öffentlich-rechtliche Medien und Arbeitskämpfe im Medienkontext als die Cultural Studies. Die Grenzen zwischen diesen beiden Traditionen sind aber teilweise auch elastischer geworden und verschwimmen in gewisser Hinsicht. Die Untersuchungsgegenstände haben sich teilweise angenähert. Eine wichtige Entwicklung sowohl in der Politischen Ökonomie (z. B. Dyer-Witheford 2015; Fuchs 2014; Huws 2003; Mosco & McKercher 2008) als auch in den Critical Cultural Studies (z. B. Gill 2002, 2011; McRobbie 2016; Miller et al. 2004; Ross 2009) ist die Analyse von medialer, kultureller und digitaler Arbeit und der globalen Arbeitsteilung im Kontext von Neoliberalismus und Kapitalismus, was bedeutet, dass Klasse in beiden Traditionen ernst genommen wird. Vincent Mosco stellt in diesem Zusammenhang fest, dass in den Medien- und Kommunikationswissenschaften „ein echter Arbeits‐ standpunkt zu entstehen begonnen hat“ (Mosco 2015, 45). Wir können hinzufügen, dass sowohl Wissenschaftler: innen der Politischen Ökonomie als auch der Cultural Studies wichtige Beiträge zu dieser Entwicklung geleistet haben (siehe auch die Beiträge in The Routledge Companion to Labor and Media, Maxwell 2016). 168 5 Die Kritische Tradition in der Analyse von Medien u.a. <?page no="169"?> Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien & der Feminismus Die Analyse von Gender und Rassismus im Kontext der Medien ist kein externer Faktor, sondern ein Aspekt der Politischen Ökonomie der Kom‐ munikation und der Medien. Dies wird zum Beispiel in dem Sammelband Sex & Money. Feminism and Political Economy in the Media (Meehan & Riordan 2002) von Eileen R. Meehan und Ellen Riordan deutlich. Die Her‐ ausgeberinnen beschreiben die Aufgabe einer Feministischen Politischen Ökonomie der Medien wie folgt: „sex plus money equals power. Addressing this equation in media studies resquires the integration of feminism and political economy. This integrative approach is not simply a matter of adding one to the other. Rather, we argue that all media structures, agents, processes, and expressions find their raison d’être in relationships shaped by sex and money” (Riordan & Meehan 2002, x). Ellen Riordan (2002) argumentiert, dass eine Feministische Politische Ökonomie der Medien analysieren muss, wie die Produktion und der Konsum von Medienwaren das Leben von Frauen prägen. Micky Lee betont, wie wichtig es ist, die Feministische Politische Ökonomie auf die Analyse der digitalen Technologien und der Informati‐ onsgesellschaft anzuwenden: „women should be situated and understood in the context of unequal global wealth distribution, where they serve as resources in the production, distribution, and consumption process of the information society” (Lee 2006, 191). Marx (1857) verstand die Methode der Politischen Ökonomie als Analyse der Dialektik von Produktion, Zirkulation und Konsumtion. Im kommu‐ nikativen Kapitalismus und im heutigen digitalen Kapitalismus sind das Publikum werbefinanzierter Medien und die Nutzer: innen werbebasierter Internetplattformen unbezahlte Zuschauer: innen und digitale Arbeiter: in‐ nen. Die Feministische Politische Ökonomie hat Riordans (2002) methodi‐ sche Leitlinie umgesetzt, dass sich die Feministische Politische Ökonomie der Medien sowohl auf die Produktion als auch auf den Konsum von Medien konzentrieren sollte, was deren Dialektik in Form von Medienprosumtion einschließt. Feministische Politische Ökonominnen haben beispielsweise das geschlechtsspezifische Warenpublikum (Meehan 2002), die digitale Arbeit als digitale Hausarbeit ( Jarrett 2016) und die Arbeit von Social-Me‐ dia-Produzent: innen wie Influencer: innen und Blogger: innen analysiert, die in einem Umfeld der Werbekultur und ständigen Werbung agieren (Duffy 2017, 2015). 5.3 Kapitalismus, Patriarchat, Rassismus & die Politische Ökonomie 169 <?page no="170"?> Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien & die Analyse des Rassismus Die PÖKM hat auch das Verhältnis von Kapitalismus, Kommunikation und Rassismus analysiert. Oscar H. Gandy (2007, 110) fordert „eine Politische Ökonomie der Kom‐ munikation, die sensibel ist für die Rolle, die die Identität sowohl in der Pro‐ duktion als auch im Konsum spielt“ und dadurch „unser Verständnis der Art und Weise fördern kann, in der die unternehmerische Kontrolle der Medien und anderer kultureller Institutionen […] dazu beiträgt, Ungleichheit durch die Bildung einer isolierten rassifizierten Klasse zu reproduzieren“. Gandys (1998) Buch Communication and Race ist ein herausragendes Beispiel, das einen theoretischen und methodologischen Rahmen und eine Forschungs‐ agenda vorgibt und die vorhandenen Forschungsergebnisse im Lichte dieses Rahmens interpretiert. Gandy zeigt, wie Rassismus die Produktion, die Distribution und den Konsum von Information im Kapitalismus prägt. Gandy hat analysiert, wie Überwachungs-, Publikums-, Verbraucher- und Nutzermessungsalgorithmen im Kapitalismus funktionieren und wie dabei häufig nach rassistischen Gesichtspunkten diskriminiert werden. Er hat gezeigt, dass die soziale Sortierung panoptisch, kapitalistisch und rassistisch ist und dass sich diese Aspekte überschneiden. Die panoptische Sortierung ist ein Überwachungssystem, das Menschen identifiziert, klassifiziert und bewertet (Gandy 2021, Kapitel 2). „[Identification focuses on the data processing and data storage of] persons with histories, records, and resources when those persons or agents of those persons present a card, form, signature, claim, or response, or when they present them‐ selves at a particular place or time. […] Classification involves the assignment of individuals to conceptual groups on the basis of identifying information. […] Assessment represents a particular form of comparative classification. Individuals are compared with others. […] Once classification has occurred, assessment frequently involves the examination of probabilities - that is, the likelihood that a person will act, react, or interact in a particular way to a situation or circumstance” (Gandy 2021, 29-30, 32). Gandy argumentiert also, dass die panoptische Sortierung diskriminierend ist und daher anfällig für Rassismus. Es gibt zwei Hauptformen der panop‐ tischen Sortierung, die „staatliche Informationsbeschaffung“ (Gandy 2021, 73) und die „Datenmaschine der Unternehmen“ (78). In vielen Algorithmen 170 5 Die Kritische Tradition in der Analyse von Medien u.a. <?page no="171"?> und Systemen, die sortieren und überwachen, ist Voreingenommenheit eingebaut: „The panoptic sort institutionalizes bias because the blind spots in its visual field are compensated for by a common tendency to fill in the missing with the familiar or with that which is expected“ (Gandy 2021, 31). Gandy (2009) argumentiert, dass es einen Zusammenhang zwischen panoptischer Sortierung und kumulativen Nachteilen gibt: „Cumulative disadvantage refers to the ways in which historical disadvantages cumulate over time, and across categories of experience“ (Gandy 2009, 12). So können die Zugehörigkeit zu einer Zielgruppe und Nachteile bei der panoptischen Sortierung leicht negative Auswirkungen haben. „People who have bad luck in one area, are likely to suffer from bad luck in other areas as well“ (Gandy 2009 ,116). Wenn Sie farbig, arm, arbeitslos, krank oder ein Mitglied der Arbeiterklasse sind und in einem benachteiligten Gebiet leben, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Sie von einem panoptischen Sortiersystem wie dem Datamining diskriminiert werden. Prädiktive Algorithmen und Sortiermechanismen, die auf bestimmten Merkmalen und Verhaltensweisen beruhen, berechnen, dass eine Person zu einer Risikogruppe gehört, was leicht zu Diskriminierungen führen kann, wie z. B. der Verweigerung be‐ stimmter Dienstleistungen, dem Angebot von Dienstleistungen geringerer Qualität zu einem höheren Preis (z. B. eine Hypothek, ein Darlehen, ein Auto usw.) oder der falschen Einstufung von Personen als Krimineller. „Once they have been identified as criminals, or even as potential criminals, poor people, and black people in particular, are systematically barred from the opportunities they might otherwise use to improve their status in life” (Gandy 2009, 141). Die Analyse der politischen Ökonomie des Rassismus und der Medien wurde durch Werke wie Safiya Noble's (2018) Algorithms of Oppression weiterentwickelt. Sie analysiert die politische Ökonomie von Suchmaschi‐ nen, insbesondere die Algorithmen von Google, und zeigt auf, wie das Zusammenspiel von digitalem Kapitalismus, Rassismus und Sexismus zu dem geführt hat, was sie „Algorithmen der Unterdrückung“ nennt. Sie zeigt, wie der Google-Algorithmus rassistische, sexistische und andere Formen von diskriminierenden Ergebnissen liefert. Google behauptet, dass seine Algorithmen neutral sind. Noble sagt in diesem Zusammenhang: „As a result of the lack of African Americans and people with deeper knowledge of sordid history of racism and sexism working in Silicon Valley, products are designed with a lack of careful analysis about their potential impact on a diverse array of people. If Google software engineers are not responsible 5.3 Kapitalismus, Patriarchat, Rassismus & die Politische Ökonomie 171 <?page no="172"?> for the design of their algorithms, then who is? “ (66). Ein Algorithmus ist ein Ausdruck von Unterdrückung, wenn er „Informationen verzerrt - in Richtung weitgehend stereotyper und dekontextualisierter Ergebnisse, zumindest wenn es um bestimmte Gruppen von Menschen geht“ (56). Solche Vorurteile werden oft „durch Werbeprofite gestützt“ (116). Noble schreibt, dass „öffentliche Suchalternativen“ (86), die sich im Besitz der Öffentlichkeit befinden und von öffentlich-rechtlichen Organisationen betrieben werden, Teil der Möglichkeiten sind, Algorithmen der Unterdrückung zu überwin‐ den. Ähnlich wie Nobles Ansatz, aber in einem anderen Kontext, zeigt Meehan, wie Werbung oft voreingenommen ist und „jeden diskriminiert, der nicht zur Zielgruppe der weißen, 18bis 34-jährigen, heterosexuellen, englischsprachigen, gehobenen Männer gehört“ (Meehan 2002, 220). Für die Politische Ökonomie sind die Medien nicht nur wirtschaftliche Organisationen, sondern gleichzeitig auch kulturelle und politische Orga‐ nisationen, die als solche mit ihrem wirtschaftlichen Charakter interagie‐ ren. Das bedeutet, dass die Profitorientierung der kapitalistischen Medien Auswirkungen darauf haben kann, welche Inhalte produziert und nicht produziert werden und wie sie produziert werden. Die Ideologiekritik ist daher ein wichtiger Aspekt der Politischen Ökonomie der Kommunikation und der Medien. Vertreter: innen des Ansatzes der Kritischen Diskursanalyse (KDA) wie Norman Fairclough und Ruth Wodak haben analysiert, wie Ideologie funktioniert und welche Rolle sie in der Gesellschaft spielt. KDA ist eine Forschungstradition, die eng mit der Linguistik verbunden ist (siehe z. B. Fairclough 2015 sowie Wodak & Meyer 2001 für einen Überblick). Es handelt sich um einen transdisziplinären Ansatz, weshalb Fairclough (2013, 484) argumentiert: „we need political economic analysis, and for discourse analysis to contribute to social research it needs to be embedded within transdisciplinary frameworks which theorise and develop methodologies for analysing what I see as dialectical relations between discourse and other elements. Cultural political economy is just one such framework“. Die KDA hat gezeigt, wie Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitis‐ mus, Nationalismus, Neoliberalismus usw. als Ideologien funktionieren. Die KDA ist nicht innerhalb, sondern außerhalb der Politischen Ökonomie der Kommunikation und der Medien (PÖKM) entstanden und entwickelt worden, ist also nicht Teil der letztgenannten Tradition. Wir können jedoch sagen, dass die KDA ein wichtiger Ansatz und eine wichtige Methode ist, die auch in Studien, die sich der PÖKM widmen, genutzt und angewendet werden sollte (siehe z. B. Fuchs 2022a, 2022c, 2021a, 2020d, 2018a, 2018b). 172 5 Die Kritische Tradition in der Analyse von Medien u.a. <?page no="173"?> PÖKM ist wie die KDA ein transdisziplinärer Ansatz, der sich mit einer Vielzahl von kritischen Ansätzen und Traditionen auseinandersetzt. Die Diskussion zeigt, dass die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien neben anderen Forschungsgegenständen auch Analysen von Patriarchat und Rassismus im Kontext von Medien und Kapitalismus liefert. Sie ignoriert diese wichtigen Analysethemen weder, noch reduziert sie sie auf Klasse und Wirtschaft. Sie hält hingegen fest, dass in der kapi‐ talistischen Gesellschaft die Geschlechterverhältnisse und der Rassismus immer mit Klasse, Arbeit und Kapital zusammenhängen. 5.4 Schlussfolgerungen - Erkenntnis 1: Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien (PÖKM) ist eine Tradition innerhalb der Medien- und Kommunikationswissenschaft. Die PÖKM existiert global und wird heute in vielen Teilen der Welt prak‐ tiziert. Institutionalisiert ist sie in Form der Political Economy Sektion in der International Association for Media and Communication Research (htt ps: / / iamcr.org/ s-wg/ section/ poe), Lehrveranstaltungen und Studiengängen, Lehrbüchern, Monographien, Sammelbänden und Zeitschriften wie tripleC: Communication, Capitalism & Critique (http: / / www.triple-c.at) und The Political Economy of Communication (https: / / www.polecom.org/ ). - Erkenntnis 2: Klasse, Patriarchat und Rassismus im Kontext der Medien Die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien hat unter an‐ derem Analysen von Patriarchat und Rassismus im Kontext von Medien und Kapitalismus vorangetrieben. Sie ignoriert diese wichtigen Analysethemen nicht und reduziert sie nicht auf Klasse und Wirtschaft. Sie hält hingegen fest, dass in der kapitalistischen Gesellschaft die Geschlechterverhältnisse und der Rassismus immer mit Klasse, Arbeit und Kapital zusammenhängen. 5.4 Schlussfolgerungen 173 <?page no="174"?> Literatur Aouragh, Miriyam. 2012. Palestine Online: Transnationalism, the Internet and the Construction of Identity. New York: I.B. Tauris. Artz, Lee, Hrsg. 2017. The Pink Tide: Media Access and Political Power in Latin America. Lanham, MD: Rowman & Littlefield. Ashraf, Syed Irfan. 2021. The Dark Side of News Fixing: The Culture and Political Economy of Global Media in Pakistan. London: Anthem Press. Banaji, Shakuntala. 2017. Children and Media in India. Narratives of Class, Agency and Social Change. New York: Routledge. Birkinbine, Benjamin, Rodrigo Gómez & Janet Wasko, Hrsg. 2017. Global Media Giants. New York: Routledge. Bolaño, César, Guillermo Mastrini & Francisco Sierra, Hrsg. 2012. Political Economy, Communication and Knowledge: A Latin American Perspective. 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Zweite Ausgabe: Kapitel 4: The Development of a Political Economy of Commu‐ nication (S. 65-81) / Kapitel 5: The Political Economy of Communication: Building a Foundation (S.-82-103) / Kapitel 6: The Political Economy of Communication Today (S.-104-126) Janet Wasko. 2013. The IAMCR Political Economy Section: A Retrospective. The Political Economy of Communication 1 (1): 4-8. John A. Lent. 1995. A Different Road Taken: Profiles in Critical Communication. Boulder, CO: Westview Press. John A. Lent & Michelle A. Amazeen, Hrsg. 2015. Key Thinkers in Critical Communi‐ cation Scholarship. From the Pioneers to the Next Generation. Basingstoke: Palgrave Macmillan. 182 5 Die Kritische Tradition in der Analyse von Medien u.a. <?page no="183"?> Oscar H. Gandy. 2007. Privatization and Identity: The Formation of a Racial Class. In Media in the Age of Marketization, hrsg. von Graham Murdock & Janet Wasko, 109-130. Cresskill, NJ: Hampton. Janet Wasko. 2014. 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Verwenden Sie bei der Suche Schlüsselwortkombinationen wie “Po‐ litical Economy” AND (communication OR media OR culture OR communications: OR digital OR Internet) Lesen Sie die Artikel, die Sie gefunden haben. Diskutieren Sie: Welche Themen haben die Vertreter: innen des Ansatzes der Politi‐ schen Ökonomie der Kommunikation und der Medien (PÖKM) in dem von Ihnen untersuchten Zeitraum analysiert? Was waren die wichtigsten Forschungsthemen? Was sind die Merkmale von Studien, die den PÖKM-Ansatz verwen‐ den? Welche Forschungsfragen werden in den analysierten Arbeiten ge‐ stellt? Welche methodologischen und theoretischen Ansätze werden ver‐ wendet? Wie unterscheidet sich PÖKM von anderen Ansätzen? Schauen Sie sich einen bestimmten Artikel an, den Sie gefunden haben und der die PÖKM verwendet. Fragen Sie sich: Welche Art von Forschungsfragen würde jemand, der die Lasswell-Formel anwendet, Literatur, empfohlene Lektüre und Übungen 183 <?page no="184"?> zum selben Thema stellen? Was ist der Unterschied zwischen der traditionellen Medien- und Kommunikationsforschung, die die Lass‐ well-Formel verwendet, und der Forschung, die die PÖKM verwendet? 184 5 Die Kritische Tradition in der Analyse von Medien u.a. <?page no="185"?> TEIL 2: ANWENDUNGEN <?page no="187"?> Aufgabe Merke Frage Literatur Wissen Zusatz Link / www Checkliste Ziele ICON SET 5 6 Die Politische Ökonomie der Medienkonzentration Was Sie in diesem Kapitel lernen werden: Sie lernen Kapitalstrategien der Medienkonzentration kennen. Sie erfahren etwas über die Ursachen und Folgen der Medienkonzen‐ tration. Sie lernen, wie man den C4-Koeffizienten und den Herfindahl-Hirsch‐ man-Index zur Messung der Medienkonzentration verwendet. 6.1 Einleitung Märkte sind dynamische Wirtschaftssysteme, in denen Waren gehandelt werden. Ihre Entwicklung ist unvorhersehbar. In der kapitalistischen Wirt‐ schaft gibt es die Tendenz, dass sich Monopole herausbilden. Man spricht auch von der Tendenz zur wirtschaftlichen Konzentration. In Anbetracht des besonderen Charakters von Medienorganisationen als Produzenten und Verleger von Informationen wirkt sich ein kapitalistisches oder autoritäres Medienmonopol, bei dem eine wirtschaftlich, politisch oder ideologisch kontrollierte Medienorganisation dominiert, negativ auf die Demokratie aus und zerstört sie. Es gibt einen inhärenten Zusammenhang zwischen Fragen der Medienkonzentration und der Demokratie. Medienkonzentration ist da‐ her ein wichtiges Thema für die Politische Ökonomie der Kommunikation. Dieses Kapitel stellt die Frage: Wie funktioniert die politische Ökonomie der Medienkonzentration? Was sind die Ursachen, Auswirkungen und Probleme der Medienkonzentration? In Abschnitt 6.2 werden Strategien der Medienkonzentration erörtert, in Abschnitt 6.3 Ursachen und Auswirkungen der Medienkonzentration und in Abschnitt 6.4, wie Medienkonzentration definiert und gemessen werden kann. In Abschnitt 6.5 werden Schlussfolgerungen gezogen. 6.2 Strategien der Medienkonzentration Wirtschaftliche Konzentration bedeutet, dass es nur eine kleine Anzahl von Unternehmen gibt, die bestimmte Märkte beherrschen, die Mehrheit <?page no="188"?> des Eigentums und des Kapitals besitzen, die auf diesen Märkten tätig sind, und die Mehrheit der Arbeitskraft und des Umsatzes auf diesem Markt kontrollieren. Bei der Medienkonzentration handelt es sich um eine wirtschaftliche Konzentration, die in der Medienbranche stattfindet. - Ein Beispiel: Internet-Suche Schauen wir uns ein Beispiel an. Tabelle 6.1 zeigt den weltweiten Anteil der Internetsuchen, die über bestimmte Suchmaschinen durchgeführt werden. Rang Suchma‐ schine Anteil an Suchen Unter‐ nehmen Unternehmenssitz 1 Google 71,61% Google/ Alphabet USA 2 Bing 21,11% Microsoft USA 3 Yahoo! 2,53% Verizon USA 4 Yandex 2,27% Yandex Rußland 5 Baidu 1,56% Baidu China 6 DuckDuckGo 0,59% Duck‐ DuckGo USA 7 Ecosia 0,10% Ecosia GmbH -Deutschland 8 Naver 0,09% Naver Corp Südkorea 9 Other 0,14% - - Tabelle 6.1: Anteil der Suchanfragen, die auf Desktop- und Laptop-Computern, Tablets und Mobiltelefonen von 4/ 2022 bis 3/ 2023 durchgeführt wurden, Datenquelle: http: / / www.net marketshare.com Google hat eine Monopolstellung in der Welt der Online-Suche. Es gibt nur wenige andere Akteure, die nur sehr kleine Anteile der weltweiten Online-Suchen kontrollieren. Google wurde im Jahr 1998 gegründet. Die Suchtechnologie des Unternehmens war anderen zu dieser Zeit verwende‐ ten Algorithmen überlegen, was ihm Vorteile auf dem Markt verschaffte. Google etablierte sich als die weltweit wichtigste Suchmaschine, was zum 188 6 Die Politische Ökonomie der Medienkonzentration <?page no="189"?> 22 Datenquelle: https: / / www.forbes.com/ lists/ global2000/ , abgerufen am 31. Oktober 2021 und am 14. Dezember 2022. 23 Datenquelle: Alphabet SEC-Filings 10-K for financial year 2020, abgerufen auf https: / / www.sec.gov/ am 31. Oktober 2021. Ausbau des Marktanteils beitrug. Darüber hinaus lockte Google die Nut‐ zer: innen mit der Entwicklung von immer mehr kostenlosen Diensten wie Gmail (Webmail, eingeführt 2004), Google Maps (Navigation, eingeführt 2005), Google Docs (Textverarbeitung, eingeführt 2006), Google Sheets (Tabellenkalkulation, eingeführt 2006), Google Forms (Online-Umfragen, eingeführt 2008), Google Drive (Cloud-Speicher, eingeführt 2012) usw. Die kostenlosen Dienste locken die Nutzer: innen zum zentralen Suchdienst von Google. Im Jahr 2015 benannte sich das Unternehmen von Google Inc. in Alphabet Inc. um. Google/ Alphabet ist auch Eigentümer von YouTube, der weltweit führenden Plattform für die Publikation nutzergenerierter Videos. YouTube wurde 2005 ins Leben gerufen. Durch die Bereitstellung kostenloser Dienste in Kombination mit dem Kapitalakkumulationsmodell der gezielten Online-Werbung, bei dem viele Daten über das Online-Verhalten der Nutzer: innen gesammelt und ihnen Anzeigen präsentiert werden, die ihre Interessen widerspiegeln, wuchs das Kapital von Google schnell. Laut der Forbes-Liste 2000 der größten börsennotierten Unternehmen der Welt war Google/ Alphabet im Jahr 2021 das dreizehntgrößte Unternehmen der Welt und im Jahr 2022 das elftgrößte 22 . Eine gute Möglichkeit, mehr über die Finanzgeschäfte trans‐ nationaler Unternehmen herauszufinden, ist durch die Lektüre ihrer jähr‐ lichen Finanzberichte. An der Börse notierte Unternehmen wie Google stellen normalerweise solche Berichte mit Finanzdaten zur Verfügung. Bei Unternehmen, deren Aktien in den USA gehandelt werden, wird das entsprechende Formular als SEC 10-K-Formular bezeichnet. Die SEC ist die Securities and Exchange Commission und reguliert die Finanzwirtschaft der USA. Häufig sind die Finanzberichte von Unternehmen auf deren Websites in einer Rubrik namens „Investor Relations“ zu finden. Laut dem Jahresfinanzbericht von Google für 2020 erzielte das Unterneh‐ men im Jahr 2020 einen Umsatz von 182,5 Milliarden US-Dollar und einen Profit (auch „Nettoeinkommen“ [net income] genannt) von 40,2 Milliarden US-Dollar 23 . Google erwirtschaftet den größten Teil seiner Einnahmen mit digitalen Anzeigen. Im Jahr 2020 belief sich der weltweite Anzeigenumsatz auf 665,9 Milliarden US-Dollar und der weltweite digitale Anzeigenumsatz 6.2 Strategien der Medienkonzentration 189 <?page no="190"?> 24 Datenquelle: World Advertising Research Center, https: / / www.warc.com/ data/ adspen d, abgerufen am 31. Oktober 2021. 25 Datenquelle: Facebook SEC-Filings 10-K for financial year 2020, abgerufen auf https: / / www.sec.gov/ am 1. November 2021. 26 Datenquellen: https: / / www.statista.com/ statistics/ 236943/ global-advertising-spending / , https: / / www.statista.com/ statistics/ 237974/ online-advertising-spending-worldwide/ , abgerufen am 14. Dezember 2022. 27 Datenquelle: Alphabet SEC-Filings 10-K für das Finanzjahr 2021, abgerufen über https: / / www.sec.gov/ am 14. Dezember 2022. 28 Datenquelle: Facebook SEC-Filings 10-K für das Finanzjahr 2021, abgerufen über https: / / www.sec.gov/ am 14. Dezember 2022. auf 391,7 Milliarden US-Dollar 24 . Das bedeutet, dass die digitale Werbung 58,8 % der weltweiten Werbeumsätze ausmachte. Auf Google entfielen 27,4 % der weltweiten Werbeeinnahmen und 46,6 % der globalen digitalen Werbeeinnahmen. Facebook ist nach Google die zweitgrößte Werbeagentur der Welt. Im Jahr 2020 beliefen sich seine Einnahmen auf 86,0 Milliarden US-Dollar und seine Gewinne auf 29,1 Milliarden US-Dollar 25 . Im Jahr 2020 entfielen auf Google und Facebook mit einem gemeinsamen Werbeumsatz von 268,5 Milliarden US-Dollar 40,3 Prozent des weltweiten Werbeumsatzes und 68,5 Prozent des globalen digitalen Werbeumsatzes. Die beiden Unter‐ nehmen sind nicht in erster Linie Technologieunternehmen, sondern die größten Werbeagenturen der Welt. Sie bilden ein digitales Werbeduopol, was bedeutet, dass Google und Facebook zusammen die Mehrheit des Kapitals und des Umsatzes in der digitalen Werbebranche kontrollieren. Im Jahr 2021 beliefen sich die globalen Werbeeinnahmen auf 772,41 Milliarden US-Dollar und die globalen digitalen Werbeeinnahmen auf 521,02 Milliarden US-Dollar 26 . Im Jahr 2021 lag der Profit von Alphabet/ Google bei 76,0 Milliarden US-Dollar und der Umsatz bei 257,6 Milliarden US-Dollar 27 . 2021 benannte sich Facebook in Meta Platforms um. Im selben Jahr betrug der Umsatz des Unternehmens 117,9 Milliarden US-Dollar und der Profit 39,4 Milliarden US-Dollar 28 . Diesen Daten zufolge kontrollierten Alphabet und Meta im Jahr 2021 zusammen 48,6 Prozent der weltweiten Werbeeinnahmen und 72,1 Prozent der globalen digitalen Werbeeinnahmen. Im Vergleich zu 2020 waren diese Anteile im Jahr 2021 angestiegen. Alphabet und Meta sind digitale Werbegiganten und die größten Werbekonzerne der Welt. 2017 verhängte die EU gegen Google eine Geldstrafe in der Höhe von 2,4 Milliarden Euro wegen des Missbrauchs von Monopolmacht. Es hieß, Google habe die Suchergebnisse für Einkäufe so manipuliert, dass seine eigene Einkaufsplattform Google Shopping privilegiert wurde. 2018 verhängte 190 6 Die Politische Ökonomie der Medienkonzentration <?page no="191"?> die EU ein Bußgeld in der Höhe von 4,34 Milliarden Euro gegen Google, weil Google nach Ansicht der EU von Telefon- und Tablet-Herstellern, die das Google-Betriebssystem Android verwenden wollten, verlangte, den Google-Webbrowser Chrome und die Google-Such-App vorzuinstallieren. Im Jahr 2019 verhängte die EU gegen Google eine Geldstrafe in Höhe von 1,5 Milliarden Euro. Sie argumentierte, dass Google in Verträgen mit Unterneh‐ men, die an Googles AdSense-Programm teilnehmen, Exklusivitätsklauseln verwendete. Diese Verträge untersagten es diesen Google-Partnern, andere Online-Werbedienste zu nutzen. Die drei Beispiele zeigen, dass das Monopolkapital über eine immense Macht verfügt, um das Verhalten von Kunden und Nutzern zu kontrollieren, um seine eigene Unternehmensmacht zu erweitern. Konzentrationsstrategien Es gibt vier Konzentrationsstrategien, mit denen Unternehmen versuchen, ihre Kontrolle über die wirtschaftliche Macht zu erhöhen: ● horizontale Integration; ● vertikale Integration; ● Konglomeratbildung; ● strategische Allianzen. Horizontale Integration bedeutet, dass ein Unternehmen mindestens ein anderes Unternehmen im gleichen Wirtschaftszweig erwirbt. (Doyle 2013, 36-37; Hesmondhalgh 2013, 30; McChesney 2004, 177). Vertikale Integration bedeutet, dass ein Unternehmen mindestens ein anderes Unternehmen in benachbarten Wirtschaftszweigen aufkauft (Doyle 2013, 37-38; Hesmondhalgh 2013, 30, 200-204; McChesney 2004, 180; Turow 2010, 198). Ein Beispiel aus dem Mediensektor ist die Integration von Unternehmen für Medieninhalte und Unternehmen für Medientechnologie, d. h. Medienproduktion und -vertrieb. Konglomeratbildung bedeutet, dass ein Unternehmen in qualitativ unterschiedlichen Geschäftsbereichen tätig ist und in diesen oder weitere Bereiche expandiert (Doyle 2013, 37; Hesmondhalgh 2013, 195-200; McChesney 2004,183-185; Turow 2010, 207-209). In strategischen Allianzen arbeiten Unternehmen zusammen, um Geld zu sparen, Wettbewerb zu vermeiden, Risiken zu teilen oder gegen einen anderen Akteur zu konkurrieren (Hesmondhalgh 2013, 212-215). 6.2 Strategien der Medienkonzentration 191 <?page no="192"?> Das Beispiel von Rupert Murdoch Werfen wir einen Blick auf Beispiele für diese Strategien der Medienkon‐ zentration. Die News Corporation ist das Kommunikationsimperium des Medienmoguls Rupert Murdoch. Der Familie Murdoch gehören Zeitungen wie The Sun und The Times im Vereinigten Königreich sowie das Wall Street Journal und die New York Post in den USA, Fernsehsender wie Fox und Fox News und der Buchverlag HarperCollins. Viele von Murdochs Medien sind berüchtigt für ihre Parteilichkeit, ihren Boulevardstil, ihre Sensationslust und die Verbreitung rechtsgerichteter Ideologie. Murdochs Imperium dominiert die britische Presse. Eine in sieben europäischen Ländern (Großbritannien, Dänemark, Finnland, Frankreich, Deutschland, Norwegen und Schweden) durchgeführte Umfrage über die Presse ergab, dass „die britischen Medien in Bezug auf die Berichterstattung über die Themen Kriminalität, Wirtschaft, Gesundheit, Wohnen und Einwanderung als rechtslastig angesehen werden“ und dass die britische Presse die rechts‐ lastigste in Europa ist (Dahlgreen 2016). Im Jahr 2020, bevor sein Twitter-Profil gelöscht wurde, hatte Donald Trump mehr als 85 Millionen Follower. Er folgte 50 anderen Nutzer: in‐ nen. Darunter waren viele Fox News-Moderatoren und -Moderatorinnen wie @SeanHannity, @TuckerCarlson, @JudgeJeanine, @MariaBartiromo, @JesseBWatters, @DiamondandSilk und die Fox News-Sendungen @Fo‐ xandFriends. All dies sind treue Trump-Anhänger: innen, die Tag für Tag Pro-Trump-Propaganda liefern. Als im März 2020 angesichts der Tötung von George Floyd durch die Polizei in Minneapolis Proteste und Unruhen ausbrachen, twitterte Trump: „…These THUGS are dishonoring the memory of George Floyd, and I won’t let that happen. Just spoke to Governor Tim Walz and told him that the Military is with him all the way. Any difficulty and we will assume control but, when the looting starts, the shooting starts. Thank you! ” Trump wurde weithin dafür kritisiert, dass er gedroht hatte, das Militär gegen US-Bürger: innen einzusetzen. Einer derjenigen, die Trump unter‐ stützten, war der Moderator der Fox News-Talkshow Sean Hannity, der am 29. Mai 2020 twitterte: „MINNEAPOLIS UPDATE: President Trump Says Mi‐ litary Available to Stop Looting, Restore Peace”. Das Beispiel zeigt, wie sehr viele Mitarbeiter von FOX News ideologisch mit rechts-rechter Ideologie übereinstimmen und wie sie die Fernsehnachrichten und Talkshows für die 192 6 Die Politische Ökonomie der Medienkonzentration <?page no="193"?> Verbreitung rechter Propaganda nutzen. Die Phrase „when the looting starts, the shooting starts“ („Wenn die Plünderung beginnt, beginnt die Schießerei“) hat einen rassistischen Hintergrund. Im Jahr 1967 verwendete der Polizei‐ chef von Miami, Walter Headley, diesen Satz angesichts von Unruhen in Vierteln, in denen primär Afro-Amerikaner: innen leben (Rosenwald 2020). Die News Corporation geht auf das australische Unternehmen News Limited zurück, das 1923 gegründet wurde. News Limited wurde 1979 zur News Corporation. News Corp baute seine wirtschaftliche und kulturelle Macht durch Strategien der Medienkonzentration aus. Einerseits erwarb das Unternehmen Zeitungen, das Kerngeschäft, in dem es bereits in Australien tätig war. Zu diesen Übernahmen gehörten News of the World (1969), New York Post (1976), The Times (1981) und Dow Jones & Company Inc. (2007), die das Wall Street Journal betreibt. Ein Beispiel für vertikale Integration ist Murdochs Expansion in die Film‐ produktionsbranche. 20th Century Fox entstand aus dem Zusammenschluss von 20th Century Filmstudio und Fox, also von Filmproduktionsstudios und Fernsehsendern, die Programme vertreiben. Vor der Gründung von 20th Century Fox war Murdoch nur in der Druckindustrie tätig und konzentrierte sich auf Zeitungen. Im Jahr 1985 erwarb Murdoch das Filmstudio 20th Century Fox für insgesamt 575 Millionen US-Dollar. Im Jahr 1985 kaufte News Corp die Fernsehsender von Metromedia für 3,5 Milliarden US-Dollar. 1986 gründete Murdoch die Fox Television Stations. Der Grundgedanke war, dass die vertikale Integration es ermöglicht, den Profit zu steigern, indem man sowohl mit der Filmproduktion als auch mit den Fernsehsendern, der Kommerzialisierung von Inhalten und der Verbreitung von Inhalten Geld verdient. Murdochs Imperium produzierte populäre Inhalte wie Star Wars, Ice Age, Planet der Affen, The Simpsons, American Idol, X-Files, Family Guy und verdiente nicht nur an den Filmvorführungen, sondern auch an der Werbung, die während der Ausstrahlung dieser Inhalte auf den Fernsehsendern lief. Murdochs Medienimperium entwickelte sich von einem einzelnen Me‐ dienunternehmen, das sich auf die Presse konzentrierte, zu einem Konglo‐ merat. Murdoch nutzte das Konglomerat zur Expansion in verschiedene Wirtschaftsbereiche, um seine Gewinne zu steigern. News Corp konzentrierte sich zunächst auf den Printbereich, wurde aber zunehmend auch im Rundfunk und im Internet aktiv. Im Jahr 1985 ermöglichte der Kauf der Metromedia TV-Sender die Gründung der Fox 6.2 Strategien der Medienkonzentration 193 <?page no="194"?> 29 Datenquelle: https: / / www.alexa.com/ topsites, abgerufen am 25. Oktober 2021. 30 Datenquelle: https: / / www.alexa.com/ , abgerufen am 25. Oktober 2021. Broadcasting Company. Murdoch setzte die Expansion im Rundfunkbe‐ reich fort, indem er beispielsweise Star TV in Hongkong erwarb. Seit der Jahrtausendwende expandierte das Murdoch-Imperium in die Internet‐ wirtschaft, indem es 2005 die Unterhaltungswebsite International Gaming Network, 2005 die Social-Networking-Website MySpace, 2013 die Social-Me‐ dia-Nachrichtenagentur und Content-Aggregatoren Storyful und 2014 das Immobilienunternehmen Move Inc. erwarb, das Immobilienplattformen wie realtor.com betreibt. Hulu.com ist ein Beispiel für eine strategische Allianz. Es handelt sich um eine Videoplattform, die versucht, mit Googles YouTube zu konkurrieren. Hulu wurde 2007 als strategische Allianz von NBC Universal (jetzt im Besitz von Comcast), News Corporation und Walt Disney gegründet und bildete Hulu.com. Im Jahr 2016 kaufte Time Warner Teile von Hulu. Im Jahr 2018 wurde Time Warner von AT&T übernommen. Im Jahr 2019 erwarb Disney den Anteil von AT&T und den von 21st Century Fox. Im Jahr 2021 besaß Disney 67 % von Hulu und Comcast 33 %. Hulu war nie in der Lage, mit YouTube zu konkurrieren. Letzteres gehört seit langem zu den drei meistgenutzten Webplattformen. Im Jahr 2021 war YouTube die am zweithäufigsten genutzte Internetplattform 29 und Hulu auf Platz 205 der meistgenutzten Websites 30 . Die Walt Disney Corporation Die Übernahme von 20th Century Fox durch Disney im Jahr 2019 ist ebenfalls ein Beispiel für horizontale Integration. Disney ist im Film- und Fernsehgeschäft tätig und erwarb Filmstudios und Filmrechte von 20th Century Fox. 20th Century Fox war die Filmproduktions- und Fernsehabteilung des Murdoch-Konzerns. Sie umfasste Fernsehsender (Fox, Fox News, National Geographic TV Channels usw.), Filmproduktion und -vertrieb sowie Ka‐ belnetzprogramme. Im Jahr 2019 erwarb die Walt Disney Company Teile von 20th Century Fox für 71 Milliarden US-Dollar, darunter die Hulu-Betei‐ ligung, Kabel- und Satellitenfernsehsender und die 20th Century Filmstu‐ dios. Murdoch behielt Teile des Fernsehgeschäfts und gründete die Fox Corporation, die Eigentümerin der Fox-TV-Sender ist. Disney startete 2019 194 6 Die Politische Ökonomie der Medienkonzentration <?page no="195"?> seine Video-Streaming-Plattform Disney+. Es will mit Netflix und Amazon Prime konkurrieren. Dabei war die Übernahme von 20th Century Fox ein strategischer Schachzug, der Disney Zugang zu populären Inhalten wie der X-Men-Filmreihe, Avatar, Star Wars usw. verschafft. „The acquisition of Fox was especially significant in expanding Disney’s direct-to-consumer offerings, not only with the addition of 21st Century Fox’s entertainment content, but a controlling interest in Hulu. Disney’s own streaming services include ESPN+ (started in 2018) and Disney+ (launched in 2019), which has become the streaming site for new releases from companies in the Disney Multiverse” (Wasko 2020, 45). Tabelle 6.2 zeigt eine Übersicht über die meistverkauften Filme der Welt. Disney ist der Hauptakteur, aber 20th Century Fox spielt mit Filmen wie Avatar, Titanic, Star Wars oder Ice Age ebenfalls eine sehr wichtige Rolle. Durch die Übernahme von 20th Century Fox verfügt Disney über ein umfangreiches Filmarchiv, das es zur Förderung seiner Kapitalakkumulati‐ onsstrategien und Interessen nutzt. Rang Filmtitel Jahr Bruttoum‐ satz über die gesamte Lebens‐ dauer Vertrieb 1 Avatar 2009 $2.922.917.914 20 th Century Fox 2 Avengers: Endgame 2019 $2.797.501.328 Disney 3 Titanic 1997 $2.201.647.264 Paramount Pictures, 20 th Century Fox 4 Star Wars VII - The Force Awakens 2015 $2.069.521.700 Disney 5 Avengers: Infinity War 2018 $2.048.359.754 Disney 6 Spider-Man: No Way Home 2021 $1.916.306.995 Sony Pictures Enter‐ tainment 7 Jurassic World 2015 $1.671.537.444 Universal Pictures 8 The Lion King 2019 $1.663.250.487 Disney 9 The Avengers 2012 $1.518.815.515 Disney 6.2 Strategien der Medienkonzentration 195 <?page no="196"?> 31 https: / / www.the-numbers.com/ market/ distributor/ 20th-Century-Fox, abgerufen am 1. November 2021. Rang Filmtitel Jahr Bruttoum‐ satz über die gesamte Lebens‐ dauer Vertrieb 10 Furious 7 2015 $1.515.341.399 Universal Pictures 11 Top Gun: Maverick 2022 $1.488.576.503 Paramount Pictures 12 Frozen II 2019 $1.450.026.933 Disney 13 Avengers: Age of Ultron 2015 $1.402.809.540 Disney 14 Black Panther 2018 $1.382.248.826 Disney 15 Harry Potter and the Deathly Hal‐ lows: Part 2 - 2011 $1.342.359.942 Warner Bros. 46 Star Wars Episode I 1999 $1.027.082.707 20 th Century Fox 67 Bohemian Rhap‐ sody 2018 $910.809.311 20 th Century Fox 73 Ice Age: Dawn of the Dinosaurs 2009 $886.686.817 20 th Century Fox 76 Ice Age: Continen‐ tal Drift 2012 $877.244.782 20 th Century Fox 79 Star Wars Episode III 2005 $868.390.560 20 th Century Fox 91 Independence Day 1996 $817.400.891 20 th Century Fox Tabelle 6.2: Die meistverkauften Filme aller Zeiten. Datenquelle: https: / / www.boxofficem ojo.com/ chart/ top_lifetime_gross/ ? area=XWW. abgerufen am 14. Dezember 2022 Im Jahr 2018 kontrollierte 20th Century Fox 9.1 Prozent der weltweiten Kinokassenumsätze 31 und Disney 26,2 Prozent. Im Jahr 2019, dem Jahr der 196 6 Die Politische Ökonomie der Medienkonzentration <?page no="197"?> 32 Ebd. Übernahme von 20th Century Fox durch Disney, stieg der Anteil von Disney auf 33,2 % 32 . Rang Unterneh‐ men Filme Einnahmen durch Ticket‐ verkauf Anzahl ver‐ kaufte Tickets Um‐ satz‐ anteil 1 Walt Disney 587 $41.951.258.961 5.912.438.870 17,06% 2 Warner Bros. 823 $37.263.551.533 5.309.160.933 15,16% 3 Sony Pictures 747 $30.686.033.541 4.465.171.923 12,48% 4 Universal 535 $29.633.843.336 4.174.115.294 12,05% 5 20th Century Fox 525 $25.882.657.988 3.795.188.109 10,53% 6 Paramount Pictures 492 $25.684.175.588 3.791.238.296 10,45% 7 Lionsgate 426 $9.724.601.619 1.231.397.462 3,96% 8 New Line 208 $6.195.248.024 1.116.404.118 2,52% 9 Dreamworks SKG 77 $4.278.649.271 760.431.349 1,74% 10 Miramax 384 $3.836.019.208 714.108.890 1,56% 11 MGM 239 $3.709.722.832 664.477.969 1,51% 12 Fox Search‐ light 227 $2.608.358.365 364.761.933 1,06% 13 Focus Fea‐ tures 204 $2.506.967.392 324.009.468 1,02% 14 Weinstein Co. 173 $2.207.186.458 279.587.721 0,90% 15 Summit En‐ tertainment 40 $1.667.022.795 217.204.346 0,68% Tabelle 6.3: Unternehmen. die den weltweiten Umsatz an den Kinokassen dominieren. 1995-2022. Datenquelle: https: / / www.the-numbers.com/ current/ market/ distributors, ab‐ gerufen am 14. Dezember 2022 6.2 Strategien der Medienkonzentration 197 <?page no="198"?> Tabelle 6.3 zeigt die weltweit dominierenden Unternehmen bei den Kinokar‐ tenverkäufen in den Jahren von 1995 bis 2021. Disney ist das dominierende Unternehmen bei den Kinokartenverkäufen. Durch die Übernahme von 20th Century Fox erhielt es Zugang zum Filmkatalog des fünft- und zwölftgröß‐ ten Filmverleihers (20th Century Fox, Fox Searchlight). Die politische Ökonomin der Kommunikation Janet Wasko hat Studien zur politischen Ökonomie von Disney und Hollywood durchgeführt (Wasko 2020. 2003). Sie weist darauf hin, dass Disney ein Megakonzern ist, der den Unterhaltungssektor beherrscht: „The Disney company, however, represents one of the best examples of the synergy that takes place through the cross-ownership of media and entertainment outlets and the recycling of products across these businesses. […] What exists now is a mega-corporation that dominates much of the entertainment industry” (Wasko 2020, 262, 264). Disney wurde als ideologischer Inhalt kritisiert, der unrealistische Bilder der Realität und des Konsumverhaltens propagiert. Ariel Dorfman und Armand Mattelart argumentieren: „all the relationships in the Disney world are compulsively consumerist; com‐ modities in the marketplace of objects and ideas. […] The Disney industrial empire itself arose to service a society demanding entertainment; it is part of an entertainment network whose business it is to feed leisure with more leisure disguised as fantasy. The cultural industry is the sole remaining machine which has purged its contents of society’s industrial conflicts, and therefore is the only means of escape into a future which otherwise is implacably blocked by reality. It is a playground to which all children (and adults) can come, and which very few can leave” (Dorfman and Mattelart 1991, 96). Alan Bryman bezeichnet die Globalisierung der Konsumkultur, des Brand‐ ings, des Merchandisings, der Kontrolle und Überwachung der Arbeitskräfte und der emotionalen, prekären Arbeit als die Disneyisierung (Disneyisation) der Gesellschaft. Disneyisierung bedeutet „the process by which the prin‐ ciples of the Disney theme parks are coming to dominate more and more sectors of American society as well as the rest of the world” (Bryman 2004, 1). Nach der Erörterung der Strategien der Medienkonzentration werden wir als nächstes fragen: Was sind die Ursachen der Medienkonzentration? Welche Auswirkungen hat die Medienkonzentration auf die Gesellschaft? 198 6 Die Politische Ökonomie der Medienkonzentration <?page no="199"?> 6.3 Ursachen und Auswirkungen der Medienkonzentration Ursachen der Medienkonzentration Die Kritische Politische Ökonomie argumentiert, dass die Kapitalkonzent‐ ration ein inhärentes Merkmal und Ergebnis der Kapitalakkumulation ist. Der Wettbewerb hat monopolistische Tendenzen, die Logik der Wettbe‐ werbsmärkte und des Austauschs selbst treibt die Unternehmen dazu, nach Strategien zu suchen, die es ihnen ermöglichen, die Investitionskosten zu senken und die Produktivität zu steigern, so dass sie billiger produzieren können als ihre Konkurrenten, was langfristig zum Konkurs der weniger produktiven Unternehmen und zu einer Tendenz zur Kapitalkonzentration führt. Marx argumentiert, dass technologisch bedingte Produktivitätssteigerun‐ gen, das Kreditsystem und die Finanzialisierung Faktoren sind, die die Zentralisierung des Kapitals vorantreiben: „Der Konkurrenzkampf wird durch Verwohlfeilerung der Waren geführt. Die Wohlfeilheit der Waren hängt, caeteris paribus, von der Produktivität der Arbeit, diese aber von der Stufenleiter der Produktion ab. Die größeren Kapitale schlagen daher die kleineren. Man erinnert sich ferner, dass mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise der Minimalumfang des individuellen Kapitals wächst, das erheischt ist, um ein Geschäft unter seinen normalen Bedingungen zu betreiben. Die kleineren Kapitale drängen sich daher in Produktionssphären, deren sich die große Industrie nur noch sporadisch oder unvollkommen bemäch‐ tigt hat. Die Konkurrenz rast hier im direkten Verhältnis zur Anzahl und im umgekehrten Verhältnis zur Größe der rivalisierenden Kapitale. Sie endet stets mit Untergang vieler kleineren Kapitalisten, deren Kapitale teils in die Hand des Siegers übergehn, teils untergehn. Abgesehn hiervon bildet sich mit der kapitalistischen Produktion eine ganz neue Macht, das Kreditwesen, das in seinen Anfängen verstohlen, als bescheidne Beihilfe der Akkumulation, sich einschleicht, durch unsichtbare Fäden die über die Oberfläche der Gesellschaft in größern oder kleinern Massen zersplitterten Geldmittel in die Hände individueller oder assoziierter Kapitalisten zieht, aber bald eine neue und furchtbare Waffe im Konkurrenzkampf wird und sich schließlich in einen ungeheuren sozialen Mechanismus zur Zentralisation der Kapitale verwandelt“ (Marx 1867, 654-655). 6.3 Ursachen und Auswirkungen der Medienkonzentration 199 <?page no="200"?> Marx (1894) schreibt, dass Kredit und Finanzialisierung „in gewissen Sphä‐ ren das Monopol“ herstellen, wodurch sich „eine neue Finanzaristokratie“ bildet und reproduziert und „ein ganzes System des Schwindels und Betrugs mit Bezug auf Gründungen, Aktienausgabe und Aktienhandel” geschaffen wird (454). Ein Monopol bedeutet „eine Aufhebung der kapitalistischen Privatindustrie auf Grundlage des kapitalistischen Systems selbst” (454). Die Monopoltendenz beschleunigt „die gewaltsamen Ausbrüche dieses Widerspruchs“ (457). Die Medien-/ Informations-/ Kommunikationswirtschaft beinhaltet zum einen die Besonderheit, dass Inhalte produziert werden. Andererseits pro‐ duziert dieser Sektor auch Hardware (Informations- und Kommunikations‐ technologien) und Kommunikationsdienstleistungen. Es gibt fünf Merkmale des Informationssektors, die eine Kapitalkonzentration in der Medien-/ In‐ formations-/ Kommunikationswirtschaft begünstigen (siehe auch Mickleth‐ wait 1989): ● Die Regel der versunkenen Kosten: Die Schaffung von Informatio‐ nen und Wissen als Ware ist mit hohen anfänglichen Entwicklungs- und Investitionskosten verbunden. Diese Anfangskosten werden in das Produkt gesteckt und müssen durch ausreichende Verkäufe wieder her‐ eingeholt werden. Denken Sie zum Beispiel an einen Film. Daten zufolge betrugen die durchschnittlichen Kosten für die Produktion eines großen Films im Jahr 2020 65 Millionen US-Dollar (Mueller 2020). Nur wenige Unternehmen können das für eine solche Produktion benötigte hohe Kapital aufbringen, was dazu beiträgt, dass nur wenige Unternehmen in der Informationswirtschaft aktiv und wettbewerbsfähig sind. ● Die „Niemand weiß etwas“-Regel: Die Unterhaltungs-, Kultur- und Medienindustrie ist eine höchst unberechenbare Branche. Es ist auch höchst ungewiss und im Voraus unbekannt, ob Publikum und Nutzer: in‐ nen Interesse an einem bestimmten Buch, Film, einer Schallplatte, Software, Fernsehserie, Werbung, einem Mobiltelefon usw. haben wer‐ den, denn der menschliche Geschmack und die kulturellen Vorlieben sind komplex und können nicht berechnet werden. Die Produktion eines Kultur-/ Informations-/ Entertainment-/ Medienprodukts ist daher nicht nur teuer, sondern auch sehr riskant. Nicht viele Unternehmen sind bereit, so große Risiken einzugehen, was die Kapitalkonzentration begünstigt. 200 6 Die Politische Ökonomie der Medienkonzentration <?page no="201"?> ● Die Hit-Regel: In der Unterhaltungs- und Populärkulturbranche ist nicht jedes produzierte Gut ein Verkaufsschlager. Einzelne „Hits“ sorgen für einen großen Teil des Umsatzes und der Gewinne, während andere Produkte einen Verlust oder nur bescheidene Gewinne einbringen. Die Hit-Regel ist ein weiterer Aspekt der Ungewissheit, der eine Tätigkeit in der Medienbranche zu einem hohen Risiko macht und die Kapitalkon‐ zentration begünstigt. ● Die „Piraterie“-Regel: Information ist ein nichtstoffliches Gut, das beim Konsum nicht physisch verbraucht wird. Die ökonomische Güter‐ lehre argumentiert, dass solche Güter im Konsum nicht rivalisierend sind. Sie verwendet auch den Begriff der Rivalität im Konsum und sagt, dass öffentliche Güter eine geringe Konsumrivalität aufweisen, was bedeutet, dass die mehrfache Nutzung die Nutzbarkeit des Gutes nicht beeinträchtigt. Ein öffentliches Gut kann auch nach mehrfacher Nutzung noch verwendet werden und kann sogar von verschiedenen Personen parallel genutzt werden. Wenn Sie einen Apfel essen, dann kann Ihr Freund nicht denselben Apfel essen. Sie können aber beide gleichzeitig das gleiche Musikstück hören. Es ist auch schwierig, andere vom Zugang zu Informationen auszuschließen, da diese leicht kopiert und verbreitet werden können. Die ökonomische Güterlehre besagt, dass solche Güter den Nicht-Ausschluss anderer vom Konsum beinhal‐ ten. Infolge dieser besonderen Merkmale von Informationen ist die Ge‐ schichte der Informationswirtschaft auch eine Geschichte des Kopierens und der gemeinsamen Nutzung von Informationen („Piraterie“) durch die Nutzer: innen und des Versuchs der Industrie, diese gemeinsame Nutzung durch Gesetze zum Schutz des geistigen Eigentums, Krimina‐ lisierung, Überwachung und Sicherheitstechnologien zu verhindern. Infolgedessen birgt der Verkauf von Informationen als Ware das Risiko von Einkommensverlusten durch „Piraterie“. Dies ist ein weiteres hohes Risiko beim Verkauf von Informationen als Ware, welches die Zahl der auf dem Markt tätigen Unternehmen, die bereit sind, solche Risiken einzugehen, verringern kann, was wiederum die Kapitalkonzentration begünstigt. Der Versuch, die „Piraterie“ zu umgehen, ist teuer, da er Personal, Zeit und finanzielle Mittel erfordert. Nur große Unternehmen sind in der Lage, solche Investitionen zu tätigen. ● Die Anzeigen-Auflage-Spirale: Werbung ist ein wichtiges Merkmal der kapitalistischen Medienindustrie. Auf der einen Seite gibt es Medi‐ enunternehmen, die sich fast vollständig auf Werbung als Kapitalakku‐ 6.3 Ursachen und Auswirkungen der Medienkonzentration 201 <?page no="202"?> mulationsmodell verlassen. Beispiele dafür sind Konzerne wie Facebook und Google, die gezielte Online-Werbung, Gratiszeitungen oder frei zugängliche kommerzielle Fernseh- und Radiosender nutzen. Werbung ist ein politökonomischer Mechanismus, der tendenziell die Medienkon‐ zentration fördert. In der medienökonomischen Literatur spricht man in diesem Zusammenhang von der Anzeigen-Auflage-Spirale (siehe Fur‐ hoff 1973): Werbetreibende sind daran interessiert, Anzeigen in Medien zu kaufen, die ein großes Publikum erreichen. Sie werden sich daher eher für die großen kommerziellen Medien entscheiden, die Zugang zu einem derartigen Publikum anbieten. Die Medien, die eine hohe Auflage erreichen, haben ein größeres Publikum als ihre Konkurrenten. Ein größeres Publikum bedeutet tendenziell mehr Werbekunden und den Verkauf von mehr Anzeigen als bei der Konkurrenz, was sich in höheren werbebezogenen Gewinnen niederschlägt. Mehr Gewinne ermöglichen eine effektivere und effizientere Reinvestition des Kapitals in Strategien zur Steigerung des Zuschaueranteils. Wenn diese Strategien erfolgreich sind, steigt der Zuschaueranteil, was weitere Werbekunden anlockt. Große Zuschauerzahlen und Werbung verstärken sich dann gegenseitig in einer Spirale mit positiver Rückkopplung. Die Werbe-Auflagen-Spi‐ rale fördert die Kapitalkonzentration in der Medienbranche. Abbildung 6.1 zeigt das Grundmodell der ökonomischen Güterlehre. AUSSCHLUSS VOM KONSUM RIVALITÄT IM KONSUM Niedrige Rivalität im Konsum Hohe Rivalität im Konsum Einfacher Ausschluss Schwieriger Ausschluss ÖFFENTLICHE GÜTER Wissen Sonnenuntergang ALLMENDEGÜTER Bibliothek Bewässerungsanlage Park MAUT- ODER CLUBGÜTER Zeitschriften-Abo Kindertagesstätte PRIVATE GÜTER Computer Donut Abbildung 6.1: Die ökonomische Güterlehre (in Anlehnung an Hess und Ostrom 2007, 9) 202 6 Die Politische Ökonomie der Medienkonzentration <?page no="203"?> In der ökonomischen Güterlehre gibt es vier Arten von Gütern, die in Abbildung 6.1 dargestellt sind: ● Öffentliche Güter sind Güter, die eine niedrige Rivalität im Konsum und schwierige Ausschließbarkeit vom Konsum haben. ● Allmendegüter (Gemeingüter) sind Güter, die eine hohe Rivalität im Konsum und schwierige Ausschließbarkeit vom Konsum haben. ● Maut- oder Clubgüter sind Güter, die eine niedrige Rivalität im Konsum und einfache Ausschließbarkeit vom Konsum haben. ● Private Güter sind Güter, die eine hohe Rivalität im Konsum haben und eine einfache Ausschließbarkeit vom Konsum haben. Abbildung 6.1 zeigt Beispiele. In Bezug auf die Informations- und Medi‐ enwirtschaft besagt die ökonomische Güterlehre, dass Informationen ein öffentliches Gut sind, eine Bibliothek ein Gemeingut, eine abonnierte Zeit‐ schrift oder Zeitung ein gebührenpflichtiger Club, der nur einem bestimm‐ ten Kreis von Nutzern zugänglich ist, und ein Personal Computer ein privates Gut. Gillian Doyle (2013, 12-13) skizziert, warum Medieninhalte ihrer Ansicht nach ein öffentliches Gut sind: „If one person watches a television broadcast, it doesn’t diminish someone else’s opportunity of viewing it. Because it is not used up as it is consumed, the same content can be supplied over and over again to additional consumers. So television and radio broadcasts exhibit one of the key features of being a ‘public good’. Other cultural goods such as works of art also qualify as public goods because the act of consumption by one individual does not reduce their supply to others. Public goods contrast with normal or private goods in that private goods (such as a loaf of bread, jar of honey or pint of Guinness) will get used up as they are consumed. As soon as one person consumes a loaf of bread it is no longer available to anyone else. A loaf of bread can only be sold once. But when an idea or a story is sold, the seller still possesses it and can sell it over and over again”. Die institutionellen Politikwissenschaftler Marie Luise Kiefer und Christian Steininger (2014, 136) weisen darauf hin, dass das Fernsehen „beides sein kann: terrestrisch verbreitet ein reines öffentliches Gut, als Pay-TV organisiert ein Clubgut. […] Ein Film, ausgestrahlt im terrestrischen Fernsehen, ist ein reines öffentliches Gut für alle Rundfunkteilnehmer im Verbreitungsgebiet des Senders, derselbe Film, ausgestrahlt im Kino oder im Pay-TV, ist ein Clubgut für das jeweilige zahlende Publikum. […] Ein reines öffentliches Gut ist nach 6.3 Ursachen und Auswirkungen der Medienkonzentration 203 <?page no="204"?> den Definitionen der ökonomischen Güterlehre nur der drahtlos und unverzerrt verbreitete Rundfunk. Nichtausschließbarkeit (zu ökonomisch vernünftigen Kos‐ ten) und Nichtrivalität im Konsum sind in vollem Umfang für Medieninhalte und Träger gegeben. Der Träger hat die Eigenschaften eines öffentlichen Gutes allerdings nur auf dem Publikumsmarkt, nicht auf dem Markt der Frequenzen und Orbitalpositionen, wo die Definition und Durchsetzung von Eigentumsrechten im Prinzip möglich ist. […] Kabelfernsehen und Kabelhörfunk sowie alle Formen von Pay-TV oder Pay-Radio sind Club- oder Mautgüter, also öffentliche Güter im engeren Sinn“ (Kiefer und Steininger 2014, 136, 156, 157). Die ökonomische Güterlehre ist in der zeitgenössischen Mikroökonomie weithin anerkannt und gehört zum Lehrstoff der Mikroökonomie. So un‐ terscheidet Hal R. Varian, der 2002 Chefökonom von Google wurde und ein Vertreter der Neoklassischen Ökonomie ist, in seinem einführenden Lehrbuch Microeconomic Analysis zwischen privaten Gütern, „deren Kon‐ sum nur einen einzigen Wirtschaftsakteur betrifft“, wie z. B. Brot, und Gütern, „die nicht ausschließbar und nicht rivalisierend sind“, die er als „öffentliche Güter“ und für die er als Beispiele den „Schutz durch Polizei und Feuerwehr, Autobahnen, die Landesverteidigung, Leuchttürme, Fernseh- und Radiosendungen, saubere Luft usw.“ nennt (Varian 1992, 414). Das Grundproblem der ökonomischen Güterlehre besteht darin, dass sie die Begriffe „öffentlich“ und „privat“ auf der Grundlage immanenter Eigenschaften der Güter naturalisiert. Ein anderer Ansatz besteht darin, dass die Klassenbeziehungen, die das Eigentum bestimmen, als bestimmende Faktoren dafür angesehen werden, was ein öffentliches oder ein privates Gut ist. Die ökonomische Güterlehre ist eine konsumorientierte Theorie, während die Kritische Politische Ökonomie eine produktionsorientierte Theorie ist. Ein Gut ist privat, wenn die Produktionsmittel und das zu seiner Herstellung verwendete Kapital in privatem Besitz sind. Es ist ein öffentliches Gut, wenn sich die Produktionsmittel in öffentlichem Besitz befinden und das Gut der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt wird. Terrestrisches Fernsehen, das für alle frei zugänglich ist, ist nicht immer ein öffentliches Gut. Es ist ein öffentliches Gut, wenn es von einer öffent‐ lich-rechtlichen Medienanstalt betrieben wird. Es ist jedoch ein privates Gut, wenn es von einem privaten, gewinnorientierten Unternehmen betrieben wird, das Inhalte als eine Art „Gratis-Mittagsessen“ (Smythe 1977, 5) zur Verfügung stellt und Werbung verkauft, um Profit zu erzielen. 204 6 Die Politische Ökonomie der Medienkonzentration <?page no="205"?> Auswirkungen der Medienkonzentration auf die Gesellschaft Kritiker: innen der Medienkonzentration argumentieren, dass die Macht der Medien z. B. durch Maßnahmen wie Entflechtung, Asset Stripping (Unternehmenszerschlagung), öffentliche Dienstleistungen und staatliche Hilfen für kleine Anbieter begrenzt werden sollte (Kleinsteuber und Thomaß 2004, 144; Kleinsteuber 2004) bzw. dass die Prinzipien von Wettbewerb und Profit überwunden werden sollten (Knoche 2021, 2013, 2005, 2004). Robert McChesney (2004, 175) schreibt in diesem Zusammenhang: „[The] problem with market regulation is not merely a matter of economic concentration - even competitive markets are problematic. Perhaps we should not even expect the market to be the appropriate regulator for the media system” (McChesney 2004, 175). Manfred Knoche unterscheidet zwischen einer apologetisch-normativen Theorie des Wettbewerbs und einer kritisch-empirischen Theorie der Kon‐ zentration. Die erste argumentiert, dass der Wettbewerb ein normatives Ziel ist und die Konzentration eine zu vermeidende Ausnahme von der Wettbewerbsregel darstellt, während die zweite einen anderen Erklärungs‐ ansatz wählt: „In der empirisch-kritischen Konzentrationstheorie wird die mit der Profitmaximierung verbundene reale ökonomische Konkurrenz der individuellen Kapitaleigner als systematische, regelmäßige Ursache für Konzentrationsprozesse mit negativen Folgen für die Informations- und Meinungsfreiheit/ -vielfalt der Medien gesehen“ (Knoche 2013, 150). Kapi‐ talkonzentration und Marktkonzentration, so Knoche, sind die Regel des Kapitalismus, nicht eine Ausnahme von der Regel. Abbildung 6.2 veranschaulicht die beiden Theorien der Medienkonzen‐ tration, die Knoche unterscheidet. 6.3 Ursachen und Auswirkungen der Medienkonzentration 205 <?page no="206"?> Wettbewerbstheorie und Konzentrationstheorie Privatwirtschaftliche Medienunternehmen Publizistische Vielfalt Staat Gewinnstreben ökonomischer Wettbewerb (Leitbild) Privatisierungspolitik Wettbewerbspolitik Marktwettbewerb Wettbewerbsbeschränkung Marktbeherrschung Fusion Ausnahme: Konzentrationskontrolle Konzentrationsförderung „Sicherung“ Marktwettbewerb Konzentrationslegitimierung Publizistischer Wettbewerb „Funktionsfähiger Wettbewerb“ Publizistische Vielfalt Privatisierungspolitik Profitmaximierung ökonomische Konkurrenz (Wesenselement) Konkurrenzförderungspolitik Kapitalakkumulation -zentralisation Marktkonzentration Konzentrations- Förderungspolitik Unwirksame Konzentrationskontrolle Verschärfung Konkurrenz/ Kooperation Konzentrationslegitimierung Publizistische Konzentration Ausnahme: Apologetisch-normative Wettbewerbstheorie Kritisch-empirische Konzentrationstheorie Staat Publizistischer Wettbewerb Privatwirtschaftliche Medienunternehmen Abbildung 6.2: Zwei Theorien der Medienkonzentration (Quelle: Knoche 2021, übersetzt und nachgedruckt mit Genehmigung der Zeitschrift tripleC) Apologetisch-normative Theorien gehen davon aus, dass die Gewinninte‐ ressen privater Medienkonzerne zu wirtschaftlichem Wettbewerb und wett‐ bewerbsfähigen Märkten führen. Dysfunktionalitäten des Marktes seien Unregelmäßigkeiten, die der Staat durch eine Wettbewerbspolitik beheben könne, die den Wettbewerb wieder funktionsfähig mache. Der Markt würde die Vielfalt der Medien und ihrer Inhalte sichern. Demgegenüber argumen‐ tieren kritisch-empirische Konzentrationstheorien, dass die Zentralisierung des Kapitals und die Marktkonzentration dem Profitimperativ der Medien‐ konzerne immanent sind und dass der wirtschaftlichen Konkurrenz eine monopolistische Tendenz innewohnt, die zur Konzentration der Medien führt. Medienmonopole und Medienkonzentrationsprozesse haben verschie‐ dene Auswirkungen auf die Gesellschaft. ● Ideologische Macht: Unternehmen, die Inhalte produzieren oder orga‐ nisieren, haben die Macht, zu definieren, was die Menschen als richtige 206 6 Die Politische Ökonomie der Medienkonzentration <?page no="207"?> und wertvolle Sicht der Realität und als Wahrheit ansehen können. Unternehmensmonopole haben daher eine ideologische Funktion; sie können potenziell zur Vereinfachung komplexer Realitäten führen. Diese ideologische Macht ergibt sich aus der Tatsache ist, dass die Medien „ein produktives, in Privateigentum verwurzeltes System mit einem politischen System verbinden, das Bürger: innen voraussetzt, deren volle gesellschaftliche Teilhabe zum Teil vom Zugang zu einem größtmöglichen Angebot an Informationen und Analysen und zu einer offenen Debatte über strittige Fragen abhängt“ (Murdock 1990, 311). Medieneigentümer: innen können die Medienproduktion ideologisch beeinflussen, und Konglomeratseigentümer können ihre Medien für ihre eigenen Marketinginitiativen und zur Beeinflussung der Menschen nutzen (Murdock 1990, 314-315). ● Politische Macht: Im Kapitalismus ist Geld mit politischer Macht ver‐ woben; daher ermöglichen Monopole politischen Einfluss von kleinen Gruppen. ● Bedrohungen für die Demokratie und die Öffentlichkeit: Medien‐ monopole haben ideologische und politische Macht. Sie kontrollieren, wer und was in der Öffentlichkeit sichtbar ist und Beachtung findet. Sie zentralisieren also nicht nur das Kapital, sondern auch die Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit. Infolgedessen schränken Medienmonopole die Redefreiheit, die Meinungsfreiheit und die Freiheit der Medien und der Presse ein. ● Arbeitsstandards: Monopolunternehmen können in ihrem Wirt‐ schaftszweig niedrige Arbeitsstandards (insbesondere bei den Löhnen) festlegen. ● Preiskontrolle: Monopole haben die wirtschaftliche Macht, die Preise für Waren und Dienstleistungen zu kontrollieren. ● Kontrolle technologischer Standards: Monopole haben die Macht, technologische Standards zu definieren und zu kontrollieren. So argu‐ mentiert Lawrence Lessig (2002), dass Monopole wie das von Microsoft in den Bereichen der Betriebssysteme, der geistigen Eigentumsrechte an Technologie und der Softwarepatente die ursprüngliche Idee des Inter‐ nets zerstören, dass auf der Grundlage einer bestehenden gemeinsamen Architektur - Code, d. h. Protokolle und Software, die die Protokolle zum Laufen bringt - jeder Anwendungen und Inhalte erstellen kann. Monopolisten wie Microsoft oder AOL würden darauf abzielen, techno‐ logische Systeme zu monopolisieren und die potenzielle Vielfalt von 6.3 Ursachen und Auswirkungen der Medienkonzentration 207 <?page no="208"?> Code, Inhalten und Anwendungen einzuschränken. Eine Monopolisie‐ rung würde die Existenz von freiem Softwarecode und freien Inhalten bedrohen. ● Abhängigkeit der Kund: innen: Die monopolistische Kontrolle der Macht, technologische Standards zu definieren, bedeutet auch, dass die Kund: inn: en gezwungen sind, immer mehr Medientechnologien zu kaufen, um auf dem neuesten Stand zu bleiben. Dies kann zu einer zunehmenden Abhängigkeit der Kund: innen und Konsument: inn: en von den Produkten eines einzigen Unternehmens und zu steigenden Monopolprofiten führen. ● Wirtschaftliche Zentralisierung: Monopole leiten andere von wirt‐ schaftlichen Möglichkeiten ab. ● Mangel an Qualität: Ein: e Monopolist: in kümmert sich möglicher‐ weise weniger um die Qualität, weil es für die Verbraucher: innen keine Alternativen gibt, aus denen sie wählen können. ● Überwachung der Konsument: inn: en und Zensur: Wenn Inhalte und Anwendungen monopolisiert sind, d. h. die meisten Nutzer: in‐ nen auf bestimmte Produkte einzelner Unternehmen angewiesen sind, können Überwachungsmaßnahmen (d. h. Überwachung, statistische Auswertung und Aufzeichnung des Publikums- und Nutzerverhaltens, der von ihnen erstellten und konsumierten Inhalte sowie der Art und Weise, wie und was sie kommunizieren) und Zensur leichter und voll‐ ständiger durchgeführt werden als im Falle mehrerer konkurrierender Unternehmen. Dies gilt insbesondere für Kommunikationstechnologien wie dem Telefon und dem Internet. Der Strukturwandel der Öffentlichkeit: Reiche kapitalistische Medien, arme Demokratie Jürgen Habermas (1991) zeigt in seinem Buch Der Strukturwandel der Öffentlichkeit, dass mit dem Aufkommen der Werbefinanzierung der Presse eine Verschiebung der Medien „von der Gesinnungszur Geschäftspresse“ (278). Es gab einen Übergang von der politisch und ideologisch motivierten Presse zur kommerziell motivierten Presse. „Die Geschichte der großen Tageszeitungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beweist, dass die Presse im Maße ihrer Kommerzialisierung selbst manipulierbar wird. Seitdem der Absatz des redaktionellen Teiles mit dem Absatz des Annon‐ centeils in Wechselwirkung steht, wird die Presse, bis dahin Institution der 208 6 Die Politische Ökonomie der Medienkonzentration <?page no="209"?> Privatleute als Publikum, zur Institution bestimmter Publikumsteilnehmer als Privatleuten - nämlich zum Einfallstor privilegierter Privatinteressen in die Öffentlichkeit“ (280). Diese Entwicklungen gingen mit dem Aufstieg des Monopolkapitals einher. „In dem Maße, in dem aber die Öffentlichkeit für geschäftliche Werbung in Anspruch genommen wird, wirken unvermittelt Privatleute als Privateigentümer auf die Privatleute als Publikum ein. Dabei kommt, gewiss, die Kommerzialisierung der Presse der Verwandlung der Öffentlichkeit in ein Medium der Werbung entgegen: umgekehrt wird jene aber auch von Bedürfnissen einer Geschäftsreklame vorangetrieben, die autochthon aus ökonomischen Zusammenhängen entsprangen“ (Habermas 1990, 284). James Curran fasst Habermas‘ Erkenntnisse darüber, wie der Kapitalis‐ mus die Öffentlichkeit strukturell verändert hat, folgendermaßen zusam‐ men: „Modern media fell under the sway of public relations, advertising and big business. Whereas the early press had facilitated participation in reasoned public debate, the new mass media encouraged consumer apathy, presented politics as a spectacle and provided pre-packaged, convenience thought. The media, in short, managed the public rather than expressed the public will” (Curran 2002, 34). Robert McChesney fasst die negativen Auswirkungen der kapitalistischen Medienmonopole auf den öffentlichen Raum in der Formel „reiche Medien, arme Demokratie“ („rich media, poor democracy“) zusammen: „the media have become a significant anti-democratic force in the United States and, to varying degrees, worldwide. The wealthier and more powerful the corporate media giants have become, the poorer the prospects for participatory democracy. I am not arguing that all media are getting wealthier, of course. Some media firms and sectors are faltering and will falter during this turbulent era. But, on balance, the dominant media firms are larger and more influential than ever before, and the media writ large are more important in our social life than ever before. Nor do I believe the media are the sole or primary cause of the decline of democracy, but they are a part of the problem and closely linked to many of the other factors. Behind the lustrous glow of new technologies and electronic jargon, the media system has become increasingly concentrated and conglomerated into a relative handful of corporate hands. This concentration accentuates the core tendencies of a profit-driven, advertising-supported media system: hypercommercialism and denigration of journalism and public service. It is a poison pill for democracy” (McChesney 2015, 2). 6.3 Ursachen und Auswirkungen der Medienkonzentration 209 <?page no="210"?> Nachdem wir die Ursachen und Auswirkungen der Medienkonzentration erörtert haben, werden wir im nächsten Abschnitt fragen: Was ist Me‐ dienkonzentration und wie sollten wir sie definieren? Wie können wir Medienkonzentration messen? 6.4 Definition und Messung der Medienkonzentration Medienkonzentration ist „an increase in the presence of one or a handful of media companies in any market as a result of various possible processes: ac‐ quisitions, mergers, deals with other companies, or even the disappearance of competitors” (Sánchez-Tabernero 1993, 7; siehe auch Kiefer and Steininger 2014, 109-114; Meier and Trappel 1998, 41). Picard (1988) nennt folgende Indikatoren zur Messung der Medienkon‐ zentration: die Anzahl der Medieneinheiten im Besitz der größten Kette, die Gesamtauflage, die von der größten Kette kontrolliert wird, das Verhältnis zwischen dem Gesamtumsatz oder dem Anlagekapitals des einzelnen Spit‐ zenunternehmens oder der vier oder acht Spitzenunternehmen im Verhält‐ nis zu allen Unternehmen (Konzentrationskoeffizient), der Herfindahl-Index (der die Gesamtzahl der Unternehmen auf dem Markt und den Anteil der einzelnen Unternehmen an der Branche berücksichtigt). Sánchez-Tabernero (1993, 7-8) nennt als Indikatoren für die Medienkon‐ zentration die Messung des Umsatzes, des Gewinns, der Zahl der Beschäf‐ tigten, der Zahl der Titel/ Anbieter in einem Markt sowie die Marktanteile. Josifides (1997) erörtert die folgenden Methoden zur Messung der Me‐ dienkonzentration: politischer und kultureller Einfluss, Anzahl der Lizen‐ zen, die von einem einzigen Betreiber kontrolliert werden, Anzahl der Medieneinheiten, die einem einzigen Konzern unterstehen, Gesamteinnah‐ men (Werbeeinnahmen, Ausgaben der Konsument: inn: en für die Medien), Gesamtausgaben für die Erstellung von Programmen oder das Verlagswe‐ sen, Einfluss auf der Grundlage von Quersubventionierung (die Fähigkeit, Verluste durch Einnahmen aus anderen kontrollierten Unternehmen aus anderen Sektoren zu finanzieren), Publikumsanteil/ Verbreitungsanteil/ Hö‐ reranteil/ durchschnittliche tägliche Kontakte (online). Manfred Knoche (2013) unterscheidet zwischen der Messung von Kapi‐ tal- und Marktkonzentration auf der einen und journalistischer/ medialer Konzentration auf der anderen Seite. Und beide haben eine absolute und eine relative Dimension, die gemessen werden kann. „Die Konzentration 210 6 Die Politische Ökonomie der Medienkonzentration <?page no="211"?> im Mediensektor umfasst die ökonomische Konzentration, die als Markt- und Kapitalkonzentration erscheint, sowie die publizistische Konzentration, die sich auf die Konzentration redaktioneller Einheiten sowie auf die Homogenisierung von Inhalten bezieht” (Knoche 2013, 140). Die Kapitalkonzentration kann absolut als die Anzahl der Unternehmen sowie deren Gewinn, Umsatz, Anlagekapital oder Börsenkapitalisierung gemessen werden. Bei der Messung der relativen Kapitalkonzentration wird der Anteil bestimmter Unternehmen am gesamten Umsatz, Gewinn etc. in der relevanten Industrie, zu der sie gehören, ermittelt. Bei der absoluten Messung der journalistischen/ publizistischen/ medialen Konzentration wird die absolute Zahl der journalistischen/ medialen Einheiten ermittelt. Die relative Messung der publizistischen Konzentration konzentriert sich auf die Auflagenhöhe und die Einschaltquoten. „The main advantages of applying a revenue-based measure are first that it is a long established and tested method for measuring market concentration, and second that it provides a common currency of measurement across media” ( Josifides 1997, 660). Wie die Medienkonzentration gemessen wird, hängt in der Praxis oft davon ab, welche Daten verfügbar sind. Als nächstes werde ich zwei Maße für die Medienkonzentration vor‐ stellen, den C4-Koeffizienten und den Herfindahl-Hirschman-Index. Beide Maße können auf Finanzdaten und Publikumsdaten angewendet werden, je nachdem, welche Daten verfügbar sind. 6.4 Definition und Messung der Medienkonzentration 211 <?page no="212"?> Der C4-Koeffizient Der C4-Koeffizient wird wie folgt berechnet (Noam 2009, 47). C4-Koeffizient: - C4 j = ∑ i = 1 4 S ij -S ij = der Marktanteil von Unternehmen i in einem be‐ stimmten Wirtschaftszweig j Der C4-Koeffizient ist die Summe der Marktanteile der vier größten Eigen‐ tümergruppen. Je höher der C4-Koefizient, desto konzentrierter ist der Markt. In diesem Zusammenhang ist es methodisch wichtig, dass man sich ansieht, wer die Eigentümer bestimmter Medien sind, und die Daten nach Eigentümergruppen ordnet. In der britischen Presselandschaft besitzt Rupert Murdochs News UK sowohl die größte Boulevardzeitung des Landes, The Sun, als auch das Qualitätsblatt The Times. In Deutschland gehören der Axel Springer SE sowohl die größte Zeitung des Landes, die Bild-Zeitung, als auch die Qualitätszeitung Die Welt. Es ist ein Fehler, die Marktanteile dieser Einheiten getrennt zu betrachten. Die Daten müssen auf der Grundlage von Konzernen organisiert werden. Für jeden Konzern auf dem Markt wird der Gesamtmarktanteil ermittelt, dann werden die Daten vom höchsten zum niedrigsten Anteil geordnet und die Marktanteile der vier größten Unternehmen addiert. Der Herfindahl-Hirschman-Index Der Herfindahl-Hirschman-Index wird auf folgende Weise berechnet (siehe Noam 2009, 47). 212 6 Die Politische Ökonomie der Medienkonzentration <?page no="213"?> Herfindahl-Hirschman-Index (HHI) H H I j = ∑ i = 1 f S ij2 f = Anzahl der Konzerne, die in dem untersuchten Wirtschaftszweig tätig sind, S ij = der Marktanteil des Konzerns i in dem untersuchten Wirtschafts‐ zweig j. Interpretation des HHI: Niedriger Konzentrationsgrad: HHI < 1.000 mittlerer Konzentrationsgrad: 1.000 < HHI < 1.800 hoher Konzentrationsgrad: HHI > 1.800 Zur Berechnung des HHI werden die Daten zunächst nach Unternehmen gegliedert. Das bedeutet, dass die Daten von Unternehmen, die mehrere auf dem untersuchten Markt tätige Medien besitzen, addiert werden. Sobald man die Marktdaten nach Unternehmen geordnet hat, berechnet man den relativen Marktanteil jedes Unternehmens in Prozent. Die Summe aller Marktanteile sollte 100 Prozent ergeben. Der HHI kann nur mit Daten für einen gesamten Markt berechnet werden. Man quadriert die Marktanteile der einzelnen Unternehmen und summiert diese quadrierten Werte auf. Die daraus resultierende Zahl ist der HHI. Je nachdem, wie groß der HHI ist, wird der Markt als niedrig, mittel oder hoch konzentriert eingestuft. Die Berechnung der Medienkonzentration: Der britische Pressemarkt Führen wir nun eine Beispielrechnung durch, die zeigt, wie man den C4-Koeffizienten und den HHI berechnet. Die Daten in Tabelle 6.4 zeigen die Tagesreichweite der britischen Zeitungen. 6.4 Definition und Messung der Medienkonzentration 213 <?page no="214"?> Zeitung Eigentü‐ mer Art Durchschnittli‐ che tägliche Reichweite (in 1000) Anteil The Sun News UK Boulevard‐ zeitung 9.440 22,5% Daily Mail Daily Mail and General Trust Boulevard‐ zeitung 8.503 20,3% Daily Mirror Reach plc Boulevard‐ zeitung 6.641 15,8% Daily Tele‐ graph Telegraph Media Group Qualitätszei‐ tung 3.020 7,2% The Times News UK Qualitätszei‐ tung 2.580 6,1% The Guar‐ dian Guardian Me‐ dia Group Qualitätszei‐ tung 5.360 12,8% Daily Ex‐ press Reach plc Boulevard‐ zeitung 3.739 8,9% Daily Star Reach plc Boulevard‐ zeitung 1.564 3,7% i Daily Mail and General Trust Qualitätszei‐ tung 1.123 2,7% - - - Gesamt: 41.970 100% Tabelle 6.4: Tagesreichweite der national erscheinenden britischen Zeitungen Datenquelle: PAMCO 1/ 2021, April 2019-March 2020. Die Nachrichtenreich‐ weite umfasst den Zugang zu Nachrichten in gedruckter Form, auf Desk‐ top-Computern und über Telefone und Tablets. Eingeschlossen sind alle Zei‐ tungen, die landesweit in gedruckter Form und online veröffentlicht werden (mit Ausnahme der kostenlosen Pendlerzeitungen, die sich ausschließlich über Werbung finanzieren, was ein anderes Geschäftsmodell ist als die Kombination aus Anzeigen und Verkauf) Zunächst müssen die Daten nach Konzernen geordnet werden, so dass die Marktanteile derjenigen Unternehmen, die mehrere Zeitungen besitzen, 214 6 Die Politische Ökonomie der Medienkonzentration <?page no="215"?> zusammengerechnet werden. Die umstrukturierten Daten sind in Tabelle 6.5 dargestellt. Konzern Tägliche Pub‐ likumsreich‐ weite Marktan‐ teil (a) a 2 News UK 12.020 28,6% 817,96 Reach plc 11.944 28,5% 812,25 Daily Mail and Ge‐ neral Trust 9.626 22,9% 524,41 Guardian Media Group 5.360 12,8% 163,84 Telegraph Media Group 3.020 7,2% 51,84 Gesamt: 13.350 100,0% - Tabelle 6.5: Reorganisierte Daten zur Tagesreichweite britischer Tageszeitungen, die auf nationaler Ebene veröffentlicht werden Der C4-Koeffizient ergibt sich aus der Summe der Marktanteile der vier größten Konzerne: C4-Koeffizient = 28.6% + 28.5% + 22.9% + 12.8% = 92.8% Daraus lässt sich schließen, dass der britische Pressemarkt einen hohen Konzentrationsgrad aufweist. Der C4-Koeffizient hat den Nachteil, dass er nicht die wirtschaftliche Macht aller Marktteilnehmer in die Berechnung einbezieht. In unserem Beispiel müssen die Daten der Telegraph Media Group weggelassen werden. Der HHI hat den Vorteil, dass er auf der Grundlage der Marktanteile aller auf dem Markt konkurrierenden Konzerne berechnet wird. Lassen Sie uns nun den HHI für den britischen Pressemarkt berechnen. Tabelle 6.5 zeigt die quadrierten Werte aller Marktanteile. Um den HHI zu berechnen, müssen wir diese quadrierten Werte addieren: HHI = 28,6 2 + 28,5 2 + 22,9 2 + 12,8 2 + 7,2 2 = 817,96 + 812,25 + 524,41 + 163,84 + 51,84 = 2370,3 HHI-Werte über 1.800 bedeuten eine hohe Konzentration. Mit einem HHI von 2370,3 ist der nationale britische Zeitungsmarkt hoch konzentriert. 6.4 Definition und Messung der Medienkonzentration 215 <?page no="216"?> Die Berechnung der Medienkonzentration: Der deutsche Pressemarkt Werfen wir einen Blick auf ein zweites Beispiel: den deutschen Markt für überregionale Zeitungen. Tabelle 6.6 zeigt die relevanten Daten. Zeitung Reich‐ weite (in Mil‐ lionen) Eigentümer Markt‐ anteil a (%) Bild 7,35 Axel Springer SE 63,9 Süddeutsche Zei‐ tung 1,33 Süddeutsche Zeitung GmbH 11,6 Frankfurter Allge‐ meine Zeitung (FAZ) 0,94 Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH 8,2 Die Welt 0,85 Axel Springer SE 7,4 Handelsblatt 0,53 Handelsblatt Media Group (DvH Medien, Verlagsgruppe Holtz‐ brinck GmbH) 4,6 TAZ 0,3 taz Verlags- und Vertriebs GmbH 2,6 Neues Deutsch‐ land 0,197 Neues Deutschland Druckerei und Verlags GmbH 1,7 Gesamt: 11,497 - 100,0 Tabelle 6.6: Die Reichweite der überregionalen Zeitungen in Deutschland Datenquelle: ma Presse 2022/ II, https: / / www.ma-reichweiten.de/ reach, Daten für Neues Deutschland: https: / / www.nd-aktuell.de/ kontakt/ 9, abgerufen am 10. April 2023 Auch hier müssen wir die Daten auf der Grundlage der Gesamtmarktan‐ teile der involvierten Konzerne neu ordnen. Es wird deutlich, dass die Axel Springer SE den deutschen nationalen Zeitungsmarkt dominiert. Die neu geordneten Daten sind in Tabelle 6.7 dargestellt. 216 6 Die Politische Ökonomie der Medienkonzentration <?page no="217"?> Konzern Marktanteil a (%) a 2 Axel Springer SE 71,3 5087,0 Süddeutsche Zeitung GmbH 11,6 133,8 Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH 8,2 66,8 Handelsblatt Media Group (DvH Medien, Verlags‐ gruppe Holtzbrinck GmbH) 4,6 21,3 taz Verlags- und Vertriebs GmbH 2,6 6,8 Neues Deutschland Druckerei und Verlags GmbH 1,7 2,9 Tabelle 6.7: Reorganisierte Daten zur Tagesreichweite der deutschen überregionalen Zei‐ tungen Der C4-Koeffizient der deutschen Zeitungsindustrie ist: C4-Koeffizient = 71,3% + 11,6% + 8,2% + 4,6% = 95,7% Ein so hoher C4-Koeffizient zeigt, dass dieser Wirtschaftszweig hoch konzentriert ist. Der HHI ist: HHI = 71,3 2 + 11,6 2 + 8,2 2 + 4,6 2 + 2,6 2 + 1,7 2 = 5318,6 Ein HHI von rund 5.400 ist ein Hinweis auf eine sehr hoch konzentrierte Branche. Der Springer-Konzern beherrscht den deutschen Zeitungsmarkt. Sein Boulevardblatt Bild-Zeitung ist die mit Abstand meistgelesene Zeitung in Deutschland. Sie ist berüchtigt für ihre Sensationslust (siehe https: / / bildbl og.de/ ) und in Bezug auf Berichterstattung, Weltanschauung und Dominanz mit Murdochs Sun im Vereinigten Königreich vergleichbar. Die Berechnung der Medienkonzentration: Suchmaschinen Tabelle 6.8 zeigt Daten über die weltweite Nutzung von Suchmaschinen. 6.4 Definition und Messung der Medienkonzentration 217 <?page no="218"?> # Konzern Suchma‐ schine Land Anteil an Su‐ chen (a) a 2 1 Google/ Alphabet Google USA 71,61% 5127,9921 2 Microsoft Bing China 21,11% 445,6321 3 Verizon Yahoo! USA 2,53% 6,4009 4 Yandex Yandex USA 2,27% 5,1529 5 Baidu Baidu Russia 1,56% 2,4336 6 Duck‐ DuckGo DuckDuckGo Südkorea 0,59% 0,3481 7 Ecosia GmbH Ecosia -USA 0,10% 0,01 -8 Naver Corp Naver - 0,09% 0,0081 -9 - Andere - 0,14% 0,0196 - - - - - HHI > 5587 Tabelle 6.8: Anteil der Suchanfragen, die über Desktop- und Laptop-Computer, Tablets oder Mobiltelefone durchgeführt werden, von April 2022 bis März 2023, Datenquelle: http: / / www.netmarketshare.com Google dominiert die Welt der Online-Suche. Auf Google entfällt die über‐ wiegende Mehrheit der Suchanfragen, die auf Desktop- und Laptop-Com‐ putern, Tablets und Mobiltelefonen durchgeführt werden. Der C4-Koeffizient der Suchmaschinenindustrie ist: C4-Koeffizient = 71,61 + 21,11 + 2,53 + 2,27 = 97,52% Und der HHI ist: HHI > 71,61 2 + 21,11 2 + 2,53 2 + 2,27 2 + 1,56 2 + 0,59 2 + 0,10 2 + 0,09 2 + 0,14 2 = 5127,9921 + 445,6321 + 6,4009 + 5,1529 + 2,4336 + 0,3481 + 0,01 + 0,0081 + 0,0196 > 5587 Sowohl der C4-Koeffizient als auch der HHI zeigen, dass die Online-Suche eine hoch konzentrierte Branche ist. 218 6 Die Politische Ökonomie der Medienkonzentration <?page no="219"?> 6.5 Schlussfolgerungen In diesem Kapitel wurde die politische Ökonomie der Medienkonzentration vorgestellt. Fassen wir nun die wichtigsten Ergebnisse zusammen. - Erkenntnis 1: Vier Konzentrationsstrategien Es gibt vier Konzentrationsstrategien, mit denen Unternehmen versuchen, ihre Kontrolle über die wirtschaftliche Macht zu erhöhen: horizontale Inte‐ gration, vertikale Integration, Konglomeration und strategische Allianzen. - Erkenntnis 2: Fünf Merkmale des Informationssektors, die die Kapitalkonzentration begünstigen Es gibt fünf Merkmale des Informationssektors, die eine Kapitalkonzentra‐ tion in der Medien-/ Informations-/ Kommunikationswirtschaft begünstigen: ● Die Regel der versunkenen Kosten; ● Die „Niemand weiß etwas“-Regel; ● Die Hit-Regel; ● Die „Piraterie“-Regel; ● Die Anzeigen-Auflagen-Spirale. - Erkenntnis 3: Negative Auswirkungen der Medienkonzentration auf die Gesellschaft Die Medienkonzentration hat vielfältige negative Auswirkungen auf die Gesellschaft. Vor allem ist sie eine Bedrohung für die Demokratie und den öffentlichen Raum. Medienmonopole haben ideologische und politische Macht. Sie kontrollieren, wer und was in der Öffentlichkeit sichtbar ist und Aufmerksamkeit erhält. Sie zentralisieren also nicht nur das Kapital, sondern auch die Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit im öffentlichen Raum. Infolgedessen schränken Medienmonopole die Redefreiheit, die Meinungs‐ freiheit und die Freiheit der Medien und der Presse ein. Reiche, profitable, monopolistische Medien sind eine Bedrohung für die Demokratie. 6.5 Schlussfolgerungen 219 <?page no="220"?> Erkenntnis 4: Die Messung der Medienkonzentration Die Medienkonzentration kann absolut und relativ sowie anhand von Finanzdaten (Einnahmen, Profite) und verbraucherorientierten Daten (Zu‐ schauer-/ Nutzerzahlen und -anteile, Auflagenhöhe und -anteile, Reich‐ weite) gemessen werden. - Erkenntnis 5: Zwei Methoden zur Messung der Medienkonzentration Der C4-Koeffizient und der Herfindahl-Hirschman-Index sind zwei wichtige Methoden zur Messung der Medienkonzentration. Literatur Bryman, Alan. 2004. The Disneyization of Society. London: SAGE. Curran, James. 2002. Media and Power. London: Routledge. Dahlgreen, Will. 2016. British Press “Most Right-Wing” in Europe. YouGov, 7. Februar 2016, https: / / yougov.co.uk/ topics/ politics/ articles-reports/ 2016/ 02/ 07/ br itish-press-most-right-wing-europe Dorfman, Ariel & Armand Mattelart. 1991. How to Read Donald Duck. Imperialist Ideology in the Disney Comic. New York: International General. Doyle, Gillian. 2013. Understanding Media Economics. London: SAGE. Zweite Auf‐ lage. Furhoff, Lars. 1973. Some Reflections on Newspaper Concentration. Scandinavian Economic History Review 21 (1): 1-27. DOI: https: / / doi.org/ 10.1080/ 03585522.1973 .10407743 Habermas, Jürgen. 1990. Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Öffentlichkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Neuauf‐ lage. Hesmondhalgh, David. 2013. The Cultural Industries. London: SAGE. Dritte Auflage. Hess, Charlotte & Elinor Ostrom. 2003. Ideas, Artefacts, and Facilities: Information as a Common-Pool Resource. Law and Contemporary Problems 66 (1/ 2): 111-145. Josifides, Petros. 1997. Methods of Measuring Media Concentration. Media, Culture & Society 19 (4): 643-663. DOI: https: / / doi.org/ 10.1177/ 016344397019004008 Kiefer, Marie Luise & Christian Steininger. 2014. Medienökonomik. München: Olden‐ bourg Verlag. Dritte Auflage. 220 6 Die Politische Ökonomie der Medienkonzentration <?page no="221"?> Kleinsteuber, Hans J. 2004. Konzentrationsprozesse im Mediensektor. spw - Zeit‐ schrift für sozialistische Politik und Wirtschaft 138: 22-24. Kleinsteuber, Hans J. and Barbara Thomaß. 2004. Medienökonomie, Medienkon‐ zerne und Konzentrationskontrolle. In Medien und Ökonomie. Band 2: Problemfel‐ der der Medienökonomie, hrsg. von Klaus-Dieter Altmeppen & Matthias Karmasin, 123-158. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Knoche, Manfred. 2021. Media Concentration. 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Kritik der politischen Ökonomie. Dritter Band. Marx Engels Werke (MEW) Band-25. Berlin: Dietz. Marx, Karl. 1867. Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. Marx Engels Werke (MEW) Band-23. Berlin: Dietz. McChesney, Robert. 2015. Rich Media, Poor Democracy. Communication Politics in Dubious Times. New York: The New Press. Neuauflage. McChesney, Robert W. 2004. The Problem of the Media. New York: Monthly Review Press. Meier, Werner A. & Josef Trappel. 1998. Media Concentration and the Public Interest. In Media Policy: Convergence, Concentration & Commerce, hrsg. von Denis McQuail & Karen Siune, 38-59. London: SAGE. Micklethwait, John. 1989. The Entertainment Industry. The Economist, 23. Dezember 1989 (Supplement): 3-4. Mueller, Annie. 2020. Why Movies Cost So Much to Make. Investopedia, 28. 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In The Handbook of the Political Economy of Communications, hrsg. von Janet Wasko, Graham Murdock and Helena Sousa, 140-168. Chichester: Wiley-Blackwell. Manfred Knoche. 2013. Medienkonzentration. In-Mediensysteme im internationalen Vergleich, hrsg. von Barbara Thomaß, 135-160. Konstanz: UVK. Zweite Auflage. Eli Noam. 2009. Media Ownership and Concentration in America. Oxford: Oxford University Press: Kapitel 3: Seeking the Answers. 222 6 Die Politische Ökonomie der Medienkonzentration <?page no="223"?> Aufgabe Merke Frage Literatur Wissen Zusatz Link / www Checkliste Ziele ICON SET 5 Aufgabe Merke Frage Literatur Wissen Zusatz Link / www Checkliste Ziele ICON SET 5 Jonathan Hardy. 2014. Critical Political Economy of the Media. An Introduction. Abingdon: Routledge: Kapitel 4: Concentration, Conglomeration, Commerciali‐ sation ÜBUNG 6.1: Reiche Medien, arme Demokratie Lesen Sie zunächst das folgende Kapitel in Robert McChesneys Buch Rich Media, Poor Democracy: Robert McChesney. 2015. Rich Media, Poor Democracy. Communication Politics in Dubious Times. New York: The New Press. Neuauflage. Introduction: The Media/ Democracy Paradox (S.-1-11) Zweitens: Sehen Sie sich den folgenden Dokumentarfilm über McChesneys Buch an: Sut Jhally (Produzent). 2003. Rich Media, Poor Democracy. Media Education Foundation. Filminformationen: https: / / shop.mediaed.org/ rich-media-poor-democracy-p118.aspx Transkription: https: / / www.mediaed.org/ transcripts/ Rich-Media-Poor-Democracy- Transcript.pdf Drittens: Diskutieren Sie in Gruppen die folgenden Fragen bzw. denken Sie einzeln darüber nach: Welche Probleme verursacht ein hochkonzentriertes Mediensystem? Wie könnten Alternativen zu einem hochkonzentrierten Mediensys‐ tem aussehen? Wie können sie erreicht werden? Welche Vorschläge für Alternativen machen die Medienreformbewe‐ gungen (siehe z. B. http: / / www.mediareform.org.uk/ wp-content/ uplo ads/ 2012/ 09/ time-for-media-reform.pdf, https: / / www.freepress.net/ )? Wie beurteilen Sie diese Vorschläge? ÜBUNG 6.2: DIE MESSUNG DER MEDIENKONZENTRATION IN DER INTERNETINDUSTRIE Arbeiten Sie mit den folgenden Daten für die Branche der Inter‐ net-Plattformen. Berechnen Sie den C4-Koeffizienten und den Her‐ findahl-Hirschman-Index (HHI). Verwenden Sie als Indikator die Umsatzdaten. Dies sind die Gesamtumsätze pro Jahr, gemessen in US$. Literatur, empfohlene Lektüre und Übungen 223 <?page no="224"?> Aufgabe Merke Frage Literatur Wissen Zusatz Link / www Checkliste Ziele ICON SET 5 Betrachten Sie die Daten in der Tabelle als einen Markt für Internet‐ dienste, die von großen transnationalen Unternehmen angeboten werden, was bedeutet, dass die Gesamteinnahmen dieses Marktes die Summe der in der Liste aufgeführten Einnahmen der einzelnen Unternehmen sind. Ein weiteres Berechnungsbeispiel, nämlich die transnationalen Inter‐ netunternehmen, die in der Fortune Global 500 Liste für das Jahr 2022 aufgeführt sind, wird im Folgenden dargestellt. Die Berechnungsergebnisse sind im Anhang zu diesem Kapitel auf‐ geführt. Führen Sie Ihre eigenen Berechnungen durch (ohne den Anhang zu lesen). Vergleichen Sie Ihre Ergebnisse mit den Angaben im Anhang. ÜBUNG 6.3: DIE MESSUNG DER MEDIENKONZENTRATION IN DER MUSIKINDUSTRIE Arbeiten Sie mit den folgenden Daten für die weltweite Musikindus‐ trie. Die Daten zeigen eine Rangliste der weltweit meistverkauften Musikalben und geben die zertifizierten Verkaufszahlen der einzelnen Alben an. Die Rangliste umfasst alle Alben mit einer zertifizierten Gesamtverkaufszahl von mehr als 10 Millionen Stück. Berechnen Sie den C4-Koeffizienten und den Herfindahl-Hirsch‐ man-Index (HHI). Als Indikator wird die Anzahl der verkauften Alben verwendet. Es gibt einige Alben, bei denen mehr als ein Unterneh‐ men als veröffentlichendes Label fungierte. In solchen Fällen wird als Verkaufsanteil für jedes beteiligte Musikunternehmen die Zahl der verkauften Exemplare geteilt durch die Zahl der beteiligten Plat‐ tenfirmen verwendet. Wenn beispielsweise ein Album 18 Millionen Exemplare verkauft hat und drei verschiedene Musikfirmen an der Veröffentlichung beteiligt sind, beträgt der Anteil jeder Musikfirma 18 Millionen / 3 = 6 Millionen verkaufte Stück. Die Berechnungsergebnisse sind in Anhang 2 dieses Kapitels auf‐ geführt. Führen Sie Ihre eigenen Berechnungen durch (ohne den Anhang zu lesen). Vergleichen Sie Ihre Ergebnisse mit den Angaben im Anhang. 224 6 Die Politische Ökonomie der Medienkonzentration <?page no="225"?> Anhang 1: Lösung der Übung 6.2 - Beispiel 1 Rang Konzern Land Ange‐ stellte Vor‐ her‐ ge‐ hender Rang Um‐ satz (Mil‐ lionen U$) Anteil an den Ein‐ nah‐ men (a) (%) a 2 9 Ama‐ zon.com USA 1.298.000 6 386.064 40,07 1605,95 21 Alphabet/ Google USA 135.301 8 182.527 18,95 358,98 59 JD.com China 314.906 43 108.087 11,22 125,88 63 Alibaba Group Hol‐ ding China 251.462 69 105.865,7 10,99 120,76 86 Facebook USA 58.604 58 85.965 8,92 79,63 132 Tencent Holdings China 85.858 65 69.864,2 7,25 52,59 481 Netflix USA 9.400 484 24.996,0 2,59 6,73 - - - - Ge‐ samt: 963.368,9 100 2350,52 C4-Koeffizient = 40,07% + 18,95% + 11,22% + 10,99% = 81,23% HHI = 40,07 2 + 18,95 2 + 11,22 2 + 10,99 2 + 8,92 2 + 7,25 2 + 2,59 2 = 2350,52 Sowohl der C4-Koeffizient als auch der HHI deuten darauf hin, dass die Internetindustrie einen hohen Konzentrationsgrad aufweist. Literatur, empfohlene Lektüre und Übungen 225 <?page no="226"?> Beispiel 2 Rang Konzern Land Ange‐ stellte Vor‐ her‐ ge‐ hender Rang Um‐ satz (Mil‐ lionen U$) Anteil an den Einnah‐ men (a) (%) a 2 2 Ama‐ zon.com USA 1.608.000 9 469.822 37,82 1430,06 17 Alphabet USA 156.500 21 257.637 20,74 430,04 46 JD.com China 385.357 59 147.526 11,87 141,00 55 Alibaba Group Hol‐ ding China 254.941 63 132.936 10,70 114,49 71 Facebook/ Meta Plat‐ forms USA 71.970 86 117.929 9,49 90,10 121 Tencent Holdings China 112.771 132 86.836 6,99 48,85 481 Netflix USA 11.300 484 29.698 2,39 5,71 - - - - Ge‐ samt: 1.242.384 100 2260,26 C4-Koeffizient = 37,82% + 20,74% + 11,87% + 10,70% = 81.13% HHI = 37,82 2 + 20,74 2 + 11,87 2 + 10,70 2 + 9,49 2 + 6,99 2 + 2,39 2 = 2260,26 Sowohl der C4-Koeffizient als auch der HHI deuten darauf hin, dass die Internetindustrie einen hohen Konzentrationsgrad aufweist. 226 6 Die Politische Ökonomie der Medienkonzentration <?page no="227"?> Anhang 2: Lösung der Übung 6.3 - Zertifizierte Ver‐ käufe (in Millio‐ nen Stück) Ver‐ kauf‐ santeil a (in %) a2 Sony Music Entertainment 571,50 39,57 1565,95 Universal Music Group 423,43 29,32 859,64 Warner Music Group 386,53 26,76 716,34 Apple Corps 24,63 1,71 2,91 XL Recordings 23,05 1,60 2,55 BMG 15,05 1,04 1,09 - 1444,20 100,00 - C4-Koeffizient = 39,57 + 29,32 + 26,76 + 1,71 = 97,36% HHI = 1565,95 + 859,64 + 716,34 + 2,91 + 2,55 + 1,09 = 3148,47 Die Ergebnisse zeigen, dass die Musikindustrie sehr stark konzentriert ist. Sie wird von den „großen 3“ (“Big 3”) Konzernen beherrscht: Sony Music Entertainment, Universal Music Group, Warner Music Group. Literatur, empfohlene Lektüre und Übungen 227 <?page no="229"?> Aufgabe Merke Frage Literatur Wissen Zusatz Link / www Checkliste Ziele ICON SET 5 7 Die Politische Ökonomie der Werbung Was Sie in diesem Kapitel lernen werden: Sie werden lernen, wie man Werbung definiert, bewertet und kritisiert. Sie werden etwas über die Rolle der Werbung im Kapitalismus erfahren. Sie werden lernen, die ideologischen Aspekte der Werbung zu analy‐ sieren. 7.1 Einleitung Werbung ist in der heutigen Gesellschaft in vielen Bereichen des privaten und öffentlichen Lebens präsent. Es gibt Online-Werbung ebenso wie Wer‐ bung im Fernsehen, im Radio, in Zeitungen und Zeitschriften, in und vor Filmen und im öffentlichen Raum. In den heutigen Gesellschaften ist die Werbung zu einem wichtigen Wirtschaftszweig geworden. Werbung wird häufig über die Medien verbreitet. Sie ist daher Teil der Medienwirtschaft. Sie verbindet die Medienwirtschaft mit anderen Bereichen der Gesellschaft wie Wirtschaft, Politik und Kultur. Wirtschaftliche, politische und kulturelle Organisationen zahlen für Werbung, um mit ihren Botschaften eine breite Öffentlichkeit zu erreichen. Sie wollen Waren verkaufen, die öffentliche Meinung prägen und ihre Weltanschauungen und Ideologien über Werbung der Öffentlichkeit präsentieren. Werbung hat immer zum Ziel, dass erreicht werden soll, dass das Publikum auf bestimmte Weise darauf reagiert. So soll durch wirtschaftliche Werbung zum Beispiel erreicht werden, dass Konsu‐ ment: innen bestimmte Waren kaufen. Und durch politisch und kulturell orientierte Werbungen soll erreicht werden, dass die Menschen bestimmte Einstellungen teilen. Dieses Kapitel bietet eine Einführung in die politische Ökonomie der Werbung. Es befasst sich mit den folgenden Fragen: Was ist die Rolle der Werbung im Kapitalismus? Was sind die Probleme der Werbung für die Gesellschaft? In Abschnitt 7.2 wird erörtert, wie wir Werbung definieren sollten. Abschnitt 7.3 analysiert die Entwicklung der Werbung im Kapitalismus. In Abschnitt 7.4 wird die politische Ökonomie der Werbung erörtert, indem Dallas Smythes Konzepte der Publikumsware und der Publikumsarbeit <?page no="230"?> 33 Datenquelle: Forbes 2000 List of the World’s Biggest Public Companies, Finanzjahr 2021, https: / / www.forbes.com/ lists/ global2000/ , abgerufen am 10. November 2021. Aufgabe Merke Frage Literatur Wissen Zusatz Link / www Checkliste Ziele ICON SET 5 vorgestellt werden. Abschnitt 7.5 erörtert positive und kritische Ansichten über Werbung. 7.6 befasst sich mit Werbung als Ideologie. Abschnitt 7.7 befasst sich mit der Hinterfragung der Werbung. Abschnitt 7.8 enthält Schlussfolgerungen. 7.2 Was ist Werbung? Führen Sie die folgende Übung durch (Übung 7.1). ÜBUNG 7.1: KONSUMGÜTER Werfen Sie einen Blick auf die folgende Liste von Produkten: https: / / us.pg.com/ brands/ https: / / en.wikipedia.org/ wiki/ List_of_Procter_%26_Gamble_brands Schätzen Sie: Wie viele dieser Produkte haben Sie im letzten Monat gekauft? Wenn Sie in einer Gruppe lernen, vergleichen Sie die Ergebnisse. - Procter & Gamble Die Waren, die Sie in Übung 7.1 kennengelernt haben, haben eines gemein‐ sam: Sie werden von dem amerikanischen Konsumgüterkonzern Procter & Gamble (P&G) hergestellt. Viele der Waren, die viele Kunden in den Supermärkten der Welt kaufen, stammen von P&G. P&G ist einer der größ‐ ten Werbetreibenden der Welt (Doyle 2013, 149; Picard 2011, 42) und einer der größten Hersteller von Haushaltsprodukten wie Waschmitteln, Toilet‐ tenpapier, Kosmetika, Shampoos, Kaffee, Snacks, Damenbinden, Zahnpasta, Tierfutter, Wasserfiltern und Medikamenten. Mit einem Gewinn von 13,8 Milliarden US-Dollar und einem Umsatz von 120,1 Milliarden US-Dollar war P&G im Jahr 2021 das 46. größte transnationale Unternehmen der Welt 33 . Im 230 7 Die Politische Ökonomie der Werbung <?page no="231"?> 34 Datenquelle: Forbes 2000 List of the World’s Biggest Public Companies, Finanzjahr 2022, https: / / www.forbes.com/ lists/ global2000/ , abgerufen am 15. Dezember 2022. Jahr 2022 war P&G das 63. größte Unternehmen der Welt 34 . Tabelle 7.1 gibt einen Überblick über einige der Finanzdaten von P&G. Finanz‐ jahr Umsatz (Milliar‐ den US-Dol‐ lar) Profit (Milliar‐ den US-Dol‐ lar) Werbeaus‐ gaben (Milli‐ arden US-Dollar) Anteil der Werbeausga‐ ben am Um‐ satz 2022 80,2 14,8 7,9 9,9% 2021 76,1 14,4 8,2 10,8% 2020 70,9 13,1 7,3 10,3% 2019 67,7 4,0 6,8 10,0% 2018 65,1 15,4 7,1 11,0% 2017 65,3 10,6 7,2 11,0% 2016 76,3 7,1 8,3 10,9% 2015 83,1 11,8 9,2 11,1% 2014 82,6 11,4 9,6 11,6% 2013 82,0 10,9 9,2 11,2% 2012 79,4 11,9 9,2 11,6% 2011 75,8 12,8 8,5 11,2% Durch‐ schnitt 75,4 11,5 8,2 10,9% Tabelle 7.1: Finanzdaten von Procter & Gamble, Datenquelle: P&G, SEC Filings, Formular 10-K, verschiedene Jahre In den untersuchten Jahren (Tabelle 7.1) gab P&G im Durchschnitt 10,9 % seiner Einnahmen für Werbung aus. Die Tatsache, dass P&G große Summen für das Branding seiner Produkte und den Kauf von Anzeigen ausgibt, zeigt die Bedeutung der Werbung im Kapitalismus. Werbung ist ein Mechanismus, der den Kauf und Konsum von Waren und damit die 7.2 Was ist Werbung? 231 <?page no="232"?> Umwandlung von Warenkapital in Geldkapital und Profite ankurbeln soll. Marx (1885) spricht vom Verkaufsprozess als dem Realisierungsprozess des Mehrwerts. Werbung hilft, Waren in Geldkapital zu verwandeln, das Profit enthält. - Definitionen von Werbung Werfen wir einen Blick auf einige Definitionen von Werbeanzeigen und Werbung: ● Eine Werbeanzeige ist „a kind of text - carried by electronic or print media - that attracts attention to, stimulates desire for, and in some cases leads to the purchase of a product or service. The convention is that commercial messages in print are called advertisements and those in electronic media are called commercials” (Berger 2011, 197). ● „The term ‘advertising’ came to be defined as paid-for mass-media communication, rather than all promotional activity. It became a means to the marketing ends of managing and controlling the consumer markets at the least cost” (Brierley 1995, 2). ● „[Firms] spend money on advertising in the hope of persuading con‐ sumers to buy their products. The general aim behind advertising expenditure is to try to increase sales and to reinforce consumers’ loyalty to particular brands” (Doyle 2013, 143-144). ● „Advertising is designed to spur consumption of specific goods and services. […] When the amount of goods increased and differences between products appeared, advertising began being directed toward consumers to attract their attention and influence their choices” (Picard 2011, 139-140). ● „[Advertising is] [p]aid communication by companies and individuals designed to develop interest in, understanding of, purchases of, and uses of the goods and services they offer” (Picard 2011, 253). ● „[Advertising is] the activity of explicitly paying for media space or time in order to direct favorable attention to certain goods or services” (Turow 2010, 593). ● „[Advertising] has a function, which is to sell things to us. But it has another function, which I believe in many ways replaces that traditionally fulfilled by art or religion. It creates structures of meaning. […] Advertisements must take into account not only the inherent 232 7 Die Politische Ökonomie der Werbung <?page no="233"?> qualities and attributes of the products they are trying to sell, but also the way in which they can make those properties mean something to us” (Williamson 1979, 11-12). Im allgemeinsten Sinne ist eine Werbung eine an die Öffentlichkeit gerich‐ tete, bezahlte Botschaft, die darauf abzielt, bestimmte Informationen in der Öffentlichkeit bekannt zu machen oder bestimmte Wirkungen oder Verän‐ derungen zu erzielen. Werbung ist der Prozess der Herstellung und Verbrei‐ tung von Anzeigen. Anzeigen sind Werbebotschaften, die als Ware verkauft werden, was bedeutet, dass der Werbende ein Werbeunternehmen für die Veröffentlichung der Anzeige bezahlt. Anzeigen können Informationen von hauptsächlich wirtschaftlich, politisch oder kulturell motivierten Personen oder Organisationen fördern. So gibt es beispielsweise Anzeigen, die für den Kauf bestimmter Waren werben, Anzeigen, die für politische Parteien und Programme werben, und Anzeigen, die für bestimmte Ideen werben (z. B. für die Verfügbarkeit wissenschaftlicher Berichte). Diese Dimensionen können sich auch überschneiden, z. B. wenn Unternehmen die Förderung von Lebensstilen (kulturelle Dimension) nutzen, um gleichzeitig für ihre Waren zu werben (wirtschaftliche Dimension) und zu implizieren, dass diese Waren den Verbraucher: innen helfen, bestimmte Lebensstile besser zu verwirklichen. Sowohl profitorientierte als auch nichtprofitorientierte Organisationen können Werbung kaufen und nutzen, z. B. Unternehmen auf der einen Seite und Regierungen, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und Verbände auf der anderen Seite. In kapitalistischen Gesellschaften ist die Nutzung von Werbung zur Förderung kapitalistischer Zwecke, d. h. des Verkaufs und des Konsums von Waren, in der Regel die dominante Rolle der Werbung in der Gesellschaft. Einerseits stimmt es, wie Joseph Turow (2010) sagt, dass die Werbung so alt ist wie die Märkte. Im Römischen Reich „wurden Marktschreier dafür bezahlt, Botschaften über zu verkaufende Produkte zu verkünden“ (Turow 2010, 593). Andererseits besteht aber auch die Gefahr, wenn man derartige Argumente wie Turow macht, dass man Werbung als notwendiges Merkmal aller Gesellschaften naturalisiert. Waren, Märkte und Warenlogik sind nicht Teil aller sozialen Beziehungen und nicht Merkmal aller Gesellschaften. Das Geschenk, die Zusammenarbeit und die Solidarität sind Alternativen zu Waren, Wettbewerb und Märkten. Gesellschaften können ohne Waren und Wettbewerb existieren, aber sie können nicht ohne Kooperation und Solidarität existieren. Dieses Gedankenexperiment zeigt, dass Geschenke, 7.2 Was ist Werbung? 233 <?page no="234"?> Zusammenarbeit und Solidarität wesentlicher sind als Waren, Wettbewerb und Märkte. Marx über Werbung im Kapitalismus Marx beschreibt den Prozess der Kapitalakkumulation als den Prozess G - W … P .. W‘ - G‘: Kapitalistische Unternehmen investieren Geldkapital G zum Kauf von Arbeitskraft und Produktionsmitteln als Waren W. Im Produktionsprozess P verwenden die Arbeiter: innen die Produktionsmittel zur Herstellung neuer Waren W‘. Die Waren W‘ werden auf dem Markt verkauft. Gelingt der Verkauf, so entsteht ein Geldkapital G‘, das größer ist als das investierte Geld G. G‘ enthält einen Profit Dg. Teile des Profits werden reinvestiert, um mehr Kapital zu akkumulieren. Die Werbung spielt eine Rolle im Prozess W‘ - G‘, dem Verkaufsprozess von Waren. W‘ - G‘ ist die „Verwandlung von Warenkapital in Geldkapital” (Marx 1885, 113). Werbung fungiert als Mechanismus, der das Kapital bei der Umwandlung von Warenkapital in Geldkapital unterstützt. Sie ist in dem Prozess W‘ - G‘ angesiedelt. Eine der Ursachen für die wirtschaftliche Krise eines Unternehmens und der kapitalistischen Wirtschaft ist der mangelnde Absatz von Waren: „Stockt z. B. W‘- G‘ für einen Teil, ist die Ware unverkäuflich, so ist der Kreislauf dieses Teils unterbrochen und der Ersatz durch seine Produktionsmittel wird nicht vollzogen; die nachfolgenden Teile, die als W‘ aus dem Produktionsprozeß hervorgehn, finden ihren Funktionswechsel durch ihre Vorgänger gesperrt. Dauert dies einige Zeit fort, so wird die Produktion eingeschränkt und der ganze Prozeß zum Stillstand gebracht“ (Marx 1885, 107). Werbung ist ein Mechanismus, den das Kapital nutzt, um Waren zu verkau‐ fen, indem es sie ideologisch anpreist, um zu versuchen, die Akkumulation zu stabilisieren und Wirtschaftskrisen auf der Ebene einzelner Unterneh‐ men, Industrien und der Wirtschaft als Ganzes zu umgehen. Marx und Engels haben nicht viel über Werbung geschrieben, weil diese erst im 20. Jahrhundert im Zuge des Aufstiegs der fordistischen Massenproduk‐ tion und des Massenkonsums zu einem so wichtigen wirtschaftlichen Mechanismus wurde. Engels charakterisierte die Werbung als „zudringliche Marktschreierei“ (Engels 1894, 28). Der vierte Teil von Marx’ Kapital Band 3 (Kapitel 16-20) befasst sich mit dem kommerziellen Kapital/ Handelskapital, d.-h. dem Kapital, das sich mit dem Verkauf von Waren befasst. 234 7 Die Politische Ökonomie der Werbung <?page no="235"?> Das Hauptaugenmerk liegt auf dem Kapital, das Waren verkauft, und den Arbeitnehmern, die es beschäftigt. Beispiele sind Supermärkte und ihre Angestellten. Das Handelskapital „schafft […] weder Wert noch Mehrwert, d. h. nicht direkt“ (Marx 1894, 291). Es trägt bei zur „Abkürzung der Zirkulationszeit“ (291), was bedeutet, dass das Handelskapital dazu beiträgt, den Verkaufsprozess von Waren zu beschleunigen und zu organisieren. Es kann „indirekt den vom industriellen Kapitalisten produzierten Mehrwert vermehren helfen“ und befähigt „das Kapital […], auf größrer Stufenleiter zu arbeiten“ (291). Marx argumentiert, dass die vom kommerziellen Kapital beschäftigten Arbeiter: innen, wie zum Beispiel Supermarktverkäufer: innen, die Möglich‐ keit der „Aneignung von Mehrwert“ (305) schaffen. Die „unbezahlte Arbeit der kommerziellen Lohnarbeiter“ schafft „dem Handelskapital einen Anteil an jenem Mehrwert [des industriellen Kapitals]“ (305). Man könnte nun argumentieren, dass die Arbeit in der Werbung mit der kommerziellen Arbeit vergleichbar ist und daher nach Marx nicht wertschaffend, sondern wertübertragend ist. Mit dem Aufkommen der Konsumkultur gewann die Werbung immer mehr an Bedeutung (Turow 2010, Kapitel 15), was zur Entstehung von Wer‐ beagenturen, Marken, Werbekampagnen, Direktmarketing, Publikums- und Marketingforschung und der Ratingbranche führte. WPP (USA), Omnicom (USA), Dentsu ( Japan), Publicis (Frankreich), Interpublic (USA), Hakuhodo ( Japan), Advantage Solutions (USA) und Clear Channel Communications (USA) sind einige der größten Werbeagenturen der Welt, die in den Listen der größten transnationalen Unternehmen der Welt wie Forbes 2000 und Fortune 500 aufgeführt sind. Im 20. Jahrhundert entwickelte sich die Wer‐ bung zu einer relativ autonomen kapitalistischen Industrie. Die Werbung als Industrie entwickelte sich im 20. Jahrhundert im Rahmen der Etablierung des fordistischen Kapitalismus. Der Fordismus beruhte auf dem Prinzip des Massenkonsums und der Massenproduktion von Waren (siehe Jessop 1992). Er ist nach dem US-amerikanischen Industriellen Henry Ford (1863-1947) benannt, dem die Ford Motor Company gehörte und der zur Produktion des Autos als Massenware beitrug, d. h. einer Ware, die von einem gro‐ ßen Teil der Bevölkerung gekauft wurde. Ein Schlüsselfaktor in dieser Entwicklungsphase des Kapitalismus war die gezielte Verbesserung der materiellen Situation der Arbeiterklasse, einschließlich Lohnerhöhungen, um ihr bessere Lebensbedingungen zu verschaffen. Dies war einerseits ein Ergebnis der Kämpfe der Arbeiterklasse für bessere Lohnbedingungen 7.2 Was ist Werbung? 235 <?page no="236"?> Aufgabe Merke Frage Literatur Wissen Zusatz Link / www Checkliste Ziele ICON SET 5 und andererseits ein bewusstes Zugeständnis der vom Keynesianismus beeinflussten Politiker: innen und der Wirtschaftstreibenden, die im Massen‐ konsum ein Mittel zur Steigerung der Gewinne sahen. Infolgedessen konnte es sich die Arbeiterklasse leisten, mehr Waren zu kaufen, wodurch sich die Nachfrage und die Warenproduktion erhöhten. Die Werbung entwickelte sich im fordistischen Kapitalismus zu einer eigenen spezialisierten Branche, die Ideen und Ideologien für den Verkauf von massenproduzierten Waren lieferte. ÜBUNG 7.2: WERBEAGENTUREN Suchen Sie nach Werbeagenturen, die in den Listen der weltweit größten Unternehmen (wie Forbes 2000 und Fortune 500) vertreten sind. Informieren Sie sich über die Entwicklung der Finanzdaten dieser Unternehmen (Einnahmen, Gewinne usw.) in den letzten Jahren. Schauen Sie sich an, welche großen Werbekampagnen diese Agentu‐ ren durchgeführt haben. Für welche Unternehmen haben sie gearbei‐ tet? Wie sahen diese Kampagnen aus? Welche Art von Kritik an Werbeagenturen gibt es? Recherchieren Sie in Qualitätszeitungen und -zeitschriften sowie in Online-Quellen nach Informationen. Dokumentieren Sie die Ergebnisse. Einerseits ist die Werbung zu einer eigenen Industrie geworden, die Wer‐ bung als Ware verkauft. Und Unternehmen wie Procter & Gamble investie‐ ren große Summen und Anteile ihrer Umsätze und Gewinne in die Schaffung illusionärer Warenbedeutungen und Geschichten über ihre Waren, die den Verbraucher: innen, die diese Waren kaufen und konsumieren, eine großartige Verbesserung des Lebensstils versprechen. Da viel Arbeit in das Branding und die Werbung für Waren fließt, berechnen Kapitalist: innen diese Arbeit als Teil der Warenpreise. Das bedeutet, dass sich die Arbeit für Werbung und Markenbildung in den Warenpreisen niederschlägt. Im Kapital Band 2 analysiert Marx in Teil 1 die Metamorphosen des Kapitals, wozu auch die Analyse der Zirkulationszeit (Kapitel 5) und der Zirkulationskosten (Kapitel 6) gehört. In Kapitel 6 gibt es einen Abschnitt über die Transportkosten. Marx argumentiert, dass die Transportarbeit das Wesen der Ware verändert und im Verkaufsprozess von zentraler Bedeutung ist: 236 7 Die Politische Ökonomie der Werbung <?page no="237"?> „Die kapitalistische Produktionsweise vermindert die Transportkosten für die einzelne Ware durch die Entwicklung der Transport- und Kommunikationsmittel wie durch die Konzentration - die Größe der Stufenleiter - des Transports. Sie vermehrt den Teil der gesellschaftlichen Arbeit, lebendiger und vergegenständ‐ lichter, der im Warentransport verausgabt wird, zuerst durch Verwandlung der großen Mehrzahl aller Produkte in Waren, und sodann durch die Ersetzung lokaler durch entfernte Märkte. Das Zirkulieren, d. h. tatsächliche Umlaufen der Waren im Raum löst sich auf in den Transport der Ware. Die Transportindustrie bildet einerseits einen selbstän‐ digen Produktionszweig, und daher eine besondre Anlagesphäre des produktiven Kapitals. Andrerseits unterscheidet sie sich dadurch, dass sie als Fortdauer eines Produktionsprozesses innerhalb des Zirkulationsprozesses und für den Zirkulationsprozeß erscheint“ (Marx 1885, 153). Marx betont hier, dass die Transport- und Kommunikationsmittel eine wichtige Rolle für den Transport und die Zirkulation von Waren spielen. Die Werbung ist eine Kommunikationsindustrie, da sie die Warenideologie produziert und kommuniziert. Sie ist zu einer wichtigen, relativ autonomen Industrie geworden, die mit anderen Bereichen der Waren- und Kapitalpro‐ duktion vermittelt wird. Der Prozess der Kapitalakkumulation erfordert den Transport der Waren von den Warenproduzent: innen zu den Konsu‐ ment: inn: en. Im Falle von physischen Produkten erfordert der Transport den physischen Transport von Waren. Bei persönlichen Dienstleistungen müssen sich Produzent: in und Konsument: in zur gleichen Zeit in einem gemeinsamen Raum befinden. Bei Wissensprodukten und -dienstleistungen müssen Ideen vom Produzenten zum Konsumenten transportiert werden. Im 20. Jahrhundert entwickelte sich ein Kapitalismus, der auf der Massen‐ produktion und dem Massenkonsum von Waren basiert. Später wurden die massenproduzierten Waren diversifiziert, so dass Waren produziert werden, die eine Vielzahl unterschiedlicher Geschmäcker ansprechen und teilweise personalisiert und nach individuellen Vorstellungen und Geschmäckern hergestellt werden. In diesem konsumorientierten Kapitalismus werden Ideen produziert und in Umlauf gebracht, um Waren zu verkaufen. Der Ver‐ kaufsprozess einer Ware ist also nicht nur der Transport der Ware selbst vom Produzenten zum Konsumenten, sondern auch der Transport von Ideen, nämlich von Warenideologien, die den Lebensstil der Konsument: innen ansprechen. Werbung transportiert Warenideologien zu den Konsument: in‐ nen. Die in der Werbung eingesetzte Arbeit ist ideologische Transportarbeit 7.2 Was ist Werbung? 237 <?page no="238"?> 35 https: / / www.ispot.tv/ ad/ nkq7/ prilosec-otc-how-prilosec-otc-provides-24-hour-heartb urn-protection-with-one-pill-a-day, https: / / m.media-amazon.com/ images/ I/ 81s-y37r9 5L._AC_SL1500_.jpg, abgerufen am 15. Dezember 2022. 36 https: / / law.justia.com/ cases/ federal/ district-courts/ FSupp2/ 285/ 389/ 2577208/ , abgeru‐ fen am 15. Dezember 2022. von Waren, sie transportiert die Warenideologie zu den Verbraucher: innen. Ausgehend von diesem Ansatz ist die Arbeit in der Werbung wertschöpfende Arbeit. Die Marx‘sche Analyse der Transportarbeit gilt auch für die Arbeit in der Werbung: „Produktmassen vermehren sich nicht durch ihren Transport. Auch die durch ihn etwa bewirkte Veränderung ihrer natürlichen Eigenschaften ist mit gewissen Ausnahmen kein beabsichtigter Nutzeffekt, sondern ein unvermeidliches Übel. Aber der Gebrauchswert von Dingen verwirklicht sich nur in ihrer Konsum‐ tion, und ihre Konsumtion mag ihre Ortsveränderung nötig machen, also den zusätzlichen Produktionsprozeß der Transportindustrie. Das in dieser angelegte produktive Kapital setzt also den transportierten Produkten Wert zu, teils durch Wertübertragung von den Transportmitteln, teils durch Wertzusatz vermittelst der Transportarbeit. Dieser letztre Wertzusatz zerfällt, wie bei aller kapitalisti‐ schen Produktion, in Ersatz von Arbeitslohn und in Mehrwert“ (Marx 1885, 151) Werbung und Täuschung Eines der Produkte von Procter & Gamble ist Prilosec, ein Mittel gegen Sodbrennen. In der Werbung behauptet P&G, dass eine Pille das Sodbrennen einen ganzen Tag lang lindert: „ONE PILL EACH MORNING. 24 HOURS. ZERO HEARTBURN” 35 . Ein konkurrierendes Konsortium von Unterneh‐ men, nämlich Johnson & Johnson-Merck Pharmaceuticals, verklagte P&G wegen dieser Anzeige wegen falscher Werbung. Im September 2003 vertrat das US-Bezirksgericht von New York die Auffassung, dass die Behauptung in der Anzeige, die eine Pille stoppe Sodbrennen für 24 Stunden, falsch und irreführend sei, und entschied, dass die Anzeige deshalb eingestellt werden müsse: „The District Court found, with substantial support in the record, that a single pill of Prilosec OTC does not provide relief for a period of four to five hours after ingestion. Furthermore, the court rejected P&G’s claim that, once effective, a single pill provides a full 24 hours of relief ” 36 . 238 7 Die Politische Ökonomie der Werbung <?page no="239"?> 37 https: / / www.bitlaw.com/ source/ 15usc/ 1125.html, abgerufen am 15. Dezember 2022. Die Unterlassungsverfügung stützte sich auf § 43(a) des Lanham Act, der falsche Werbung verbietet, nämlich die Veröffentlichung von Inhalten in Form von „kommerzieller Werbung oder Verkaufsförderung“, die „die Natur, die Eigenschaften, die Qualitäten oder den geografischen Ursprung der eigenen oder fremden Waren, Dienstleistungen oder kommerziellen Aktivitäten falsch darstellen“ 37 . Das Beispiel Prilosec zeigt, dass die kommerzielle Werbung eine Form des wirtschaftlichen Positivismus ist, der nur positive Informationen über Waren verbreitet und die mit den Waren verbundenen Probleme ausklam‐ mert. Um für ihre Waren zu werben, versuchen die Produzent: innen von Anzeigen, bei den Konsument: inn: en positive Gefühle und Assoziationen zu wecken. Aus diesem Grund argumentieren Kritiker: innen der Werbung, dass die Werbung versucht, zu manipulieren, zu täuschen und falsche Bedürfnisse zu wecken. So meint etwa der Philosoph Herbert Marcuse: „Wir können wahre und falsche Bedürfnisse unterscheiden. »Falsch« sind dieje‐ nigen, die dem Individuum durch partikuläre gesellschaftliche Mächte, die an seiner Unterdrückung interessiert sind, auferlegt werden: diejenigen Bedürfnisse, die harte Arbeit, Aggressivität, Elend und Ungerechtigkeit verewigen. Ihre Befriedigung mag für das Individuum höchst erfreulich sein, aber dieses Glück ist kein Zustand, der aufrecht erhalten und geschützt werden muss, wenn es dazu dient, die Entwicklung derjenigen Fähigkeit (seine eigene und die anderer) zu hemmen, die Krankheit des Ganzen zu erkennen und die Chancen zu ergreifen, diese Krankheit zu heilen. Das Ergebnis ist dann Euphorie im Unglück. Die meisten der herrschenden Bedürfnisse, sich im Einklang mit der Reklame zu entspannen, zu vergnügen, zu benehmen und zu konsumieren, zu hassen und zu lieben, was andere hassen und lieben, gehören in diese Kategorie falscher Bedürfnisse“ (Marcuse 1964, 25). Führen Sie die folgende Übung durch. 7.2 Was ist Werbung? 239 <?page no="240"?> Aufgabe Merke Frage Literatur Wissen Zusatz Link / www Checkliste Ziele ICON SET 5 ÜBUNG 7.3: IRREFÜHRENDE WERBUNG Sehen Sie sich die beiden folgenden Werbespots für Crest Pro Health an, ein Mundwasser von Procter & Gamble: http: / / www.ispot.tv/ ad/ 7ZlZ/ crest-pro-health-check-up http: / / www.ispot.tv/ ad/ 7ZCC/ crest-pro-health-clinical-dentist-didntknow-what-to-do Falls einer oder beide dieser Spots nicht mehr verfügbar sind, suchen Sie online nach alternativen Fernsehspots für Crest Pro Health. Werfen Sie auch einen Blick auf die Produktseite https: / / crest.com/ en-us/ oral-care-products/ toothpaste/ pro-health-cl ean-mint#: ~: text=Crest%20Pro%2DHealth%20Toothpaste%20is%20th e%20first%20and%20only%20toothpaste,found%20in%20other%20sen‐ sitivity%20toothpastes. Fragen Sie sich selbst und diskutieren Sie: Wie bewirbt Procter & Gamble seine Zahnpasta in der Werbung? Was sind die wichtigsten Merkmale der Präsentation? Was sind die Schlüsselbotschaften? Was wird nicht gesagt? Wie realistisch bzw. täuschend ist der Inhalt der Werbung? In Bezug auf Crest Pro Health gab es Beschwerden von Verbrau‐ cher: innen und Verbraucherschutzorganisationen, dass das Produkt zu verfärbten Zähnen und einem Verlust des Geschmacksempfindens führen kann: http: / / www.youtube.com/ watch? v=bWh8bfX3Ews Andere berichteten, dass es zu einer langfristigen Abhängigkeit füh‐ ren und die Symptome verstärken kann, wenn man das Produkt absetzt: http: / / www.youtube.com/ watch? v=a8xCV4_d1c8 Diskutieren Sie: Wie beurteilen Sie die Geschichte, dass Crest Pro Health negative Auswirkungen auf die Konsument: innen hat, aber in der Werbung ein sehr positives Bild von sich vermittelt? („My dentist was so proud of my teeth today. I’ve been using Crest Pro Health for a few weeks. I feel brighter, fresher, cleaner”; „My mouth is so clean, my dentist almost didn’t know what to do”)? 240 7 Die Politische Ökonomie der Werbung <?page no="241"?> Warum versuchen Unternehmen, die positiven Aspekte der von ihnen verkauften Waren in den Vordergrund zu stellen und negative Aspekte herunterzuspielen oder zu verleugnen bzw. auszublenden? Ist Täuschung und Manipulation in der Werbung die Ausnahme von der Regel oder Teil der Werbung an sich? Was kann und sollte gegen irreführende Werbung unternommen werden? Übung 7.2 liefert Hinweise darauf, dass kommerzielle Werbung und kapi‐ talistische Unternehmen Waren nur positiv darstellen und negative Aus‐ wirkungen auf die Gesellschaft ausblenden, leugnen oder herunterspielen. In dem Beispiel sagt der P&G-Sprecher angesichts der Tatsache, dass das Mundwasser von P&G bei einigen Kunden zu braun verfärbten Zähnen geführt hat, dass die Verfärbung „bei einigen Menschen auch ein Zeichen dafür sein kann, dass das Produkt funktioniert“ und dass „99,99 % der Menschen, die dieses Produkt gekauft haben, uns dieses Problem nicht gemeldet haben“. Kritische Analysen der Werbung argumentieren, dass solche Beispiele zeigen, dass Werbung nicht nur eine Produktinformation ist, die den Kon‐ sument: inn: en mitteilt, welche Waren auf dem Markt erhältlich sind. Kaptan liefert in einem einführenden Buch zur Werbung eine solche Definition: Werbung ist „ein Informationskanal von den Herstellern zu den Verbrau‐ chern“, der lediglich „sagt, wo man findet, was man will“ (Kaptan 2002, 28). In ihrer kritischen Analyse der Werbung Decoding Advertisements: Ideo‐ logy and Meaning in Advertising (Ideologie und Bedeutung in der Werbung) übt Judith Williamson Kritik an solchen Definitionen. Sie argumentiert, dass sie den ideologischen Charakter der Werbung übersehen: „Was eine Werbung ‚sagt‘, ist lediglich das, was sie zu sagen vorgibt; es ist Teil der trügerischen Mythologie der Werbung zu glauben, dass eine Werbung einfach ein transparentes Vehikel für eine ‚Botschaft‘ dahinter ist. Sicherlich besteht ein großer Teil jeder Werbung aus dieser ‚Botschaft‘: Uns wird etwas über ein Produkt erzählt, und wir werden aufgefordert, es zu kaufen. Die Informationen, die wir erhalten, sind häufig unwahr, und selbst wenn sie wahr sind, werden wir oft zum Kauf von Produkten überredet, die unnötig sind; Produkte, die auf Kosten der Umwelt hergestellt und verkauft werden, um auf Kosten der Menschen, die sie hergestellt haben, Gewinn zu machen“ (Williamson 1979, 17). 7.2 Was ist Werbung? 241 <?page no="242"?> 7.3 Die Entwicklung der Werbung im Kapitalismus Die Werbeausgaben als Teil des Bruttoinlandsprodukts spiegeln die Ent‐ wicklung der Gesamtwirtschaft wider und sind in reicheren Ländern höher, weil sie eine stärkere Konsumgesellschaft sind (Doyle 2013, 150-154). Abbildung 7.1 zeigt die Entwicklung der Anteile der einzelnen Werbefor‐ men an den weltweiten Werbeeinnahmen. Der Zeitraum erstreckt sich von 1980 bis 2021. Von 1980 bis 2000 hatten die Zeitungsanzeigen den größten Anteil an den weltweiten Werbeeinnahmen. Ihr Anteil ging von 46,3 % im Jahr 1980 auf 4,4 % im Jahr 2021 zurück, was einen drastischen Rückgang bedeutet. Die Fernsehwerbung hat während des gesamten untersuchten Zeitraums eine konstant wichtige Rolle gespielt, mit einem Anteil zwischen 24,4 % am unteren Ende ( Jahr 1980) und 41,3 % am oberen Ende ( Jahr 2010). Der dramatischste Wandel in der Werbebranche im späten 20. und im 21. Jahrhundert hat mit dem digitalen Kapitalismus zu tun. Seit den späten 1990er Jahren begann der Anteil der digitalen Werbung an den weltweiten Werbeeinnahmen zu steigen, zunächst in bescheidenem Tempo, seit 2010 dann rasant. Der Anteil der digitalen Werbung stieg von 0,1 % im Jahr 1999 auf 58,8 % im Jahr 2021. Die digitale Werbung wurde zur vorherrschenden Form der Werbung. Da die digitale Werbung von zwei Unternehmen - Google und Facebook - kontrolliert wird, hat sich der Werbemarkt weiter konzentriert. Gleichzeitig haben werbefinanzierte Zeitungen ums Überleben gekämpft. Die Werbetreibenden scheinen der digitalen Werbung mehr Vertrauen zu schenken als der Printwerbung, da sie ihnen hilft, Waren zu verkaufen. Digitale Werbung ist in hohem Maße auf individuelle Verbraucherpräferenzen ausgerichtet, die auf der Grundlage von Big Data und Überwachung der Nutzer: innen erhoben werden (Fuchs 2021). Tabelle 7.2 zeigt die Verteilung der weltweiten Werbeeinnahmen nach Medium im Jahr 2024. Die bisherigen Trends haben sich fortgesetzt. Im Jahr 2024 entfallen fast zwei Drittel der weltweiten Werbeeinnahmen auf die Internetwerbung und etwa ein Viertel auf die Rundfunkwerbung (Radio und Fernsehen). Andere Werbeformen (Printwerbung, Außenwerbung, Ki‐ nowerbung) hatten nur geringe Anteile. 242 7 Die Politische Ökonomie der Werbung <?page no="243"?> 0.0 2.0 4.0 6.0 8.0 10.0 12.0 14.0 16.0 18.0 20.0 22.0 24.0 26.0 28.0 30.0 32.0 34.0 36.0 38.0 40.0 42.0 44.0 46.0 48.0 50.0 52.0 54.0 56.0 58.0 60.0 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 Anteil bestimmter Medientypen am globalen Werbeumsatz (in %), Datenquelle: WARC Zeitungen Zeitschriften TV Radio Kino Außenwerbung Internet Abbildung 7.1: Die Entwicklung des Anteils bestimmter medienspezifischer Werbeformen an den weltweiten Werbeeinnahmen 7.3 Die Entwicklung der Werbung im Kapitalismus 243 <?page no="244"?> Medium Anteil Internet 65,13% Fernsehen 20,80% Außenwerbung 5,22% Radio 3,56% Zeitschriften 3,09% Magazine 1,75% Kino 0,45% - - Reorganisierte Daten: - Internet 65,13% Rundfunk (Fernsehen, Radio) 24,36% Außenwerbung 5,22% Print 4,84% Kino 0,45% Tabelle 7.2: Anteil bestimmter Medien an den weltweiten Werbeeinnahmen im Jahr 2024, Datenquelle: Statista, https: / / www.statista.com/ statistics/ 269333/ distribution-of-global-a dvertising-expenditure/ , abgerufen am 13. Februar 2023 Die historische Entwicklung der Werbung im Kapitalismus Graham Murdock (2013) gibt einen historischen Überblick über die Ent‐ wicklung der Werbung im Kapitalismus. Tabelle 7.3 fasst die wichtigsten Ergebnisse zusammen. Wir „können uns die Produktion der Warenkultur als einen Prozess vorstellen, in dem Entwicklungen in der Organisation des Einzelhandels von neuen Medien der populären Kommunikation begleitet werden und beide um eine Reihe gemeinsamer Prinzipien herum organisiert sind“ (Murdock 2013, 131). Ich habe Murdocks Typologie um Phasen der kapitalistischen Entwicklung ergänzt, die die Entwicklung bestimmter For‐ men von Kommunikationstechnologien und Werbung geprägt haben. 244 7 Die Politische Ökonomie der Werbung <?page no="245"?> Medium Einkaufsorte Zentrales Prinzip Kapitalismus Zeitung Lokale Geschäfte und Märkte Nützlichkeit Konkurrenzkapi‐ talismus (19.-Jahr‐ hundert) Kino Kaufhäuser Zurschaustellung Imperialistischer Kapitalismus (Ende des 19. Jahr‐ hunderts bis Ende des Zweiten Welt‐ kriegs) Kommerzielles Fernsehen Supermärkte Fluss/ Strom Fordistischer, keynesianischer Kapitalismus (nach dem Zwei‐ ten Weltkrieg bis Mitte der 1970er Jahre) Multika‐ nal-Fernsehen Einkaufszentren Immersion Globaler, flexibler, neoliberaler Fi‐ nanzkapitalismus (Mitte der 1970er Jahre bis 2000) Web 2.0 Einkaufsstädte Integration Digitaler Kapita‐ lismus (seit 2000) Tabelle 7.3: Die Entwicklung der Werbung im Kapitalismus, basierend auf Murdock (2013, 130) Im 19. Jahrhundert wurde die Werbung vom Prinzip der Nützlichkeit be‐ herrscht. Die Werbung basierte auf grundlegenden Informationen über den Gebrauchswert der Waren in Zeitungsanzeigen und in den Schaufenstern der örtlichen Lebensmittelgeschäfte. Der Gebrauchswert einer Ware um‐ fasst ihre grundlegenden Eigenschaften, die die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse ermöglichen. „Keiner der beiden Räume schenkte der visuellen Darstellung viel Aufmerksamkeit. Die Zeitungsanzeigen stützten sich ganz oder hauptsächlich auf gedruckten Text, der ungeschminkte Beschreibun‐ gen bot“ (Murdock 2013, 131). Im späten 19. Jahrhundert wurden Kaufhäuser sehr populär und stellten Waren aus, die man kaufen konnte. Das Kino entwickelte sich zu einem neuen Medium, in dem neben Filmen auch Werbung gezeigt wurde. Mur‐ 7.3 Die Entwicklung der Werbung im Kapitalismus 245 <?page no="246"?> dock zufolge wurde die Auslage zum zentralen Werbeprinzip. Die ersten Filme, die im Vereinigten Königreich gezeigt wurden, waren Filme der Brüder Lumière wie „Arbeiter verlassen die Lumière-Werke“. Die erste britische Vorführung eines Lumière-Films fand am 21. Februar 1896 im Polytechnic in der Londoner Regent Street statt, dem heutigen Hauptge‐ bäude der University of Westminster. Am 28. Dezember 1895 hatten die Brüder Lumière im Grand Café in Paris die weltweit erste Filmvorführung durchgeführt. Die Lumières schickten ihre Filme um die ganze Welt, was zum Beispiel am 11. August 1896 auch zur ersten Filmvorführung in China führte. In Deutschland wurde der erste Film am 1. November 1895 im Wintergarten in Berlin gezeigt. Es war ein Film der Brüder Max und Emil Skladanowsky. In den 1890er Jahren begann das „Zeitalter der Werbung“ (Staiger 1990, 4), das sich zunächst in der Werbung für Filme (einschließlich Zeitungsanzeigen und nationaler Werbekampagnen) und dann auch in der Werbung für allgemeine Waren im Kino äußerte. Eine der frühesten Formen der Filmwerbung war die Dia-Werbung, d. h., dass nicht bewegte Werbebilder „zwischen den Unterhaltungsrollen erschienen“ (Segrave 2004, 3). Für die USA gibt es Berichte über solche Dia-Werbung in Kinos in den 1910er Jahren (Segrave 2004, 3-4). Längere bewegte Werbespots wurden während der Stummfilmzeit nicht verwendet. „Berichten zufolge begann Alka-Seltzer um 1922 mit solchen Anzeigen, aber erst in den späten 1930er Jahren setzte sich die Minutenwerbung stärker durch“ (4). Eine der ers‐ ten Produktplatzierungen in Hollywood, nämlich für Reifen und Benzin, erscheint in dem Film The Garage von 1920 (Maher 2016). Murdock (2013, 133) berichtet, dass es bereits 1896 in einem Film der Gebrüder Lumière Produktplatzierung für Seife gab. Nach dem Zweiten Weltkrieg begann das Prinzip des Flusses die Wer‐ bung und den Einzelhandel zu dominieren. Kommerzielles Fernsehen, das regelmäßige, von Werbung unterbrochene Inhalte ausstrahlte, wurde po‐ pulär. 1916 war das Piggly Wiggly-Geschäft in Memphis, Tennessee, der erste Selbstbedienungssupermarkt der Welt (Murdock 2013, 134). Selbstbe‐ dienungs-Supermärkte wurden immer beliebter, was dazu führte, dass die Kunden in Strömen Waren kauften. Das Fernsehen hat sich in den 1980er Jahren stark verändert. Der Video‐ rekorder sowie das Kabel- und Satellitenfernsehen wurden sehr populär. „Seit den 1980er Jahren erlebte die Fernsehindustrie zwei Jahrzehnte des allmählichen Wandels. Neue Technologien wie die Fernbedienung, der Videorekorder und analoge Kabelsysteme erweiterten die Auswahl und die 246 7 Die Politische Ökonomie der Werbung <?page no="247"?> Kontrolle der Zuschauer; […] aufkommende Kabelkanäle und neue Sender erweiterten die Auswahl der Zuschauer und untergruben die Dominanz von ABC, CBS und NBC; Abonnementkanäle kamen auf den Markt […]; und die Methoden zur Messung der Zuschauerzahlen wurden mit der Einführung von Nielsens People Meter immer ausgefeilter“ (Lotz 2014, 25). Im Jahr 1992 wurde das erste Mega-Einkaufszentrum in Bloomington, Minnesota, eröffnet (Murdock 2013, 135). „Mega-Malls boten nicht nur Einkaufsmöglichkeiten, sondern auch zahlreiche Unterhaltungsangebote. Kabelfernsehpakete boten neben Film-, Sport- und Unterhaltungsangebo‐ ten auch Home-Shopping-Kanäle an. Die zunehmende Abhängigkeit von Unternehmenssponsoring und Produktplatzierung erweiterte die bezahlten Möglichkeiten, Waren in das Programm zu integrieren“ (Murdock 2013, 135-136). Sowohl in den Einkaufszentren als auch zu Hause, wo sie Kabel‐ fernsehen schauten, tauchten die Verbraucher: innen die Konsumkultur und die Werbung als Lebensstil ein. Seit etwa 2005 ist die Integration zu einem wichtigen Prinzip der Werbung und des Einzelhandels geworden. Soziale Medien und Internetplattformen sowie mobile Apps sind bei jungen Menschen zur beliebtesten Form der Information und Unterhaltung geworden. Viele von ihnen beruhen auf gezielter, personalisierter Werbung. Werbung ist somit zu einem festen Bestandteil des Online-Lebens und des Alltags geworden. In der Welt des Einzelhandels beschränken sich Mega-Malls oft nicht mehr auf einzelne Gebäude, sondern werden zu Straßen, Vierteln und Städten - was Murdock (2013, 140) als Einkaufsstädte charakterisiert, die Einkaufs- und kapitalisti‐ sche Konsumkulturen in das städtische Leben und den städtischen Raum integrieren. In Bristol wurde 2008 der Cabot Circus eröffnet. Er wurde als Shopping-Teil der Stadt konzipiert. Es sind Outlet-Dörfer entstanden. In der chinesischen Stadt Chengdu wurde 2013 das damals größte Gebäude der Welt, das New Century Global Center, eröffnet. Es enthält ein Ein‐ kaufszentrum, das so groß ist, dass es eher einem Einkaufsdorf ähnelt. Derartige Veränderungen sind Teil des Wandels des städtischen Lebens, der auch Proteste gegen die Gentrifizierung und die Kommodifizierung des städtischen Raums hervorgerufen hat. Die Eröffnung von Cabot Circus in Bristol führte zu Protesten gegen die Gentrifizierung, bei denen der Verlust von Grünflächen, Kneipen, kommunalen Treffpunkten, Radwegen und öffentlichen Parks betont wurde. Ein Aufruf zur Demonstration lautete: 7.3 Die Entwicklung der Werbung im Kapitalismus 247 <?page no="248"?> 38 https: / / www.brh.org.uk/ site/ 2008/ 04/ stop-the-gentrification-of-central-bristol/ , aufge‐ rufen am 13. November 2021. „Please show your opposition to the destruction of our places, spaces and culture, before its [sic! ] too late” 38 . Werbung und die Entwicklung des Kapitalismus Murdock (2013) bietet einen hervorragenden Überblick über die Entwick‐ lung der Werbung und der Konsumkultur. Ich möchte dieser Analyse eine Dimension hinzufügen, nämlich die Wechselwirkung von Werbung und Einzelhandel mit der Entwicklung des Kapitalismus (siehe Tabelle 7.3, Spalte 4). Der Kapitalismus des 19. Jahrhunderts war ein Wettbewerbs- und Indust‐ riekapitalismus. Die Werbung befand sich in einem frühen Stadium, was sich in ihrer Ausrichtung auf den Nutzen zeigt. Das Kapital war weit weniger konzentriert als zu Beginn des 20.-Jahrhunderts. Der imperialistische Kapitalismus war die Kombination von Finanzkapi‐ talismus (Zusammenschluss von Bankkapital und Industriekapital), transna‐ tionalen Kapitalinvestitionen (Kapitalexport), kapitalistischen Monopolen und dem Wettbewerb der Nationalstaaten um wirtschaftlichen und politi‐ schen Einfluss, der zum Ersten Weltkrieg führte. In dieser Phase des Kapi‐ talismus wurden Werbekampagnen entwickelt und die Werbung als relativ eigenständige Industrie konstituiert. Die Monopolunternehmen nutzten die Werbung als Mittel, um die Kapitalkonzentration voranzutreiben. Ernest Mandel beschreibt die Konkurrenzphase und die imperialistische Phase des Kapitalismus wie folgt: „[The] beginnings of the first two successive stages in the history of industrial capitalism - the stage of free competition and the stage of imperialism or classical monopoly capitalism […] appear as two phases of accelerated accumulation. The movement of capital exports unleashed by the quest for surplus-profits, and the cheapening of circulating constant capital, led to a temporary rise in the average rate of profit in the metropolitan countries, which in turn explains the colossal increase in the accumulation period 1893-1914, after the long period of stagnation from 1873-93 which was dominated by the falling rate of profit” (Mandel 1975, 82-83) Neue Phasen der kapitalistischen Entwicklung, die durch neue Modelle der Kapitalakkumulation, der Regulierung und der Ideologie gekennzeichnet 248 7 Die Politische Ökonomie der Werbung <?page no="249"?> sind, sind häufig das Ergebnis großer Krisen des Kapitalismus. Eine solche Krise gab es auch in der Weltwirtschaft von 1929 bis 1939. Nach dem Zweiten Weltkrieg entstand eine neue Phase der kapitalistischen Entwick‐ lung - der fordistische, keynesianische Kapitalismus. Sein Hauptmerkmal war die Kombination der fordistischen Prinzipien der Massenproduktion und des Massenkonsums von Gütern mit der Einrichtung keynesianischer Wohlfahrtsstaaten, die die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse und der allgemeinen Bevölkerung verbesserten und damit auch den Kapitalismus stabilisierten. Das kommerzielle Fernsehen und die Supermärkte, die die Waren-, Verbraucher- und Werbeströme organisierten, waren charakteris‐ tisch für diese Phase. Der Massenkonsum erforderte massive Investitionen in die Werbung. Bob Jessop beschreibt den fordistischen, keynesianischen Kapitalismus wie folgt: „As an accumulation regime, i.e., a macroeconomic regime sustaining expanded reproduction, Fordism involves a virtuous circle of growth based on mass pro‐ duction and mass consumption. […] the Fordist state is a Keynesian welfare state which has two key functions in promoting the virtuous circle of Fordism. It ma‐ nages aggregate demand so that the relatively rigid, capital-intensive investments of Fordist firms are worked close to capacity and firms have enough confidence to undertake the extended and expensive R&D as well as the subsequent heavy capital investment involved in complex mass production; and it generalizes mass consumption norms so that most citizens can share in the prosperity generated by rising economies of scale. Where the latter function involves only limited state provision for collective consumption, the state must ensure adequate levels of demand through the transfer of incomes. More intense intervention is likely both as Fordism rises to dominance and during its declining years” ( Jessop 1992, 43, 45). Mitte der 1970er Jahre kam es zu einer großen globalen Krise des Kapi‐ talismus, die zur Herausbildung eines globalen, flexiblen, neoliberalen Finanzkapitalismus führte. Dieser war gekennzeichnet durch die massive Zunahme des transnationalen Kapitals, flexible Produktionsweisen, die globale Auslagerung von Arbeit, die Schaffung prekärer Arbeitsverhältnisse zur Steigerung der Gewinne, risikoreiches Finanzkapital, Privatisierung, Akkumulation durch Enteignung und die Kommodifizierung von (fast) allem. Mit der massiven Kommerzialisierung und Privatisierung ging das Aufkommen von Megamalls und allgegenwärtigen kommerziellen Medien 7.3 Die Entwicklung der Werbung im Kapitalismus 249 <?page no="250"?> einher. Immer mehr Menschen tauchten ständig in die Warenkultur ein. David Harvey charakterisiert diese Phase des Kapitalismus wie folgt: Der flexible, globale, neoliberale, finanzialisierte Kapitalismus „is characterized by the emergence of entirely new sectors of production, new ways of providing financial services, new markets, and, above all, greatly intensified rates of commercial, technological, and organizational innovation. It has entrained rapid shifts in the patterning of uneven development, both between sectors and between geographical regions, giving rise, for example, to a vast surge in so-called 'service-sector' employment as well as to entirely new industrial ensembles in hitherto underdeveloped regions (such as the 'Third Italy', Flanders, the various silicon valleys and glens, to say nothing of the vast profusion of activities in newly industrializing countries). It has also entailed a new round of what I shall call 'time-space compression' […] in the capitalist world - the time horizons of both private and public decision-making have shrunk, while satellite communication and declining transport costs have made it increasingly possible to spread those decisions immediately over an ever wider and variegated space. These enhanced powers of flexibility and mobility have allowed employers to exert stronger pressures of labour control on a work force in any case weakened by two savage bouts of deflation, that saw unemployment rise to unprecedented postwar levels in advanced capitalist countries (save, perhaps, Japan). Organized labour was undercut by the reconstruction of foci of flexible accumulation in regions lacking previous industrial traditions, and by the importation back into the older centres of the regressive norms and practices established in these new areas” (Harvey 1990, 147). „The main substantive achievement of neoliberalization, however, has been to redistribute, rather than to generate, wealth and income. I have elsewhere provided an account of the main mechanisms whereby this was achieved under the rubric of ‘accumulation by dispossession’” (Harvey 2005, 159). Der digitale Kapitalismus ist kein Stadium, das dem globalen Kapitalismus folgt. Vielmehr hat er sich seit den 1970er Jahren als eine Dimension des globalen Kapitalismus und in Wechselwirkung mit diesem entwickelt und könnte sehr wohl nach dem globalen Kapitalismus auftreten. Neue digitale Technologien wie der Personal Computer, das World Wide Web, soziale Medien, das Mobiltelefon und Cloud Computing waren Mittel und Ergebnis der Krise und der Unbeständigkeit des Kapitalismus. Neue Tech‐ nologien wurden benötigt, um die globale Organisation des Kapitalismus, eine neue Phase der Automatisierung, des globalen Finanzkapitals und 250 7 Die Politische Ökonomie der Werbung <?page no="251"?> der Massenüberwachung zu organisieren. Im Rahmen der Versuche, den Kapitalismus zu stabilisieren, entstanden neue Formen der Werbung und des Einzelhandels, nämlich digitale zielgerichtete Werbung und Einkaufsorte, die die Warenkultur als fast ständiges Echtzeitmerkmal in die Alltagskom‐ munikation und das Alltagsleben integrierten. Harvey argumentiert in diesem Zusammenhang: „Information technology is the privileged technology of neoliberalism. It is far more useful for speculative activity and for maximizing the number of shortterm market contracts than for improving production. Interestingly, the main arenas of production that gained were the emergent cultural industries (films, videos, video games, music, advertising, art shows), which use IT as a basis for innovation and the marketing of new products” (Harvey 2005, 159) 1993 kündigte die Zeitschrift Forbes das kommende „Zeitalter des digitalen Kapitalismus“ an (Lenzner & Heuslein 1993). Im Jahr 1999 veröffentlichte der Politologe Dan Schiller (1999) das Buch Digital Capitalism. Networking the Global Market System. Was ist der digitale Kapitalismus? „Der digitale Kapitalismus ist im 20. und 21. Jahrhundert eine besondere Dimen‐ sion der kapitalistischen Gesellschaft gewesen. Mitte der 1970er Jahre erlebte der Kapitalismus eine tiefgreifende, multidimensio‐ nale Krise, die zum Aufstieg des neoliberalen Kapitalismus, zu einer neuen Runde der politisch-ökonomischen Globalisierung und zum Vormarsch neuer digitaler Technologien als Produktions- und Kommunikationsmittel führte (Fuchs 2008). Der Aufstieg des digitalen Paradigmas des Kapitalismus war eine Reaktion auf die Krise der kapitalistischen Gesellschaft. Der digitale Kapitalismus ist die Dimension der kapitalistischen Gesellschaft, in der Prozesse der Kapitalakkumulation, der Entscheidungsmacht und der Reputation mit Hilfe digitaler Technologien vermittelt und organisiert werden und in der wirtschaftliche, politische und kulturelle Prozesse zu digitalen Waren und digitalen Strukturen führen. Digitale Arbeit, digitales Kapital, politische Online-Kommunikation, digitale Aspekte von Protesten und gesellschaftlichen Kämpfen, Online-Ideologie und eine von Influencern dominierte digitale Kultur sind einige der Merkmale des digitalen Kapitalismus. Im digitalen Kapitalismus vermitteln die digitalen Technologien die Akkumulation von Kapital und Macht. Ein Merkmal des vernetzten Computers ist, dass er die Überwindung von Grenzen unterstützt und hilft, Beziehungen und Verhältnisse herzustellen und zu reproduzieren. So ist beispielsweise das World Wide Web ein Netz aus mitein- 7.3 Die Entwicklung der Werbung im Kapitalismus 251 <?page no="252"?> ander verknüpften Texten, Websites und Plattformen. Auf der Ebene der sozialen Systeme und der Gesellschaft ermöglicht die Digitalisierung die Herstellung und Reproduktion von Beziehungen zwischen Objekten und menschlichen Subjekten, zwischen Strukturen und menschlichen Praktiken. Der digitale Kapitalismus als Gesellschaftsformation funktioniert weder nur als Praxis noch nur als Struktur. Der digitale Kapitalismus ist nicht nur eine digitale Praxis und nicht nur eine digitale Struktur, er ist die Gesamtheit der Dialektik von digitalen Praktiken und digitalen Strukturen, die in der kapitalistischen Gesellschaft stattfinden. So sind beispielsweise die Serverfarmen von Facebook und Google technologische Struk‐ turen, die riesige Mengen an persönlichen Daten speichern. Google und Facebook sind nur durch die menschlichen Praktiken des Suchens, Klickens, Likens, Kommentierens, Hochladens usw. bedeutungsvoll. Diese Praktiken produzieren und reproduzieren Datenstrukturen, die weitere digitale Praktiken bedingen, ermöglichen und einschränken. Die Profite von Google und Facebook beruhen auf der Verwertung dieser Dialektik von digitalen Strukturen und Praktiken, so dass sie die digitale Arbeit ihrer Nutzer: innen ausbeuten […] Die Digitalisierung betrifft sowohl die Produktivkräfte als auch die Produktionsverhältnisse und die Dialektik von Kräften und Verhältnissen“ (Fuchs 2023, 34-35). Nur ein globales Informationssystem wie das Internet ermöglicht die Über‐ wachung großer Teile des Nutzerverhaltens in Echtzeit, was zu Big Data führt, die für zielgerichtete, individualisierte und personalisierte Werbung genutzt werden. Die Finanzialisierung des Kapitalismus führte in den Jahren 2007 und 2008 zu einer großen Wirtschaftskrise. Das Ergebnis war nicht eine neue Stufe der kapitalistischen Entwicklung, sondern eine Verschärfung des Neoliberalis‐ mus in Verbindung mit dem Erstarken autoritärer und faschistischer Kräfte in vielen Gesellschaften. Die COVID-19-Krise 2020/ 2021 führte zum erzwun‐ genen Lockdown der Gesellschaft und einem Stillstand der Wirtschaft, was Krisentendenzen hervorrief, auf die die Regierungen mit massiven Staatsausgaben reagieren mussten. Zum Zeitpunkt der Abfassung dieser Zeilen ist noch nicht klar, ob diese Krise eine neue Phase der kapitalistischen Entwicklung einleiten wird, z. B. ein neokeynesianisches Kapitalismusmo‐ dell mit weniger globalem Charakter und mehr Regulierung. 252 7 Die Politische Ökonomie der Werbung <?page no="253"?> Die Messung der Werbung Politische Ökonomen haben schon seit langer Zeit empirische Analysen der Werbung erstellt. In den 1950er Jahren führte Dallas Smythe (1954) Inhaltsanalysen des kommerziellen Fernsehprogramms in New York, Los Angeles und New Haven durch. Er wollte herausfinden, wie viel Werbung es im kommerziellen Fernsehen gibt. Die Programmzeit wurde mit Hilfe von Stoppuhren gemessen. Damals gab es noch keine Videorekorder, digitale Speichertechnologien usw., so dass für die Forschung Teams erforderlich waren, die ständig fernsahen und Messungen durchführten. Bei der Inhaltsanalyse wurden folgende Kategorien verwendet: Drama, Varieté, Tanz, Musik, Persönlichkeiten; Quiz, Stunts und Wettbewerbe; bildende Kunst, Sport, Nachrichten, Wetter, Informationen, Kochen; Kunst, Handwerk und Hobbys; Einkaufen und Waren, Körperpflege, öffentliche Themen, öffentliche Veranstaltungen, öffentliche Einrichtungen, Religion, persönliche Beziehungen, Vorschulunterhaltung. Die wichtigste Erkenntnis war, dass es bereits in der Frühphase des Fernsehens viel Werbung im US-Fernsehen gab: Werbung „nimmt etwa eine von fünf Minuten der Fernsehprogrammzeit in Großstädten und etwa eine von vier Minuten der Programmzeit in kleineren Städten ein“ (Smythe 1954, 66). Unterhaltung „macht drei von vier Minuten der Gesamtzeit aus. Man könnte sagen, dass das Hauptelement der Fernsehprogramme die Darstellung der Realität als Unterhaltung ist […] Informationsprogramme machen etwas weniger als ein Fünftel der gesamten Programmzeit aus“ (Smythe 1954, 66). Raymond Williams (1921-1988) begründete einen kritischen Ansatz, den er als Kulturellen Materialismus bezeichnete. Diese Theorie wird oft als eine Variante der Cultural Studies dargestellt, steht aber in Wirklichkeit der Politischen Ökonomie sehr nahe (siehe Fuchs 2017). Williams (1974) schrieb ein klassisches Buch über das Fernsehen. Darin analysierte er unter anderem die Rolle von Unterhaltung und Werbung im britischen und amerikanischen Fernsehen. Er führte eine Inhaltsanalyse des Programms einer Woche (3.-9. März 1973) auf fünf Fernsehsendern durch (Williams 1974, 40): BBC 1 und BBC 2 (öffentlich-rechtlicher Rundfunk) und ITV Anglia (kommerziell) im Vereinigten Königreich; KQED (öffentlich-rechtlicher Sender) und Channel 7 (kommerziell) in San Francisco. Die Tabellen 7.4 und 7.5 zeigen die Ergebnisse. 7.3 Die Entwicklung der Werbung im Kapitalismus 253 <?page no="254"?> 3.-9. März 1973 BBC 1 BBC 2 ITV Anglia KQED Chan‐ nel 7 Nachrichten und öffentliche Angelegenheiten 24,5% 12,0% 13,0% 22,5% 14,0% Features und Dokumentatio‐ nen 6,5% 20,0% 6,3% 6,0% 0,5% Bildung 23,0% 29,5% 12,5% 26,0% 2,0% Kunst und Musik 1,0% 2,5% 0% 5,0% 0% Programme für Kinder 11,5% 6,5% 8,0% 27,0% 4,0% Drama: Theaterstücke 4,5% 4,5% 3,1% 0% 0% Drama: Serien und Reihen 7,0% 4,0% 16,6% 5,0% 17,0% Filme 6,5% 11,0% 12,0% 5,5% 18,0% Allgemeine Unterhaltung 7,5% 7,5% 9,5% 0% 24,5% Sport 6,0% 1,5% 6,2% 2,0% 4,5% Religion 1,0% 0% 0,6% 0% 0,5% Senderinterne Ankündigun‐ gen 1,0% 1,0% 1,5% 1,0% 1,0% Werbespots 0% 0% 10,7% 0% 14,0% Tabelle 7.4: Raymond Williams‘ Inhaltsanalyse von Fernsehprogrammen, basierend auf Williams (1974, 83) 3.-9. März 1973 BBC 1 BBC 2 ITV Ang‐ lia KQED Channel 7 Typ A: öffent‐ lich-rechtliche In‐ halte 71% 75% 42,9% 86% 20,5% Typ B: kommerzi‐ elle Inhalte 21% 22,5% 38,1% 10,5% 59,5% Tabelle 7.5: Raymond Williams' Inhaltsanalyse von Fernsehprogrammen, umkodierte Da‐ ten, basierend auf Williams (1974, 84) 254 7 Die Politische Ökonomie der Werbung <?page no="255"?> Bei den drei öffentlich-rechtlichen Sendern gab es keine Werbung. Bei den beiden kommerziellen Sendern wurden mehr als 10 % der Sendezeit mit Werbung gefüllt. Williams kodierte die Daten neu (siehe Tabelle 7.5). Er unterscheidet zwischen zwei Arten von Programmen: ● Programmtyp A: öffentlich-rechtliche Inhalte mit Schwerpunkt auf Bildung, Lernen, Öffentlichkeit und allgemeinem Interesse (Nachrichten und öffentliche Angelegenheiten, Features und Dokumentationen, Bil‐ dung, Kunst und Musik, Kinderprogramme, Theaterstücke) ● Programmtyp B: kommerzielle Inhalte mit Schwerpunkt auf Unterhal‐ tung (Drama-Serien und Serien, Filme, allgemeine Unterhaltung) Die Analyse von Williams zeigt, dass kommerzielle Fernsehsender, die Werbung einsetzen, dazu neigen, sich mehr auf Unterhaltung als auf öf‐ fentlich-rechtliche Inhalte zu verlassen, da es einfacher ist, Werbung mit Inhalten vom Typ B (Unterhaltung) zu verkaufen. Infolgedessen verhalten sich kommerzielle Fernsehsender eher wie Boulevardzeitungen, bei denen Unterhaltung und Sensationslust seriösere und interessantere Informatio‐ nen ersetzen oder reduzieren. 7.4 Dallas Smythe: Das Publikum als Ware Die politische Ökonomie der Werbung Dallas Smythe (1977) hat einen klassischen Artikel über die politische Ökonomie der Werbung verfasst, in dem er die Begriffe „Publikumsarbeit“ (audience labour) und „Publikumsware“ (audience commodity) einführt. Er argumentiert, dass werbefinanzierte Medien keine Inhalte verkaufen, son‐ dern Inhalte kostenlos zur Verfügung stellen, um ein Publikum anzuziehen, das sie als Ware an die Werbekunden verkaufen. Sein Ausgangspunkt ist, dass die Analyse der Arbeit im Zusammenhang mit der Werbung ein blinder Fleck der kritischen Analyse ist: „The mass media of communications and related institutions concerned with advertising, market research, public relations and product and package design represent a blindspot in Marxist theory in the European and Atlantic basin cultures” (Smythe 1977, 1). Smy‐ the kritisierte, dass viele kritische und administrative Wissenschaftler: innen die kommerziellen Medien im Hinblick auf Botschaften, Informationen, Bilder, Bedeutung, Unterhaltung, Orientierung, Bildung, Manipulation und 7.4 Dallas Smythe: Das Publikum als Ware 255 <?page no="256"?> Ideologie analysierten. In seinem bahnbrechenden Artikel fragt er dann, was die Ware in der Werbung ist: „I submit that the materialist answer to the question - What is the commodity form of mass-produced, advertiser-supported communications under monopoly capitalism? - is audiences and readerships (hereafter referred to for simplicity as audiences). The material reality under monopoly capitalism is that all non-slee‐ ping time of most of the population is work time. This work time is devoted to the production of commodities-in-general (both where people get paid for their work and as members of audiences) and in the production and reproduction of labour power (the pay for which is subsumed in their income). Of the off-the-job work time, the largest single block is time of the audiences which is sold to advertisers” (Smythe 1977, 3). „What is the nature of the content of the mass media in economic terms under monopoly capitalism? The information, entertainment and ‘educational’ material transmitted to the audience is an inducement (gift, bribe or "free lunch") to recruit potential members of the audience and to maintain their loyal attention. The appropriateness of the analogy to the free lunch in the old-time saloon or cocktail bar is manifest: the free lunch consists of materials which whet the prospective audience members' appetites and thus (1) attract and keep them attending to the programme, newspaper or magazine, and (2) cultivate a mood conducive to favourable reaction to the explicit and implicit advertisers' messages” (Smythe 1977, 5). „The work which audience members perform for the advertiser to whom they have been sold is to learn to buy particular ‘brands’ of consumer goods, and to spend their income accordingly. In short, they work to create the demand for advertised goods which is the purpose of the monopoly capitalist advertisers. While doing this, audience members are simultaneously reproducing their own labour power” (Smythe 1977, 6). Smythe argumentiert, dass werbefinanzierte Medien den Zugang zum Pu‐ blikum als Ware an Werbekunden verkaufen. Nach Marx schaffen die Ar‐ beitenden den Wert der Waren. Die logische Schlussfolgerung von Smythe ist, dass das Publikum für werbefinanzierte Medien arbeitet, weshalb er davon spricht, dass das Publikum die Publikumsarbeit verrichtet, indem es den kommerziellen Medien Aufmerksamkeit schenkt und sie konsumiert. Im Zeitalter des digitalen Kapitalismus, in dem digitale Anzeigen eine wichtige Rolle spielen, bleibt Smythes Analyse für die Analyse der politischen Ökonomie der digitalen Werbung hochaktuell (Fuchs 2012). 256 7 Die Politische Ökonomie der Werbung <?page no="257"?> Karl Bücher, einer der Begründer der Zeitungswissenschaft in Deutsch‐ land, vertrat eine Argumentation, die mit dem Ansatz von Smythe vergleich‐ bar ist: „Durch die Aufnahme des Inseratenwesens geriet die Zeitung in eine eigentüm‐ liche Zwitterstellung. Sie bringt für den Abonnementpreis nicht mehr bloß Nachrichten und Ansichten zur Veröffentlichung, an die sich ein allgemeines Interesse knüpft, sondern sie dient auch dem Privatverkehr und dem Privatin‐ teresse durch Anzeigen jeder Art, welche ihr speziell vergolten werden. Sie verkauft neue Nachrichten an ihre Leser, und sie verkauft ihren Leserkreis an jedes zahlungsfähige Privatinteresse“ (Bücher 1893/ 1917, 258). Smythe nennt vier Ziele der kommerziellen, werbefinanzierten Massenme‐ dien: ● Die Zurverfügungstellung von Konsument: innen: „The prime pur‐ pose of the mass media complex is to produce people in audiences who work at learning the theory and practice of consumership for civilian goods and who support (with taxes and votes) the military demand management system”. ● Die Ausbreitung der Ideologie des Besitzindividualismus: „The second principal purpose is to produce audiences whose theory and practice confirms the ideology of monopoly capitalism (possessive individualism in an authoritarian political system)”. ● Die Schaffung von Unterstützung für die staatliche Politik: „The third principal purpose is to produce public opinion supportive of the strategic and tactical policies of the state (e.g. presidential candidates, support of Indochinese military adventures, space race, détente with the Soviet Union, rapprochement with China and ethnic and youth dissent)”. ● Die Erhaltung der Medien als profitable Unternehmen: „Necessa‐ rily in the monopoly capitalist system, the fourth purpose of the mass media complex is to operate itself so profitably as to ensure unrivalled respect for its economic importance in the system” (Smythe 1977, 20). Die Einschaltquotenindustrie Um die Publikumware zu verkaufen, muss ihre Größe bestimmt werden. Infolgedessen hat sich die Einschaltquotenindustrie als Teil der Werbein‐ dustrie entwickelt: 7.4 Dallas Smythe: Das Publikum als Ware 257 <?page no="258"?> „How are advertisers assured that they are getting what they pay for when they buy audiences? A sub-industry sector of the consciousness industry checks to determine. The socio-economic characteristics of the delivered audience/ rea‐ dership and its size are the business of A.C. Nielsen and a host of competitors who specialize in rapid assessment of the delivered audience commodity. The behaviour of the members of the audience product under the impact of advertising and the ‘editorial’ content is the object of market research by a large number of independent market research agencies as well as by similar staffs located in advertising agencies, the advertising corporation and in media enterprises” (Smythe 1977, 4-5). Eileen Meehan (2002) analysiert geschlechtsspezifische Aspekte der Ware Publikum. Sie spricht von der geschlechtsspezifischen Publikumsware (ge‐ ndered commodity audience): Werbetreibende sind in erster Linie an Konsu‐ ment: inn: en interessiert, die über „das verfügbare Einkommen, den Zugang und den Wunsch, Markenprodukte loyal zu kaufen und gewohnheitsmäßig Impulskäufe zu tätigen“ verfügen (Meehan 2002, 213). „Je größer die Zahl der gutverdienenden Verbraucher ist, desto höher ist der von den Sendern verlangte Preis“ (Meehan 2002, 213). „Die Überbewertung eines männlichen Publikums spiegelt den Sexismus des Patriarchats ebenso sicher wider wie die Überbewertung eines gehobenen Publikums den Klassismus des Kapitalismus. […] Aus dieser Perspektive ist das Fernsehen so strukturiert, dass es jeden diskriminiert, der nicht zum Publikumsware der weißen, 18bis 34-jährigen, heterosexuellen, englischsprachigen, gehobenen Männer gehört. […] das Fernsehen ist ein Instrument der Unterdrückung“ (Meehan 2002, 220-221). Die Einschaltquotenindustrie besteht aus Unternehmen wie Nielsen, Comscore, Traffic Audit Bureau, Audit Bureau of Circulation und Sim‐ mons/ MRI. In Deutschland ist die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) der dominierende Akteur bei der Messung des Fernsehpublikums. Die Ratingagenturen messen die Einschaltquoten und versuchen so, die Preise der Publikumswaren zu beeinflussen. Es besteht ein Zusammenhang zwischen Anzeigenpreisen und der Größe der Leserschaft: Picard (2009) untersuchte die Beziehung zwischen Auflage und Anzeigenpreisen einer Stichprobe von 160 Tageszeitungen. Er stellte fest, dass der durchschnittliche Anzeigenpreis mit steigender Auflage zu‐ nimmt. 258 7 Die Politische Ökonomie der Werbung <?page no="259"?> Kapitalakkumulation in der Werbeindustrie Abbildung 7.2 zeigt die Kapitalakkumulationsprozesse in der Werbebranche. c (Technologien, Infrastruktur) G - W . . P 1 . . P 2 . . W‘ -- G‘ v 1 (bezahlt) v 2 Publikumsarbeit Normale Unternehmen Werbefinanzierte Medienunternehmen Werbeagenturen Werbekampagnen, Marken Publikumsware Zuschauerzahlen G W { .. P .. W’=W+ △ w G’ Ak (v) Pm (c) G W { .. P .. W’=W+ △ w G’ Pm (c) Ak (v) G W { .. P .. W’=W+ △ w G’ Pm (c) Ak (v) Abbildung 7.2: Kapitalakkumulation in der Werbeindustrie Die Werbeindustrie besteht aus Werbeagenturen, die Werbekampagnen und Branding als Waren verkaufen, aus Ratingagenturen, die Einschaltquoten verkaufen, und aus Werbeagenturen, die Anzeigen verkaufen. Diese Pro‐ zesse stellen drei Kapitalakkumulationszyklen dar, die in Wechselwirkung mit der Kapitalakkumulation regulärer Unternehmen stehen und durch diese vermittelt werden. Im unteren Teil von Abbildung 7.2 sehen wir den Kapitalakkumulationsprozess der werbefinanzierten Medien. Die Ar‐ beiter: innen in solchen Unternehmen produzieren ein Produkt P1 (Inhalt), das keine oder nur teilweise eine Ware ist. Das Publikum (v2) fungiert als Arbeiter, der eine Ware W‘ produziert, nämlich die Publikumsware. Der Kapitalakkumulationskreislauf der werbefinanzierten Medien ist an regu‐ läre Unternehmen gekoppelt, und zwar über die Investitionen, die letztere durch den Kauf von Anzeigen in erstere tätigen, sowie über den Einfluss 7.4 Dallas Smythe: Das Publikum als Ware 259 <?page no="260"?> der Anzeigen auf den Verkaufsprozess W‘ - G‘ regulärer Unternehmen, die versuchen, Waren an Konsument: innen zu verkaufen. Normale Unternehmen haben entweder ihre eigenen PR- und Werbeabtei‐ lungen oder investieren oft Geld in Werbe- und Markenkampagnen, für die sie die Dienste von Werbeagenturen in Anspruch nehmen. Werbeagenturen verkaufen Werbekampagnen und Marken als Handelsware. Sie erhalten Geld von regulären Unternehmen, kaufen Einschaltquoten und Werbeplätze von werbefinanzierten Medien. Rating-Unternehmen wie Nielsen erstellen Einschaltquoten. Sie verkaufen diese Daten an Medien und andere, die ein Interesse daran haben, herauszufinden, wie attraktiv oder unattraktiv bestimmte Anzeigen für bestimmte Zielgruppen sind. Horkheimer und Adorno argumentieren, dass Werbung ein wichtiger Aspekt des Kapitalismus ist: „Kultur ist eine paradoxe Ware. Sie steht so völlig unterm Tauschgesetz, daß sie nicht mehr getauscht wird; […] Zu gewiß könnte man ohne die ganze Kulturindustrie leben […] Reklame ist ihr Lebenselixier“ (Horkheimer & Adorno 1969, 190). Manfred Knoche (2005) führt drei Dimensionen der Werbung als Lebenselixier des Kapitalismus an: ● Verhinderung: Werbung verhindert Überproduktion, Überakkumula‐ tion und Kapitalakkumulationsprobleme. ● Fortschreiten: Werbung fördert die Marktkonzentration, die Kapital‐ konzentration, die Kluft zwischen Arm und Reich und die Kluft zwischen den Mächtigen und den Abhängigen. Auf Unternehmensebene versu‐ chen die Unternehmen mit Hilfe von Werbung den Absatz von Waren, die Kapitalakkumulation und ihre Profitabilität zu fördern. ● Stabilisierung: Werbung stabilisiert das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit, das Akkumulationsregime, die kommerziellen Medien und den Kapitalismus. 7.5 Die Bewertung der Werbung Politische Ökonomie hat auch etwas mit Moralphilosophie zu tun. Sie will verstehen, wie Werbung im Kapitalismus funktioniert und auch welche negativen Auswirkungen sie auf die Gesellschaft haben kann. Das Buch Advertising and Society: An Introduction (Pardun 2014) stellt Debatten über die positiven und negativen Auswirkungen der Werbung auf die Gesellschaft vor. In jedem Abschnitt des Buches diskutieren zwei Personen, die gegen‐ 260 7 Die Politische Ökonomie der Werbung <?page no="261"?> 39 https: / / www.iaaglobal.org/ about/ mission-and-values, abgerufen am 15. Dezember 2022. sätzliche Ansichten vertreten, einen bestimmten Aspekt der Werbung in der Gesellschaft. Fassen wir einige der Argumente zusammen, die für und gegen Werbung vorgebracht werden (siehe Doyle 2013, 146-147; Pardun 2014) Legitimation Legitimierende Positionen zur Werbung behaupten zum Beispiel folgendes: ● Werbung ist eine wichtige Information für Kund: innen, die wissen wollen, welche Produkte verfügbar sind. ● Werbung ist eine Form der Kommunikation zwischen Unternehmen und Kund: innen, die das Marktsystem zum Funktionieren bringt und die Wahlfreiheit und Souveränität der Kunden ermöglicht. ● Ohne Werbung wären Produkte und Dienstleistungen teurer und die Verbraucher: innen würden weniger fundierte Kaufentscheidungen tref‐ fen. ● Werbung hilft, Entscheidungen zu treffen und die Komplexität in einer Konsumgesellschaft mit einem hohen Maß an Angebot und Nachfrage zu reduzieren. Werbeverbände sind Vereinigungen von Unternehmen, die in der Werbe‐ branche Geld verdienen. Sie setzen sich für mehr Werbung, eine positive Einstellung zur Werbung in der Gesellschaft und eine günstige Behandlung der Werbetreibenden durch die Regierungen ein. Die International Adver‐ tising Association wurde 1938 gegründet. Sie ist gegen eine staatliche Regulierung der Werbung und befürwortet daher die Selbstregulierung, was bedeutet, dass die Werbeunternehmen ihre eigenen Verhaltensregeln aufstellen und sich verpflichten, diese einzuhalten. Die IAA definiert eines ihrer Ziele und Werte wie folgt: „Einsatz für den Schutz und die Förderung der Freiheit der kommerziellen Rede und der Wahlfreiheit der Konsument: innen bei gleichzeitiger Ver‐ teidigung der verantwortungsbewussten Kommunikationsindustrie gegen ungerechtfertigte Verbote und Einschränkungen“ 39 . In Deutschland argumentiert der Zentralverband der Deutschen Werbe‐ wirtschaft, dass Werbung „ein integraler Bestandteil der freien Marktwirt‐ schaft und ein unverzichtbarer Faktor in einer vielfältigen und unabhängi‐ 7.5 Die Bewertung der Werbung 261 <?page no="262"?> 40 https: / / zaw.de/ about-zaw/ , abgerufen am 15. Dezember 2022. gen Medienlandschaft ist“ und dass sie „die Freiheit der kommerziellen Werbung und insbesondere unverhältnismäßige produkt- oder medienspe‐ zifische Verbote und Beschränkungen der kommerziellen Kommunikation“ verteidigen und fördern will 40 . Die Rede von der „Freiheit der kommerziellen Rede“ (IAA) oder der „Freiheit der kommerziellen Werbung“ sind höfliche Formulierungen für die Ansicht, dass es den Werbetreibenden erlaubt sein sollte, jede beliebige Behauptung über ihre Waren aufzustellen, selbst wenn es sich um Lügen handelt. In dem Bericht How Advertising Fuels the UK Economy (Wie Werbung die britische Wirtschaft antreibt) behauptet die Advertising Association (AA) (Advertising Association 2013, 6), dass Werbung viele Vorteile mit sich bringt: „advertising drives price competition, advertising funds media and the creative industries, advertising promotes innovation and differentiation, advertising enables the digital economy, advertising encourages market growth, advertising’s social contribution has an economic value, advertising spend supports a wide range of employment, advertising supports exports”. Diese Argumente sind hauptsächlich wirtschaftlicher Natur. Sie beruhen auf der neoliberalen Auffassung, dass Werbung gut ist, da sie das Poten‐ zial hat, das Bruttoinlandsprodukt zu steigern. Gemeint ist damit aber, dass Werbung als Mittel zur Profitsteigerung angesehen wird. Über die möglichen und tatsächlichen negativen Auswirkungen der Werbung auf die Gesellschaft wird nicht gesprochen. Der Schwerpunkt liegt auf rein wirt‐ schaftlichen Zielen, Fragen der soziale Gerechtigkeit und der Demokratie sowie negative Auswirkungen der Werbung auf die Gesellschaft spielen in einer solchen Propaganda für die Werbung keine Rolle. Es gibt auch Kritiker: innen der Werbung. Sehen wir uns einige ihrer Argumente an. Kritische Positionen zur Werbung ● Werbung ist Produktpropaganda, die tatsächliche oder mögliche nega‐ tive Eigenschaften von Produkten verschleiert. ● Werbung präsentiert nur die Produkte und Ideologien mächtiger Un‐ ternehmen und diskriminiert konkurrierende Produkte und Ansichten 262 7 Die Politische Ökonomie der Werbung <?page no="263"?> sowie weniger mächtige Akteure, insbesondere nicht-kommerzielle und gemeinnützige Organisationen. ● Werbung fördert die Konzentration der Wirtschaft. ● Werbung fördert die Medienkonzentration über die Anzeigen-Auf‐ lage-Spirale (siehe die Diskussion dieser Spirale in Kapitel 6, Abschnitt 6.3). ● Werbetreibende versuchen, die Bedürfnisse, Wünsche, Geschmäcker, Kauf- und Konsumentscheidungen der Menschen zu manipulieren. ● Die Werbung richtet sich hauptsächlich an wohlhabende Konsument: in‐ nen. ● Die Werbung strukturiert die Medien der Unternehmen als Filter, so dass Kritik am Verhalten der Unternehmen vermieden wird, um nicht den Verlust von Werbekunden zu riskieren. ● Werbetreibende versuchen, Berechnungen und rein mathematische Annahmen über menschliches Verhalten und Interessen anzustellen (z. B. eine Person lebt in einer bestimmten Gegend, hat eine bestimmte Hautfarbe und ein bestimmtes Alter => hat ein geringes Einkommen, ihr sollte kein Kredit angeboten werden). Sie sortiert Konsument: innen und Nutzer: innen statistisch in Gruppen ein und neigt dazu, vor allem die Schwachen, Menschen mit geringer Kaufkraft und Farbige zu diskrimi‐ nieren, die infolgedessen in der Gesellschaft benachteiligt werden. ● Werbung enthält häufig Stereotypen, Vorurteile und Voreingenommen‐ heit und neigt dazu, diese zu verstärken. Beispiele dafür sind klassisti‐ sche, rassistische und patriarchalische Stereotypen. ● In der Werbung werden Frauen häufig auf sexistische Weise dargestellt. ● Werbung neigt dazu, die Privatsphäre der Verbraucher: innen zu verlet‐ zen und sensible persönliche Daten für kommerzielle Zwecke zu nutzen. ● Werbung fördert den Massenkonsum von meist nicht erneuerbaren Ressourcen, die in der Natur als Abfall enden. Werbung verschlimmert die ökologische Krise. ● Werbung fördert die Programmierung von Unterhaltungsprogrammen und damit die Boulevardisierung der Medien sowie die Aushöhlung der öffentlich-rechtlichen Medien/ Inhalte. ● Werbung kann die Verschuldung der Konsument: innen fördern, die ein wichtiger Faktor bei Wirtschaftskrisen wie der Weltwirtschaftskrise 2007/ 2008 war. 7.5 Die Bewertung der Werbung 263 <?page no="264"?> Aufgabe Merke Frage Literatur Wissen Zusatz Link / www Checkliste Ziele ICON SET 5 7.6 Werbung als Ideologie Diamanten sind der beste Freund des Kapitalismus… De Beers ist ein in Luxemburg ansässiger Hersteller und Einzelhändler von Diamanten und Diamantringen. Es wurde 1888 gegründet und ist einer der größten und profitabelsten Diamantenproduzenten der Welt. Führen Sie die folgende Übung durch. Sie beschäftigt sich mit einer der Diamantenanzeigen von De Beers. ÜBUNG 7.4: DE BEERS DIAMANTENRING-WERBUNG Schauen Sie sich die folgende Werbung des Diamantenhandelsunter‐ nehmens De Beers an (falls einer der Links nicht mehr funktioniert, verwenden Sie einen anderen, oder führen Sie alternativ eine On‐ line-Bildsuche durch): De Beers right hand ring campaign 2003: https: / / www.pinterest.com/ pin/ 453808099921650217/ https: / / i1.wp.com/ dataintherough.com/ wp-content/ uploads/ 2016/ 07/ DeBeers-Right-Hand-Ring-Campaign.jpg? ssl=1 https: / / dataintherough.com/ tag/ de-beers/ Das Bild zeigt eine Geschäftsfrau mit einem glänzenden Diamantring. Der begleitende Text lautet: YOUR LEFT HAND SAYS “WE.” YOUR RIGHT HAND SAYS “ME.” YOUR LEFT HAND LOVES CANDLELIGHT. YOUR RIGHT HAND LOVES THE SPOTLIGHT. YOUR LEFT HAND ROCKS THE CRA‐ DLE. YOUR RIGHT HAND RULES THE WORLD. WOMEN OF THE WORLD, RAISE YOUR RIGHT HAND. IHRE LINKE HAND SAGT „WIR“. IHRE RECHTE HAND SAGT „ICH“. IHRE LINKE HAND LIEBT KERZENLICHT. IHRE RECHTE HAND LIEBT DAS RAMPENLICHT. IHRE LINKE HAND SCHAUKELT DIE WIEGE. IHRE RECHTE HAND REGIERT DIE WELT. FRAUEN DER WELT, HEBT EURE RECHTE HAND. Diskutieren Sie: Was ist die grundlegende Botschaft dieser Werbung? Welche Eigenschaften unterstellt De Beers seinen Diamantringen? Inwiefern ist diese Werbung ideologisch? 264 7 Die Politische Ökonomie der Werbung <?page no="265"?> Was ist Ideologie? Terry Eagleton (1991) gibt eine Einführung in den Begriff der Ideologie. Er zeigt, dass es sowohl allgemeine Definitionen gibt, die Ideologie mit Weltanschauungen gleichsetzen, als auch kritische Definitionen von Ideo‐ logie, die sich auf Aspekte der Täuschung, Manipulation, Legitimation von Klasseninteressen, Verzerrung und Verdeckung der Wahrheit konzentrieren (Eagleton 1991, 28-31). Marx betont in diesem Zusammenhang, dass eine Ideologie die Wirklichkeit anders erscheinen lässt, als sie tatsächlich ist. Er schreibt, dass „in der ganzen Ideologie die Menschen und ihre Verhältnisse wie in einer Camera obscura auf den Kopf gestellt erscheinen“ (Marx & Engels 1845/ 1846, 26). Ideologie ist „ein verkehrtes Weltbewusstsein”, ein „Opium-des Volkes“ (Marx 1843, 378). Ideologie kann in einem kritischen Ansatz als Gedanken, Praktiken, Ideen, Wörter, Konzepte, Phrasen, Sätze, Texte, Glaubenssysteme, Bedeutungen, Darstellungen, Artefakte, Institutionen, Systeme oder Kombinationen da‐ von verstanden werden, die die Vorherrschaft und Macht einer Gruppe oder eines Individuums darstellen und rechtfertigen, indem sie die Realität in symbolischen Darstellungen falsch darstellen, eindimensional präsentieren oder verzerren. „Ideologie ist der Versuch, das Bewusstsein in ein Ding zu verwandeln. […] Die Ideologie versucht, soziale Beziehungen als dinghaft und unveränderbar zu präsentieren” (Fuchs 2020a, 295). In der De-Beer-Werbung wird der von De Beer's verkaufte Diamantring als Schlüssel zum Erfolg von Frauen in der Geschäftswelt und in der Welt im Allgemeinen dargestellt. Es wird kommuniziert, dass Frauen die Diamant‐ ringe des Unternehmens kaufen sollten und dass das Tragen dieser Ringe sie zu selbstbewussten und erfolgreichen Führungskräften und Managerinnen in der Geschäftswelt machen wird. Der Diamantring, der eine Sache ist, wird als magischer Gegenstand dargestellt, der die Macht hat, das Leben der Frauen in der Welt positiv zu verändern. In Wirklichkeit wissen wir, dass Dinge wie Ringe keine Veränderungen in der Gesellschaft bewirken. Die Werbung ist eine Ideologie, die den Frauen Erfolg durch den Kauf von Luxusgütern verspricht. Die Macher des Werbespots sind daran interessiert, den Verkauf von Diamantringen zu fördern und die Gewinne von De Beer zu steigern. Sie sagen dies jedoch nicht, sondern präsentieren eine imaginäre, erfundene Geschichte über die angebliche Magie des Diamantrings. Wie die Religion, Betrüger oder Scharlatane macht auch die Werbung leere Versprechungen, die nicht mit der Realität übereinstimmen. 7.6 Werbung als Ideologie 265 <?page no="266"?> Der Warenfetisch Marx betont, dass Ideologien Praktiken und Denkweisen sind, die Behaup‐ tungen aufstellen, die nicht mit der Realität übereinstimmen oder Aspekte der menschlichen Existenz, die historisch und veränderlich sind, als ewig und unveränderlich darstellen. Im Kapital Band 1 widmet Marx (1867, Kapitel 1.4) einen Abschnitt dem „Fetischischarakter der Ware“. Er analysiert den Warenfetisch. Der Warenfetisch ist eine ästhetische und ideologische Dimension von Waren, die gesellschaftliche Verhältnisse als Dinge oder als Beziehungen zwischen Menschen und Dingen erscheinen lässt. Beim Warenkauf werden wir mit Geld und Waren (Dingen) konfrontiert und sehen nicht die Arbeitenden, die die Waren hergestellt haben, und ihre Arbeitsbedingungen. Die Wirtschaft erscheint uns in Form von Geld und Waren. In der Warenwelt nimmt das „gesellschaftliche Verhältnis der Men‐ schen“ die die „phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen“ an (Marx 1867, 86). Die De Beers-Werbung ist ein Ausdruck der ideologi‐ schen Dimension des Warenfetisch: Sie verspricht, dass ein Ding positive Veränderungen im Leben der Frauen bewirken wird, die in Wirklichkeit nur von Menschen in sozialen Beziehungen herbeigeführt werden können. Die Werbung präsentiert das Ding (den Ring) als magischen Transformator und vernachlässigt die sozialen Beziehungen, um die Verbraucher zum Kauf von Diamantringen zu bewegen. Sut Jhally (2006) argumentiert, dass im Kapitalismus die Arbeitsteilung dazu führt, dass die Menschen nur an einem Teil des Produkts arbeiten (siehe auch Jhally 1987). Es gibt eine Trennung zwischen geistiger und körperlicher Arbeit. Die Waren kommen über die Märkte zu uns, wir verstehen ihren Ursprung nicht. „Die in die Waren eingebetteten gesellschaftlichen Produk‐ tionsverhältnisse werden systematisch vor unseren Augen verborgen. Die wirkliche Bedeutung der Waren wird in der kapitalistischen Produktion und im Konsum entleert“ ( Jhally 2006, 88). „Die Produktion entleert. Werbung füllt“ ( Jhally 2006, 89). Werbung ist so mächtig, weil sie Geschichten erzählt und Bedeutungen über Waren und die Gesellschaft vermittelt, die in anderen Formen nicht dargestellt werden. Dabei bedient sie sich verschiedener Strategien, zum Beispiel der Strategie der schwarzen Magie: „Personen machen plötzliche körperliche Veränderungen durch“, „Die Ware kann verwendet werden, um andere Menschen zu begeistern und zu verzaubern“ ( Jhally 2006, 91). „Die eigentliche Funktion der Werbung besteht nicht darin, den Menschen Informationen zu geben, sondern ihnen ein gutes 266 7 Die Politische Ökonomie der Werbung <?page no="267"?> Gefühl zu vermitteln“ ( Jhally 2006, 92). Werbung ist eine säkulare Form von Religion und Gott. Werbung ist ein System des Warenfetischs: Sie verspricht Zufriedenheit und Glück durch den Konsum von Dingen ( Jhally 2006, 102) Ähnlich wie Jhally argumentiert Raymond Williams (1980), dass Werbung ein magisches System ist, das verspricht, dass der Kauf und Konsum von Waren das Leben der Verbraucher auf magische Weise verändert. „Man kauft nicht nur einen Gegenstand: man kauft soziale Achtung, Bewunderung, Gesundheit, Schönheit, Erfolg, die Macht, sein Umfeld zu kontrollieren. Die Magie verschleiert die wahren Quellen der allgemeinen Zufriedenheit, denn ihre Entdeckung würde eine radikale Veränderung der gesamten Lebensweise bedeuten“ (Williams 1980, 189). Für Jhally und Williams ist Werbung Warenpropaganda, die propagiert, dass menschliches Glück durch den Konsum von Waren entsteht. De Beers Werbung für Diamantringe baut auf der Tatsache auf, dass die Menschen nicht wissen, wie diese Ringe produziert wurden, da der Warenfe‐ tisch die Produktionsverhältnisse verschleiert. Es gibt keine automatischen Geschichten, die mit den Diamantringen von De Beer verbunden sind. Das Unternehmen nutzt diese Leere, um Geschichten zu erfinden, insbesondere die Geschichte, dass das Tragen seiner Ringe Frauen zu erfolgreichen Geschäftsführern macht. Das Unternehmen nutzt die Werbestrategie der schwarzen Magie. Wenn die Konsument: innen einen Ring von De Beer's kaufen, kaufen sie nicht einfach einen Ring, sondern eine Marke, die ihnen das Gefühl gibt, gut, wichtig, schön, mächtig, erfolgreich, bewundernswert usw. zu sein. In Wirklichkeit stammen alle diese Eigenschaften nicht von Dingen, sondern von sozialen Beziehungen. Werbung ist Warenpropaganda. Sie ist eine Ideologie, die Geschichten erzählt, um den Verkauf von Waren zu fördern (siehe Sussman 2012, 475). Herman und Chomsky: Das Propaganda-Modell In ihrem Buch Manufacturing Consent. The Political Economy of the Mass Media beschreiben Edward Herman und Noam Chomsky (1994), wie die politische Ökonomie als Filter wirkt, der eine Art wirtschaftliche Zensur der Medien schafft. Sie identifizieren fünf solcher Filter, die sie zusammen als das Propagandamodell bezeichnen. (f1) Profitorientierung, (f2) Werbung, (f3) dominante Informationsquellen, 7.6 Werbung als Ideologie 267 <?page no="268"?> (f4) Flak, (f5) Ideologie. Die Profitorientierung der Medien kann negative Auswirkungen auf die Berichterstattung haben (f1). Zum Beispiel könnten gewinnorientierte Medien dazu neigen, negativ über diejenigen zu berichten, die dem Profit‐ prinzip kritisch gegenüberstehen. Medien tendieren teilweise dazu, sich auf dominante Informationsquellen verlassen und die Stimmen derer, die nicht mächtig sind, auszublenden (f3). „Flak“ waren Flugzeugabwehrkanonen, die von den Deutschen im Zweiten Weltkrieg eingesetzt wurden. Herman und Chomsky verwenden den Begriff, um zu argumentieren, dass mächtige Organisationen Geld in Öffentlichkeitsarbeit und Lobbying investieren, um gegen ihre negative Darstellung in der Öffentlichkeit und in den Medien vorzugehen (f4). Ideologie kann die Denkweise von Redakteur: innen und Journalist: inn: en prägen und so zu einer bestimmten politischen Ausrich‐ tung des Mediums führen (f5). Werbung ist einer der fünf Filter der politischen Ökonomie, die Herman und Chomsky diskutieren (f2). Sie argumentieren, dass die Gefahr besteht, dass werbefinanzierte Medien die Realität verzerren. In diesem Zusammen‐ hang führen sie drei grundlegende Argumente an: ● Werbung begünstigt Konzentration und hat Nachteile für werbe‐ freie Medien: „With the growth of advertising, papers that attracted ads could afford a copy price well below production costs. This puts papers lacking in advertising at a serious disadvantage: their prices would tend to be higher […] an advertising-based system will tend to drive out of existence or into marginality the media companies and types that depend of revenue from sales alone” (Herman & Chomsky 1994, 14). ● Die Anzeigen-Auflagen-Spirale: „A market share and advertising edge on the part of one paper or television station will give it additional revenue to compete more effectively - promote more aggressively, buy more salable features and programs - and the disadvantaged rival must add expenses it cannot afford to try to stem the cumulative process of dwindling market (and revenue) share” (Herman & Chomsky 1994, 15). Eine stärkere Medienkonzentration ist tendenziell die Folge der Anzeigen-Auflage-Spirale. ● Konservatismus: „[Advertisers] choose selectively among programs on the basis of their own principles. With rare exceptions these are cul‐ turally and politically conservative. Large corporate advertisers on tele‐ 268 7 Die Politische Ökonomie der Werbung <?page no="269"?> vision will rarely sponsor programs that engage in serious criticisms of corporate activities, such as the problem of environmental degradation, the workings of the military-industrial complex, or corporate support of and benefits from Third World tyrannies” (Herman & Chomsky 1994, 17). Das Propagandamodell hat sicherlich seine Grenzen. Es bietet zum Beispiel kein systematisches Modell und berücksichtigt keine Aspekte der Arbeit. Nichtsdestotrotz bleibt es ein wichtiger Mechanismus für die Analyse wirt‐ schaftlicher Zensur (siehe Fuchs 2018; Pedro-Carañana, Broudy & Klaehn 2018). Branding (Markenbildung) Werbung ist immer ideologisch. Branding (Markenbildung) ist eine erwei‐ terte Form der Werbung und damit der Ideologie, die versucht, bestimmte Lebensstile mit bestimmten Waren zu verknüpfen. „Eine Marke ist ein Name und ein Image, das mit einer bestimmten Produktion oder einem bestimmten Unternehmen verbunden ist“ (Turow 2010, 594). Die Journalistin Naomi Klein ist eine der Kritikerinnen des Branding. Sie argumentiert: „[The] role of branding has been changing, particularly in the past fifteen years: rather than serving as a guarantee of value on a product, the brand itself has increasingly become the product, a free-standing idea pasted on to innumerable surfaces. The actual product bearing the brand-name has become a medium, like radio or a billboard, to transmit the real message. The message is: It's Nike. It's Disney. It's Microsoft. It's Diesel. It's Caterpillar” (Klein 2000). „Savvy ad agencies began to think of themselves as brand factories, hammering out what is of true value: the idea, the lifestyle, the attitude. Out of this heady time, we learnt that Nike was about ‘Sport’, not shoes; Microsoft about ‘Commu‐ nications’, not software; Starbucks about ‘Community’, not coffee; Virgin about a ‘Fun-loving Attitude’, not an airline, a record label, a cola, a bridal gown line, a train - or any of the other brand extensions the company has launched. My favourite is Diesel, whose chief executive says he has ‘created a movement’, not a line of clothes” (Klein 2000). „The formula for these brand-driven companies is pretty much the same: get rid of your unionised factories in the west and buy your products from Asian or Central 7.6 Werbung als Ideologie 269 <?page no="270"?> American contractors and sub-contractors. Then, take the money you save and spend it on branding---on advertising, superstores, sponsorships” (Klein 2000). Es gibt mehrere Auswirkungen des Branding auf die Gesellschaft (Klein 2015, 2000): ● Branding fördert die Privatisierung der sozialen und kulturellen Infra‐ struktur (z. B. in der Form von Schulen, die von Marken gesponsert werden). ● Das Branding schränkt die Auswahl ein und fördert die Konzentration der Wirtschaft. ● Das Branding ist teuer und treibt daher den Wettlauf um die Einsparung von Produktionskosten voran. Die Folgen sind ausgelagerte Arbeits‐ kräfte in Exportzonen mit niedrigen Löhnen, langen Arbeitszeiten, militärischem Management, gefährlichen Arbeitsplätzen, gefährlicher Arbeit und dem Fehlen von Gewerkschaften. Jim McGuigan (2009) argumentiert, dass das Branding mit dem Aufstieg des „coolen Kapitalismus“ einherging: Unternehmen präsentieren sich als Verkäufer von Marken, die einen coolen Lebensstil ermöglichen. Cooler Kapitalismus ist ein Ausdruck folgender Aspekte: ● Postfordistischer, flexibler Kapitalismus (Harvey 1990): Im heu‐ tigen Kapitalismus werden Produkte nicht in Massenproduktion herge‐ stellt, sondern spezialisiert, zielgerichtet, personalisiert, individualisiert. Dies wird auch mit Begriffen wie „flexible Spezialisierung“ und „flexi‐ bles Akkumulationsregime“ beschrieben. ● Neoliberalismus (Harvey 2005): Der Neoliberalismus ist eine Form der Politik, die auf der Privatisierung öffentlicher Güter und Dienstleis‐ tungen, der Kommodifizierung von allem und der Individualisierung der Risiken beruht. ● Der neue Geist des Kapitalismus (Boltanski & Chiapello 2005; siehe auch Kapitel 14 in diesem Buch): Die Werte von 1968, wie Antiautoritarismus, Rebellion, Authentizität, Kreativität, Freiheit und Autonomie, sind Teil der Marketingstrategien geworden. 270 7 Die Politische Ökonomie der Werbung <?page no="271"?> 41 https: / / www.consumersinternational.org/ who-we-are/ , abgerufen am 15. Dezember 2022. 7.7 Die Hinterfragung von Werbung, Markenbildung und Warenkultur Es gibt verschiedene Strategien, mit denen die Bürger: innen die Werbung und den Konsumkapitalismus hinterfragen. Verbraucherschutzbewegungen Erstens gibt es die Verbraucherschutzbewegungen. Der Grundgedanke des Verbraucherschutzes besteht darin, Organisationen zu gründen, die sich für Verbrauchergesetze einsetzen, die die Konsument: innen vor Schäden durch Unternehmen schützen. In Deutschland gibt es zum Beispiel Organisationen wie die Stiftung Warentest, den Verbraucherzentrale Bundesverband, den Deutschen Konsumentenbund, Foodwatch oder die Deutsche Umwelthilfe. Im Vereinigten Königreich gibt es Verbraucherschutzorganisationen wie Citizen‘s Advice Bureau oder Which? . Consumers International ist ein Welt‐ verband von Verbrauchergruppen mit mehr als 200 Mitgliedsorganisationen in mehr als 100 Ländern. Er beschreibt sich selbst wie folgt: „We believe in a world where everyone has access to safe and sustainable products and services. […] [We] empower and champion the rights of consumers everywhere. We are their voice in international policy-making forums and the global marketplace to ensure they are treated safely, fairly and honestly. We are resolutely independent, unconstrained by businesses or political parties” 41 . In den Leitlinien der Vereinten Nationen für den Verbraucherschutz (Uni‐ ted Nations Guidelines for Consumer Protection) sind elf Verbraucherrechte festgelegt: „1. Access by consumers to essential goods and services; 2. The protection of vulnerable and disadvantaged consumers; 3. The protection of consumers from hazards to their health and safety; 4. The promotion and protection of the economic interests of consumers; 5. Access by consumers to adequate information to enable them to make informed choices according to individual wishes and needs; 6. Consumer education, including education on the environmental, social and economic consequences of consumer choice; 7. Availability of effective 7.7 Die Hinterfragung von Werbung, Markenbildung und Warenkultur 271 <?page no="272"?> 42 https: / / www.adbusters.org/ about-us, abgerufen am 15. Dezember 2022. consumer dispute resolution and redress; 8. Freedom to form consumer and other relevant groups or organizations and the opportunity of such organizations to present their views in decision-making processes affecting them; 9. The promotion of sustainable consumption patterns; 10. A level of protection for consumers using electronic commerce that is not less than that afforded in other forms of commerce; 11. The protection of consumer privacy and the global free flow of information” (UNCTAD 2016, 7-8). Protest: Das Beispiel von Adbusters Zweitens gibt es Protestbewegungen, die u. a. die Verwendung von Marken und Werbung durch Unternehmen in Frage stellen. Ein Beispiel dafür ist die Verbraucherschutzgruppe Adbusters (https: / / www.adbusters.org/ ), die das beliebte Adbusters Magazine herausgibt und sich an einer Vielzahl von Kampagnen und Protestaktionen beteiligt hat, die die Macht von Unternehmen und Werbung in Frage stellen. „Since 1989, our international collective of artists, designers, writers, musicians, poets, punks, philosophers and wild hearts has been smashing ads, fighting corruption and speaking truth to power. As a not-for-profit, we put every dollar we raise back into our magazine - and into funding activist campaigns. From Buy Nothing Day to Occupy Wall Street, we’ve been at the helm of some of our era’s defining tone-shifting moments” 42 . Das BlackSpot Collective ist der aktivistische Zweig von Adbusters (siehe https: / / www.adbusters.org/ campaigns). Adbusters produziert und veröffentlicht häufig Spoof-Anzeigen, d. h. Parodien und fiktive Anzeigen, die sich der Ästhetik realer Werbung und Markenbildung bedienen, aber scharfe Kommentare zu Kapitalismus, Werbung und der Macht von Unter‐ nehmen sind. Beispiele sind hier zu sehen: https: / / www.adbusters.org/ spoo f-ads. Im Jahr 2011 initiierte Adbusters auch die Occupy-Wall-Street-Bewe‐ gung. Im September 2018 organisierte Adbusters #OccupySiliconValley, einen eintägigen Boykott von Facebook, Google, Apple und Amazon. Der Aufruf zur Aktion lautete wie folgt: „WE SHUT DOWN BIG TECH FOR A DAY 272 7 Die Politische Ökonomie der Werbung <?page no="273"?> 43 https: / / www.adbusters.org/ campaigns/ occupy-silicon-valley, abgerufen am 15. De‐ zember 2021. Big Tech competes for one thing: our attention. They exploit our basic human instincts in the pursuit of unprecedented financial and cultural control. Facebook claims to connect us, but promotes individualism to its most divisive extreme. Amazon endorses endless consumption, prodding people to milk mother earth for all she’s worth. Apple infiltrates every strata of our lives, with the HomePod to the Apple Watch, ensuring its role in everything we do. Google outsources our desires, fears, and thoughts, narrowing the great mystery of life into a manipulating machine. How do we take on the largest and most corrupt corporate Goliaths to ever exist? IN 4 STEPS: 1. Google No Search Day The ONLY thing we search is: does google do evil? We force the megabot to do some soul-searching.-[…] 2. Boycott Bezos We fill our Amazon shopping carts with giant orders, then abandon them before checkout. We flood their servers with imaginary orders never to be fulfilled. […] 3. Fine Facebook We “Report a Problem” and attach an invoice detailing the personal cost of mental health and mutated memory, the hours of time wasted - billed to CEO Mark Zuckerberg. We demand payback for the billions of ad dollars Facebook has made from us over the years. […] 4. Accessorize Apple Stores We go to Apple stores and cover their glossy windows with subversive stickers, slogans, and symbols” 43 . Da die Zuseher: innen werbefinanzierter Medien Arbeiter: innen und die Nutzer: innen werbefinanzierter Internetplattformen digitale Arbeiter: innen sind, die den Wert der Werbung schaffen, war #OccupySiliconValley nicht nur ein Verbraucherboykott, sondern ein digitaler Arbeitsstreik (siehe Fuchs 2020b, Kapitel 11). 7.7 Die Hinterfragung von Werbung, Markenbildung und Warenkultur 273 <?page no="274"?> Unternehmens-Watchdogs Drittens gibt es kritische Journalist: innen, Medien und Organisationen der Zivilgesellschaft, die dokumentieren, was Unternehmen tun und welche Verbrechen und Ungerechtigkeiten sie begehen. Beispiele dafür sind Corpo‐ rate-Watch-Organisationen wie Corporate Watch (https: / / corporatewatch. org/ ) und CorpWatch (https: / / www.corpwatch.org/ ). Adbusters ist ein Beispiel für die zweite und dritte Strategie des Ver‐ braucherschutzes. Die satirischen Anti-Werbungen von Adbusters sind ein Beispiel für Culture Jamming. Culture Jamming ist die „Praxis, Werbung zu parodieren und Reklametafeln quasi zu kidnappen und ihre Botschaft drastisch zu verändern“ (Klein 2015, 280). Culture Jamming ist “the practice of parodying advertisements and hijacking billboards in order to drastically alter their messages” (Klein 2000, 280). „[Culture jammers] introduce noise into the signal as it passes from transmitter to receiver, encouraging idiosyncratic, unintended interpretations. Intruding on the intruders, they invest ads, newscasts, and other media artifacts with subversive meanings; simultaneously, they decrypt them, rendering their seductions impotent” (Dery 2010). Neben Adbusters sind auch Reverend Billy Talen & the Church of Stop Shopping sowie The Yes Men (https: / / en.wikipedia.org/ wiki/ The_Yes_Men ) Beispiele für Culture Jammer. Die Yes Men produzierten Filme wie The Yes Men, The Yes Men Fix the World und The Yes Men Are Revolting, in denen sie ihre Culture Jamming-Aktionen dokumentieren, die nicht nur politische Statements und Aktionen sind, sondern gleichzeitig auch witzig und satirisch sind. Regulierung Viertens haben die Regierungen die Möglichkeit, Gesetze zu erlassen, die einen starken Verbraucher- und Arbeitnehmerschutz gewährleisten (Regu‐ lierung). Dies erfordert jedoch Regierungen, die sich stark für die Rechte von Arbeitnehmer: innen und Verbraucher: inne: n einsetzen, und ist daher eine Frage der politischen Macht in der Gesellschaft. 274 7 Die Politische Ökonomie der Werbung <?page no="275"?> Nichtkommerzielle Alternativen zu werbefinanzierten Medien Fünftens sind nichtkommerzielle, gemeinnützige Alternativen zu kommer‐ ziellen Medien möglich und notwendig. Beispiele hierfür sind Bürgermedien sowie öffentlich-rechtliche Medien ohne Werbung. „Public service media (PSM) can provide a countervailing force to advertiser influence not only by sustaining non-commercial media, but by shaping media cultures in ways that influence private media too, for instance through movements of professionals and values between sectors, and by influencing consumer expectations, cultural and policy environments” (Hardy 2014, 154). Sechstens besteht die Möglichkeit, dass die Gesellschaft und ihre Bür‐ ger: innen beschließen, dass die Gesellschaft jenseits der Logik der Waren‐ kultur besser funktioniert, und dass sie das Leben und die Gesellschaft dekommodifizieren, was die Werbung zurückdrängt oder sie ganz überflüs‐ sig macht. 7.8 Schlussfolgerungen In diesem Kapitel wurde die politische Ökonomie der Werbung vorgestellt. Lassen Sie uns nun die wichtigsten Ergebnisse zusammenfassen. - Erkenntnis 1: Definition von Werbung Eine Werbung ist eine an die Öffentlichkeit gerichtete, bezahlte Botschaft, die darauf abzielt, bestimmte Informationen in der Öffentlichkeit bekannt zu machen oder bestimmte Wirkungen oder Veränderungen zu erzielen. Werbung ist der Prozess der Herstellung und Verbreitung von Anzeigen. Werbung ist eine Werbebotschaft, die als Ware verkauft wird, d. h. der/ die Werbende bezahlt ein Werbeunternehmen für die Veröffentlichung der Anzeige. In kapitalistischen Gesellschaften ist der Einsatz von Werbung zur Förderung kapitalistischer Zwecke, d. h. des Verkaufs und des Konsums von Waren, in der Regel die dominante Form der Werbung in der Gesellschaft. - Erkenntnis 2: Werbung und Kapitalismus Die Werbung hat sich zusammen mit dem Kapitalismus entwickelt. Krisen des Kapitalismus haben oft zu neuen Phasen der kapitalistischen Entwick‐ 7.8 Schlussfolgerungen 275 <?page no="276"?> lung geführt und damit auch zu neuen Prinzipien der Werbung und des Handels. Der Einsatz von Werbung zielt darauf ab, Krisen zu verhindern, die Rentabilität zu fördern und den Kapitalismus zu stabilisieren. - Erkenntnis 3: Die Publikumsware Dallas Smythe (1977) argumentiert in einem klassischen Artikel zur politi‐ schen Ökonomie der Kommunikation, dass in der Werbung das Publikum Aufmerksamkeit als Ware für Programme und Werbung produziert. Er sagt, dass das Publikum werbefinanzierter Medien Publikumsarbeiter: innen sind, die eine Publikumsware produzieren, die Werbetreibende an ihre Werbekunden verkaufen. Je größer das Publikum eines Mediums und dessen Aufmerksamkeit, desto interessanter ist es für die Werbetreibenden, Anzeigen zu kaufen, die diesem Publikum präsentiert werden. - Erkenntnis 4: Werbung als Ideologie Werbung ist eine Form des Wirtschaftspositivismus, den Unternehmen nutzen, um positive Botschaften über ihre Waren zu verbreiten, die den Verbraucher: innen ein gutes Gefühl geben sollen und versprechen, dass der Kauf und Konsum der beworbenen Waren positive Auswirkungen auf den Lebensstil der Verbraucher: innen haben. Der Warenfetisch entleert die Wa‐ ren ihrer Bedeutung, indem er die sozialen Beziehungen und gesellschaftli‐ chen Verhältnisse der Warenproduktion ausblendet. Die Werbung füllt diese Lücke, indem sie Geschichten erfindet, die den Verkauf und Konsum von Waren fördern. Werbung ist eine säkulare Form von Religion und Gott. Werbung ist ein System des Warenfetischs: Sie verspricht Zufriedenheit und Glück durch den Konsum von Dingen. - Erkenntnis 5: Widerstand gegen Werbung, Markenbildung und Warenkultur Zu den Proteststrategien gegen Werbung, Markenbildung und Warenkultur gehören Verbraucherbewegungen, Proteste, Unternehmens-Watch Dogs, die Regulierung der Werbung, die Stärkung nichtkommerzieller, gemeinnüt‐ zige Alternativen wie öffentlich-rechtliche Medien und Bürgermedien sowie die Dekommodifizierung der Gesellschaft. 276 7 Die Politische Ökonomie der Werbung <?page no="277"?> Literatur Advertising Association. 2013. How Advertising Fuels the UK Economy. London: Advertising Association. Berger, Arthur Asa. 2011. Ads, Fads and Consumer Culture. Advertising’s Impact on American Character and Society. Lanham, MD: Rowman & Littlefield. Vierte Auflage. Boltanski, Luc and Ève Chiapello. 2005. The New Spirit of Capitalism. London: Verso. 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Abingdon: Routledge. Empfohlene Lektüre und Übungen - Lektüre Die folgenden Texte werden als Begleitlektüre zu diesem Kapitel empfohlen: Graham Murdock. 2013. Producing Consumerism: Commodities, Ideologies, Practi‐ ces. In Critique, Social Media and the Information Society, hrsg. von Christian Fuchs and Marisol Sandoval. New York: Routledge. Kapitel 7 (S.-125-143). Dallas W. Smythe. 1977. Communications: Blindspot of Western Marxism. Canadian Journal of Political and Social Theory 1 (3): 1-27. Kann hier heruntergeladen werden: https: / / journals.uvic.ca/ index.php/ ctheory/ article/ view/ 13715 Manfred Knoche. 2005. Werbung - ein notwendiges „Lebenselixier“ für den Kapita‐ lismus: Zur Kritik der politischen Ökonomie der Werbung. In Alte Medien - neue Medien, hrsg. von Klaus Arnold & Christopher Neuberger, 239-255. Wiesbaden: VS. Christian Fuchs. 2020b. Marx heute. Eine Einführung in die kritische Theorie der Kommunikation, der Kultur, der digitalen Medien und des Internets. 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Teil 2: Wenn Sie allein arbeiten: Ihre Aufgabe ist es, ein Argument zu formulieren, das ein: e Kritiker: in von Werbung und Marketing gegen den Werbemanager vorbringen könnte, der das erste Argument für die Werbung vorbringt. Fragen Sie sich selbst: Welche Gefahren der Werbung sehen Kritiker: innen der Werbung für die Gesellschaft und das Individuum? Reagieren Literatur, empfohlene Lektüre und Übungen 281 <?page no="282"?> Aufgabe Merke Frage Literatur Wissen Zusatz Link / www Checkliste Ziele ICON SET 5 Sie auf die Argumente im ersten Teil, indem Sie ein Gegenargument formulieren, das der Werbung kritisch gegenübersteht und sie ablehnt. Wenn Sie in einer Gruppe arbeiten: Jeder kommentiert eines der Argumente, das eine andere Person (in der Rolle eines Werbemanagers) im ersten Teil vorgebracht hat. Ihre Aufgabe ist es, ein Argument zu formulieren, das ein: e Kritiker: in der Werbung und des Marketings gegen den Werbemanager vorbringen könnte, der das erste Argument zugunsten der Werbung vorbringt. Fragen Sie sich selbst: Welche Gefahren der Werbung sehen Kriti‐ ker: innen der Werbung für die Gesellschaft und das Individuum? Wie bewerten Sie die Argumente, die für die Werbung sprechen, und die, die der Werbung kritisch gegenüberstehen? Wenn Sie für diese Aufgabe Hilfe benötigen, können Sie im Internet nach Vor- und Nachteilen, Vorteilen und Herausforderungen/ Risiken der Werbung suchen. Allerdings sollten Sie die Argumente in Ihren eigenen Worten formulieren. Sie können auch einen Blick in die Kapitel des folgenden Buches werfen: Carol J. Pardun, Hrsg. 2014. Advertising and Society. An Introduction. Malden, MA: Wiley Blackwell. Zweite Auflage. ÜBUNG 7.6: WIE IDEOLOGIE IN DER WERBUNG FUNKTIO‐ NIERT Bei der Ideologie geht es um Täuschung und den Versuch der Mani‐ pulation. Eine Ideologie versucht, Menschen zu täuschen, damit sie bestimmte Dinge glauben, die nicht wahr sind. Werbung ist eine Ideologie, die versucht, den Verbraucher: innen: weiszumachen, dass sie eine bestimmte Ware brauchen und dass eine Ware und das Unternehmen, das sie herstellt, das Leben der Verbraucher verbessern wird. In dieser Übung analysieren Sie, wie die Ideologie in einer von Ihnen selbst gewählten Beispielwerbung funktioniert. Folgen Sie den Schritten dieser Übung: Schritt 1: Wählen Sie ein großes transnationales Unternehmen. Entscheiden Sie sich für ein Unternehmen, das seine Waren über eine Vielzahl von Anzeigen vermarktet (z. B. in Zeitschriften, im Fernsehen, über Online-Anzeigen, gezielte digitale Anzeigen, Plakate usw.). Am besten überprüfen Sie zunächst, ob das Unternehmen, für das Sie sich inter‐ 282 7 Die Politische Ökonomie der Werbung <?page no="283"?> essieren, Anzeigen schaltet, die eine Analyse wert sind. Sie können z. B. eines der 2.000 größten Unternehmen der Welt wählen, die in der Forbes 2000 List oder der Fortune Global 500 List aufgeführt sind: https: / / fortune.com/ global500/ 2019/ search/ https: / / www.forbes.com/ global2000/ Bei den Unternehmen in diesen beiden Listen handelt es sich um die größten und mächtigsten globalen Konzerne der Welt. Sie können aber auch jedes andere transnationale Unternehmen wählen, das viel Werbung macht. Schritt 2: Suchen Sie nach einer Anzeige dieses Unternehmens, die irreführende und scheinbar ideologische Versprechungen macht. Dokumentieren Sie diese Anzeige: Wenn es sich um eine Online-Anzeige handelt, laden Sie sie herunter oder machen Sie einen Screenshot. Wenn es sich um ein Plakat an einem öffentlichen Ort handelt, machen Sie ein Foto davon mit Ihrem Mobiltelefon. Wenn es sich um eine Videoanzeige handelt, laden Sie das Video herunter oder machen Sie eine Bildschirmaufnahme des Videos. Schritt 3: Analysieren Sie, welche Ideologien in der Werbung vorhanden sind und wie die Ideologie darin vermittelt wird. Verwenden Sie den Leitfaden zur Analyse von Werbung, den Sie in Anhang 7.1 zu diesem Kapitel finden. Er dokumentiert, wie die Ideologie in der Werbung zu analysieren ist: Denken Sie auch an die Diskussion über die Funktionsweise von Werbung in Kapitel 7. Schritt 4: Schreiben Sie ca. 200-800 Wörter, in denen Sie die ausgewählte Anzeige analysieren und erläutern, wie die Ideologie funktioniert. Schritt 5: Erstellen Sie einen Blogbeitrag, der Folgendes enthält: eine Beschreibung des ausgewählten Unternehmens eine Beschreibung (und falls vorhanden) einen Link zu der/ den analysierten Anzeige(n) - Ihre Beschreibung und Analyse der Anzeige (200-800 Wörter) Literatur, empfohlene Lektüre und Übungen 283 <?page no="284"?> Aufgabe Merke Frage Literatur Wissen Zusatz Link / www Checkliste Ziele ICON SET 5 ÜBUNG 7.7: DIE POLITISCHE ÖKONOMIE DER MARKEN Sut Jhally (Regie). 2003. No Logo: Brands. Globalization. Resistance. Media Education Foundation. Informationen zum Film: https: / / www.imdb.com/ title/ tt0373193 https: / / shop.mediaed.org/ no-logo-p115.aspx Naomi Klein ist eine kanadische Journalistin, Autorin, Filmemacherin und Aktivistin. Bekannt wurde sie durch das Buch No Logo, das sich mit den Auswirkungen von Marken und Werbung auf die Gesellschaft beschäftigt. Die Media Education Foundation produzierte einen Do‐ kumentarfilm über das Buch. Sehen Sie sich den Film No Logo an. Darüber hinaus können Sie einige oder alle Kapitel des Begleitbuchs lesen: Naomi Klein. 2015. No Logo! Der Kampf der Global Players um Markt‐ macht - Ein Spiel mit vielen Verlierern und wenigen Gewinnern. Frank‐ furt am Main: Fischer. Diskutieren Sie die folgenden Fragen in Gruppen: * Warum, glauben Sie, sind manche Verbraucher: innen so sehr daran interessiert, Markenartikel zu kaufen? * Gibt es bestimmte Marken, die Sie besonders mögen oder von denen Sie ein Fan sind? Warum? * Gibt es bestimmte Marken, die Sie niemals kaufen würden? Wenn ja, warum? * Versuchen Sie, einige Beispiele für Lifestyle-Branding zu nennen. Welche Auswirkungen hat das Lifestyle-Branding auf die Gesell‐ schaft? Wie beurteilen Sie Lifestyle-Branding? * Stellen Sie sich eine Gesellschaft ohne Marken und Werbung vor. Wie unterscheidet sich diese Gesellschaft von den heutigen Gesellschaf‐ ten? 284 7 Die Politische Ökonomie der Werbung <?page no="285"?> Aufgabe Merke Frage Literatur Wissen Zusatz Link / www Checkliste Ziele ICON SET 5 Aufgabe Merke Frage Literatur Wissen Zusatz Link / www Checkliste Ziele ICON SET 5 ÜBUNG 7.8: THE YES MEN Die Yes Men sind eine Gruppe von Culture Jammers. Sehen Sie sich einen ihrer Filme an. Dan Ollman, Sarah Price & Chris Smith (Regie). 2005. The Yes Men. Yes Men Films LLC. Informationen zum Film: https: / / www.imdb.com/ title/ tt0379593/ Andy Bichlbaum, Mike Bonanno & Kurt Engfehr (Regie). 2009. The Yes Men Fix the World. ARTE, Article Z, Renegade Pictures. Informationen zum Film: https: / / www.imdb.com/ title/ tt1352852/ Andy Bichlbaum, Mike Bonanno & Laura Nix (Regie). 2014. The Yes Men Are Revolting. Gebrüder Beetz Filmproduktion, Chili Film, Pieter Van Huystee Film and Television. Informationen zum Film: https: / / w ww.imdb.com/ title/ tt2531282 Wählen Sie eine Filmszene aus, die Sie besonders interessant fanden. Diskutieren Sie: Was ist Culture Jamming? Was sind die besonderen Merkmale der Yes Men-Version von Culture Jamming? Wie beurteilen Sie die Filme und die Strategie von The Yes Men? ÜBUNG 7.9: ERSTELLUNG EINES POLITISCHE ÖKONO‐ MIE-MEME Arbeiten Sie in Gruppen oder einzeln: Erstellen Sie ein Meme über ein transnationales Medienunternehmen. Ein Meme ist „an image, a video, a piece of text etc. that is passed very quickly from one internet user to another, often with slight changes that make it humorous” (Oxford English Dictionary: https: / / www.oxfordlearnersdictionaries. com/ definition/ english/ meme, abgerufen am 15. Dezember 2022). Ein Meme ist ein „(interessantes oder witziges) Bild, Video o. Ä., das in sozialen Netzwerken schnell und weit verbreitet wird” (Duden: https: / / www.duden.de/ rechtschreibung/ Meme, aufgerufen am 15. Dezember 2022). Wählen Sie ein transnationales Medienunternehmen. Erstellen Sie ein satirisches Meme über dieses Unternehmen, das einen Aspekt dieses Unternehmens kritisiert. Literatur, empfohlene Lektüre und Übungen 285 <?page no="286"?> Meme-Werkzeuge: https: / / imgflip.com/ memegenerator http: / / www.makeameme.org/ memegenerator http: / / memebetter.com/ generator Es kann mehr als ein Meme pro Unternehmen geben. Machen Sie sich also keine Sorgen, wenn es bereits ein Meme über das Unternehmen gibt, an dem Sie interessiert sind, Sie können ein weiteres erstellen. Versuchen Sie, Ihr Meme im Internet und auf sozialen Medien zu verbreiten. Anhang 7.1: Leitfaden zur Werbeanalyse: Ideologie in der Werbung Fragen Sie sich: ● An wen wendet sich die Anzeige? An wen nicht? ● Welche Bedeutungen vermittelt sie? Was soll der/ die Betrachter: in denken und tun? ● Wie vermittelt die Werbung diese Bedeutungen? ● Welche moralischen Werte spricht die Werbung bewusst oder unbe‐ wusst an? Welche moralischen Werte schließt sie aus? ● Welche falschen Versprechungen werden in der Anzeige gemacht? Wie werden solche Versprechungen gemacht? ● Versucht die Werbung, das Publikum zu täuschen oder zu manipulieren? Wenn ja, wie? ● Spielen Ideologien wie Konsumismus/ Konsumkultur, Sexismus, Rassis‐ mus, Nationalismus usw. eine Rolle in der Werbung? Wenn ja, wie wird Ideologie dargestellt? Sie können auch einige der folgenden Fragen stellen: ● Welches Unternehmen ist Eigentümer der von Ihnen analysierten Zeit‐ schrift? Welche anderen Medien gehören ihm? Wer sind die Eigentü‐ mer: innen des Unternehmens? In welchen Ländern ist das Unternehmen tätig? Handelt es sich um ein eher kleines oder großes Unternehmen (Mitarbeitende, Profite, usw.)? ● Welches Medienunternehmen präsentiert die von Ihnen analysierte Anzeige? Welche Art von Produkten verkauft dieses Unternehmen (erstellen Sie eine Liste, indem Sie sich die Website ansehen)? Ist es nur 286 7 Die Politische Ökonomie der Werbung <?page no="287"?> in einer Branche oder in mehreren Branchen tätig, und in welcher/ wel‐ chen? Wie hoch sind die jährlichen Gewinne des Unternehmens und seine Werbeausgaben (siehe: Website des Unternehmens, Jahresbericht des Unternehmens, SEC-Filings Form 10-K, Form 10-Q)? ● Welche Gruppe spricht die von Ihnen analysierte Anzeige an? Welche Gruppen werden nicht angesprochen/ ausgeschlossen? Was sind die typischen soziodemografischen Merkmale der Gruppe, die durch die Anzeige angesprochen wird (Geschlecht, Klasse, Einkommen, Alter, Bildung, Beruf, Wohnort, Herkunft/ Ethnizität, Lebensstil, Konsumver‐ halten, Mobilität, typische Güter, die diese Gruppe besitzt und sich dafür interessiert usw.)? ● Welches Produkt oder welche Dienstleistung wird beworben? Welche Rolle spielt dieses Produkt oder diese Dienstleistung in der Gesellschaft? ● Was ist die Hauptbotschaft der Anzeige? Welche visuellen und textli‐ chen Elemente und Strategien verwendet sie, um diese Botschaft zu vermitteln? Verwendet die Anzeige Metaphern, Symbole und versteckte Bedeutungen, die in bestimmten Formen dargestellt werden? Wenn ja, welche? Wie werden sie in visueller und textlicher Form repräsentiert? ● Informationen: Typische Elemente in Anzeigen, die eine bestimmte Be‐ deutung haben, können sein: Merkmale der gezeigten Personen (Haar‐ farbe, Frisur, Haarlänge, Augenfarbe, Gesichtsausdruck, Körpertyp, Alter, Geschlecht, Rasse, Körpersprache, Make-up, Kleidung, Brillen, Ohrringe, Körperschmuck), Schauplätze, gezeigte oder angedeutete so‐ ziale Beziehungen, Machtverhältnisse zwischen den gezeigten Personen oder Gruppen, Räumlichkeit, Anzeichen für Bildungsstand, Anzeichen für Berufe, gezeigte Objekte, Aktivitäten, Hintergrund, Beleuchtung, (Ton, Musik), Farben, Schriftart im Text, Gestaltung, verwendete Wör‐ ter, gestellte Fragen, Textmetaphern, Assoziationen, Verwendung von Verneinungen in Texten, Verwendung von Bejahungen in Texten, Ar‐ gumente, Appelle, Slogans, Überschriften, Paradoxien, Tonfall und Stil des Textes, die Art und Weise, wie der Leser/ Betrachter angesprochen wird, Blickwinkel der Fotos, usw. ● Erstellen Sie eine Liste mit 5 Werten, die Sie für das Leben und die Gesellschaft für wichtig halten. ● Gibt es bestimmte Werte, die in der Werbung zum Ausdruck kommen (z. B. Individualismus, Individualität, sexuelles Verlangen, Eifersucht, harte Arbeit, Patriotismus, Nationalismus, Erfolg, Macht, guter Ge‐ schmack, usw.)? Wie werden diese Werte ausgedrückt? Warum werden Literatur, empfohlene Lektüre und Übungen 287 <?page no="288"?> sie ausgedrückt und welches Bild der Gesellschaft vermitteln sie? Ver‐ gleichen Sie die Werte in der Anzeige mit Ihren zuvor aufgelisteten Werten. Gibt es Gemeinsamkeiten/ Unterschiede? Gibt es Mythen, Vor‐ urteile, Ideologien oder Stereotypen in der Anzeige? Wenn ja, welche? ● Welches Bild der Gesellschaft drückt das Unternehmen in dieser Anzeige aus? Wie stellt es die Gesellschaft in der Anzeige dar? Sind Sie mit dieser Darstellung der Realität einverstanden oder nicht? Ist es ein realistisches Bild der Gesellschaft, wie sie ist, oder nicht? Gibt es wichtige Dimensionen der Gesellschaft, die ausgelassen werden? Wenn ja, welche? ● Spricht die Anzeige bestimmte bewusste oder unterschwellige mensch‐ liche Wünsche, Sehnsüchte und Phantasien an? Wenn ja, wie? 288 7 Die Politische Ökonomie der Werbung <?page no="289"?> Aufgabe Merke Frage Literatur Wissen Zusatz Link / www Checkliste Ziele ICON SET 5 8 Die Politische Ökonomie Globaler Medien Was Sie in diesem Kapitel lernen werden: Sie erfahren, warum der Kapitalismus ein globales System ist. Sie erfahren, worum es bei globalen Medienkonzernen geht. Sie werden lernen, wie man über den globalen Kapitalismus im Kontext von Medien und Kultur nachdenken kann. 8.1 Einleitung Denken Sie an eine Nachrichtenorganisation wie CNN. Der Sender hat seinen Hauptsitz in den USA, ist aber weltweit tätig und versucht, alle Teile der Welt in der Berichterstattung abzudecken. Andere globale Nach‐ richtenorganisationen sind z. B. Al Jazeera, BBC World Service, CGTN, Deutsche Welle, France 24 und Russia Today. Mit der Globalisierung der Gesellschaften und der Wirtschaft seit den 1970er Jahren hat sich auch die Welt der Medien stärker globalisiert. Die Medien haben schon seit langem eine internationale Dimension, die sich seit den 1970er Jahren noch verstärkt hat. Das Aufkommen des Internets als globale Informations- und Kommu‐ nikationstechnologie hat in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle gespielt. Dieses Kapitel befasst sich mit der globalen und internationalen Dimension der Medien. Dieses Kapitel stellt die Frage: Wie sieht die politische Ökonomie der globalen Medien aus? Abschnitt 8.2 beschäftigt sich mit der Frage: Was ist Globalisierung? Ab‐ schnitt 8.3 erörtert die globalen Medien. Abschnitt 8.4 konzentriert sich auf den Kultur-Imperialismus. In Abschnitt 8.5 wird China im Zusammenhang mit dem Weltsystem und den Medien analysiert. Abschnitt 8.6 enthält einige Schlussfolgerungen. 8.2 Was ist die Globalisierung? Führen Sie Übung 8.1 durch. <?page no="290"?> Aufgabe Merke Frage Literatur Wissen Zusatz Link / www Checkliste Ziele ICON SET 5 ÜBUNG 8.1: DAVID HARVEY: KRISEN DES KAPITALISMUS David Harvey ist einer der meistzitierten Sozialwissenschaftler und einer der Hauptvertreter der Kritische Politischen Ökonomie. Sehen Sie sich das RSA Animate Video „Crises of Capitalism“ an, eine Animation von Teilen eines Vortrags von David Harvey. RSA Animate ist ein Projekt der Royal Society of Arts. “The RSA Animate series was conceived as an innovative, accessible and unique way of illustrating and sharing […] world-changing ideas” (http: / / www.thersa.org/ event s/ rsaanimate, abgerufen am 21. November 2021). RSA Animate: David Harvey: “Crises of Capitalism”: https: / / www.youtube.com/ watch? v=qOP2V_np2c0 Diskutieren Sie: Wie analysiert Harvey die Krise des Kapitalismus 2007/ 2008? Welche Rolle spielt die Globalisierung, die Harvey im Zusammenhang mit dem Kapitalismus seit den 1970er Jahren erwähnt? Was ist der globale Kapitalismus? Harvey (2010, 47) sagt, dass das Kapital „keine […] Grenzen ertragen kann“ (Harvey 2010, 47). „Der Kapitalismus hat bisher angesichts vieler Vorhersa‐ gen über seinen bevorstehenden Untergang überlebt. Diese Bilanz deutet darauf hin, dass er über genügend Beweglichkeit und Flexibilität verfügt, um alle Grenzen zu überwinden, wenn auch nicht, wie die Geschichte der periodischen Krisen ebenfalls zeigt, ohne gewaltsame Korrekturen“ (Harvey 2010, 46). Harvey reflektiert hier eine Erkenntnis von Marx: „Das Kapital aber als die allgemeine Form des Reichtums - das Geld -repräsentierend, ist der schranken- und maßlose Trieb, über seine Schranke hinauszugehn“ (Marx 1857/ 1858, 252). Globalisierung und Kapitalakkumulation Abbildung 8.1 veranschaulicht den Prozess der Kapitalakkumulation, wie Marx (1867, 1885) ihn analysiert hat. 290 8 Die Politische Ökonomie Globaler Medien <?page no="291"?> Ak G 1 + G 2 G W { .. P .. W’=W+ Δ w G’=G+ Δ g Pm Realisierung v c zir c fix c fix = c fix - Δ c , if c fix = 0 OR entwertet then Erneuerung Akkumulation, Kapitalisierung des Mehrwerts Zirkulationssphäre Produktionssphäre Zirkulationssphäre Beständige Reproduktion Beständige Reproduktion Unbeständige Reproduktion c zir : Roh- und Hilfsstoffe, Betriebsstoffe, Halbfertigprodukte c fix : Maschinen, Gebäude, Ausrüstung; zirkulierendes Kapital: z cir , v; fixes Kapital: c fix Abbildung 8.1: Die Akkumulation des Kapitals Eine Erklärung der Symbole in Abbildung 8.1: G … Geld W … Waren Ak … Arbeitskraft Pm … Produktionsmittel P … Produktion W’ … eine neue Ware G’ … mehr Geld c cir … zirkulierendes konstantes Kapital c fix … festes konstantes Kapital v … variables Kapital In der kapitalistischen Produktion investieren die Unternehmer: innen Geld G für den Kauf von Arbeitskraft Ak (variables Kapital v) und Produktions‐ mitteln Pm (konstantes Kapital c). Im Produktionsprozess P setzen die 8.2 Was ist die Globalisierung? 291 <?page no="292"?> Arbeiter: innen die Produktionsmittel ein, um neue Waren W’ zu produzie‐ ren, die qualitativ anders und quantitativ mehr sind als die ursprünglich gekauften Waren. Diese Waren werden auf den Märkten angeboten. Gelingt ihr Verkauf, so entsteht eine Geldkapitalsumme G’, die größer ist als das investierte Kapital G. Ein Profit über die Investitionskosten hinaus ist dann realisiert worden. Teile des erwirtschafteten Kapitals und des Profites wer‐ den reinvestiert, damit mehr Waren produziert und zum Verkauf angeboten werden können als zuvor. Um Kapital zu akkumulieren, wird im Prozess G - W .. P … W’ - G’ das Folgende benötigt: ● Arbeitskraft ● Produktionsmittel (Rohstoffe, Technologien, Infrastruktur) ● Warenmärkte ● Kapital, Kapitalinvestitionen Marx beschreibt das Ziel des Kapitalismus in der folgenden Weise: „Akku‐ muliert, Akkumuliert! Das ist Moses und die Propheten! […] Akkumulation um der Akkumulation, Produktion um der Produktion willen, in dieser Formel sprach die klassische Ökonomie den historischen Beruf der Bourge‐ oisperiode aus” (Marx 1867, 621). „Die Akkumulation ist der Motor des Wachstums in der kapitalistischen Produktionsweise. Das kapitalistische System ist daher hochdynamisch und unweigerlich expansiv“ (Harvey 2001, 237). Das Kapital überschreitet die nationalen Grenzen und organisiert sich auf transnationaler Ebene, um Folgendes zu finden: ● billige Arbeitskräfte, ● billige Produktionsmittel, ● Rohstoffmärkte und ● Investitionsmöglichkeiten. Der Wettbewerb treibt das Kapital dazu, immer billigere Produktionsstätten zu suchen: „Die Zwangsgesetze des Wettbewerbs zwingen die Kapitalisten dazu, die Produktion an günstigere Standorte zu verlagern“ (Harvey 2006, 98). Neue Transport- und Kommunikationstechnologien sind Mittel und Ergebnis der Globalisierung des Kapitalismus: „Die Revolution in der Produktionsweise der Industrie und Agrikultur ernötigte namentlich aber auch eine Revolution in den allgemeinen Bedingungen des 292 8 Die Politische Ökonomie Globaler Medien <?page no="293"?> gesellschaftlichen Produktionsprozessen, d. h. den Kommunikations- und Trans‐ portmitteln. […] Abgesehn von ganz umgewälztem Segelschiffbau, wurde das Kommunikations- und Transportwesen daher allmählich durch ein System von Flußdampfschiffen, Eisenbahnen, ozeanischen Dampfschiffen und Telegraphen der Produktionsweise der großen Industrie angepasst“ (Marx 1867, 404-405). Es ist kein Zufall, dass das Internet in einer neuen Phase der Globalisierung des Kapitalismus so wichtig wurde. Das Internet ist Medium und Ergebnis der Globalisierung des Kapitalismus seit den 1970er Jahren. Diese Phase der kapitalistischen Globalisierung erforderte geeignete Kommunikations- und Transportmittel, die die Entwicklung und Verbreitung des Internets forcierten. Das bedeutet, dass das Internet ein Ergebnis der Globalisierungs‐ bestrebungen des Kapitalismus ist. Gleichzeitig ist es eines der Mittel, die zur Globalisierung des Kapitalismus eingesetzt wurden. Die Globalisierung der Produktion verlängert die Umlaufzeit des Kapitals, also die Gesamtzeit, die für die Produktion und den Verkauf von Waren benötigt wird, da die Waren von einem Ort zum anderen transportiert werden müssen (Harvey 2001, 244). Daher versuchen die Technologieun‐ ternehmen, technologische Innovationen in den Bereichen Transport und Kommunikation zu entwickeln, um die Produktion und den Vertrieb von Waren sowie die Zirkulation von Kapital zu beschleunigen. „Ökonomie der Zeit, darin löst sich schließlich alle Ökonomie auf “ (Marx 1857/ 1858, 105). Marx analysiert den Zusammenhang zwischen der Globalisierung des Kapitalismus und den Kommunikations- und Transportmitteln folgender‐ maßen: „Je mehr die Produktion auf dem Tauschwert, daher auf dem Austausch beruht, desto wichtiger werden für sie die physischen Bedingungen des Austauschs — Kommunikations- und Transportmittel. Das Kapital treibt seiner Natur nach über jede räumliche Schranke hinaus. Die Schöpfung der physischen Bedingungen des Austauschs - von Kommunikations- und Transportmitteln wird also für es in ganz andrem Maße zur Notwendigkeit - die Vernichtung des Raums durch die Zeit. Insofern das unmittelbare Produkt nur massenhaft verwertet werden kann auf fernen Märkten, im Maße als die Transportkosten abnehmen, und insofern andrerseits Kommunikationsmittel und Transport selbst nur Sphären der Verwertung, der vom Kapital betriebnen Arbeit abgeben können, insofern massenhafter Verkehr stattfindet - wodurch mehr als die notwendige Arbeit er‐ setzt wird - ist die Produktion wohlfeiler Transport- und Kommunikationsmittel 8.2 Was ist die Globalisierung? 293 <?page no="294"?> Bedingung für die auf das Kapital gegründete Produktion und wird daher von ihm hergestellt“ (Marx 1867, 430-431). Harvey (2000) vertritt die Auffassung, dass der Kapitalismus eine neue Phase der Globalisierung durchläuft, die aus vier miteinander verbundenen Entwicklungen besteht: ● finanzielle Deregulierung; ● eine neue Welle der technologischen Innovation; ● eine neue Welle der technologischen Innovation; ● die technologische Innovation hat den Transport und die Kommunika‐ tion immer billiger gemacht. Die Globalisierung von Gesellschaft und Kommunikation ist nicht neu. Im Jahr 1866 ermöglichte das Transatlantikkabel eine schnelle Kommunikation über Kontinente hinweg. Bereits im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert entstanden transnationale Kommunikationsorganisationen wie die großen Nachrichtenagenturen Haves (Frankreich), Reuters (Großbritannien) und Wolff (Deutschland). Vincent Mosco (2009, 170) führt ein Beispiel an, das zeigt, dass die mo‐ dernen Technologien den Menschen in die Lage versetzt haben, räumliche Entfernungen in immer schnellerem Tempo zu überwinden: Die Entfernung zwischen London und Edinburgh beträgt 530 Kilometer. Im Jahr 1658 dauerte die Reise mit der Postkutsche 20 000 Minuten, das sind 333 Stunden und 20 Minuten oder fast 2 Wochen. Im Jahr 1840 dauerte die Reise mit der modernisierten Postkutsche 2500 Minuten, das sind 41 Stunden und 40 Minuten. Im Jahr 1850 dauerte eine Bahnfahrt von London nach Edinburgh 800 Minuten, also 13 Stunden und 20 Minuten. Im Jahr 1970 dauerte die Flugreise von der einen in die andere Stadt 3 Stunden und 20 Minuten. Im Jahr 2013 dauerte die Strecke London-Edinburgh mit dem Flugzeug 1 Stunde und 20 Minuten, im Jahr 2021 1 Stunde und 15 Minuten. Die Folgen der kapitalistischen Globalisierung Die Globalisierung des Kapitalismus hat mehrere Folgen: ● Die globale Auslagerung von Arbeit und die Schaffung von prekären Arbeitsplätzen: ● „Die Offshore-Produktion, die in den 1960er Jahren begann, wurde plötzlich viel allgemeiner. […] Die geografische Streuung und Fragmen‐ 294 8 Die Politische Ökonomie Globaler Medien <?page no="295"?> tierung der Produktionssysteme, die Arbeitsteilung und die Spezialisie‐ rung der Aufgaben folgten, wenn auch oft inmitten einer zunehmenden Zentralisierung der Unternehmensmacht durch Fusionen, Übernahmen oder gemeinsame Produktionsvereinbarungen, die über nationale Gren‐ zen hinausgingen. Die Unternehmen verfügen über mehr Macht, um den Raum zu beherrschen, was die einzelnen Orte viel anfälliger für ihre Launen macht“ (Harvey 2000, 63). ● Globale Migration ● Hyper-Urbanisierung ● Neoliberale Wettbewerbsstaaten ( Jessop 2002): ● „In seiner neoliberalen Ausgestaltung fungiert der Staat heute deutlicher als je zuvor in der Geschichte als ‚Exekutivkomitee der kapitalistischen Klasseninteressen‘“ (Harvey 2006, 106). ● Globale ökologische und politische Probleme und Risiken: ● Ulrich Beck argumentiert, dass sich eine Weltrisikogesellschaft heraus‐ gebildet hat (Beck 1999, 2007). Man sollte jedoch hinzufügen, dass es eine kapitalistische Weltrisikogesellschaft gibt, in der die Reichen mit ihrem Geld viele Risiken vermeiden und mit ihnen zurechtkommen können, während die Armen den Risiken nicht entgehen können. Es gibt die globalisierten Reichen und die lokalisierten Armen (Bauman 1999). ● Die Globalisierung der Kultur: ● Kulturelle Güter zirkulieren weltweit, was bedeutet, dass auch die kulturellen Praktiken globalisiert sind. Benjamin Barber (2003) spricht in diesem Zusammenhang von einem kulturellen Antagonismus zwischen Dschihad und McWorld. Die Globalisierung der kapitalistischen Kul‐ tur („McDonaldisierung“, „Coca-Kolonialisierung“, „Disneyfizierung“, „Kultur-Imperialismus“) schafft einerseits eine globale Kultur und an‐ dererseits eine Opposition gegen sie, etwa in der Form von religiösem Fundamentalismus und Terrorismus. ● Räumliche Agglomeration (Mosco 2009, 169-175): ● „Die Notwendigkeit, die Transportkosten und die Umschlagzeiten zu minimieren, fördert die Agglomeration der Produktion in einigen we‐ nigen großen städtischen Zentren, die faktisch zu den Werkstätten der kapitalistischen Produktion werden“ (Harvey 2001, 245). Die geografi‐ sche Expansion geht mit geografischer Konzentration einher (Harvey 2001, 246). 8.2 Was ist die Globalisierung? 295 <?page no="296"?> Die wirtschaftliche Globalisierung des Kapitalismus ging mit der Entste‐ hung globaler Städte einher, die Agglomerationen von Kapital, Unter‐ nehmen, Banken, Infrastruktur, Firmensitzen, Dienstleistungsbetrieben, in‐ ternationalen Finanzdienstleistungen, Telekommunikationseinrichtungen usw. sind. In diesen Städten finden sich sowohl Reiche als auch sehr Arme wieder, der hierarchisch segmentierte soziale Raum spiegelt sich in einem segmentierten städtischen Raum wider, in dem es neben Ghettos auch geschützte reiche Gebiete gibt. „Je globaler die Wirtschaft wird, desto mehr konzentrieren sich die zentralen Funktionen auf relativ wenige Standorte, d. h. auf die Global Cities (Globalstädte)“ (Sassen 1991, 5). Globalstädte „kon‐ zentrieren die Infrastruktur und die Dienstleistungen, die eine Fähigkeit zur globalen Kontrolle erzeugen“ (Sassen 1995, 63). Beispiele für Globalstädte sind New York, London, Tokio, Paris, Frankfurt, Zürich, Amsterdam, Los Angeles, Sydney, S-o Paulo, Mexiko-Stadt und Hongkong. „Die räumliche Agglomeration erzwingt neue Hierarchien, die Wohlstand und Macht in einigen Städten konzentrieren, während andere schrumpfen“ (Mosco 2009, 174). Der Neoliberalismus ist eine Ideologie und ein politisches Regime, das Privateigentum, die Warenform und den Kommerz als die besten Formen für die Bereitstellung von Waren und Dienstleistungen ansieht. Er kombiniert vier Prozesse: Kommerzialisierung, Liberalisierung, Privatisierung sowie die Internationalisierung des Kapitals. Kommerzialisierung bedeutet die Einführung der Profitlogik und von Unternehmen, die Waren verkaufen, um Profite zu erzielen. Liberalisierung bedeutet die Schaffung von Märkten, auf denen Kapitale gegeneinander konkurrieren. Privatisierung bedeutet, dass öffentliche Dienstleistungen und verstaatlichte Industrien in profitorientierte Unternehmen in Privat‐ besitz umgewandelt werden. Die Internationalisierung des Kapitalismus ist die Schaffung transnationaler Konzerne, die auf internationaler Ebene investieren, Arbeitskräfte ausbeuten und Waren verkaufen. Die Kommerzialisierung, Liberalisierung und Globalisierung der Telekommunikation Werfen wir einen Blick auf das Beispiel der Telekommunikation im Ver‐ einigten Königreich. Die British Telecom (BT) wurde 1846 als Electric Telegraph Company gegründet. Sie war das erste öffentliche Telegrafenun‐ ternehmen der Welt. Öffentliche Telekommunikationsunternehmen haben 296 8 Die Politische Ökonomie Globaler Medien <?page no="297"?> eine Universaldienstverpflichtung, die sicherstellt, dass grundlegende Kom‐ munikationsdienste für alle Bürger: innen zu einem erschwinglichen Preis zur Verfügung stehen. Eine solche Verpflichtung ist schwieriger zu erfüllen, wenn die Logik der Profiterzielung Anwendung findet. Im Jahr 1984 wurde BT privatisiert, und damit wurde auch die kommerzielle Logik eingeführt. Es wurde ein Markt für Telekommunikation geschaffen, was bedeutet, dass profitorientierte Unternehmen um den Verkauf von Telekommunikations‐ verbindungen als Ware konkurrieren durften. Dies war der Prozess der Kommerzialisierung und Liberalisierung der Telekommunikation, der durch den Telecommunications Act von 1984 eingeführt wurde. In der Europäi‐ schen Union wurde mit der EU-Richtlinie 96/ 19/ EG die Liberalisierung der Telekommunikationsmärkte in den EU-Mitgliedstaaten durchgesetzt. Die britische Telekommunikationsindustrie war die erste verstaatlichte Bran‐ che, die die konservative Thatcher-Regierung privatisierte. 1984 wurden mehr als 50 % von BT in Form von Aktien verkauft. 1991 verkaufte die bri‐ tische Regierung die Hälfte ihrer Anteile und reduzierte ihren Anteil auf 21,8 %. Im Jahr 1993 wurde der Rest der Aktien im öffentlichen Besitz verkauft. Auch der britische Telekommunikationsmarkt ist internationalisiert worden. Im Jahr 2021 waren die größten Mobilfunkbetreiber BT, O2 (weltweit tätiger Betreiber in Besitz des spanischen Telekommunikationsunternehmens Te‐ lefónica), Vodafone (weltweit tätiger Betreiber mit Hauptsitz im Vereinigten Königreich) und Three (Telekommunikationsunternehmen mit Hauptsitz in Hongkong). Nach dem Ende des Nazi-Regimes in Deutschland und des Zweiten Weltkriegs schuf der neue demokratische deutsche Staat 1947 die Deutsche Bundespost. Sie besaß auch ein Telekommunikationsmonopol mit einer Universaldienstverpflichtung. Im Jahr 1989 wurde die Deutsche Bundes‐ post durch die Postreform I in drei Unternehmen aufgeteilt, von denen sich eines auf den Postdienst, eines auf die Postbank und eines auf die Telekommunikation konzentrierte. Im Jahr 1993 begann die Internationali‐ sierung der deutschen Telekommunikation, als die Deutsche Telekom Teile des ungarischen Telekommunikationsunternehmens Matáv erwarb. Damit wurde die Telekom zu einem international tätigen Unternehmen. Im Jahr 1994 wurde mit der Postreform II die Deutsche Telekom AG gegründet. Im Jahr 1996 ging die Deutsche Telekom an die Börse. Sie wurde zu einem börsennotierten Unternehmen, was ihre Privatisierung bedeutete. Mit der Postreform III wurde 1996 der deutsche Telekommunikationsmarkt liberalisiert. Die deutsche Regierung setzte damit die Richtlinie 96/ 19/ EG 8.2 Was ist die Globalisierung? 297 <?page no="298"?> 44 https: / / www.telekom.com/ de/ investor-relations/ unternehmen/ aktionaersstruktur, ab‐ gerufen am 22. November 2021. 45 https: / / www-statista-com.uow.idm.oclc.org/ statistics/ 778856/ market-share-mobile-se rvice-providers/ , abgerufen am 22. November 2021. 46 Datenquelle: Forbes 2000, Jahre 2022, 2021 and 2020. 47 Data source: World Development Indicators (WDI), http: / / wdi.worldbank.org/ , abgeru‐ fen a, 15. Dezember 2022. der Europäischen Union um, die die Liberalisierung der Telekommunikati‐ onsmärkte in den Mitgliedsstaaten einführte. Die Liberalisierung brachte auch die Kommerzialisierung der Telekommunikation mit sich, so dass ge‐ winnorientierte Unternehmen begannen, um Kund: inn: en zu konkurrieren, denen sie den Zugang zu Kommunikationsnetzen als Ware verkaufen. Im Jahr 2021 hielt der deutsche Staat 31,9 % der Aktien der Deutschen Telekom und der größte private Aktionär war die japanische SoftBank-Gruppe  44 , was ein weiterer Aspekt der Internationalisierung ist. Im Jahr 2021 waren die drei größten Mobilfunknetzbetreiber die Deutsche Telekom, Vodafone (transnatio‐ nales Telekommunikationsunternehmen mit Sitz im Vereinigten Königreich) und Telefónica Deutschland (Tochtergesellschaft des in Spanien ansässigen internationalen Telekommunikationskonzerns Telefónica)  45 . 8.3 Globale Medien Die Macht der Transnationalen Konzerne Die Forbes 2000-Liste ist eine jährliche Liste der weltweit größten börsen‐ notierten Unternehmen. Im Jahr 2021 lag der Gesamtumsatz dieser 2.000 Unternehmen bei 47,8 Billionen US-Dollar, im Jahr 2020 bei 39,8 Billionen US-Dollar und im Jahr 2019 bei 42,3 Billionen US-Dollar 46 . Das weltweite BIP betrug im Jahr 2021 96,1 Billionen US-Dollar, im Jahr 2020 84,9 Billionen und im Jahr 2019 87,7 Billionen US-Dollar 47 . Wir können daher den Anteil der Einnahmen der weltweit größten 2.000 Unternehmen am weltweiten BIP berechnen: ● 2021: 49,7% ● 2020: 46,9% ● 2019: 48,3% Tabelle 8.1 zeigt ähnliche Werte für die Jahre von 2007 bis 2021. 298 8 Die Politische Ökonomie Globaler Medien <?page no="299"?> Jahr Anteil 2007 51,0% 2008 50,0% 2009 49,3% 2010 48,6% 2011 49,0% 2012 50,9% 2013 49,6% 2014 48,9% 2015 46,8% 2016 46,2% 2017 47,9% 2018 47,6% 2019 48,3% 2020 46,9% 2021 49,7% Tabelle 8.1: Anteil der Einnahmen der weltweit größten 2.000 Unternehmen am globalen BIP, Datenquelle: Forbes 2000, 2008-2022 (Einnahmen), WDI (Globales BIP in laufenden US$, abgerufen am 15. Dezember 2022) Der Anteil der Einnahmen der weltweit größten 2.000 Konzerne am globalen BIP liegt kontinuierlich bei rund 50 Prozent, was die Macht der transnatio‐ nalen Konzerne zeigt. Der Transnationalitätsindex Es stellt sich die Frage, wie global große Unternehmen, einschließlich Medienunternehmen, tatsächlich sind. Einige Wissenschaftler: innen haben Zweifel geäußert. Kai Hafez (2007, 159) argumentiert: „Der Mangel an globaler Reichweite des Medienkapitals ist […] der Hauptgrund dafür, dass die Globalisierung der Medien heute in einem viel bescheideneren 8.3 Globale Medien 299 <?page no="300"?> Ausmaß und in einem viel langsameren Tempo stattfindet, als allgemein angenommen wird“. Terry Flew (2007, 87) listet Daten über den Anteil ausländischer Vermögenswerte, den Transnationalitätsindex und den Anteil ausländischer Einnahmen von Time Warner, Disney, News Corporation und Viacom für das Jahr 2005 auf, um zu argumentieren, dass „Medienkonzerne weniger globalisiert sind als große Unternehmen in anderen Sektoren“, dass die Globalisierung der Medien und der Unterhaltung nur langsam voranschreitet und dass News Corporation das einzige wirklich globale Medienunternehmen ist (Flew 2007, 87-88). Colin Sparks (2007, 172-174) analysiert die ausländischen Vermögenswerte und Verkäufe von News Cor‐ poration, Viacom und Time Warner (für 2002 bzw. 2004) und argumentiert, dass globale Medien „in einem einzigen ‚Heimatland‘ zentriert sind“ (Sparks 2007, 174). Der Transnationalitätsindex (TNI) wird im World Investment Report veröffentlicht. Es handelt sich um einen zusammengesetzten Index, der für ein Unternehmen als Durchschnitt des Anteils an ausländischen Ver‐ mögenswerten, des Anteils an ausländischen Einnahmen und des Anteils an ausländischen Beschäftigten berechnet wird. Tabelle 8.2 zeigt den durch‐ schnittlichen TNI für die 100 größten transnationalen Unternehmen der Welt und alle Informationskonzerne unter diesen 100 Unternehmen. Tabelle 8.3 veranschaulicht auch, wie der durchschnittliche TNI der Informations‐ konzerne für das Jahr 2020 berechnet wurde. Zur Berechnung dieser Anteile habe ich alle Unternehmen (bzw. Informationsunternehmen) als Gesamtheit behandelt (was Marx als „Gesamtkapitalisten“ bezeichnet, Marx 1867, 249), so dass die Anteile auf der Grundlage aggregierter Werte berechnet wurden. 300 8 Die Politische Ökonomie Globaler Medien <?page no="301"?> Jahre 100 Transnationale Unterneh‐ men Informationskonzerne 2001 55,7% 60,2%, N=26 2002 57,0% 55,0%, N=22 2003 55,8% 55,3%, N=21 2004 56,8% 55,9%, N=21 2005 59,9% 59,5%, N=20 2006 61,6% 61,7%, N=18 2011 54,4% 58,6%, N=22 2012 67,1% 64,8%, N=16 2020 60,5% 52,8%, N=21 2021 61,6% 52,8%, N=21 Tabelle 8.2: Durchschnittlicher Transnationalitätsindex der weltweit größten transnationa‐ len Unternehmen und Informationskonzerne, Datenquelle: World Investment Report 2012, 2013, 2021 & 2022 Rang nach TNI Unternehmen Haupt‐ quartier Industrie TNI (in %) 28 Deutsche Telekom AG Deutsch‐ land Telekommunikation 76,8 11 Vodafone Group Plc Großbri‐ tannien Telekommunikation 89,2 4 Hon Hai Precision Indust‐ ries Taiwan Elektronische Kompo‐ nenten 97,5 77 Microsoft Corporation USA Computer und Daten‐ verarbeitung 44,6 79 Huawei Investment & Hol‐ ding Co Ltd China Kommunikationsmittel 43,5 81 Apple Inc USA Computerausrüstung 38,4 86 Alphabet Inc USA Computer und Daten‐ verarbeitung 36,3 8.3 Globale Medien 301 <?page no="302"?> Rang nach TNI Unternehmen Haupt‐ quartier Industrie TNI (in %) 37 Telefonica SA Spanien Telekommunikation 74,5 62 Samsung Electronics Co., Ltd. Südkorea Kommunikationsmittel 56,8 99 Tencent Holdings Limited China Computer und Daten‐ verarbeitung 15,4 94 Amazon.com, Inc USA E-Commerce 24,7 88 Nippon Telegraph & Tele‐ phone Corporation Japan Telekommunikation 34,1 31 SAP SE Deutsch‐ land Computer und Daten‐ verarbeitung 76,2 74 Sony Group Corp Japan Unterhaltungselektro‐ nik 48,0 93 Comcast Corp USA Telekommunikation 25,2 73 Orange SA Frank‐ reich Telekommunikation 48,2 78 IBM Corp USA Computer und Daten‐ verarbeitung 43,9 66 Intel Corporation USA Elektronische Kompo‐ nenten 53,5 67 Oracle Corporation USA Computer und Daten‐ verarbeitung 53,2 64 Legend Holdings Corpora‐ tion China Computer und Daten‐ verarbeitung 56,1 96 Comcast Corp USA Telekommunikation 72,4 - - - Durchschnitt: 52,8 Tabelle 8.3: TNI der Informationskonzerne, Datenquelle: World Investment Report 2022, N=21 Die Daten zeigen, dass der Transnationalitätsindex im Laufe der Jahre etwas schwankt, aber im Großen und Ganzen können wir feststellen, dass im Durchschnitt der Großteil des Anlagekapitals, der Einnahmen und 302 8 Die Politische Ökonomie Globaler Medien <?page no="303"?> der Beschäftigten außerhalb des Landes angesiedelt ist, in dem sich die Hauptzentralen der Unternehmen befindet. Die Daten zeigen, dass der TNI der größten Informationsunternehmen insgesamt recht nahe am Gesamtdurchschnitt liegt und dass die vom TNI erfassten Informationsunternehmen eher global als lokal tätig sind, was die Annahme (von Flew, Hafez und anderen), dass es keine globalen Informationskonzerne gibt, in Frage stellt. Globale Medien Edward Herman und Robert McChesney (1997, siehe auch McChesney 1999, 78-118) argumentieren, dass die globalen Medien die Expansion der Unternehmen durch Werbung fördern und ein ideologisches Umfeld für eine globale, profitorientierte Gesellschaftsordnung schaffen. Neoliberalismus sowie Fusionen und Übernahmen hätten zu einem abgestuften globalen Mediensystem geführt, das von einer kleinen Zahl kolossaler, vertikal integrierter Medienkonglomerate (gemessen am Jahresumsatz) beherrscht werde. Das Hauptmerkmal des globalen Mediensystems ist für Herman und McChesney (1997, 152) die weltweite Durchsetzung eines Modells kommerzieller Medien in Privatbesitz. Mögliche negative Auswirkungen wären die globale Verbreitung des Konsums als Lebensstil, die Verdrängung des öffentlichen Raums durch Unterhaltung, die Stärkung konservativer politischer Kräfte und die Erosion lokaler Kulturen (Herman und McChes‐ ney 1997, 154-155). Das „globale Mediensystem wird am besten als eines erachtet, das die Bedürfnisse von Investoren, Werbetreibenden und den wohlhabenden Verbrauchern der Welt am besten repräsentiert“ (McChesney 1999, 107). Neu ist die „zunehmende Kontrolle der transnationalen Konzerne über die Medienverbreitung und -inhalte innerhalb der Länder. Vor den 1980er und 1990er Jahren waren die nationalen Mediensysteme durch Radio- und Fernsehsysteme in nationalem Besitz sowie durch einheimische Zeitungsindustrien gekennzeichnet“ (McChesney 1999, 80). Herman und McChesney (1997, 34-38) argumentieren, dass sich eine globale Unternehmensideologie verbreitet hat, die aus den folgenden Ele‐ menten besteht: ● Der Markt ist das beste Mittel, um die Wirtschaft zu organisieren. ● Staatliche Eingriffe und Regulierungen sollten auf ein Minimum redu‐ ziert werden. 8.3 Globale Medien 303 <?page no="304"?> ● Profitwachstum ist das wichtigste Ziel der Gesellschaft. ● Privatisierungen sind wünschenswert. Die Tabellen 8.4 und 8.5 zeigen eine Analyse der Finanzdaten der weltweit größten 2.000 transnationalen Unternehmen für die Jahre 2013 und 2018. Die Daten auf Unternehmensebene wurden reorganisiert und auf der Ebene der Branchen zusammengefasst. Rang Industrie Anzahl der Unternehmen Anteil an den ge‐ samten Kapitalan‐ lagen 1 Finanzindustrie 496 73,9% 2 Information 253 4,6% 3 Öl und Gas 139 4,1% 4 Transport 153 3,2% 5 Versorgungsunterneh‐ men 93 2,6% Tabelle 8.4: Anteil der fünf größten Branchen an den Kapitalanlagen der 2000 größten Unternehmen der Welt (Datenquelle: Forbes 2000 List of the World's Largest Public Companies, Liste für das Jahr 2013) Der transnationale Kapitalismus wird vom Finanzkapital dominiert, gefolgt vom Informationskapital und dem Kapital in den Bereichen der Energie und Mobilität. Der globale Kapitalismus ist nicht nur Informationskapitalismus, sondern auch Finanzkapitalismus, hyperindustrieller Kapitalismus und Mo‐ bilitäts-Kapitalismus. Klaus Beck (2018, 361-366) identifiziert drei Ebenen der Globalisierung und Internationalisierung der Medien: die Mikroebene (Publikum), die Mesoebene (Medienunternehmen und ihre Dienste), und die Makroebene (Medienstrukturen und Medienmärkte). Auf der Mikroebene geht es um den Konsum von Medien durch das Publikum. Der Konsum von Presse, Fernsehnachrichten und Radio ist sehr lokal, regional und national orientiert, Film und Musik wesentlich stärker international. 304 8 Die Politische Ökonomie Globaler Medien <?page no="305"?> Auf der Mesoebene geht es um Internationalisierung durch Export von Medienprodukten, internationale Lizenzen für Medienprodukte, Joint Ven‐ tures und ausländische Direktinvestitionen. Auf der Makroebene finden wir zum Beispiel die international orientier‐ ten Film- und Musikmärkte sowie internationale Beteiligungen an Medien‐ unternehmen. Industrie Anzahl der Un‐ terneh‐ men Um‐ satzan‐ teil Profit‐ anteil Anteil am An‐ lageka‐ pital Konglomerate 36 2,0% 1,1% 0,9% Kultur & Digitales 260 14,6% 17,7% 5,1% Energie & Versorgungsunter‐ nehmen 199 14,3% 9,8% 5,7% Mode 26 1,0% 0,9% 0,0% Finanzindustrie (Finanzwe‐ sen, Versicherungen und Im‐ mobilien) 634 22,5% 33,7% 74,8% Lebensmittel 86 3,6% 5,8% 1,2% Fertigung und Bauwesen 352 15,2% 13,1% 5,4% Mobilität und Verkehr 169 11,6% 9,4% 3,6% Pharmazeutische und Medi‐ zin-Industrie 105 7,2% 4,9% 1,9% Einzelhandel 86 6,9% 2,5% 0,9% Sicherheitsindustrie 1 0,0% 0,0% 0,0% Verschiedene Dienstleistun‐ gen 46 1,1% 1,1% 0,4% Tabelle 8.5: Anteil bestimmter Branchen an den gesamten Profiten, Einnahmen und Kapitalanlagen der weltweit größten 2000 transnationalen Konzerne (Datenquelle: Forbes 2000 List of the World‘s Largest Public Companies, Jahr 2018) 8.3 Globale Medien 305 <?page no="306"?> 48 Datenquelle: https: / / www.kek-online.de/ medienkonzentration/ tv-sender/ unternehme nssteckbriefe/ bertelsmann, abgerufen am 12. Januar 2022. 49 Datenquelle: https: / / www.telekom.com/ en/ company/ companyprofile/ company-profil e-625808, https: / / www.telekom.com/ en/ company/ worldwide, abgerufen am 12. Januar 2022. Beispiele für globale Medien Bertelsmann ist ein globales Medienunternehmen mit Sitz in Gütersloh, das über 130,000 Beschäftigte hat. Es gibt acht Unternehmensbereiche: Arvato (Unternehmensdienstleistungen), Bertelsmann Education Group, Bertelsmann Investments, Bertelsmann Printing Group (Druckindustrie), BMG (Musik), Gruner+Jahr (Zeitschriften und Zeitungen), Penguin Random House (250 Verlage), RTL Group (TV, Radio, TV-Rechte, Internet, Inhalts‐ produktion) 48 . Penguin Random House ist ein Teilunternehmen von Bertelsmann und die größte Buchverlagsgruppe der Welt (über 200 Verlage). Es agiert global. Zu den verlegten Autor: innen gehören z. B. Jane Austen, George Orwell und Aldous Huxley. BMG ist ein globaler Musikverlag und Tochterunternehmen von Bertelsmann. Zu den vertriebenen Musiker: innen zählen u. a. die Rolling Stones, David Bowie, Nena und Iggy Pop. Die Deutsche Telekom ist in mehr als fünfzig Ländern aktiv und hat mehr als 200,000 Angestellte 49 . Bertelsmann und Deutsche Telekom sind Beispiele für deutsche Unternehmen, die international agieren. Die Entwicklung der Weltwirtschaft Schauen wir uns nun an, wie sich die Weltwirtschaft entwickelt hat. 306 8 Die Politische Ökonomie Globaler Medien <?page no="307"?> in Millionen US$ 2018 2019 2020 2021 Globales BIP 86.139.293 (86,1 Billio‐ nen) 87.436.705 (87,4 Billio‐ nen) 84.577.963 (84,6 Billio‐ nen) 96.100.091 (96,1 Bil‐ lionen) Globale Exporte (Güter und Dienst‐ leistungen) 25.257.368 24.810.350 22.030.531 27.897.707 Globale Abflüsse von ausländi‐ schen Direktin‐ vestitionen 870.715 1.220.432 739.872 1.707.594 Tabelle 8.6: Die Weltwirtschaft während der COVID-19-Pandemie, Datenquelle: BIP: World Development Indicators, andere: UNCTAD Stat; Datenzugriff für 2018-2020 am 15. De‐ zember 2021, für das Jahr 2021 am 15. Dezember 2022 Tabelle 8.6 zeigt absolute Daten für globale Wirtschaftsprozesse, nämlich das globale BIP, den Wert der globalen Exporte und die globalen Kapitalinves‐ titionen. Im Jahr 2020, dem Jahr, in dem die COVID-19-Pandemie ausbrach, gingen alle drei Wirtschaftsvariablen deutlich zurück, was ein Hinweis auf die globale Schrumpfung der Weltwirtschaft während der Pandemie ist. Der soziale Lockdown der Gesellschaften war auch ein wirtschaftlicher Stillstand. Abbildung 8.2: Entwicklung des Anteils der weltweiten Direktinvestitionsströme (FDI) am globalen BIP, in % (Datenzugriff am 15. Dezember 2021, für das Jahr 2021: Datenzugriff am 15. Dezember 2022) 8.3 Globale Medien 307 <?page no="308"?> Abbildung 8.2 zeigt die Entwicklung der weltweiten Kapitalinvestitionen seit 1970. Der Kapitalexport wird in der Makroökonomie auch als ausländi‐ sche Direktinvestitionen (foreign direct investments, FDI) bezeichnet. Es gibt abfließende und zufließende Investitionen. Abfließende ausländische Direktinvestitionen sind solche, die von einem Land in ein anderes gehen. Zufließende Direktinvestitionen sind Investitionen, die von anderen Län‐ dern in ein Land getätigt werden. Es gibt Bestände (Stocks) und Flüsse (Flows) von ausländischen Direktinvestitionen. FDI-Bestände sind das ge‐ samte im Ausland (z. B. in einem bestimmten Land) investierte Kapital, das sich im Laufe der Jahre angesammelt hat. Bei den FDI-Strömen handelt es sich um das neu investierte und exportierte Kapital in einem bestimmten Zeitraum, z.-B. in einem Finanzjahr. Abbildung 8.2 zeigt, dass der globale Kapitalexport in der Zeit von den frühen 1970er Jahren bis 2008 erheblich zugenommen hat, was darauf hin‐ deutet, dass der Kapitalismus globaler wurde. Seit der Weltwirtschaftskrise 2008 und der COVID-19-Pandemie 2020 sind die globalen Kapitalexporte etwas zurückgegangen, was eine gewisse De-Globalisierungstendenz des Kapitalismus zeigt. 308 8 Die Politische Ökonomie Globaler Medien <?page no="309"?> Abbildung 8.3: Die Entwicklung des Anteils der weltweiten Exporte am globalen BIP (Datenzugriff am 15. Dezember 2021, für das Jahr 2021: Datenzugriff am 15. Dezember 2022) 8.3 Globale Medien 309 <?page no="310"?> Abbildung 8.3 zeigt die Entwicklung des Wertes der weltweiten Exporte im Verhältnis zum globalen BIP. Der Anteil der Exporte am globalen BIP ist seit den 1980er Jahren bis zum Beginn der Weltwirtschaftskrise 2008 deutlich gestiegen, was auf eine gewisse Globalisierung des Welthandels hindeutet. Seit Beginn dieser Krise ist eine gewisse De-Globalisierungstendenz der Exporte zu beobachten, so dass das Niveau der weltweiten Exporte relativ gesunken ist. 310 8 Die Politische Ökonomie Globaler Medien <?page no="311"?> Abbildung 8.4: Die Entwicklung der globalen Verteilung der Abflüsse ausländischer Direkt‐ investitionen 8.3 Globale Medien 311 <?page no="312"?> Abbildung 8.4 zeigt, wie sich der Anteil der Entwicklungs- und der Industrie‐ länder an den Abflüssen ausländischer Direktinvestitionen entwickelt hat. In den frühen 1970er Jahren wurde der Kapitalexport fast vollständig von den Industrieländern dominiert. Seit 2000 ist der Anteil der Industrieländer deutlich zurückgegangen, was in erster Linie auf die Rolle Chinas beim Kapitalexport zurückzuführen ist. China hat sich zu einem wichtigen Kapi‐ talexporteur entwickelt. Im Jahr 2021 ging der Anteil Chinas an den welt‐ weiten Kapitalinvestitionen angesichts der Versuche, die Weltwirtschaft im Lichte von COVID und dem Ukraine-Krieg zu de-globalisieren, sowie der Wirtschaftskrise Chinas, die mit den COVID-Lockdowns zusammenhing, deutlich zurück. - 1980 2000 2010 2017 2020 2021 Brasilien 6,9 - 0,7 0,7 0,7 0,7 Kanada 4,2 6,0 4,8 4,7 5,0 5,4 Festland-China - 0,4 1,6 5,5 6,0 6,2 China, Hong Kong 0,0 5,1 4,6 5,5 5,0 5,0 Frankreich 4,4 4,9 5,7 4,4 4,4 3,7 Deutschland 7,7 6,5 6,7 5,0 5,0 5,1 Japan 3,5 3,8 4,0 4,6 5,1 4,7 Niederlande 9,5 4,1 4,7 6,6 9,7 8,0 Schweiz, Liechtenstein - 3,1 5,1 4,3 4,2 3,8 Großbritannien 14,4 12,7 8,3 5,7 5,2 5,2 Vereinigte Staaten 38,5 36,4 23,5 23,9 20,7 23,5 Tabelle 8.7: Länder mit den größten Anteilen an den weltweiten Beständen ausländischer Direktinvestitionen, in %, aufgeführt sind alle Länder, die in einem der angezeigten Jahre einen Anteil von > 4-% hatten, Datenquelle: UNCTAD, abgerufen am 8. November 2021 Tabelle 8.7 zeigt, welche Länder in den verschiedenen Jahren bei den Kapitalexportbeständen dominieren. Die Daten zeigen ihren Anteil an den Kapitalexportbeständen in dem jeweiligen Jahr. China hat sich seit den frühen 1980er Jahren, als seine Kapitalexporte verschwindend gering waren, zum drittgrößten Kapitalexporteur im Jahr 2020 entwickelt. Die 312 8 Die Politische Ökonomie Globaler Medien <?page no="313"?> Vereinigten Staaten haben beim Kapitalexport an Macht verloren, sind aber weiterhin der größte Kapitalexporteur der Welt. Die Anteile des Vereinigten Königreichs und Deutschlands sind in den letzten Jahren ebenfalls zurück‐ gegangen, aber beide sind weiterhin wichtige Kapitalexporteure. Der Anteil der Niederlande hat nach 2010 deutlich zugenommen. Abbildung 8.5: Die Entwicklung der globalen Verteilung der Zuflüsse ausländischer Direkt‐ investitionen Abbildung 8.5 veranschaulicht die Entwicklung der globalen Verteilung der Zuflüsse ausländischer Direktinvestitionen seit 1970. Die Entwicklung ist in Wellen verlaufen. Insgesamt ist der sehr große Anteil der Entwicklungs‐ länder in den 1970er Jahren deutlich zurückgegangen, insbesondere seit etwa 2000. China als Standort von Kapitalexporten hat eine bedeutende Rolle bei der Zunahme der Zuflüsse ausländischer Direktinvestitionen aus Entwicklungsländern gespielt. Tabelle 8.8 zeigt die Länder mit den größten Anteilen an den weltweiten Beständen zufließender ausländischer Direktinvestitionen. Die USA sind seit jeher das Land mit dem größten Anteil an den Kapitalimporten weltweit. China spielt zusammen mit Hongkong eine wichtige Rolle. Die Niederlande haben ihren Anteil im Zuge der COVID-19-Pandemie deutlich erhöht. Die Anteile Deutschlands, des Vereinigten Königreichs, Frankreichs, Irlands und Kanadas sind seit den 1980er Jahren zurückgegangen, aber alle vier Länder 8.3 Globale Medien 313 <?page no="314"?> sind nach wie vor wichtig für den Kapitalimport. Singapur hat seit den 1980er Jahren seine Bedeutung für den Kapitalimport erheblich gesteigert. - 1980 2000 2010 2017 2020 Kanada 7,7 4,4 4,9 2,8 2,7 Festland-China 0,2 2,6 2,9 4,5 4,6 China, Hong Kong 25,4 5,9 5,4 5,8 4,6 Frankreich 4,5 2,5 3,2 2,5 2,3 Deutschland 5,2 6,4 4,8 2,9 2,6 Irland 5,1 1,7 1,4 3,2 3,3 Niederlande 3,5 3,3 3,0 4,6 7,0 Singapur 0,8 1,5 3,2 4,4 4,5 Schweiz, Liechtenstein - 1,4 3,3 4,3 3,7 Großbritannien 9,0 6,0 5,4 5,7 5,3 Vereinigte Staaten 11,9 37,7 17,2 23,4 26,1 Tabelle 8.8: Länder mit den größten Anteilen an den weltweiten Beständen ausländischer Direktinvestitionen, in %, aufgeführt sind alle Länder, die in einem der angezeigten Jahre einen Anteil von > 4-% hatten, Datenquelle: UNCTAD, abgerufen am 8. November 2021 Mitte der 1970er Jahre geriet die Weltwirtschaft in eine schwere Krise. Der Kapitalexport und die globale Auslagerung von Arbeit waren Teil eines neuen Regimes der Kapitalakkumulation, das das Ergebnis dieser Krise und eine Reaktion darauf war. Die neoliberale Politik trieb diese Entwicklungen voran. Das Ziel bestand darin, Arbeit und Ressourcen zu verbilligen, um die Profite zu maximieren. Lohndrückerei war ein wichtiges Mittel zur Steigerung der Profitraten. Die Globalisierung des Kapitalismus war eine der Folgen. Die Situation hat sich seit der Weltwirtschaftskrise 2008, die gewisse De-Globalisierungstendenzen des Kapitalismus mit sich brachte, etwas geändert: ● Die Weltwirtschaftskrise von 2008 führte in vielen Ländern zu einer Sparpolitik, zur Rettung von Unternehmen und Banken und zu einer Art Hyper-Neoliberalismus, der die Ungleichheiten und die Macht des 314 8 Die Politische Ökonomie Globaler Medien <?page no="315"?> Kapitals über die Arbeit vergrößerte. Doch was folgte, war eine politi‐ sche Krise. Extreme Ungleichheiten begünstigten die Verstärkung von Nationalismus und Autoritarismus. Die politischen Legitimationskrisen verlangsamten die Globalisierung der Volkswirtschaften, es entstand eine De-Globalisierungstendenz des Kapitalismus. ● Die Anwendung von Zöllen im Welthandel wurde immer üblicher. ● Der Erfolg rechter Demagogen wie Vladimir Putin (Russland), Donald Trump (USA), Recep Erdoğan (Türkei), Narendra Modi (Indien) oder Viktor Orbán (Ungarn) beruht auf einer nationalistischen Ideologie, die sich gegen ausländisches Kapital richtet und gleichzeitig das nationale Kapital verherrlicht. ● Die Weltwirtschaftskrise 2008 löste eine Schuldenkrise in den südeuro‐ päischen Volkswirtschaften aus. Griechenland wurde besonders hart getroffen. Die Europäische Union zeigte sich nicht solidarisch mit Griechenland und setzte die Sparpolitik in Griechenland um, was die politische Legitimationskrise der EU noch verstärkte. ● Das britische Referendum über den Austritt aus der EU („Brexit“) wurde von einer einwanderungsfeindlichen Rhetorik und der Verteufelung von Migrant: inn: en als Sozialhilfeempfänger: innen, Sozialschmarotzer: in‐ nen usw. begleitet. Der Brexit hatte zur Folge, dass die Märkte der EU und des Vereinigten Königreichs weniger auf den freien Handel ausgerichtet wurden. Das Vereinigte Königreich schränkte die Freizügigkeit von Arbeitnehmer: inne: n stark ein. ● Die EU hatte keine koordinierte Antwort auf die Flüchtlingskrise 2015, die den Aufstieg von Nationalismus, geschlossenen Grenzen, Fremden‐ feindlichkeit und den Erfolg rechter Parteien begünstigte. ● Die COVID-19-Pandemie führte zu einem weltweiten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Stillstand, der auch den globalen Handel und die weltweiten Investitionen einschränkte. Der Mangel an Beatmungsgerä‐ ten und Schutzausrüstung in vielen Ländern stellte die globale Ausla‐ gerung von Arbeitskräften in Frage. Darüber hinaus mussten die Natio‐ nalstaaten große Summen in die Unterstützung der Arbeitnehmer: innen und des nationalen Kapitals investieren, wodurch staatliche Eingriffe in die Wirtschaft häufiger wurden. Infolge von COVID-19 wurde die Entwicklung eines neo-keynesianischen Regulierungsmodells und einer stärker national ausgerichteten und strenger regulierten Wirtschaft immer wahrscheinlicher. 8.3 Globale Medien 315 <?page no="316"?> ● Im Jahr 2022 zeigten die Invasion Russlands in der Ukraine, Russlands Nutzung der Gasversorgung als strategisches politisches Mittel und die zunehmende politische Polarisierung der Welt, dass die Globalisie‐ rung von Handel und Investitionen wirtschaftliche Abhängigkeiten von Ressourcen wie Gas und anderen Energieformen geschaffen hatte. Die Erkenntnis, dass solche Abhängigkeiten im Falle von Kriegen und globalen Konflikten als Mittel der Kriegsführung eingesetzt werden können, hat den Prozess der De-Globalisierung weiter vorangetrieben. 8.4 Kultur- und Medien-Imperialismus Kultur-Imperialismus und das amerikanische Imperium Herbert Schillers (1969/ 1992) Buch Mass Communications and American Empire spielte eine wichtige Rolle bei der Etablierung des Konzepts des Kultur-Imperialismus: „Es gibt ein mächtiges Kommunikationssystem“, das die Identifikation der „ame‐ rikanischen Präsenz“ in der Welt „mit der Freiheit - der Freiheit des Handels, der Freiheit der Rede und der Freiheit des Unternehmertums“ sichert (Schiller 1969/ 1992, 47). Der „Kommunikationskomplex der Vereinigten Staaten […] wirkt sich jetzt überall direkt auf das Leben der Menschen aus“ (Schiller 1969/ 1992, 60-61). Der „Begriff Kultur-Imperialismus beschreibt heute am besten die Summe der Prozesse, durch die eine Gesellschaft in das moderne Weltsystem eingebracht wird und wie ihre dominierende Schicht angezogen, unter Druck gesetzt, ge‐ zwungen und manchmal bestochen wird, die gesellschaftlichen Institutionen so zu gestalten, dass sie den Werten und Strukturen des dominierenden Zentrums des Systems entsprechen oder sie sogar fördern” (Schiller 1975/ 1976, 9). Der Aufstieg eines amerikanischen Imperiums betrifft vor allem den Film und die Radio- und Fernsehprogramme: Der „wachsende amerikanische Einfluss in der globalen Kommunikation“ führe „zur Verbreitung und Ausdehnung des amerikanischen Wirtschaftssystems und seiner Werte in alle Ecken der internationalen Gemeinschaft“ (Schiller 1969/ 1992, 136). In der „entstehenden imperialen Gesellschaft“ strahlen Botschaften wie „‚made in America‘ über den ganzen Globus und dienen als Ganglien nationaler Macht und des Expansionismus“ (Schiller 1969/ 1992, 191-192). 316 8 Die Politische Ökonomie Globaler Medien <?page no="317"?> Der Kultur-Imperialismus wurde als die Verbreitung der kommerziellen Kultur und des American Way of Life charakterisiert. Kultur-Imperialismus ist ein allgemeinerer Begriff als Medien-Imperialis‐ mus. Er umfasst neben den Medien auch Sport, Essen, Religion, Kleidung usw. (Sparks 2007, 96). Der Kontext der Analyse des Kultur-Imperialismus als US-Imperium umfasste den Kalten Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion, die Tatsache, dass es außerhalb dieses Konflikts Nationen gab, die die USA und Russland auf ihre Seite zu ziehen versuchten, sowie die nationalen Befreiungskämpfe im Globalen Süden (Schiller 1969/ 1992, 1-2) Kritik an der Theorie des Kultur- und Medien-Imperialismus Es gibt mehrere Kritikpunkte am Konzept des Kultur-Imperialismus (siehe Golding & Harris 1997, Sparks 2007): ● Die Theorien des Kultur-Imperialismus lassen die Gegenmacht außer Acht. Sie unterschätzen den Widerstand. ● Wirtschaftliche Macht wird mit Kultur gleichgesetzt. ● Passives Publikum: Das Publikum wird als passiv angesehen. Das Modell sieht keine aktiven Interpretationsmöglichkeiten vor. ● Kultureller Nationalismus: Nationale Kulturen in Entwicklungsländern werden als authentisch oder überlegen angesehen. ● Mangelnde Kontextualisierung: Die Theorien des Kulturimperialismus unterschätzen die Entstehung und Verbreitung lokaler und regionaler Kulturen, lokaler und regionaler Kulturindustrien und hybrider Formen von Kultur, die Vielfalt und Abwechslung fördern. ● Globale Kulturprodukte stammen auch aus anderen Teilen der Welt als den USA (Bollywood, Nollywood, japanische Videospiele, brasiliani‐ sche und mexikanische Telenovelas, Nachrichten von Al-Jazeera, BBC, CGTN, Russia Today usw.). ● Die kulturellen Ströme sind heute ziemlich global, so dass man nicht von Kultur-Imperialismus sprechen kann, wenn ein Staat die Kultur eines anderen dominiert. Herbert Schiller: Transnationale kulturelle Herrschaft Herbert Schiller nahm solche Debatten ernst und antwortete darauf in seinem Artikel „Not-Yet the Post-Imperialist Era“ („Noch nicht die postimperialistische 8.4 Kultur- und Medien-Imperialismus 317 <?page no="318"?> Ära“, Schiller 1991). Er argumentiert, dass sich seit der Veröffentlichung seines Buches über das amerikanische Imperium im Jahr 1969 wichtige Veränderun‐ gen ergeben haben, darunter der Zusammenbruch des sowjetischen Systems, die Abhängigkeit der Länder der Dritten Welt vom Weltmarkt und den west‐ lichen Gläubigern sowie das Aufkommen der kulturellen Vorherrschaft trans‐ nationaler Unternehmen. Er spricht vom „enormen Wachstum der transnatio‐ nalen Unternehmensmacht in den letzten zwanzig Jahren“ (Schiller 1991, 252), welches die Globalisierung des kapitalistischen Modells, die Profitmacherei, die Kapitalakkumulation, die Privatisierung (von Kommunikations- und anderen Dienstleistungen), die Ungleichheiten, die Werbung, das Kultursponsoring, die Öffentlichkeitsarbeit und das Konsumverhalten umfasst. Infolgedessen sind die globalen Medienunternehmen „kaum noch von denselben Dienstleistungen zu unterscheiden, über die amerikanische Konzerne verfügen“ (Schiller 1991, 249). „Es entsteht also eine Welt, in der neben der amerikanischen Produktion von Kulturprodukten praktisch identische Produkte von konkurrierenden nationalen und transnationalen Gruppen vermarktet werden“ (Schiller 1991, 254). So haben beispielsweise brasilianische Seifen denselben Zweck wie US-amerikanische Seifen - sie dienen dem Verkauf von Produkten, die von „transnationalen Konzernen hergestellt werden, die in Brasilien ebenso werben wie in den Vereinigten Staaten“ (Schiller 1991, 255). Das bedeutet, dass Schiller den Kultur-Imperialismus als die Globalisie‐ rung des Kapitalismus und die Anwendung des kapitalistischen Modells auf die Kultur auf nationaler, internationaler und globaler Ebene re-konzeptu‐ alisiert hat. Der Globale Kapitalismus Globaler Kapitalismus bedeutet die kapitalistische Gesellschaft und ihre Ak‐ kumulationslogik auf internationaler, transnationaler oder globaler Ebene. Die globale kapitalistische Gesellschaft beinhaltet die transnationale Ak‐ kumulation von Geldkapital in der Wirtschaft, die Akkumulation von politischer Entscheidungsmacht und Einfluss auf internationaler Ebene in der Politik sowie die Akkumulation von internationalem Ansehen und Respekt in der Kultur. Die Globalisierung der kapitalistischen Gesellschaft ist eine der Reaktionen auf wirtschaftliche, politische und kulturelle Krisen. Die Entwicklung des globalen Kapitalismus ist der Versuch einer räumlichen Lösung für solche Krisen. 318 8 Die Politische Ökonomie Globaler Medien <?page no="319"?> Der globale Kapitalismus ist ein internationales System politisch-ökono‐ mischer Rivalitäten um die wirtschaftliche, politische und ideologische Kontrolle von Territorien, in dem rivalisierende Mächte mit gewaltsamen und/ oder gewaltfreien Methoden versuchen, die Akkumulation und Zen‐ tralisierung der wirtschaftlichen Macht der dominierenden Klasse sowie die Akkumulation und globale Zentralisierung der politischen und ideolo‐ gischen Macht voranzutreiben. Die größte Gefahr konkurrierender Kräfte im globalen Kapitalismus besteht darin, dass sich Rivalität, Nationalismus und die Freund-Feind-Logik, die Teil des globalen Kapitalismus sind, so weit verschärfen, dass ein Weltkrieg die Folge ist. Rosa Luxemburg vertritt die Auffassung, dass es bei der „immer hef‐ tigeren Konkurrenz der kapitalistischen Länder“ (Luxemburg 1913, 391) zum Ausbruch von Gewalt und Krieg kommen kann. Für Luxemburg ist ein Weltkrieg „eine Ausgeburt imperialistischer Rivalitäten zwischen den kapitalistischen Klassen verschiedener Länder um die Weltherrschaft und um das Monopol in der Aussaugung und Unterdrückung” (Luxemburg 1916, 106). Die weltpolitische Lage ist im 21. Jahrhundert der vor dem Ersten Weltkrieg nicht ganz unähnlich, als Luxemburg (1913) ihr Buch Die Akkumulation des Kapitals schrieb. Wieder finden wir konkurrierende und aufeinanderprallende Kräfte im globalen Kapitalismus vor, die bereit zu sein scheinen, nicht nur wirtschaftlich zu konkurrieren, sondern auch militärische Gewalt einzusetzen. Die Gefahr eines neuen Weltkrieges und damit die Gefahr der nuklearen Vernichtung der Menschheit und des Lebens auf der Erde hat in den letzten Jahren zugenommen. Die Gefahr, in der sich die Welt heute befindet, nämlich die Gefahr eines neuen Weltkriegs, ergibt sich aus der globalen Rivalität der dominierenden Mächte. Die folgende Tabelle zeigt, wie mächtig die heutigen Großmächte in Bezug auf verschiedene Variablen sind. Sehen wir uns kurz zwei Beispiele für die in der obigen Tabelle aufge‐ führten Aspekte an. Die Daten in den nachstehenden Tabellen zeigen, dass Russland und die USA den größten Teil der weltweiten Atombomben kontrollieren. China hat die größte Armee der Welt, was seine militäri‐ sche Macht erhöht (Datenquelle: https: / / www.statista.com/ statistics/ 264443 / the-worlds-largest-armies-based-on-active-force-level/ #: ~: text=In%202022 %2C%20China%20had%20the,the%20top%20five%20largest%20armies, abge‐ rufen am 30. Januar 2023). Die USA beherbergen die meisten transnationalen Konzerne, gefolgt von China und der EU. Russland hat eine relativ geringe Anzahl solcher Unternehmen. 8.4 Kultur- und Medien-Imperialismus 319 <?page no="320"?> Wirtschaftli‐ che Macht Militärische Macht Kultureller, politischer und ideologischer Ein‐ fluss USA Hoch Hoch Hoch China Hoch Mittel Mittel EU Mittel Wenig Mittel Russland Wenig Hoch Wenig Tabelle 8.9: Die Macht der konkurrierenden politisch-ökonomischen Kräfte in der heutigen Welt Land Atombomben Russland 5.977 USA 5.428 China 350 Frankreich 290 Großbritannien 225 Pakistan 165 Indien 160 Israel 90 Nordkorea 20 Tabelle 8.10: Das weltweite Atomwaffenarsenal, Datenquelle: https: / / www.sipri.org/ yearb ook/ 2022/ 10, abgerufen am 30. Januar 2023 320 8 Die Politische Ökonomie Globaler Medien <?page no="321"?> Land Top-transnationale Konzerne USA 38 China 17 EU 14 Schweiz 6 Japan 5 Großbritannien 5 Russland 2 Tabelle 8.11: Absoluter Anteil der weltweit größten 100 Unternehmen, die ihren Hauptsitz in ausgewählten Regionen und Ländern haben, Datenquelle: Forbes 2000 Liste für das Jahr 2022 Was die Weltlage heute so gefährlich macht, ist die Kollision von poli‐ tisch-ökonomischen Mächten. Eine solche Konstellation hat schon einmal zu Weltkriegen geführt, mit dem Unterschied, dass die Atomwaffenarsenale im Ersten Weltkrieg noch nicht existierten und erst im Zweiten Weltkrieg aufkamen. Ein Dritter Weltkrieg wäre eine absolute Katastrophe, die wahr‐ scheinlich das Ende der Menschheit und das Ende des Lebens auf der Erde zur Folge hätte. Ein globales demokratisches, humanistisches, sozialistisches System ist eine Möglichkeit, diese Bedrohung zu überwinden, einzudämmen und zu verringern. „Erst wenn wir die Macht in Händen haben, dann wird es vorbei sein mit Kriegen und mit Kasernen” (Luxemburg 1914, 847). In einem solchen System gibt es die Maximierung der Vorteile für alle, das größtmögliche Maß an Kooperation, die Minimierung des gegenseitigen Schadens sowie die friedliche Koexistenz, wenn Kooperation für beide Seiten nicht machbar ist. Die Medien und der globale Kapitalismus Fuchs (2010) argumentiert, dass der Medien- und Kultur-Imperialismus nicht nur als die Ausbreitung des Kapitalismus auf der Ebene der Medien und kulturellen Inhalte verstanden werden sollte. Vielmehr hat der globale Kapitalismus eine Dimension der Medien und der Kultur. Dies bedeutet, dass Medien, Kultur und digitale Technologien eine Rolle bei der Reorganisation 8.4 Kultur- und Medien-Imperialismus 321 <?page no="322"?> und Globalisierung des Kapitalismus spielen. Der globale Kapitalismus verbindet den globalen Kapitalexport, die Dominanz des Finanzkapitals, das Monopolkapital und die Kapitalkonzentration, die globalen geografischen Ungleichheiten und die globale Stratifizierung sowie die politisch-ökonomi‐ schen Konflikte um den Einfluss in der Welt, die auch Kriege einschließen. Fuchs hebt die folgenden Aspekte des globalen Kapitalismus hervor, die mit Medien, Kultur und dem Digitalen zusammenhängen: ● Kapitalexport: Finanzwesen, Bergbau/ Erdöl, Handel und Information sind die wichtigsten Wirtschaftszweige für ausländische Direktinvesti‐ tionen. Der Finanzsektor ist sowohl bei den ausländischen Direktinves‐ titionen als auch beim Welthandel der dominierende Sektor. ● Finanzkapital: Die Finanzialisierung, die Hyperindustrialisierung durch die anhaltende Bedeutung fossiler Brennstoffe und des Autos sowie die Informatisierung sind drei wichtige wirtschaftliche Trends des globalen Kapitalismus. Die Finanzialisierung ist der dominierende Faktor. ● Kapitalkonzentration: Informationssektoren wie das Verlagswesen, die Telekommunikation und die Herstellung von Kommunikationsge‐ räten gehören zu den am stärksten konzentrierten Wirtschaftssektoren, obwohl das Finanzwesen der meistkonzentrierte Sektor ist. ● Globale Stratifizierung: Transnationale Informationsunternehmen sind nicht ausschließlich global tätig. Sie sind zwar in den nationalen Volkswirtschaften verankert, aber ein gewisser Teil ihrer Tätigkeiten, Vermögenswerte, Beschäftigten, Umsätze, Profite und Tochtergesell‐ schaften befindet sich außerhalb ihrer Heimatländer, so dass ein na‐ tional-transnationaler Nexus entsteht. Transnationalität ist eine sich entwickelnde Eigenschaft, ein Maß, ein Grad und eine Tendenz. Trans‐ nationale Konzerne haben globale Ungleichheiten vorangetrieben. ● Politisch-ökonomische Konflikte und Kriege: Medien, Computer und Internet sind Schauplätze und Vermittler von globalen politischen und wirtschaftlichen Konflikten. Konkurrierende, eskalierende Kon‐ flikte können zu Kriegen um internationale und globale Hegemonie führen, d. h. um politische, wirtschaftliche und kulturelle Vorherrschaft. Medien und Computer spielen daher auch im globalen Kapitalismus eine Rolle in der Form der Mediatisierung von Krieg und digitalen Waffensystemen. 322 8 Die Politische Ökonomie Globaler Medien <?page no="323"?> # Film Vertriebsunter‐ nehmen Zentrale des Unternehmens Globale Einnahmen 1 Avatar 20th Century Fox (News Corpora‐ tion) USA 2.743.577.587 US$ 2 Harry Potter and the Half-Blood Prince Warner Bros. (Time Warner) USA 933.959.197 US$ 3 Ice Age: Dawn of the Dinosaurs 20th Century Fox (News Corpora‐ tion) USA 886.686.817 US$ 4 Transformers: Revenge of the Fallen Paramount (Via‐ com) USA 836.303.693 US$ 5 2012 Columbia Pictures (Sony) Japan 769.679.473 US$ 6 Up Walt Disney USA 735.099.082 US$ 7 The Twilight Saga: New Moon Summit Entertain‐ ment (Lions Gate Entertainment) USA 709.827.462 US$ 8 Sherlock Holmes Warner Bros. (Time Warner) USA 524.028.679 US$ 9 Angels & De‐ mons Columbia Pictures (Sony) Japan 485.930.816 US$ 10 The Hangover Warner Bros. (Time Warner) USA 468.812.793 US$ 11 Alvin and the Chipmunks: The Squeakquel 20th Century Fox (News Corpora‐ tion) USA 443.140.005 US$ 12 Night at the Mu‐ seum: Battle of the Smithsonian 20th Century Fox (News Corpora‐ tion) USA 413.106.170 US$ 13 Star Trek Paramount Pictu‐ res (Viacom) USA 385.680.446 US$ 14 Monsters vs. Ali‐ ens Paramount Pictu‐ res (Viacom) USA 381.509.870 US$ 8.4 Kultur- und Medien-Imperialismus 323 <?page no="324"?> # Film Vertriebsunter‐ nehmen Zentrale des Unternehmens Globale Einnahmen 15 X-Men Origins: Wolverine 20th Century Fox (News Corpora‐ tion) USA 373.062.864 US$ 16 Terminator Sal‐ vation Warner Bros (Time Warner) & Sony Pictures USA, Japan 371.353.001 US$ 17 Fast & Furious Universal Pictures (Comcast) USA 360.364.265 US$ 18 Prince of Persia: The Sands of Time Walt Disney USA 336.365.676 US$ 19 A Christmas Ca‐ rol Walt Disney USA 325.286.646 US$ 20 Inglourious Bas‐ terds The Weinstein Company, Univer‐ sal Pictures (Com‐ cast) USA 321.455.689 US$ - - - - Gesamt: 12,8 Milliarden US$ Tabelle 8.12: Weltweit meistverkaufte Filme im Jahr 2009, Datenquelle: https: / / www.boxoff icemojo.com/ year/ world/ 2009/ , abgerufen am 23. November 2021 Der globale Filmmarkt wird von großen Medienkonzernen beherrscht: Im Jahr 2009 war die News Corporation am Vertrieb von fünf der 20 wichtigsten Filme beteiligt, Warner an vier, Viacom, Sony und Disney an jeweils drei und Comcast an zwei. In 18 von 20 Fällen war der Hauptverleiher ein Unternehmen, das seinen Hauptsitz in den USA hatte. Die Tabellen 8.13, 8.14 und 8.15 zeigen Daten zu den weltweit meistver‐ kauften Filmen in den Jahren 2019, 2020 und 2021. 324 8 Die Politische Ökonomie Globaler Medien <?page no="325"?> # Film Vertriebsunter‐ nehmen Zentrale des Unter‐ nehmens Globale Ein‐ nahmen 1 Avengers: End‐ game Walt Disney USA 2.797.501.328 US$ 2 The Lion King Walt Disney USA 1.656.943.394 US$ 3 Frozen II Walt Disney USA 1.450.026.933 US$ 4 Spider-Man: Far from Home Sony Japan 1.131.927.996 US$ 5 Captain Marvel Walt Disney USA 1.128.274.794 US$ 6 Joker Warner Bros (WarnerMedia, AT&T) USA 1.074.251.311 US$ 7 Star Wars: Epi‐ sode IX - The Rise of Skywalker Walt Disney USA 1.074.144.248 US$ 8 Toy Story 4 Walt Disney USA 1.073.394.593 US$ 9 Aladdin Walt Disney USA 1.050.693.953 US$ 10 Jumanji: The Next Level Sony Japan 800.059.707 US$ 11 Fast & Furious Presents: Hobbs & Shaw Universal Pictures (Comcast) USA 759.056.935 US$ 12 Ne Zha Beijing Enlight Pic‐ tures China 726.063.471 US$ 13 The Wandering Earth China Film Group Corporation China 699.856.699 US$ 14 How to Train Your Dragon: The Hid‐ den World Universal Pictures (Comcast) USA 521.799.505 US$ 15 Maleficent: Mist‐ ress of Evil Walt Disney USA 491.730.089 US$ 8.4 Kultur- und Medien-Imperialismus 325 <?page no="326"?> # Film Vertriebsunter‐ nehmen Zentrale des Unter‐ nehmens Globale Ein‐ nahmen 16 It Chapter Two Warner Bros (WarnerMedia, AT&T) USA 473.093.228 US$ 17 My People, My Country Huaxia Film Distri‐ bution China 450.064.993 US$ 18 Pokémon Detec‐ tive Pikachu Warner Bros (WarnerMedia, AT&T), Toho USA, Japan 433.005.346 US$ 19 The Secret Life of Pets 2 Universal Pictures (Comcast) USA 430.051.293 US$ 20 The Captain Bona Film Group Limited China 417.282.021 US$ - - - - Gesamt: 18,6 Milliarden US$ Tabelle 8.13: Weltweit meistverkaufte Filme im Jahr 2019, Datenquelle: https: / / www.boxoff icemojo.com/ year/ world/ 2019/ , abgerufen am 23. November 2021. # Film Vertriebsunter‐ nehmen Zentrale des Unter‐ nehmens Globale Ein‐ nahmen 1 The Eight Hundred Huayi Brothers, China Media Capi‐ tal China 461.421.559 US$ 2 Demon Slayer: Mu‐ gen Train Toho, Aniplex Japan 452.974.619 US$ 3 Bad Boys for Life Sony Pictures Rele‐ asing (Sony Enter‐ tainment) Japan 426.505.244 US$ 4 My People, My Homeland Huaxia Film Distri‐ bution China 422.390.820 US$ 5 Tenet Warner Brothers (WarnerMedia, AT&T) USA 363.656.624 US$ 326 8 Die Politische Ökonomie Globaler Medien <?page no="327"?> # Film Vertriebsunter‐ nehmen Zentrale des Unter‐ nehmens Globale Ein‐ nahmen 6 Sonic the Hedgehog Paramount Pictures (ViacomCBS) USA 319.715.683 US$ 7 Dolittle Universal Pictures (Comcast) USA 245.438.444 US$ 8 Legend of Deifica‐ tion Beijing Enlight Pic‐ tures China 240.663.149 US$ 9 A Little Red Flower HG Entertainment Großbritan‐ nien 216.000.000 US$ 10 The Croods: A New Age Universal Pictures (Comcast) USA 215.905.815 US$ 11 Birds of Prey Warner Brothers (WarnerMedia, AT&T) USA 201.858.461 US$ 12 Shock Wave 2 Universe Films Dis‐ tribution China (Hong Kong) 198.921.659 US$ 13 Wonder Woman 1984 Warner Brothers (WarnerMedia, AT&T) USA 166.534.027 US$ 14 The Sacrifice China Film Group Corporation China 161.047.608 US$ 15 The Invisible Man Universal Pictures (Comcast) USA 143.151.000 US$ 16 Onward Walt Disney Studios (Walt Disney Com‐ pany) USA 141.940.042 US$ 17 Warm Hug Shaw Organisation Singapur 129.240.236 US$ 18 Soul Walt Disney Studios (Walt Disney Com‐ pany) USA 120.957.731 US$ 19 The Call of the Wild Walt Disney Studios (Walt Disney Com‐ pany) USA 111.105.497 US$ 20 Caught in Time Emperor Motion Pictures China (Hong Kong) 80.543.319 US$ 8.4 Kultur- und Medien-Imperialismus 327 <?page no="328"?> # Film Vertriebsunter‐ nehmen Zentrale des Unter‐ nehmens Globale Ein‐ nahmen - - - - Gesamt: 4,8 Mil‐ liarden US$ Tabelle 8.14: Weltweit meistverkaufte Filme im Jahr 2020, Datenquelle: https: / / www.boxoff icemojo.com/ year/ world/ 2020/ , abgerufen am 23. November 2021. # Film Vertriebsunter‐ nehmen Zentrale des Unter‐ nehmens Globale Ein‐ nahmen 1 Spider-Man: No Way Home Sony Pictures Rele‐ asing (Sony Enter‐ tainment) USA 1.538.282.364 US$ 2 The Battle at Lake Changjin CMC Pictures China 902.540.914 US$ 3 Hi, Mom China Film Co. China 822.009.764 US$ 4 No Time to Die Universal Pictures (Comcast), United Artists (MGM) USA 774.034.007 US$ 5 F9: The Fast Saga Universal Pictures (Comcast) USA 726.229.501 US$ 6 Detective China‐ town 3 Wanda Pictures China 686.257.563 US$ 7 Venom: Let There Be Carnage Sony Japan 501.138.437 US$ 8 Godzilla vs. Kong Warner Bros (WarnerMedia, AT&T), Toho USA, Japan 467.863.133 US$ 9 Shang-Chi and the Legend of the Ten Rings Walt Disney USA 432.233.010 US$ 10 Eternals Walt Disney USA 401.836.070 US$ 11 Dune Warner Bros (WarnerMedia, AT&T) USA 397.024.576 US$ 328 8 Die Politische Ökonomie Globaler Medien <?page no="329"?> # Film Vertriebsunter‐ nehmen Zentrale des Unter‐ nehmens Globale Ein‐ nahmen 12 Black Widow Walt Disney USA 379.631.351 US$ 13 Free Guy 20th Century Stu‐ dios (Walt Disney) USA 331.503.757 US$ 14 A Quiet Place Part II Paramount Pictu‐ res (ViacomCBS) USA 297.372.261 US$ 15 Cruella Walt Disney USA 233.274.812 US$ 16 My Country, My Parents Huaxia Film Distri‐ bution China 221.701.823 US$ 17 Jungle Cruise Walt Disney USA 220.889.446 US$ 18 Encanto Walt Disney USA 216.116.977 US$ 19 Raging Fire Emperor Motion Pictures (Emperor Group) China (Hong Kong) 205.838.889 US$ 20 The Conjuring: The Devil Made Me Do It Warner Bros (WarnerMedia, AT&T) USA 201.965.074 US$ - - - - Gesamt: 10,0 Mil‐ liarden US$ Tabelle 8.15: Weltweit meistverkaufte Filme im Jahr 2021, Datenquelle: https: / / www.boxoff icemojo.com/ year/ world/ 2021/ , abgerufen am 23. November 2021 Im Jahr 2019 wurde die überwiegende Mehrheit der meistverkauften Filme von transnationalen US-Konzernen vertrieben. Walt Disney dominierte den globalen Filmverleihmarkt. Unter den 20 meistverkauften Filmen be‐ fanden sich auch vier chinesische Filme. 2020 war das Jahr, in dem die COVID-19-Pandemie ausbrach. China war von Januar bis März stark von der Pandemie betroffen und erholte sich, weil es gelang, das Virus einzu‐ dämmen. Die westlichen Länder wurden ab März 2020 von der Pandemie heimgesucht, was zu wiederholten Phasen des Lockdowns führte. Die von den USA dominierte Filmindustrie litt unter der Pandemie. Infolgedessen gehörten chinesische Filme in dem Jahr zu den meistverkauften Kinofilmen der Welt. Im Jahr 2020 waren sechs chinesische Filme unter den 20 meist‐ 8.4 Kultur- und Medien-Imperialismus 329 <?page no="330"?> verkauften Filmen, darunter der meistverkaufte Film weltweit. 10 der 20 meistverkauften Filme wurden von US-Firmen vertrieben, was bedeutet, dass US-Firmen zwar immer noch den globalen Filmmarkt beherrschen, ihre Marktmacht aber geschwächt wurde. Im Jahr 2021 wurden fünf der 20 meistverkauften Filme in China und 14 in den USA produziert. Das bedeutet, dass sich der Trend von 2020 auch 2021 fortsetzte. 2020 machte Walt Disney Verluste in der Höhe von 2,4 Milliarden US-Dollar, während die Profite des Unternehmens 2019 bei 10,4 Milliarden US-Dollar lagen (Datenquelle: Disney SEC-Filings Form 10-K, Geschäftsjahr 2020). Netflix, der marktbe‐ herrschende Akteur im Bereich Videostreaming, steigerte seine Gewinne von 2,6 Mrd. USD im Jahr 2019 auf 4,6 Mrd. USD im Jahr 2020 (Datenquelle: Disney SEC-Filings Form 10-K, Geschäftsjahr 2020). Die Zahl der weltweiten Abonnent: innen von Netflix stieg von 167,1 Millionen im Jahr 2019 auf 203,7 Millionen im Jahr 2020 (ebd.). Während der Pandemie wechselten viele Cineasten vom Kinobesuch zum Abo-Video-on-Demand. Dies wird auch daran deutlich, dass der weltweite Kassenumsatz der Top-20-Filme von 18,6 Mrd. US-Dollar im Jahr 2019 auf 4,8 Mrd. US-Dollar im Jahr 2020 zurückging und 2021 bei 10,0 Mrd. US-Dollar lag. Das bedeutet, dass die weltweiten Kinokasseneinnahmen aufgrund der COVID-19-Pandemie 2020 innerhalb eines Jahres um 75-Prozent sanken. Die Daten zeigen, dass Krisen des Kapitalismus nicht-westliche Unter‐ nehmen in der Kulturindustrie stärken können. Allerdings ist diese Stärkung in der Filmindustrie durch ein absolutes Schrumpfen des westlichen Marktes und eine Verlagerung der Kinobesucher: innen und ihrer Ausgaben auf Abo-Video-on-Demand. Es reicht nicht aus, die Existenz von Medienströmen und „Gegenströ‐ men“ zu beschreiben, man muss auch die Machtverteilung zwischen ihnen betrachten. Days Thussu warnt davor, dass die Rede von der Existenz regionaler Gegenströme den falschen Eindruck erwecken kann, dass es zu einer Verschiebung der finanziellen Macht kommt: Prominente „Beispiele für ‚subalterne‘ und ‚geokulturelle‘ Medienströme können den falschen Eindruck erwecken, dass die weltweite Kommunikation vielfälti‐ ger und demokratischer geworden ist. […] Trotz des zunehmenden Trends zu Gegenströmen […] sind die Einnahmen nicht-westlicher Medienorganisationen, mit Ausnahme der japanischen Animationsfilme, relativ gering, und ihr globaler Einfluss beschränkt sich auf geokulturelle Märkte oder bestenfalls auf kleine Bereiche regionaler transnationaler Verbraucher. Keine der lateinamerikanischen 330 8 Die Politische Ökonomie Globaler Medien <?page no="331"?> Telenovelas hatte eine vergleichbare internationale Ausstrahlung wie US-Soaps wie Dallas oder die Kultserie Friends oder Sex and the City, und trotz der zunehmenden Präsenz indischer Filme außerhalb Indiens lag ihr Anteil an der weltweiten Filmindustrie, die 2004 auf 200 Milliarden Dollar geschätzt wurde, immer noch bei weniger als 0,2 Prozent“ (Thussu 2007, 25). Bei den Veränderungen in der globalen Filmindustrie spielen chinesische Filme eine immer wichtigere Rolle, und zwar nicht wegen der zunehmenden transnationalen Finanzkraft chinesischer Unternehmen, sondern wegen des schrumpfenden globalen Kinomarktes angesichts der COVID-19-Pandemie. Die China Film Group Corporation ist ein staatliches Unternehmen. Die anderen in den vorangegangenen Tabellen aufgeführten chinesischen Me‐ dienunternehmen, die am Filmvertrieb beteiligt sind, wie CMC Pictures (China Media Capital), Universe Films Distribution, Wanda Pictures (Wanda Media), Huaxia, Emperor Motion Pictures, Beijing Enlight Pictures, Huayi Brothers und Bona Film Group Entertainment, sind private, profitorientierte Unternehmen. Daher ändert eine relative Verlagerung der Filmverkäufe von den USA nach China nichts an der Tatsache, dass die kapitalistische Kultur die globale Kulturindustrie dominiert. Dies ist es, was Schiller (1991) als transnationale Unternehmensherrschaft bezeichnet, bei der das transnationale Kapital die Medien und die Kultur durch die Logik der Kapi‐ talakkumulation kontrolliert. Oliver Boyd-Barrett argumentiert in diesem Zusammenhang: „Das eigentliche Phänomen des Medien-Imperialismus hingegen ist nie verschwunden und hat nicht an Bedeutung verloren. Ich werde vorschlagen, dass dieser Forschungsbereich dauerhaft ist, sich weiterentwickelt hat und nie relevanter war als im aktuellen, sogenannten digitalen Zeitalter“ (Boyd-Barrett 2015, 8). 8.5 China, globaler Kapitalismus und Kulturimperialismus China und der Westen Yuezhi Zhao (2011) argumentiert, dass China nicht einfach nur gegen den westlichen Kulturimperialismus gerichtet ist, sondern eine komplexe Beziehung zum Westen hat: Es ist weder völlig anders als der westliche Kapitalismus, noch hat es genau dasselbe System wie der Westen. Die „Herausforderung China[s]“ besteht darin, dass China „ein armes Land ist, 8.5 China, globaler Kapitalismus und Kulturimperialismus 331 <?page no="332"?> dem es gelungen ist, in der globalen kapitalistischen Ordnung aufzusteigen, während es gleichzeitig die Ungleichheiten zwischen den Klassen im eige‐ nen Land dramatisch vergrößert hat, und eine Nation mit erschütternden ethnischen, geschlechtsspezifischen, städtisch-ländlichen und regionalen Unterschieden ist“ (Zhao 2011, 563). Zhao argumentiert für eine transnationale politische Ökonomie der Kommunikation in China. Seit dem Beginn der Reformperiode im Jahr 1978 (Deng Xiaoping) hat China die IKT, die Kommerzialisierung der Medien und den Aufstieg einer chinesischen Form des Neoliberalismus vorangetrieben, die Kommerzialisierung mit staatlicher Kontrolle verbindet und westliches Marketing und Öffentlichkeitsarbeit einbezieht. Gleichzeitig gibt es ein politisches und ideologisches Erbe von Mao und dem Sozialismus, das nicht vollständig verschwunden ist und das die chinesische Identität sowie eine kulturelle Form des Nationalismus prägt. Die chinesischen Medien feiern die neue urbane Mittelschicht. Die chinesische „Soft-Power“-Strategie (Strategie der „sanften Macht“) besteht darin, dass das Land „vielfältige Anstrengungen unternommen hat, um China im Ausland durch seine Medien und Kultureinrichtungen zu präsentieren“ (Zhao 2011, 574). Dazu gehören beispielsweise CCTV International (jetzt CGTN), China Radio International, China Daily, Global Times, der Export chinesischer Filme und die Konfuzius-Institute. - Die Initiative für eine Neue Seidenstraße China hat neue Banken gegründet, die im Rahmen der Initiative für eine Neue Seidenstraße (Belt and Road Initiative, BRI) Kredite an andere Länder vergeben. Dabei handelt es sich um ein groß angelegtes chinesisches Projekt zum Bau und zur Vernetzung von Infrastrukturen in anderen Ländern, darunter Flughäfen, Brücken, Dämme, Häfen, Kraftwerke, Eisenbahnen, Wolkenkratzer, Telekommunikationskabel und -netze sowie Tunnel. China stellt Finanzkapital zur Verfügung und unterstützt chinesische Unternehmen, die wissenschaftliche und technologische Innovationen her‐ vorbringen, sowie Investitionen im Ausland und Kredite an andere Länder im Rahmen der Initiative für eine Neue Seidenstraße. Diese Initiative ist ein groß angelegtes chinesisches Investitionsprojekt, das Kapital aus China in andere Länder exportiert, wo es für Investitionen in den Aufbau von Infrastrukturen verwendet wird. 332 8 Die Politische Ökonomie Globaler Medien <?page no="333"?> Die chinesische Bauindustrie war durch die Überakkumulation von Ka‐ pital bedroht. Das Land verfügt über große Mengen an Anlagekapital wie Stahl, Zement und Kohle, das es im Inland nicht nutzen konnte. China hat versucht, die drohende Krise seines Kapitals räumlich zu lösen, indem es Kapital über die Initiative für eine Neue Seidenstraße exportiert hat. „In China gab es, kurz gesagt, ein vorhersehbares Problem der Überinvestition in Gebäude und Produktionsanlagen” (Harvey 2016, 13). In Anlehnung an David Harvey argumentiert Mehdi P. Amineh (2023, 17), dass die Initiative für eine Neue Seidestraße „als Rahmen für Chinas kapitalistische Expansion als spezifische räumliche und geografische Strategien zur Lösung der Über‐ akkumulation und des begrenzten Raums der Akkumulation auf nationaler Ebene verstanden werden kann“. Afrika ist ein Schlüsselstandort für den Export und die Transnationalisierung des chinesischen Kapitals im Rahmen der Initiative für eine Neue Seidenstraße. Die politisch-ökonomischen Aktivitäten Chinas sind gekennzeichnet durch staatliches Monopolkapital, die Förderung des Finanzkapitals, den Kapitalexport, die Transnationalisierung des chinesischen Kapitals und die Schaffung von Infrastrukturen, die bei Konflikten um territoriale Kontrolle eingesetzt werden können. Die grundlegende Ideologie, die Organisationen wie dem Internationalen Währungsfonds (IWF), der Weltbank und der Welthandelsorganisation (WTO) sowie der internationalen Entwicklungsstrategie Chinas zugrunde liegt, besagt, dass Freihandel, Kapitalinvestitionen, die Förderung des ka‐ pitalistischen Unternehmertums und die Vergabe von Krediten an arme Länder und Privatunternehmen in diesen Ländern der beste Weg sind, die Entwicklung der armen Länder voranzutreiben. Die Kritik an dieser Strategie lautet, dass sie eine kapitalistische Entwicklung fördert, die die Polarisierung zwischen Arm und Reich sowie zwischen Kapital und Arbeit vorantreibt, die finanzielle Abhängigkeit der armen Länder von den Indus‐ trieländern schafft und Schuldenfallen, denen diese armen Länder nicht entkommen können, so dass sie das Eigentum an wichtigen Infrastruktu‐ ren und Teilen des öffentlichen Sektors an ausländische Investoren und Banken abtreten müssen. Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass ausländische Kapitalinvestitionen und Kredite die Abhängigkeit der Unternehmen und Infrastrukturen in den armen Ländern von westlichen Standards, Software, Hardware und Technologien bewirken, was bedeutet, dass ständig Zahlun‐ gen für solche Ressourcen geleistet werden müssen, was einen Werttransfer von den armen Ländern zu den reichen Ländern bedeutet. Es wird auch 8.5 China, globaler Kapitalismus und Kulturimperialismus 333 <?page no="334"?> kritisiert, dass ausländische Kapitalinvestitionen Gewinne für Unternehmen in reichen Ländern schaffen, indem sie die Arbeitskräfte in armen Ländern ausbeuten. In Bezug auf Freihandelsabkommen und den internationalen Handel zwischen armen und reichen Ländern wird kritisiert, dass die armen Länder ein niedrigeres Produktivitätsniveau haben, was es ihnen erschwert, auf dem Weltmarkt zu konkurrieren, was dazu führt, dass sie ihre Waren auf der Grundlage der von den Unternehmen in den reichen Ländern festgesetzten Preise und Produktivitätsniveaus billig verkaufen müssen. Dies führt zu niedrigen Löhnen und hoher Ausbeutung der Arbeiterschaft in den armen Ländern. Jahr China USA IWF IBRD IDA 2020 171 34 225 204 177 2015 104 52 110 153 131 2010 40 32 150 123 119 2005 8 33 70 95 121 2000 6 46 79 105 87 1995 3 74 58 100 72 1990 3 99 31 84 45 1985 2 106 35 43 24 1980 3 44 11 19 12 1975 1,5 26 4 8 5 1970 0,4 13 0,7 4 2 Tabelle 8.16: Entwicklung der Auslandsverschuldung von Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen gegenüber China, den USA, der Internationalen Entwicklungsorga‐ nisation (IDA) der Weltbank, der Internationalen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (IBRD) der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds (IWF), in Milliarden US$, Datenquelle: World Bank Data, World Bank International Debt Statistics, abgerufen am 19. August 2022) Tabelle 8.16 zeigt Chinas Aufstieg als internationaler Gläubiger der ärmeren Länder. Von 2000 bis 2020 stieg der Gesamtbetrag, den ärmere Länder (Länder mit mittlerem und niedrigem Einkommen) China schulden, um den 334 8 Die Politische Ökonomie Globaler Medien <?page no="335"?> Faktor 28,5. Während die USA als Land die Schulden, die ärmere Länder bei ihnen haben, verringert haben, ist China bei den Ländern mit mittlerem und niedrigem Einkommen heute das größte Gläubigerland der Welt. Die Schul‐ den, die es hat, sind vergleichbar mit denen des IWF, der Internationalen Entwicklungsorganisation der Weltbank oder der Internationalen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung der Weltbank. - Gesamt Unterneh‐ men Regierun‐ gen Andere Gesamt 27.832 23.374 2.400 2.058 Großbritan‐ nien 3.405 3.383 22 0 Cayman Is‐ lands 2.660 2.660 0 0 USA 2.445 2.442 3 0 Niederlande 2.274 2.273 1 0 Frankreich 1.420 1.408 11 1 Deutschland 1.349 1.250 99 0 Irland 1.061 1.042 18 1 Kanada 1.058 894 164 0 Luxemburg 1.025 1.021 3 1 China (ein‐ schließlich Hongkong und Macau) 650 602 48 0 Spanien 590 581 8 1 Japan 544 537 7 0 Tabelle 8.17: Internationale Schuldverschreibungen im Jahr 2021, in Milliarden US$, Da‐ tenquelle: Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) Statistics, https: / / stats.bis.or g/ , abgerufen am 19. August 2021 Im Jahr 2020 schuldeten die ärmeren Länder (Länder mit mittlerem und niedrigem Einkommen) 4,4 Prozent ihrer Gesamtschulden der Weltbank, 8.5 China, globaler Kapitalismus und Kulturimperialismus 335 <?page no="336"?> 2,6 Prozent dem IWF, 2,0 Prozent China und 0,4 Prozent den USA. Im Jahr 1985 schuldeten sie 14 Prozent ihrer Gesamtschulden, die damals viel kleiner waren, den USA und 0,3 Prozent China. Im Jahr 2020 kontrollierten die Anleihegläubiger 27,8 Prozent der Auslandsschulden der ärmeren Länder, nämlich 2,4 Billionen US-Dollar. Anleihegläubiger waren schon immer wichtige Gläubiger. Im Jahr 2000 kontrollierten sie 19 Prozent der Auslands‐ verschuldung der ärmeren Länder (Quelle für alle Daten in diesem Absatz: World Bank Data, International Debt Statistics). Bei den Anleihegläubigern handelt es sich um private finanzielle und nichtfinanzielle Unternehmen und Regierungen. Für internationale Schuldtitel, die in Form von Anleihen (Bonds) ausgegeben werden, liegen Statistiken vor (siehe Tabelle 8.17). Im Jahr 2021 gab es 2,7 Billionen US$ in internationalen Schuldver‐ schreibungen. 84,0 Prozent davon wurden von privaten Unternehmen, vor allem Banken, und 8,7 Prozent von Regierungen kontrolliert. Britische Unternehmen waren die weltweit größten Inhaber von internationalen Schuldverschreibungen. China war weltweit der zehntgrößte Standort für internationale Schuldtitel und besaß einen größeren Wert an internationalen Schuldverschreibungen als Spanien und Japan. Die Daten zeigen, dass chinesische Unternehmen und die chinesische Regierung zu den weltweit größten Gläubigern von Nationalstaaten gehören. China bildet zusammen mit westlichen Unternehmen, westlichen Regierungen und internationalen Institutionen wie der Weltbank und dem IWF, in denen es eine wichtige Rolle spielt, das System des Finanzimperialismus, das die armen Länder weiter verschuldet. Während die Auslandsverschuldung der Länder mit mittlerem und niedrigem Einkommen 1995 einen Höchststand von 36,1 Prozent ihres gemeinsamen BIP erreichte, sank dieser Wert auf 16,7 Prozent im Jahr 2010, stieg aber bis 2020 wieder auf 29,1 Prozent an. Die internationale Schuldenwirtschaft hat Unternehmen und Regierungen einiger weniger Länder bereichert und zur weiteren Verarmung der ärmeren Länder bei‐ getragen. China spielt im Finanzkapitalismus keine dominante, aber eine wichtige Rolle. Es hat seine Rolle und Bedeutung im globalen Kapitalismus kontinuierlich ausgebaut und ist zu einer wichtigen Macht geworden. Der Saldo zwischen Krediten und Schulden eines Landes wird als Aus‐ landsvermögensstatus (International Investment Position, IIP) bezeichnet. Im Jahr 2022 hatte China (einschließlich Hongkong), gefolgt von Japan und Deutschland, den weltweit größten IIP-Überschuss, während die USA, gefolgt vom Vereinigten Königreich, Spanien und Frankreich, das weltweit größte IIP-Defizit aufwiesen (Datenquelle: Balance of Payments and Inter‐ 336 8 Die Politische Ökonomie Globaler Medien <?page no="337"?> national Investment Position Statistics, IMF, https: / / data.imf.org/ , abgerufen am 20. August 2022). Während die USA der größte Schuldner der Welt waren, war China der größte Gläubiger der Welt. Im Jahr 2020 kontrollierte China 33 Prozent der Auslandsschulden An‐ golas, die 125,9 % des Bruttonationaleinkommens des Landes ausmachten. China kontrollierte 55 % der Schulden von Tonga, 52 % der Schulden von Dschibuti, 48 % der Schulden der Republik Kongo, 38 % der Schulden der Malediven, 36 % der Schulden von Vanuatu, 35 % der Schulden von Samoa, 32 % der Schulden der Demokratischen Volksrepublik Laos, 22 % der Schul‐ den von Kambodscha und 20 % der Schulden von Pakistan und Kirgisistan. Die meisten dieser Länder haben sich seit 2015 stärker verschuldet. Im Vergleich von 2015 zu 2020 stieg der Anteil der Auslandsschulden am BIP in Pakistan von 25,8% auf 45,3%, in Angola von 44,7% auf 125,9%, in Dschibuti von 51,1% auf 81,5%, in den Malediven von 26,6% auf 96,9 %, von 42,3 % auf 61,1 % in der Republik Kongo, von 55,7 % auf 70,8 % in Kambodscha, von 84,5 % auf 94,8 % in der Demokratischen Volksrepublik Laos und von 34,5 % auf 46,9 % in Vanuatu (Datenquelle für alle Angaben in diesem Absatz: World Bank Data, International Debt Statistics, https: / / databank.worldbank.org/ s ource/ international-debt-statistics, abgerufen am 20. August 2022). Es gibt eine beträchtliche Anzahl von Ländern, die verschuldet sind und in denen ein erheblicher Anteil der Schulden von China kontrolliert wird. - Die Digitale Seidenstraße Die Digitale Seidenstraße ist die digitale Dimension des globalen Kapitalis‐ mus mit chinesischen Merkmalen, die Schaffung und Globalisierung digita‐ ler Technologien und Kommunikationsnetze, die von Chinas autoritärem Staat kontrolliert werden. Die private chinesische Hengton-Gruppe ist der Hauptinvestor für den Bau des PEACE Cable (Pakistan & East Africa Connecting Europe Cable), eines 15.000 Kilometer langen Systems von 200G-Glasfaserkabeln unter Wasser, das Asien, Afrika und Europa miteinander verbinden soll, indem es China, die Malediven, die Seychellen, Kenia, Südafrika, Somalia, Dschibuti, Pakistan, Ägypten, Zypern, Malta und Frankreich miteinander verbindet (siehe http: / / www.peacecable.net/ #about). Auch Huawei ist ein wichtiger Investor. Es ist eines der wichtigsten Projekte der so genannten Digitalen Seidenstraße, der digitalen Dimension der Initiative für eine Neue Seiden‐ straße. Es handelt sich um Chinas Version des digitalen Imperialismus. Im 8.5 China, globaler Kapitalismus und Kulturimperialismus 337 <?page no="338"?> Rahmen der Initiative für eine Digitale Seidenstraße hat China nach eigenen Angaben bis 2019 mit sechzehn Ländern Absichtserklärungen für chinesi‐ sche Investitionen unterzeichnet (Huang 2019). Die Digitale Seidenstraße verspricht den Aufbau einer schnellen Telefon- und Internetkommunikati‐ onsinfrastruktur in armen Ländern. Die chinesische Regierung und ihre staatlichen Medien argumentieren, dass die Digitale Seidenstraße „den Entwicklungsländern hilft“, indem sie Investitionen und Arbeitsplätze bringt und sie in die Lage versetzt, „sich das digitale Zeitalter zu eigen zu machen. […] Infrastrukturprojekte haben dem Kontinent geholfen, das digitale Zeitalter besser zu nutzen, und das kleine Land Dschibuti, das nun über sieben Unterwasserkabel mit dem Rest der Welt verbunden ist, ist ein gutes Beispiel dafür. […] China hat bisher über 30 grenzüberschreitende Landkommunikationskabel und mehr als ein Dutzend internationale Unterseekabel mit beteiligten Volkswirtschaften gebaut“ (Ren 2019). Die DSR ist ein Beispiel dafür, wie chinesische Digitalkonzerne ver‐ suchen, durch Kapitalexport Gewinne zu erzielen, die eine Abhängigkeit der Telefon- und Internetkommunikation in anderen Ländern vom chinesischen Digitalkapital schaffen können. - Colin Sparks: China und der Imperialismus Colin Sparks (2020) argumentiert, dass Chinas Kapitalexport (der in Pro‐ jekte wie die Neue Seidenstraße [Belt and Road Initiative] fließt), seine Integration von staatlicher Kontrolle und Großkapital, seine dominante Rolle im BRICS-Verbund (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) und seine militärische Expansion Beweise dafür seien, dass „China sich zu einer imperialistischen Macht entwickelt“ (278) und ein „aufstrebender Kulturim‐ perialist“ (275) sei. Er stellt Chinas internationale Medien und kulturelle Aktivitäten, die oft als „Soft Power“ („sanfte Macht“) bezeichnet werden, in den Kontext dieser imperialistischen Macht, was für Sparks bedeutet, dass China auch eine kulturimperialistische Macht ist. Graham Murdock (2020, 301) argumentiert, dass Chinas digitale Seidenstraßen-Initiative als Teil der Neuen Seidenstraße (Belt and Road Initiative) ein Ausdruck seines „vernetzten Imperialismus“ sei. In China gibt es eine große Zahl von Wanderarbeiter: innen, die ein neues städtisches Proletariat bilden und billige Arbeitskräfte für den Export von Konsumgütern und Unterhaltungselektronik in den Westen sind. Infolge‐ dessen sind soziale Kämpfe der chinesischen Arbeiter: innen entstanden. Sie 338 8 Die Politische Ökonomie Globaler Medien <?page no="339"?> nutzen für ihre Kämpfe Blogs, Weibo, Online-Videos, soziale Netzwerke usw. Jack Qiu (2009) spricht daher vom Entstehen einer Netzwerkgesellschaft der Arbeiterklasse. China hat „die größte ausgebeutete Arbeiterklasse des globalen Informationszeitalters“ (Qiu 2009, x). Chinese Arbeiter: innen nut‐ zen das Internet zur Erstellung von arbeitergenerierten Inhalten, die auch in gesellschaftlichen Kämpfen eingesetzt werden (Qiu 2016, Kapitel 5). - After Mobile Phones, What? Als Dallas Smythe in den frühen 1970er Jahren in seinem Artikel „After bicycles, what? “ (Smythe 1994, 230-244) über Kommunikation in China schrieb, dachte er darüber nach, wie das Rundfunksystem demokratisch organisiert werden könnte. Er sprach von einem „Zwei-Wege-System, in dem jeder Empfänger die Möglichkeit hätte, entweder eine Sprach- oder eine Bild- und Tonantwort zu geben. […] ein Zwei-Wege-Fernsehsystem wäre wie ein elektronisches Tatzupao-System“ (Smythe 1994, 231-232). Diese Überlegungen weisen Parallelen zu den Ideen von Hans Magnus En‐ zensbergers (1970) Konzept der emanzipatorischen Mediennutzung, Walter Benjamins (1934) Idee des Lesers/ Schreibers und Bertolt Brechts (1932/ 2000) Vorstellung eines alternativen Radios in seiner Radiotheorie auf. Yuezhi Zhao (2011) weist auf die Relevanz von Smythes Artikel und seinen Ideen eines alternativen nicht-kapitalistischen Kommunikationssys‐ tems für das heutige China hin. Angesichts einer Welt, die sowohl im Westen als auch in China von der Logik des Kapitalismus beherrscht wird, betont sie, inspiriert von Smythe, wie wichtig es ist, Kommunikations- und Gesellschaftssysteme zu schaffen, die auf einer nicht-kapitalistischen Logik beruhen. Zhao (2007, 92) argumentiert, dass Smythe die Frage „After bicycles, what? “ im „Kontext von Chinas Suche nach einer sozialistischen Alternative zur kapitalistischen Moderne aufgeworfen hat, in der Hoffnung, dass China den kapitalistischen Entwicklungsweg vermeiden würde“. Ob‐ wohl Smythe die politische Situation in China in den 1970er Jahren in einigen Punkten falsch eingeschätzt habe, biete sein Beitrag nach wie vor „einen nützlichen Ausgangspunkt für die Analyse nicht nur des Einsatzes und der Entwicklung der IKT in China während der Reformära, sondern auch des breiten Weges der Entwicklungsstrategie Chinas nach Mao und ihrer Nachhaltigkeit“ (Zhao 2007, 96). Die Frage, die man sich heute im Sinne von Dallas Smythe über chinesische Medien stellen müsste, wäre: After mobile phones, what? (Zhao 2007). Während Smythe auf die Frage 8.5 China, globaler Kapitalismus und Kulturimperialismus 339 <?page no="340"?> „After bicycles, what? “ antwortete, dass China eine Medienstruktur schaffen sollte, die „öffentliche Güter und Dienstleistungen […] gegenüber Gütern und Dienstleistungen für den individuellen, privaten Gebrauch“ (Smythe 1994, 243) bevorzugt, dienen IKT laut Zhao heute nicht nur kapitalistischen Zwecken, sondern sind „ihrer Natur nach“ sozial und erlauben daher „alter‐ native Nutzungen“, einschließlich kollektiver politischer Praktiken (Zhao 2007, 96). Die IKT in China sind antagonistische Technologien. Sie sind sowohl Herrschaftsmittel als auch Protestmittel. 8.6 Schlussfolgerungen In diesem Kapitel wurde gefragt: Wie sieht die politische Ökonomie der globalen Medien aus? Wir können nun die wichtigsten Ergebnisse zusam‐ menfassen: - Erkenntnis 1: Globaler Kapitalismus Seit den 1970er Jahren wurde der Kapitalismus globalisiert, um die Profite zu steigern, indem Arbeit weltweit ausgelagert wird, um Lohnkosten zu sparen, nach billigen Ressourcen gesucht wird, auf internationalen Märkten verkauft wird und Kapital international exportiert wird. Das Ergebnis ist die Zunahme der Zahl und der Macht der transnationalen Konzerne. - Erkenntnis 2: Globale Medien Der Aufstieg der digitalen Technologien ist seit den 1970er Jahren Mittel und Ergebnis der Globalisierung des Kapitalismus. Transnationale Infor‐ mationskonzerne organisieren und dominieren die Medien-, Kultur- und Digitalindustrie und spielen eine wichtige Rolle im globalen Kapitalismus. - Erkenntnis 3: Kultur- und Medien-Imperialismus Die Theorie des Kultur- und Medien-Imperialismus begann als eine Theorie der globalen kulturellen Vorherrschaft der USA, die der Welt den American Way of Life aufzwingt. Angesichts verschiedener Kritikpunkte wurde die Theorie überarbeitet. Herbert Schiller versteht unter Kulturimperialismus 340 8 Die Politische Ökonomie Globaler Medien <?page no="341"?> die globale Verbreitung der kapitalistischen Logik und der Warenkultur durch transnationale Konzerne. Der Medien- und Kultur-Imperialismus sollte nicht nur als Ausbreitung des Kapitalismus auf der Ebene der Medien und der kulturellen Inhalte verstanden werden. Vielmehr hat der globale Kapitalismus eine Dimension der Medien und der Kultur. Medien, Kultur und digitale Technologien spie‐ len eine Rolle bei der Reorganisation und Globalisierung des Kapitalismus. Die politische Ökonomie des globalen Kapitalismus verbindet den globalen Kapitalexport, die Dominanz des Finanzkapitals, das Monopolkapital und die Kapitalkonzentration, die globalen geografischen Ungleichheiten und die globale Schichtung sowie die politisch-ökonomischen Konflikte um den Einfluss in der Welt, die auch Kriege einschließen. - Erkenntnis 4: China und der globale Kapitalismus Seit den 1980er Jahren spielt China eine wichtige Rolle bei der Einfuhr von Kapital, der Ausfuhr von Kapital und der Ausfuhr von Rohstoffen. Es ist zu einem wichtigen Akteur in der Weltwirtschaft geworden. Es ist zu einer globalen Macht geworden, die mit den USA um die globale Vorherrschaft konkurriert. Sowohl die USA als auch China setzen Medien, Kultur und digitale Technologien als Mittel des Imperialismus ein. China ist eine Netzwerkgesellschaft der Arbeiterklasse mit der größten Arbeiterklasse der Welt, die hochgradig ausgebeutet wird und neue Technologien in ihren sozialen Kämpfen einsetzt. Literatur Amineh, Mehdi P. 2023. China’s Capitalist Industrial Development and the Emer‐ gence of the Belt and Road Initiative. In The China-Led Belt and Road Initiative and its Reflections, hrsg. von Mehdi Parvizi Amineh, 11-35. Abingdon: Routledge. Barber, Benjamin. 2003. Jihad vs. McWorld. London: Corgi Books. Bauman, Zygmunt. 1998. Globalization. The Human Consequences. Cambridge: Polity. Beck, Klaus. 2018. Das Mediensystem Deutschlands. Strukturen, Märkte, Regulierung. Wiesbaden: Springer VS. Zweite Auflage. Beck, Ulrich. 2007. Weltrisikogesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Beck, Ulrich. 1999. World Risk Society. Cambridge: Polity Press. Literatur, empfohlene Lektüre und Übungen 341 <?page no="342"?> Benjamin, Walter. 1934. Der Autor als Produzent. In Gesammelte Schriften. Zweiter Band. Zweiter Teil, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, 683-701. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Boyd-Barrett, Oliver. 2015. Media Imperialism. London: SAGE. Brecht, Bertolt. 1932. 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After Mobile Phones, What? Re-embedding the Social in China’s “Digital Revolution”? International Journal of Communication 1: 92-120. Empfohlene Lektüre und Übungen - Lektüre Die folgenden Texte werden als Begleitlektüre zu diesem Kapitel empfohlen: David Harvey. 2006. Spaces of Global Capitalism. London: Verso: Kapitel 2: Notes Towards a Theory of Uneven Geographical Development. David Harvey. 2000. Contemporary Globalization. In Spaces of Hope, 53-72. Berkeley, CA: University of California Press. Christian Fuchs. 2020. Kommunikation und Kapitalismus. Eine Kritische Theorie. München: UVK Verlag: Kapitel 11: Globale Kommunikation und Imperialismus. S.-341-383. Vincent Mosco. 2009. The Political Economy of Communication. London: SAGE. Zweite Auflage: Kapitel 8: Spatialization: Space, Time, and Communication. Yuezhi Zhao. 2011. The Challenge of China. Contribution to a Transcultural Political Economy of Communication in the Twenty-First Century. In The Handbook of the Political Economy of Communications, hrsg. von Janet Wasko, Graham Murdock & Helena Sousa, 558-582. Chicester: Wiley-Blackwell. 344 8 Die Politische Ökonomie Globaler Medien <?page no="345"?> Aufgabe Merke Frage Literatur Wissen Zusatz Link / www Checkliste Ziele ICON SET 5 Aufgabe Merke Frage Literatur Wissen Zusatz Link / www Checkliste Ziele ICON SET 5 ÜBUNG 8.2: GLOBALE MEDIENKONZERNE Diskutieren Sie: Welche globalen/ transnationalen Medienunternehmen kennen Sie? Wie machen diese transnationalen Medienunternehmen Geld/ Ge‐ winn? Wie viel Profit machen sie? Welche Kritik an diesen Unternehmen haben Sie schon gehört? Su‐ chen Sie nach Nachrichtenartikeln, die sich mit solchen Kritikpunkten befassen, und stellen Sie Ihre Ergebnisse vor. ÜBUNG 8.3: DIE STEUERFREIE TOUR Sehen Sie sich den folgenden Dokumentarfilm über die Steuervermei‐ dung transnationaler Konzerne an: Marije Meerman, dir. 2013. The Tax Free Tour. Vrijzinnig Protestantse Radio Omroep (VPRO). Information: https: / / www.imdb.com/ title/ tt41 62994/ https: / / www.youtube.com/ watch? v=d4o13isDdf Y Diskutieren Sie: Wie funktioniert die Steuervermeidung von Unternehmen? Welche Auswirkungen hat die Steuervermeidung von Unternehmen auf die Gesellschaft? Sind Ihnen weitere Beispiele für Fehlverhalten und Verbrechen von Unternehmen bekannt? Welche? Was könnte getan werden, um solche negativen Auswirkungen glo‐ baler Konzerne zu vermeiden? Diskutieren Sie die folgende Aussage: „Die Vorstellung, dass die Steuerpolitik reformiert werden kann, ist unrealistisch. Unternehmen können einfach in ein Land mit einer günstigeren Politik umziehen“. Informieren Sie sich über Versuche, globales Kapital besser zu besteu‐ ern (wie z. B. die Vereinbarung der G7, einen globalen Mindestkör‐ perschaftssteuersatz von 15 Prozent einzuführen, siehe https: / / en.wik ipedia.org/ wiki/ Global_minimum_corporate_tax_rate als Ausgangs‐ punkt). Wie beurteilen Sie solche Versuche? Sind sie ausreichend oder nicht? Warum bzw. warum nicht? Literatur, empfohlene Lektüre und Übungen 345 <?page no="346"?> Aufgabe Merke Frage Literatur Wissen Zusatz Link / www Checkliste Ziele ICON SET 5 ÜBUNG 8.4: DIE PROFITRATE GLOBALER KONZERNE Die Profitrate misst die Profite der Unternehmen im Vergleich zu ihren Investitionskosten in Arbeitskraft und Ressourcen. Sie kann auf folgende Weise berechnet werden: P R = p c + v PR… Profitrate, p … jährlicher Profit, c … jährliche Investitionen in Ressourcen/ Produktionsmittel (konstantes Kapital), v … Investitionen in die Arbeitskraft (variables Kapital) Transnationale Unternehmen legen jährlich einen Finanzbericht vor. Alle an den US-Börsen notierten Unternehmen müssen ein jährliches SEC-Filing 10-K-Formular veröffentlichen, einen Finanzbericht, der häufig auf der Website des Unternehmens unter der Rubrik „Investor Relations“ sowie unter https: / / www.sec.gov/ edgar/ searchedgar/ comp anysearch.html. In den jährlichen Finanzberichten der Unternehmen werden die Jah‐ resgewinne (Reingewinn, net income) und die Einnahmen/ Umsätze angegeben, was die Berechnung der Gewinnrate auf folgende Weise ermöglicht: Profitrate (in %) = Profit / Investitionskosten = Net Income / (Reve‐ nues---Net Income): 100 Werfen wir einen Blick auf die Daten für Google/ Alphabet aus dem SEC Filing 10-K Bericht: Berechnen wir die Gewinnrate von Google für 2020: PR (2020) = 40.269 / (182.527---40.269) = 28,3% Wir können auch die Gewinnrate von Google für die anderen Jahre berechnen: Wählen Sie ein transnationales Medien-/ Kultur-/ Digitalunternehmen aus, das über einen jährlichen Finanzbericht verfügt, der es Ihnen ermöglicht, Daten über Einnahmen und Profite der letzten zehn bis zwanzig Jahre zu erhalten. Suchen Sie die relevanten Daten heraus. Berechnen Sie die Profitrate für die jeweiligen Jahre. Visualisieren Sie die Entwicklung der Profitrate des Unternehmens, indem Sie ein Liniendiagramm in einer Tabellenkalkulationsanwen‐ dung erstellen. 346 8 Die Politische Ökonomie Globaler Medien <?page no="347"?> Aufgabe Merke Frage Literatur Wissen Zusatz Link / www Checkliste Ziele ICON SET 5 9 Medienarbeit: Die Politische Ökonomie der Kulturellen Arbeit und der Arbeit in der Medienindustrie Was Sie in diesem Kapitel lernen werden: Sie werden lernen, was Arbeit ist und wie Sie Arbeitsbedingungen analysieren können. Sie werden lernen, wie man kulturelle Arbeit theoretisieren und ana‐ lysieren kann. Sie werden etwas über die Arbeitsbedingungen in der Kultur-, Medien- und Digitalbranche und über Kulturgenossenschaften als alternative Organisationsform erfahren. Sie werden über die Veränderungen der Arbeit im Kontext von CO‐ VID-19 lesen. 9.1 Einleitung Die Arbeit ist ein wesentliches Merkmal der Gesellschaft. In der modernen Gesellschaft hat die Lohnarbeit eine wichtige Rolle gespielt. Da in vielen Gesellschaften die Bedeutung der Kultur- und Digitalindustrie zugenommen hat, sind Kulturarbeit und Medienarbeit wichtig geworden. Die meisten Studierenden der Medien- und Kommunikationswissenschaft streben eine Tätigkeit im kulturellen und digitalen Sektor an. Daher ist es sinnvoll, dass sie sich ein kritisches Verständnis davon aneignen, was es heißt, ein: e Kultur- oder Digitalarbeiter: in zu sein. Dieses Kapitel bietet eine Einführung in die Analyse der Kultur- und Medienarbeit. Dieses Kapitel stellt die Frage: Wie sieht die politische Ökonomie der kulturellen Arbeit aus? Abschnitt 9.2 befasst sich mit der Frage, wie kul‐ turelle Arbeit definiert werden kann. Abschnitt 9.3 befasst sich mit der Frage, wie kulturelle Arbeit zu definieren ist. In Abschnitt 9.4 werden Erkenntnisse über die Arbeit in der Kulturindustrie vorgestellt. In Abschnitt 9.5 diskutieren wir Veränderungen der Arbeit in der COVID-19 Krise. Einige Schlussfolgerungen werden in Abschnitt 9.6 gezogen. <?page no="348"?> 9.2 Was ist Arbeit? Um kulturelle Arbeit definieren zu können, müssen wir sowohl Kultur als auch Arbeit verstehen. Was ist Kultur? Kultur ist eine der komplexesten theoretischen Kategorien. „Culture is one of the two or three most complicated words in the English language“ (Williams 1983, 87). Das Wort „Kultur“ stammt vom lateinischen Wort ‚colere‘ ab, das be‐ wohnen, kultivieren, schützen, verehren bedeutet. Es gibt drei moderne Bedeutungen des Begriffs „Kultur“: (i) the „general process of intellectual, spiritual and aesthetic development, from C18”; (ii) „a particular way of life, whether of a people, a period, a group, or humanity in general”; (iii) „the works and practices of intellectual and especially artistic activity. This seems often now the most widespread use: culture is music, literature, painting and sculpture, theatre and film” (Williams 1983, 90). Die Punkte (i) und (iii) sind eng miteinander verbunden. Raymond Wil‐ liams (1981, 13) definiert Kultur als „the signifying system through which necessarily (though among other means) a social order is communicated, reproduced, experienced and explored“. Die Bedeutungen nehmen soziale Formen an wie „language, […] as a system of thought or of consciousness, or, to use that difficult alternative term, an ideology; and again as a body of specifically signifying works of art and thought” (Williams 1981, 208). Zur Kultur gehören bedeutungsproduzierende Institutionen, Praktiken und Arbeiten („signifying institutions, practices and works”, Williams 1981, 208). „[C]ulture is also a pool of diverse resources, in which traffic passes between the literate and the oral, the superordinate and the subordinate, the village and the metropolis; it is an arena of conflictual elements” (Thompson 1991, 6). „[I]nformation processes […] have become a qualitative part of economic organization” (Williams 1981, 231). „Thus a major part of the whole modern labour process must be defined in terms which are not easily theoretically separable from the traditional ‘cultural’ activities. […] so many more workers are involved in the direct operations and activations of 348 9 9 Medienarbeit: Kulturelle Arbeit und Arbeit in der Medienindustrie <?page no="349"?> these systems that there are quite new social and social-class complexities” (Williams 1981, 232). Kultur hat mit den Prozessen zu tun, in denen Menschen im Rahmen ihres Alltagslebens und ihrer Lebensweise Bedeutungen produzieren. Dieses Verständnis liegt auch der Definition von Kultur zugrunde, die die Kultur‐ wissenschaftler John Clarke, Stuart Hall, Tony Jefferson und Brian Roberts geben: „The ‘culture’ of a group or class is the peculiar and distinctive ‘way of life’ of the group or class, the meanings, values and ideas embodied in institutions, in social relations, in systems of beliefs, in mores and customs, in the uses of objects and material life” (Clarke, Hall, Jefferson & Roberts 1975/ 2006, 4). Information ist ein zentraler Aspekt der wirtschaftlichen Produktion in Informationsgesellschaften. Der Kulturbegriff kann sich daher nicht auf Populärkultur, Unterhaltung, Kunstwerke und die Sinnstiftung beim Konsum von Gütern beschränken, sondern muss in Form des Konzepts der kulturellen Arbeit auf den Bereich der wirtschaftlichen Produktion und Wertschöpfung ausgedehnt werden. Williams bezeichnet seinen Ansatz als Kulturellen Materialismus. Er ar‐ gumentiert, dass Ideen nicht immateriell und individuell, sondern materiell, gesellschaftlich und sozial sind. „[There is] a real danger of separating hu‐ man thought, imagination and concepts from ‘men’s material life-process’” (Williams 1989, 203). Marx betonte die Bedeutung der Analyse der „Totalität menschlicher Aktivitäten“ („totality of human activity”, Williams 1989, 203). „[We] have to emphasise cultural practice as from the beginning social and material” (Williams 1989, 206). „[The] productive forces of ‘mental labour’ have, in themselves, an inescapable material and thus social history” (Williams 1989, 211). Was ist Werktätigkeit? Adam Smith (1776/ 2001, 3) beginnt sein Buch The Wealth of Nations (Der Wohlstand der Nationen) mit folgendem Satz: „Die jährliche Arbeit eines Volkes ist die Quelle, aus der es ursprünglich mit allen notwenigen und angenehmen Dingen des Lebens versorgt wird, die es im Jahr über verbraucht. Sie bestehen stets entweder aus dem Ertrag dieser Arbeit oder aus dem, was damit von anderen Ländern gekauft wird“. 9.2 Was ist Arbeit? 349 <?page no="350"?> Smith spricht vom Wert als der „Nützlichkeit einer Sache“ (Smith 1776/ 2001, 27) und argumentiert, dass der Wert eines produzierten Gutes durch die Arbeitszeit bestimmt wird: „Der wirkliche oder reale Preis aller Dinge, also das, was sie einem Menschen, der sie haben möchte, in Wahrheit kosten, sind die Anstrengung und Mühe, die er zu ihrem Erwerb aufwenden muss“ (Smith 1776/ 2001, 28). David Ricardo schreibt, dass produzierte Dinge nützlich sind, weil sie „zu unserem Wohlbefinden“ beitragen (Ricardo 1824/ 2006, 5). „Der weitaus größte Teil der Gegenstände, für die ein Bedürfnis besteht, wird durch Arbeit gewonnen“ (Ricardo 1824/ 2006, 6). Smith und Ricardo haben keine Defini‐ tionen der Arbeit und der Werktätigkeit geliefert. Für solche Definitionen müssen wir auf die Werke von Karl Marx zurückgreifen. Marx schreibt: „Der Rock ist ein Gebrauchswert, der ein besonderes Bedürfnis befriedigt. Um ihn hervorzubringen, bedarf es einer bestimmten Art produktiver Tätigkeit. Sie ist bestimmt durch ihren Zweck, Operationsweise, Gegenstand, Mittel und Resultat. Die Arbeit, deren Nützlichkeit sich so im Gebrauchswert ihres Produkts oder darin darstellt, daß ihr Produkt ein Gebrauchswert ist, nennen wir kurzweg nützliche Arbeit. Unter diesem Gesichtspunkt wird sie stets betrachtet mit Bezug auf ihren Nutzeffekt“ (Marx 1867, 56). Für Marx ist Arbeit die Produktionstätigkeit, die Güter und Dienstleistungen zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse schafft. Er betrachtet Arbeit als einen Aspekt aller Gesellschaften: „Als Bildnerin von Gebrauchswerten, als nützliche Arbeit, ist die Arbeit daher eine von allen Gesellschaftsformen unabhängige Existenzbedingung des Menschen, ewige Naturnotwendigkeit, um den Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur, also das menschliche Leben zu vermitteln“ (Marx 1867, 157). „Der Arbeitsprozeß, wie wir ihn in seinen einfachen und abstrakten Momenten dargestellt haben, ist zweck‐ mäßige Tätigkeit zur Herstellung von Gebrauchswerten, Aneignung des Natürlichen für menschliche Bedürfnisse, allgemeine Bedingung des Stoff‐ wechsels zwischen Mensch und Natur, ewige Naturbedingung des mensch‐ lichen Lebens und daher unabhängig von jeder Form dieses Lebens, vielmehr allen seinen Gesellschaftsformen gleich gemeinsam“-(Marx 1867, 290). In seinem Essay The Meanings of Work definiert Raymond Williams (2022, 76) Arbeit im Allgemeinen als „den Prozess, menschliche Energie für einen gewünschten Zweck einzusetzen“. Bei der Arbeit setzen wir unsere Hände und unseren Verstand ein, um etwas zu produzieren, das uns hilft, bestimmte Ziele zu erreichen. Williams weist darauf hin, dass es in der heutigen 350 9 9 Medienarbeit: Kulturelle Arbeit und Arbeit in der Medienindustrie <?page no="351"?> Gesellschaft viele Formen von Arbeit gibt, wie z. B. Hausarbeit, die oft nicht als Arbeit anerkannt werden, weil sie unbezahlt sind. Der Grund dafür ist, dass diese Personen „zwar arbeiten, aber keine Lohnarbeit für andere verrichten” (85). Williams argumentiert, dass die heutige Gesellschaft Arbeit als Lohnarbeit definiert, um den Unterschied zwischen Kapital und Arbeit zu legitimieren und Formen der Arbeit zu privilegieren, bei dem das Kapital die Arbeit anstellt und dadurch Profit erzielt. Alle Arbeiten nutzen und kombinieren die Aktivitäten des Gehirns und des restlichen Körpers: „Schneiderei und Weberei, obgleich qualitativ verschiedne produktive Tätigkeiten, sind beide produktive Verausgabung von menschlichem Hirn, Muskel, Nerv, Hand usw., und in diesem Sinn beide menschliche Arbeit. Es sind nur zwei verschiedne Formen, menschliche Arbeitskraft zu verausgaben“ (Marx 1867, 58-59). Alle Formen der Arbeit sind „Funktionen des menschlichen Organismus, […] jede solche Funktion, welches immer ihr Inhalt und ihre Form, [ist] wesentlich Verausgabung von menschlichem Hirn, Nerv, Muskel, Sinnesorgan usw.“ (Marx 1867, 85). Eine Autorin, die ein Buch schreibt, nutzt ihr Gehirn, um Ideen zu entwickeln, andere Bücher zu lesen usw. Sie benutzt auch ihre Hände, um diese Ideen auf Papier oder in einem digitalen Dokument festzuhalten. Ein Baumeister setzt seine Hände und seinen ganzen Körper ein, um Ziegelsteine zu verlegen. Er muss ständig darüber nachdenken, ob sein Mauerwerk richtig ist, was als Nächstes kommt, usw. Alle Arbeiter: innen setzen ihren Körper und ihr Gehirn ein, d. h. alle Arbeit ist geistig und körperlich. Aber die Produkte, die sie schaffen, sind unterschiedlicher Natur, einige sind eher physisch (ein Haus) und andere eher geistig (ein Buch), was es uns ermöglicht, zwischen physischer Arbeit einerseits und geistiger Arbeit/ Wis‐ sensarbeit/ informationeller Arbeit andererseits zu unterscheiden. Arbeit/ Werktätigkeit ist ein Transformationsprozess, bei dem der Mensch etwas Neues in der Gesellschaft hervorbringt. Bei der Arbeit nimmt der Mensch Materie aus seiner Umwelt, die er so umwandelt, dass etwas Neues entsteht: „Die Arbeit ist zunächst ein Prozess zwischen Mensch und Natur, ein Prozess, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigne Tat vermittelt, regelt und kontrolliert. […] Die seiner Leiblichkeit angehörigen Na‐ turkräfte, Arme und Beine, Kopf und Hand, setzt er in Bewegung, um sich den Naturstoff in einer für sein eignes Leben brauchbaren Form anzueignen. Indem er 9.2 Was ist Arbeit? 351 <?page no="352"?> durch diese Bewegung auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigne Natur“ (Marx 1867, 193). Es klingt so, als ob Marx hier in erster Linie an landwirtschaftliche Arbeit und Industriearbeit denkt. Aber auch die Schaffung von Ideen ist Teil der Natur, denn die Natur ist das größte System, das es auf der Welt gibt. Die Natur umfasst alle Formen der Materie, auch den Menschen und seine Ideen. In der kulturellen Arbeit verändert der Mensch nicht nur die Natur, sondern auch einen bestimmten Teil der Natur und der Gesellschaft, nämlich die Kultur, die Welt der Ideen. Kreatives Denken ist ein wesentlicher Aspekt der menschlichen Existenz und unterscheidet den Menschen vom Tier: „Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Bau‐ meister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, dass er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war. Nicht dass er nur eine Formveränderung des Natürlichen bewirkt; er verwirklicht im Natürlichen zugleich seinen Zweck, den er weiß, der die Art und Weise seines Tuns als Gesetz bestimmt und dem er seinen Willen unterordnen muss“ (Marx 1867, 193). „Yet, it is reasonable to assume that there is something that distinguishes humans from other animals, in addition to the opposable thumb, that is, purposeful work made possible by imagination, creative labour” (McGuigan 2010, 325). Abbildung 9.1 veranschaulicht den Arbeitsprozess auf der Grundlage der Marx‘schen Werke. 352 9 9 Medienarbeit: Kulturelle Arbeit und Arbeit in der Medienindustrie <?page no="353"?> Arbeitsvermögen (menschliches Subjekt) Andere menschliche Subjekte (Wirtschaftliches) Subjekt-Objekt: Arbeitsprodukt als Resultat des Arbeitsprozesses Produktionsmittel (Objekte) Arbeitsgegenstand Arbeitsinstrumente Produktionsverhältnisse Andere menschliche Subjekte Andere menschliche Subjekte Arbeitsgegenstand Arbeitsinstrumente Abbildung 9.1: Der Arbeitsprozess Marx identifiziert drei Schlüsselaspekte des Arbeitsprozesses: „Die einfa‐ chen Momente des Arbeitsprozesses sind die zweckmäßige Tätigkeit oder die Arbeit selbst, ihr Gegenstand und ihr Mittel“ (Marx 1867, 193). Der Arbeitende ist das Subjekt des Arbeitsprozesses und verfügt über bestimmte Eigenschaften wie erworbene Fähigkeiten, Kenntnisse, Berufs‐ erfahrung usw. Die Arbeitenden stehen in Produktionsverhältnissen zu anderen Subjekten. In Klassengesellschaften sind dies die Klassenverhält‐ nisse zwischen der Arbeiterklasse und der herrschenden Klasse. Im Kapita‐ lismus sind die Klassenverhältnisse die Produktionsverhältnisse zwischen der Arbeiterklasse und der Kapitalistenklasse. Die Produktionsmittel beste‐ hen aus den Arbeitsinstrumenten, vor allem den Technologien, und dem Arbeitsgegenstand - dem Objekt, an dem sich Veränderungen vollziehen. Ein Arbeitsinstrument ist „ein Ding oder ein Komplex von Dingen, die der Arbeiter zwischen sich und den Arbeitsgegenstand schiebt und die ihm als Leiter seiner Tätigkeit auf diesen Gegenstand dienen“ (Marx 1867, 194). Die Arbeiter: innen setzen die Arbeitsinstrumente ein, um die Beschaf‐ fenheit des Objekts so zu verändern, dass ein neues Produkt entsteht, das Resultat des Arbeitsprozesses. Das Subjekt (Arbeiter) benutzt Objekte 9.2 Was ist Arbeit? 353 <?page no="354"?> (Produktionsmittel), um ein Subjekt-Objekt (das Produkt) zu schaffen. Im Falle eines Autors bestehen die Produktionsmittel aus früheren, von ihm selbst und anderen generierten Ideen (Objekten), seinem Gehirn und den Schreibtechnologien (Instrumente). Das Produkt sind neue Ideen, die die Form eines Romans, eines wissenschaftlichen Buchs, eines Drehbuchs, eines Comics usw. annehmen. Der Mensch ist ein „‚toolmakig animal‘, ein Werkzeuge fabrizierendes Tier“ (Marx 1867, 194). „Nicht was gemacht wird, sondern wie, mit welchen Arbeitsmitteln gemacht wird, unterscheidet die ökonomischen Epochen“ (Marx 1867, 194-195). Marx charakterisiert die kulturelle Arbeit als General Intellect: „Die Entwicklung des capital fixe zeigt an, bis zu welchem Grade das allgemeine gesellschaftliche Wissen, knowledge, zur unmittelbaren Pro‐ duktivkraft geworden ist und daher die Bedingungen des gesellschaftlichen Lebensprozesses selbst unter die Kontrolle des general intellect gekommen und ihm gemäß umgeschaffen sind“ (Marx 1857/ 1858, 602). Der Verwertungsprozess Die kapitalistische Produktion ist a) ein Arbeitsprozess und b) ein Verwer‐ tungsprozess: Es werden Waren produziert, die einen Gebrauchswert, einen Wert und einen Tauschwert haben. „Und unsrem Kapitalisten handelt es sich um zweierlei. Erstens will er einen Gebrauchswert produzieren, der einen Tauschwert hat, einen zum Verkauf bestimmten Artikel, eine Ware. Und zweitens will er eine Ware produzieren, deren Wert höher als die Wertsumme der zu ihrer Produktion erheischten Waren, der Produktionsmittel und der Arbeitskraft, für die er sein gutes Geld auf dem Warenmarkt vorschoß. Er will nicht nur einen Gebrauchswert produzieren, sondern eine Ware, nicht nur Gebrauchswert, sondern Wert, und nicht nur Wert, sondern auch Mehrwert“ (Marx 1867, 201). Ein Beispiel: Ein Medienunternehmen investiert 100 000 Euro pro Jahr in Löhne (v) und 100 000 Euro in Infrastruktur und Technologie (c). Es will nicht nur die 200 000 Euro zurückbekommen, sondern einen Überschuss/ Profit über dieses investierte Kapital hinaus erzielen. In der kapitalistischen Pro‐ duktion muss der Geldwert der verkauften Waren größer sein als der Wert des investierten Kapitals. Die Waren enthalten einen durch Arbeit geschaf‐ fenen Mehrwert. Der Medieninhalt oder die verkaufte Werbung enthalten 354 9 9 Medienarbeit: Kulturelle Arbeit und Arbeit in der Medienindustrie <?page no="355"?> einen Mehrwert, der im Falle des Medieninhalts von den Beschäftigten und im Falle der Werbung vom Publikum geschaffen wird. „Die zu 100 Pfd.St. gekaufte Baumwolle wird z. B. wieder verkauft zu 100 + 10 Pfd. St. oder 110 Pfd.St. Die vollständige Form dieses Prozesses ist daher G - W - G‘,wo G' = G + DG, d. h. gleich der ursprünglich vorgeschossenen Geldsumme plus einem Inkrement. Dieses Inkrement oder den Überschuß über den ursprünglichen Wert nenne ich - Mehrwert (surplus value)“ (Marx 1867, 165). In dem Kapitalakkumulationsprozess G - W .. P .. W‘ - G‘ (siehe Kapitel 8, Abschnitt 6.2) ist die Arbeitskraft in Form einer der Waren W vorhanden, die der Kapitalist kauft. Die Arbeiter: innen spielen die Schlüsselrolle im Produktionsprozess P, in dem sie die neue Ware W‘ schaffen, die ein Mehrprodukt enthält, das in monetären Mehrwert (Profit) verwandelt wird, wenn die Ware W‘ erfolgreich verkauft wird. Für Marx gibt es zwei Seiten der Arbeit in Klassengesellschaften: 1. die Produktion von Gebrauchswert: die qualitative Seite einer Ware, die Art und Weise, wie sie menschliche Bedürfnisse befriedigt; 2. die Produktion von Wert und Tauschwert: die quantitative Seite einer Ware in warenproduzierenden Gesellschaften; Wert: die Anzahl der für die Produktion der Ware benötigten Stunden; Tauschwert: ein Tauschverhältnis zwischen zwei Waren: x Ware A = y Ware B. Ökonomischer Wert hat mit der Frage zu tun, wieviel eine Ware auf dem Markt wert ist. Wieviel bekommt man dafür bzw. wieviel muss man dafür bezahlen? Warum ist zum Beispiel ein Auto wesentlich teurer als eine Zahnbürste? Die Arbeitswerttheorie besagt, dass der Preis und der Wert einer Ware nicht zufällig sind, sondern dass sich der Wert einer Ware durch die für ihre Produktion durchschnittlich benötigte Arbeitszeit bestimmt. Die Produktion eines Autos dauert deutlich länger und ist viel arbeitsintensiver als die Herstellung einer Zahnbürste. Bei der Produktion von Medieninhalten gibt es spezifische Eigenschaften der Wertproduktion. Sehr hohe Kosten und sehr viel Arbeitszeit müssen für die Produktion der ersten Kopie aufgewendet werden. Ist der Inhalt einmal geschaffen, kann er mit relativ wenig Arbeitsaufwand wiederverwertet werden. Die Vermarktung und Verwertung von erfolgreichen TV-Serien, Kino‐ filmen, Musikalben, usw. ist billig und erfordert im Vergleich zur Erstpro‐ 9.2 Was ist Arbeit? 355 <?page no="356"?> duktion relativ wenig Arbeitszeit. Medieninhaltsproduktion benötigt viel Investitionskapital, ist mit großen Risiken behaftet und generiert Einkom‐ men durch Rechteverkauf. Die Verwertung funktioniert nur bei „Hits“. Für Marx gibt es Wert und Tauschwert nur in Klassengesellschaften. Was ist das Spezifische der Arbeit im Kapitalismus? ● „Der Arbeiter arbeitet unter der Kontrolle des Kapitalisten, dem seine Arbeit gehört“ (Marx 1867, 199). ● „Das Produkt ist Eigentum des Kapitalisten, nicht des unmittelbaren Produzenten, des Arbeiters. […] Der Arbeitsprozeß ist ein Prozeß zwi‐ schen Dingen, die der Kapitalist gekauft hat, zwischen ihm gehörigen Dingen. Das Produkt dieses Prozesses gehört ihm daher ganz ebensosehr als das Produkt des Gärungsprozesses in seinem Weinkeller“ (Marx 1867, 200). Marx spricht in diesem Zusammenhang auch von „doppelt freier“ Arbeit: „Freie Arbeiter in dem Doppelsinn, daß weder sie selbst unmittelbar zu den Produktionsmitteln gehören, wie Sklaven, Leibeigne usw., noch auch die Produktionsmittel ihnen gehören, wie beim selbstwirtschaftenden Bauer usw., sie davon vielmehr frei, los und ledig sind“ (Marx 1867, 742). Anders als Sklav: innen sind Arbeitnehmer: innen, die unter kapitalistischen Bedin‐ gungen beschäftigt werden, nicht das physische Eigentum von jemandem. Sie verkaufen ihre Arbeitskraft über einen Vertrag an einen Arbeitgeber. Das bedeutet, dass sie frei davon sind, dass ihr Körper Eigentum von jemandem ist. Gleichzeitig sind sie aber auch frei von den Produkten, die sie herstellen, d. h. sie sind nicht Eigentümer dieser Produkte. Die Arbeiter: innen im Kapitalismus sind durch den Markt und die Dominanz der Warenlogik strukturell gezwungen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Es gibt einen „stumme[n] Zwang der ökonomischen Verhältnisse“ (Marx 1867, 765). Wirtschaftliche Entfremdung Klasse hat mit der Frage zu tun, wer Eigentümer der Produktionsmittel und des Mehrwerts ist. Klasse bedeutet ein Macht- und Ausbeutungsverhältnis zwischen einer herrschenden Klasse und einer beherrschten/ ausgebeuteten Klasse. Marx (1867, 621) argumentiert im Kapital, dass die Arbeiter: innen eine „Maschine zur Produktion von Mehrwert“ sind und die Kapitalist: inn: en eine „Maschine zur Verwandlung dieses Mehrwerts in Mehrkapital“. Die 356 9 9 Medienarbeit: Kulturelle Arbeit und Arbeit in der Medienindustrie <?page no="357"?> Klassenposition wird durch die Rolle einer Gruppe im Produktionsprozess und ihr Verhältnis zu den Produktionsmitteln bestimmt. Marx spricht von einer Dialektik von Armut und Reichtum im Kapitalis‐ mus. Der Reichtum des Kapitals ergibt sich aus dem Mangel an Eigentum der Arbeiterklasse: „Die Arbeit als die absolute Armut: die Armut nicht als Mangel, sondern als völliges Ausschließen des gegenständlichen Reichtums. […] die Arbeit einerseits die absolute Armut als Gegenstand, andrerseits die allgemeine Möglichkeit des Reichtums als Subjekt und als Tätigkeit“ (Marx 1857/ 58, 217-218). Aufbauend auf den Arbeiten von Georg Lukács konzipiert der deutsche Philosoph Axel Honneth Entfremdung als Verdinglichung. Darunter ver‐ steht er die „Anerkennungsvergessenheit“ (Honneth 2005, 99). Es wird vergessen und nicht anerkannt, dass Menschen an gesellschaftlichen Pro‐ duktionsprozessen, die sie betreffen, teilhaben sollten. Das Ergebnis davon sind asymmetrische ökonomische, politische und kulturelle Machtverhält‐ nisse, sodass manche Gruppen viel Macht haben und andere wenig oder keine. Dies führt zur ungleichen Verteilung von Wohlstand, politischer Entscheidungsmacht und Reputation. Anerkennungsvergessenheit bedeutet den „Prozess, durch den in un‐ serem Wissen um andere Menschen und im Erkennen von ihnen das Bewusstsein verloren geht, in welchem Maß sich beides ihrer vorgängigen Anteilnahme und Anerkennung verdankt“ (Honneth 2005, 68). Wirtschaftliche Entfremdung bedeutet, dass die Arbeiter: innen im Kapi‐ talismus keine Kontrolle über ihre Arbeitskraft (die sie verkaufen müssen, damit sie überleben können), die Produktionsmittel und die von ihnen geschaffenen Produkte haben. Abbildung 9.2 veranschaulicht den Prozess der ökonomischen Entfremdung. 9.2 Was ist Arbeit? 357 <?page no="358"?> Entfremdung der Arbeitskraft (Subjekt) (Wirtschaftliches) Subjekt-Objekt: Entfremdung vom Arbeitsprodukt Entfremdung von den Produktionsmitteln (Objekt) Arbeitsgegenstand Arbeitsinstrumente Abbildung 9.2: Der Prozess der wirtschaftlichen Entfremdung Marx fasst den Prozess der wirtschaftlichen Entfremdung wie folgt zusam‐ men: „Einerseits verwandelt der Produktionsprozeß fortwährend den stofflichen Reichtum in Kapital, in Verwertungs- und Genußmittel für den Kapitalisten. Andrerseits kommt der Arbeiter beständig aus dem Prozeß heraus, wie er in ihn eintrat - persönliche Quelle des Reichtums, aber entblößt von allen Mitteln, diesen Reichtum für sich zu verwirklichen. Da vor seinem Eintritt in den Prozeß seine eigne Arbeit ihm selbst entfremdet, dem Kapitalisten angeeig‐ net und dem Kapital einverleibt ist, vergegenständlicht sie sich während des Prozesses beständig in fremdem Produkt. Da der Produktionsprozeß zugleich der Konsumtionsprozeß der Arbeitskraft durch den Kapitalisten, verwandelt sich das Produkt des Arbeiters nicht nur fortwährend in Ware, sondern in Kapital, Wert, der die wertschöpfende Kraft aussaugt, Lebensmittel, die Personen kaufen, Produktionsmittel, die den Produzenten anwenden. Der Arbeiter selbst produziert daher beständig den objektiven Reichtum als Kapital, ihm fremde, ihn beherrschende und ausbeutende Macht, und der Kapitalist produziert ebenso be‐ ständig die Arbeitskraft als subjektive, von ihren eignen Vergegenständlichungs- und Verwirklichungsmitteln getrennte, abstrakte, in der bloßen Leiblichkeit des Arbeiters existierende Reichtumsquelle, kurz den Arbeiter als Lohnarbeiter. Diese 358 9 9 Medienarbeit: Kulturelle Arbeit und Arbeit in der Medienindustrie <?page no="359"?> beständige Reproduktion oder Verewigung des Arbeiters ist das sine qua non <die unerläßliche Bedingung> der kapitalistischen Produktion“ (Marx 1867, 595-596). Die Arbeiterklasse Klassen sind Gruppen in der Wirtschaft, die durch unterschiedliche, ent‐ gegengesetzte Interessen, unterschiedliche Positionen und Rollen im Pro‐ duktionsprozess und der Wirtschaft sowie unterschiedliches Eigentum gekennzeichnet sind. In der kapitalistischen Gesellschaft sind die Produktionsverhältnisse Be‐ ziehungen zwischen den Unternehmen und ihrem Kapital auf der einen Seite und den abhängig Arbeitenden auf der anderen Seite, wozu Lohnarbeitende, Hausarbeitende, Freiberufler: innen, rassifizierte Arbeiter: innen, die niedrig bezahlt werden und gezwungen sind, schlechte Jobs auszuführen, unfreie Arbeiter: innen wie Sklav: inn: en usw. gehören. Sie sind abhängig, weil sie auf die Ausübung von Arbeit angewiesen sind, um zu überleben. Und sie sind abhängig, da sie weder Unternehmen, die Arbeiter: innen einstellen, noch Geldkapital für Investitionen oder großen Mengen an Ressourcen besitzen, usw. Sie bilden die Arbeiterklasse. Der Soziologe Erik Olin Wright (1997, 10; 2005, 23) vertritt die Auffassung, dass es drei Merkmale der Arbeiterklasse gibt: 1. Exklusion: Die Arbeiterklasse ist nicht Eigentümer der zentralen Produktionsmittel der Gesellschaft, die die Produktion von Reichtum ermöglichen. 2. Umgekehrtes abhängiges Wohlergehen: Das Wohlergehen der herr‐ schenden Klasse ist mit der Benachteiligung der Arbeiterklasse verbun‐ den. 3. Aneignung: Die herrschende Klasse hat die Macht, sich die Früchte der Arbeit der Arbeiterklasse anzueignen und zu besitzen, d. h. das in Besitz zu nehmen, was die Arbeiter: innen produzieren, aber ihnen nicht gehört. Wright (1997) stellt ein Klassenschema vor, das zwölf Klassenpositionen identifiziert. Die grundlegende Unterscheidung besteht zwischen denen, die Produktionsmittel und Kapital besitzen, und denen, die dies nicht tun. Die Kapitaleigentümer werden nach der Zahl der Beschäftigten in ihren Unter‐ nehmen unterteilt. Die Beschäftigten werden weiter unterteilt nach dem Grad der Autorität und dem Grad der Ausbildung und Qualifikation, über 9.2 Was ist Arbeit? 359 <?page no="360"?> die sie verfügen. Tabelle 9.1 zeigt eine Weiterentwicklung des Wright‘schen Klassenschemas. Eigentümer der Pro‐ duktionsmittel Nicht-Eigentümer: Arbeitende Viele An‐ gestellte Großkapi‐ tal - Fertig‐ keiten und Bil‐ dung: Niedrig (Unge‐ lernte) Fertigkei‐ ten und Bil‐ dung: Mit‐ tel (Qualifi‐ zierte Ar‐ beitskräfte) Fertigkei‐ ten und Bil‐ dung: Hoch (Ex‐ pert: inn: en) Wenige oder ei‐ nige An‐ gestellte Kleines und mittelgro‐ ßes Kapital Autori‐ tät: Hoch (Ma‐ nage‐ ment) Unge‐ lernte Ma‐ nager: in‐ nen Qualifizierte Manager: in‐ nen Professio‐ nelle Mana‐ ger: innen Keine Ange‐ stellten Freiberuf‐ ler: innen Autori‐ tät: Mit‐ tel (Lei‐ tende Ange‐ stellte) Unge‐ lernte lei‐ tende An‐ gestellte Qualifizierte leitende An‐ gestellte Professio‐ nelle leitende Angestellte - - Autori‐ tät: Nied‐ rig (Ar‐ beiter: innen ohne Lei‐ tungs‐ rolle) Unge‐ lernte Ar‐ beiter: in‐ nen Qualifizierte Arbeits‐ kräfte Fachkräfte Tabelle 9.1: Ein Klassenschema (beruhend auf Wright 1997, 25) Wie groß ist die Arbeiterklasse? Wie groß ist die Kapitalistenklasse? Wright (1997) untersuchte, wie sich die Klassenstruktur der Erwerbsbe‐ völkerung in den USA in den Jahren von 1960 bis 1990 verändert hat. Die Ergebnisse sind in Tabelle 9.2 dargestellt. 360 9 9 Medienarbeit: Kulturelle Arbeit und Arbeit in der Medienindustrie <?page no="361"?> 1960 1970 1980 1990 Manager: innen (ungelernt und qualifi‐ ziert) 7,5% 7,6% 8,0% 8,3% Leitende Angestellte (ungelernt und qualifiziert) 13,7% 14,9% 15,2% 14,8% Professionelle Manager: innen 3,9% 4,4% 5,1% 6,0% Expert: innen (Fachkräfte und profes‐ sionelle leitende Angestellte) 3,5% 4,5% 5,5% 6,9% Qualifizierte Arbeitskräfte 13,5% 14,1% 12,9% 12,8% Ungelernte Arbeiter: innen 44,6% 45,1% 44,1% 41,4% Freiberufler: innen 5,5% 4,1% 4,5% 5,2% Kapitalist: innen mit geringem, mittle‐ rem oder großem Kapitaleigentum 7,9% 5,3% 4,8% 4,7% Tabelle 9.2: Veränderungen der Klassenstruktur in den USA von 1960 bis 1990 (basierend auf Wright 1997, 99), in Prozent der Erwerbsbevölkerung - 1991 2020 Erwerbspersonen insgesamt 2.395,1 3,409,2 Beschäftigung insgesamt 2.260,1 3.189 Lohnempfänger: innen 995 1.701,2 Selbständige 739,9 1.103,7 Mithelfende Familienangehörige 466,5 300,1 Arbeitslosigkeit 134,9 220,3 Arbeitgeber 60,6 84,0 Nicht erwerbstätige Personen (ohne Per‐ sonen unter 15 Jahren) 1.247,9 2.400,2 Tabelle 9.3: Aspekte der globalen Arbeiterklasse, Angaben in Millionen, Datenquelle: ILO World Employment and Social Outlook, abgerufen am 26. November 2021 Der Anteil der Kapitalist: innen an der gesamten Erwerbsbevölkerung ist in den USA zwischen 1960 und 1990 etwas zurückgegangen, was auf eine 9.2 Was ist Arbeit? 361 <?page no="362"?> zunehmende Kapitalkonzentration hinweist. Bei den Arbeiter: innen war die bedeutendste Veränderung eine Zunahme der Expert: inn: en, was ein Hinweis auf die zunehmende Bedeutung der Hochschulbildung in der Wirtschaft ist. Im Jahr 2020 gab es weltweit mehr als 3,4 Milliarden Arbeitende. Arbeiter‐ schaft und Unternehmer: innen machten zusammen 3,5 Milliarden Personen aus, die in der Wirtschaft aktiv waren. Der Anteil der Arbeitenden an den Erwerbspersonen betrug 97,6 %, der Anteil der Unternehmer: innen 2,4 %. Es gab 2,4 Milliarden Menschen, die nicht im Erwerbsleben standen. Wenn man davon ausgeht, dass die Armen zur Arbeiterklasse gehören und die Rentner: innen zu etwa demselben Anteil denselben Klassenstatus wie die Erwerbstätigen haben, dann kann man davon ausgehen, dass mindestens 2,3 Milliarden Menschen (97,6 % der Erwerbstätigen), die derzeit nicht erwerbstätig sind, zur Arbeiterklasse gehören, weil sie entweder arm oder im Ruhestand sind. Damit wird die Gesamtgröße der globalen Arbeiterklasse im Jahr 2020 auf 5,8 Milliarden geschätzt. Die Unternehmer: innen machten 2,4 % der Erwerbstätigen aus. Ihre Zahl betrug 84 Millionen. Rechnet man die Unternehmer: innen im Ruhestand hinzu (2,4 % von 2,4 Milliarden, die nicht erwerbstätig sind), so erhöht sich ihre Zahl von 84 auf 141 Millionen. Die 2 Milliarden Kinder in der Welt sind in dieser Berechnung nicht berücksichtigt. Die Arbeiterklasse ist die größte Untergruppe der Menschheit. Sie war mit 5,8 Milliarden Menschen im Jahr 2020 größer als alle anderen Untergruppen. Die Klasse der Unternehmer: innen war mit 141 Millionen Mitgliedern im Jahr 2020 vergleichsweise klein, aber aufgrund des von ihr kontrollierten Kapitals sehr mächtig. Die Weltbevölkerung betrug im Jahr 2020 rund 7,75 Milliarden Menschen (Datenquelle: World Bank Data). Wir können also errechnen, dass die Arbeiterklasse im Jahr 2020 74,2 % der Weltbevölkerung ausmachte und die Kapitalistenklasse 1,8 %. Die Arbeiterklasse ist größer als alle anderen Untergruppen der Menschheit. 362 9 9 Medienarbeit: Kulturelle Arbeit und Arbeit in der Medienindustrie <?page no="363"?> Die Analyse der Arbeitsbedingungen ! """ ! # $$$$"""""%"""""""$$$$""#&" ! ! &""""""""""" ! "#$%&'()&"*+',-. / "0,(' '"()*+*,-+./ 0.,* 1-+" 2+3-.0/ ,+450- '"%)6/ ./ 7)- 891" : -90*; - ! -/ 891)-.0 '"2+3-.0/ -+5*)+89<-9 ! "#$%&'()&"*+',-. ! "#$%&'(#123 4('',5 '"=*/ 7).9-9 >" 28/ +? / 089< '"@-/ / A8+7-9 ! "#$%&'(#12! "#6,22 '"#AB"2+3-.0/ +48: - '"#*99B"2+3-.0/ C-.0 '"#.-BD 2+0"1-+"2+3-.0 D EA90+A; ; 5A+: -9 ",2%5'/ ',.$,". ! "#$%&'(#1 '"2+3-.0/ F+A18,0 ! "#$%&'(#12),"7*5'1(22, '"2+3-.0/ G-+0+*< '"HI)9- 891"JAC.*; ; -./ 089<-9 '"2+3-.0/ ,4: F5- / 8 ! 4 $,".2'/ / '-."9: ; <=>? ; @9A ! &""""""""""" ! "#$%&'()&"*+',-. / "0,(' '"()*+*,-+./ 0.,* 1-+" 2+3-.0/ ,+450- '"%)6/ ./ 7)- 891" : -90*; - ! -/ 891)-.0 '"2+3-.0/ -+5*)+89<-9 ! "#$%&'()&"*+',-. ! "#$%&'(#123 4('',5 '"=*/ 7).9-9 >" 28/ +? / 089< '"@-/ / A8+7-9 ! "#$%&'(#12! "#6,22 '"#AB"2+3-.0/ +48: - '"#*99B"2+3-.0/ C-.0 '"#.-BD 2+0"1-+"2+3-.0 D EA90+A; ; 5A+: -9 ! """ ! # $$$$"""""%"""""""$$$$""#&" ! ! &""""""""""" ",2%5'/ ',.$,". ! "#$%&'(#1 '"2+3-.0/ F+A18,0 ! "#$%&'(#12),"7*5'1(22, '"2+3-.0/ G-+0+*< '"HI)9- 891"JAC.*; ; -./ 089<-9 '"2+3-.0/ ,4: F5- / 8 ## &/ ! ('/ 5(2'(2B7,.! "#$%&'(#1 $,".2'/ / '-."9: ; <=>? ; @9A ! 4 Abbildung 9.3: Aspekte der Arbeitsbedingungen in der kapitalistischen Wirtschaft, Quelle: Sandoval (2013), wiedergegeben mit Genehmigung Abbildung 9.3 veranschaulicht Aspekte der Arbeitsbedingungen in der kapitalistischen Wirtschaft. In Tabelle 9.4 sind Fragen aufgeführt, die man bei der Analyse bestimmter Arbeitsbedingungen stellen kann. Diese Fragen sind auch für die Analyse der Kulturarbeit wichtig. Produktivkräfte - Pro‐ duktionsmittel Maschinen und Ausrüs‐ tung Welche Technologien wer‐ den im Produktionspro‐ zess eingesetzt? Ressourcen Welche Ressourcen wer‐ den während des Produkti‐ onsprozesses eingesetzt? Produktivkräfte - Arbeit Charakteristika der Ar‐ beitskräfte Was sind wichtige Merk‐ male der Belegschaft, z.-B. in Bezug auf Alter, Ge‐ 9.2 Was ist Arbeit? 363 <?page no="364"?> schlecht, ethnischen Hin‐ tergrund usw.? Mentale und physische Gesundheit Wie wirken sich die einge‐ setzten Produktionsmittel und der Arbeitsprozess auf die psychische und physi‐ sche Gesundheit der Ar‐ beitenden aus? Arbeitserfahrungen Wie erleben die Arbeiten‐ den ihre Arbeitsbedingun‐ gen? Produktionsverhält‐ nisse, Klassen- und Machtverhältnisse Arbeitsverträge Welche Art von Verträgen erhalten die Arbeitenden und was wird darin wie geregelt? Löhne und Sozialleistun‐ gen Wie hoch/ niedrig sind die Löhne und welche ande‐ ren Sozialleistungen gibt es (nicht) für die Arbeiten‐ den? Arbeitskämpfe Wie organisieren sich die Arbeitenden und wie ver‐ handeln sie mit dem Kapi‐ tal? Welche Rolle spielen Arbeitsproteste? - Benachteiligung und Diskriminierung Gibt es Unterschiede der Arbeitskräfte bzgl. Ge‐ schlecht, Herkunft und Hautfarbe? Wenn ja, spie‐ len solche Unterschiede eine Rolle in der Orga‐ nisation? Wenn ja, inwie‐ fern? Gibt es benachtei‐ ligte Gruppen? Inwiefern? Produktionsprozess Arbeitsräume Wo findet der Produkti‐ onsprozess statt? Arbeitszeiten Wie viele Arbeitsstunden pro Woche sind in einem bestimmten Sektor üblich, wie werden sie durchge‐ setzt und wie ist das Ver‐ hältnis zwischen Arbeit und Freizeit? 364 9 9 Medienarbeit: Kulturelle Arbeit und Arbeit in der Medienindustrie <?page no="365"?> Arbeitsaktivitäten Welche Arten von geisti‐ ger und/ oder körperlicher Tätigkeit üben die Arbei‐ tenden aus? Kontrollmechanismen Welche Art von Mechanis‐ men gibt es, mit denen das Verhalten der Arbei‐ tenden kontrolliert und überwacht wird? Produktionsresultate Arbeitsprodukt Welche Arten von Produk‐ ten oder Dienstleistungen werden hergestellt? Der Staat Arbeitsrecht Welche Vorschriften über Mindestlöhne, Höchstar‐ beitszeiten, Sicherheit, So‐ zialversicherung usw. gibt es und wie werden sie durchgesetzt? Tabelle 9.4: Dimensionen der Arbeitsbedingungen, Quelle: Sandoval (2013), wiedergege‐ ben mit Genehmigung Nachdem wir uns mit einigen Grundlagen des Arbeitsbegriffs beschäftigt haben, wollen wir als nächstes das Phänomen der kulturellen Arbeit näher betrachten. 9.3 Was ist Kulturelle Arbeit? Kulturelle Arbeit und Kulturwaren Arbeit, die in kapitalistischen Produktionsverhältnissen verrichtet wird, schafft Waren. Es gibt eine Vielzahl von Modellen der Produktion von Kul‐ turwaren, die unterschiedliche Formen der kulturellen Arbeit beinhalten. Tabelle 9.5 gibt einen Überblick über diese Modelle und die zugehörigen Formen der Arbeit. 9.3 Was ist Kulturelle Arbeit? 365 <?page no="366"?> Kulturware Beispielwaren Beispiele für Arbei‐ tende in diesem Be‐ reich Zugang zu Kultur‐ veranstaltungen Theateraufführungen, Aus‐ stellungen, Vorträge, Vor‐ lesungen, Lesungen, Dis‐ kussionen, Konzerte, Live-Vorstellungen, Filmauf‐ führungen im Kino, Pay-per-View bei Liveübertra‐ gungen im Fernsehen usw. - Schauspieler: innen, Tän‐ zer: innen, Musiker: in‐ nen, Museumsangestellte, Aktionskünstler: innen, Theater- und Ki‐ noangestellte, Veran‐ staltungstechniker: in, Toningenieure und To‐ ningenieurinnen, Werbe- und PR-Fachleute usw. Kulturelle Inhalte Bücher, Zeitungen, Magazine, Audioaufnahmen (z.-B. Vi‐ nyl-Schallplatten), aufgenom‐ mene audiovisuelle Inhalte (z.-B. Filme, die auf DVDs, Blu-ray, Festplatten oder an‐ deren Speichermedien vertrie‐ ben werden oder über das Internet zum Herunterladen angeboten werden); gekaufte Kunstwerke, Poster oder Dru‐ cke Autor: innen, Roman‐ schriftsteller: innen, Journalist: inn: en, Musi‐ ker: innen, Aufnahme‐ techniker: innen, Werbe- und PR-Fachleute, bil‐ dende Künstler: innen, Fil‐ memacher: innen usw. - Werberaum Außenwerbung, Werbung im öffentlichen Raum, Direktwer‐ bung, Werbung in Zeitungen und Zeitschriften, Radiower‐ bung, Fernsehwerbung, Inter‐ netwerbung, mobile Werbung Publika, die Aufmerk‐ samkeit für Werbung produzieren; Werbefach‐ leute, Werbetechniker: in‐ nen usw. Abos für den regu‐ lären Zugang zu kulturellen Inhalten - Abos für Zeitungen und Zeitschriften, Theaterabonne‐ ment, Museumsabo, Kino‐ abonnement, Pay-TV, Zugang zu Streaming-Dienste im In‐ ternet wie Netflix, Amazon Prime, Apple TV, Disney+ - Vertriebs- und Abo-Perso‐ nal; PR- und Werbefach‐ leute, die für die Vermark‐ tung von Abos zuständig sind - Technologien für die Produktion, Dis‐ tribution und Kon‐ sumtion von Infor‐ mation Plattenspieler, Stereoanlage, Fernseher, Computer, Mobilte‐ lefon, Laptop, Kamera, Auf‐ nahmegeräte, Tablets - Bergleute, die Minera‐ lien extrahieren, die für als Ressourcen in der Produktion von IKT-Komponenten benö‐ tigt werden; Wissen‐ schaftler: innen und In‐ 366 9 9 Medienarbeit: Kulturelle Arbeit und Arbeit in der Medienindustrie <?page no="367"?> Kulturware Beispielwaren Beispiele für Arbei‐ tende in diesem Be‐ reich genieure/ Ingenieurinnen; Werbe-, Verkaufs- und PR-Fachleute, die Mar‐ kenprodukte erschaffen und Technologien ver‐ markten usw. Gemischte Modelle der Kulturwaren Zeitungs- und Zeitschriften‐ modelle, die den Verkauf von Werbung, gedruckten Kopien, Druck-Abos, Digital-Abos und des einmaligen Zugangs zu Inhalten kombinieren; Kultur‐ konzerne, die Technologien und den Zugang zu Inhalten verkaufen Kombination von ver‐ schiedenen Arbeiter: in‐ nen, die Kulturwaren er‐ zeugen - Tabelle 9.5: Modelle der Produktion von Kulturwaren und dabei relevante Formen der Arbeit - Drei Arten der Definition von kultureller Arbeit Es gibt drei Möglichkeiten, Kulturarbeiter zu definieren: eine enge, eine medienübergreifende und eine breite Definition: 1. Enge Definitionen: Kulturelle Arbeit ist Arbeit, die „direkt kreativ ist“, „those jobs that directly manipulate symbols to create an original knowledge product, or add obvious value to an existing one” (Mosco & McKercher 2009, 24). Die Arbeit eines Schriftstellers fällt unter diese Definition, nicht aber die eines Bibliothekars. 2. Intermediäre Definitionen: Kulturelle Arbeit ist „the labor of those who handle, distribute, and convey information and knowledge” (Mosco & McKercher 2009, 24). Sowohl die Arbeit eines Schriftstellers als auch die eines Bibliothekars fallen unter diese Definition. 3. Breite Definitionen: Kulturelle Arbeit wird durchgeführt von „anyone in the chain of producing and distributing knowledge products” (Mosco & McKercher 2009, 25). Im Falle von Büchern sind Schriftsteller: innen, 9.3 Was ist Kulturelle Arbeit? 367 <?page no="368"?> Bibliothekare/ Bibliothekarinnen und Drucker: innen nach dieser Defini‐ tion Kulturschaffende. - Branchen- und berufsbezogene Definitionen Während sich die erste und die zweite Definition auf den Beruf beziehen, konzentriert sich die dritte Definition auf die Branche. Es gibt berufs- und branchenbezogene Definitionen von Kulturarbeit. Beispiele für branchenbezogene Definitionen von Kulturarbeitenden: ● „A chemical engineer employed in the food industry, a designer in the shoe industry, an accountant or a lawyer in the chemical industry, all are engaged in the production of knowledge according to their occupation, but not according to the industry in which they work” (Machlup 1962, 45). ● „[A] cultural worker could be defined as someone who works in a cultu‐ ral industry, whether the work that person does is ‘cultural’ (producing cultural output such as writing poetry or acting) or ‘non-cultural’ (such as selling tickets for a theatre company)” (Throsby 2010, 217). ● Wissensarbeitende sind „the people whose work consists of conferring, negotiating, planning, directing, reading, note-taking, writing, drawing, blueprinting, calculating, dictating, telephoning, card-punching, typing, multigraphing, recording, checking, and many others, are engaged in the production of knowledge in the sense in which we understand these words” (Machlup 1962, 41). ● Zu den Wissensarbeitenden und kulturell Arbeitenden gehört „anyone in the chain of producing and distributing knowledge products. In this view, the low-wage women workers in Silicon Valley and abroad who manufacture and assemble cables and electronic components are knowledge workers because they are an integral part of the value chain that results in the manufacturing of the central engine of knowledge production: the computer. […] Similarly, call-center workers, who sell communication products and services, would also fall within this broad definition of knowledge work because they are central to marketing in‐ formation and because they make use of the products of communication technology to carry out their work” (Mosco & McKercher 2009, 25). Beispiele für berufsbezogene Definitionen von Kulturarbeitenden: 368 9 9 Medienarbeit: Kulturelle Arbeit und Arbeit in der Medienindustrie <?page no="369"?> ● „[A] janitor in a school building, a charwoman in a research laboratory, a mechanic in a television studio, all are engaged in the production of knowledge according to the industry in which they work, but not according to their occupation. If the phrase ‘knowledge industry’ were to be given an unambiguous meaning, would it be a collection of industries producing knowledge in whatever industries they are employed? Would it thus include all people employed, and factor cost paid, in education, research and development, book publishing, magazines and newspapers, telephone and telegraph, radio and television? or rather all people em‐ ployed, and factor cost paid to them, as accountants, actors, architects, artists, auditors, authors” (Machlup 1962, 45-46). ● Kulturelle Beschäftigung bedeutet, dass es eine „kulturelle Natur der Arbeit“ gibt, die einen „erkennbaren Input (Kreativität)“ und Kultur als Output hat (Throsby 2010, 217). Kulturelle Arbeit leistet „einen direkten Beitrag zur Produktion kultureller Inhalte“ (Throsby 2010, 27). ● Kulturelle Arbeit umfasst Tätigkeiten „[that] produce and disseminate symbols in the form of cultural goods and services, generally, although not exclusively, as commodities” (Garnham 1990, 156). ● Kulturelle Arbeit „involves the production of symbols for primarily expressive, aesthetic or informational purposes, and for experience by distant others (or support for those who carry out such work)” (Hesmondhalgh & Baker 2008, 103). Kreative Arbeit bedeutet „jobs, centred on the activity of symbol-making, which are to be found in large numbers in the cultural industries” (Hesmondhalgh & Baker 2011, 9). Kulturelle Arbeit hat zu tun „primarily with the industrial production and circulation of texts” (Hesmondhalgh 2013, 17). Texte vermitteln Bedeutung und „are created with communicative goals primarily in mind” (Hesmondhalgh 2013, 16). Die Produkte sind „symbolic, aesthetic, expressive, and/ or informational” (Hesmondhalgh 2013, 60). Kulturelle Arbeit ist „the work of symbol creators” (Hesmondhalgh 2013, 20). Für Hesmondhalgh gehören zur kulturellen Arbeit Arbeiten in den Berei‐ chen Rundfunk, Film, Musik, Verlagswesen, Video und Computerspiele, Werbung, Marketing, Öffentlichkeitsarbeit und Webdesign. ● Immaterielle Arbeit ist „labor that produces the informational and cultural content of the commodity” (Lazzarato 1996, 133), „that creates immaterial products, such as knowledge, information, communication, a relationship, or an emotional response” (Hardt & Negri 2004, 108). 9.3 Was ist Kulturelle Arbeit? 369 <?page no="370"?> Hesmondhalghs Definition von Kulturarbeitenden schließt Hardware-Pro‐ duktion, Software-Engineering, Arbeit in der Telekommunikation und in der Internet-Industrie aus. Er lehnt breite Definitionen von Kulturarbeit ab, weil „such a broad conception risks eliminating the specific importance of culture, of mediated communication, and of the content of communication products” (Hesmondhalgh & Baker 2011, 60). Die Kritik an branchenorientierten Definitionen von kultureller Arbeit hat mehrere Probleme: ● Idealismus: sie sieht nicht die Materialität der Kultur; ● Dualismus: die Konzentration auf Inhalte und Ideen vernachlässigt die Verbindung von Technologie und Inhalt; ● Blindheit gegenüber der Digitalisierung: sie ist blind für große Teile der digitalen Medien, die in der heutigen Wirtschaft von entscheidender Bedeutung sind. Sie privilegiert Arbeit in den Bereichen Musik, Rund‐ funk, Film, Verlagswesen, Werbung und Spiele als wichtiger als Arbeit in der Softwaretechnik, Hardwareproduktion und Internetarbeit. Sie impliziert, dass die Produktion digitaler Medien nicht kreativ ist und dass digitale Medien nicht Teil der Kultur sind. ● Politik: Die Arbeitenden sind mit der Globalisierung und der Konver‐ genz des Kapitals konfrontiert, was es ihnen erschwert, zu handeln, wenn sie als Klasse voneinander separiert sind. Deshalb haben sich in manchen Gewerkschaften unterschiedliche Informationsarbeitenden zusammengeschlossen. „A more heterogeneous vision of the know‐ ledge-work category points to another type of politics, one predicated on questions about whether knowledge workers can unite across occupati‐ onal or national boundaries, whether they can maintain their new-found solidarity, and what they should do with it” (Mosco & McKercher 2009, 26). „[One] big union is better […] [for] workers to come together across the knowledge industry” (Mosco and McKercher 2009, 42). Eine große, vereinte Gewerkschaft stärkt die Arbeitenden im Widerstand gegen die Kommerzialisierung und Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen. Mosco und McKercher argumentieren, dass die Arbeiter: innen nur dann erfolgreich Forderungen an die Unternehmen stellen können, wenn sie auf der Grundlage ganzer Branchen organisiert sind, so dass die Belegschaft eines Unternehmens unabhängig von ihrem Beruf gemeinsam Forderungen stellt. Ein Beispiel für eine berufsübergreifende Gewerkschaft sind die Com‐ munications Workers of America. Sie vertritt u. a. Flugbegleiter: innen, Be‐ 370 9 9 Medienarbeit: Kulturelle Arbeit und Arbeit in der Medienindustrie <?page no="371"?> 50 Datenquelle https: / / cwa-union.org/ about, abgerufen am 29. November 2021. 51 Datenquelle: https: / / www.verdi.de/ wegweiser/ ++co++ee809444-cfd3-11e0-5780-0019b 9e321cd, abgerufen am 29. November 2021. schäftigte in der Telekommunikation, Elektronik- Elektro-, Maschinenbau- und Möbelindustrie-Beschäftigte, Journalist: innen: en und andere Nachrich‐ tenarbeiter: innen, Rundfunkmitarbeiter: innen und Techniker: innen 50 . ver.di ist die größte Gewerkschaft in Deutschland. Sie vertritt Arbeiter: innen in den Bereichen Dienstleistungen, Bildung, Forschung, öffentliche Dienstleis‐ tungen, Finanzdienstleistungen, lokale Gemeinschaften, Gesundheit und Sozialfürsorge, Handel, Medien, Kunst, Post, Logistik, soziale Sicherheit, Telekommunikation, Informationstechnologie, Verkehr, Versorgungsunter‐ nehmen und Abfallentsorgung 51 . Kulturarbeit finden unter spezifischen Bedingungen statt, die wir uns im nächsten Abschnitt genauer ansehen werden. 9.4 Arbeit in der Kulturindustrie Prekäre Arbeit Guy Standing ist ein Wirtschaftswissenschaftler, der die Veränderungen der Arbeitsbedingungen analysiert hat. In seinem Buch The Precariat analysiert Standing (2011) den Anstieg und die Merkmale der prekären Arbeit. Der Neoliberalismus führte zum Aufkommen flexibler Arbeitsmärkte, einschließlich des Verlusts wirtschaftlicher Sicherheit in einer oder meh‐ reren von sieben verschiedenen Kategorien, die für Arbeitsplätze cha‐ rakteristisch sind. Typische Merkmale prekärer Arbeit sind befristete Ar‐ beitsverhältnisse, Teilzeitbeschäftigung, Vertragsarbeit, Callcenter-Arbeit, Praktikant: innen, lange Arbeitszeiten, das Verschwimmen von Arbeitszeit und Freizeit sowie von Arbeitsplatz, Wohnung und öffentlichem Raum, ein hohes Maß an Stress und Überarbeitung, Mehrfachbeschäftigung, un‐ gesunde Lebensweise, mangelnde Vereinbarkeit von Beruf und Familie, sinkende Löhne und Zeitmangel. Standing (2011, 10) definiert sieben Formen der Arbeitssicherheit: ● Sicherheit auf dem Arbeitsmarkt: ● die Sicherheit, dass jeder eine angemessene Arbeit finden und ausführen kann; 9.4 Arbeit in der Kulturindustrie 371 <?page no="372"?> ● Beschäftigungssicherheit: ● die Sicherheit, dass man seinen Arbeitsplatz behalten kann und nicht willkürlich entlassen wird; ● Arbeitsplatzsicherheit: ● die Sicherheit, dass man seine Rolle und Position am Arbeitsplatz in Bezug auf Status, Einkommen usw. verbessern kann; ● Sicherheit der Arbeit: ● sichere und soziale Arbeitsbedingungen (Sicherheit am Arbeitsplatz, Begrenzung der Arbeitszeit, Schutz der Gesundheit der Arbeitenden, Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben [Work-Life-Balance], usw.); ● Sicherheit bei der Reproduktion von Fähigkeiten: ● Möglichkeiten für die Arbeitenden, ihre Fähigkeiten zu entwickeln; ● Einkommenssicherheit: ● die Sicherheit, dass man ein angemessenes Einkommen erhält, in der Form von Mindestlohnregelungen, sozialstaatlichen Mechanismen, pro‐ gressiver und umverteilender Besteuerung, die Ungleichheiten verrin‐ gert, usw.; ● Sicherheit der Repräsentation: ● die Freiheit der Arbeitenden, sich kollektiv zu organisieren (Gewerk‐ schaften, Streikrecht usw.). Seit Mitte der 1970er Jahre hat der Neoliberalismus in vielen Ländern zu einer Flexibilisierung der Arbeitsmärkte und zum Verlust der wirtschaft‐ lichen Sicherheit in einer oder mehreren der sieben Dimensionen der Arbeitssicherheit geführt. „The number of people in insecure forms of labour multiplied” (Standing 2011, 6). uDie Motivation für kulturelle Arbeit ist „die Erwartung einer günstigen Gelegenheit zur Verbindung von Konzeption und Ausführung, die Vollen‐ dung von so etwas wie nicht-entfremdeter Arbeit“ (McGuigan 2010, 326). Der Mensch hat den Wunsch nach selbstbestimmter Arbeit, in der er seine Kreativität zum Ausdruck bringen kann. Eine Form der Arbeitssicherheit, die in den Dimensionen von Standing fehlt, ist die Arbeitszufriedenheit. Der Mensch hat den Wunsch, eine Arbeit zu verrichten, die er als selbst‐ verwirklichend empfindet. Arbeitszufriedenheit hat mit der subjektiven Be‐ wertung des Vorhandenseins oder Nichtvorhandenseins der Standing‘schen Dimensionen zu tun, aber auch mit der Bewertung des Arbeitsinhalts, der Arbeitstätigkeiten und der sozialen Beziehungen bei der Arbeit. 372 9 9 Medienarbeit: Kulturelle Arbeit und Arbeit in der Medienindustrie <?page no="373"?> Lohndrückerei Die Hauptursachen für die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen sind die neoliberale Strukturierung der Gesellschaft, die Lohndrückerei, die Kom‐ modifizierung von allem, einschließlich sozialer Sicherheit und Wohlfahrt, die Individualisierung sozialer Risiken, die Privatisierung, die Deregulierung des Arbeitsrechts, die Liberalisierung der Märkte, die Globalisierung des Kapitalismus, die mit der Verlagerung von Arbeitsplätzen und dem Wett‐ bewerb der Nationalstaaten einhergegangen ist, Steuererleichterungen für Konzerne, die Schwächung der Gewerkschaften, die Finanzialisierung der Wirtschaft, Wirtschaftskrisen, die Austeritätspolitik nach der Rettung der Banken durch die Staaten usw. „The neoliberal switch to ‘post-Fordism’ is characterised by the disaggregation of vertically integrated major cor‐ porations, outsourcing, reduction in the social wage and faster response to consumer trends facilitated by computerized information systems. The balance of power in the labour bargain between capital and labour shifted inexorably from the latter to the former and working life became much less secure and more precarious” (McGuigan 2010, 328). Land 2022 2019 2013 2007 2000 1990 1980 1970 1960 EU (15 Länder) 55,7 56,3 56,1 56,6 55 56,3 58,2 63,6 61,4 Belgien 58,4 59,1 59 62 59 60,5 60,8 66,2 55,4 Bulgarien 58,6 58,4 59,4 54 43,8 49,4 - - - Tschechien 48,7 51,8 51,6 49,5 47,2 45,9 - - - Dänemark 52,6 54,2 54,7 55,1 55,6 53,9 57,9 61,3 60,9 Deutschland 58,2 58,9 58,2 57,5 54,2 59 58,8 63,7 61,1 Irland 30 33 33,8 47,1 48,7 47,5 57,1 67,3 64,6 Griechenland 53,4 51,9 51,8 52,3 51,3 49,5 54,8 53 56,9 Spanien 53 53,2 52,7 54,1 55,2 58,8 60,3 66,3 63,7 Frankreich 56,9 57,3 58,3 58,4 55,4 55,9 58,3 65,9 62,6 Italien 53,2 52,6 52,4 53,1 51,9 50,9 58,4 63,4 62 Niederlande 56,7 57,4 57,3 58,9 55,6 59,3 62,3 68,7 65,8 9.4 Arbeit in der Kulturindustrie 373 <?page no="374"?> Land 2022 2019 2013 2007 2000 1990 1980 1970 1960 Österreich 54,3 55,1 54,6 55 52,4 56 59,1 63,9 60,6 Polen 49,5 49,3 49,3 47,8 48,2 56,7 - - - Portugal 53,4 52,1 52,1 53,6 56,1 60,2 55,5 67,3 73,2 Finnland 50,9 52,5 52,4 55,9 51,8 52,9 62,2 63,1 62,2 Schweden 48,7 49,7 49,8 50,5 47,6 47,8 51,3 54,8 52,7 Vereinigtes Kö‐ nigreich 57,8 58,6 57,6 57,9 58,7 55,8 56 60 61,1 Türkei 46,9 48,9 46,9 43,3 42,3 55 72,6 - - USA 56,3 56,6 56,5 56,2 58,6 61,3 60,8 61,7 63,2 Japan 58,7 57,7 57,2 57,2 58,2 61,5 62,7 71 - Kanada - 55,7 55,3 55,6 54,9 55,9 59 58,6 59,9 Norwegen 50,9 51,4 48,8 47,9 45 45,8 53,1 54,6 58 Mexiko - 38,5 37,1 40,3 38,4 39,5 - - - Korea - 61,6 61,1 61 64,2 - - - - Australien - 53,1 52,1 53,4 54,7 57,1 59,1 63,6 59,8 Neuseeland - 53,5 52,6 50,2 51,5 47,9 52,4 - - Tabelle 9.6: Bereinigte Lohnquote in Prozent des BIP zu aktuellen Marktpreisen, Daten‐ quelle: AMECO, abgerufen am 9. November 2021 Tabelle 9.6 zeigt die Entwicklung der Lohnquote für eine Reihe von Ländern. Die Lohnquote ist der Anteil der Gesamtsumme der Löhne am Bruttoin‐ landsprodukt. Die Daten zeigen, dass die Lohnquote in den letzten Jahrzehn‐ ten deutlich zurückgegangen ist. Die sinkende Lohnquote ist die Folge der neoliberalen Lohndrückerei, d. h. der Politik, die Löhne im Verhältnis zu den Gewinnen zu senken. - Zehn Merkmale der Arbeit in der Kultur- und Digitalbranche Rosalind Gill (2002, 2011) analysierte die Arbeit in der Branche der neuen Medien. Sie führte Interviews mit Programmierer: innen, 374 9 9 Medienarbeit: Kulturelle Arbeit und Arbeit in der Medienindustrie <?page no="375"?> Interaktionsdesigner: inne: n, Redakteur: inn: en, Werbetexter: inne: n, Ge‐ schäftsführer: inne: n, Künstler: inne: n, Illustrator: inn: en, Forscher: inne: n, Content-Manager: inne: n, Konzeptentwickler: inne: n, Software-Dokumen‐ tenschreiber: inne: n, Berater: inne: n, Projektmanager: inne: n und Web-Ent‐ wickler: inne: n in Österreich, Finnland, Irland, den Niederlanden, Spanien und dem Vereinigten Königreich. Sie nennt zehn Hauptmerkmale der Arbeit in der Digital- und Kulturin‐ dustrie: 1. Liebe zur Arbeit: „Es ist, als würde man für ein Hobby bezahlt“ (Gill 2011, 253). 2. Unternehmertum: Kultur- und Digitalarbeitende haben oft das Bestre‐ ben, innovativ zu sein, etwas Neues zu schaffen und Pionierarbeit zu leisten. 3. Kurzfristige, prekäre, unsichere Arbeit: Eine befragte Person sagte: „Das ist unsicher. Vielleicht suche ich mir einen Job für zwei Tage in der Woche, um die Miete zu bezahlen. Aber eigentlich bin ich zu beschäftigt dafür“ (Gill 2011, 253). Es gibt „keinen Zugang zu Sozialleistungen, Ver‐ sicherungen und Rentensystemen und damit einhergehend die Sorge, krank zu werden, einen Unfall zu haben oder bis ins hohe Alter arbeiten zu müssen“ (Gill 2011, 253). Eine andere befragte Person berichtete: „Es ist sehr intensiv und ich habe nicht genug Zeit, um mich auszuruhen. Denn es geht immer weiter. Und wenn man nichts für sich selbst plant, ruft jemand an und sagt, dass man da sein muss und da. Du kannst nicht nein zu einem Job sagen. Denn man weiß nicht, wann der nächste Job kommt“ (Gill 2011, 254). 4. Niedrige Löhne: In der Digital- und Kulturindustrie herrschen ein starker Wettbewerb und „Preisdruck“ (Gill 2011, 254). 5. Kultur der langen Arbeitszeiten: Freiberufler: innen in dieser Bran‐ che arbeiten regelmäßig zwischen 60 und 80 Stunden pro Woche. „Viele Projekte hatten extrem knappe Fristen (denen die Arbeitenden zustim‐ men mussten, um den Auftrag zu erhalten), die eine intensive Arbeit rund um die Uhr für einen kurzen Zeitraum erforderten, auf den dann mehrere Wochen ohne jegliche (neue Medien-)Arbeit folgen konnten. Dieses Muster war die Norm für die Arbeitenden in dieser Studie und wurde an anderer Stelle als ‚bulimische Karriere‘ beschrieben“ (Gill 2002, 83-84). 9.4 Arbeit in der Kulturindustrie 375 <?page no="376"?> 6. Mithalten: Wissen, Normen und Technologie ändern sich ständig, und man muss ständig mit diesen Änderungen Schritt halten und sich über sie informieren, was zeitaufwändig ist. 7. DIY-Lernen: Das Erlernen neuer Fähigkeiten erfolgt meist autodidak‐ tisch. 8. Informalität: Die Arbeit in diesen Branchen ist von einem spiele‐ rischen Ethos geprägt. Die Suche nach Arbeit und Kunden basiert auf Freund: inn: en und persönlichen Netzwerken, „Menschen, die man auf Konferenzen, Partys, Getränkeabenden, Freunden von Freunden, Ex-Kollegen und so weiter trifft“ (Gill 2011, 257). Die Interviewpart‐ ner: innen berichteten, dass Menschen in der Digital- und Kulturindus‐ trie das Gefühl haben, dass Vernetzung eine Verpflichtung ist, eine obligatorische Sozialität. 9. Exklusion und Ungleichheit: Es gibt Ungleichheiten im Zusammen‐ hang mit Geschlecht, Alter, Klasse, Rasse, ethnischer Herkunft und Behinderung. Eine Befragte sagte zum Beispiel: „Wir versuchen, ein Baby zu bekommen, und dann werden wir sehen. Ich möchte auf jeden Fall weiterhin arbeiten und mein eigenes Einkommen haben. Ich hoffe, es wird nicht weniger werden. Ich denke, ich werde das Baby in die Krippe bringen. Aber ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung. Ich habe ein bisschen Angst und ich glaube, für Frauen wie mich, die ihr eigenes Unternehmen haben, ist nichts geregelt“ (Gill 2011, 258). Es ist „extrem schwierig für eine Frau, die Kindererziehung mit den bulimischen Mustern der neuen Medienkarriere zu verbinden“ (Gill 2002, 84). Eine andere befragte Person sagte: „Ich habe eine Beziehung zu jemandem. Sie ist auch an dieser Arbeit beteiligt. Ich weiß nicht, ob wir Kinder haben werden. Der Gedanke daran macht mir eine Heidenangst. Denn Überarbeitung ist einfach die Realität dessen, was ich tue, wie alle Menschen in den neuen Medien. Schreckliche Überarbeitung ist die Realität. Wie viele Stunden pro Woche? Oh Mann, die Anzahl der Stunden, die ich pro Woche für diesen Job aufwenden muss - das entspricht locker zwei Vollzeitjobs. Und ich meine, ich arbeite mit einem sehr guten Planer zusammen, und es fällt mir verdammt schwer, die Stunden einzuhalten. Davor habe ich in meinem Privatleben am meisten Angst. Die Auswirkungen, keine Zeit für ein Kind zu haben oder… davor habe ich am meisten Angst. Wenn ich ein paar Kinder hätte, wäre das ein hartes Leben“ (Gill 2011, 258). 376 9 9 Medienarbeit: Kulturelle Arbeit und Arbeit in der Medienindustrie <?page no="377"?> 10. Keine Zukunft: Arbeitende in der Digitalindustrie können oft nicht darüber nachdenken, wie ihr Leben in fünf Jahren aussehen wird, weil sie so sehr mit ihrer Arbeit in der Gegenwart beschäftigt sind: „Bei der Arbeit im Bereich der neuen Medien gibt es viel zu beachten - vor allem, aber nicht nur - für diejenigen, die freiberuflich tätig sind oder ein Kleinstunternehmen gründen. Man muss sich fortbilden, auf dem Laufenden bleiben, eigene Arbeit finden oder schaffen, seine Fortschritte überwachen, sich mit anderen vergleichen, voraussehen, was als Nächstes kommt, den eigenen Ruf wahren, Termine einhalten, unabhängig von den Kosten, die sie für den Körper oder die Beziehungen mit sich bringen, sich auf Unvorhergesehenes wie Krankheit, Verletzung oder Alter vorbereiten, Kontakte knüpfen, Netzwerke aufbauen und soziale Kontakte knüpfen, und das alles in einer Atmosphäre, in der Erfolg oder Misserfolg ganz individuell verstanden werden. Es gibt keine Zeit, in der man abschalten kann, denn das ganze Leben ist zu einer ‚sozialen Fabrik‘ (Tronti 2019) geworden, zu einer Arbeitsmöglichkeit. Wen auch immer man trifft, wo auch immer man hingeht - die Hochzeit eines Freundes, ein Klassentreffen, ein Fahrradurlaub mit Freunden - stellt eine mögliche Gelegenheit dar. Es gibt kein ‚Außerhalb‘ der Arbeit, wie es einer unserer Gesprächspartner ausdrückte: ‚Das Leben selbst ist ein Spielfeld‘“ (Gill 2011, 260). Hesmondhalgh und Baker (2011) bestätigten die Ergebnisse der Arbeit von Rosalind Gill in Interviews mit 63 Kreativarbeitenden in den Bereichen Fernsehen, Musik und Zeitschriftenverlagen, die die Ambivalenz vieler Arbeiten in der Kreativbranche als prekär, aber auch als wertvoll erachten, weil sie oft Spaß, Kontakte, Ansehen, Kreativität und Selbstbestimmung mit sich bringen. Boltanski und Esquerre (2019, Kapitel 14) analysierten Daten für Kul‐ turarbeitende in Frankreich. Dazu zählen sie zum Beispiel visuelle Künst‐ ler: innen, Bühnenberufe, Journalismus, Verlagsangestellte, Autor: inn: en, Übersetzer: innen, Architekturberufe, Archiv- und Dokumentationsarbeit sowie Kunstdozent: inn: en. In diesem Bereich gibt es relativ viele Freiberuf‐ ler: innen. Die Analyse zeigt, dass diese Arbeitenden im Durchschnitt ein Einkommen haben, das 12 Prozent niedriger ist als jenes von Menschen mit vergleichbarem Ausbildungsstand (z. B. Ingenieure/ Ingenieurinnen). Boltanski und Esquerre betonen, dass viele Kulturschaffende es mit Auf‐ wand schaffen, einen Lebensstandard zu erreichen, der „sich gar nicht so 9.4 Arbeit in der Kulturindustrie 377 <?page no="378"?> sehr von dem Lebensstandard unterscheidet, den sie erreicht hätten, wenn sie eine klassische Laufbahn eingeschlagen hätten“ (595). Dazu gehört unter anderem, dass sie neben der kreativen Inhaltsproduktion auch Management‐ kompetenzen brauchen, um sich selbst zu managen und zu vermarkten, was zeitaufwendig ist. „Diese Tätigkeiten sind unerlässlich, um sich über neue Strömungen und neue Projekte zu informieren, Verträge auszuhandeln, die Funktionsweise der Finanzierungsmodelle zu beherrschen, um sich einen Namen zu machen (nicht zuletzt über die sozialen Netzwerke) und um […] in einer Situation starker Konkurrenz den eigenen Wert zur Geltung zu bringen“ (596). Freiberufler: innen haben es schwer, sich gewerkschaftlich zu organisie‐ ren, da sie individualisiert arbeiten und zugleich Unternehmer: in und Ar‐ beiter: in sind, wodurch nicht unmittelbar klar ist, an wen Lohnforderungen gestellt werden können. Antworten auf diese Probleme sind zum Beispiel die Gründung von Gewerkschaftsunterorganisationen für Freiberufler: innen, die Forderung eines garantierten Grundeinkommens für Kulturschaffende und die Gründung von Kulturkooperativen. - Die EA-Ehefrau und die Arbeit in der Videospielindustrie Nick Dyer-Witheford und Greig de Peuter (2006) legen eine Fallstudie über die Arbeit in der Videospielproduktion vor. Electronic Arts ist eines der größten und profitabelsten Videospielunternehmen der Welt. Das Unter‐ nehmen veröffentlicht Spiele wie Tetris, Die Sims, SimCity, FIFA Soccer, Command & Conquer, Medal of Honor, Star Wars usw. Im Jahr 2004 wurde ein anonymer offener Brief der Ehefrau eines Softwareentwicklers, der für Electronic Arts arbeitete, veröffentlicht. Die „EA-Ehefrau” („EA Spouse“), wie sie in der Öffentlichkeit genannt wurde, schrieb: „Die derzeitige Pflichtarbeitszeit beträgt von 9 bis 22 Uhr - sieben Tage die Woche - mit gelegentlicher Freistellung am Samstagabend bei guter Führung (um 18: 30 Uhr). Das ergibt im Durchschnitt eine Arbeitswoche von fünfundachtzig Stunden. […] Der Stress fordert seinen Tribut. Nach einer bestimmten Anzahl von Arbeitsstunden werden die Augen unscharf; nach einer bestimmten Anzahl von Wochen mit nur einem freien Tag beginnt sich die Müdigkeit zu häufen und exponentiell zu steigern. […] Und der Clou: Für die Ehre dieser Behandlung erhalten EA-Angestellte a) keine Überstunden; b) keinen Freizeitausgleich! (‚Aus‐ 378 9 9 Medienarbeit: Kulturelle Arbeit und Arbeit in der Medienindustrie <?page no="379"?> 52 https: / / boards.fool.com/ letter-from-an-ea-spouse-long-21588406.aspx? sort=recommen dations, abgerufen am 30. November 2021. gleichszeit‘ ist der Freizeitausgleich für Überstunden - alle während einer Krise geleisteten Stunden werden zu freien Tagen, nachdem das Produkt ausgeliefert wurde); c) keine zusätzlichen Krankheits- oder Urlaubstage. […] Niemals sollte es eine Option sein, seine Mitarbeiter mit Neunzig-Stunden-Wochen zu bestrafen; in jeder anderen Branche würde das betreffende Unternehmen so schnell aus dem Geschäft verklagt werden, dass seine Aktien nicht einmal Zeit hätten, in den Keller zu gehen. […] Der Jahresumsatz von EA beträgt etwa 2,5 Milliarden Dollar. Dieses Unternehmen ist nicht knapp bei Kasse; seine Arbeitspraktiken sind unentschuldbar. […] Wenn ich EA-CEO Larry Probst ans Telefon bekäme, würde ich ihn ein paar Dinge fragen. ‚Wie hoch ist Ihr Gehalt? ‘ wäre nur eine Frage der Neugierde. Das Wichtigste, was ich wissen möchte, ist, Larry: Ihnen ist doch klar, was Sie Ihren Mitarbeitern antun, oder? Und ist Ihnen klar, dass sie Menschen SIND, mit körperlichen Grenzen, einem Gefühlsleben und Familien, oder? Mit Stimmen und Talenten und Sinn für Humor und all dem? Dass Sie, wenn Sie unsere Männer, Frauen und Kinder neunzig Stunden pro Woche im Büro halten und sie erschöpft und gefühllos und frustriert über ihr Leben nach Hause schicken, nicht nur sie verletzen, sondern alle um sie herum, alle, die sie lieben? Wenn Sie Ihre Gewinnkalkulationen und Kostenanalysen durchführen, wissen Sie, dass ein großer Teil dieser Kosten in roher Menschenwürde bezahlt wird, oder? “ 52 Auf der Grundlage von Interviews mit Videospielarbeitern stellen Dyer-Wi‐ theford und de Peuter (2006) vier Merkmale einer solchen Arbeit fest: Vergnügen (enjoyment), Exklusion, Ausbeutung (exploitation) und Exodus: 1. Vergnügen (Enjoyment): Digitale Arbeit erfordert „[K]reativität, Ko‐ operationsbereitschaft und Coolness“. (Dyer-Witheford & de Peuter 2006, 603). Die befragten Personen sagten: „Wir haben sehr wenig Hierarchie“ (604); „Es gibt sehr viel Teamarbeit. Man schließt wirklich gute Freundschaften“ (604); „Keiner unserer Leute würde jemals in einem Anzug zu einem Meeting gehen“ (604); „Wenn ich in einer Bar bin und sich jemand dafür interessiert und ich sage, dass ich [in der Computerspieleindustrie] arbeite, sagen sie: ‚Wow, das ist cool‘“ (605). Die Arbeitenden beschreiben die Tätigkeit in der Videospielindustrie als spielerisch, als Spielarbeit. 9.4 Arbeit in der Kulturindustrie 379 <?page no="380"?> 2. Exklusion (Exclusion): Statistiken und Studien zeigen, dass die Vide‐ ospielindustrie „eine Industrie ist, die sich um Spiele dreht, die von Männern für Männer gemacht werden“ (606). 3. Ausbeutung (Exploitation): Die meisten Videospielarbeiter: innen ar‐ beiten mehr als 40 Stunden pro Woche. Es gibt auch Zeiten der „Crunch Time“, in denen 65-80 oder mehr Stunden pro Woche üblich sind. Das Problem sind die engen Fristen und dass die Arbeit projektorientiert ist. Bei einem Softwareprojekt gibt es festgelegte Meilensteine. Eine befragte Person sagte: „Es gibt eine Menge Druck, wenn man eine Frist vor Augen hat und etwas einfach funktionieren muss, und das tut es nicht, aber man muss es einfach bis zum nächsten Dienstag zum Laufen bringen. Das führt dazu, dass man wirklich lange arbeitet“ (608). In den USA, wo Electronic Arts seinen Hauptsitz hat, sieht der Fair US Labor Standards Act (Abschnitt 13 (a) 17) eine Ausnahmeregelung für Compu‐ tersystemanalytiker: innen, Software-Ingenieure und -Ingenieurinnen und ähnliche Arbeitnehmer: innen vor, die nicht überbezahlt werden. Andere Interviewpartner: innen sagten: „Sie werben damit, Sie wissen schon, ‚Hey, wir haben hier eine Couch. Du kannst hier die ganze Nacht schlafen … Du bist neunzehn‘“ (610); „Jugendlicher Enthusiasmus, ein Zuhause am Arbeitsplatz, Aktienoptionen, die Risiken des Ausstiegs, Machogehabe und eine coole Unternehmenskultur - das sind einige der sanften Zwangselemente der extremen Arbeitskultur von Videospielun‐ ternehmen“ (611). Es gibt einen „erzwungenen Workaholismus“ (611). 4. Exodus: Ein erheblicher Teil der Arbeitenden hält den Arbeitsdruck auf Dauer nicht aus und gibt daher die Arbeit auf und verlässt die Branche. Die „EA Spouse“ ist Erin Hoffman, eine amerikanische Videospielentwick‐ lerin und Bloggerin (https: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Erin_Hoffman). Ihr Ver‐ lobter Leander Hasty war an einer Klage gegen Electronic Arts beteiligt, in der Software-Ingenieure und -Ingenieurinnen erfolgreich eine Entschä‐ digung für unbezahlte Überstunden forderten. Hoffman kam zu dem Schluss, dass „das Einzige, was die Software-Verleger: innen zum Einlenken bewegen wird, die gewerkschaftliche Organisierung ist“ (Dyer-Witheford & de Peuter 2006, 613). Die Diskussion zeigt, dass in der Kultur- und Digitalarbeit oft eine Vielzahl von Formen der Entfremdung zu beobachten ist. Ein erheblicher Teil der Kulturschaffenden genießt den Inhalt ihrer Arbeit und ist mit prekären Arbeitsbedingungen konfrontiert. Sie sind gleichzeitig glücklich 380 9 9 Medienarbeit: Kulturelle Arbeit und Arbeit in der Medienindustrie <?page no="381"?> und unglücklich. Sie verrichten Arbeit, die sie lieben, unter Bedingungen, die man eigentlich hassen müsste. Kulturgenossenschaften Welche Alternativen gibt es zu prekärer Arbeit? Kulturschaffende können und sollten sich über die Veränderungen und Realitäten in der Wirtschaft informieren, genau beobachten, was die Arbeitgeber: innen tun, Kampagnen zur Stärkung der Arbeitnehmer: innenrechte unterstützen, zivilgesellschaft‐ liche Gruppen, die die Arbeitsbedingungen verbessern wollen, unterstützen, sich gewerkschaftlich organisieren und für bessere Arbeitsbedingungen kämpfen. Einige Kulturschaffende haben dazu Kulturgenossenschaften ge‐ gründet. Genossenschaften werden auch als selbstverwaltete Betriebe, Ko‐ operativen oder Kollektive bezeichnet. „Co-operatives are member-owned and controlled democratic organisations” (Co-operatives UK 2019, 2). In einem selbstverwalteten Betrieb sind die Arbeitenden gemeinsam die Eigen‐ tümer: innen des Unternehmens und treffen gemeinsam Entscheidungen. Genossenschaften stehen in demokratischem Besitz und werden demokra‐ tisch verwaltet. Sie werden daher auch als selbstverwaltete Unternehmen bezeichnet. Eine Kulturgenossenschaft ist eine Genossenschaft, die im Kulturbereich tätig ist (siehe Sandoval 2016a, 2016b, 2018). Marisol Sandoval (2016, 2018) untersuchte Kulturkooperativen, d. h. Ar‐ beitergenossenschaften im Kultursektor. Kulturgenossenschaften sind eine Alternative zu kapitalistischen Organisationsmodellen. Bei ihnen werden „Eigentum und Entscheidungsmacht demokratisiert“ (Sandoval 2016a, 62). Kulturgenossenschaften operieren in einer risikoreichen, unberechenbaren Branche, so dass die Beschäftigten in einer Genossenschaft oft „am Ende sehr wenig oder gar nichts besitzen“ (64). Sandoval argumentiert daher, dass Genossenschaften als Teil sozialer Bewegungen für Reformen zur Überwindung prekärer Arbeit agieren sollten. Im Kultursektor müsste dies bedeuten, politische Forderungen zu stellen, wie „die strengere Besteue‐ rung von Unternehmensgewinnen, um den Reichtum umzuverteilen, ein garantiertes Grundeinkommen, öffentliche Zuschüsse für die Gründung von Genossenschaften und die Erhöhung der öffentlichen Mittel für den Kultursektor“ (68). De Peuter, Dreyer, Sandoval & Szaflarska (2020) führten eine Umfrage un‐ ter Kulturgenossenschaften durch, an der 106 Genossenschaften in Kanada, dem Vereinigten Königreich und den USA teilnahmen (De Peuter, Dreyer, 9.4 Arbeit in der Kulturindustrie 381 <?page no="382"?> Sandoval und Szaflarska 2020; Dreyer, de Peuter, Sandoval und Szaflarska 2020). Sie berichten: „55,5 % der befragten Genossenschaften gaben an, dass ihre Vergütung dem Branchendurchschnitt entspricht oder ihn übertrifft. Dennoch gaben 43,6 % der Genossenschaften an, dass eine wettbewerbsfähige Entlohnung für sie eine Herausforderung darstellt. Die fünf wichtigsten Vorteile der Arbeit in einer Genossenschaft waren: unterstützende Arbeitsbeziehungen, ein freundliches Arbeitsumfeld, Möglichkeiten zur kreativen Selbstentfaltung, eine Arbeitskul‐ tur, die Teamarbeit und Kooperation fördert, und eine geringe Hierarchie am Arbeitsplatz. Über 90 % der befragten Genossenschaften stimmten zu, dass die demokratische Entscheidungsfindung in ihrer Genossenschaft eine Priorität ist. […] Die Befragten waren sich einig, dass die Zahl der neuen Genossenschaften vor allem dadurch erhöht werden kann, dass die Öffentlichkeit über Genossenschaf‐ ten aufgeklärt wird und der Zugang zu Finanzmitteln verbessert wird“ (Dreyer, de Peuter, Sandoval, & Szaflarska 2020, 8). 9.5 Arbeit und die COVID-19-Krise Raum-zeitliche Aspekte der Veränderungen der Arbeit im Kontext von COVID-19 Basierend auf der Raumtheorie des französischen Philosophen Henri Le‐ febvres (1974/ 1991) hat der kritische Theoretiker David Harvey (2005) eine Typologie des sozialen Raums ausgearbeitet (siehe Tabelle 9.7). Harvey verwendet Lefebvres Unterscheidung zwischen wahrgenommenem Raum, konzipiertem Raum und gelebtem Raum und trifft eine Unterscheidung zwi‐ schen dem physischen Raum, Repräsentationen des Raumes und Räumen der Repräsentation. Harvey fügt zu Lefebvres Theorie die Unterscheidung zwischen absolutem, relativem und relationalem Raum hinzu. Räume sind absolut, da sie Orte mit physischen Grenzen sind. Sie sind relativ, da sich in ihnen Objekte befinden, die einen gewissen Abstand voneinander haben. Und sie sind relational, da diese Objekte zueinander in Beziehungen stehen. In der Gesellschaft produzieren und reproduzieren die Menschen den sozialen Raum durch eine Dialektik von sozialen Praktiken und sozialen Strukturen. Die Zellen in Tabelle 9.7 beschreiben spezifische Aspekte des sozialen Raumes. 382 9 9 Medienarbeit: Kulturelle Arbeit und Arbeit in der Medienindustrie <?page no="383"?> - Physischer Raum (erfah‐ rener Raum) Repräsentatio‐ nen des Raumes (konzipierter Raum) Räume der Reprä‐ sentation (gelebter Raum) Absoluter Raum physische Orte Symbole, Karten und Pläne physi‐ scher Orte Orte als soziale Räume, in denen die Menschen leben, arbeiten und kommunizieren Relative(r) Raum(zeit) Menschen in ei‐ nem physischen Ort von Menschen an physischen Orten benutzte Symbole und produzierte Be‐ deutungen Menschen als soziale Akteure, die in sozialen Rollen handeln Relationale(r) Raum(zeit) soziale Bezie‐ hungen der Menschen in ei‐ nem physischen Raum Sprache als soziale und gesellschaftli‐ che Struktur kommunikative Prakti‐ ken, die soziale Bezie‐ hungen, Sozialität und soziale Räume produ‐ zieren und reproduzie‐ ren Tabelle 9.7: David Harveys (2005) Typologie des sozialen Raums Tabelle 9.8 verdeutlicht, wie soziale Räume in der Coronavirus-Krise verän‐ dert und organisiert werden. In der Coronavirus-Krise sind die Menschen zum großen Teil auf den physischen Raum ihres Zuhauses beschränkt, wozu bestimmte Organisati‐ onsstrategien benötigt werden, sodass das Alltagsleben von zu Hause aus organisiert werden kann. Die Menschen erfahren, konzipieren, leben und produzieren dadurch auch die soziale Raumzeit auf Arten und Weisen, die zur Konvergenz sozialer Räume in der Supra-Raumzeit des Zuhauses führen. In der Coronavirus-Krise spielen Kommunikationstechnologien eine entscheidende Rolle bei der Organisation des Alltagslebens von zu Hause.- 9.5 Arbeit und die COVID-19-Krise 383 <?page no="384"?> - Physikalischer Raum (erfahre‐ ner Raum) Repräsenta‐ tionen des Raumes (konzipier‐ ter Raum) Räume der Reprä‐ sentation (geleb‐ ter Raum) Absoluter Raum das Zuhause als Supra-Ort - Pläne und Stra‐ tegien, wie der Supra-Ort des Zuhauses für die Organisa‐ tion des All‐ tagslebens ver‐ wendet wird das Zuhause als der dominante soziale Raum und als der so‐ ziale Supra-Ort, von dem aus die Menschen gleichzeitig multiple Aspekte ihres Lebens und ihrer Arbeit organisieren, Konver‐ genz absoluter Räume am Supra-Ort des Zu‐ hauses, Konvergenz der sozialen Rollen der Menschen am Supra-Ort des Zuhau‐ ses Relative(r) Raum(zeit) die Menschen halten sich zum großen Teil an einem Ort, näm‐ lich ihrem Zuhause, auf von Menschen am Supra-Ort des Zuhauses verwendete Symbole und produzierte Be‐ deutungen Konvergenz der sozia‐ len Rollen der Men‐ schen im Supra-Ort des Zuhauses Relationale(r) Raum(zeit) über physische Distanzen hinweg mit der Hilfe von Kommunikati‐ onstechnologien von zuhause aus organi‐ sierte soziale Bezie‐ hungen Sprache als so‐ ziale und ge‐ sellschaftliche Struktur Konvergenz der kom‐ munikativen Prakti‐ ken der Menschen im konvergenten Raum und unter Be‐ dingungen der kon‐ vergierenden Zeit des Zuhauses, Ver‐ mittlung der Konver‐ genz der Raumzeit durch Kommunikati‐ onstechnologien Tabelle 9.8: Sozialer Raum in der Coronavirus-Krise Unter dem Alltagsleben sind die sozialen Praktiken innerhalb der Totalität der Gesellschaft zu verstehen (Lefebvre 2002, 31). Das Alltagsleben ist eine „Zwischenebene und vermittelnde Ebene“ der Gesellschaft (45). Lefebvre 384 9 9 Medienarbeit: Kulturelle Arbeit und Arbeit in der Medienindustrie <?page no="385"?> identifiziert drei Dimensionen des Alltagslebens: natürliche Formen der Notwendigkeit, der ökonomische Bereich der Aneignung von Objekten und Gütern sowie die Kultur (62). Lefebvre erachtet also die Natur, die Wirtschaft und die Kultur als die drei wichtigen Bereiche des Alltagslebens. Es fehlt dabei der Bereich der Politik, in dem kollektive Entscheidungen getroffen werden, die für alle Menschen gelten und die Form von Regeln annehmen. Die Kritik des Alltagslebens analysiert, wie die Menschen leben, „wie schlecht sie leben oder wie sie überhaupt nicht leben“ (18). Lefebvre argumentiert, dass in Zeiten des grundlegenden gesellschaftlichen Wandels das „Alltagsleben ausgesetzt, erschüttert oder verändert“ (109) wird. Das Coronavirus hat die Praktiken, Strukturen und Routinen des Alltagslebens ausgesetzt, erschüttert und seine Reorganisation notwendig gemacht. Das Erlebte (le vécu) Das Leben (le vivre) Individuum Gruppe Erfahrung, Wissen, Tun Kontext, Horizont Praktiken Strukturen Tabelle 9.9: Lefebvres Unterscheidung zwischen dem Erlebten und dem Leben (Quelle: Lefebvre 2002, 166, 216-218) Lefebvre unterscheidet zwischen dem Erlebten (le vécu) und dem Leben (le vivre) als zwei Ebenen des Alltagslebens (siehe Tabelle 9.9). Abbildung 9.4 veranschaulicht ein Modell des Alltagslebens. Auf der Ebene des Erlebten produzieren die Menschen durch kommunikative Prak‐ tiken soziale Objekte. Sie tun dies unter den Bedingungen des Lebens, d. h. unter strukturellen Bedingungen, die Praktiken, Produktion und Kommunikation der Menschen ermöglichen und beschränken. Die Ebene des Lebens besteht aus einem Zusammenspiel von sozialen Strukturen, sozialen Systemen und sozialen Institutionen. Alle Strukturen, Systeme und Institutionen haben wirtschaftliche, politische und kulturelle Dimensionen. In vielen sozialen Systemen ist eine dieser Dimensionen dominant, sodass wir zwischen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Strukturen/ Sys‐ temen/ Institutionen unterscheiden können. Auf der Ebene des Erlebten stehen die Menschen durch kommunikative Praktiken in Beziehung zuein‐ ander. Diese Kommunikationspraktiken bilden die Grundlage für die Pro‐ duktion, Reproduktion und Differenzierung wirtschaftlicher, politischer und 9.5 Arbeit und die COVID-19-Krise 385 <?page no="386"?> kultureller Strukturen/ Systeme/ Institutionen, die menschliche Praktiken beeinflussen. In jeder Gesellschaft gibt es eine Dialektik des Erlebten und des Lebens. Dies ist eine Dialektik menschlicher Subjekte und gesellschaftlicher Objekte. Abbildung 9.4: Alltagsleben und Alltagskommunikation Abbildung 9.5 zeigt die Transformation des Alltagslebens und der Alltags‐ kommunikation in Zeiten der Coronavirus-Krise. Der Mensch isoliert sich und vermeidet daher direkte kommunikative Beziehungen. Dieser Umstand wird auf der Ebene des Lebens durch abgeschlossene Individuen und kleine abgeschlossene Gruppen visualisiert. Dichte Netzwerke der direkten Kommunikation und der direkten sozialen Beziehungen werden vermieden. Auf der strukturellen Ebene des Lebens sind die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Dimensionen nicht als getrennte Orte organisiert, sondern konvergieren tendenziell im sozialen System des Zuhauses, das die Form eines Supra-Ortes annimmt, von dem aus das wirtschaftliche, politische und kulturelle Leben aus der Ferne organisiert und strukturiert werden. Die Menschen verbringen den größten Teil ihrer Zeit in physischer Isolation zu Hause, von wo aus sie auf soziale Strukturen, Systeme und Institutionen aus 386 9 9 Medienarbeit: Kulturelle Arbeit und Arbeit in der Medienindustrie <?page no="387"?> der Distanz zugreifen und diese über Distanz hinweg organisieren, wozu sie diverse Kommunikationsmittel nutzen. Die Verwendung der primären Kommunikationsmittel, also der Kommunikation von Angesicht zu Ange‐ sicht, wird vermieden. Während die Menschen unter normalen Bedingungen die Wirtschaft, Politik und Kultur als separate soziale Systeme organisieren, zu denen sie in ihrem Alltag Zutritt haben, indem sie zu verschiedenen spezialisierten physischen Orten pendeln, werden in der Coronavirus-Krise spezialisierte physische Orte ausgesetzt. Die strukturellen gesellschaftlichen Rollen dieser Systeme bleiben erhalten. Eine Vielzahl von Menschen, die sich physisch zu Hause befinden, organisieren diese Systeme mit der Hilfe vermittelnder Kommunikationsformen über Distanzen hinweg. Menschen kommunizie‐ ren kaum von Angesicht zu Angesicht miteinander, sondern über vermit‐ telnde Kommunikationstechnologien. Abbildung 9.5: Alltagsleben und Alltagskommunikation in der Coronavirus-Krise - Empirische Studien Es gibt einige Faktoren, die die Arbeit während der COVID-19-Pandemie, in der das Homeoffice eine bedeutende Rolle spielte, prägten: 9.5 Arbeit und die COVID-19-Krise 387 <?page no="388"?> ● Im Homeoffice ist die räumliche Trennung von Arbeit und Freizeit aufgehoben. ● Arbeitszeit und Freizeit und soziale Rollen verschwimmen leichter. ● Wegzeiten und Meeting-Zeiten werden eingespart ● Wenn Kinder zu Hause sind, wie während den COVID-Lockdowns, kann es schwierig sein, Arbeit und Kindererziehung zu organisieren. ● Es besteht die Gefahr, dass Vorgesetzte erwarten, dass man allzeit im Homeoffice verfügbar ist. ● Technologien zu Hause sind oft nicht auf dem Standard des Arbeitsplat‐ zes und es kann unklar sein, wer für die Technologiekosten aufkommt. ● Es bedarf einer klaren Regulierung der Arbeitszeit und von Ressourcen‐ fragen für die Arbeit von zuhause aus. ● Gefühle der Isolation können stärker sein als bei traditioneller Arbeit. ● Viel Zeit vor dem Bildschirm kann anstrengend sein. Eine Studie der Arbeitsbedingungen in der COVID-19 Pandemie führte eine Onlineumfrage mit 5.748 Teilnehmenden aus 29 Ländern in Europa durch. Die folgende Tabelle zeigt die Aussagen, die die höchste Zustimmung erzielten. Es handelt sich um Vor- und Nachteile. Die Werte sind Durch‐ schnittswerte, wobei eine Likert-Skala verwendet wurde, bei der 1 starke Nichtübereinstimmung und 5 starke Zustimmung bedeutet. Eine Studie von Eurofound (2021), bei der 1.276 Manager befragt wurden, ergab, dass nur 20 % der Unternehmen ihren Heimarbeitenden während der COVID-19-Pandemie die Telekommunikations- und Betriebskosten erstat‐ teten. Wenn die Unternehmen diese Kosten nicht übernehmen, verlagern sie die ständigen Kapitalkosten für die Infrastruktur auf die Arbeitnehmer, die diese Kosten aus ihrem Gehalt bestreiten müssen, was eine Verringerung ihres Lohneinkommens bedeutet. Die Rechts- und Unternehmenspolitik sollte diesem Problem Rechnung tragen und sicherstellen, dass die Arbeit‐ geber: innen die Infrastrukturkosten der Heimarbeitenden übernehmen. 388 9 9 Medienarbeit: Kulturelle Arbeit und Arbeit in der Medienindustrie <?page no="389"?> 53 Tabelle aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt. Aussage Durchschnittli‐ che Zustim‐ mung Vorteile - Ich trage dazu bei, das Risiko der Verbreitung von CO‐ VID-19 zu verringern. 4,60 Ich setze mich nicht dem Risiko aus, krank zu werden. 4,38 Ich spare die normale Fahrzeit zu meinem Arbeitsplatz. 4,37 Ich kann eine Pause machen, wann ich möchte. 3,66 Ich habe Zeit, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren, ohne von anderen unterbrochen zu werden. 3,48 Nachteile - Ich sehe meine Kolleg: inn: en und andere Menschen nicht so oft, wie ich es gerne würde. 3,83 Ich vermisse es, aus dem Haus zu kommen. 3,67 Die räumlichen Bedingungen in meinem Zuhause bieten keine gute Arbeitsumgebung (verstellbarer Tisch und Stuhl, ausreichend Licht, Ruhe, guter Monitor usw.). 3,06 Tabelle 9.10: Vor- und Nachteile des Homeoffices in der COVID-19 Pandemie, Durch‐ schnittswerte einer Likert-Skala (1: „Ich stimme überhaupt nicht zu“, 5: „Ich stimme vollständig zu“), Quelle: Ipsen, van Vaeldhoven Kirchner & Hansen 2021, Tabelle 2 53 Die Studie identifizierte sowohl Vorals auch Nachteile, wobei die Vorteile als größer bewertet wurden. „In addition to lowering the risk of contracting and spreading the disease, the saving of commuting time and greater flexibility (regarding food and breaks) were rated as the most important advantages. The biggest disadvantages were missing colleagues, missing getting out of the home and poor physical work conditions in the home office” (Ipsen, van Vaeldhoven Kirchner & Hansen 2021, 12). Vergleicht man die Antworten von Personen mit und ohne Kinder, so gibt es Differenzen hinsichtlich der ungestörten Konzentration auf die Arbeit und die Arbeits‐ effizienz: „the people without children scored higher than the people with children at home” (9). Auch die Technologien im Homeoffice wurden oft als 9.5 Arbeit und die COVID-19-Krise 389 <?page no="390"?> unzulänglich erachtet: „Our analysis indicated that ‘Inadequate tools‘ […] was one of the factors hindering the current way of working” (13). Hofmann, Piele und Piele (2021) führten eine Befragung mit 215 Unter‐ nehmen durch. 81,2 Prozent der befragten Unternehmen gaben an, dass Büroangestellte in Zukunft von jedem beliebigen Ort im Inland außerhalb des Betriebes arbeiten werden können. Eurofound (2021) führte eine Um‐ frage unter europäischen Manager: innen über geschäftliche Veränderun‐ gen während der COVID-19-Pandemie durch (N=1.276). 14 Prozent der Befragten gaben an, dass ihrer Meinung nach der Umfang der Telearbeit nach der COVID-Pandemie zunehmen wird, 57 Prozent sagten, er werde gleichbleiben, und 29 Prozent sagten, er werde abnehmen. Dies zeigt, dass die Unternehmen die Bedeutung von Heimarbeit und Telearbeit in Post-COVID-Gesellschaften anerkennen. An einer Online-Umfrage der Hans-Böckler-Stiftung im Juni 2020 nah‐ men 6.309 Erwerbstätige teil (Hans-Böckler-Stiftung 2020). Eine relative Mehrheit von 48 Prozent sagte, dass sie auch nach der Krise so oft von zu Hause aus arbeiten wollen wie während der Krise. 33 Prozent von 6309 erwerbstätigen Befragten gaben an, dass sie ausschließlich, überwiegend oder teilweise von zu Hause arbeiten. 60 Prozent meinten, dass die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit im Homeoffice verschwimmen. 77 Prozent sagten, das Homeoffice erleichterte die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Es spielen dabei zwei Faktoren eine Rolle, einerseits die eingesparte Weg- und Meeting-Zeit, andererseits die physische Nähe zu den Kindern. Insgesamt beurteilen Eltern das Homeoffice als eher positiv. Ahlers, Mierich und Zucco (2021) führten eine Befragung von jeweils über 6.000 Erwerbstätigen ab 16 Jahren in vier Befragungswellen durch. Laut der Umfrage arbeiteten im April 2020, also zu Beginn der Pandemie, 82 Prozent der Erwerbstätigen in der Medien-, Informations-, Kommuni‐ kations- und Kunstbranche von zu Hause aus. Vor Corona waren die 29 Prozent. 49 Prozent sagten, dass sie nach der Krise genauso oft von zu Hause aus arbeiten möchten wie in der Krise. Bei Beschäftigten von Betrieben, die betriebliche Regeln zur Arbeit von zu Hause haben, ist dieser Wunsch deutlich größer. „Betriebliche Regelung erleichtern die Umsetzung des Homeoffice. Dort wo Vereinbarung existieren und bereits gelebte Praxis sind, können Verfahrensweisen in der Corona-Pandemie leichter umgesetzt werden“ (16). „Durch Arbeitszeiterfassung kann unbezahlter Mehrarbeit entgegengewirkt werden. Wenn Arbeitszeit dauerhaft überzogen wird, so sind Arbeitsprozesse und Menge ggf. anzupassen. Anhand betrieblicher 390 9 9 Medienarbeit: Kulturelle Arbeit und Arbeit in der Medienindustrie <?page no="391"?> Vereinbarungen werden die Dauer, Lage und Verteilung der Arbeit im Homeoffice definiert. So bleibt die Betriebsanbindung gewährleistet und die Erreichbarkeit der Beschäftigten durch Festlegung bestimmter Zeiten transparent. Konkrete Erreichbarkeitszeiten können für alle Beteiligten entlastend wirken“ (18). Menschen mit Doppelbelastung empfinden die Arbeit im Homeoffice als deutlich anstrengender als die ohne, was verdeut‐ licht, dass adäquate Kinderbetreuung notwendig ist, damit das Homeoffice funktioniert. In einer Studie von Eurofound (2020) wurde eine Umfrage mit 91.753 Teilnehmenden über Arbeit in der COVID-19 Krise durchgeführt. Der Groß‐ teil war mit der Arbeit von zuhause aus zufrieden und möchte auch nach Ende der Krise ein bestimmtes Niveau von Arbeit über Distanzen hinweg beibehalten. The „experience of working from home during the COVID crisis appears to have been a positive one for the majority of employees who did so […] with 70 % ‘overall […] satisfied with the experience of working from home’. A much lower share of teleworking employees (47 %) indicated that their employer had provided the equipment needed to work from home. […] Overall, 78 % of employees in the July round of the e-survey indicated a preference for working from home at least occasionally if there were no COVID-19 restrictions. The main teleworking preference cited was several times a week (32 %) with only 13 % indicating that they would like to telework daily. The preferred teleworking arrangement for most respondents, therefore, still involves a significant continuing presence at the workplace” (Eurofound 2020, 34). Insgesamt wird deutlich, dass das Homeoffice aus der Perspektive von Arbeitenden und Unternehmen ein wichtiger Bestandteil des Post-CO‐ VID-Wirtschaft sein wird und sein soll. Es gibt potenzielle Nachteile in Bezug auf soziale Kontakte, Kinderbetreuung, Technologienutzung und Ar‐ beitszeit. Viele Arbeitende sind aber der Meinung, die Vorteile überwiegen. Entscheidend ist, dass gesetzliche und betriebliche Regulierungen sowie wohlfahrtsstaatliche Mechanismen das Homeoffice, sofern es genutzt wird, sozial verträglich gestalten helfen. Die COVID-19-Pandemie hat die Digitalisierung der Arbeit und die Verwischung der Grenzen zwischen Heim und Büro, Privatleben und Öf‐ fentlichkeit, Freizeit und Arbeitszeit vorangetrieben. Dies sind Tendenzen, die die Arbeitswelt seit geraumer Zeit prägen. Sie haben sich im Zuge der Pandemie beschleunigt, vertieft und erweitert. 9.5 Arbeit und die COVID-19-Krise 391 <?page no="392"?> 9.6 Schlussfolgerungen In diesem Kapitel wurde die politische Ökonomie der kulturellen Arbeit vorgestellt. Lassen Sie uns nun die wichtigsten Ergebnisse zusammenfassen. - Erkenntnis 1: Werktätigkeit und Arbeit Die Werktätigkeit ist ein Prozess, bei dem Menschen mit Hilfe von Pro‐ duktionsmitteln etwas Neues produzieren, das bestimmte menschliche Bedürfnisse befriedigt. Im Kapitalismus ist die Arbeit in hohem Maße als Arbeit organisiert, die Waren produziert, die nicht nur einen Gebrauchswert, sondern auch einen Tauschwert und einen Wert haben. In Klassengesell‐ schaften sind die Arbeiter: innen wirtschaftlich entfremdet, was bedeutet, dass sie nicht Eigentümer: innen der Produktionsmittel und der von ihnen geschaffenen Produkte sind. Sie bestimmen nicht über die Bedingungen ihrer Arbeit. - Erkenntnis 2: Kulturelle Arbeit Es gibt enge, mittlere und breite sowie branchen- und berufsbezogene Defi‐ nitionen von kulturellen Arbeiter: innen. Der Vorteil der branchenbezogenen und der weit gefassten Definitionen besteht darin, dass sie implizieren, dass sich diese Arbeitenden auf der Grundlage der Erfahrungen, die sie im selben Unternehmen und in derselben Branche machen, kollektiv organisieren. Wenn eine größere Anzahl von Arbeitenden Forderungen stellt, haben sie mehr Macht, ihre Ziele zu erreichen. - Erkenntnis 3: Arbeit in der Kulturindustrie Der Neoliberalismus hat im Allgemeinen zu prekären Arbeitsbedingungen geführt, um die Profite der Unternehmen zu maximieren. In der Kulturin‐ dustrie hat dies zur Folge, dass Kulturschaffende ihre Arbeit oft lieben, aber mit prekären Arbeitsbedingungen konfrontiert sind. - Erkenntnis 4: Kulturgenossenschaften Kulturarbeitergenossenschaften sind Unternehmen im Kultursektor, die sich im Besitz der Arbeitenden befinden und von diesen gemanagt werden. 392 9 9 Medienarbeit: Kulturelle Arbeit und Arbeit in der Medienindustrie <?page no="393"?> Sie sind potenzielle Alternativen zum kapitalistischen Organisationsmodell im kulturellen und digitalen Sektor. - Erkenntnis 5: Arbeit und COVID-19 Die Arbeit hat sich im Kontext der COVID-19 Pandemie entscheidend verändert. Mehr Arbeit findet von zu Hause aus statt. Dadurch haben sich neue Chancen und Risiken ergeben. Entscheidend ist, dass das Homeoffice und die Digitalisierung der Arbeit sozial verträglich reguliert werden. Literatur Ahlers, Elke, Sandra Mierich & Aline Zucco. 2021. Homeoffice: Was wir aus der Zeit der Pandemie für die zukünftige Gestaltung von Homeoffice lernen können. WSI Report 65, April 2021. Düsseldorf: Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut der Hans-Böckler-Stiftung. Boltanski, Luc und Arnaud Esquerre. 2019. Bereicherung. Eine Kritik der Ware. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Clarke, John, Stuart Hall, Tony Jefferson & Brian Roberts. 1975/ 2006. Subcultures, Cultures and Class. In Resistance Through Rituals: Youth Subcultures in Post-War Britain, hrsg. von Stuart Hall & Tony Jefferson, 3-59. Abingdon: Routledge. Zweite Auflage. Co-operatives UK. 2019. Co-operative Corporate Governance Code. Manchester: Co-operatives UK. de Peuter, Greig, Bianca C. Dreyer, Marisol Sandoval, & Aleksandra Szaflarska. 2020. Sharing Like We Mean It: Working Co-operatively in the Cultural and Tech Sectors. Cultural Workers Organize. https: / / culturalworkersorganize.org/ wp-content/ up loads/ 2021/ 01/ Sharing-Like-We-Mean-It-Web.pdf Dreyer, Bianca C., Greig de Peuter, Marisol Sandoval, & Aleksandra Szaflarska. 2020. The Co-operative Alternative and the Creative Industries. A Technical Report on a Survey of Co-operatives in the Cultural and Technology Sectors in Canada, the United Kingdom, and the United States. Cultural Workers Organize. https: / / cul turalworkersorganize.org/ wp-content/ uploads/ 2020/ 12/ The-Cooperative-Altern ative-Technical-Report-Web.pdf Dyer-Witheford, Nick & Greig de Peuter. 2006. “EA Spouse” and the Crisis of Video Game Labour: Enjoyment, Exclusion, Exploitation, Exodus. Canadian Journal of Literatur, empfohlene Lektüre und Übungen 393 <?page no="394"?> Communication 31 (3): 599-617. DOI: https: / / doi.org/ 10.22230/ cjc.2006v31n3a177 1 Eurofound. 2021. 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Soundings: A Journal of Politics and Culture 63: 98-111. Sandoval, Marisol. 2013. Foxconned Labour as the Dark Side of the Information Age: Working Conditions at Apple’s Contract Manufacturers in China. tripleC: Communication, Capitalism & Critique 11 (2): 318-347. DOI: https: / / doi.org/ 10.31 269/ triplec.v11i2.481 Smith, Adam. 1776/ 2001. Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen. München: dtv. 9. Auflage. Standing, Guy. 2011. The Precariat. The New Dangerous Class. London: Bloomsbury. Thompson, Edward P. 1991. Customs in Common. Pontypool: Merlin Press. Throsby, David. 2010. The Economics of Cultural Policy. Cambridge: Cambridge University Press. Tronti, Mario. 2019. Workers and Capital. London: Verso. Williams, Raymond. 2022. Culture and Politics. London: Verso. Williams, Raymond. 1989. What I Came to Say. London: Hutchinson Radius. Literatur, empfohlene Lektüre und Übungen 395 <?page no="396"?> Williams, Raymond. 1983. Keywords. A Vocabulary of Culture and Society. New York: Oxford University Press. Überarbeitete Ausgabe. Williams, Raymond. 1981. The Sociology of Culture. Chicago, IL: University of Chicago Press. Wright, Erik Olin, Hrsg. 2005. Approaches to Class Analysis. Cambridge: Cambridge University Press. Wright, Erik Olin. 1997. Class Counts. Cambridge: Cambridge University Press. Empfohlene Lektüre und Übungen - Lektüre Die folgenden Texte werden als Begleitlektüre zu diesem Kapitel empfohlen: Karl Marx. 1867. Kapitel 5: Arbeitsprozess und Verwertungsprozess. In Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. Marx Engels Werke (MEW) Band 23. Berlin: Dietz. S.-192-213. Christian Fuchs. 2020. Marx heute. Eine Einführung in die kritische Theorie der Kommunikation, der Kultur, der digitalen Medien und des Internets. München: UVK. Kapitel 5: Arbeit und Mehrwert (S.-79-104): Kapitel 6: Die Arbeiterklasse (S.-105-126) Rosalind Gill. 2011. “Life is a Pitch”: Managing the Self in New Media Work. In Managing Media Work, hrsg. von Mark Deuze, 249-262. London: Sage. Nick Dyer-Witheford, Nick & Greig de Peuter. 2006. “EA Spouse” and the Crisis of Video Game Labour: Enjoyment, Exclusion, Exploitation, Exodus. Canadian Journal of Communication 31 (3): 599-617. DOI: https: / / doi.org/ 10.22230/ cjc.2006 v31n3a1771 Marisol Sandoval. 2016. Fighting Precarity With Co-Operation? Worker Co-Opera‐ tives in the Cultural Sector. New Formations 88: 51-68. DOI: http: / / doi.org/ 10.389 8/ newF.88.04.2016 Christian Fuchs. 2020. Alltagsleben und Alltagskommunikation im Coronavirus-Ka‐ pitalismus. tripleC: Communication, Capitalism & Critique 18 (1): 400-428. DOI: h ttps: / / doi.org/ 10.31269/ triplec.v18i1.1168 396 9 9 Medienarbeit: Kulturelle Arbeit und Arbeit in der Medienindustrie <?page no="397"?> Aufgabe Merke Frage Literatur Wissen Zusatz Link / www Checkliste Ziele ICON SET 5 Aufgabe Merke Frage Literatur Wissen Zusatz Link / www Checkliste Ziele ICON SET 5 ÜBUNG 9.1: ARBEITSERFAHRUNGEN IM KULTURBEREICH Diskutieren Sie in Gruppen: Wie viele von Ihnen haben schon einmal ein Praktikum gemacht? Welche Erfahrungen haben Sie mit Praktika gemacht? Warum sind unbezahlte Praktika heute so ein großes Thema? Was sind die strukturellen Ursachen für dieses Phänomen in Gesellschaft und Wirtschaft? Wie viele von Ihnen hatten schon einmal einen Vollzeit- oder Teilzeit‐ job? Welche Erfahrungen haben Sie in diesen Jobs gemacht? Was war Ihr schlechtestes Praktikum oder andere Arbeitserfahrung? Und warum? Wie sieht ein gutes Praktikum/ ein guter Job in der Medien- und Kul‐ turbranche aus? Welche Eigenschaften hat ein gutes Praktikum/ ein guter Job in dieser Branche? ÜBUNG 9.2: KULTURGENOSSENSCHAFTEN Lesen Sie die folgenden Texte: Marisol Sandoval. 2016. Fighting Precarity With Co-Operation? Wor‐ ker Co-Operatives in the Cultural Sector. New Formations 88: 51-68. DOI: http: / / doi.org/ 10.3898/ newF.88.04.2016 Marisol Sandoval. 2016. What Would Rosa Do? Co-operatives and Radical Politics. Soundings: A Journal of Politics and Culture 63: 98-111. Greig de Peuter, Bianca C. Dreyer, Marisol Sandoval, und Aleksandra Szaflarska. 2020. Sharing Like We Mean It: Working Co-operatively in the Cultural and Tech Sectors. Cultural Workers Organize. https: / / culturalworkersorganize.org/ wp-content/ uploads/ 2021/ 01/ Sharing- Like-We-Mean-It-Web.pdf Bianca C. Dreyer, Greig de Peuter, Marisol Sandoval, und Aleksandra Szaflarska. 2020. The Co-operative Alternative and the Creative Indust‐ ries. A Technical Report on a Survey of Co-operatives in the Cultural and Technology Sectors in Canada, the United Kingdom, and the United States. Cultural Workers Organize. https: / / culturalworkersorganize.o rg/ wp-content/ uploads/ 2020/ 12/ The-Cooperative-Alternative-Techni cal-Report-Web.pdf Diskutieren Sie: Literatur, empfohlene Lektüre und Übungen 397 <?page no="398"?> Aufgabe Merke Frage Literatur Wissen Zusatz Link / www Checkliste Ziele ICON SET 5 Was ist eine Kulturgenossenschaft? Wodurch unterscheidet sich die Arbeit in einer Kulturgenossenschaft von der in einem kapitalistischen Unternehmen? Was sind Ihrer Meinung nach die Vor- und Nachteile von Kulturge‐ nossenschaften? Wie beurteilen Sie dieses Organisationsmodell? Würden Sie lieber in einem normalen Unternehmen oder in einer Kulturgenossenschaft arbeiten? Und warum? ÜBUNG 9.3: ARBEIT UND DIE COVID-19-PANDEMIE Arbeiten Sie in Gruppen: Suchen Sie nach empirischen Studien darüber, wie sich die Arbeit in der COVID-19-Pandemie und in den Gesellschaften nach der COVID-Pandemie verändert hat. Präsentieren und vergleichen Sie die Ergebnisse dieser Analysen. Diskutieren Sie: Was sind die wichtigsten Veränderungen der Arbeit in den Gesell‐ schaften nach der COVID-Epidemie? Welche Veränderungen des Lebens und der Arbeit haben Sie während der Pandemie erlebt? Welche Chancen und Probleme gibt es in Bezug auf die Veränderungen der Arbeit in Post-COVID-Gesellschaften? Wie sollte die Arbeit in Post-COVID-Gesellschaften am besten gere‐ gelt werden? Welches sind die wichtigsten rechtlichen Regelungen, die Ihrer Meinung nach erforderlich sind? 398 9 9 Medienarbeit: Kulturelle Arbeit und Arbeit in der Medienindustrie <?page no="399"?> Aufgabe Merke Frage Literatur Wissen Zusatz Link / www Checkliste Ziele ICON SET 5 10 Die Politische Ökonomie des Internets und der Digitalen Medien Was Sie in diesem Kapitel lernen werden: Sie werden erfahren, wie die politische Ökonomie sozialer Medien funktioniert. Sie werden sich mit digitaler Arbeit und digitaler Überwachung aus‐ einandersetzen. Sie werden Alternativen zur kapitalistischen politischen Ökonomie des Internets und der digitalen Medien kennenlernen. 10.1 Einleitung Das Internet ist zur zentralen Informations- und Kommunikationstechnolo‐ gie vieler moderner Gesellschaften geworden. Es spielt in allen Bereichen des täglichen Lebens eine Rolle. Wir lernen online, unterhalten uns, kom‐ munizieren mit anderen, erledigen Teile unserer Arbeit online usw. Das Internet hat sowohl wirtschaftliche als auch politische Aspekte. Denken Sie zum Beispiel an Instagram, Facebook und TikTok, die sich im Besitz großer transnationaler Unternehmen befinden - Meta Platforms im Falle von Instagram und Facebook, ByteDance im Falle von Tik Tok. Solche Internet-Plattformen sind auch in Kontroversen über Fake News, Zensur, Überwachung usw. verwickelt. In diesem Kapitel werden wir uns ansehen, wie politische und wirtschaftliche Aspekte des Internets aussehen und zusammenspielen. In diesem Kapitel beschäftigen wir uns mit der folgenden Frage: Wie sieht die politische Ökonomie des Internets und der digitalen Medien aus? Abschnitt 10.2 befasst sich mit der politischen Ökonomie der sozialen Medien. Abschnitt 10.3 erörtert die digitale Arbeit. Abschnitt 10.4 befasst sich mit der politischen Ökonomie der digitalen Überwachung. Abschnitt 10.5 fragt, ob es Alternativen zur kapitalistischen politischen Ökonomie des Internets und der digitalen Medien gibt. In Abschnitt 10.6 werden die wichtigsten Ergebnisse des Kapitels zusammenfasst. <?page no="400"?> 10.2 Die Politische Ökonomie der Sozialen Medien In Kapitel 7 wurde Dallas Smythe’s Analyse der politischen Ökonomie der Werbung vorgestellt, die auf den Begriffen der Publikumsware und der Publikumsarbeit beruht. Diese Begriffe sind nach wie vor von zentraler Bedeutung für die Analyse der politischen Ökonomie des Internets, bedürfen aber einer Aktualisierung im Hinblick auf die Realitäten des Kapitalismus im 21.-Jahrhundert. Gezielte digitale Werbung ist ein wichtiges Kapitalakkumulationsmodell der weltweit führenden Social-Media-Plattformen und Apps wie Google, YouTube, Facebook, Instagram, TikTok, Twitter, Blogspot/ Blogger, Weibo, LinkedIn, VK, Tumblr, Pinterest usw. Bei der gezielten Werbung sehen nicht alle Nutzer eines werbebasierten Mediums die gleichen Anzeigen. Vielmehr wird die Werbung auf der Grundlage bestimmter Kriterien und gesammel‐ ter Daten gezielt und personalisiert. So wird zum Beispiel Werbung für Kinderkleidung nur für diejenigen angezeigt, die Kinder haben. Um solche Nutzer: innen zu identifizieren, werden auf ihren Profilen kinderbezogene Informationen erfasst und gespeichert Zielgerichtete Werbung und die Politik der Internetplattformen Zielgerichtete Werbung als Kapitalakkumulationsmodell erfordert eine rechtliche Grundlage. In ihren Nutzungsbedingungen und Datenschutz‐ richtlinien legen Plattformen und Apps fest, welche Daten sie sammeln und für Werbung nutzen. Werfen wir einen Blick auf einige Beispiele: ● Facebooks Data Policy: „To create personalized Products that are unique and relevant to you, we use your connections, preferences, interests and activities based on the data we collect and learn from you and others” (Version vom 21.8.2020) ● Twitters Privacy Policy (Version vom 19.8.2021): „We use information you provide to us and data we receive, including Log Data and data from third parties, to make inferences like what topics you may be interested in, how old you are, and what languages you speak. This helps us better promote and design our services for you and personalize the content we show you, including ads”. ● Googles Privacy Policy (Version vom 1.7.2021): „We use the infor‐ mation we collect to customize our services for you, including provi‐ 400 10 Die Politische Ökonomie des Internets und der Digitalen Medien <?page no="401"?> ding recommendations, personalized content, and customized search results. […] Depending on your settings, we may also show you perso‐ nalized ads-based on your interests” ● TikToks Privacy Policy (Version vom 2.6.2021): „We will use the infor‐ mation we collect about you in the following ways: […] provide you with personalised advertising; […] We share information with advertisers and third-party measurement companies to show how many and which users of the Platform have viewed or clicked on an advertisement. We share your device ID with measurement companies so that we can link your activity on the Platform with your activity on other websites; we then use this information to show you adverts which may be of interest to you.” ● Weibos Privacy Policy (Version vom 22.11.2021): „When you use Weibo, we will use your device information, IP address and location information to deliver personalised ads to you” 在您使用微博时,我们 会根据您的设备信息、IP 地址和位置信息向您推送个性化广告。 Diese beispielhaften Richtlinienauszüge zeigen, dass Apps und Internet‐ plattformen alle Daten, derer sie habhaft werden können, nutzen, um Werbung zu personalisieren. Sie führen eine massive Überwachung der Nutzer: innen durch, um durch den Verkauf von Werbung Kapital zu akku‐ mulieren. Google und zielgerichtete Werbung Google ist der dominierende Akteur im Geschäft mit zielgerichteter Wer‐ bung (siehe Fuchs 2021, Kapitel 5). Abbildung 10.1 veranschaulicht die Entwicklung der Profite des Unternehmens. Google wurde 1998 von Larry Page und Sergey Brin gegründet. Die Gewinne des Unternehmens überstie‐ gen 2005 erstmals eine Milliarde US-Dollar und lagen 2012 erstmals bei über zehn Milliarden US-Dollar. 10.2 Die Politische Ökonomie der Sozialen Medien 401 <?page no="402"?> 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022 Google's profits -0,01 -0,01 0,007 0,1 0,1060,399 1,47 3,08 4,2 4,23 6,52 8,5 9,74 10,7412,92 14,1 16,3 19,5 12,7 30,7 34,3 40,3 76,0 59,97 0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 The Development of Google's Profits in billion US$, data source: Google/ Alphabet SEC Filings Form 10-K Abbildung 10.1: Die Entwicklung der Profite von Google Zielgerichtete Werbung hat sich für Google als sehr profitabel erwiesen. Das Unternehmen ist zu einem der größten transnationalen Konzerne der Welt geworden (siehe Tabelle 10.1). Gleichzeitig sind die Gründer Larry Page und Sergey Brin sowie der ehemalige CEO (2001-2011) und Executive Chairman (2011-2017) Eric Schmidt sehr reich geworden (siehe Tabelle 10.2). 402 10 Die Politische Ökonomie des Internets und der Digitalen Medien <?page no="403"?> Jahr Rang 2004 904 2005 439 2006 289 2007 213 2008 155 2009 120 2010 120 2011 120 2012 103 2013 68 2014 52 2015 39 2016 27 2017 24 2018 23 2019 17 2020 13 2021 13 2022 11 Tabelle 10.1: Rang von Google in der Liste der größten börsennotierten Unternehmen der Welt, Datenquelle: Forbes 2000-Liste für verschiedene Jahre 10.2 Die Politische Ökonomie der Sozialen Medien 403 <?page no="404"?> Jahr Larry Page Sergey Brin Eric Schmidt 2004 43 43 165 2005 16 16 52 2006 13 12 51 2007 5 5 48 2008 14 13 59 2009 11 11 40 2010 11 11 48 2011 15 15 50 2012 13 13 45 2013 13 14 49 2014 13 14 49 2015 10 11 48 2016 9 10 36 2017 9 10 35 2018 6 9 33 2019 6 7 33 2020 8 9 33 2021 5 6 30 2022 6 7 34 Tabelle 10.2: Entwicklung der Rangfolge der drei reichsten Direktoren von Google in der Liste der 400 reichsten Amerikaner, Datenquelle: Forbes 400 List of the Richest Americans, verschiedene Jahre Abbildung 10.2 zeigt den traditionellen Kapitalakkumulationszyklus, wie in Kapitel 8 erläutert. G - W .. P - W‘ - G‘ ist die Formel für den Akkumula‐ tionsprozess der kapitalistischen Wirtschaft. Kapitalistische Unternehmen investieren Geldkapital G in den Kauf der Waren W Arbeitskraft und Produktionsmittel. Im Produktionsprozess P setzt die Arbeit die Produkti‐ onsmittel ein, um neue Waren W' herzustellen, die nicht den Arbeiter: innen 404 10 Die Politische Ökonomie des Internets und der Digitalen Medien <?page no="405"?> gehören. Das Unternehmen bietet diese Waren W' auf dem Markt zum Verkauf an. Ist der Verkauf erfolgreich, entsteht eine Summe von Geldkapital G‘, die größer ist als das investierte Geldkapital G. G‘ enthält einen Profit. Teile von G‘ und des Profits werden reinvestiert, um zu versuchen, immer mehr Kapital zu akkumulieren. Ak G 1 + G 2 G W { .. P .. W’=W+ Δ w G’=G+ Δ g Pm Realisierung v c zir c fix c fix = c fix - Δ c , if c fix = 0 OR entwertet then Erneuerung Akkumulation, Kapitalisierung des Mehrwerts Zirkulationssphäre Produktionssphäre Zirkulationssphäre Beständige Reproduktion Beständige Reproduktion Unbeständige Reproduktion c zir : Roh- und Hilfsstoffe, Betriebsstoffe, Halbfertigprodukte c fix : Maschinen, Gebäude, Ausrüstung; zirkulierendes Kapital: z cir , v; fixes Kapital: c fix Abbildung 10.2: Der Zyklus der Kapitalakkumulation Eine Erklärung der Symbole in Abbildung 10.2: G … Geld W … Waren Ak … Arbeitskraft Pm … Produktionsmittel P … Produktion W’ … eine neue Ware G’ … mehr Geld c cir … zirkulierendes konstantes Kapital c fix … festes konstantes Kapital 10.2 Die Politische Ökonomie der Sozialen Medien 405 <?page no="406"?> v … variables Kapital Abbildung 10.3. zeigt den Zyklus der Kapitalakkumulation im Fall von Internetplattformen wie Google, die auf zielgerichteter Werbung basieren. Wie wir in Kapitel 7 gesehen haben, besteht für Dallas Smythe (1994, 266-291) der materielle Aspekt der Kommunikation darin, dass das Publikum arbeitet, ausgebeutet und als Ware an Werbetreibende verkauft wird. Smy‐ thes Ansatz ist auch im Zusammenhang mit Internet-Plattformen gültig. Dabei müssen die Möglichkeiten und Besonderheiten der politischen Öko‐ nomie des Internets berücksichtigt werden. Eine Google-Suche ist keine Ware, sondern wird als kostenlose Dienstleistung angeboten. Sie ist, wie Smythe (1977, 5) sagt, „ein Anreiz (Geschenk, Bestechung oder ‚Gratises‐ sen‘), um potenzielle Mitglieder des Publikums zu rekrutieren und ihre treue Aufmerksamkeit zu erhalten“ (Smythe 1977, 5). In werbefinanzierten sozialen Medien ist die „kostenlose“ Nutzung der Plattform das „Geschenk“ und der Anreiz. Die Nutzer: innen von Google schaffen Aufmerksamkeit für Werbung sowie eine riesige Menge an Daten auf verschiedenen Platt‐ formen (nicht nur Google). Die Nutzer: innen werden von Google und anderen Plattformen überwacht, d. h. viele Daten (Big Data) werden ge‐ sammelt, gespeichert, analysiert und niemals gelöscht. Google identifiziert Interessengruppen und verwendet prädiktive Algorithmen, um potenzielle Interessen der Gruppenmitglieder zu ermitteln. Die Überwachung der Nut‐ zer: innen wird für zielgerichtete Werbung genutzt. Googles Ware ist eine Nutzer-, Aufmerksamkeits- und Datenware. Die Google-Nutzer: innen sind Arbeiter: innen, die eine Datenware und eine Online-Aufmerksamkeitsware produzieren. 406 10 Die Politische Ökonomie des Internets und der Digitalen Medien <?page no="407"?> c (Technologien, Infrastruktur) G - W . . P 1 . . P 2 . . W‘ - G‘ (P 1 Social-Media-Dienste) v 1 (bezahlt) v 2 (unbezahlte Arbeit: Plattform-Nutzung) W’ = Die Big Data-Ware der Internet-Prosument*inn*en (nutzergenerierte Inhalte, Transaktionsdaten, virtuelle Werbeflächen und Aufmerksamkeitszeit); Die meisten Social-Media-Dienste sind kostenlos zu nutzen, sie sind keine Ware. Nutzungsdaten und Aufmerksamkeit sind die Ware der sozialen Medien. Abbildung 10.3: Der Kapitalakkumulationszyklus der zielgerichteten Werbung Die Unterschiede zwischen klassischer und digitaler, zielgerichteter Werbung Die Publikumsware im Internet, wo die Werbung digital, zielgerichtet und personalisiert ist, unterscheidet sich in mehreren Punkten von der klassischen Print- und Rundfunkwerbung: ● Kreativität, Prosumtion (produktive Konsumtion), soziale Be‐ ziehungen: Das Publikum produziert Aufmerksamkeit und bedeutet Inhalte. Die Internetnutzer: innen produzieren Daten, Inhalte und soziale Beziehungen. Sie sind Prosument: innen, produktive Konsument: inn: en, die Waren produzieren. ● Überwachung: Die Messung des Publikums basiert im Rundfunk und bei Printmedien traditionell auf Studien mit kleinen Stichproben von Zuschauer: innen. Die Messung des Nutzungsverhaltens in den sozialen 10.2 Die Politische Ökonomie der Sozialen Medien 407 <?page no="408"?> Medien ist konstant, vollständig und algorithmisch. Die Kommodifizie‐ rung des Publikums in den sozialen Medien basiert auf der ständigen Echtzeit-Überwachung der Nutzer: innen. ● Zielgerichtete und personalisierte Werbung: Digitale Werbung ist oft zielgerichtet und personalisiert. ● Prädiktive Algorithmen: Die Nutzungsmessung verwendet prädik‐ tive Algorithmen (wenn Ihnen A gefällt, gefällt Ihnen vielleicht auch B, weil 100.000 Personen, denen A gefällt, auch B mögen). ● Algorithmische Auktionen: Die Preise für Anzeigen werden oft auf der Grundlage algorithmischer Auktionen festgelegt (Pay per View, Pay per Click). Facebook und Google sind keine Kommunikationsunternehmen. Sie verkau‐ fen keine digitalen Dienste. Vielmehr verkaufen sie Werbung. Sie sind die größten Werbeagenturen der Welt. Die digitale Arbeit der Nutzer: innen auf werbefinanzierten Plattformen wie Instagram, YouTube, Facebook, TikTok oder Snapchat ist völlig unbe‐ zahlt, produziert aber Waren. Unbezahlte Arbeit hat im Kapitalismus eine lange Geschichte. Die Hausarbeit umfasst unbezahlte Arbeit wie Pflege, Putzen, Einkaufen, Kochen, Wäschewaschen usw. Diese Arbeit reproduziert die Arbeitskraft. Ohne Hausarbeit gäbe es keine Arbeitskraft, die auf dem Arbeitsmarkt als Ware verkauft wird. Federici (1975) unterstreicht die Bedeutung der Hausarbeit für die Wirtschaft. Hausarbeit hilft dem Kapital, Profit zu erzielen, ist aber unbezahlt: „the unwaged condition of housework has been the most powerful weapon in reinforcing the common assumption that housework is not work, thus preventing women from struggling against it, […] the wage at least recognizes that you are a worker, and you can bargain and struggle around and against the terms and the quantity of that wage, the terms and the quantity of that work” (Federici 1975, 77, 76). Die auf diesen Erkenntnissen basierende Kampagne „Lohn für Hausarbeit“ (Wages for Housework) fordert einen Lohn für Hausarbeit. Unbezahlte Arbeit gibt es auch in Form von Konsumarbeit, bei der Teile des Produktionsprozesses an die Verbraucher: innen ausgelagert werden, damit die Unternehmen Arbeitskosten sparen und mehr Profit machen. Beispiele dafür sind IKEA-Möbel zur Selbstmontage, Fast-Food-Restaurants, in denen die Kunden und Kundinnen ihre eigenen Kellner: innen sind, 408 10 Die Politische Ökonomie des Internets und der Digitalen Medien <?page no="409"?> Gepäcksaufgabeautomaten an Flughäfen, Selbstbedienungskassen in Super‐ märkten, Selbstbedienungstankstellen usw. Man spricht dabei auch von Prosumtion, da die Konsument: innen zu Produzent: inn: en von Waren wer‐ den. Instagram- und YouTube-Nutzer: innen sind wie Hausarbeitende unbe‐ zahlte, warenproduzierende Arbeiter: innen. Kylie Jarrett spricht daher von ihnen als digitalen Hausarbeitenden. Die Arbeit von Hausarbeitenden und unbezahlten Internet-Nutzern/ Nutzerinnen „is physical, but features sig‐ nificant cognitive, affective and communicative elements […] Moreover, consumer labour occupies a similar position in relation to the generation of surplus-value as domestic work“ ( Jarrett 2015, 210-211). „Consumer labour is akin to domestic labour not only because it is unpaid and occurs outside of formal factory walls in what is ostensibly free time. It is also akin to it because it is a site of social reproduction“ ( Jarrett 2016, 71). Die Künstlerin Laurel Ptak hat das Online-Kunstwerk Wages for Face‐ book geschaffen. Sie hat das Wort „Hausarbeit“ aus dem Wages for House‐ work-Manifest (Federici 1975) durch „Facebook“ ersetzt (siehe http: / / wages forfacebook.com/ ). Das Kunstwerk veranschaulicht die Parallelen zwischen Hausarbeit und der Nutzung von werbefinanzierten Internetplattformen. Dal Yong Jin (2013) spricht von „Plattform-Imperialismus“, weil „der der‐ zeitige Stand der Plattformentwicklung eine technologische Vorherrschaft US-amerikanischer Unternehmen impliziert, die die Mehrheit der Menschen und Länder stark beeinflusst haben“ ( Jin 2013, 154). Imperialismus bedeutet nicht die Vorherrschaft der USA über die Welt. Der Kapitalismus und nicht die Geografie ist der entscheidende Aspekt des Imperialismus. Jin missversteht Imperialismus und Plattformimperia‐ lismus als geografische Vorherrschaft. Das Internet wird nicht nicht-impe‐ rialistisch, wenn es nicht mehr vom US-Kapital dominiert wird, sondern von anderem Kapital. Es macht keinen Unterschied, ob das Internet vom US-amerikanischen, chinesischen, brasilianischen, koreanischen, französi‐ schen usw. Kapital dominiert wird. Imperialismus ist eine Form des Kapi‐ talismus, in der Finanzkapital, Monopolkapital, Kapitalexport, Krieg und globale kapitalistische Vorherrschaft eine Rolle spielen (Fuchs 2010). Das Internet ist nicht nur eine Welt der Kapitalakkumulation, sondern auch eine Welt der Ideologie. 10.2 Die Politische Ökonomie der Sozialen Medien 409 <?page no="410"?> 54 Datenquellen: http: / / www.instagram.com, http: / / www.facebook.com, https: / / www.tik tok.com/ , https: / / www.snapchat.com/ , abgerufen am 25. November 2021. 55 Datenquellen: https: / / about.youtube, abgerufen am 16. Januar 2022. Internet-Ideologien Es gibt Ideologien des Internets und Ideologien im Internet (siehe Fuchs 2021). Wir werden uns hier auf ein Beispiel für Ideologie im Zusammenhang mit dem Internet konzentrieren, und zwar auf die Art und Weise, wie sich soziale Medienplattformen präsentieren. Instagram sagt, es gibt „people the power to build community and bring the world closer together“; Facebook „helps you connect and share with the people in your life“; TikToks „mission is to inspire creativity and bring joy“; Snapchat behauptet, es ermöglicht den Nutzer: innen „[to be] creative, shine in the spotlight, get rewarded“ 54 . YouTube beschreibt sein Ziel folgendermaßen: „Our mission is to give everyone a voice and show them the world. We believe that everyone deserves to have a voice, and that the world is a better place when we listen, share and build community through our stories” 55 . Unternehmen der sozialen Medien vertreten die Ideologie des Engagie‐ rens/ der Verbindung/ der Kreativität/ des Teilens. Sie argumentieren, dass ihr Hauptziel darin besteht, eine bessere und sozialere Welt zu schaffen, in der die Nutzer: innen sich engagieren, sich miteinander verbinden und ansprechende Inhalte kreieren, die sie miteinander teilen. Diese Unterneh‐ men versprechen, die Sozialität zu fördern. Sie betonen nur positive Aspekte („Positivismus“). Gleichzeitig sprechen sie aber nicht über ihre Profitinter‐ essen und die Probleme, in die diese Internetplattformen eingebettet sind. Warenfetischismus bedeutet, dass wir im Kapitalismus mit dem Öko‐ nomischen in der Form von Waren und Geld konfrontiert werden, die ihre soziale und gesellschaftliche Natur verbergen, nämlich die Produkti‐ onsverhältnisse, die Klassenverhältnisse, in denen Arbeiter: innen Waren produzieren (siehe Kapitel 7 in diesem Buch: Abschnitt 7.6). In den sozialen Medien gibt es eine Art umgekehrten Warenfetischismus: Der Warencha‐ rakter der Daten von Facebook und anderen kapitalistischen Plattformen verbirgt sich hinter dem sozialen Gebrauchswert von Facebook, d. h. den sozialen Beziehungen und Funktionen, die durch die Nutzung der Plattform ermöglicht werden. Der Objektstatus der Nutzer: innen, d. h. die Tatsache, dass sie den Profitinteressen von Facebook dienen, verbirgt sich hinter der durch Facebook ermöglichten sozialen Vernetzung. Der soziale Nutzen, die sozialen Beziehungen und die gewonnene Sichtbarkeit stehen im Mit‐ 410 10 Die Politische Ökonomie des Internets und der Digitalen Medien <?page no="411"?> telpunkt der kommerziellen und unternehmerischen Seite von Facebook, seiner Tauschwert- und Warendimension. Der Tauschwert versteckt sich hinter dem Gebrauchswert. Die Objektseite von Facebook verbirgt sich hinter den sozialen Beziehungen. Als Nächstes werden wir uns auf einen weiteren wichtigen Aspekt der politischen Ökonomie des Digitalen konzentrieren, nämlich die digitale Arbeit. 10.3 Digitale Arbeit Digitale Arbeit ist Arbeit, die mit der Produktion digitaler Waren verbunden ist. Sie umfasst Arbeiten wie die Gewinnung von Mineralien, die die physi‐ sche Grundlage für Computerhardware bilden, die Montage von Computer- und Kommunikationshardware, Software-Engineering, die Nutzung von Software und Internetplattformen für die Erstellung digitaler Dienstleistun‐ gen und Waren usw. Die internationale Teilung der digitalen Arbeit Es gibt eine internationale Teilung der digitalen Arbeit, bei der wir auf die Ausbeutung von Sklav: innen in Bergwerken, tayloristischen Montage‐ arbeiter: inne: n in chinesischen Fabriken, Spielarbeiter: innen im Googleplex, eWaste-Arbeiter: inne: n, die Hardware in Entwicklungsländern zerlegen, hoch bezahlten und hoch gestressten Softwareingenieur: inn: en, prekären Plattformarbeiter: inne: n und Crowdworker: innen, unbezahlter Nutzer: in‐ nen: arbeit usw. stoßen. (Fuchs 2014, 2015). 10.3 Digitale Arbeit 411 <?page no="412"?> Bergleute - S Natur - T Mineralien Verarbeiter*innen - S O - T IKT-Komponenten Monteure/ Monteurinnen - S O - T Digitale Medientechnologien Informationsarbeitende - S O - T Informationsinhalte Bergwerksarbeit Industriearbeit Informationsarbeit DIGITALE ARBEIT Abbildung 10.4: Die internationale Teilung der digitalen Arbeit Abbildung 10.4 veranschaulicht die internationale Teilung der digitalen Arbeit. Die verschiedenen Arbeitsprozesse werden als dialektische Dreiecke veranschaulicht, in denen Arbeiter: innen (Subjekte) Objekte verwenden, um Produkte herzustellen. In dieser internationalen Aufteilung gehen verschie‐ dene Produkte, die von digitalen Arbeitenden hergestellt werden, in andere Produktionsprozesse ein. Mineralien, die unter teilweise sklavenähnlichen Bedingungen in Afrika abgebaut werden, sind ein Objekt in der Produktion und dem Zusammenbau von Komponenten und Hardware. Computerhard‐ ware wird von digitalen Inhalts-Arbeiter: innen als Technologie für die Produktion von Software und anderen digitalen Inhalten und Dienstleistun‐ gen verwendet. Digitale Arbeit ist international über Klassenverhältnisse verbunden, bei denen das digitale Kapital, das in die digitale Industrie investiert, in der digitale Waren produziert werden, digitale Arbeit auf verschiedene Weisen ausbeutet. Marx spricht in diesem Zusammenhang von der Existenz eines kollekti‐ ven Arbeiters, eines Gesamtarbeiters: „Um produktiv zu arbeiten, ist es nun nicht mehr nötig, selbst Hand anzulegen; es genügt, Organ des Gesamt‐ 412 10 Die Politische Ökonomie des Internets und der Digitalen Medien <?page no="413"?> arbeiters zu sein, irgendeine seiner Unterfunktionen zu vollziehn” (Marx 1867, 531). Die digitalen Arbeitenden bilden zusammen einen digitalen Gesamtarbeiter, der in einem Klassenverhältnis zum digitalen Kapital steht. Die internationale Teilung der digitalen Arbeit ist Ausdruck der neuen internationalen Arbeitsteilung, die im Rahmen der Globalisierung des Ka‐ pitalismus in den 1970er und 1980er Jahren entstanden ist (siehe Kapitel 8 in diesem Buch): „commodity production is being increasingly subdivided into fragments which can be assigned to whichever part of the world can provide the most profitable combination of capital and labour […] The development of the world economy has increasingly created conditions (forcing the development of the new international division of labour) in which the survival of more and more companies can only be assured through the relocation of production to new industrial sites, where labour-power is cheap to buy, abundant and well-disciplined; in short, through the transnational reorganization of production.” (Fröbel, Heinrichs & Kreye 1981, 14, 15). Marx und Engels (1845/ 1846) argumentieren, dass die Arbeitsteilung ein Ausdruck der Klassenverhältnisse ist. „Übrigens sind Teilung der Arbeit und Privateigentum identische Ausdrücke - in dem Einen wird in Beziehung auf die Tätigkeit dasselbe ausgesagt, was in dem Andern in Bezug auf das Produkt der Tätigkeit ausgesagt wird“ (Marx & Engels 1845/ 1846, 32). Sie schreiben, dass die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung die älteste Teilung der Arbeit und das älteste Klassenverhältnis ist. Es gibt auch Arbeitsteilun‐ gen zwischen geistiger und manueller Arbeit, zwischen städtischer und ländlicher Arbeit, zwischen den Zentren des Kapitalismus, der Semiperi‐ pherie und der Peripherie, usw. Das Kolonialsystem hat die internationale Arbeitsteilung vorangetrieben: „Reiches Material zur Teilung der Arbeit innerhalb der Gesellschaft liefert der Manufakturperiode die Erweiterung des Weltmarkts und das Kolonialsystem, die zum Umkreis ihrer allgemeinen Existenzbedingungen gehören” (Marx 1867, 374-375). Arbeit produziert Waren. Wenn wir also über digitale Arbeit sprechen, müssen wir auch einen Blick darauf werfen, welche Art von digitalen Waren die digitale Arbeit produziert. Wir werden dies als nächstes machen. 10.3 Digitale Arbeit 413 <?page no="414"?> Digitale Waren und digitale Arbeit In Tabelle 10.3. werden mehrere Modelle der Kapitalakkumulation in der digitalen Industrie sowie die digitalen Arbeitskräfte aufgeführt, die an der Produktion der Waren beteiligt sind, die diese Modelle definieren. Digitale Arbeit lässt sich am besten auf der Grundlage einer umfassenden Definition und eines branchenbezogenen Verständnisses verstehen (siehe Kapitel 9, Abschnitt 9.3). Modell Beispielunterneh‐ men Beispiele für Arbei‐ tende in diesem Bereich Digitale Inhalte als Waren - Microsoft, Adobe, Ora‐ cle, SAP, Electronic Arts (Computerspiele) Softwareingenieure und Softwareingenieurinnen, De‐ signer/ innen, Vermarkter/ in‐ nen von digitalen Inhalten usw. Digitales Finanzkapi‐ tal eBanking, PayPal, Goo‐ gle Checkout, Amazon Payments, Börsen für Krytpowährungen und andere Digitalwährun‐ gen (z.-B. Bitstamp, Coinbase, Coinmama, Kraken) Softwareingenieure und Softwareingenieurinnen, De‐ signer/ innen, Vermarkter/ in‐ nen von digitalen Diensten usw. Hardware-Modell -- Apple, HP, Dell, Fu‐ jitsu, Lenovo Bergleute in armen Län‐ dern, die Mineralien ex‐ trahieren („Konfliktminera‐ lien“), aus denen digitale Technologien erzeugt wer‐ den; Hardware-Monteure und Monteurinnen, die für Konzerne wie Fox‐ conn arbeiten; Hardware-In‐ genieure und Ingenieurinnen; Werbe- und PR-Fachleute, die Hardware vermarkten; Hard‐ ware-Verkäufer/ innen; Elek‐ tronikschrott-Arbeiter/ innen usw. Netzwerk-Modell Telekommunikati‐ ons-Unternehmen und Internet-Ser‐ vice-Provider: AT&T, Verizon, China Mo‐ Telekommunikations-Tech‐ niker/ innen, Netzwerk-Inge‐ nieure und Ingenieurinnen, Verkäufer/ innen; Marketing‐ fachleute, die Telekommuni‐ 414 10 Die Politische Ökonomie des Internets und der Digitalen Medien <?page no="415"?> Modell Beispielunterneh‐ men Beispiele für Arbei‐ tende in diesem Bereich bile, Deutsche Tele‐ com, Orange, BT kationsnetzwerke vermark‐ ten usw. Modell der On‐ line-Werbung Google, Facebook, Twitter Nutzer/ innen als digitale Ar‐ beiter/ innen, Software-Inge‐ nieure und Ingenieurinnen, Werbefachleute usw. Modell des On‐ line-Handels Amazon, Alibaba, Ap‐ ple iTunes, eBay, Lagerarbeiter/ innen, Trans‐ portarbeiter/ innen, Werbe‐ fachleute usw. - Modell der Sharing Economy mit Bezah‐ lung pro Dienstleis‐ tung (Pay per Service) - Uber, Deliveroo, Up‐ work, Guru, Fiverr, Freelancer, PeoplePer‐ Hour, Amazon MTurk Uber- und Deliveroo-Fah‐ rer/ innen, Upwork/ Guru/ Fi‐ verr-Freiberufler/ innen Modell der Sharing Economy mit einer Rente auf Rente - Airbnb, Hiyacar, Drivy Lohnarbeitende, die von Plattformen angestellt wer‐ den, um den Vermietungspro‐ zess zu organisieren und zu unterstützen Modell der digitalen Abos - Netflix, Spotify, Ama‐ zon Prime, Apple Mu‐ sic Ingenieure und Ingenieurin‐ nen, Verkaufspersonal, Ange‐ stellte in der Aboverwaltung usw. Gemischte Modelle Spotify, Online-Zeitun‐ gen, Apple Kombination verschiedener Arbeiter/ innen, die unter‐ schiedliche digitale Waren produzieren Tabelle 10.3: Eine Typologie der digitalen Arbeit und der Kapitalakkumulationsmodelle in der digitalen Kulturwirtschaft Als Nächstes werden wir eine Fallstudie zur digitalen Arbeit diskutieren: die Hardwaremonteurinnen und -monteure bei Foxconn. 10.3 Digitale Arbeit 415 <?page no="416"?> 56 Datenquelle: https: / / www.forbes.com/ lists/ global2000, abgerufen am 4. Dezember 2021. 57 Datenquelle: https: / / www.forbes.com/ lists/ global2000, abgerufen am 3. November 2022. 58 Datenquelle: https: / / www.forbes.com/ lists/ global2000, abgerufen am 4. Dezember 2021 und am 3. November 2022. 59 Datenquelle: Apple SEC-Filings Form 10-K, Finanzjahr 2021. 60 Datenquelle: Apple SEC-Filings Form 10-K, Finanzjahr 2022. 61 Datenquelle: eigene Berechnung basierend auf Apple SEC-Filings Form 10-K, Finanz‐ jahr 2021 (pdf version), Seite 24: Total net sales 2021: 365,817 Milliarden US-Dollar, iPhone Umsatz: 191,973 Milliarden US$. Die politische Ökonomie des Apple-iPhone: Die Ausbeutung von Arbeitskräften bei Foxconn Hon Hai Precision (Foxconn) ist ein taiwanesisches Produktionsunterneh‐ men. In der Forbes-Liste der 2.000 größten börsennotierten Unternehmen der Welt aus dem Jahr 2021 stand Foxconn auf Platz 94 der größten Unter‐ nehmen 56 . In der Forbes-Liste 2022 belegte das Unternehmen Platz 124 57 . Foxconn hat z. B. das iPad, den iMac, das iPhone, den Kindle und verschie‐ dene Konsolen (von Sony, Nintendo und Microsoft) zusammengebaut. Seine Kund: innen sind westliche Unternehmen wie Apple, Dell, HP, Motorola, Nokia, Sony und Sony Ericsson. Ein großer Teil der Foxconn-Beschäftigten arbeitet in chinesischen Fabriken, z. B. in Chengdu, Chongdinq, Guanlan und Longhua, Hangzhou, Kunshan, Langfang, Nanhai (in der Stadt Foshan), Taiyuan, Tianjn und Zhengzhou. Im Jahr 2021 war Apple das sechstgrößte Unternehmen der Welt, im Jahr 2022 das siebent größte 58 . Im Geschäftsjahr 2021 machte Apple einen Profit von 94,7 Milliarden US-Dollar, nach 57,4 Milliarden US-Dollar im Jahr 2020 und 55,3 Milliarden US-Dollar im Jahr 2019 59 . Im Jahr 2022 stieg der Profit weiter an auf 99,8 Milliarden US-Dollar 60 . Im Jahr 2021 entfielen 52,5 Prozent des Umsatzes von Apple auf das iPhone 61 . Im Zeitraum von Januar bis August 2010 versuchten 17 Arbeiter: innen bei Foxconn, wo damals viele iPhones hergestellt wurden, Selbstmord zu begehen, weil sie die schrecklichen Arbeitsbedingungen nicht mehr ertragen konnten. Untersuchungen der Arbeitsbedingungen bei Foxconn ergaben ein problematisches Bild geprägt durch (SACOM 2010, 2011, 2012): ● Unbezahlte Arbeitsversammlungen; ● Lange Arbeitszeiten (12 Stunden pro Tag, 6 Tage pro Woche); ● Unbezahlte Überstunden; ● Gelbe Gewerkschaften; 416 10 Die Politische Ökonomie des Internets und der Digitalen Medien <?page no="417"?> ● Ekelhaftes Essen in der Kantine; ● Militärischen Drill; ● Bestrafungen; ● Fehlende Pausen; ● Sicherheits- und Gesundheits-Bedrohungen; ● Zwangspraktika für Studierende; ● Überfüllte Schlafsäle. „In order to maximize productivity, workers at Foxconn are made to work like machines“ (SACOM 2010, 10). Im Großbritannien des 19. Jahrhunderts beschrieb Marx Berichte von Fabrikinspektoren über die Arbeitsbedingun‐ gen in einer Tapetenfabrik, die wie zeitgenössische Beschreibungen aus den SACOM-Berichten klingen: „‚Die Kinder konnten oft vor Müdigkeit die Augen nicht aufhalten, in der Tat, wir selbst können es oft kaum‘. […] J. Lightbourne: ‚Ich bin 13 Jahre alt… Wir arbeiteten letzten Winter bis 9 Uhr abends und den Winter vorher bis 10 Uhr. Ich pflegte letzten Winter fast jeden Abend vom Schmerz wunder Füße zu schreien‘“ (Marx 1867, 261-262). Wissenschaftler: innen haben die Ausbeutung der Arbeiter: innen bei Foxconn analysiert: „Foxconn as a form of monopoly capital generates a global ‘race to the bottom’ production strategy and repressive mode of management that weighs heavily on the rural migrant workers who form its work force, depriving them of their hopes, their dreams, and their future“ (Pun & Chan 2012, 405). Apple „is more than a ‘bad apple’. It is an example of structures of inequality and exploitation that characterize global capitalism“ (Sandoval 2013, 344). „There is a planetary network whose central nexus is the Apple-Foxconn alliance - or Appconn - the ‘master’, so to speak, who owns, manipulates, and exploits untold numbers of iSlaves. Almost all brands and contract manufacturers of the digital media sector have their share in sustaining this highly problematic world system I call Appconn“ (Qiu 2016, 6). „Apple and other international companies are responsible for rights violations at Foxconn and other supplier factories. Leading American and European firms, having actively shed domestic employment through outsourcing and other forms of subcontracting, have failed to honor labor rights in the companies that now produce and assemble their products, whatever their company codes state“ (Chan, Selden & Pun 2020, 197). 10.3 Digitale Arbeit 417 <?page no="418"?> Wie sah die Situation bei Foxconn zehn Jahre nach den Foxconn-Selbstmor‐ den aus? Im Jahr 2019 führten investigative Forscher: innen Analysen der Arbeitssituation in der Foxconn-Fabrik in Zhengzhou durch: „Chinese labor law mandates that workers must not work more than 36 overtime hours a month. However, during the peak production seasons, workers at Zhengzhou Foxconn put in at least 100 overtime hours a month. There have been periods where workers have one rest day for every 13 days worked or even have only one rest day for a month. […] If work is not completed by the time the shift ends, workers must work overtime and workers are not paid for this. […] The factory does not provide workers with adequate personal protective equipment and workers do not receive any occupational health and safety training. […] The factory does not report work injuries. […] Verbal abuse is common at the factory“ (China Labor Watch 2019, 4-5). China begegnete der COVID-19-Pandemie mit einer Null-COVID-Strategie, die großflächige Lockdowns mit Ausgangssperren vorsah. Im Spätherbst 2022 breitete sich eine COVID-Welle in China aus, auch in den Foxconn-Fa‐ briken. Viele Arbeiter: innen verließen die Fabriken, weil sie befürchteten, „unter unzureichenden Bedingungen in Quarantäne gezwungen zu werden” (China Labor Watch 2022). In Berichten wurde betont, dass Foxconn-Be‐ schäftigte, die sich mit dem Virus infiziert hatten, wie Sachen und Vieh behandelt wurden: „Zhengzhou ist der Hauptstandort von Foxconn für die Produktion von iPhones. […] Die Produktion läuft weiter, ungeachtet der Kreuzinfektionen und der Anhäu‐ fung kranker Arbeiter. […] Das Management schlug keine Produktionspause vor. Dies führte zum späteren Ausbruch der Epidemie in der Fabrik. Am 14. Oktober begann die Fabrik mit der Einführung einer ‚geschlossenen Produktion‘; die Bewegung der Arbeiter: innen zwischen der Produktionslinie und dem Schlafsaal wird streng kontrolliert, und die Mobilität zwischen der Fabrik und dem Außen‐ bereich wird auf ein Minimum reduziert. […] viele Hersteller im ganzen Land entscheiden sich für die Closed-Loop-Produktion, indem sie die Arbeiter: innen innerhalb der Fabrik einsperren und sie zwingen, nur zwischen dem Fließband und ihrem Schlafsaal zu pendeln […] der geschlossene Kreislauf ist nur ein Mittel zur Aufrechterhaltung der Produktion; die Gesundheit der Arbeiter: innen und die Sicherheit des Lebens der Patient: inn: en sind zweitrangig […] die Arbei‐ ter: innen, die aus dem Schlafsaal in die Quarantänestationen gebracht wurden, blieben unbeaufsichtigt und mussten daher über soziale Medien um Hilfe bitten. 418 10 Die Politische Ökonomie des Internets und der Digitalen Medien <?page no="419"?> […] Nachdem alle Mitbewohner: innen Symptome wie Fieber, Schnupfen und Atembeschwerden zeigten, erhielten sie keine Medikamente oder medizinische Behandlung. […] Bei der so genannten ‚Quarantäne‘ handelte es sich lediglich um eine räumliche Verlegung der Arbeiter: innen von einem Ort zu einem anderen; der neue Ort bietet nicht nur keine Bedingungen für eine alleinige Quarantäne, sondern auch keine anschließende medizinische Versorgung und Lebensmittel‐ verteilung. […] In der Zwischenzeit werden die in der Fabrik verbliebenen Arbeiter gezwungen, inmitten des Ausbruchs von Covid-19 weiterzuarbeiten. […] Die sanitären Anlagen im Schlafsaalbereich können mit dem sich ansammelnden Müll nicht Schritt halten, was zu besorgniserregenden sanitären Bedingungen führt, die das Leben der Arbeiter: innen noch unsicherer machen […] Viele Arbeiter: innen wollen jedoch inmitten des Chaos nicht mehr weiterarbeiten und wollen einfach nur in Sicherheit bleiben. Leider gibt es keine Möglichkeit, Foxconn zu verlassen; das Management des ‚geschlossenen Kreislaufs‘ bedeutet, dass die Beschäftigten das Hafengebiet, in dem sich Foxconn befindet, nicht ohne Sondergenehmigung verlassen können. Einige Arbeiter: innen verzichteten schließlich auf ihren Lohn und beschlossen, aus der Fabrik zu fliehen. […] Aus der Meldung ging auch hervor, dass ein Teil des Drucks auf Foxconn, die Arbeit zu beschleunigen, ‚von Apple‘ kam. Das Werk in Zhengzhou verfügt über mehr als 90 Produktionslinien und beschäftigt rund 350.000 Arbeiter: innen. Es ist auch die Hauptproduktionsstätte von Foxconn für Apples iPhones, die die Hälfte des weltweiten iPhone-Absatzes ausmachen. Gerade jetzt, in der Hochsaison der Produktion, arbeitet Foxconn mit Hochdruck an Apples neuestem Produkt, dem iPhone 14“ (China Labor Watch 2022). Hardware-Monteurinnen/ Monteure, Bergleute, die Mineralien abbauen, die für IKT-Komponenten verwendet werden, und eWaste-Arbeiter: in‐ nen sind Kultur- und Digitalarbeiter: innen, genauso wie Online-Journa‐ list: inn: en, Software-Programmierer: innen oder Plattform-Arbeiter: innen wie Online-Freiberufler: innen. Marisol Sandoval plädiert für eine konzep‐ tionelle und politische Vereinheitlichung der digitalen Arbeiter: innen: „what unites them is not only that they all, in different ways, deal with new information and communication technologies, but also that they are all subject to exploitation, high work pressure and often precariousness. Rather than using concepts such as ‘immaterial labour’ (Hardt and Negri 2004) that reinforce the separation of manual and mental work it seems more useful to extend concepts such as knowledge work or digital labour to include the manual work of those who are producing computer technologies, electronic equipment and media 10.3 Digitale Arbeit 419 <?page no="420"?> technologies. […] Such extended notions can provide a conceptual framework for analyzing the international division of digital labour. Broad understandings of digital labour can furthermore be a starting point for building connections and moments of solidarity along the global value chain of computer technologies from mineral miners and production workers to call centre agents, software engineers, and the labour of unpaid prosumers, back to waste workers in electronics dumping grounds” (Sandoval 2013, 345). Nick Dyer-Witheford (2013, 166) charakterisiert das, was er als den globalen Arbeiter bezeichnet: „Today’s global worker is collective labour that is: a. trans-nationalized by the movement of industrial capital beyond its traditional heartlands, b. variegated by an increasingly complex division of labour, with the fastest growth neither in industry nor agriculture but in the circulation and social reproduction (aka ‘the service sector’); c. feminized by the inclusion of women who both work for a wage and perform the unpaid domestic labour that is the basis of the formal economy; d. mobile and migrant both within and across borders; e. precarious, rendered chronically insecure by a vast reserve army of the unor under-employed f. earth-changing in the effects of labours that, while historically cumula‐ tive, are only now becoming visible in an anthropogenic crisis of the natural environment; and finally - the focus of this essay - g. connected by 2 billion Internet accounts and 6 billion cell phones”. Dyer-Witheford weist darauf hin, dass die Globalisierung der Arbeit im Kapitalismus mit viel prekärer Arbeit und der Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft einhergeht. Arbeiter: innen auf der ganzen Welt nutzen das Internet und das Mobiltelefon, was es ihnen ermöglicht, diese Instrumente auch einzusetzen, wenn sie bessere Arbeitsbedingungen fordern, streiken und protestieren. Die Verwendung des weit gefassten Begriffs der digitalen und globalen Arbeit hat auch politische Auswirkungen: „Den Namen des globalen Arbeiters zu nennen bedeutet, eine Karte zu erstellen; und eine Karte ist auch eine Waffe“ im Kampf für eine bessere Gesellschaft (Dyer-Wi‐ theford 2014, 175). 420 10 Die Politische Ökonomie des Internets und der Digitalen Medien <?page no="421"?> Ein weiteres wichtiges Phänomen der politischen Ökonomie des Internets ist die digitale Überwachung. 10.4 Digitale Überwachung Überwachung ist das Sammeln, Auswerten und Nutzen von Daten über Menschen zum Zwecke der Herrschaftsausübung (siehe Fuchs 2011, 2012). Digitale Überwachung ist der Einsatz digitaler Technologien zur Überwa‐ chung. Wirtschaftliche Überwachung bedeutet die Überwachung von Kon‐ sument: innen und Arbeiter: inne: n zu wirtschaftlichen Zwecken wie der Kapitalakkumulation. Politische Überwachung fördert die Überwachung von Bürger: innen zu politischen Zwecken wie der Verteidigung und Aus‐ weitung von Macht. Digitale Überwachung ist Teil der heutigen politischen Ökonomie des Internets. Wir haben bereits gesehen, dass soziale Medien Big Data sammeln, speichern und ökonomisch für Werbezwecke verwerten. Überwachung ist Teil ihres Geschäftsmodells. Daher spricht Shoshana Zuboff (2018) vom Überwachungskapitalismus. Sie definiert den Überwachungskapitalismus als „1. [n]eue Marktform, die menschliche Erfahrung als kostenlosen Rohstoff für ihre versteckten kommerziellen Operationen der Extraktion, Vorhersage und des Verkaufs reklamiert; 2. eine parasitäre ökonomische Logik, bei der die Produktion von Gütern und Dienstleistungen einer neuen globalen Architektur zur Verhaltensmodifikation untergeordnet ist; 3. eine aus der Art geschlagene Form des Kapitalismus, die sich durch eine Konzentration von Reichtum, Wissen und Macht auszeichnet, die in der Menschheitsgeschichte beispiellos ist“ (Zuboff 2018, 7). Es gibt neben der wirtschaftlich orientierten digitalen Überwachung, von der Zuboff spricht, aber auch digitale Überwachung, bei der private Inter‐ netplattformen Daten sammeln, auf die staatliche Institutionen zugreifen. Politik und Ökonomie spielen dabei zusammen: Es gibt dabei ein ökonomi‐ sches Interesse der Plattform-Unternehmen an Datensammlung und ein staatliches Interesse an der Einsicht in und Verwendung diese Daten. Wir können daher von einer politischen Ökonomie der digitalen Über‐ wachung sprechen. Wir werden uns nun einige Beispiel der politischen Ökonomie der digitalen Überwachung ansehen. 10.4 Digitale Überwachung 421 <?page no="422"?> 62 https: / / en.wikipedia.org/ wiki/ List_of_websites_blocked_in_mainland_China, abgeru‐ fen am 3. November 2022. 63 https: / / digichina.stanford.edu/ work/ translation-cybersecurity-law-of-the-peoples-rep ublic-of-china-effective-june-1-2017/ , abgerufen am 3. November 2022. Internet-Überwachung findet in vielen Teilen der Welt statt, sowohl in nicht-westlichen als auch in westlichen Ländern. Wir werden zwei Beispiele diskutieren, nämlich die Internetüberwachung in China und auf Facebook. Internet-Überwachung in China Im Jahr 2014 wurde die Chinesische Cyberspace-Verwaltung als neue staatliche Einrichtung für die Regulierung des Internets geschaffen. Sie ist die zentrale Behörde, die für die Regulierung, Überwachung, Kontrolle und Zensur des Internets in China zuständig ist. Sie betreibt auch die Great Firewall of China, eine Technologie zur Sperrung, Überwachung und Filterung des Internets. Sie schränkt den Zugang von Nutzer: innen in China zu bestimmten ausländischen Webplattformen ein, überwacht, filtert, zensiert und sperrt die Internetnutzung in China und den Zugang zu Internetseiten auf der Grundlage von Listen verbotener Schlüsselwörter (siehe z. B. Hoang et al. 2021, Rambert et al. 2021). Die Große Firewall „belauscht den Datenverkehr zwischen China und dem Rest der Welt und beendet Anfragen nach verbotenen Inhalten (z. B. bei einer Anfrage nach 'http: / / www.google.com/ ? falun', unabhängig vom tatsächlichen Zielserver), indem sie eine Reihe von gefälschten TCP-Reset-Paketen (RST) einschleust, die sowohl dem Anfragenden als auch dem Ziel mitteilen, die Kommunika‐ tion einzustellen“ (Marczak et al. 2015, 3). Zu den im Jahr 2022 in China blockierten ausländischen Plattformen gehörten unter anderem Google, YouTube, Facebook, Wikipedia, Instagram, WhatsApp, Twitter, LinkedIn, BBC, die New York Times, der Guardian, die Washington Post und das Internet Archive 62 . Im Jahr 2017 trat das chinesische Cybersicherheitsgesetz in Kraft. Es ist ein einheitlicher Rahmen für die Regulierung des Internets. Es sieht unter an‐ derem vor, dass es Nutzer: innen untersagt ist, „Aktivitäten durchzuführen, die die nationale Sicherheit, die nationale Ehre und das nationale Interesse gefährden“, zur „Untergrabung der nationalen Einheit“ anzustiften oder „falsche Informationen zu erstellen oder zu verbreiten, um die wirtschaftli‐ che und soziale Ordnung zu stören“ (Artikel 12) 63 . Artikel 21 verpflichtet 422 10 Die Politische Ökonomie des Internets und der Digitalen Medien <?page no="423"?> 64 https: / / digichina.stanford.edu/ work/ translation-cybersecurity-law-of-the-peoples-rep ublic-of-china-effective-june-1-2017/ , abgerufen am 3. November 2022. Internetplattformen und Diensteanbieter zur Überwachung ihrer Nutzer: in‐ nen. Artikel 28 verpflichtet diese Betreiber, den öffentlichen und nationalen Sicherheitsorganen bei Ermittlungen zu kriminellen Aktivitäten und zum „Schutz der nationalen Sicherheit“ Zugang zu den gespeicherten Daten zu gewähren 64 . Artikel 37 schreibt vor, dass Internetbetreiber von Plattformen, die in China genutzt werden, die Daten chinesischer Nutzer: innen in Festlandchina speichern, um den chinesischen Behörden den Zugriff auf diese Daten zu erleichtern. Yang (2019) argumentiert, dass das chinesische Internet der Schauplatz von Online-Protesten, Cyber-Nationalismus, Überwachung und Zensur ist. Zu den sanfteren Formen der Internetkontrolle in China haben in der Xi-Ära nationale Kampagnen gegen bestimmte Internetentwicklungen gehört, die Präsenz offizieller Partei- und Staatskonten auf beliebten Internetplattfor‐ men wie Weibo, WeChat, Toutiao und Douyin (die chinesische Version von TikTok), die Verpflichtung von Internetplattformen zur Selbstkontrolle von Inhalten, die Unterstützung parteitreuer Internet-Influencer: innen und die Schaffung einer 50-Cent-Armee, bestehend aus Personen, die für die Ver‐ breitung von Parteipropaganda bezahlt werden. Zu den harten Maßnahmen der Internetkontrolle gehören die Große Chinesische Firewall und Versuche mit dem chinesischen Sozialkreditsystem (Yang 2019). „Der allgemeine Trend der letzten Jahrzehnte ist die allmähliche Beschneidung der Macht der Bürger: innen bei der Nutzung des Internets, um den Parteistaat zu hinterfragen. Dennoch muss die Internetpolitik in China als eine sich dynamisch entfaltende Geschichte von Konflikten und Kontrolle verstanden werden" (Yang 2019, 451). Facebook und der Cambridge Analytica-Skandal Der Cambridge Analytica-Skandal zeigt, wie die politische Ökonomie der digitalen Überwachung funktioniert und wie wirtschaftliche und politische Überwachung zusammenwirken (siehe Fuchs 2021, Kapitel 6). Das Unter‐ nehmen Cambridge Analytica bezahlte Global Science Research (GSR) für die Durchführung gefälschter Online-Persönlichkeitstests auf Facebook, um persönliche Facebook-Daten von fast 90 Millionen Nutzern und Nutzerinnen zu erhalten. Die gewonnenen Daten wurden für gezielte politische Werbung 10.4 Digitale Überwachung 423 <?page no="424"?> verwendet, unter anderem bei den US-Präsidentschaftswahlen 2016, bei denen das Ziel darin bestand, Trumps Kampagne zu unterstützen. Cambridge Analytica ist eine Geschichte darüber, wie die Kombination aus digitalem Kapitalismus, neoliberaler Politik und rechtsextremer Ideolo‐ gie die Demokratie bedroht. Die Rechtsextremen fördern den Einsatz von zweifelhaften und manipulativen Informations- und Kommunikationsstra‐ tegien in der Politik. Rechtsextreme Ideologen tun alles, um Wahlen zu gewinnen und an die Macht zu kommen. Soziale Medienkonzerne machen aus Daten Profit und werden von neoliberalen Regierungen unterstützt. Die Folge ist eine laxe Regulierung des Daten- und Persönlichkeitsschutzes. Mit der Duldung von manipulativen und demokratiegefährdenden Anzeigen lässt sich Geld verdienen. Facebook hat nichts gegen die Datenpanne von Cambridge Analytica/ GLS unternommen. Laxe Datenschutzbestimmungen spielten eine wichtige Rolle. Nicht Menschen, sondern Algorithmen steu‐ ern digitale Werbung. Social-Media-Konzerne haben kein Interesse an menschlicher Kontrolle, da eine solche Kontrolle Geld kostet und weniger Profit bedeutet. Facebook zielt auf Kapitalakkumulation durch Werbung, rechtsextreme Demagogen auf die Manipulation der Politik. Die Enthüllungen von Edward Snowden zeigten auch das Zusammen‐ spiel von wirtschaftlicher und politischer Überwachung. Snowden leakte Dokumente, aus denen hervorging, dass Polizeikräfte und Geheimdienste direkten Zugriff auf persönliche Nutzerdaten haben, die von Aol, Apple, Facebook, Google, Microsoft, Paltalk, Skype, Yahoo! und YouTube gespei‐ chert werden. Die Beispiele zeigen, dass es bei der digitalen Überwachung eine inhärente Verflechtung von wirtschaftlichen und politischen Prozessen und Interessen gibt. C. Wright Mills argumentierte 1956, dass es eine Machtelite gibt, die wirtschaftliche, politische und militärische Macht miteinander verbindet: „There is no longer, on the one hand, an economy, and, on the other hand, a political order containing a military establishment unimportant to politics and to money-making. There is a political economy linked, in a thousand ways, with military institutions and decisions. […] there is an ever-increas‐ ing interlocking of economic, military, and political structures” (Mills 1956, 7-8). Im überwachungsindustriellen Komplex werden Nutzerdaten erstens externalisiert und im Internet öffentlich oder halböffentlich gemacht, um die Kommunikationsprozesse der Nutzer zu ermöglichen. Zweitens werden Daten von Internetplattformen als Privateigentum privatisiert, um Kapital zu akkumulieren. Drittens erfolgt eine Partikularisierung von Daten durch 424 10 Die Politische Ökonomie des Internets und der Digitalen Medien <?page no="425"?> Geheimdienste, die riesige Datenmengen unter ihre Kontrolle bringen, die mit Hilfe von profitorientierten Sicherheitsunternehmen wie Booz Allen Hamilton weltweit zugänglich gemacht und analysiert werden. Angesichts der Tatsache, dass die vorherrschenden Internet-Plattformen und Unternehmen die digitale Arbeit ausbeuten und überwachen, stellt sich die Frage, welche Alternativen es gibt. 10.5 Auf dem Weg zu einer Alternativen Politischen Ökonomie des Internets Wie können Alternativen zur kapitalistischen politischen Ökonomie des Internets aussehen und erreicht werden? Ein erstes Argument, auf das man stößt, ist, dass Apple, Facebook, Google usw. großartige Unternehmen sind, die die Welt bereichern, und dass deshalb keine Veränderung notwendig ist. Das Problem dieses Arguments ist, dass das digitale Kapital die digitale Arbeit ausbeutet, dass es Ideologien im und über das Internet gibt und dass es digitale Herrschaft wie digitale Überwachung gibt (siehe Fuchs 2021). Ein zweiter Ansatz ist der Versuch, die Regulierung von Internetunter‐ nehmen durch Datenschutzgesetze, Gesetze zum Schutz der Privatsphäre, Antimonopolvorschriften, die Besteuerung von digitalem Kapital usw. zu verbessern. Dies ist der Ansatz, den die Europäische Union in den letzten Jahren verfolgt hat. Ein dritter Ansatz ist der Versuch, zivilgesellschaftliche Alternativen zu kapitalistischen Internetkonzernen zu fördern. Plattform-Kooperativen sind ein Beispiel dafür. Dabei handelt es sich um Internetplattformen, die im Besitz von Arbeitenden und Nutzer: innen sind und von diesen verwal‐ tet werden (siehe Scholz & Schneider 2016, Scholz 2016). Ein generelles Problem alternativer, zivilgesellschaftlich organisierter Medien (z. B. als Community-Medien) ist, dass es ihnen oft an Ressourcen mangelt und sie nicht mit den kapitalistischen Mediengiganten konkurrieren können, weshalb sie im Kapitalismus eher unbekannt bleiben und auf freiwilliger, selbstausbeuterischer Arbeit beruhen. Ein vierter Ansatz ist die Schaffung eines öffentlich-rechtlichen Internets und von öffentlich-rechtlichen Internetplattformen. Das Manifest für Öf‐ fentlich-Rechtliche Medien und ein Öffentlich-Rechtliches Internet (Fuchs und Unterberger 2021) fordert die Sicherung der Existenz, der Unabhängig‐ 10.5 Auf dem Weg zu einer Alternativen Politischen Ökonomie des Internets 425 <?page no="426"?> keit und der Finanzierung der öffentlich-rechtlichen Medien wie BBC, ARD und ZDF, sowie die Entwicklung eines öffentlich-rechtlichen Internets und die Finanzierung der öffentlich-rechtlichen Medien, um Online-Plattformen zu deren Unterstützung bereitzustellen. Das Manifest kann unter folgender Adresse unterzeichnet werden: -http: / / bit.ly/ signPSManifesto. Öffentlich-rechtliche Internetplattformen werden von öffentlich-rechtli‐ chen Medienorganisationen bereitgestellt, die nicht gewinnorientiert sind und den digitalen Auftrag haben, Informationen, Nachrichten, Debatten, Demokratie, Bildung, Unterhaltung, Beteiligung und Kreativität mit Hilfe des Internets zu fördern. Das Manifest fordert: „Wir müssen das Internet wiederaufbauen. Während das heutige Internet von Monopolen und Kommerz beherrscht wird, ist das öffentlich-rechtliche Internet von Demokratie geprägt. Während das heutige Internet von Überwachung beherrscht wird, ist das öffentlich-rechtliche Internet datenschutzfreundlich und transparent. Während das heutige Internet die Öffentlichkeit fehlinformiert und spaltet, bindet das öffentlich-rechtliche Internet die Öffentlichkeit ein, informiert sie und unterstützt sie. Während das heutige Internet vom Profitprinzip ange‐ trieben wird und dieses vorantreibt, stellt das öffentlich-rechtliche Internet die sozialen und gesellschaftlichen Bedürfnisse der Menschen in den Vordergrund” (Fuchs & Unterberger 2021 [deutsche Version], 5-6). Vincent Mosco (2017) argumentiert, dass die Post in vielen Ländern ein öffentlicher Versorgungsdienst ist und dass das Internet nach demselben Prinzip organisiert werden sollte. „Alles, was uns davon abhält, das Modell des Postdienstes als öffentliches Versorgungsunternehmen für das nächste Internet zu nutzen, ist das Versagen unserer öffentlichen Vorstellungskraft und der Druck der Wirtschaft, die Kommunikation in den Dienst des Profits und nicht in den Dienst der Menschen zu stellen“ (Mosco 2017, 187). Das Internet als öffentliches Versorgungsunternehmen ist ein „universelles Kommunikationssystem“, das „öffentlich, offen und zugänglich“ ist (Mosco 2017, 208-209). Mosco beschreibt auf folgende Weise das Internet als öffent‐ liches Kommunikationssystem: „Der Aufbau von öffentlichen Informationsdiensten bietet eine Alternative zur singulären Dominanz der großen Fünf und ihrem ebenso singulären Engage‐ ment für die Kommerzialisierung und Militarisierung der gesamten Produktion, Verteilung und Nutzung von Daten, Informationen, Wissen und Unterhaltung. Öffentliche Informationsdienstleister würden von der Verpflichtung zu einem 426 10 Die Politische Ökonomie des Internets und der Digitalen Medien <?page no="427"?> universellen und gleichberechtigten Zugang zu offenen Netzen angetrieben. Sie würden die öffentliche Kontrolle über Plattformen für soziale Medien unterstüt‐ zen, um ein echtes elektronisches Gemeingut zu schaffen. Sie würden auch ana‐ loge Alternativen zur digitalen Welt fördern. Darüber hinaus würden öffentliche Informationsdienstleister einen wichtigen Raum für die Auseinandersetzung mit Fragen des Umweltschutzes, des Schutzes der Privatsphäre und des Arbeitsplatzes bieten, die in der Post-Internet-Welt auftauchen. Wir haben jetzt die technischen Möglichkeiten, diese Ziele zu erreichen. Es bleibt abzuwarten, ob wir die sozialen Bewegungen aufbauen können, die notwendig sind, um eine demokratischere und egalitärere Post-Internet-Welt zu schaffen“ (Mosco 2017, 212). 10.6 Schlussfolgerungen Dieses Kapitel befasste sich mit der politischen Ökonomie des Internets und der digitalen Medien. Wir können nun die wichtigsten Ergebnisse zusammenfassen. - Erkenntnis 1: Die politische Ökonomie der sozialen Medien Zielgerichtete Werbung ist ein wichtiges Kapitalakkumulationsmodell von Unternehmen der sozialen Medien. Sie basiert auf unbezahlter digitaler Ar‐ beit, die Aufmerksamkeit, Daten, Inhalte und soziale Beziehungen erzeugt. - Erkenntnis 2: Die politische Ökonomie der digitalen Arbeit Digitale Arbeit ist Arbeit, die an der Produktion digitaler Waren beteiligt ist. Es gibt verschiedene Formen digitaler Arbeit, die in einer internationalen digitalen Arbeitsteilung ausgebeutet werden, von der das digitale Kapital profitiert. Beispiele wie die Ausbeutung von Foxconn-Arbeitenden, die das iPhone produzieren, zeigen, wie digitale Arbeit funktioniert. - Erkenntnis 3: Die politische Ökonomie der digitalen Überwachung Überwachung ist das Sammeln, Auswerten und Verwenden von Daten über Menschen zum Zwecke der Herrschaftsausübung. Digitale Überwachung ist der Einsatz digitaler Technologien zur Überwachung. Beispiele wie die Internetüberwachung in China, der Cambridge Analytica-Skandal und 10.6 Schlussfolgerungen 427 <?page no="428"?> die Enthüllungen von Edward Snowden zeigen, wie wirtschaftliche und politische Interessen bei der digitalen Überwachung zusammenspielen. - Erkenntnis 4: Auf dem Weg zu einer alternativen politischen Ökonomie des Internets und der digitalen Medien Zu den Alternativen zum kapitalistischen Internet und den kapitalistischen digitalen Medien gehören politische Regulierung, Plattform-Kooperativen und öffentlich-rechtliche Internetplattformen. Literatur Chan, Jenny, Mark Selden & Ngai Pun. 2020. Dying for an iPhone: Apple, Foxconn, and the Lives of China’s Workers. Chicago, IL: Haymarket Books. China Labor Watch. 2022. Zhengzhou Foxconn Coerces Employees to Work on iPhone 14 Production Amid COVID-19 Outbreak, While Hiding the Number of Sick Workers. China Labor Watch, 28. 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New York: Routledge: Kapitel 4: Dallas Smythe and Audience Labour Today. Christian Fuchs. 2015. Culture and Economy in the Age of Social Media. New York: Routledge: Kapitel 6: Social Media’s International Division of Digital Labour. Marisol Sandoval. 2013. Foxconned Labour as the Dark Side of the Information Age. Working Conditions at Apple’s Contract Manufacturers in China. tripleC: Communication, Capitalism & Critique 11 (2): 318-347. DOI: https: / / doi.org/ 10.32 69/ triplec.v11i2.481 Jack L. Qiu. 2015. Reflections on Big Data. “Just Because It’s Accessible Does Not Make it Ethical”. Media, Culture & Society 37 (7): 1089-1094. DOI: https: / / doi.org/ 10.1177/ 0163443715594104 ÜBUNG 10.1.: SOZIALE MEDIEN Diskutieren Sie: Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Vorteile der sozialen Medien? Was sind Ihrer Meinung nach die größten Nachteile der sozialen Medien? ÜBUNG 10.2: DIGITALE ARBEIT Wählen Sie eine Form der digitalen Arbeit, die Sie besonders interes‐ siert. Suchen Sie nach mindestens zwei wissenschaftlichen Artikeln oder Berichten, die diese Form der digitalen Arbeit analysieren. Diskutieren Sie: Wie sehen die Arbeitsbedingungen der analysierten digitalen Arbeit aus? Mit welchen Problemen sind diese Arbeitenden konfrontiert? Literatur, empfohlene Lektüre und Übungen 431 <?page no="432"?> Aufgabe Merke Frage Literatur Wissen Zusatz Link / www Checkliste Ziele ICON SET 5 Aufgabe Merke Frage Literatur Wissen Zusatz Link / www Checkliste Ziele ICON SET 5 Welche Rolle spielen oder können Gewerkschaften, Streiks und Pro‐ teste im Zusammenhang mit der Ausbeutung der untersuchten Form der digitalen Arbeit spielen? Wie könnten die Probleme, mit denen die digitalen Arbeiter: innen konfrontiert sind, am besten überwunden werden? ÜBUNG 10.3: DIGITALE ÜBERWACHUNG Lesen Sie zunächst die beiden folgenden Texte: Christian Fuchs. 2012. Political Economy and Surveillance Theory. Cri‐ tical Sociology 39 (5): 671-687. DOI: https: / / doi.org/ 10.1177%2F089692 0511435710 - Christian Fuchs. 2011. How to Define Surveillance? MATRIZes 5 (1): 109-133.-DOI: https: / / doi.org/ 10.11606/ issn.1982-8160.v5i1p109-136 Suchen Sie nach Lektüre der Texte ein wichtiges Beispiel für digitale Überwachung. Fragen Sie sich und diskutieren Sie: Was ist Überwachung? Was ist die Rolle der Überwachung im Kapi‐ talismus? Was ist digitale Überwachung? Was ist die Rolle der digitalen Über‐ wachung im Kapitalismus? Analysieren Sie Ihr Beispiel aus der Perspektive der Politischen Öko‐ nomie und bereiten Sie eine kurze Präsentation dieser Analyse vor. ÜBUNG 10.4: DIE ALTERNATIVE POLITISCHE ÖKONOMIE DES INTERNETS UND DER DIGITALEN MEDIEN Suchen Sie nach mindestens drei Nachrichtenartikeln über nicht-kom‐ merzielle Alternativen zur kapitalistischen Organisation des Internets und der digitalen Medien. Sie können sich zum Beispiel auf eine bestimmte Art von Plattform (z. B. nutzergenerierte Videos, soziales Netzwerk, Suchmaschine usw.) oder digitaler Technologie konzentrie‐ ren. Diskutieren Sie: Wie funktionieren die nichtkommerziellen Technologien/ Plattfor‐ men, über die Sie gelesen haben? Wie sieht deren politische Ökonomie aus? 432 10 Die Politische Ökonomie des Internets und der Digitalen Medien <?page no="433"?> Aufgabe Merke Frage Literatur Wissen Zusatz Link / www Checkliste Ziele ICON SET 5 Wie unterscheiden sie sich vom vorherrschenden Modell des Internets und der digitalen Medien? Wie würden das Internet und die digitalen Medien in einer idealen Welt aussehen? ÜBUNG 10.5: DIGITALE SOZIALKREDITSYSTEME Informieren Sie sich im Internet (Dokumentationen, Zeitungsartikel, wissenschaftliche Artikel) darüber, was das chinesische Sozialkredit‐ system ist, wie es funktioniert und in welcher Form es heute eingesetzt wird. Sehen Sie sich die Folge „Abgestürzt“/ „Nosedive“ der Science-Fic‐ tion-Serie Black Mirror an (Staffel 3, Episode 1). Diskutieren Sie: Welche Auswirkungen hat ein Sozialkreditsystem, bei dem die Men‐ schen permanent bewertet und beurteilt werden, auf die Gesellschaft? Wie beurteilen Sie das Sozialkreditsystem Chinas? Literatur, empfohlene Lektüre und Übungen 433 <?page no="435"?> Aufgabe Merke Frage Literatur Wissen Zusatz Link / www Checkliste Ziele ICON SET 5 11 Die Politische Ökonomie der Informationsgesellschaft und des Digitalen Kapitalismus Was Sie in diesem Kapitel lernen werden: Sie werden Gesellschaftskonzepte wie die Informationsgesellschaft, die postindustrielle Gesellschaft und die Netzwerkgesellschaft kennenler‐ nen. Sie werden sich mit Kritik an der Theorie der Informationsgesellschaft auseinandersetzen. Sie werden sich mit Konzepten wie Informationskapitalismus, kogniti‐ ver Kapitalismus in der Gesellschaft der Singularitäten, Datenkapitalis‐ mus, Plattformkapitalismus, Überwachungskapitalismus und digitalem Kapitalismus beschäftigen. 11.1 Einleitung Seit den 1960er Jahren sind der Begriff der Informationsgesellschaft und verwandte Begriffe wie Wissensgesellschaft, postindustrielle Gesellschaft und Netzwerkgesellschaft sehr populär geworden, um zeitgenössische Ge‐ sellschaften zu charakterisieren, in denen Medien, Kultur, Kommunikation, Information, Wissensarbeit, Computer und das Internet eine wichtige Rolle spielen. In diesem Kapitel werden wir erörtern, ob solche Begriffe sinnvoll sind oder nicht. Leben wir wirklich in einer Informationsgesellschaft? Oder sind solche Behauptungen reine Ideologie? Im Mittelpunkt dieses Kapitels stehen die Fragen: In welcher Art von Gesellschaft leben wir? Leben wir in einer Informationsgesellschaft oder in einer kapitalistischen Gesellschaft? Was ist der digitale Kapitalismus? In Abschnitt 11.2. werden die Grundlagen der Theorie der Informations‐ gesellschaft erörtert. In Abschnitt 11.3. werden skeptische Ansichten zur Theorie der Informationsgesellschaft dargelegt. Abschnitt 11.4. stellt die Frage, ob wir in einer kapitalistischen Gesellschaft oder in einer Informati‐ onsgesellschaft leben. Abschnitt 11.5. präsentiert Schlussfolgerungen. <?page no="436"?> Aufgabe Merke Frage Literatur Wissen Zusatz Link / www Checkliste Ziele ICON SET 5 11.2 Theorien der Informationsgesellschaft ÜBUNG 11.1: IN WAS FÜR EINER GESELLSCHAFT LEBEN WIR? Diskutieren Sie in Gruppen: In welcher Art von Gesellschaft leben wir? Und warum? Welches Konzept passt am besten, um die heutige Gesellschaft zu beschreiben? Und warum? Globale Gesellschaft Kapitalistische Gesellschaft Informationsgesellschaft Netzwerkgesellschaft Fritz Machlups Theorie der Informationsgesellschaft Der Wirtschaftswissenschaftler Fritz Machlup (1962) entwickelte eine frühe Version der Theorie der Informationsgesellschaft. Er schuf eine Gruppierung von Berufen, die er für die Analyse der Entwicklung der US-Wirtschaft verwendete: (A) white collar workers: (A1) professional, technical, and kindred workers (A2) managers, officials, and proprietors, except farm (A3) clerical and kindred workers (A4) sales workers (B) manual and service workers: (B1) craftsmen, foremen, and kindred workers (B2) operatives and kindred workers (B3) private household workers (B4) service workers, except private household (B5) laborers, except farm and mine (C) farm workers: (C1) farmers and farm managers (C2) farm laborers and foremen 436 11 Die Politische Ökonomie der Informationsgesellschaft und des Digitalen Kapitalismus <?page no="437"?> (A) Kopfarbeiter: innen: (A1) Fachkräfte, Techniker: innen und verwandte Berufe (A2) Führungskräfte, Beamt: inn: e: n und Eigentümer: innen, ausge‐ nommen Landwirt: inn: e: n (A3) Büroangestellte und verwandte Berufe (A4) Vertriebs- und Verkaufsmitarbeiter: innen (B) Handarbeiter: innen und Dienstleistungsberufe: (B1) Handwerker: innen, Vorarbeiter: innen und verwandte Berufe (B2) Fabrikarbeiter: innen und verwandte Berufe (B3) Arbeiter: innen in privaten Haushalten (B4) Dienstleistungsberufe, außer private Haushalte (B5) Manuelle Arbeiter: innen, außer in der Landwirtschaft und im Bergbau (C) Landarbeiter: innen: (C1) Landwirt: innen und Landwirtschaftsbetriebsleiter: innen (C2) Landarbeiter: innen und Vorarbeiter: innen Katego‐ rie 1900 1910 1920 1930 1940 1950 1959 Kopfar‐ bei‐ ter: in‐ nen 17,6% 21,3% 24,9% 29,4% 31,1% 36,6% 42,1% Handar‐ bei‐ ter: in‐ nen und Dienst‐ leis‐ tungs‐ berufe 44,9% 47,7% 48,1% 49,4% 51,5% 51,6% 48,0% Landar‐ bei‐ ter: in‐ nen 37,5% 30,9% 27,0% 21,2% 17,4% 11,8% 9,9% Tabelle 11.1: Die Entwicklung der Berufsstruktur in den Vereinigten Staaten (Datenquelle: Machlup 1962, 381) 11.2 Theorien der Informationsgesellschaft 437 <?page no="438"?> Machlup formulierte die zentrale Annahme der Theorie Informationsgesell‐ schaft, dass sich viele Gesellschaften zunächst von Agrargesellschaften zu Industriegesellschaften und dann zu Informations-/ Wissensgesellschaften entwickelt haben: „If all manual workers, industrial and agricultural, are taken together, their combined share in the labor force decreased from 82.4 per cent in 1900 to 57.9 per cent in 1959. White-collar workers, conversely, increased from 17.6 per cent of the labor force in 1900 to 42.1 per cent in 1959. This trend, uninterrupted for 60 years and probably longer, is most impressive” (Machlup 1962, 382). In Agrargesellschaften dominiert die Landwirtschaft die Berufe und die Wertschöpfung, in den Industriegesellschaften die verarbeitende Industrie, in den Informationsgesellschaften die Informationsarbeit. Daniel Bells Theorie der Informationsgesellschaft In seinem Buch The Coming of Post-Industrial Society führte Daniel Bell (1974) das Konzept der postindustriellen Gesellschaft ein, was eine andere Bezeichnung für „Informationsgesellschaft“ ist. Er argumentiert, dass eine postindustrielle Gesellschaft auf fünf Schlüsselprinzipien beruht: „1. Economic sector: the change from a goods-producing to a service economy; 2. Occupational distribution: the pre-eminence of the professional and technical class; 3. Axial principle: the centrality of theoretical knowledge as the source of innovation and of policy formulation for the society; 4. Future orientation: the control of technology and technological assessment; 5. Decision-making: the creation of a new ‘intellectual technology’” (Bell 1974, 14). Bell meint, dass in einer postindustriellen Gesellschaft die Dienstleistun‐ gen die Wirtschaft dominieren. Dienstleistungen sind eine schwammige Kategorie, die ein breites Spektrum unterschiedlicher Berufe umfasst, dar‐ unter professionelle Dienstleistungen (Lehrer: innen, Rechtsanwält: inn: e: n, Ärzt: inn: e: n, Ingenieur: inn: e: n, Architekt: inn: en) ebenso wie Pflegedienst‐ leistungen, persönliche Dienstleistungen (Friseur: inn: e: n, Masseure/ Mas‐ seusen, Kosmetiker: innen usw.), Einzelhandelsdienstleistungen, Manage‐ ment und Beratung, Medienarbeit, Transportdienstleistungen usw. Der Dienstleistungssektor ist schwer zu definieren. Er ist eine Restkategorie, die 438 11 Die Politische Ökonomie der Informationsgesellschaft und des Digitalen Kapitalismus <?page no="439"?> alle Arbeiten umfasst, die nicht zur Landwirtschaft und zur verarbeitenden Industrie gehören. Bell argumentiert, dass hochqualifizierte Fachkräfte/ Ex‐ pert: innen und Techniker: innen eine Schlüsselrolle in der postindustriellen Gesellschaft spielen. Außerdem spricht er vom Aufkommen einer neuen „intellektuellen Technologie“, was eine Anspielung auf den Computer ist. Manuel Castells‘ Theorie der Informationsgesellschaft In den 1990er Jahren veröffentlichte Manuel Castells (zuerst auf Englisch) die Trilogie The Information Age (Das Informationszeitalter), in der er die heutigen Gesellschaften als Netzwerkgesellschaft charakterisiert: „Zu dieser Jahrtausendwende ist eine neue Welt dabei, Form anzunehmen. Ihr Ursprung lag Ende der 1960er, Mitte der 1970er Jahre im historischen Zusammen‐ fallen von drei voneinander unabhängigen Prozessen: der informationstechnolo‐ gischen Revolution; der wirtschaftlichen Krise sowohl des Kapitalismus wie des Etatismus und ihrer darauf folgenden Neustrukturierung; und des Aufblühens kultureller sozialer Bewegungen wie der libertären Bewegung, der Bewegung für Menschenrechte, des Feminismus und der Umweltbewegung. Das Ineinanderwir‐ ken dieser drei Prozesse und die Reaktionen, die sie ausgelöst haben, riefen eine neue dominierende Sozialstruktur ins Leben, die Netzwerkgesellschaft; eine neue Wirtschaftsform, die informationelle/ globale Ökonomie; und eine neue Kultur, die Kultur der realen Virtualität“ (Castells 2003b, 415-416). Für Castells sind die beiden zentralen Veränderungen der Gesellschaft seit den 1970er Jahren der Aufstieg des Internets und die Globalisierung der Gesellschaft in Wirtschaft, Politik und Kultur. Technologische Netzwerke (das Internet) würden mit globalen sozialen Netzwerken von Menschen, Waren, Geld, Macht und Ideen interagieren. Für Castells besteht die Netz‐ werkgesellschaft aus vernetzten Organisationen, die über das Internet global kommunizieren. Weitere Vertreter der Theorie der Informationsgesellschaft sind zum Beispiel James R. Beniger (1986), Frances Cairncross (1997), Peter Drucker (1969), Yoneji Masuda (1980), Nicholas Negroponte (1995), Marc Porat (1977), Radovan Richta (1969), Nico Stehr (1994), Alain Touraine (1974) und Alvin Toffler (1980). 11.2 Theorien der Informationsgesellschaft 439 <?page no="440"?> 11.3 Skepsis und Kritik an Theorien der Informationsgesellschaft Ist die Informationsgesellschaft eine neue Gesellschaft? Ein zentrales Merkmal der Theorien zur Informationsgesellschaft ist die Behauptung, dass die Informations-/ Wissens-/ Netzgesellschaft eine radikal neue Gesellschaft ist. Hier sind einige Beispiele: „[The post-industrial society is] a new type of society” (Touraine 1974, 4). „[The] post-industrial society […] [means] the emergence of a new kind of society [that] brings into question the distributions of wealth, power, and status that are central to any society” (Bell 1974, 43). „[The third-wave society (the information society) is a] wholly new society“ (Toffler 1980, 261). „[The knowledge society means] an Age of Discontinuity in world economy and technology” (Drucker 1969, 10). The knowledge society means that ”the age of labor and property is at an end” (Stehr 1994, iix) and the “emergence of knowledge societies signals first and foremost a radical transformation in the structure of the economy“ (Stehr 1994, 10). „Die informationstechnologische Revolution führte zum Aufkommen des Infor‐ mationalismus als der materiellen Grundlage einer neuen Gesellschaft“ (Castells 2003b, 416). Kritik an der Theorie der Informationsgesellschaft Die Behauptung der radikalen Neuartigkeit hat zu Kritik geführt. Nicho‐ las Garnham argumentiert: „the shift from energy to brainpower does not necessarily change the subordination of labour to capital“ (Garnham 1998/ 2004, 178). „The ‘information society’ is a concept with no objective co-relative in the real world. Used as an ideological mantra it merely and dangerously distracts - as is often intended - from the real issues” (Garnham 2000, 151). Der Soziologe Frank Webster formuliert zwei Hauptkritikpunkte an der Theorie der Informationsgesellschaft. Erstens argumentiert er, dass diese Art von Gesellschaftstheorie die Quantifizierung fetischisiert: „If there is just more information then it is hard to understand why anyone should 440 11 Die Politische Ökonomie der Informationsgesellschaft und des Digitalen Kapitalismus <?page no="441"?> suggest that we have before us something radically new“ (Webster 2002, 26)”. Zweitens sagt er, dass die Theorien der Informationsgesellschaft Versionen des technologischen Determinismus sind: „A connected and familiar criticism of technological conceptions of an informa‐ tion society is that they are determinist […]. First, they assume that technology is the major force in social change - hence arguments which refer to the ‘world the steam engine made’, ‘the atomic age’, the ‘computer society’. […] Second, technological determinists work with a model which holds to a clear separation of technology and society, the former being in some way apart from social influence yet destined to have the most profound social effects“ (Webster 2002, 28). Die grundlegendste Kritik an der Theorie der Informationsgesellschaft besteht darin, dass Begriffe wie „Informationsgesellschaft“, „Netzwerkge‐ sellschaft“, „postindustrielle Gesellschaft“ und „Wissensgesellschaft“ sehr positiv klingen und von den tatsächlichen Problemen der heutigen Ge‐ sellschaften wie sozioökonomische Ungleichheit, Machtasymmetrien, die globale Umweltkrise, Wirtschaftskrisen des Kapitalismus, Krieg und Terror usw. ablenken. Das Argument der Kritiker: innen ist, dass die Theorie der Informationsgesellschaft eine Ideologie ist, die die Existenz von Kapitalis‐ mus und Klasse leugnet, indem sie behauptet, die Gesellschaft habe sich grundlegend verändert. Wenn man zustimmt, dass viele Theorien zur Informationsgesellschaft ideologischen Charakter haben, ist es ein Trugschluss, daraus zu schließen, dass sich in der Gesellschaft nichts geändert hat und dass es ausreicht, zu betonen, dass wir seit langem in kapitalistischen Gesellschaften leben. So argumentiert Walter Runciman (1993), dass sich der britische Kapita‐ lismus seit dem Ersten Weltkrieg nicht verändert hat. Großbritannien ist, so Runciman, eine „kapitalistisch-liberaldemokratische“ Gesellschaft mit einer „kapitalistischen Produktionsweise“ und einer „liberalen Beeinflussungs‐ weise“ (Runciman 1993, 65). Runciman lehnt Begriffe wie „managerialer“ Kapitalismus, „Spätkapitalismus“, „Finanzkapitalismus“ oder „korporatisti‐ scher“' Kapitalismus" ab, da sie seiner Meinung nach „mehr Verwirrung stiften als erhellen“ (Runciman 1993, 54). Jonathan Friedman (2002) vertritt die Auffassung, dass die grundlegenden Merkmale des Kapitalismus die Kommodifizierung, das fiktive Kapital, die Finanzialisierung und die Aus‐ beutung sind. „All these processes are abetted by the new high technology, but they are certainly not its cause, and if anything, they are the symptoms of a capitalism in dire straits, a situation quite predictable from the logic 11.3 Skepsis und Kritik an Theorien der Informationsgesellschaft 441 <?page no="442"?> of the system“ (Friedman 2002, 302). Das einzig Neue wäre die Ideologie, dass wir in einer neuen (Informations-)Gesellschaft leben, „the strange air of radical identity or self-identity among those intellectuals who are both representatives of the privileged classes and translators of ordinary liberalism into the language of radicalism” (Friedman 2002, 302). Der Kapitalismus ist ein dynamisches System, das auf seiner grundle‐ gendsten Ebene immer dasselbe System der Kommodifizierung, Klassen‐ strukturierung und Ausbeutung bleibt, während es sich auf den unteren Ebenen der Organisation verändert. Krisen des Kapitalismus spielen in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle und haben das Entstehen neuer Phasen der kapitalistischen Entwicklung ausgelöst (siehe zum Beispiel die Beiträge in Westra und Zuege 2001). Der Kapitalismus muss sich verändern, um derselbe zu bleiben. Es gibt eine Dialektik von Kontinuität und Wandel, die sich in wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Krisen des Kapita‐ lismus manifestiert. 11.4 Kapitalismus oder Informationsgesellschaft? Was ist der Kapitalismus? In der Gesellschaftstheorie herrscht Uneinigkeit über die Frage, ob der Kapitalismus ein Wirtschaftstyp oder ein Gesellschaftstyp ist (vgl. Fuchs 2023, Kapitel 1 & Fuchs 2022, Kapitel 1). Wolfgang Streeck (2016) vertritt den zweiten Ansatz: „How to study contemporary capitalism, then? My first answer is: not as an economy but as a society - as a system of social action - and a set of social institutions. […] A capitalist society, or a society that is inhabited by a capitalist economy, is one that has on a current basis to work out how its economic social relations, its specific relations of production and exchange, are, to connect to and interact with its non-economic social relations. […] For this reason alone, capitalism must be studied, not as a static and timeless ideal type of an economic system that exists outside of or apart from society, but as a historical social order that is precisely about the relationship between the social and the economic” (Streeck 2016, 201 & 203). 442 11 Die Politische Ökonomie der Informationsgesellschaft und des Digitalen Kapitalismus <?page no="443"?> Streeck (2016, Kapitel 9) argumentiert, dass die Analyse des Kapitalismus als Gesellschaft bedeutet, ihn als Wirtschaftssystem, historische Gesellschafts‐ ordnung, Kultur, Politik und Lebensform zu analysieren. Eine Gesellschaftsformation ist die Gesamtheit aller Dialektiken von Praktiken und Strukturen und aller Dialektiken von Objekten und Subjek‐ ten, die Menschen produzieren und reproduzieren und durch die Menschen ihr Leben und ihre Beziehungen in der Raumzeit routinisiert produzieren und reproduzieren. Eine Gesellschaftsformation ist eine grundlegende Ein‐ heit und Totalität der gesellschaftlichen Produktionsprozesse der Menschen (vgl. Fuchs 2020, Kapitel 5). Dass eine solche Totalität des menschlichen Lebens in der Raumzeit routinisiert ist, bedeutet, dass die Dialektik der Praktiken und Strukturen einer Gesellschaftsformation nicht nur einmal produziert, sondern auf der Grundlage von Routinen und sozialen Rollen immer wieder neu geschaffen wird (Reproduktion). Der Kapitalismus als eine besondere Gesellschaftsformation umfasst wirtschaftliche Verhältnisse wie Warenproduktion, Märkte, Kapital, Arbeit sowie soziale, politische, rechtliche und kulturelle Verhältnisse. Der Kapita‐ lismus ist eine Gesellschaftsformation, die von der Logik der Akkumulation geprägt ist, wobei die wirtschaftliche Produktion von Waren zum Zweck der Kapitalakkumulation und der Schaffung von Profit eine wichtige Rolle spielt und die Logik der Akkumulation spezifische nicht-ökonomische Formen in der Politik annimmt, wo es um die Akkumulation von Entscheidungsmacht und Einfluss geht, sowie in der Kultur, wo es um die Akkumulation von Reputation und Unterschieden geht. Tabelle 11.2 zeigt, wie wir die Akkumulation als allgemeinen Prozess und in der kapitalistischen Gesellschaft begreifen können. Im Kapitalismus nimmt die Entfremdung die Form von Akkumulationsprozessen an, die Klassen und Ungleichheiten schaffen. Der Kapitalismus basiert auf der Ak‐ kumulation von Kapital durch Kapitalist: innen in der Wirtschaft, auf der Ak‐ kumulation von Entscheidungsmacht und Einfluss durch Bürokrat: inn: en im politischen System und auf der Akkumulation von Ansehen, Aufmerk‐ samkeit und Respekt durch Ideolog: inn: en, Influencer: innen und Berühmt‐ heiten im kulturellen System. Der Kapitalismus ist ein antagonistisches System. Seine Antagonismen (siehe Tabelle 11.2) treiben seine Entwicklung und Akkumulation voran. Die Akkumulation ist ein antagonistisches Ver‐ hältnis, das nicht nur dominante Klassen und Gruppen konstituiert, sondern auch untergeordnete, beherrschte und ausgebeutete Gruppen wie die Ar‐ beiterklasse in der kapitalistischen Wirtschaft, beherrschte Bürger: innen 11.4 Kapitalismus oder Informationsgesellschaft? 443 <?page no="444"?> im kapitalistischen politischen System und Alltagsmenschen im kulturellen System des Kapitalismus. Sphäre der Ge‐ sell‐ schaft Zentraler Prozess im Allgemei‐ nen Zentraler Prozess in der kapitalisti‐ schen Gesell‐ schaft Grundlegender Antago‐ nismus in der kapitalisti‐ schen Gesellschaft Wirt‐ schaft Produktion von Gebrauchswer‐ ten Kapitalakkumu‐ lation Kapital VS. Arbeit Politik Produktion von kollektiven Entscheidun‐ gen Akkumulation von Entschei‐ dungsmacht und Einfluss Bürokratie VS. Bürger: innen Kultur Produktion von Bedeutungen Akkumulation von Reputation, Aufmerksam‐ keit, Respekt Ideolog: inn: en/ Stars/ Influencer: innen VS. Alltags‐ menschen Tabelle 11.2: Akkumulation als allgemeiner Prozess in der kapitalistischen Gesellschaft Die antagonistischen Verhältnisse der kapitalistischen Gesellschaft, die die Akkumulation vorantreiben, sind die Quelle von Ungleichheiten und Krisen, was bedeutet, dass der Kapitalismus ein von Natur aus negatives dialektisches System ist. Der Kapitalismus ist auch ein ideologisches System, in dem die herrschenden Gruppen die Logik der Konstruktion von Sünden‐ böcken anwenden, um bestimmte Gruppen für die Übel und Probleme der Gesellschaft verantwortlich zu machen. Das Sündenbockdenken beinhaltet die Logik des Freund/ Feind-Schemas. Und das Freund/ Feind-Schema kann zu Gewalt, Faschismus, Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus füh‐ ren. Krisen des Kapitalismus können faschismusproduzierende Krisen sein, die die Barbarei von einer Potenzialität des Kapitalismus in eine Realität verwandeln. In der kapitalistischen Gesellschaft kontrollieren mächtige Akteure die natürlichen Ressourcen, das wirtschaftliche Eigentum, die politische Ent‐ scheidungsfindung und die kulturelle Bedeutungsgebung, was zu einer Anhäufung von Macht, Ungleichheiten und globalen Problemen geführt hat, darunter Umweltverschmutzung sowie die Degradierung und Erschöpfung 444 11 Die Politische Ökonomie der Informationsgesellschaft und des Digitalen Kapitalismus <?page no="445"?> der natürlichen Ressourcen im Natur-Gesellschaft-Verhältnis, sozioökono‐ mische Ungleichheit im Wirtschaftssystem, Diktaturen und Kriege im po‐ litischen System, Ideologie und mangelnde Anerkennung im kulturellen System. Informationskapitalismus Der Ansatz des Verfassers, den Kapitalismus und die Informationsgesell‐ schaft zu theoretisieren, beruht auf einer Dialektik von Kontinuität und Wandel. Der Kapitalismus ist ein antagonistisches System, das früher oder später zu Phasen der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Krise führt. Der Ausgang einer Krise des Kapitalismus ist unbestimmt. Die Ergeb‐ nisse von Krisen hängen vom menschlichen Handeln und der Praxis ab, d. h. von Klassen- und Gesellschaftskämpfen. Immanuel Wallerstein spricht in diesem Zusammenhang vom Kapitalismus als einem historischen System: „Such historical systems, like all systems, are partially open, partially closed; that is, they have rules by which they operate (they are systemic), and everevolving contours and contradictions (they are historical). […] In a crisis, the fluctuations become wilder, and we have a bifurcation, with an indeterminate outcome“ (Wallerstein 2004a). In Systemkrisen ist die Zukunft offen, und die Menschen müssen daher kollektive Entscheidungen darüber treffen, in welche Richtung sich das System entwickeln soll. „[The] system encounters problems it can no longer resolve, and this causes what we may call systemic crisis. […] the system is faced with […] alternative solutions for its crisis, […] which are intrinsically possible. […] the members of the system collectively are called upon to make a historical choice about which of the alternative paths will be followed, that is, what kind of new system will be constructed” (Wallerstein 2004b, 76). Der Bedeutungszuwachs der Computertechnik und der Wissensarbeit im Kapitalismus - der Prozess, den wir als „Informatisierung“ bezeichnen können - ist aus dem Bedürfnis des Kapitalismus entstanden, die Produk‐ tivkräfte zu entwickeln, d. h. seine Produktivität zu steigern, um immer mehr Kapital zu akkumulieren. Wissenschaft und Technik sind Mittel der relativen Mehrwertproduktion im Kapitalismus, Methoden, um in dersel‐ ben Zeitspanne mehr Waren, Mehrwert und Profit zu schaffen als zuvor. Die kapitalistische Wirtschaft ist eine Ökonomie der Zeit, die von der Notwendigkeit angetrieben wird, immer mehr Waren, Wert und Profit in immer kürzerer Zeit zu produzieren. In den Grundrissen nahm Marx die 11.4 Kapitalismus oder Informationsgesellschaft? 445 <?page no="446"?> Entstehung eines Kapitalismus vorweg, der auf Informationen basiert, den Informationskapitalismus: „Die Natur baut keine Maschinen, keine Lokomotiven, Eisenbahnen, electric telegraphs, selfacting mules etc. Sie sind Produkte der menschlichen Industrie; natürliches Material, verwandelt in Organe des menschlichen Willens über die Natur oder seiner Betätigung in der Natur. Sie sind von der menschlichen Hand geschaffne Organe des menschlichen Hirns; vergegenständlichte Wissenskraft. Die Entwicklung des capital fixe zeigt an, bis zu welchem Grade das allgemeine gesellschaftliche Wissen, knowledge, zur unmittelbaren Produktivkraft geworden ist und daher die Bedingungen des gesellschaftlichen Lebensprozesses selbst unter die Kontrolle des general intellect gekommen und ihm gemäß umgeschaffen sind. Bis zu welchem Grade die gesellschaftlichen Produktivkräfte produziert sind, nicht nur in der Form des Wissens, sondern als unmittelbare Organe der gesellschaftlichen Praxis; des realen Lebensprozesses“ (Marx 1857/ 1858, 602). Marx argumentiert an dieser Stelle, dass Technologien das Ergebnis mensch‐ licher Arbeit sind, und zwar von Arbeit, die das Wissen und die wissenschaft‐ lichen Erkenntnisse der Gesellschaft widerspiegelt. Sie sind vergegenständ‐ lichtes Wissen, das durch Wissenschaftler: innen erzeugt wird. Technologien sind Teil des fixen Kapitals, jenes Teils des Kapitals, der für längere Zeit im Produktionsprozess fixiert ist. Marx sieht einen Punkt in der Entwick‐ lung der Ökonomie voraus, an dem der General Intellect - Wissensarbeit und Informationstechnologien - zu einer „unmittelbaren Produktivkraft“ geworden sind. Das bedeutet, dass die Entwicklung der Produktivkräfte zu einem bestimmten Zeitpunkt die Schaffung einer Wirtschaft mit sich bringt, in der Informationstechnologien und Wissensarbeit eine Schlüssel‐ rolle spielen. Marx weist außerdem darauf hin, dass Wissen nicht nur eine Angelegenheit von Objekten und Strukturen (Technologien) ist, sondern auch eine der „gesellschaftlichen Praxis“. Information funktioniert in der Gesellschaft sowohl als Wissensarbeit als auch als Informationstechnologie. Eine Typologie von Theorien der Informationsgesellschaft Abbildung 11.1 zeigt eine Typologie der Theorien der Informationsgesell‐ schaft. Sie hat zwei Achsen. Die x-Achse ist die erste Dimension der analysierten Theorien. Subjektive Theorien konzentrieren sich auf das menschliche Subjekt und seine Aktivitäten wie Denken und Arbeiten. Objektive Theorien konzentrieren sich auf Objekte wie z. B. Technologien. 446 11 Die Politische Ökonomie der Informationsgesellschaft und des Digitalen Kapitalismus <?page no="447"?> Die y-Achse ist auf die Differenzierung der Gesellschaft ausgerichtet. Ra‐ dikaler Wandel am einen Ende zeigt an, dass die Gesellschaft radikalen Veränderungen unterworfen ist. Kontinuität am anderen Ende der Achse steht für die Annahme, dass Strukturen und Praktiken im Laufe der Zeit relativ undifferenziert geblieben sind. Aus der Kombination von x- und y-Achse ergeben sich vier Arten von Theorien der Informationsgesellschaft. Subjektiv Objektiv Diskontinuität Kontinuität Wissensgesellschaft, postindustrielle Gesellschaft, postmoderne Gesellschaft, wissensbasierte Gesellschaft Netzwerkgesellschaft, Internetgesellschaft, virtuelle Gesellschaft, Cyber-Gesellschaft Immaterielle Arbeit, kognitiver Kapitalismus, Semio-Kapitalismus, reflexive Modernisierung MP3 Kapitalismus, virtueller Kapitalismus, informatischer Kapitalismus, Hightech-Kapitalismus Informationskapitalismus, kommunikativer Kapitalismus, digitaler Kapitalismus Abbildung 11.1: Eine Typologie der Theorien der Informationsgesellschaft Subjektive Theorien des radikalen Wandels gehen davon aus, dass Wissen oder Wissensarbeit zu den zentralen Merkmalen der Gesellschaft geworden sind und dass dieser Wandel eine neue Gesellschaft begründet. Beispiele hierfür sind die Konzepte der Wissensgesellschaft, der wissensbasierten Gesellschaft, der postindustriellen Gesellschaft und der postmodernen Ge‐ sellschaft. Sie betonen in der Regel die Rolle von Wissen, Wissensarbeit und Wahrheitsansprüchen in der Gesellschaft und gehen davon aus, dass radikale Veränderungen stattgefunden haben. Objektive Theorien des radi‐ kalen Wandels besagen, dass Computertechnologien, Computernetzwerke wie das Internet oder Wissens- und Netzwerkstrukturen in einer Informa‐ 11.4 Kapitalismus oder Informationsgesellschaft? 447 <?page no="448"?> tionsgesellschaft dominieren und eine neue Gesellschaft geschaffen haben. Beispiele hierfür sind die Begriffe der Netzgesellschaft, der Internetgesell‐ schaft, der virtuellen Gesellschaft oder der Cyber-Gesellschaft. Kontinuierliche Theorien der Informationsgesellschaft betonen, dass das Hauptmerkmal der Gesellschaft ihr kapitalistischer („Kapitalismus“) oder moderner Charakter („moderne Gesellschaft“, „Moderne“) ist und dass sich das Hauptmerkmal trotz gewisser Veränderungen nicht gewandelt hat. Sie heben eher die Kontinuität als die Diskontinuität hervor, stellen aber fest, dass es auf den unteren Ebenen der gesellschaftlichen Organisation gewisse Veränderungen gibt. Es gibt sowohl subjektive als auch objektive Kontinuitätstheorien. Subjektive kontinuierliche Theorien betonen die Rolle des Wissens und der Wissensarbeit im Kapitalismus oder in der modernen Gesellschaft. Dazu gehören Begriffe wie immaterielle Arbeit, kognitiver Kapitalismus, Semio-Kapitalismus und reflexive Modernisierung. Objektive, kontinuierliche Theorien betonen die Rolle von Computertechnologien oder Netzwerkstrukturen (sowohl sozialer als auch technologischer Art) in der Gesellschaft. Beispiele hierfür sind Konzepte wie MP3-Kapitalismus, virtueller Kapitalismus, informatischer Kapitalismus oder High-Tech-Kapi‐ talismus. Ein dialektischer Ansatz zur Theorie der Informationsgesellschaft, wie er vom Autor vertreten wird, besagt, dass die vier verschiedenen Theo‐ rien der Informationsgesellschaft weder richtig noch falsch sind, sondern unvollständig. Subjektive Theorien tendieren dazu, objektive Aspekte der Gesellschaft zu ignorieren. Objektive Theorien neigen dazu, subjektive Aspekte zu ignorieren. Kontinuierliche Theorien konzentrieren sich zu sehr auf das, was sich nicht verändert, diskontinuierliche Theorien zu sehr auf das, was sich verändert. Eine dialektisch-kritische Gesellschaftstheorie besagt, dass wir in einer kapitalistischen (Welt-)Gesellschaft leben, die sich verändert, um ihre Struk‐ turen der wirtschaftlichen, politischen und ideologischen Akkumulation von Kapital, Macht und Ansehen zu erhalten und zu reproduzieren. Einige dieser Veränderungen der kapitalistischen Gesellschaft stehen im Kontext von Wissen, Wissensarbeit, Informations- und Computertechnologien, technologischen Netzwerken und sozialen Netzwerken. Im Kapitalismus (und in der Gesellschaft im Allgemeinen) gibt es eine Dialektik von Konti‐ nuität und Diskontinuität. Und es gibt eine Dialektik von objektiven und subjektiven Dimensionen der Information. Die Wissensproduktion führt zur Schaffung von Informationsstrukturen, einschließlich Technologien und 448 11 Die Politische Ökonomie der Informationsgesellschaft und des Digitalen Kapitalismus <?page no="449"?> Netzwerken, die Informationen speichern und verarbeiten. Diese Strukturen ermöglichen, bedingen und beschränken weitere Wissenspraktiken. In dem, was wir als Informationskapitalismus oder kommunikativen Kapitalismus bezeichnen können, spielt die Dialektik von Informationsproduktion und Informationsstrukturen eine wichtige Rolle bei der Akkumulation von Geldkapital, politischer Entscheidungsmacht und Reputation. Der digitale Kapitalismus ist ein Aspekt und Teilbereich des Informationskapitalismus und des kommunikativen Kapitalismus, der alle Prozesse in der kapitalisti‐ schen Gesellschaft beschreibt, in denen die Akkumulation auf der Grundlage einer Dialektik digitaler Praktiken und digitaler Strukturen stattfindet, in denen Informationen in digitalen Formen produziert und kommuniziert werden. Kapitalismus oder Informationsgesellschaft? 1968, sechs Jahre vor dem Erscheinen des für den Informationsgesellschafts‐ diskurs wegweisenden Buches The Coming of Post-Industrial Society von Daniel Bell, in einer Zeit vor dem Höhenflug der Informationsgesellschafts‐ hypothese, hielt Theodor W. Adorno (1969) auf der Jahrestagung der Deut‐ schen Gesellschaft für Soziologie (DGS) einen einführenden Festvortrag zum Thema „Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? “. Adorno sprach davon, dass die Grundfrage über die heutige Gesell‐ schaftsstruktur jene ist, „ob die gegenwärtige Phase nun Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft heißen solle” (Adorno 1969, 12). Es geht dabei darum, „ob noch das kapitalistische System nach seinem wie immer auch modifizierten Modell herrsche, oder ob die industrielle Entwicklung den Begriff des Kapitalismus selbst, den Unterschied zwischen kapitalistischen und nichtkapitalistischen Staaten, gar die Kritik am Kapitalismus hinfällig gemacht habe. Mit anderen Worten, ob die heute innerhalb der Soziologie so weit verbreitete These, Marx sei veraltet, zutreffe“ (Adorno 1969, 12). Adorno schreibt, dass es auf diese Frage keine einfache entwe‐ der/ oder-Antwort gibt. „Eine schlichte Antwort auf die Frage, die in jener Thematik liegt, kann weder erwartet noch eigentlich gesucht werden. Al‐ ternativen, die erzwingen, man müsse für die eine oder andere Bestimmung optieren, wäre es auch bloß theoretisch, sind selber bereits Zwangssitua‐ tionen, denen in einer unfreien Gesellschaft nachgebildet und auf den Geist übertragen, an dem es wäre, zur Brechung von Unfreiheit durch ihre hartnäckige Reflexion zu tun, was er kann” (Adorno 1969, 15). Adorno gibt 11.4 Kapitalismus oder Informationsgesellschaft? 449 <?page no="450"?> eine dialektische Antwort, die sowohl die Bedeutung der Produktivkräfte als auch der Produktionsverhältnisse in der kapitalistischen Produktionsweise berücksichtigt: „In Kategorien der kritisch-dialektischen Theorie möchte ich als erste und notwendig abstrakte Antwort vorschlagen, dass die gegenwärtige Gesellschaft durchaus Industriegesellschaft ist nach dem Stand ihrer Produktivkräfte. Indus‐ trielle Arbeit ist überall und über alle Grenzen der politischen Systeme hinaus zum Muster der Gesellschaft geworden. Zur Totalität entwickelt sie sich dadurch, dass Verfahrungsweisen, die den industriellen sich anähneln, ökonomisch zwangs‐ läufig sich auf Bereiche der materiellen Produktion, auf Verwaltung, auf die Distributionssphäre und die, welche sich Kultur nennt, ausdehnt. Demgegenüber ist die Gesellschaft Kapitalismus in ihren Produktionsverhältnissen. Stets noch sind die Menschen, was sie nach der Marxischen Analyse um die Mitte des 19. Jahrhunderts waren: Anhängsel an die Maschinerie. […] Produziert wird heute wie ehedem um des Profits willen” (Adorno 1969, 18). Wir können auf Adornos Einsichten in Bezug auf die Theorie der Infor‐ mationsgesellschaft aufbauen. Eine Grundfrage der gegenwärtigen Gesell‐ schaftsstruktur ist die nach den Alternativen: Kapitalismus oder Informati‐ onsgesellschaft. Die heutige Gesellschaft ist nach dem Stand ihrer Produktivkräfte eine Informationsgesellschaft. Demgegenüber ist die Gesellschaft kapitalistisch in ihren Produktionsverhältnissen. Die Produktion erfolgt heute wie damals um des Profits willen, und um dieses Ziel zu erreichen, bedient sie sich in gewissem Maße des Wissens und der Informationstechnologie in der Produktion. Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse sind ineinandergreifende Phänomene, sie beinhalten sich gegenseitig. Die informationellen Produk‐ tivkräfte (ebenso wie die nicht-informationellen) werden durch Klassen‐ verhältnisse vermittelt, was bedeutet, dass die Etablierung von Informati‐ onstechnologien (als Teil der Produktionsinstrumente) und Wissensarbeit (die durch eine Zusammensetzung der Arbeit gekennzeichnet ist, bei der geistige und kommunikative Merkmale gegenüber manuellen Merkmalen dominieren) als Merkmale der ökonomischen Produktion Strategien zur Förderung der Produktion und Aneignung von Profit sind. Das Kapital hofft dadurch, höhere Profitraten zu erzielen. Die Gesellschaft lässt sich nicht durch die informationellen Produktivkräfte erklären. In der kapitalistischen Gesellschaft spielen Informationstechnologien und Wissensarbeit neben der 450 11 Die Politische Ökonomie der Informationsgesellschaft und des Digitalen Kapitalismus <?page no="451"?> Kapitalakkumulation auch eine wichtige Rolle bei der Akkumulation von politischer Entscheidungsmacht und ideologisch definierter Reputation. Die Gegenbehauptung (zur Hypothese der Informationsgesellschaft), es habe sich nichts geändert, weil wir immer noch in einer von kapitalistischen Klassenverhältnissen beherrschten Gesellschaft leben, ist eine Reaktion auf überzogene Behauptungen über die Informationsgesellschaft und die Informationstechnologie. Eine dialektische Analyse kann nicht außer Acht lassen, dass es bestimmte Veränderungen gibt, die die Vertiefung der Klas‐ senstruktur unterstützen sollen. Manuel Castells: Der informationelle Kapitalismus Für Manuel Castells ist der informationelle Kapitalismus der wirtschaftli‐ che Teilbereich der Netzwerkgesellschaft. Er argumentiert: „Der zentral entscheidende historische Faktor, der das informationstechnologische Pa‐ radigma beschleunigt, gelenkt und geprägt hat und der zu den damit einhergehenden gesellschaftlichen Formen geführt hat, war und ist aber der Prozess der kapitalistischen Neustrukturierung, der sich seit den 1980er Jahren vollzieht. Aus diesem Grund lässt sich das neue technoökonomische System adäquat als informationeller Kapitalismus bezeichnen” (Castells 2003a, 20-21). Castells spricht vom Informationalismus als einer neuen Ent‐ wicklungsweise. „Jede Entwicklungsweise ist durch das Element definiert, das grundlegend für die Förderung der Produktivität im Produktionsprozess ist“ (Castells 2003a, 18). In den 1990er Jahren veröffentlichte Manuel Castells (zuerst auf Englisch) die Trilogie The Information Age (Das Informationszeitalter), in der er die heutigen Gesellschaften als Netzwerkgesellschaft charakterisiert: „Jede Entwicklungsweise ist durch das Element definiert, das grundlegend für die Förderung der Produktivität im Produktionsprozess ist. […] Das Besondere an der informationellen Entwicklungsweise aber ist die Einwirkung des Wissens auf das Wissen selbst als der Hauptquelle der Produktivität. […] Die Informa‐ tionsverarbeitung konzentriert sich auf die Verbesserung der Technologie der Informationsverarbeitung als Quelle der Produktivität: In einem circulus virtuo‐ sus interagieren die Wissensgrundlagen der Technologie und die Anwendung der Technologie miteinander zur Verbesserung von Wissensproduktion und Informationsverarbeitung: Das ist der Grund, warum ich mich der gängigen Mode anschließe und diese neue Entwicklungsweise informationeIl nenne, denn sie ist 11.4 Kapitalismus oder Informationsgesellschaft? 451 <?page no="452"?> durch das Auftreten eines neuen technologischen Paradigmas konstituiert, das auf Informationstechnologie beruht” (Castells 2003a, 19). Für Castells ist der Kapitalismus ein technoökonomisches System. Im Ge‐ gensatz dazu ist er für Marx eine Gesellschaftsformation, die über die Wirtschaft hinaus in die Politik und Kultur hineinreicht. Castells beschränkt daher den Begriff des Informationskapitalismus auf die Wirtschaft und sieht ihn als Teilbereich der Netzwerkgesellschaft. Was er als Entwicklungsweise bezeichnet, wird in der marxistischen Theorie oft als der technologische Aspekt der Produktivkräfte charakterisiert. Zu den Produktivkräften gehört aber auch die Arbeitskraft, die der Mensch im Produktionsprozess einsetzt, um mit Hilfe der Arbeitsinstrumente und der Arbeitsgegenstände neue Produkte zu schaffen. Castells begründet nicht, warum er den Begriff „Ent‐ wicklungsweise“ verwendet. Da er den Schwerpunkt auf die Technologie legt, wenn er über diesen Modus spricht, erweckt der Begriff den Eindruck, dass die Technologie die Entwicklung der Gesellschaft bestimmt. Abbildung 11.2 veranschaulicht, was Marx die Produktionsweise nennt. Arbeitsvermögen (menschliches Subjekt) Andere menschliche Subjekte (Wirtschaftliches) Subjekt-Objekt: Arbeitsprodukt als Resultat des Arbeitsprozesses Produktionsmittel (Objekte) Arbeitsgegenstand Arbeitsinstrumente Produktionsverhältnisse Andere menschliche Subjekte Arbeitsgegenstand Arbeitsinstrumente Abbildung 11.2.: Die Produktionsweise 452 11 Die Politische Ökonomie der Informationsgesellschaft und des Digitalen Kapitalismus <?page no="453"?> Die Produktionsweise ist die Dialektik zwischen den Produktionsverhält‐ nissen, also den gesellschaftlichen Verhältnissen, in die der Mensch ein‐ tritt, wenn er produziert, und den Produktivkräften. Die Produktivkräfte sind ein System, in dem menschliche Subjekte Objekte (Produktionsmittel) benutzen, um im Arbeitsprozess neue Produkte zu schaffen. Die Produk‐ tionsverhältnisse und die Produktivkräfte stehen in Wechselwirkung. In Klassengesellschaften sind die wirtschaftlichen Produktionsverhältnisse Klassenverhältnisse. Organisations‐ weise Produktions‐ mittel Produktions‐ gegenstand Produkte der Werktätig‐ keit Landwirtschaftliche Produktivkräfte Körper, Gehirn, Geräte, Maschinen Natur Naturprodukte Industrielle Produk‐ tivkräfte Körper, Gehirn, Geräte, Maschinen Naturprodukte, Industrieprodukte Industriepro‐ dukte Informationelle Produktivkräfte Körper, Gehirn, Geräte, Maschinen Erfahrungen, Ideen Informations‐ produkte Tabelle 11.3: Drei Formen der Organisation der Produktivkräfte - Eigentümer der Arbeits‐ kraft Eigentümer der Produktionsmittel Eigentümer der Arbeitsprodukte Patriarchat Patriarch Patriarch Family Sklaverei Sklavenhalter Sklavenhalter Sklavenhalter Feudalisus Teilweise Selbst‐ kontrolle, teil‐ weise Feudalherr Teilweise Selbstkon‐ trolle, teilweise Feudal‐ herr Teilweise Selbstkon‐ trolle, teilweise Feu‐ dalherr Kapitalis‐ mus Arbeiter (besitzt, aber verkauft Ar‐ beitskraft) Kapitalist Kapitalist Sozialismus Selbstkontrolle Alle (Arbeiterselbst‐ verwaltung) Teilweise alle, teil‐ weise Individuum Tabelle 11.4: Fünf Produktionsweisen, definiert durch ihre Klassenverhältnisse 11.4 Kapitalismus oder Informationsgesellschaft? 453 <?page no="454"?> In Tabelle 11.3 werden drei Formen der Produktivkräfte genannt, in Tabelle 11.4 fünf Produktionsweisen, die durch die Produktionsverhältnisse defi‐ niert sind. Es gibt landwirtschaftliche, industrielle und informationelle Produktiv‐ kräfte, die jeweils zu Grunderzeugnissen, Industrieprodukten und Informa‐ tionsprodukten führen. Die Unterscheidung zwischen Agrar-, Industrie- und Informationsgesellschaft bezieht sich auf die drei Dimensionen der Produktivkräfte. Sie stellen nur einen Aspekt der Gesellschaft dar, was bedeutet, dass Theorien, die diese Unterscheidung verwenden, häufig die ge‐ sellschaftlichen Produktionsverhältnisse außer Acht lassen. Die Bedeutung, die den informationellen Produktivkräften heute zukommt, eliminiert nicht die Existenz der landwirtschaftlichen und industriellen Produktivkräfte. Vielmehr gibt es in der heutigen Gesellschaft eine Dialektik der verschiede‐ nen Produktivkräfte. Die Klassenverhältnisse sind in kapitalistischen und anderen Klassenge‐ sellschaften von zentraler Bedeutung. Theorien, die argumentieren, dass sich die kapitalistische Gesellschaft seit dem 19. Jahrhundert nicht verändert hat, konzentrieren sich auf die Analyse der Klassenverhältnisse. Für Marx gibt es eine Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, die besagt, dass sich die kapitalistische Gesellschaft durch die Entwicklung neuer Produktivkräfte verändert. Marx sagt, dass es einen kapitalistischen Antagonismus zwischen den Produktivkräften und den Klassen-/ Produkti‐ onsverhältnissen gibt. Im Informationskapitalismus bedeutet dieser Antago‐ nismus, dass die Informationsarbeit und die Informationstechnologien dazu beitragen, Potenziale jenseits der Warenform voranzutreiben, aber unter den Klassenverhältnissen die Kommodifizierung, Beherrschung und Ideolo‐ gisierung sowie die asymmetrische Verteilung der Arbeitszeit forcieren. Der Begriff „informationelle Produktivkräfte“ charakterisiert nicht völlig neue Produktivkräfte, sondern in Bezug auf ein konkrete Phänomens den Grad, zu dem dieser bestimmte Aspekt der Produktivkräfte informationell ist. Information steht also immer in einem Zusammenhang mit Nicht-Infor‐ mation. Es ist unwahrscheinlich, dass alle Aspekte der heutigen Gesellschaft oder der heutigen kapitalistischen Wirtschaft plötzlich informationell sind. Daher ist der Begriff des Informationskapitalismus als Kategorie der To‐ talität nicht sinnvoll. Es gibt mehrere interagierende Dimensionen des Kapitalismus wie Finanzkapitalismus, hyperindustrieller Kapitalismus, Mo‐ 454 11 Die Politische Ökonomie der Informationsgesellschaft und des Digitalen Kapitalismus <?page no="455"?> bilitätskapitalismus und Informationskapitalismus. Dies sind Momente des Kapitalismus, die gemeinsam die kapitalistische Totalität bilden. Radovan Richtas Ansatz Radovan Richta war ein tschechischer Philosoph, der zur Zeit des Prager Frühlings zusammen mit einer Forschungsgruppe das Potenzial der Infor‐ matisierung für die Schaffung einer demokratischen sozialistischen Gesell‐ schaft untersuchte. Das Ergebnis dieser Arbeit ist der Richta-Bericht (Richta 1969, 1971), eine eher vergessene Theorie der Informationsgesellschaft (siehe zum Beispiel Webster 2014, wo die Diskussion von Richtas Arbeit fehlt). Für Richta ist die wissenschaftlich-technische Revolution ein Ausdruck des Widerspruchs zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und der Produktionsverhältnisse: „In the light of these realities, capital itself appears as a persisting contradiction - on the one hand, it extends work on all sides; on the other, it endeavours to reduce necessary work to a minimum. It mobilizes the forces of science, social combinations, etc., in order to ’make the creation of wealth independent of the labour time’, while ’it wants to measure the enormous social forces so created in terms of labour time’“ (Richta 1969, 82). Marx formulierte den Antagonismus zwischen Produktivkräften und Pro‐ duktionsverhältnissen folgendermaßen: „Das Kapital ist selbst der prozessierende Widerspruch [dadurch], daß es die Arbeitszeit auf ein Minimumzu reduzieren strebt, während es andrerseits die Arbeitszeit als einziges Maß und Queulle des Reichtums setzt. Es vermindert die Arbeitszeit daher in der Form der notwendigen, um sie zu vermehren in der Form der überflüssigen; setzt daher die überflüssige in wachsendem Maß als Bedingung - question de vie et de mort [Frage auf Leben und Tod] - für die notwendige” (Marx 1857/ 1858, 601-602) Richta plädierte für die demokratische und soziale Gestaltung der Technik. Dies erfordere eine neue technische „Basis, in Gestalt der Vollrealisierung des automatischen Prinzips“ (Richta 1971, 60) 11.4 Kapitalismus oder Informationsgesellschaft? 455 <?page no="456"?> Die Entwicklung der landwirtschaftlichen, industriellen und informationellen Arbeit Die Tabellen 11.5, 11.6, 11.7 und 11.8 zeigen die Entwicklung der land‐ wirtschaftlichen, industriellen und informationellen Arbeit global und in bestimmten Regionen. - 1991 2019 Gesamt 998,7 883,5 Nord-, Süd- und Westeuropa 13,3 6,6 USA 2,3 2,2 China 392,6 194,4 Tabelle 11.5: Beschäftigung in der Landwirtschaft weltweit, in Millionen, Datenquelle: ILO World Employment and Social Outlook, abgerufen am 23. Januar 2022 - 1991 2010 2019 Gesamt 497,9 672,7 749,4 Nord-, Süd- und Westeuropa 56,0 46,1 46,4 USA 31,3 27,8 32,1 China 140,7 217,5 210,4 Tabelle 11.6: Beschäftigung in der verarbeitenden Industrie weltweit, in Millionen, Daten‐ quelle: ILO World Employment and Social Outlook, abgerufen am 23. Januar 2022 456 11 Die Politische Ökonomie der Informationsgesellschaft und des Digitalen Kapitalismus <?page no="457"?> - 1991 2019 Gesamt 781,1 1670,2 Nord-, Süd- und Westeuropa 106,3 155,2 USA 87,0 127,2 China 124,3 362,4 Tabelle 11.7: Beschäftigung im Dienstleistungssektor weltweit, in Millionen, Datenquelle: ILO World Employment and Social Outlook, abgerufen am 23. Januar 2022 - 1991 % 2019 % 2020 % Beschäftigung in der Land‐ wirtschaft 998,8 43,8 883,5 26,4 873,8 27,4 Beschäftigung in der verar‐ beitenden Industrie 497,9 21,9 749,4 22,7 693,0 21,7 Beschäftigung im Dienstleis‐ tungssektor 781,1 34,3 1670,2 50,6 1622,2 50,9 - 2277,8 - 3348,1 - 3189,8 - Table 11.8: Entwicklung der Beschäftigung in der Landwirtschaft, in der verarbeitenden Industrie und im Dienstleistungssektor, in Millionen und %, Datenquelle: http: / / www.ilo.o rg/ wesodata, abgerufen am 23. Januar 2022 Auf globaler Ebene hat die Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten einen Rückgang der Beschäftigung in der Landwirtschaft, einen Anstieg der Be‐ schäftigung in der verarbeitenden Industrie und einen massiven Anstieg der Beschäftigung im Dienstleistungssektor erlebt. Die westliche Welt erlebte eine gleichzeitige Deindustrialisierung und Informatisierung. China hatte in diesem Zeitraum ein anderes Entwicklungsmodell, das eine gleichzeitige Industrialisierung und Informatisierung umfasste. Die Tabellen 11.5, 11.6, 11.7 und 11.8 enthalten Daten, die auf der Ebene der Produktivkräfte ansetzen. Theorien der Informationsgesellschaft sollten jedoch auch die Ebene der Produktionsverhältnisse berücksichtigen. Tabelle 11.9 enthält ein Beispiel für Daten, die auf der Ebene der Produktionsverhält‐ nisse ansetzen, nämlich den Anteil der globalen Lohnsumme am globalen Bruttoinlandsprodukt, die globale Lohnquote. 11.4 Kapitalismus oder Informationsgesellschaft? 457 <?page no="458"?> Jahr Lohnquote 2004 54,1% 2005 53,6% 2006 53,1% 2007 52,7% 2008 53,1% 2009 53,9% 2010 52,6% 2011 52,1% 2012 52,2% 2013 52,2% 2014 52,5% 2015 52,5% 2016 52,6% 2017 52,5% Tabelle 11.9: Globale Lohnquote (Global Labour Income), Datenquelle: ILOSTAT, abgerufen am 16. Dezember 2022 Die globale Lohnquote ist der Anteil der Löhne, Gehälter und Sozialleistun‐ gen am globalen Bruttoinlandsprodukt (BIP). Die Daten zeigen, dass die globale Dominanz des neoliberalen Kapitalismus auf Lohndrückerei beruht, d. h. auf dem Rückgang des Lohnanteils, der dem Kapital zugutekommt. Gleichzeitig sind die Gesellschaften globaler und vernetzter geworden und stützen sich stärker auf die Nutzung von Internet und Mobiltelefonen. Das bedeutet, dass die „Netzwerk“- und „Informations“-Gesellschaft ein Informationskapitalismus mit tiefen Klassenunterschieden ist. 458 11 Die Politische Ökonomie der Informationsgesellschaft und des Digitalen Kapitalismus <?page no="459"?> Wie Theoretiker: innen der Informationsgesellschaft auf ihre Kritiker: innen reagieren Die Theoretiker: innen der Informationsgesellschaft haben auf ihre Kritiker reagiert. Hier sind zwei Beispiele. Nico Stehr behauptet, dass „die radikale Kritik sich zu sehr auf konstante, statische und festgelegte Missstände konzentriert und zu wenig auf dynamische und sich entwickelnde Konfigu‐ rationen der sozioökonomischen und politischen Realitäten in der modernen Gesellschaft“ (Stehr 1994, 55). In ähnlicher Weise schreibt Castells: „Wenn es nichts Neues unter der Sonne gibt, braucht man sich auch nicht die Mühe zu machen, darüber zu forschen, nachzudenken und zu lesen” (Castells 2003b, 416). Stehr und Castells wiederholen einfach die Vorstellung, dass es einen radikalen Bruch gibt, als Antwort auf die Kritik an dieser Vorstellung selbst. Sie antworten nicht auf die Kritik, dass die Annahme eines radikalen Bruchs die Kontinuität von Kapitalakkumulation, Ungleichheit und Schichtung verschleiert. Der Begriff des „Informationskapitalismus“ sollte als ein Begriff verwen‐ det werden, der all jene Teile der Produktionsweise charakterisiert, in denen die Kapitalakkumulation auf Information basiert, was sowohl die Wissensar‐ beit (die Wissen produziert), die Produktion von Informationstechnologien als auch die Kombination von beidem umfasst. Die heutige globale Gesellschaft ist gleichzeitig eine Agrar-, Industrie- und Informationsgesellschaft auf der Ebene der Produktivkräfte und eine Klassengesellschaft und kapitalistische Gesellschaft auf der Ebene der Pro‐ duktionsverhältnisse. Dies zeigt sich in der Wechselwirkung zwischen der Arbeit von Bergleuten (landwirtschaftliche Arbeit), Hardware-Monteur: in‐ nen und E-Waste-Arbeitenden (industrielle Arbeit) sowie Software-Engi‐ neering, Prosumption und IKT-Nutzung, die die Produktion und Nutzung digitaler Medien prägen. Der kognitive Kapitalismus in der Gesellschaft der Singularitäten Der deutsche Gesellschaftstheoretiker Andreas Reckwitz charakterisiert die heutige Gesellschaft als eine Gesellschaft der Singularitäten. „Die spätmoderne Gesellschaft, das heißt jene Form der Moderne, die sich seit den 1970er oder 1980er Jahren entwickelt, ist insofern eine Gesellschaft der Singularitäten, als in ihr die soziale Logik des Besonderen das Primat erhält. 11.4 Kapitalismus oder Informationsgesellschaft? 459 <?page no="460"?> Und - man muss es in dieser Dramatik feststellen - sie ist die erste, für die dies in einem umfassenden Sinne gilt. Die soziale Logik des Besonderen betrifft dabei sämtliche Dimensionen des Sozialen: die Dinge und Objekte ebenso wie die Subjekte, die Kollektive, die Räumlichkeiten ebenso wie die Zeitlichkeiten. ‚Singularität‘ und ‚Singularisierung‘ sind Querschnittsbegriffe und bezeichnen ein Querschnittsphänomen, das die gesamte Gesellschaft durchzieht“ (Reckwitz 2017, 12). Typisch für die Gesellschaft der Singularitäten sind Kämpfe um Sichtbar‐ keit und Attraktivitätsmärkte (Reckwitz 2017, 9). Die Individualisierung war in den letzten Jahrzehnten sicherlich ein wichtiges Merkmal der ka‐ pitalistischen Gesellschaft. Man denke beispielsweise an die massenhafte Entstehung von Freiberufler: inne: n (Ein-Personen-Unternehmen), die das wirtschaftliche Risiko individualisiert hat; an den Niedergang traditioneller wirtschaftlicher, politischer und kultureller Kollektive wie Gewerkschaften, Parteien oder Kirchen; an die flexible Akkumulation, die die Produktion von Waren ermöglicht hat, die personalisiert und individualisiert sind und als et‐ was Besonderes dargestellt werden, das dem Lebensstil bestimmter Gruppen und Personen entspricht. Die Individualisierung ist Teil der Umstrukturie‐ rung der kapitalistischen Gesellschaft durch den Neoliberalismus, ein wirt‐ schaftliches, politisches und ideologisches Modell, das Kommodifizierung, Privatisierung, Vermarktung und Individualisierung kombiniert und viele Bereiche der Gesellschaft geprägt hat. Das Ziel sowohl des Neoliberalismus als auch der Individualisierung ist die Stärkung der Macht der Wenigen auf Kosten der Vielen, d. h. die Anhäufung von ökonomischem Kapital, politischer Macht und kultureller Distinktion. Die Singularisierung ist ein Aspekt des neoliberalen Kapitalismus, so dass es nicht nötig ist, von einer „Gesellschaft der Singularitäten“ zu sprechen. Vielmehr ist der Kapitalismus einem Wandel unterworfen, der der Information, der Kommunikation und der Kultur einen höheren Stellenwert einräumt. Für den Autor dieser Arbeit sind Individualisierung und Singularisierung Phänomene, die unter die Logik des Kapitalismus subsumiert werden. Für Reckwitz ist die Singularisierung der primäre Prozess in der heutigen Gesellschaft, unter dem der Kapitalismus als (rein) ökonomisches System subsumiert wird. Reckwitz (2019, Kapitel 3) argumentiert, dass ein kogni‐ tiv-kultureller Kapitalismus den klassischen Industriekapitalismus abgelöst hat. Dieser Kapitalismus ist gekennzeichnet durch Automatisierung, globale Produktionsnetzwerke, Wissensarbeit, permanente Innovationen und eine 460 11 Die Politische Ökonomie der Informationsgesellschaft und des Digitalen Kapitalismus <?page no="461"?> Polarisierung zwischen prekären, einfachen, ungelernten Dienstleistungen und komplexer, hochqualifizierter, gut bezahlter Wissensarbeit. Reckwitz (2019, 135) spricht daher von einem „polarisierten Post-Industrialismus“. Reckwitz neigt dazu, einen wirtschaftlichen und kulturellen Antagonismus zwischen prekären Dienstleistungs- und Industriearbeiter: innen auf der einen Seite und hochqualifizierten und gut bezahlten Fachkräften der Mittelschicht auf der anderen Seite als Hauptantagonismus des kulturellen Kapitalismus darzustellen. Das Problem ist, dass er den Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit als Hauptantagonismus des Kapitalismus ausblendet. Dieser Antagonismus hat sich gewandelt und kulturalisiert: Der Reichtum hat sich immer mehr in transnationalen Konzernen konzentriert, wobei kulturelle und digitale Unternehmen eine wichtige Rolle spielen. Die Arbeit wurde in Bezug auf ihren Anteil am globalen Reichtum unter Druck gesetzt. Der Anteil der Löhne und Gehälter am BIP ist deutlich zurückgegangen (siehe Tabelle 11.9 in diesem Kapitel und Tabelle 9.6 in Kapitel 9). Gleichzeitig hat der Anteil des Kapitals am globalen BIP deutlich zugenommen. Das bedeutet, dass in den letzten Jahrzehnten die Klassenpolarisierung zwischen Kapital und Arbeit zugenommen hat. Auch viele Kultur- und Digitalarbeiter: innen sind mit verschiedenen Formen der Prekarität konfrontiert (siehe die Diskussion in den Kapiteln 9 und 10). Das Großkapital ist stark gewachsen, während die Globalisierung und Informati‐ sierung des Kapitalismus viele prekäre Arbeitsverhältnisse unter neuen und alten Arbeitsformen hervorgebracht haben. Der zentrale Antagonismus des heutigen Kapitalismus besteht nicht zwischen einer neuen Mittelschicht und einer alten Arbeiterklasse, sondern zwischen dem transnationalen Kapital und der globalen Arbeiterklasse. Reckwitz (2017, 2019) charakterisiert den heutigen Kapitalismus als ko‐ gnitiv-kulturellen Kapitalismus. Er schränkt den Begriff des Kapitalismus auf die kapitalistische Wirtschaft ein. Reckwitz (2019, Kapitel 3) argumen‐ tiert, dass der Schlüsselaspekt des kognitiven Kapitalismus eine Verschie‐ bung von physischen Gütern hin zu einer zunehmenden Bedeutung von kulturellen Gütern wie Dienstleistungen, Veranstaltungen und Medienfor‐ maten ist. Ideen, Wissen und soziale Beziehungen sind laut Reckwitz immer stärker zu Kapital geworden (Reckwitz 2019, 172). Wissensarbeit spielt laut Reckwitz eine Schlüsselrolle bei der Produktion von immateriellem Kapital (173). Wissensarbeit und Kultur würden auch im Bereich der traditionellen, industriellen Produkte wie Turnschuhe, Autos, Haushaltsprodukte usw. eine wichtige Rolle spielen. Marketing und Branding sind in diesem Zusammen‐ 11.4 Kapitalismus oder Informationsgesellschaft? 461 <?page no="462"?> hang bedeutend, da sie eine Aura der Authentizität, Einzigartigkeit und Individualität der Ware schaffen (siehe die Diskussion von Lifestyle-Marke‐ ting und Branding in Kapitel 7 dieses Buches). „Kurzum: In der Spätmoderne findet eine ‚Kognitivierung‘ großer Teile der Ökonomie statt“ (Reckwitz 2019, 175). Kultur und kulturelle Waren sind nach Reckwitz nicht einfach nur funktional, sondern werden von den Konsument: innen wegen ihrer Ästhetik (ästhetischer Wert), den mit ihnen verbundenen Erzählungen (narrativer Wert), ihrer Verspieltheit (luddischer Wert) oder ihres kreativen oder ethischen Reizes (kreativer Wert, ethischer Wert) gekauft (Reckwitz 2019, 175-176). „Kennzeichnend für den kulturellen Kapitalismus, wie er seit den 1980er Jahren expandiert, ist, dass die kulturellen Güter in ihm regelmäßig mit dem Anspruch der Einzigartigkeit (Singularität) auftreten, und die Konsumenten diese auch von ihnen erwarten. Anders gesagt: Der kulturelle Kapitalismus ist ein Singu‐ laritätskapitalismus mit einem extrem diversifizierten Konsum, der sich um Singularitätsgüter und ihre qualitativen Differenzen dreht. Singularität ist keine objektive Eigenschaft des Gutes, sondern hängt vom Blick der Konsumenten und von Bewertungsinstanzen ab, die ästhetische, ethische, narrative oder ludische Einzigartigkeit zertifizieren” (Reckwitz 2019, 178-179). Reckwitz argumentiert, dass der kognitiv-kulturelle Kapitalismus in Pro‐ zessen der Ökonomisierung viele Bereiche der Gesellschaft geprägt hat, darunter Bildung, Städte, Liebesbeziehungen und das Internet: „Über den Spezialfall der Partnerschaftsplattformen hinaus kann man den in den 1990er Jahren entstandenen kommunikativen Raum des Internets insgesamt als eine soziale Sphäre interpretieren, in der eine (Kultur-)Ökonomisierung des Sozialen stattfindet, die nahezu jedes Individuum in seinen alltäglichen Lebens‐ vollzügen betrifft. Zwar bilden sich im Internet auch soziale Netzwerke und communities aus, die nicht unbedingt marktförmig sind, aber ganz grundsätzlich hat es - noch unabhängig von jeder kommerziellen Nutzung - die Struktur eines Attraktivitätsmarktes, auf dem Individuen mit ihren Profilen um die knappe Ressource der Aufmerksamkeit vonseiten anderer Nutzer und um deren positive Bewertung konkurrieren. Auch hier gilt: Potenziell erfolgreich ist nur, wer singulär erscheint - anders, überraschend, besonders. Die Individuen versuchen zu beeindrucken und auf diese Weise »Follower« an sich zu binden; jeder und jede ist ständig Konsumentin - und zugleich zumindest potenziell auch Produzentin, Anbieterin ihrer selbst als kulturelles Singularitätsgut. Die Winner-take-all-Kon‐ 462 11 Die Politische Ökonomie der Informationsgesellschaft und des Digitalen Kapitalismus <?page no="463"?> stellationen sind im Rahmen der digitalen Aufmerksamkeitsökonomie drastisch: Wenigen in hohem Maße erfolgreichen User-Profilen - etwa auf YouTube oder Twitter oder als Blog - stehen die exorbitant vielen erfolglosen gegenüber; extreme Sichtbarkeit kontrastiert mit sozialer Unsichtbarkeit“ (Reckwitz 2019, 198-199). Reckwitz analysiert wichtige Aspekte der Transformation des Kapitalismus. Diese Transformationen rechtfertigen es nicht, von einer „Gesellschaft der Singularitäten“ zu sprechen, aber die Singularisierung ist ein wichtiger öko‐ nomischer, politischer und kultureller Prozess im Informationskapitalismus und im Kapitalismus im Allgemeinen, der auf der Logik der Akkumulation beruht. Die Aufspaltung von Menschen aus Gruppen in Individuen, die als singuläre Unternehmer: innen, Bürger: innen und Konsument: inn: en indivi‐ duell angesprochen werden, schwächt die Macht von Kollektiven und damit die Potenziale für den Widerstand gegen die Akkumulationslogik, die die kapitalistische Gesellschaft prägt. Der kognitive Kapitalismus Die Analyse von Reckwitz steht teilweise im Einklang mit dem Autonomen Marxismus. Reckwitz bezieht sich ausdrücklich auf Moulier-Boutangs (2011) Analyse des kognitiven Kapitalismus: „Whereas industrial capitalism can be characterised by the fact that accumulation was based mainly on machinery and on the organisation of manual labour, understood here as the organisation of production and the allocation of workers to fixed jobs, cognitive capitalism is a different system of accumulation, in which the accumulation is based on knowledge and creativity, in other words on forms of immaterial investment. In cognitive capitalism, the capture of gains arising from knowledge and innovation is the central issue for accumulation, and it plays a determining role in generating profits” (Boutang 2011, 56-57). Die autonomen Marxisten Michael Hardt und Antonio Negri haben den Begriff der immateriellen Arbeit popularisiert, der zuerst von Maurizio Lazzarato (1996) eingeführt wurde und der nach Ansicht von Autoren wie Boutang und Reckwitz den Kern des kognitiven Kapitalismus bildet: „Die Dienstleistungssektoren der Ökonomie bieten ein reichhaltigeres Modell der produktiven Kommunikation. Die meisten Dienstleistungen basieren auf einem kontinuierlichen Austausch von Information und Wissen. Da die Produktion von 11.4 Kapitalismus oder Informationsgesellschaft? 463 <?page no="464"?> Dienstleistungen auf nicht-materielle und nichthaltbare Güter zielt, definieren wir die Arbeit, die in diesem Produktionsprozess verrichtet wird, als immaterielle Arbeit - das heißt als eine Arbeit, die immaterielle Güter wie Dienstleistungen, kulturelle Produkte, Wissen oder Kommunikation produziert. […] Wir können also, kurz gesagt, drei Typen immaterieller Arbeit unterscheiden, die dem Dienst‐ leistungssektor den Spitzenplatz der Informationsökonomie sichern. Der erste Typ betrifft die industrielle Produktion: Sie wurde so informatisiert, sie hat die Kommunikationstechnologien so inkorporiert, dass sich der industrielle Produktionsprozess selbst transformiert. Die Fertigung haltbarer Güter wird nun wie eine Dienstleistung angesehen, und die materielle Arbeit, die zu ihrer Produktion notwendig ist, vermischt sich mit der immateriellen Arbeit, sie geht selbst in Richtung der neuen immateriellen Arbeitsform. Der zweite Typ immate‐ rieller Arbeit kann durch analytische und symbolische Anforderungen umrissen werden, die selbst wiederum in deren kreative und intelligente Handhabung einerseits und deren durch Routine geprägte andererseits auseinander fallen. Der dritte Typ schließlich bezieht sich auf die Produktion und Handhabung von Affekten. Diese Form immaterieller Arbeit erfordert - sei es virtuell oder aktuell - zwischenmenschlichen Kontakt und die Arbeit am körperlichen Befinden. Die genannten drei Typen von Arbeit haben die Postmodernisierung der globalen Ökonomie vorangetrieben” (Hardt & Negri 2002, 302, 305). Die zunehmende Bedeutung von Wissensarbeit und Kulturwaren sind wichtige und unbestreitbare Merkmale des zeitgenössischen Kapitalismus und der Veränderungen, die er in den letzten Jahrzehnten erfahren hat. Die theoretische Frage ist, ob die Begriffe „immaterielle Arbeit“ und „immateri‐ elles Kapital“ angemessen sind. Sie implizieren, dass Kultur, Wissen und Kommunikation nicht materiell sind, was zu einer Trennung der Materie vom Geist und der Wirtschaft von der Kultur führt. Der Autor dieser Arbeit verfolgt einen anderen Ansatz, der von Raymond Williams‘ Kultu‐ rellen Materialismus beeinflusst ist: „Bewusstseinsformen sind materiell“ (Williams 1977, 190). Materie und Bewusstsein werden im „Idealismus oder im mechanischen Materialismus“ getrennt (Williams 1977, 190). Ideen und Bewusstsein sind materiell, weil Menschen sie in sozialen Beziehungen und gesellschaftlichen Verhältnissen produzieren und reproduzieren. Sie sind die Ergebnisse der sozialen Produktion. „Eine derartige Annahme [der Immaterialität] führt dazu, dass entweder der Geist als die Substanz der Welt gilt und die Dinge auf den Geist reduziert werden, oder dass Geist und Materie als die zwei unabhängigen Substanzen der Welt postuliert 464 11 Die Politische Ökonomie der Informationsgesellschaft und des Digitalen Kapitalismus <?page no="465"?> werden. […] Wenn es etwas außerhalb der Materie gibt, dann hat die Welt in der ersten und letzten Instanz keinen zureichenden Grund. […] Der Geist ist eine Or‐ ganisationsstufe der Materie, die mit und im Rahmen der Entstehung von Mensch und Gesellschaft entstand. […] Die geistige Welt der Ideen wird im menschlichen Gehirn erzeugt und braucht ein physikalisches Medium, um existieren zu können. Die Erforschung der Funktionsweise des Gehirns gibt der Wissenschaft Rätsel auf. Wir wissen heute aus der Kognitionswissenschaft und Gehirnforschung, dass Gedanken das emergente Ergebnis selbstreferentieller Aktivitätszustände von Neuronennetzwerken im Gehirn sind. Der Gedanke ist nicht stofflich, aber basiert auf und emergiert aus den vernetzten Aktivitäten der Komponenten eines physikalischen Systems, des Gehirns. Dass der Geist materiell ist, bedeutet, dass das Denken aus der dynamischen, vernetzten Produktionstätigkeit des Gehirns entsteht” (Fuchs 2020, 55-57). Datenkapitalismus, Plattform-Kapitalismus, Überwachungskapitalismus Begriffe, die als Alternativen zu den Begriffen Informationskapitalismus, Kommunikationskapitalismus und digitaler Kapitalismus verwendet wur‐ den, sind beispielsweise Datenkapitalismus, Plattform-Kapitalismus und Überwachungskapitalismus. Myers West (2019) gibt eine Definition des Datenkapitalismus: „Data capitalism is a system in which the commoditization of our data enybles an asymmetric redistribution of power that is weighted toward the actors who have access and the capability to make sense of information” (Myers West 2019, 20). Diese Definition umfasst keine Aspekte der Arbeit und der Klasse. Nick Srnicek (2017) führt den Begriff des Plattform-Kapitalismus ein. Er argumentiert: „in the twenty-first century advanced capitalism came to be centred upon extracting and using a particular kind of raw material: data” (Srnicek 2017, 39). „[ Just] like oil, data are a material to be extracted, refined, and used in a variety of ways” (40). „[Platforms] became an efficient way to monopolise, extract, analyse, and use the increasingly large amounts of data that were being recorded” (42-43). Platforms „extract data from natural processes (weather conditions, crop cycles, etc.), from production processes (assembly lines, continuous flow manufacturing, etc.), and from other businesses and users (web tracking, usage data, etc.). They are an extractive apparatus for data” (48). 11.4 Kapitalismus oder Informationsgesellschaft? 465 <?page no="466"?> Der Plattformkapitalismus hat mit Waren zu tun, die im Internet durch digitale Arbeit produziert werden. Er ist eine Unterform des digitalen Kapitalismus. Es handelt sich dabei aber um keine eigenständige Form des Kapitalismus. Shoshana Zuboff hat den Begriff des Überwachungskapitalismus geprägt: „Überwachungskapitalismus beansprucht einseitig menschliche Erfahrung als Rohstoff zur Umwandlung in Verhaltensdaten. […] Überwachungskapitalisten wissen alles über uns, während ihre Operationen so gestaltet sind, uns gegenüber unkenntlich zu sein. Überwachungskapitalisten entziehen uns unermessliche Mengen neuen Wissens, aber nicht für uns; sie sagen unsere Zukunft nicht zu unserem, sondern zu anderer Leute Vorteil voraus“ (Zuboff 2018, 22, 26). Zuboff definiert den Überwachungskapitalismus folgendermaßen: „1. Neue Marktform, die menschliche Erfahrung als kostenlosen Rohstoff für ihre versteckten kommerziellen Operationen der Extraktion, Vorhersage und des Verkaufs reklamiert; 2. eine parasitäre ökonomische Logik, bei der die Produktion von Gütern und Dienstleistungen einer neuen globalen Archi‐ tektur zur Verhaltensmodifikation untergeordnet ist; 3. eine aus der Art geschlagene Form des Kapitalismus, die sich durch eine Konzentration von Reichtum, Wissen und Macht auszeichnet, die in der Menschheitsgeschichte beispiellos ist” (Zuboff 2018, 7). Zuboff schreibt, dass der „Überwachungs‐ kapitalismus ein völlig neuer Akteur der Geschichte“ ist (Zuboff 2018, 29). „Anstatt von Arbeit nährt der Überwachungskapitalismus sich von jeder Art menschlicher Erfahrung“ (Zuboff 2018, 24). „So gesehen sind die Produkte und Dienstleistungen des Überwachungskapitalismus mitnichten die Objekte eines Wertaustauschs“ (10). Zuboff spricht vom „Verhaltensüberschuss“ (behavioural surplus), der unabhängig von der Arbeit sei. Viele Datensammlungen stehen jedoch im Zusammenhang mit der digitalen Arbeit. Überwachung ist ein Aspekt der kapitalistischen Wirtschaft, der heutigen Staaten und der Wechselwirkung zwischen beiden. Sie ist nicht das Hauptmerkmal des heutigen Kapitalismus. Zuboff beschäftigt sich nicht so sehr mit ● der Ausbeutung der Informationsarbeit und der digitalen Arbeit; ● der politischen Kontrolle von (digitalen) Informationen; ● Ideologien des Internets und Ideologien im Internet. Überwachung ist nicht neu: Die Beaufsichtigung von Sklav: innen, tayloristi‐ sche Zeit- und Bewegungsstudien usw. waren Überwachungsmethoden, die 466 11 Die Politische Ökonomie der Informationsgesellschaft und des Digitalen Kapitalismus <?page no="467"?> zur Ausbeutung und Kontrolle von Arbeitenden eingesetzt wurden. Es gibt ältere Formen der Überwachung im Kapitalismus. Arbeit und Überwachung sind nicht unabhängig, sondern im Internet miteinander verbunden: Digitale Arbeit produziert Daten, Inhalte und soziale Beziehungen auf Internetplatt‐ formen, wodurch Waren entstehen, die Profit lukrieren helfen. Zuboffs Buch „ist hilfreich für ein besseres Verständnis der digitalen Überwachung, erkennt aber nicht die Bedeutung der Arbeit an, einschließ‐ lich der digitalen Arbeit von Nutzern/ innen, die Daten, Inhalte und soziale Beziehungen online produzieren, die von Facebook und Mächten wie Cam‐ bridge-Analytica überwacht werden und für wirtschaftliche, politische und ideologische Zwecke instrumentalisiert werden” (Fuchs 2021, 265). Digitaler Kapitalismus, Informationskapitalismus und kommunikativer Kapitalismus sind geeignetere Begriffe als Überwachungskapitalismus. Überwachung ist eines der Mittel zur Förderung von Ausbeutung, Kon‐ trolle/ Herrschaft und Manipulation/ Ideologie im Kapitalismus. Der digitale Kapitalismus Der Begriff des digitalen Kapitalismus entstand im Zusammenhang mit der Lobpreisung des Finanzkapitalismus: Die früheste Erwähnung des Begriffs „digitaler Kapitalismus“, die ich ausfindig machen konnte, findet sich in einem Artikel im Forbes-Magazin aus dem Jahr 1993, in dem der damalige Forbes-Chefredakteur Robert Lenzner und der Forbes-Reporter William Heuslein die Titelgeschichte der Ausgabe unter dem Titel „The Age of Digital Capitalism“ veröffentlichten (Lenzner & Heuslein 1993). Der Artikel beschreibt „computerized financial instruments” (Lenzner and Heuslein 1993, 63), Derivate wie Optionen, Futures, Devisentermingeschäfte, Zins‐ swaps, Optionen auf Futures und Swaps usw. „Computers make all this magic [of derivatives] possible. […] Think of all this as an adult Nintendo game with big dollar signs attached” (Lenzner and Heuslein 1993, 63). Dan Schiller (1999) veröffentlichte das erste Buch, das den Begriff „digi‐ taler Kapitalismus“ im Titel trug: Digital Capitalism. Networking the Global Market System. Er sieht das Internet als ein Mittel zur Globalisierung des Kapitalismus: „Networks are directly generalizing the social and cultural range of the capitalist economy as never before. That is why I refer to this new epoch as one of digital capitalism. The arrival of digital capitalism has involved radical social, as well 11.4 Kapitalismus oder Informationsgesellschaft? 467 <?page no="468"?> as technological, changes. […] As it comes under the sway of an expansionary market logic, the Internet is catalyzing an epochal political-economic transition toward what I call digital capitalism - and toward changes that, for much of the population, are unpropitious” (Schiller 1999, xiv, xvii). Marx (z. B. 1867, 95; 1894, 20, 822) sieht den Kapitalismus als Gesellschaft, als eine Gesellschaftsformation. Das „Kapital ist kein Ding, sondern ein bestimmtes, gesellschaftliches, einer bestimmten historischen Gesellschafts‐ formation angehöriges Produktionsverhältnis, das sich an einem Ding darstellt und diesem Ding einen spezifischen gesellschaftlichen Charakter gibt” (Marx 1894, 822). Auf der Ebene der Gesellschaft im Allgemeinen spielt die Wirtschaft in der Form der Produktion von Gebrauchswerten und sozialen Beziehungen eine wichtige Rolle. Der Kapitalismus ist eine Gesellschaftsform, in der die Masse der Men‐ schen von den Bedingungen der wirtschaftlichen, politischen und kulturel‐ len Produktion entfremdet ist, was bedeutet, dass sie die Bedingungen, die ihr Leben bestimmen, nicht kontrollieren können, was privilegierten Grup‐ pen die Akkumulation von Kapital in der Wirtschaft, von Entscheidungs‐ macht in der Politik und von Reputation, Aufmerksamkeit und Respekt in der Kultur ermöglicht. Entfremdung in der Wirtschaft bedeutet, dass die dominante Klasse die Arbeit der Arbeiterklasse ausbeutet. Entfremdung in nicht-wirtschaftlichen Systemen bedeutet Herrschaft, d. h. die Vorteile einer Gruppe auf Kosten anderer Gruppen durch Kontroll‐ mittel wie staatliche Macht, Ideologie und Gewalt. Im Kapitalismus finden wir die Akkumulation von Kapital in der Wirtschaft, die Akkumulation von Entscheidungsmacht und Einfluss in der Politik und die Akkumula‐ tion von Reputation, Aufmerksamkeit und Respekt in der Kultur. Der entscheidende Aspekt des Kapitalismus ist nicht, dass es Wachstum gibt, sondern dass es den Versuch der dominanten Klasse und der dominanten Gruppen gibt, Macht auf Kosten anderer zu akkumulieren, die infolgedessen Nachteile haben. Die kapitalistische Gesellschaft basiert also auf einem wirtschaftlichen Ausbeutungsantagonismus zwischen den Klassen sowie Herrschaftsantagonismen. Tabelle 11.10 zeigt die Ebenen und Strukturen der kapitalistischen Gesellschaft. 468 11 Die Politische Ökonomie der Informationsgesellschaft und des Digitalen Kapitalismus <?page no="469"?> Mikro-Ebene Meso-Ebene Makro-Ebene Wirtschaftliche Strukturen Waren, Geld Unternehmen, Märkte Kapitalistische Wirtschaft Politische Struk‐ turen Gesetze Parteien, Regie‐ rungen Kapitalistischer Staat Kulturelle Strukturen Ideologie Ideologieprodu‐ zierende Organi‐ sationen Das Ideologiesys‐ tem des Kapitalis‐ mus Tabelle 11.10: Ebenen und Strukturen der kapitalistischen Gesellschaft David Harvey (2014, 7) definiert den Kapitalismus als kapitalistische Gesell‐ schaft, nämlich als „any social formation in which processes of capital circulation and accumulation are hegemonic and dominant in providing and shaping the material, social and intellectual bases for social life. Capitalism is rife with innumerable contradictions”. Für Harvey ist die Kapitalakkumula‐ tion das zentrale Merkmal der kapitalistischen Gesellschaft, das alle Aspekte der Gesellschaft prägt. Der digitale Kapitalismus ist die Dimension der kapitalistischen Gesell‐ schaft, in der Prozesse der Kapitalakkumulation, der Entscheidungsmacht und der Reputation mit Hilfe digitaler Technologien vermittelt und organi‐ siert werden und in der wirtschaftliche, politische und kulturelle Prozesse zu digitalen Waren und digitalen Strukturen führen. Digitale Arbeit, digitales Kapital, politische Online-Kommunikation, digitale Aspekte von Protesten und gesellschaftlichen Kämpfen, Online-Ideologie und eine von Influencern dominierte digitale Kultur sind einige der Merkmale des digitalen Kapitalis‐ mus. Im digitalen Kapitalismus vermitteln die digitalen Technologien die Akkumulation von Kapital und Macht. Der Informationskapitalismus umfasst auch wirtschaftliche, politische und kulturelle Akkumulationsprozesse, bei denen nicht-digitale Technolo‐ gien und nicht-digitale Formen der Informationsproduktion eine Rolle spielen (z. B. Kapitalakkumulation auf der Grundlage von Theater- und Live-Unterhaltung). Die Tabellen 11.11 und 11.12 zeigen die Antagonismen des Kapitalismus im Allgemeinen und des digitalen Kapitalismus im Besonderen. Tabelle 11.13 gibt einen Überblick über die Akkumulationsprozesse im digitalen Kapitalismus. 11.4 Kapitalismus oder Informationsgesellschaft? 469 <?page no="470"?> Sphäre der Ge‐ sell‐ schaft Zentraler Pro‐ zess im Allge‐ meinen Zentraler Prozess in der kapitalisti‐ schen Gesell‐ schaft Grundlegender Ant‐ agonismus in der ka‐ pitalistischen Gesell‐ schaft Wirt‐ schaft Produktion von Gebrauchswerten Kapitalakkumu‐ lation Kapital VS. Arbeit Politik Produktion von kollektiven Ent‐ scheidungen Akkumulation von Entschei‐ dungsmacht und Einfluss Bürokratie VS. Bürger: innen Kultur Produktion von Bedeutungen Akkumulation von Reputation, Aufmerksam‐ keit, Respekt Ideolog: innen/ Stars/ Influ‐ encer: innen VS. Alltagsmen‐ schen Tabelle 11.11: Akkumulation als allgemeiner Prozess in der kapitalistischen Gesellschaft Sphäre der Ge‐ sell‐ schaft Under‐ lying antago‐ nism in capitalist society Antagonisms in digital capitalism Examples Wirt‐ schaft Kapital VS. Arbeit Digitales Kapital VS. Di‐ gitale Arbeit, digitale Waren VS. Digitale Ge‐ meingüter (Commons) Die Monopolmacht von Google, Facebook, Apple, Amazon, Microsoft usw. Politik Bürokratie VS. Bür‐ ger: innen Digitale Diktator: innen VS. Digitale Bürger: in‐ nen, digitaler Autorita‐ rismus/ Faschismus VS. Digitale Demokratie Donald Trumps Verwen‐ dung von Twitter und ande‐ ren sozialen Medien Kultur Ideolog: in‐ nen/ Stars/ Influen‐ cer: innen VS. Alltags‐ menschen Digitale Ideolog: innen VS. Digitale Menschen, digitaler Haß/ digitale Spaltung/ digitale Ideo‐ logie VS. Digitale Freundschaften. - Asymmetrische Aufmerk‐ samkeitsökonomie in der Po‐ pulärkultur auf sozialen Me‐ dien: die kulturelle Macht von Online-Influencern wie Pew‐ DiePie (> 100 Millionen Follo‐ wer) Tabelle 11.12: Die Antagonismen des digitalen Kapitalismus 470 11 Die Politische Ökonomie der Informationsgesellschaft und des Digitalen Kapitalismus <?page no="471"?> Sphäre der Ge‐ sellschaft Akkumulation im digitalen Kapitalismus Wirtschaft Akkumulation von digitalem Kapital auf der Grundlage digi‐ taler Waren Politik Akkumulation von Entscheidungsmacht in Bezug auf die Kontrolle von digitalem Wissen und digitalen Netzen Kultur Akkumulation von Reputation, Aufmerksamkeit und Respekt durch die Verbreitung von Ideologien im und über das Inter‐ net Tabelle 11.13: Die Rolle der Akkumulation im digitalen Kapitalismus Der digitale Kapitalismus ist eine noch relativ neue Dimension des Kapita‐ lismus und der kapitalistischen Akkumulationsprozesse. Er ist ein wichtiges Forschungsthema, das einen interdisziplinären kritischen Ansatz der Gesell‐ schaftsforschung erfordert. 11.5 Schlussfolgerungen Dieses Kapitel stellte die Frage: In welcher Art von Gesellschaft leben wir? Leben wir in einer Informationsgesellschaft oder in einer kapitalistischen Gesellschaft? Wir können nun die wichtigsten Ergebnisse zusammenfassen: - Erkenntnis 1: Theorien der Informationsgesellschaft Theorien der Informationsgesellschaft beschäftigen sich mit der Frage: In welcher Art der Gesellschaft leben wir? Welche Rolle spielt die Information in der heutigen Gesellschaft? In vielen Theorien der Informationsgesell‐ schaft wird argumentiert, dass die Wissensarbeit und/ oder die Computer‐ technologien zu einer neuen Gesellschaft geführt haben, der Informati‐ onsgesellschaft (auch als Wissensgesellschaft oder Netzwerkgesellschaft bezeichnet). 11.5 Schlussfolgerungen 471 <?page no="472"?> Erkenntnis 2: Theorie der Informationsgesellschaft als Ideologie Kritiker: innen und Skeptiker: innen der Theorie der Informationsgesell‐ schaft argumentieren, diese sei eine Ideologie, die von den Realitäten, Problemen und Ungleichheiten des Kapitalismus ablenke. Einige ziehen den Schluss, dass sich der Kapitalismus nicht verändert hat. - Erkenntnis 3: Die Dialektik von Kapitalismus und Informationsgesellschaft Informationskapitalismus, kommunikativer Kapitalismus und digitaler Ka‐ pitalismus sind spezifische Dimensionen und Aspekte der kapitalistischen Gesellschaft. Diese Begriffe sind besser geeignet, die Veränderungen und Kontinuitäten des Kapitalismus zu beschreiben als Begriffe wie Überwa‐ chungskapitalismus, Datenkapitalismus oder Plattformkapitalismus. Der Informationskapitalismus basiert auf der Dialektik von Kontinuität und Diskontinuität, subjektiver und objektiver Information sowie den Produk‐ tivkräften und Produktionsverhältnissen. Literatur Adorno, Theodor W. 1969. Einleitungsvortrag zum 16. Deutschen Soziologentag. In Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? : Verhandlungen des 16. Deutschen Soziologentages in Frankfurt am Main 1968, hrsg. von Theodor W. Adorno, 12-26. Stuttgart: Ferdinand Enke. Bell, Daniel. 1974. The Coming of Post-Industrial Society. London: Heinemann. Beniger, James R. 1986. The Control Revolution. Technological and Economic Origins of the Information Society. Cambridge, MA: Harvard University Press. Cairncross, Frances. 1997. The Death of Distance. How the Communications Revolution Will Change Our Lives. 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White Plains, NY: International Arts and Sciences Press Inc.: Kapitel 1: The Nature of the Scientific and Techno‐ logical Revolution (S.-1-103) / Kapitel 2: Radical Changes in Work, Skills and Education (S.-104-154) Christian Fuchs. 2013. Capitalism or Information Society? The Fundamental Ques‐ tion of the Present Structure of Society. European Journal of Social Theory 16 (4): 413-434. DOI: https: / / doi.org/ 10.1177/ 1368431012461432 Christian Fuchs. 2023. Der digitale Kapitalismus. Arbeit, Entfremdung und Ideologie im Informationszeitalter. Buchserie „Arbeitsgesellschaft im Wandel“ (hrsg. von Brigitte Aulenbacher, Birgit Riegraf und Karin Scherschel). Weinheim: Beltz Juventa: Kapitel 1: Was ist der digitale Kapitalismus? (S.-10-44) / Englische Version: Christian Fuchs. 2022.-Digital Capitalism: Media, Communication and Society Volume Three. London: Routledge: Kapitel 1: Introduction: What is Digital Capitalism? (S.-3-37) Frank Webster. 2002. The Information Society Revisited. 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Cambridge: Polity: Kapitel 3: Beyond Industrial Society: Polarized Post-Industrialism and Cognitive-Cultural Capitalism (S.-73-110). Literatur, empfohlene Lektüre und Übungen 475 <?page no="476"?> Yann Moulier-Boutang. 2011. Cognitive Capitalism. Cambridge: Polity: Kapitel 3: What is Cognitive Capitalism? (S.-47-91) Michael Hardt & Antonio Negri. 2002. Empire. Die neue Weltordnung. Frankfurt am Main: Campus Verlag: Kapitel III.4: Postmodernisierung: Industrialisierung der Produktion (S. 291-314). / Englische Version: Michael Hardt & Antonio Negri. 2000. Empire. Cambridge, MA: Harvard University Press: Kapitel 3.4: Postmoder‐ nization, or the Informatization of Production (S.-280-303). Christian Fuchs. 2020. Kommunikation und Kapitalismus: Eine Kritische Theorie. München: UVK Verlag: Kapitel 2: Materialismus (S.-45-61). Kapitel 3: Materialis‐ mus und Gesellschaft (S.-63-96). Kapitel 4: Kommunikation und Gesellschaft (S.-97-146). Kapitel 5: Kapitalismus und Kommunikation (S.-149-201). Kapitel 7: Kommunikationsgesellschaft (S.-229-258). / Englische Version: Christian Fuchs. 2020. Communication and Capitalism. A Critical Theory. London: University of Westminster Press. DOI: https: / / doi.org/ 10.16997/ book45 : Kapitel 2: Materialism (S. 27-39). Kapitel 3: Materialism and Society (S. 41-67). Kapitel 4: Communication and Society (S.-70-107). Kapitel 5: Capitalism and Communication (S.-111-152). Kapitel 7: Communication Society (S.-173-195). 476 11 Die Politische Ökonomie der Informationsgesellschaft und des Digitalen Kapitalismus <?page no="477"?> Aufgabe Merke Frage Literatur Wissen Zusatz Link / www Checkliste Ziele ICON SET 5 Aufgabe Merke Frage Literatur Wissen Zusatz Link / www Checkliste Ziele ICON SET 5 ÜBUNG 11.2: THEORIEN DER INFORMATIONSGESELL‐ SCHAFT Suchen Sie ein Buch oder einen Artikel, in dem die „Informationsge‐ sellschaft“ theoretisiert wird. Diskutieren Sie die folgenden Fragen. Wenn Sie in einer Gruppe oder Klasse arbeiten, stellen Sie sich gegenseitig Ihre Ergebnisse vor. Was sind die wichtigsten Erkenntnisse des gewählten Ansatzes? Um welche Art der Theorie der Informationsgesellschaft handelt es sich? Wie bewerten Sie den Ansatz? ÜBUNG 11.3: KOGNITIVER KAPITALISMUS Lesen Sie mindestens einen, am besten alle drei der folgenden Texte: Andreas Reckwitz. 2019. Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Kapitel 3: Jenseits der Industriegesellschaft: Polarisierter Postindust‐ rialismus und kognitiv-kultureller Kapitalismus (S.-135-201). Englische Version: Andreas Reckwitz. 2021. The End of Illusions. Politics, Economy, and Culture in Late Modernity. Cambridge: Polity. Kapitel 3: Beyond Industrial Society: Polarized Post-Industrialism and Cognitive-Cultural Capitalism (S.-73-110). Yann Moulier-Boutang. 2011. Cognitive Capitalism. Cambridge: Polity. Kapitel 3: What is Cognitive Capitalism? (S.-47-91) Michael Hardt & Antonio Negri. 2002. Empire. Die neue Weltordnung. Frankfurt am Main: Campus Verlag. Kapitel III.4: Postmodernisierung: Industrialisierung der Produktion (S.-291-314). Englische Version: Michael Hardt and Antonio Negri. 2000. Empire. Cambridge, MA: Harvard University Press. Kapitel 3.4: Postmodernization, or the Informatization of Production (S.-280-303). Literatur, empfohlene Lektüre und Übungen 477 <?page no="478"?> Aufgabe Merke Frage Literatur Wissen Zusatz Link / www Checkliste Ziele ICON SET 5 Wenn Sie in einer Gruppe oder Klasse arbeiten, präsentieren Sie Zusammenfassungen dieser Kapitel. Diskutieren Sie die folgenden Fragen: Wie charakterisieren Reckwitz, Moulier-Boutang und Hardt/ Negri den heutigen Kapitalismus? Was verstehen sie unter „immaterieller Arbeit“ und „immateriellem Kapital“? Was sind die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der drei Ansätze? Wie beurteilen Sie die Kapitalismusanalysen von Reckwitz, Mou‐ lier-Boutang und Hardt/ Negri? ÜBUNG 11.5: DER DIGITALE KAPITALISMUS Lesen Sie die folgenden beiden Texte: Philipp Staab. 2019. Digitaler Kapitalismus: Markt und Herrschaft in der Ökonomie der Unknappheit. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 345 Seiten. Kapitel 1 & 2 & 6 Christian Fuchs. 2023. Der digitale Kapitalismus. Arbeit, Entfremdung und Ideologie im Informationszeitalter. Buchserie „Arbeitsgesellschaft im Wandel“ (hrsg. von Brigitte Aulenbacher, Birgit Riegraf und Karin Scherschel). Weinheim: Beltz Juventa. Kapitel 1: Was ist der digitale Kapitalismus? (S.-10-44) Englische Version: Christian Fuchs. 2022.-Digital Capitalism: Media, Communication and Society Volume Three. London: Routledge. Kapitel 1: Introduction: What is Digital Capitalism? (S.-3-37) Diskutieren Sie: Was sind die Hauptcharakteristka von Phililpp Staabs Konzept des digitalen Kapitalismus? Was sind die Hauptcharakteristka von Christian Fuchs‘ Konzept des digitalen Kapitalismus? Wie beurteilen Sie diese beiden Ansätze? Geben Sie eine eigenständige Definition des Begriffes des digitalen Kapitalismus. 478 11 Die Politische Ökonomie der Informationsgesellschaft und des Digitalen Kapitalismus <?page no="479"?> Aufgabe Merke Frage Literatur Wissen Zusatz Link / www Checkliste Ziele ICON SET 5 12 Die Politische Ökonomie der Öffentlichkeit und der Digitalen Öffentlichkeit Was Sie in diesem Kapitel lernen werden: Sie werden die Grundlagen der Theorie der Öffentlichkeit kennen lernen. Sie werden etwas über die Rolle der Medien in der Öffentlichkeit erfahren. Sie werden lernen, was es mit der digitalen Öffentlichkeit auf sich hat. 12.1 Einleitung Wir alle zusammen bilden und sind die Öffentlichkeit. Wo Menschen zusam‐ menkommen und öffentlich kommunizieren, bildet sich eine Öffentlichkeit. Die Medien sind Veröffentlichungssysteme, sie helfen den Menschen, In‐ formationen öffentlich zu machen. In der Öffentlichkeit geht es um die Frage, wer bestimmte Themen in der Gesellschaft öffentlich sichtbar machen kann. Es geht also um die Frage, wie (un)demokratisch Gesellschaften sind. Die politische Ökonomie der Medien spielt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Dieses Kapitel fragt: Wie sieht die politische Ökonomie der Öffentlichkeit und der digitalen Öffentlichkeit aus? Abschnitt 12.2 erörtert den Begriff der Öffentlichkeit. Abschnitt 12.3 befasst sich mit der digitalen Öffentlichkeit. Abschnitt 12.4 zieht einige Schlussfolgerungen. 12.2 Die Politische Ökonomie der Öffentlichkeit Jürgen Habermas’ Strukturwandel der Öffentlichkeit Jürgen Habermas‘ (1990) Buch Strukturwandel der Öffentlichkeit wurde zuerst 1962 veröffentlicht. Es handelt sich um seine Habilitationsschrift, mit der er sich 1961 an der Philipps-Universität Marburg habilitierte. „‚Öffent‐ lich‘ nennen wir Veranstaltungen, wenn sie, im Gegensatz zu geschlossenen <?page no="480"?> Gesellschaften, allen zugänglich sind - so wie wir von öffentlichen Plätzen sprechen oder von öffentlichen Häusern” (Habermas 1990, 54). Die Aufgabe der Öffentlichkeit ist es, „kritische Publizität“ (Habermas 1990, 32) und „kritische Diskussion“ (168) zu organisieren und zu ermöglichen. Die Öf‐ fentlichkeit braucht Kommunikationssysteme für die politische Debatte. Die Logik der Öffentlichkeit ist unabhängig von wirtschaftlicher und politischer Macht: In ihr sind die „Gesetze des Marktes […] ebenso suspendiert wie die des Staates“ (Habermas 1990, 97). Habermas argumentiert, dass die Öffentlichkeit nicht nur eine Sphäre der öffentlichen politischen Kommu‐ nikation ist, sondern auch eine Sphäre, die frei von staatlicher Zensur und von Privateigentum ist. Sie ist frei von Partikularismus und instrumenteller Vernunft. Habermas charakterisiert einige wichtige Dimensionen der Öffentlichkeit (1989, 136; 1990, 86): ● Die Öffentlichkeit ist ein Bereich der öffentlichen Meinungsbildung. ● Zu einer echten Öffentlichkeit haben alle Bürger: innen Zugang. ● Die Öffentlichkeit ermöglicht eine uneingeschränkte politische De‐ batte (Versammlungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, Meinungsfreiheit und Veröffentlichung-/ Pressefreiheit) über Fragen von allgemeinem Interesse. ● Die Öffentlichkeit ermöglicht politische Debatten über die allgemeinen Regeln der gesellschaftlichen Beziehungen. ● Privateigentum, Einfluss und Fähigkeiten sorgen dafür, dass der Ein‐ zelne in der bürgerlichen Öffentlichkeit gehört wird. Die Arbeitenden sind von diesen Ressourcen tendenziell ausgeschlossen bzw. benachtei‐ ligt. Dieser Umstand zeigt sich zum Beispiel darin, dass Kinder aus der Arbeiterklasse seltener Zugang zu höherer Bildung haben und ihre Abschlussquoten niedriger sind. ● Die Bourgeoisie ist nur an ihren eigenen Partikularinteressen orientiert. Dies sind die Profitinteressen und nicht das Gemeinwohl. ● Karl Marx sah den Sozialismus als Öffentlichkeit und als Alternative zur bürgerlichen Gesellschaft, die seiner Ansicht nach den Klasseninteres‐ sen dient. Dies wurde in seiner Analyse der Pariser Kommune (März-Mai 1871) als einer spezifischen Art von Öffentlichkeit deutlich. Die Öffentlichkeit ist eine Sphäre der Gesellschaft, die mit der Politik, der Wirtschaft und der Kultur interagiert. Sie ist eine Art Schnittstelle zwischen den anderen Sphären der Gesellschaft, der Bereich der öffentlichen 480 12 Die Politische Ökonomie der Öffentlichkeit und der Digitalen Öffentlichkeit <?page no="481"?> Kommunikation. Wann immer Menschen in der Öffentlichkeit sprechen und sich versammeln, handeln sie in der Öffentlichkeit. Beispiele dafür sind öffentliche Debatten, die Massenmedien, Demonstrationen und Protestak‐ tionen. - Die Öffentlichkeit als Kommunikationssystem In Anlehnung an Habermas, Gerhards und Neidhardt begreifen wir Öffent‐ lichkeit als ein Kommunikationssystem, das prinzipiell allgemein zugäng‐ lich und offen für die Teilnahme aller ist, das öffentlichen Zugang zu Informationen bietet und öffentliche Sichtbarkeit, Kommunikation und Debatte über Themen ermöglicht, die für und in der Gesellschaft wichtig sind. Neidhardt argumentiert, dass die öffentliche Sphäre Sprechende, Kom‐ munikationsmedien und ein Publikum umfasst. „There must exist: speakers. who say something; an audience, that listens; and mediators who relate speakers and the audience if they are not in immediate contact with one another-that is, journalists and the mass media” (Neidhardt 1990, 340). Es gibt verschiedene Arten von Öffentlichkeiten: ● Mikro-Öffentlichkeiten sind kleine Öffentlichkeiten, in denen Men‐ schen direkt miteinander sprechen, hauptsächlich von Angesicht zu Angesicht, in alltäglichen Situationen und Räumen wie „Kneipen, Kaf‐ feehäuser und Salons“ (Gerhards and Neidhardt 1990, 20). ● Meso-Öffentlichkeiten sind mittelgroße Öffentlichkeiten, die die Form von öffentlichen Veranstaltungen annehmen. Ein Beispiel ist ein Rock‐ konzert oder eine abendfüllende Buchpräsentation mit anschließender Publikumsdiskussion. ● Makro-Öffentlichkeiten sind groß angelegte Öffentlichkeiten auf gesell‐ schaftlicher Ebene, in denen viele Menschen Zugang zu Informationen haben oder kommunizieren. Massenmedien spielen in Makro-Öffent‐ lichkeiten oft eine wichtige Rolle. Die Öffentlichkeit ist eine Schnittstelle der Gesellschaft, die mit dem Wirt‐ schaftssystem, dem politischen System und dem kulturellen System inter‐ agiert (Fuchs 2008, 2014). Abbildung 12.1 zeigt ein Modell der Öffentlichkeit. 12.2 Die Politische Ökonomie der Öffentlichkeit 481 <?page no="482"?> Abbildung 12.1: Ein Modell der Öffentlichkeit Wir unterscheiden zwischen Mikro-, Meso- und Makro-Öffentlichkeiten als drei Arten von Öffentlichkeiten, die zusammen die Öffentlichkeit bilden. Wirtschaftliche, politische und kulturelle Akteure interagieren mit der Öffentlichkeit, da sie Gegenstand von Nachrichten, Informationen und Unterhaltung sind. Darüber hinaus versuchen wirtschaftliche, politische und kulturelle Gruppen oft, in der Öffentlichkeit Lobbyarbeit zu betreiben, um Sichtbarkeit und Unterstützung für ihre Ansichten und Positionen zu gewinnen. Finanzielle Ressourcen aus der Wirtschaft finanzieren die im öffentlichen Raum tätigen Medienorganisationen (z. B. in Form von Werbe‐ einnahmen, Abonnementgebühren, Lizenzgebühren usw.). Die Politik und die Gesetze der Regierungen regulieren die Medien. Normen, moralische 482 12 Die Politische Ökonomie der Öffentlichkeit und der Digitalen Öffentlichkeit <?page no="483"?> Werte, Weltanschauungen und Ideologien als kulturelle Strukturen beein‐ flussen die öffentliche Meinung, öffentliche Debatten und den öffentlichen Raum im Allgemeinen. Auf der Ebene der menschlichen Praktiken erkennen Menschen, was bedeutet, dass sie die Welt wahrnehmen, erfahren und inter‐ pretieren. Sie kommunizieren miteinander über das, was in ihrem sozialen Umfeld und in der Gesellschaft geschieht. Und sie kooperieren und schaffen neue Realitäten, soziale Beziehungen und gesellschaftliche Verhältnisse. Erkenntnis-/ Kognitions-, Kommunikations- und Kooperationsprozesse sind die Praktiken, die die Grundlage der Öffentlichkeit bilden, in der Meinungen, Inhalte und Wissen produziert werden. Meinungen, Inhalte und Wissen, die in der Öffentlichkeit produziert werden, beeinflussen die Art und Weise, wie Menschen denken, kommunizieren und produzieren. Slavko Splichal: Öffentlichkeit und Öffentliche Sphäre Slavko Splichal argumentiert, dass die englische Übersetzung von Habermas' Konzept der „Öffentlichkeit“ als „public sphere“ irreführend ist. „Public sphere“ entspricht der „öffentlichen Sphäre“, womit Splichal eine „Infra‐ struktur“ bezeichnet, die von menschlichen Mitgliedern („die Öffentlich‐ keit“, „the public“) benutzt wird, die „handeln, sich bilden, ihre Meinung äußern und das Gefühl der Zugehörigkeit teilen” (Splichal 2012, 67). Splichal bevorzugt daher den Begriff „publicness“ als Übersetzung von „Öffentlichkeit“, der sich auf „diskursive Handlungen zur Öffnung von Themen für die öffentliche Prüfung und Diskussion bezieht und oft die Existenz einer kritischen Öffentlichkeit voraussetzt“ (Splichal 2012, 66). Öffentlichkeit bedeutet eine Dialektik von System und Akteur, Strukturen und Handeln, Raum und Praktiken, Objekt und Subjekt, öffentlicher Sphäre und Öffentlichkeit als Gruppe. „Es gibt keine Öffentlichkeit ohne eine öffentliche Sphäre und keine öffentliche Sphäre ohne eine Öffentlichkeit” (Splichal 2012, 79). Splichal argumentiert, dass die öffentliche Sphäre (Public Sphere) manchmal fälschlicherweise als Akteur dargestellt wird, was die Handlungsfähigkeit von Menschen und Gruppen in ihr leugnet. „Clearly, perceiving and thematising social problems are tasks that can only be performed by people (communicatively) acting in the public sphere, that is, by the public and in the public sphere but not by the public sphere” (Splichal 2022a, 68). Daher gibt es in Abbildung 10.1 sowohl eine Ebene der menschlichen Praktiken als auch eine strukturelle Ebene. Auf der Ebene der Praktiken 12.2 Die Politische Ökonomie der Öffentlichkeit 483 <?page no="484"?> kommunizieren die Menschen in der Öffentlichkeit, beschäftigen sich mit öffentlichen Informationen und engagieren sich durch öffentliches soziales und gesellschaftliches Handeln, Formen der sozialen und gesellschaftlichen Produktion, die Veränderungen bewirken. Dabei handelt es sich um inter‐ agierende Prozesse der Kognition, Kommunikation und Kooperation. Men‐ schen treffen auf andere Menschen, mit denen sie die Öffentlichkeit bilden, vermittelt durch Systeme, Räume und Strukturen, die ihre öffentlichen Praktiken bedingen, ermöglichen und einschränken. Splichal (2022a) argumentiert, dass die öffentliche Sphäre als Infrastruk‐ tur Kommunikationstechnologien, demokratische Institutionen und eine öffentliche Kultur erfordert und dass Öffentlichkeit mit der Sichtbarkeit des sozialen Zugangs der Menschen und dem Zugang zu Informations- und Kommunikationskanälen, reflexivem kommunikativem Handeln (refle‐ xive Publizität), der Vermittlung sozialer Beziehungen und der Beziehung zwischen Zivilgesellschaft und Staat sowie der Bildung einer öffentlichen Meinung, die Entscheidungen beeinflusst und Macht legitimiert, zu tun hat. Splichal (2022a, 133-143; 2022b) charakterisiert die Komponenten von Öffentlichkeit als „VARMIL“: Sichtbarkeit (Visibility), Zugang (Access), refle‐ xive Öffentlichkeit (Reflexive Publicity), Vermittlung (Mediation), Einfluss auf Entscheidungen (Influencing Decisions), Legitimation von Macht und bestimmten kollektiven Entscheidungen (Legitimation of Power). Sichtbarkeit (Visibility) bedeutet, dass öffentlichkeitsrelevante Entwick‐ lungen in der Gesellschaft für die Öffentlichkeit sichtbar gemacht wer‐ den sollten. Die Öffentlichkeit sollte Zugang (Access) zu den Kommuni‐ kationsmitteln haben, was „Gedanken-, Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit“ voraussetzt (Splichal 2022a, 133-134). Reflexive and deliberative Öffentlichkeit (Reflexive Publicity) bedeutet, dass es eine „ra‐ tional geführte Diskussion" (134) gibt. Vermittlung (Mediation) bedeutet, dass es Kanäle wie das Mediensystem gibt, die zwischen dem Staat und der Zivilgesellschaft vermitteln (134). Beim Einfluss auf Entscheidungen (Influencing Decision Making) geht es um die Beeinflussung der politischen Entscheidungsfindung durch die öffentliche Meinung in Form von demo‐ kratischen Verfahren (134). Bei der Legitimation geht es um ein System von Vertrauen und Misstrauen, so dass politische Entscheidungen von der Öffentlichkeit debattiert und kritisiert werden, die Politiker: innen und Regierungen von der Öffentlichkeit zur Rechenschaft gezogen werden und politische Entscheidungen nicht willkürlich, sondern auf der Grundlage des demokratischen Willens getroffen werden (134). Die nächste Tabelle zeigt 484 12 Die Politische Ökonomie der Öffentlichkeit und der Digitalen Öffentlichkeit <?page no="485"?> das Modell von Splichal, das Infrastrukturen des öffentlichen Raums und die Öffentlichkeit miteinander verbindet. Dimen‐ sionen der Öf‐ fentlich‐ keit ® Strukturelle Be‐ dingungen der Öffentlichkeit Kommunikatives Handeln, das die Öffentlichkeit konstituiert Rollen der öffentli‐ chen Meinung Infra‐ struktu‐ ren der Öf‐ fentlichkeit ¯ Sicht‐ barkeit (Visibi‐ lity) Zugang (Access) Refle‐ xive Öf‐ fentlich‐ keit (Refle‐ xive Publi‐ city) Vermitt‐ lung (Media‐ tion) Einfluss auf Ent‐ scheidun‐ gen (In‐ fluencing Decisions) Legitima‐ tion (Legiti‐ mising Power) Kommuni‐ kations‐ technolo‐ gien: Entwick‐ lungsstand und Zu‐ gang, demokrati‐ sche Mög‐ lichkeiten, Verfügbar‐ keit und Kontrolle - - - - - - Demokrati‐ sche Insti‐ tutionen und Struk‐ turen: politische Strukturen, ökonomi‐ sche Struk‐ turen, Me‐ dien - - - - - - Öffentliche Kultur: - - - - - - 12.2 Die Politische Ökonomie der Öffentlichkeit 485 <?page no="486"?> Dimen‐ sionen der Öf‐ fentlich‐ keit ® Strukturelle Be‐ dingungen der Öffentlichkeit Kommunikatives Handeln, das die Öffentlichkeit konstituiert Rollen der öffentli‐ chen Meinung Normen, Werte und Praktiken Tabelle 12.1: Splichals Modell der Öffentlichkeit (basierend auf Splichal 2022a, 139) Habermas‘ Konzept der Öffentlichkeit ist oft missverstanden worden, ent‐ weder als eine Idealisierung der Kommunikation in der kapitalistischen Gesellschaft oder als eine Idealisierung, die in der realen Gesellschaft nicht existiert und nicht existieren kann. Dies sind jedoch Missverständnisse. Habermas‘ Konzept der Öffentlichkeit ist ein Konzept der Kritischen Theo‐ rie. Er definiert Demokratie und demokratische Kommunikation als ideale Organisationsmodelle der Gesellschaft. Dadurch ist es möglich, Prozesse zu kritisieren, die Demokratie und demokratische Kommunikation verzerren oder zerstören. Habermas argumentiert, dass in feudalen Gesellschaften die politische und wirtschaftliche Macht von Monarchen und der Aristokratie kontrolliert wurde. Es handelte sich um landwirtschaftlich geprägte Wirtschaften, in denen Haushalte als ökonomische Einheiten agierten und es eine familiär geprägte Wirtschaftsstruktur gab. „Kirche, Fürstentum und Herrenstand“ waren die Gruppen, an denen „die repräsentative Öffentlichkeit” haftete (Habermas 1990, 66). Sie repräsentier‐ ten, wofür die Öffentlichkeit stand, und trafen autoritär Entscheidungen, die für alle verbindlich waren. Die Öffentlichkeit bestand in der Repräsentation der monarchischen, religiösen und aristokratischen Macht. Die Französische Revolution war eine Revolution gegen die monarchische Macht. Die Politik wurde von der Wirtschaft abgekoppelt und in einem separaten System, dem modernen Staat, organisiert, das in dialektischer Wechselwirkung mit der kapitalistischen Wirtschaft steht. Habermas argu‐ mentiert, dass die bürgerliche Gesellschaft aus der Rebellion gegen die monarchische Macht und die Herrschaft der Kirchen entstand, aber neue Machtzentren geschaffen hat, nämlich kapitalistische Unternehmen und 486 12 Die Politische Ökonomie der Öffentlichkeit und der Digitalen Öffentlichkeit <?page no="487"?> politische Bürokratien, die die öffentliche Sphäre beherrschen und andere Stimmen marginalisieren. Aufklärung, Französische Revolution, Industrialisierung und der Aufstieg des Kapitalismus führten zur Veränderung der Gesellschaftsstruktur, näm‐ lich zur Entbettung der Wirtschaft vom Staat, zum Aufstieg von Lohnarbeit, Fabrik, der Arbeiterklasse, der Klasse der Privateigentümer, der Warenpro‐ duktion und der modernen Industrie. Die Öffentlichkeit war dabei eine Sphäre der Infragestellung der mon‐ archischen und kirchlichen Herrschaft, des Kampfes für die Demokratie und gegen die Monarchie. Zeitungen und Zeitschriften debattierten und stellten die öffentliche Autorität in Frage. Es gab zwei wesentliche Teile der politischen Öffentlichkeit: 1. Zeitungen und Medien 2. Das Stadtleben Die Öffentlichkeit spielte eine wichtige Rolle in der Französischen Revolu‐ tion (1789-1799) und den Revolutionen von 1848. Sie stand außerhalb der direkten Kontrolle von Kirche und Staat. Die Zeitungen waren politisch, sie waren laut Karl Bücher, einem deutschen Ökonomen und Mitbegründer der Zeitungswirtschaft, „Träger und Leiter der öffentlichen Meinung, Kampf‐ mittel der Parteipolitik” (Karl Bücher, in: Habermas 1990, 275). Der Buchdruck mit Drucktypen entstand in China im 9. Jahrhundert, wo beim Holztafeldruck mit beweglichen Lettern Zeichen in Holzblöcke geschnitten wurden, die zu Buchseiten angeordnet wurden. Johannes Gutenberg begründete um 1450 den Druck mit der Druckmaschine mit beweglichen Lettern, die den Aufstieg des Verlagswesens ermöglichte. Die erste moderne Zeitung entstand 1605 in Deutschland. Sie trug den Titel „Relation aller Fürnemmen und gedenckwürdigen Historien” (= Sammlung aller vorzüglichen und verdienstvollen Nachrichten) und erschien bis 1659. Das Stadtleben war der Lebensmittelpunkt der Öffentlichkeit und der Standort von Kaffeehäusern, Salons, Tischgesellschaften und Pubs, bei denen es sich um Bereiche der literarischen und politischen Kritik handelte. - Die Refeudalisierung der Öffentlichkeit Habermas‘ Begriff der Öffentlichkeit ist kritisch, weil er mit dem Begriff der Refeudalisierung der Öffentlichkeit verknüpft ist. Die bürgerliche Öf‐ fentlichkeit negiert ihre eigenen Grundlagen. „Offenbar fehlen [im Kapi‐ 12.2 Die Politische Ökonomie der Öffentlichkeit 487 <?page no="488"?> talismus] zunächst einmal die gesellschaftlichen Voraussetzungen für die Gleichheit der Chance, daß jedermann mit Tüchtigkeit und ‚Glück‘ den Status eines Eigentümers und damit die Qualifikationen eines zur Öffent‐ lichkeit zugelassenen Privatmannes, Besitz und Bildung, erwerben kann. Die Öffentlichkeit, der Marx sich konfrontiert sieht, widerspricht ihrem eigenen Prinzip allgemeiner Zugänglichkeit” (Habermas 1990, 203). „Unter Bedingungen einer Klassengesellschaft geriet so die bürgerliche Demokratie von Anbeginn in Widerspruch zu wesentlichen Prämissen ihres Selbstver‐ ständnisses” (Habermas 1990, 18). Die bürgerliche Öffentlichkeit ist mit einer negativen Dialektik konfrontiert: Sie verspricht Freiheit und Demokratie, die durch die Macht der großen Unternehmen und Bürokratien untergraben werden. Habermas kritisiert in diesem Zusammenhang insbesondere den Einsatz von Werbung und Marketing in Wirtschaft und Politik, die seiner Meinung nach eine rationale Debatte untergraben und darauf abzielen, die Öffentlich‐ keit zu manipulieren, damit sie den Vorschlägen mächtiger Organisationen folgt, bestimmte Waren zu kaufen, bestimmten Führern zu folgen, einen bestimmten Lebensstil anzunehmen usw. „Die Öffentlichkeit übernimmt Funktionen der Werbung. Je mehr sie als Medium politischer und ökonomischer Beeinflussung eingesetzt werden kann, um so unpolitischer wird sie im ganzen und dem Schein nach privatisiert” (Habermas 1990, 267). „Die Geschichte der großen Tageszeitungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahr‐ hunderts beweist, daß die Presse im Maße ihrer Kommerzialisierung selbst manipulierbar wird. Seitdem der Absatz des redaktionellen Teiles mit dem Absatz des Annoncenteils in Wechselwirkung steht, wird die Presse, bis dahin Institution der Privatleute als Publikum, zur Institution bestimmter Publikumsteilnehmer als Privatleuten - nämlich zum Einfallstor privilegierter Privatinteressen in die Öffentlichkeit“ (Habermas 1990, 280). „im Rahmen der hergestellten Öffentlichkeit taugen die Massenmedien nur als Werbeträger“ (Habermas 1990, 320). In der Theorie des kommunikativen Handelns konzipiert Habermas (1981a, 1981b) den Begriff der (Re-)Feudalisierung der Öffentlichkeit als Koloni‐ sierung der Lebenswelt: „Die These der inneren Kolonialisierung besagt, daß die Subsysteme Wirtschaft und Staat infolge des kapitalistischen Wachstums immer komplexer werden und immer tiefer in die symbolische Reproduktion der Lebenswelt eindringen” (Habermas 1981b, 539). Die 488 12 Die Politische Ökonomie der Öffentlichkeit und der Digitalen Öffentlichkeit <?page no="489"?> „Kolonialisierung der Lebenswelt durch Systemimperative“ verdrängt „die moralisch-praktischen Elemente aus Bereichen der privaten Lebensführung und der politischen Öffentlichkeit“ (Habermas 1981b, 480). Die „Imperative der verselbständigten Subsysteme dringen, sobald sie ihres ideologischen Schleiers entkleidet sind, von außen in die Lebenswelt - wie Kolonialherren in eine Stammesgesellschaft - ein und erzwingen die Assimilation” (Haber‐ mas 1981b, 522). Die Kolonisierung der Lebenswelt (Habermas 1981a, 1981b) führt zu einer Zentralisierung der wirtschaftlichen Macht (Unternehmen, Marktkon‐ zentration, Monopole) und der politischen Macht (Staat, Bürokratie). Die Bürokratisierung ist eine Transformation, bei der es zu einer „wechselseiti‐ gen Durchdringung von Staat und Gesellschaft” kommt, der Staat in die Öffentlichkeit eindringt und Verbände und Parteien eine wichtigere Rolle im Staat spielen (Habermas 1990, 295). Bürokratisierung hat zu tun mit rationaler Kalkulation, Verwaltung durch Fachbeamte, Formalisierung und der Anstaltsform (Habermas 1981b, 453). Durch Monetarisierung und Kommodifizierung wird die Öffentlichkeit zur „konsumkulturelle[n] Öffentlichkeit“, zur „Pseudoöffentlichkeit“ (Haber‐ mas 1990, 250) sowie zur „manipulierten Öffentlichkeit“ (Habermas 1990, 321). Monetarisierung bedeutet, dass die Logik der Waren und des Geldes als Organisationsprinzip in spezifische soziale Verhältnisse eingeführt wird. In den Büchern Strukturwandel der Öffentlichkeit und Theorie des kom‐ munikativen Handelns wird das Thema der Ideologie kaum diskutiert. Der Grund dafür ist wahrscheinlich, dass Habermas über die Ideologiekritik von Horkheimer, Adorno und Marcuse hinausgehen wollte. Die Folge ist jedoch, dass Ideologie ein blinder Fleck in seinen Werken ist. Sie wird nicht als Prozess der Refeudalisierung und Kolonisierung der Lebenswelt gesehen. Eine Arbeit, in der Habermas explizit auf Ideologie eingeht, ist Technik und Wissenschaft als „Ideologie“, eine Reflexion über die Werke von Herbert Marcuse (Habermas 1968/ 1987). Darin liefert Habermas keine Definition von Ideologie, sondern argumentiert, dass Ideologie etwas mit „Herrschaftslegitimation“ (72) zu tun hat und „unter Bedingungen entstell‐ ter Kommunikation“ entsteht (91). - Administrative Forschung George Gallup war der Gründer des heutigen Unternehmens Gallup Inc., das eines der größten Meinungsforschungsunternehmen der Welt ist und 12.2 Die Politische Ökonomie der Öffentlichkeit 489 <?page no="490"?> ein Professor für Journalismus und Werbung. Er leistete Pionierarbeit bei der Entwicklung von Methoden der Meinungsforschung. Er versteht die öffentliche Meinung in Anlehnung an den britischen Politiker und Wissen‐ schaftler James Bryce als das „Aggregat der Ansichten, die Menschen zu Angelegenheiten haben, die die Gemeinschaft betreffen oder interessieren" (Gallup 1957, 23). Gallups Verständnis der öffentlichen Meinung und der Öffentlichkeit ist methodologisch individualistisch. Es betrachtet die Öffentlichkeit als ein Aggregat individueller Gedanken, das wie ein Sandhaufen technologisch zerlegt werden kann. Der methodologische Individualismus ignoriert, dass die Öffentlichkeit und die öffentlichen Meinungen aus sozialen Prozessen, öffentlicher Kommunikation und Debatten, öffentlichen Konflikten, gesell‐ schaftlichen Interessenkonflikten und Kämpfen usw. entstehen. Eine ange‐ messene Analyse der öffentlichen Meinung erfordert daher die Kombination von Gesellschaftstheorien und empirischer Sozialforschung. Das Problem der Meinungsforschung besteht darin, dass sie die Öffent‐ lichkeit als eine Ansammlung von Individuen betrachtet, passiv behandelt und ihnen dadurch die Handlungsfähigkeit abspricht. Die Öffentlichkeit wird als das angesehen, was die Mehrheit der unabhängig lebenden und han‐ delnden Individuen denkt und was durch Meinungsumfragen quantifiziert werden kann. Die Öffentlichkeit wird somit auf eine individualistische und eine rein quantifizierende Weise definiert. Ausgeblendet werden die sozialen und gesellschaftlichen Kommunikationsprozesse, die Debatten, die Art und Qualität der Argumente, die sozialen und gesellschaftlichen Konflikte und Widersprüche, die zu einer öffentlichen Meinung führen. Theodor W. Adorno (1972) kritisiert die von Gallup und anderen vertre‐ tene Auffassung, dass Meinungsumfragen Mechanismen sind, die Öffent‐ lichkeit herstellen, als administrative Forschung, die eine „Ideologie“ (537) ist, bei der die Bevölkerung „zum Anhängsel der Maschinerie öffentlicher Meinung“ (534) gemacht wird. „Das Recht der Menschen auf Öffentlichkeit hat sich verkehrt in ihre Belieferung mit Öffentlichkeit; während sie deren Subjekte sein sollten, werden sie zu deren Objekte” (534). Adorno argumen‐ tiert, dass Öffentlichkeit nicht „als ein bereits Gegebenes“ betrachtet werden sollte, sondern aus demokratischen Prozessen entsteht, „die mündige und über ihre wesentlichen Interessen gut unterrichtete Bürger“ (533) voraus‐ setzen. Adorno leugnet nicht die Bedeutung der empirischen Forschung an sich. Er plädiert für die Integration von kritischer Gesellschaftstheorie und empirischer Sozialforschung, um die Meinungen der Subjekte mit den 490 12 Die Politische Ökonomie der Öffentlichkeit und der Digitalen Öffentlichkeit <?page no="491"?> objektiven Bedingungen der Gesellschaft vergleichen zu können (Adorno 1972, 538-546). - Entfremdung und Öffentlichkeit Wir können Habermas' Begriffe der Refeudalisierung und Kolonisierung erweitern, indem wir sie mit dem Marx'schen Begriff der Entfremdung und seiner Anwendung auf die gesellschaftlichen Bereiche der Wirtschaft, Politik und Kultur kombinieren. Entfremdung bedeutet, dass die Menschen mit Strukturen und Bedingun‐ gen konfrontiert sind, die sich nicht selbst kontrollieren und beeinflussen können. Die Menschen kontrollieren nicht die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Produkte, die ihr Leben und ihren Alltag beeinflussen. Entfremdung bedeutet einen „Verlust” eines Produktes, das dem Menschen nicht gehört (Max 1844, 519). Entfremdung bedeutet „die Produktion des Gegenstandes als Verlust des Gegenstandes an eine fremde Macht, an einen fremden Menschen” (Marx 1844, 522). Gebrauchswerte, kollektiv bindende Entscheidungen und kollektive Bedeutungen sind gesellschaftli‐ che Produkte menschlicher Praktiken. In der kapitalistischen Gesellschaft werden sie aber nur von wenigen kontrolliert, wodurch objektiv entfremde Zustände existieren. Entfremdungsform Herrschende Subjekte Beherrschte Subjekte Wirtschaftliche Entfrem‐ dung: Ausbeutung herrschende Klasse, Ausbeuter Ausgebeutete Klasse Politische Entfremdung: Herrschaft Diktator, diktatorisch agierende Gruppen Exkludierte Individuen und Gruppen Kulturelle Entfremdung: Ideologie, die zur Nicht‐ achtung führt Ideologen Nichtgeachtete und verach‐ tete Individuen und Grup‐ pen Tabelle 12.2: Antagonismen bei drei Formen der Entfremdung Tabelle 12.3 veranschaulicht den Antagonismus zwischen entfremdeter und humanistischer Gesellschaft entlang der drei gesellschaftlichen Dimen‐ sionen der Wirtschaft, der Politik und der Kultur. In der entfremdeten 12.2 Die Politische Ökonomie der Öffentlichkeit 491 <?page no="492"?> Gesellschaft sind die Hauptakteure der Ausbeuter in der Wirtschaft, der Diktator in der Politik und der Ideologe/ Demagoge in der Kultur. Der Humanismus ist der Alternativentwurf zur entfremdeten Gesellschaft. In der humanistischen Gesellschaft sind die Hauptakteure der Sozialist in der Wirtschaft, der Demokrat in der Politik und der solidarische Freund in der Kultur. - Entfremdete Gesell‐ schaft Humanismus Wirtschaft Der Ausbeuter Der Sozialist Politik Der Diktator Der Demokrat Kultur Der Ideologie/ Demagoge Der Freund Tabelle 12.3: Hauptakteure in der entfremdeten und der humanistischen Gesellschaft; beruhend auf Fuchs 2020, S.-140: Tabelle 4.4 In Anlehnung an Marx und Habermas können wir zwischen der wirtschaft‐ lichen, politischen und ideologischen Kolonisierung und Refeudalisierung der Öffentlichkeit unterscheiden: ● Wirtschaftliche Entfremdung der Öffentlichkeit: Durch Kapitali‐ sierung, Kommodifizierung und Klassenstrukturierung durchdringt die Logik des Geldes, des Kapitals und der Warenform den Alltag und die Lebenswelten der Menschen. ● Politische Entfremdung der Öffentlichkeit: Durch Herrschaft wird die Gesellschaft so organisiert, dass bestimmte Interessen vorherrschen und einige Personen oder Gruppen oder Individuen Vorteile auf Kosten anderer erlangen (Verherrschaftlichung). ● Kulturelle Entfremdung der Öffentlichkeit: Ideologisierung stellt Partialinteressen, Ausbeutung und Herrschaft als natürlich und notwendig dar, indem die Realität verzerrt oder manipuliert dargestellt wird. Wirtschaftliche, politische und kulturelle Formen der Entfremdung der Öffentlichkeit untergraben die Freiheit: ● Sie schränken die Freiheit der Rede und der öffentlichen Mei‐ nung ein: Wenn die Menschen nicht denselben formalen Bildungsgrad und dieselben materiellen Ressourcen zur Verfügung haben, so kann dies 492 12 Die Politische Ökonomie der Öffentlichkeit und der Digitalen Öffentlichkeit <?page no="493"?> Beschränkungen des Zugangs zur Öffentlichkeit darstellen (Habermas 1990, 331). ● Sie schränken die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit ein: Mächtige politische und wirtschaftliche Organisation besitzen „ein Oligopol der publizistisch effektiven und politisch relevanten Versamm‐ lungs- und Vereinsbildung“ (Habermas 1990, 333). Das Konzept der Öffentlichkeit und der damit verbundene Begriff der Refeudalisierung beschreiben nicht einfach die Realität oder das Ideal der Gesellschaft und der politischen Kommunikation, sondern sind nor‐ mativ-kritische Konzepte, die es erlauben, den Zustand der Gesellschaft an einem demokratischen Maßstab der Kritik zu messen. Slavko Splichal fasst das kritische Potenzial des Öffentlichkeitsbegriffs folgendermaßen zusammen: „Personal freedom and public use of reason and the right of the public to control political authorities are hardly compatible with the media owned by private capital or the political state, which pursue as their main goal maximization of commercial profit or political power rather than ‘maximization of publicness’“ (Splichal 2012, 91). Marx selbst war ein kritischer Journalist, der als Redakteur und Schrift‐ steller tätig war. In Deutschland war die demokratische Presse der Unterdrü‐ ckung durch den preußischen Staat ausgesetzt, weshalb Marx Deutschland verlassen musste, als die von ihm herausgegebene Rheinische Zeitung 1843 verboten wurde. In diesem Zusammenhang verfasste Marx Texte über die Pressefreiheit. Er wandte sich sowohl gegen die politische als auch gegen die wirtschaftliche Zensur der Presse. Er argumentierte, dass die politische Zensur nicht die Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz garantiert und daher abgeschafft werden muss: „Die eigentliche Radikalkur der Zensur wäre ihre Abschaffung; denn das Institut ist schlecht” (Marx 1843, 25). Er argumentierte auch, dass kapitalistische Medienmonopole und Medienkon‐ zentration Formen der Zensur sind: „Die erste Freiheit der Presse besteht darin, kein Gewerbe zu sein“ (Marx 1842, 71). „Preßfreiheit war bisher in England das ausschließliche Privilegium des Kapitals” (Marx 1855, 158). - Kritik an der Theorie der Öffentlichkeit Kritiker: innen der Theorie der Öffentlichkeit haben unter anderem argu‐ mentiert, dass Habermas‘ Begriff zu universalistisch sei und außer Acht lasse, dass neue soziale Bewegungen ihre vielfältigen Gegenöffentlichkeiten 12.2 Die Politische Ökonomie der Öffentlichkeit 493 <?page no="494"?> entwickelt haben (z. B. Benhabib 1992, Eley 1992, Fraser 1992, Mouffe 1999, Roberts and Crossley 2004). Ein anderer Kritikpunkt ist, dass Habermas‘ Konzept zu sehr auf europäische Nationalstaaten fokussiert ist und trans‐ nationale und nicht-westliche Aspekte außer Acht lasse (z. B. McGuigan 1998, Sparks 1998). Habermas hat diese Bedenken ernst genommen und die Bedeutung der Pluralisierung und Transnationalisierung von Öffent‐ lichkeiten betont (z. B. Habermas 1992). Inzwischen gibt es Konzepte wie Gegenöffentlichkeiten (z. B. Asen 2000, Warner 2002), die schwarze Öffent‐ lichkeit (z. B. Gilroy 1997, Squires 2006), feministische Öffentlichkeiten (z. B. Zackodnik 2011, Zobl & Drüeke 2012), proletarische Öffentlichkeit (Negt & Kluge 1972), vernetzte Gegenöffentlichkeiten (Renninger 2015), globale Öffentlichkeit (z. B. Buck-Morss 2002, Volkmer 2014) und transnationale Öffentlichkeit (z. B. Fraser et al. 2014; Guidry, Kennedy & Zald 2000; Wessler et al. 2008). Auch bei der empirischen Analyse der Öffentlichkeit wurden Fortschritte erzielt (z. B. Cammaerts & Van Audenhove 2005, Dahlberg 2004, Gerhards 1997, Gerhards & Schäfer 2010, Koopmans 2007; Machill, Beiler & Fischer 2006; Trenz 2004). Mehr als sechzig Jahre nach der Veröffentlichung von Habermas‘ Buch Strukturwandel der Öffentlichkeit ist die Theorie und Analyse der Öffentlichkeit von großer akademischer, gesellschaftlicher und politischer Bedeutung (Seeliger & Sevignani 2021). Es ist wichtig, zu betonen, dass Herrschaft in der Gesellschaft unter‐ schiedlich erfahren wird uns es verschiedene Kontexte der Herrschaft gibt. Aber auch Gruppen, die in unterschiedlichen Zusammenhängen, aber innerhalb desselben Weltsystems leiden, haben etwas gemeinsam und ein gemeinsames Interesse. Die Gefahr der Schaffung von immer mehr Mikro-Gegenöffentlichkeiten besteht darin, dass gesellschaftliche Kämpfe und öffentliche Kommunikation isoliert und fragmentiert werden. Heute gibt es online und offline viele Echokammern, in denen Menschen nur mit Gleichgesinnten reden und sich engagieren. Gegenöffentlichkeiten können diese Tendenz der Fragmentierung der Öffentlichkeit fördern. Daher ist es wichtig, dass die gemeinsamen Aspekte der Menschen in der Gesellschaft als Menschen, Arbeiter: innen, Konsument: inn: en und Bürger: innen im Auge behalten werden und dass sich die Menschen über bestehende Spaltungen hinweg um gemeinsame Interessen der Menschheit herum organisieren. James Curran (1991) argumentiert, dass es vor 1850 eine reiche Geschichte radikaler Zeitungen im Vereinigten Königreich gab und dass es einfach und billig war, solche Zeitungen zu gründen. Beispiele für die radikale Presse des 19. Jahrhunderts im Vereinigten Königreich sind: Liberator, London Dispatch, 494 12 Die Politische Ökonomie der Öffentlichkeit und der Digitalen Öffentlichkeit <?page no="495"?> Northern Star (eine Chartisten-Zeitung, die von 1837 bis 1852 existierte und eine Auflage von rund 50 000 Exemplaren hatte), Political Register, Poor Man's Guardian, Reynolds News, Trades Newspaper, Twopenny Trash, Voice of the People, Voice of West Riding, Weekly Police Gazette (Curran und Seaton 2010, Kapitel 2). Die radikale Presse spielte eine wichtige Rolle in der radikalen Politik und war mit zivilgesellschaftlichen Gruppen wie der National Union of the Working Classes, der Chartisten-Bewegung oder der Society for Promoting the Employment of Women verbunden. Später nahm die Werbung zu und die Organisation einer Zeitung wurde immer teurer, so dass sich die Presse politisch nach rechts verlagerte und die Arbeiterpresse im 20. Jahrhundert zugrunde ging. Curran argumentiert, dass die Presse des 19. Jahrhunderts „eine radikale und innovative Analyse der Gesellschaft“ vornahm und „die Legitimität der kapitalistischen Ordnung in Frage stellte“ (Curran 1991, 40). Habermas, so Curran, würde die Rolle der radikalen Presse ignorieren. Curran argumentiert, dass die Londoner Presse des 19. Jahrhunderts aus „widersprüchlichen Öffentlichkeiten“ bestand (Curran 1991, 42). Currans Position ähnelt der von Negt und Kluge (1972), die eine proletarische Öffentlichkeit betonen. Öffentliche Räume und Öffentlichkeiten gibt es nicht nur im Westen. Die Behauptung, dass es sich bei der Öffentlichkeit um ein westlich-zentriertes oder eurozentristisches Konzept handelt, ist verfehlt. Eine derartige Kritik birgt auch die Gefahr in sich, dass undemokratische Regime gerechtfertigt werden, die gegen den Westen gerichtet sind und unter dem Deckmantel der Opposition zum Westzentrismus und zum Eurozentrismus Autoritarismus vorantreiben. Beim öffentlichen Teehaus handelt es sich um eine alte kulturelle Praktik und einen Raum, den man in vielen Teilen der Welt finden kann. Di Wang (2008) vergleicht das chinesische Teehaus des frühen 20. Jahrhunderts mit den britischen Gaststätten (Public Houses). Es handelt sich um einen öffentlichen Raum, den Menschen aus allen Schichten und Klassen aus un‐ terschiedlichen Gründen aufsuchen. Das chinesische Wort für das Teehaus ist 茶馆 (cháguăn). Chengdu ist die Hauptstadt der südwestchinesischen Provinz Sichuan. „Die Teehäuser in Chengdu waren für ihre Klassenvielfalt bekannt. Einer ihrer ‚Vorzüge‘ bestand in einer relativen Gleichheit” (Wang 2008, 421). Frauen waren zuerst exkludiert, hatten aber ab etwa 1930 vollen Zutritt. Bei diesen Teehäusern handelte es sich nicht nur um Kulturräume, sondern auch um politische Treffpunkte, an denen politische Debatten 12.2 Die Politische Ökonomie der Öffentlichkeit 495 <?page no="496"?> stattfanden und wo politische Theaterstücke aufgeführt wurden, was nicht nur das Interesse von Bürger: innen, sondern auch von Regierungsspitzeln erweckte. Wang diskutiert die Wichtigkeit der Teehäuser bei den Eisen‐ bahnprotesten im Jahr 1911 in Chengdu. Öffentliche Treffpunkte sind Sphären des Engagements der Bürger: innen, die zu Sphären der politischen Kommunikation und des Protestes werden können. Die verschiedenen Occupy-Bewegungen, die nach der Weltwirtschafts‐ krise, die im Jahr 2008 begonnen hatte, entstanden, waren Bewegungen, in denen Protest und die Besetzung von Räumen konvergierten. Es wurden Öffentlichkeiten zur politischen Kommunikation geschaffen, die selbstver‐ waltet wurden. Die Schaffung dieser Öffentlichkeiten fand nicht nur im Westen statt, sondern in vielen Teilen der Welt in Zeiten der globalen kapitalistischen und gesellschaftlichen Krise. Ein gemeinsamer Aspekt dieser Proteste war, dass in vielen die Taktik benutzt wurde, Räume in öffentliche und politische Räume zu verwandeln, und dass diese Proteste in einer allgemeinen Gesellschaftskrise stattfanden. Widerstand ist so alt wie die Klassengesellschaft. Öffentlichkeiten wurden als widerständige Öf‐ fentlichkeiten während der gesamten Geschichte der Klassengesellschaften produziert. Die Öffentlichkeit existiert also überall dort, wie die Menschen sich versammeln, um sich kollektiv zu organisieren und ihren Ärger und Unmut über Ausbeutung und Herrschaft zum Ausdruck bringen. 12.3 Die Digitale Öffentlichkeit Der Aufstieg des World Wide Web (WWW), der Internetplattformen und der sozialen Medien hat die Frage aufgeworfen, wie sich die Öffentlichkeit verändert hat. Wir bezeichnen dieses Thema als die digitale Transformation der Öffentlichkeit, die eine zeitgenössische Manifestation des Strukturwan‐ dels der Öffentlichkeit ist. Grundlegende Fragen, die im Zusammenhang mit der digitalen Transformation von Öffentlichkeit in der Literatur diskutiert werden (für Überblicksdiskussionen zu zentralen Themen siehe z. B. Dahl‐ berg 1998, Fuchs 2014, Gripsrud und Moe 2010, Schäfer 2015), sind u. a. die folgenden: Inwieweit gibt es neue Merkmale von Öffentlichkeit im digitalen Zeitalter oder nicht? Welche positiven und/ oder negativen Merkmale hat die digitale Transformation der Öffentlichkeit mit sich gebracht? Jürgen Habermas hat sich skeptisch zu der Frage geäußert, ob, wie und in welchem Ausmaß das Internet und die sozialen Medien die Öffentlichkeit 496 12 Die Politische Ökonomie der Öffentlichkeit und der Digitalen Öffentlichkeit <?page no="497"?> und die Demokratie fördern. Er argumentiert, dass das Internet nur insofern demokratisch ist, als es „die Zensur autoritärer Regime“ unterminieren kann, und dass im Internet auch „eine riesige Anzahl von zersplitterten, durch Spe‐ zialinteressen zusammengehaltenen Zufallsgruppen” existiert (Habermas 2008, 161). Habermas (2021) interpretiert Studien über die Öffentlichkeit als Bestätigung seiner Annahme, dass das Internet und die sozialen Medien zu einer „halböffentlichen, fragmentierten und in sich kreisenden Kommu‐ nikation” führen und „die Öffentlichkeit deformieren” (Habermas 2021, 471; siehe auch Habermas 2022), was mit der „kommerziellen Nutzung des digitalen Netzes“ und „der globalen Ausbreitung des neoliberalen Wirt‐ schaftsprogramms“ zu tun habe (Habermas 2021, 498). In seiner Monographie Auch eine Geschichte der Philosophie argumen‐ tiert Habermas (2019 [Band 2], 799): „Auch zur Bewältigung der längst diskutierten Gefahren der oligopolistisch beherrschten und einstweilen destruktiv ausufernden Internetkommunikation sind politische Regelungen nötig, die nur auf globaler Ebene möglich wären”. Habermas verdeutlicht hier die Bedeutung der Kommunikationspolitik im Zusammenhang mit der (digitalen) Öffentlichkeit. Die traditionelle Öffentlichkeit in der modernen Gesellschaft wurde von der Massenkommunikation und den Massenmedien geprägt, wo eine kleine Gruppe von Informationsproduzenten die Massenmedien zur Verbreitung von Informationen nutzt, die vom Publikum auf unterschiedliche Weisen empfangen und interpretiert werden. Abbildung 12.2 veranschaulicht die di‐ gitale Transformation der Öffentlichkeit, die zwei Hauptmerkmale aufweist (siehe Fuchs 2021a): ● Prosumtion: Im Internet werden Informationskonsumenten zu poten‐ ziellen Informationsproduzenten, zu so genannten Prosumenten (pro‐ duktive Konsumenten), die nutzergenerierte Inhalte produzieren. ● Konvergenz: Im Internet verschwimmen die Grenzen zwischen ver‐ schiedenen sozialen Praktiken, sozialen Rollen, sozialen Systemen und unterschiedlichen Öffentlichkeiten, so dass Menschen auf Internetplatt‐ formen mit Hilfe einzelner Profile in einer Vielzahl von Rollen mit einer Vielzahl von Praktiken und in einer Vielzahl von unterschiedlichen Öffentlichkeiten agieren. 12.3 Die Digitale Öffentlichkeit 497 <?page no="498"?> Abbildung 12.2: Ein Modell der digitalen Öffentlichkeit Die gemusterten blauen Kästen in Abbildung 12.2 zeigen, dass in der digi‐ talen Öffentlichkeit menschliche Praktiken, Mikro-, Meso- und Makro-Öf‐ fentlichkeiten, Wirtschaft, Politik und Kultur durch digitale Plattformen vermittelt werden. Die rot gestrichelten Linien zeigen an, dass auf digitalen Plattformen die Praktiken der Individuen, ihre Erkenntnisprozesse, Kommu‐ nikationsprozesse, Kooperationsprozesse, ihre Aktivitäten in verschiedenen Öffentlichkeiten und ihre sozialen Rollen in der Wirtschaft (z. B. als Ar‐ beiter: innen oder Manager: innen), der Politik (z. B. als Bürger: innen oder Politiker: innen) und der Kultur (z. B. als Mitglied einer bestimmten Religion oder Gemeinschaft) in den Nutzerprofilen der digitalen Plattformen konver‐ gieren. Diese Konvergenz beinhaltet die Konvergenz der Privatsphäre und der öffentlichen Sphäre, von Privatheit und Öffentlichkeit. Das Internet „verbindet Öffentlichkeit und Privatheit direkt miteinander, innerhalb einer einzigen technologischen Plattform“, so dass wir die „Verflüssigung der Grenze zwischen Öffentlichkeit und Privatheit und das Entstehen hybrider öffentlich-privater Formen kommunikativer Handlungen“ beobachten (Spli‐ chal 2018, 3). Die mit Hilfe digitaler Plattformen organisierten Informations- und Kom‐ munikationsprozesse unterscheiden sich von den traditionellen Massenme‐ dien dadurch, dass alle Nutzer: innen in die Lage versetzt werden, über die Plattformen Inhalte zu produzieren und mit anderen zu kommunizieren. 498 12 Die Politische Ökonomie der Öffentlichkeit und der Digitalen Öffentlichkeit <?page no="499"?> Eine digitale Plattform ist eine Online-Softwareumgebung, die menschliche Informationen, Aktivitäten und Kommunikation über Handy-Apps, das Internet und das WWW organisiert. Plattformen sind auch soziale Systeme, das heißt, sie haben eine politisch-ökonomische Organisation und spezifi‐ sche Kulturen. In der Plattformökonomie finden wir Organisationsmodelle, die bestimmte Formen von Eigentum, Arbeit, wirtschaftlichen Aktivitä‐ ten und Produktionsbeziehungen bestimmen. Die Plattform-Governance umfasst Gesetze und Strategien, die festlegen, was die an Plattformen beteiligten Akteure tun dürfen, was sie nicht tun dürfen und was von ihnen erwartet wird. Die digitale Kommunikation und die digital vermittelte Gesellschaft sind mit vielen Problemen konfrontiert, die Ausdruck der wirtschaftlichen, politischen und ideologischen Entfremdung/ Kolonisierung des Internets und der digitalen Medien sind. Zu diesen Problemen gehören zum Beispiel: 1. Digitaler Kapitalismus und Digitalmonopole: Das digitale Kapital beutet die digitale Arbeit aus. Es resultiert in kapitalistischen Digital‐ monopole und trägt zur Prekarisierung des Lebens bei. Der Umsatz der sechs größten Digitalkonzerne Apple, Microsoft, Alphabet/ Google, Amazon, Alibaba und Facebook (857,5 Milliarden US-Dollar im Jahr 2019) ist so groß wie das BIP der 22 am wenigsten entwickelten Länder der Welt (858,3 Milliarden US-Dollar). Diese Unternehmen zahlen kaum Steuern. 2. Digitaler Individualismus: Der digitale Individualismus besteht darin, dass die Nutzer: innen auf sozialen Medien Aufmerksamkeit mit und Zustimmung zu individuellen Profilen und Postings akkumulieren. Seine Logik behandelt die Menschen als reine Konkurrenten, wodurch die zwischenmenschliche Solidarität unterminiert wird. 3. Digitale Überwachung: Staatliche Institutionen und kapitalistische Unternehmen führen digitale Überwachung der Menschen als Teil des digital-industriellen und überwachungsindustriellen Komplexes aus. 4. Antisoziale Medien: Soziale Medien sind unsoziale und antisoziale Medien. Edward Snowdens Enthüllungen und der Cambridge Analy‐ tica-Skandal haben gezeigt, dass kapitalistische soziale Medien eine Gefahr für die Demokratie sind. Rechte Ideologen und Demagogen verbreiten digitalen Autoritarismus auf sozialen Medien. 5. Algorithmische Politik: Soziale Medien sind von automatisierter, algorithmischer Politik geprägt. Automatisierte Computerprogramme 12.3 Die Digitale Öffentlichkeit 499 <?page no="500"?> („Bots“) ersetzen menschliche Aktivitäten, posten Information und er‐ zeugen „Likes“. Dadurch ist es schwieriger geworden, zu unterscheiden, welche Information und welche Zustimmung von einem Menschen oder von einer Maschine stammt. 6. Echokammern und Filterblasen: Fragmentierte Online-Öffentlich‐ keiten sind als Echokammern organisiert, in denen die Meinungen homogen sind und Meinungsverschiedenheiten entweder nicht existie‐ ren oder vermieden werden. 7. Digitaler Boulevard: Die digitale Kulturindustrie hat soziale Medien als digitalen Boulevard organisiert, der von digitalen Konzernen kon‐ trolliert wird. Online-Werbung und Boulevard-Unterhaltung dominie‐ ren das Internet und verdrängen die Auseinandersetzung mit politischen Inhalten und Bildungsinhalten. 8. Influencer-Kapitalismus: Auf sozialen Medien prägen sogenannte „Influencer: innen“ die öffentliche Meinung, wodurch es zu Machtasym‐ metrien hinsichtlich der Online-Aufmerksamkeit und der Online-Sicht‐ barkeit kommt und die Nutzer: innen in einer warenförmigen On‐ line-Kultur leben, in der sich die Welt als endlose Shoppingmeile und als Einkaufszentrum präsentiert. 9. Digitale Beschleunigung: Durch die digitale Beschleunigung wird unsere Aufmerksamkeitskapazität durch oberflächliche Informationen, die mit sehr hoher Geschwindigkeit auf uns einprasseln, beansprucht. Es gibt zu wenig Zeit und zu wenig Raum für Gespräche und Debatten auf sozialen Medien. 10. Falschnachrichten: Postfaktische Politik und Falschnachrichten („Fake News“) verbreiten sich global über soziale Medien. Im Zeitalter neuer Nationalismen und des neuen Autoritarismus ist eine Kultur entstanden, in der falsche Online-Nachrichten verbreitet werden, viele Menschen den Fakten und Expert: innen misstrauen und es zu einer Emotionalisierung der Politik kommt, durch die die Menschen nicht rational prüfen, was wirklich und was Fiktion ist, sondern annehmen, etwas ist dann wahr, wenn es ihrem Gemütszustand und ihrer Ideologie entspricht. Tabelle 12.4 ordnet die zehn diskutierten Probleme den drei Formen der digitalen Entfremdung zu. 500 12 Die Politische Ökonomie der Öffentlichkeit und der Digitalen Öffentlichkeit <?page no="501"?> Form der digitalen Ent‐ fremdung Manifestationen der digitalen Entfrem‐ dung Wirtschaftliche digitale Ent‐ fremdung: digitale Ausbeutung (1) Digitale Klassenverhältnisse, digitale Mono‐ pole, (2) digitaler Individualismus, digitale Akkumula‐ tion, digitale Konkurrenz Politische digitale Entfrem‐ dung: digitale Herrschaft (3) digitale Überwachung, (4) anti-soziale soziale Medien, digitaler Autori‐ tarismus, (5) algorithmische Politik Kulturelle digitale Entfrem‐ dung: digitale Ideologie (6) Online-Echokammern und fragmentierte On‐ line-Öffentlichkeiten, (7) digitaler Boulevard, digitale Kulturindustrie, (8) Influencer-Kapitalismus, (9) digitale Beschleunigung, (10) Online-Falschnachrichten Tabelle 12.4: Drei Formen der digitalen Entfremdung Das 21. Jahrhundert war bisher ein Jahrhundert der vielen Krisen. Es begann mit der politischen Krise von 9/ 11 im Jahr 2011. Im Jahr 2008 kam es dann zu einer neuen Weltwirtschaftskrise. In den Jahren nach der Weltwirtschaftskrise entstanden neue Autoritarismen und es kam zu einer Krise der Demokratie. Im Jahr 2020 und den beiden Folgejahren 2021 und 2022 wurde die COVID-19-Pandemie von einer Gesundheitskrise, einer Wirtschaftskrise, einer politischen Krise, einer kulturellen Krise, einer moralischen Krise und einer globalen Krise begleitet. Im Jahr 2022 marschierte die Armee von Wladimir Putin in die Ukraine ein. Putin drohte mit dem Einsatz von Atomwaffen. Die Welt ist mit der Gefahr eines neuen Weltkrieges und der Gefahr der nuklearen Auslöschung der Menschheit und des Lebens auf der Erde konfrontiert. Diese Krisen haben die Polarisierung der Politik und die Krise der Öffentlichkeit vorangetrieben. 12.4 Schlussfolgerungen Dieses Kapitel befasste sich mit der politischen Ökonomie der Öffentlichkeit und der digitalen Öffentlichkeit? Es fragte: Wie sieht die politische Ökono‐ 12.4 Schlussfolgerungen 501 <?page no="502"?> mie der Öffentlichkeit und der digitalen Öffentlichkeit aus? Wir können nun die wichtigsten Ergebnisse zusammenfassen. - Erkenntnis 1: Die Theorie der Öffentlichkeit als kritische Theorie Die Theorie der Öffentlichkeit von Jürgen Habermas ist eine kritische Theo‐ rie, die die Realität von Politik und Gesellschaft an normativen Standards der Demokratie und der demokratischen Kommunikation misst. Sie ist untrennbar mit den Begriffen der Refeudalisierung der Öffentlichkeit und der Kolonisierung der Lebenswelt verbunden. Ein überarbeitetes Modell der Öffentlichkeit, das Marx und Habermas verbindet, basiert auf der ökonomischen, politischen und kulturellen Entfremdung der Öffentlichkeit, die sich auf Prozesse der Kommodifizierung und Ausbeutung (ökonomische Entfremdung), der Herrschaft (politische Entfremdung) und der Ideologisie‐ rung (kulturelle Entfremdung) bezieht. - Erkenntnis 2: Die digitale Öffentlichkeit Das heutige Internet ist keine (digitale) Öffentlichkeit. Eine kritische Theorie der Öffentlichkeit hilft uns, kritisch zu analysieren, wie wirtschaftliche, politische und ideologische Kräfte das Internet in der kapitalistischen Gesellschaft kolonisiert haben. Die digitale Öffentlichkeit ist eine Vision eines demokratischen Internets. Literatur Adorno, Theodor W. 1972. Soziologische Schriften I. Adorno Gesammelte Schriften Band-8. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Asen, Robert. Seeking the “Counter” in Counterpublics. Communication Theory 10 (4): 424-446. 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Literatur, empfohlene Lektüre und Übungen 507 <?page no="508"?> Aufgabe Merke Frage Literatur Wissen Zusatz Link / www Checkliste Ziele ICON SET 5 Jürgen Gerhards und Friedhelm Neidhardt. 1990. Strukturen und Funktionen moder‐ ner Öffentlichkeit: Fragestellungen und Ansätze. WZB Diskussionspaper, Nr. FS III 90-101. Berlin: Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Slavko Splichal. 2012. Transnationalization of the Public Sphere and the Fate of the Public. New York: Hampton Press: Kapitel 4: Civil Society, the Public, and the Public Sphere (S.-65-141). Slavko Splichal. 2022. The Public Sphere in the Twilight Zone of Publicness. European Journal of Communication 37 (2): 198-215. DOI: http: / / doi.org/ 10.1177/ 026732312 11061490 ÜBUNG 12.1: ÖFFENTLICHKEIT Lesen Sie die folgenden Texte: Jürgen Gerhards und Friedhelm Neidhardt. 1990. Strukturen und Funk‐ tionen moderner Öffentlichkeit: Fragestellungen und Ansätze. WZB Diskussionspaper, Nr. FS III 90-101. Berlin: Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Jürgen Habermas. 1989. The Public Sphere: An Encyclopedia Article. In-Critical Theory and Society. A Reader, hrsg. von Stephen E. Bronner and Douglas Kellner, 136-142. New York: Routledge. Slavko Splichal. 2012. Transnationalization of the Public Sphere and the Fate of the Public. New York: Hampton Press. Kapitel 4: Civil Society, the Public, and the Public Sphere (S.-65-141). Slavko Splichal. 2022. The Public Sphere in the Twilight Zone of Publicness. European Journal of Communication 37 (2): 198-215. DOI: http: / / doi.org/ 10.1177/ 02673231211061490 Diskutieren Sie: Was ist die Öffentlichkeit? Wie hat sich die Öffentlichkeit durch ihren Strukturwandel verändert? Wie relevant ist die Theorie der Öffentlichkeit heute für das Verständ‐ nis der Rolle des Internets und der Digitalisierung in der Gesellschaft? 508 12 Die Politische Ökonomie der Öffentlichkeit und der Digitalen Öffentlichkeit <?page no="509"?> Aufgabe Merke Frage Literatur Wissen Zusatz Link / www Checkliste Ziele ICON SET 5 13 Die Politische Ökonomie Öffentlich-Rechtlicher Medien und des Öffentlich-Rechtlichen Internets Was Sie in diesem Kapitel lernen werden: Sie werden verstehen, was öffentlich-rechtliche Medien sind, wie sie sich von kapitalistischen Medien unterscheiden und welche Rolle sie in der Öffentlichkeit spielen. Sie werden sich mit den Grundlagen des öffentlich-rechtlichen Inter‐ nets beschäftigen. 13.1 Einleitung Öffentlich-rechtliche Medien wie die BBC im Vereinigten Königreich, die ARD in Deutschland oder PBS in den USA sind wichtige Medienorganisatio‐ nen. Sie haben eine wirtschaftliche Grundlage in Form eines gemeinnützigen Auftrags, eine demokratische Rolle und tragen zur Förderung der Kultur bei. Das Internet wird weitgehend von privaten, profitorientierten Unternehmen kontrolliert. Es stellt sich daher die Frage, ob ein öffentlich-rechtliches Internet als Alternative geschaffen werden könnte. In diesem Kapitel befassen wir uns mit den Fragen, was öffentlich-rechtliche Medien und ein öffentlich-rechtliches Internet sind und welche politisch-ökonomischen Aspekte sie haben. Dieses Kapitel fragt: Wie sieht die politische Ökonomie der öffent‐ lich-rechtlichen Medien und des öffentlich-rechtlichen Internets aus? Ab‐ schnitt 13.2 befasst sich mit der politischen Ökonomie öffentlich-rechtlicher Medien, Abschnitt 13.3 mit den Grundlagen eines öffentlich-rechtlichen Internets. Abschnitt 13.4 zieht einige Schlussfolgerungen. <?page no="510"?> 13.2 Öffentlich-Rechtliche Medien Die Medien und die Öffentlichkeit Das Mediensystem ist Teil der Öffentlichkeit in der modernen Gesellschaft. Abbildung 13.1 veranschaulicht ein Modell der Rolle der Medien in der modernen Öffentlichkeit. Medienorganisationen produzieren im Medien‐ system öffentlich zugängliche Informationen. Diese Informationen dienen in der Regel dazu, über Neuigkeiten zu informieren, zu bilden und zu unterhalten. Durch öffentliche Nachrichten informieren sich die Mitglieder des politischen Systems über wichtige Ereignisse in Gesellschaft und Politik. Nachrichten sind ein Auslöser der politischen Kommunikation. Die Men‐ schen sprechen über das, was in der Politik passiert, und partizipieren im Ide‐ alfall selbst im politischen System. In der kapitalistischen Gesellschaft ver‐ suchen verschiedene Interessenorganisationen wie Arbeitgeberverbände, Arbeitnehmerverbände wie Gewerkschaften, Lobbyorganisationen, politi‐ sche Parteien, Nichtregierungsorganisationen, Privatpersonen, soziale Be‐ wegungen usw., die Berichterstattung der Medienunternehmen zu beein‐ flussen. Dies geschieht u. a. durch Interviews, Pressemitteilungen, Lobbying, Werbung, Öffentlichkeitsarbeit, Verflechtung von Organisationen usw. Das Mediensystem steht in Wechselwirkung mit der Wirtschaft, der Politik und der Kultur. Bürgerinnen und Bürger (Kauf, Rundfunkbeitrag, Abonnements etc.), der Staat (z. B. Medienfinanzierung) sowie Wirtschaftsorganisationen (Werbung) ermöglichen den Medien eine ökonomische Ressourcenbasis, mit der sie arbeiten können. Die Politik regelt die Rahmenbedingungen, unter denen die Medien arbeiten. Kultur ist ein Kontext von Weltanschauungen und Ideologien, die das gesellschaftliche Klima prägen und damit auch Einfluss auf das Mediensystem und seine Organisationen haben. 510 13 13 Öffentlich-Rechtliche Medien und Öffentlich-Rechtliches Internet <?page no="511"?> Abbildung 13.1: Das Mediensystem als Teil der Öffentlichkeit. Weiterentwicklung auf der Grundlage von Habermas 2008, Abbildung 1 & 2 Vier politische Ökonomien der Medien Tabelle 13.1 veranschaulicht den Unterschied zwischen vier politischen Ökonomien der Medien. - Autoritäre Medien Kapita‐ listische Medien Öffentlichrechtliche Medien Bürgermedien Organisation Staatlich oder staat‐ lich kontrolliert, im Besitz und unter der Kontrolle einer politisch oder ideo‐ logisch motivierten Organisation Kapita‐ listi‐ sches Unter‐ nehmen Öffentliche Organisa‐ tion Zivilgesell‐ schaftliche Organisation 13.2 Öffentlich-Rechtliche Medien 511 <?page no="512"?> Autoritäre Medien Kapita‐ listische Medien Öffentlichrechtliche Medien Bürgermedien Ziel Politische Propa‐ ganda Mehr‐ wert, Profit, Kapital‐ akku‐ mula‐ tion Öffentlich-rechtlicher Auftrag, Public Value: Information, Bildung, Unterhaltung: Förde‐ rung der demokrati‐ schen Verständigung sowie von Kunst, Kul‐ tur, Wissenschaft und Vielfalt. Partizipation Hauptakteure Staatlich/ Ideolo‐ gisch kontrollierte und zensurierte Journalist: inn: en Berufs‐ journa‐ list: in‐ nen Berufsjournalist: innen Bürgerjour‐ nalismus, Prosumtion (Konsum als Produktion) Hauptfinanzierungsquelle Staatsfinanzierung oder Staatsfinanzie‐ rung in Kombina‐ tion mit einer anderen Finanzie‐ rungsquelle oder Fi‐ nanzierung durch eine autoritäre Or‐ ganisation Wer‐ bung, Abos, Verkauf von Ein‐ zelexem‐ plaren Rundfunk- und Medi‐ enbeitrag Spenden, Mit‐ gliedsbei‐ träge, öffent‐ liche Zuschüsse Eigentum Staatseigentum, Ei‐ gentum einer autoritären Orga‐ nisation oder Pri‐ vateigentum un‐ ter staatlicher Kontrolle oder im Eigentum einer au‐ toritären Organisa‐ tion Privatei‐ gentum Öffentliches Eigentum Gemeinnützi‐ ger Verein/ Organisation, Genossen‐ schaften/ selbstverwal‐ tete Unter‐ nehmen/ Kooperativen Tabelle 13.1: Vier politische Ökonomien der Medien (aufbauend auf Fuchs 2020, Kapitel 8 & 12 & 14; Murdock 2011) 512 13 13 Öffentlich-Rechtliche Medien und Öffentlich-Rechtliches Internet <?page no="513"?> Autoritäre Medien werden entweder von autoritären Staaten oder anderen autoritären Organisationen kontrolliert und sind in deren Besitz. Diese autoritären Systeme kontrollieren die medialen Inhalte streng. Sie über‐ wachen, manipulieren und zensieren. Öffentlich-rechtliche Medien und Bürgermedien sind Alternativen zur kapitalistischen, profitorientierten Or‐ ganisation der Medien und zu autoritären Medien. Bürgermedien haben oft das Problem, dass sie zwar unabhängig sind, aber auf unbezahlter oder schlecht bezahlter Arbeit beruhen, über wenig Ressourcen verfügen und nur ein kleines Publikum haben (Sandoval & Fuchs 2010). Die vier Arten der politischen Ökonomie der Medien stehen im Zusam‐ menhang mit Raymond Williams' (1976, 130-137) Unterscheidung zwischen autoritären, paternalistischen, kommerziellen und demokratischen Kommu‐ nikationssystemen. Williams unterscheidet zwischen staatlicher Kontrolle der Medien (autoritär) und kultureller Kontrolle der Medien (paternalis‐ tisch). Eine Zeitung, die von ihrem Eigentümer ideologisch kontrolliert wird, hat ebenfalls autoritären Charakter. In meiner Typologie werden die autoritären und paternalistischen Typen der Medien in der autoritären Medienform zusammengefasst. Die vier Modelle sind nicht streng vonein‐ ander zu trennen, es kann auch Mischformen geben. Öffentlich-rechtliche Medien sind immer demokratische Formen der Medien, autoritäre Medien sind nie demokratisch. Demokratische Medien setzen sich für die Förde‐ rung der Demokratie in der Gesellschaft ein, was die Unterstützung von Möglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger zur unvoreingenommenen Mei‐ nungsbildung und zur Debatte über die wichtigsten Fragen der Gesellschaft erfordert. Bürgermedien können demokratische Medien sein, aber es gibt auch faschistische Arten von Bürgermedien, die Rassismus, Nationalismus, Autoritarismus usw. fördern. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat in Europa und anderen Teilen der Welt eine Tradition, die eine entscheidende Dimension des modernen Mediensystems im 20. und 21.-Jahrhunderts darstellt. Definitionen der öffentlich-rechtlichen Medien Slavko Splichal (2007, 255; siehe auch Splichal 2012, 102) gibt die folgende Definition von öffentlich-rechtlichen Medien (ÖRM, Public Service Media, PSM): 13.2 Öffentlich-Rechtliche Medien 513 <?page no="514"?> „In normative terms, public service media must be a service of the public, by the public, and for the public. It is a service of the public because it is financed by it and should be owned by it. It ought to be a service by the public - not only financed and controlled, but also produced by it. It must be a service for the public - but also for the government and other powers acting in the public sphere. In sum, public service media ought to become ‘a cornerstone of democracy’”. „Normativ müssen öffentlich-rechtliche Medien Dienste der Öffentlichkeit, durch die Öffentlichkeit und für die Öffentlichkeit sein. Es handelt sich um einen Dienst der Öffentlichkeit, da er durch sie finanziert wird und in ihrem Besitz stehen sollte. Es sollte ein Dienst sein, der durch die Öffentlichkeit organisiert wird - der also nicht nur von dieser finanziert und kontrolliert, sondern auch produziert wird. Und es muss ein Dienst für die Öffentlichkeit sein - aber auch für die Regierung und andere Kräfte, die in der Öffentlichkeit agieren. Zusammenfassend sollten öffentlich-rechtliche Medien ‚ein Grundpfeiler der Demokratie’ sein“. Barbara Thomaß (2013, 83) definiert ÖRM folgendermaßen: Eine öffentlich-rechtliche Medienanstalt ist eine Medienorganisation, „die Markt- und Staatsferne zu vereinbaren versucht, um unabhängige Information, Bildungs- und Kulturangebote für die gesellschaftliche Kommunikation bereitzustellen. Sie wird von einer entsprechenden Gesetzgebung getragen, die ihr einen gewissen Schutz vor den Marktkräften gewährt und ihr im Gegenzug dafür bestimmte Verpflichtungen im Dienste der Öffentlichkeit abverlangt“. Trine Syvertsen (2003, 157-158) gibt die folgende Definition des öffent‐ lich-rechtlichen Rundfunks: „The first key feature of the public broadcasting form of governance is that certain companies or institutions are entrusted with a set of privileges to insulate them to some degree from the market forces. The privileges may be of an economic or technical nature; in the case of broadcasting, a monopoly on advertising revenue, license fee funding, and the privilege to broadcast over the air to the general public have been among the most valuable. […] The second characteristic of the public broadcasting model, which follows structurally from the first, is that broadcasters are obliged to fulfill certain obligations in return for the privileges. These go beyond satisfying the needs of the consumers and are linked instead to more profound cultural and social purposes. The duties may vary, but in the case of the European public broadcasters, they have historically been of three kinds. The first is universal coverage: that the services should be accessible to the whole population. Second, there is a set of content requirements, most typically 514 13 13 Öffentlich-Rechtliche Medien und Öffentlich-Rechtliches Internet <?page no="515"?> that programming should be diverse and of high quality, that minorities and smaller ‘taste groups’ also be served, and that news and political issues should be covered in an impartial manner. The third includes the obligation to protect and strengthen national culture and identity. […] Common to these obligations is that they are related more to the public’s role as citizens than as consumers. A key purpose of this form of governance from the beginning was to support a cultural and democratic sphere that would foster rational debate and enlighten the population on political, social, and cultural issues. […] The third defining characteristic is the presence of a control structure, that is, certain bodies set up to assess the performance of the privileged institutions and ensure that the obligations are interpreted in line with the general consensus”. Die UNESCO hat folgendes Verständnis des öffentlich-rechtlichen Rund‐ funks formuliert: „Public Service Broadcasting (PSB) is broadcasting made, financed and controlled by the public, for the public. It is neither commercial nor state-owned, free from political interference and pressure from commercial forces. Through PSB, citizens are informed, educated and also entertained. When guaranteed with pluralism, programming diversity, editorial independence, appropriate funding, accountability and transparency, public service broadcasting can serve as a cornerstone of democracy” (UNESCO 2008, 54). „Neither commercial nor State-controlled, public broadcasting’s only raison d’etre is public service. It is the public’s broadcasting organization; it speaks to everyone as a citizen. Public broadcasters encourage access to and participation in public life. They develop knowledge, broaden horizons and enable people to better understand themselves by better understanding the world and others. Public broadcasting is defined as a meeting place where all citizens are welcome and considered equals. It is an information and education tool, accessible to all and meant for all, whatever their social or economic status. Its mandate is not restricted to information and cultural development-public broadcasting must also appeal to the imagination, and entertain. But it does so with a concern for quality that distinguishes it from commercial broadcasting. Because it is not subject to the dictates of profitability, public broadcasting must be daring and innovative, and take risks” (UNESCO 2001, 7). Cañedo, Rodríguez-Castro und López-Cepeda (2022) analysierten die Ge‐ setzgebung und Dokumente der öffentlich-rechtlichen Medien in vierzehn europäischen Ländern, um ein Modell zu erstellen, das das Selbstverständnis 13.2 Öffentlich-Rechtliche Medien 515 <?page no="516"?> des Auftrags der öffentlich-rechtlichen Medien (ÖRM) und ihr Verständnis von Public Value zeigt. Die zwölf Elemente, aus denen dieses Modell besteht, sind in Tabelle 13.2 dargestellt. Dimension Beschreibung Gesellschaftliches En‐ gagement ÖRM informieren, bilden und unterhalten ihr Publikum und fördern die Demokratie. Diversität ÖRM haben verschiedene Programme, Quellen und Ziel‐ gruppen und unterstützen verschiedene Identitäten und Sprachen. Innovation ÖRM entwickeln Kreativität, digitale und interaktive Dienste, neue Technologien und neue Formen der Parti‐ zipation. Unabhängigkeit ÖRM sind vertrauenswürdig, haben politische Distanz und berichten neutral. Exzellenz ÖRM produzieren und senden professionell erstellte, hochwertige Inhalte. Universalität ÖRM sind innerhalb eines definierten geografischen Raums für alle Menschen allgemein zugänglich, wollen eine Vielfalt an Inhalten für alle gesellschaftlichen Grup‐ pen bereitstellen, sind für Bürgerinnen und Bürger un‐ abhängig von Klasse, Bildung, Fähigkeiten und anderen Merkmalen zugänglich und barrierefrei verfügbar. Partizipation der Bür‐ ger: innen Die Bürgerinnen und Bürger sind an der Erstellung und Ausstrahlung von Inhalten beteiligt, alle gesellschaftli‐ chen Gruppen sind in den Programmen und Inhalten repräsentiert, und es gibt Innovationen bei der aktiven und partizipativen Einbindung des Publikums. Medienkompetenz ÖRM tragen dazu bei, das Wissen und das Verständnis für die Gesellschaft und ihre wesentlichen Fragen zu fördern. Rechenschaftspflicht ÖRM sollten transparent sein, öffentliche Gelder ver‐ antwortungsvoll und effizient einsetzen und nachhaltig agieren. Territorialer Zusam‐ menhalt ÖRM sollten die Integration einer Vielzahl von sozia‐ len Gemeinschaften fördern und dazu beitragen, ein gemeinsames Verständnis und einen Zusammenhalt der Gesellschaft zu schaffen (sie sollten dabei auch Minder‐ heiten, Bürger: innen im Ausland und in der Diaspora inkludieren). 516 13 13 Öffentlich-Rechtliche Medien und Öffentlich-Rechtliches Internet <?page no="517"?> Dimension Beschreibung Soziale Gerechtigkeit ÖRM sollten die Menschenrechte, die Gleichheit, die Privatsphäre und die Unschuldsvermutung achten und fördern. Kooperation ÖRM sollten die Kooperation regionaler Einheiten för‐ dern, die internationale Zusammenarbeit und Partner‐ schaften, die zur Verwirklichung ihrer Ziele beitragen. Tabelle 13.2: Dimensionen des Selbstverständnisses der öffentlich-rechtlichen Medien in vierzehn Ländern (auf der Grundlage von Cañedo, Rodríguez-Castro und López-Cepeda 2022) Ein Modell öffentlich-rechtlicher Medien In Tabelle 13.3 wird ein Modell der öffentlich-rechtlichen Medien vorgestellt, das auf drei Dimensionen beruht. Es gibt wirtschaftliche, politische und kulturelle Dimensionen der öffentlich-rechtlichen Medien: Organisation, Partizipation und Inhalt. Auf jeder Ebene gibt es die Produktion, Verbreitung und Nutzung eines bestimmten Gutes, das gemäß der Logik öffentlich-recht‐ licher Medien organisiert ist. So ist zum Beispiel das öffentliche Eigentum an den öffentlich-rechtlichen Medien ein wirtschaftlicher Aspekt der kom‐ munikativen Produktionsmittel. Auf wirtschaftlicher Ebene sind die ÖRM ein Mittel zur Produktion, zur Verbreitung und zum Konsum öffentlicher Informationen. Die Produk‐ tionsmittel der ÖRM stehen im öffentlichen Eigentum. Die Verbreitung von Informationen basiert auf einer nicht gewinnorientierten Logik. Der Konsum ist im Prinzip für jedes Gesellschaftsmitglied möglich, indem den Bürger: innen ein einfacher Zugang zu den Technologien und Informationen der ÖRM ermöglicht wird. Auf der politischen Ebene stellen die ÖRM umfassende und vielfältige politische Informationen zur Verfügung, die die politische Debatte und das Erreichen eines politischen Verständnisses unterstützen sollen. Auf der kulturellen Ebene bieten ÖRM-Bildungsinhalte an, die die kulturelle Debatte und das Verständnis in der Gesellschaft fördern sollen. ÖRM sind eine Art von Medien, die in der Öffentlichkeit tätig sind. Zu den anderen Arten von Medien gehören kommerzielle, profitorientierte Medien, autoritäre Medien und von zivilgesellschaftlichen Organisationen betriebene Community-Medien. 13.2 Öffentlich-Rechtliche Medien 517 <?page no="518"?> Sphäre Medien Produktion Zirkulation Verwen‐ dung Kultur: soziale Bedeu‐ tung - Inhalt Unabhängig‐ keit, Einheit in der Vielfalt, Bil‐ dungsinhalte Kulturelle Kommunika‐ tion und De‐ batte Kultureller Dialog und kulturelles Verständnis Politik: kollektive Entscheidun‐ gen - Partizipa‐ tion Unabhängig‐ keit, Einheit in der Vielfalt (Ver‐ tretung von Minderheiten‐ interessen und gemeinsame Af‐ finität und Be‐ zugspunkte für die Gesell‐ schaft), politi‐ sche Informa‐ tion Politische Kommunika‐ tion und De‐ batte Politischer Dialog und Verständi‐ gung Wirtschaft: Eigentum - Organisa‐ tion und Technik Öffentliches Ei‐ gentum gemeinnützig, nicht markt‐ wirtschaftlich, nicht profit‐ orientiert universeller Zugang, uni‐ verselle Ver‐ fügbarkeit der Technologie Tabelle 13.3: Ein Modell der öffentlich-rechtlichen Medien Die öffentlich-rechtlichen Medien sind eine Manifestation der Grundsätze der Öffentlichkeit im Bereich der Medien. Habermas’ „conception of rea‐ soned discourse is closer, in fact, to the practice of British public-service broadcasting, with its ideology of disinterested professionalism, its careful balancing of opposed points of view and umpired studio discussions“ (Curran 1991, 42). „The core rationale for public service broadcasting lies in its commitment to providing the cultural resources required for full citizenship“ (Murdock 2005, 214). Öffentlich-rechtliche Medien sind wichtig, weil sie „den Bürger: innen in einer Demokratie am zuverlässigsten dienen können“ (Cushion 2012, 203). Öffentlich-rechtliche Medien, die auf wirtschaftlicher Ebene nicht kom‐ merziell und nicht profitorientiert sind, verkörpern Werte und Beziehungen, die „im Gegensatz zur ökonomischen Verwertung stehen und […] wesentlich für eine funktionierende Demokratie“ sind (Garnham 1990, 111). Die kultu‐ relle und politische Rolle der ÖRM besteht darin, dass sie die Kommunikation 518 13 13 Öffentlich-Rechtliche Medien und Öffentlich-Rechtliches Internet <?page no="519"?> in der Öffentlichkeit ermöglichen, nämlich „die Sammlung und Verbrei‐ tung von Informationen und die Bereitstellung eines Diskussionsforums” (Garnham 1990, 111). ÖRM sind verpflichtet, den universellen Zugang (in‐ formationelle und mediale Grundversorgung, Universaldienst) zu gewähr‐ leisten, der „einen gleichberechtigten Zugang zu einem breiten Spektrum an hochwertiger Unterhaltung, Information und Bildung“ ermöglicht und sicherstellt, dass „das Ziel des Programmproduzenten die Befriedigung eines breiten Publikumsgeschmacks ist und nicht nur die Befriedigung des Geschmacks, der den größten Gewinn verspricht“ (Garnham 1990, 120). Öffentlich-rechtliche Medien und Entwicklungsländer In Bezug auf den ärmsten Kontinent der Welt, Afrika, wird im Midrand Call to Action Document: Media Freedom and Public Broadcasting in Africa ar‐ gumentiert: „most ‘public’ broadcasters in Africa are still government-con‐ trolled state broadcasters”. Es wird gefordert, dass das panafrikanische Parlament „die Umwandlung der staatlichen Rundfunkanstalten in öffent‐ lich-rechtliche Rundfunkanstalten“. vorantreiben sollte (Midrand Call to Action 2013). Dean et al. (2020) argumentieren, dass die Förderung von ÖRM in Entwicklungsländern und unter schwierigen gesellschaftlichen Umständen nicht aussichtslos ist, sondern ein wichtiges Unterfangen darstellt, das durch ganzheitliche Ansätze erreicht werden kann, die ÖRM als Teil des demokratischen Wandels sehen. Es ist dabei auch wichtig, die jeweiligen kulturellen Besonderheiten zu berücksichtigen. „The principles of PSM, or media in the public interest, need to be unpacked as part of public consultations informed by local concepts and experience. As such, media initiatives should be designed with the public, not just for them and their relevance needs to be readily apparent to potential users” (Deane et al. 2020, 24) British Broadcasting Corporation (BBC) Die BBC ist die älteste öffentlich-rechtliche Medienorganisation der Welt. Sie wurde am 18. Oktober 1922 gegründet. Jean Seaton argumentiert, dass die BBC „auf der Idee des Rundfunks als öffentlichem Dienst basiert - der sich an alle Teile der Gesellschaft wendet, alle Teile des Landes unabhängig von den Kosten erreicht, versucht zu bilden, zu informieren und zu verbessern, und 13.2 Öffentlich-Rechtliche Medien 519 <?page no="520"?> bereit ist, die öffentliche Meinung zu leiten, anstatt ihr zu folgen“ (Curran & Seaton 2010, 343). Die Gesetzgebung, die die Tätigkeit der BBC regelt, ist die BBC-Charta, die alle zehn Jahre neu verfasst wird. Die aktuelle BBC-Charta ist für den Zeitraum von 2017 bis Ende 2026 gültig. Während dieses Zeitraums wird die BBC vom britischen Innenminister (Home Secretary) lizenziert, was in Form des BBC-Abkommens (BBC Agreement) geschieht. Das Office of Communications (Ofcom) ist die Regulierungsbehörde für Rundfunk, Telekommunikation und Post im Vereinigten Königreich und damit auch die für die BBC zuständige Regulierungsbehörde. Das BBC Board (BBC-Verwaltungsrat) ist seit 2017 das Leitungsorgan der BBC. Zuvor trug diese Institution den Namen BBC Trust (2007-2017) und Board of Governors (1927-2007). Die Königin bzw. der König ernennt den Vorsitzenden des BBC Board. Er bzw. sie ernennt auch vier Mitglieder des BBC Board, die England, Schottland, Wales und Nordirland vertreten. Der zuständige Staatssekretär berät sich mit der BBC über das Ernennungsver‐ fahren. Die Regierung des jeweiligen Landes (England, Schottland, Wales, Nordirland) muss der Ernennung zustimmen. Das BBC Board ernennt fünf weitere nicht-exekutive Mitglieder, die vom Nominierungsausschuss, einem Unterausschuss des BBC Boards vorgeschlagen werden. Das BBC Board ernennt außerdem vier Mitglieder mit Führungsaufgaben, darunter den Generaldirektor der BBC (BBC Director-General). Diese geschäftsführenden Mitglieder werden vom Nominierungsausschuss vorgeschlagen. Die Governance der BBC basiert stark auf der repräsentativen Demokra‐ tie, was bedeutet, dass gewählte Regierungen Einfluss auf die Ernennung der Mitglieder des BBC-Boards haben. Eine Alternative, die auf einem stärker partizipatorischen Demokratieverständnis beruht, wäre die Wahl der Mitglieder des BBC Boards, einschließlich des Generaldirektors, durch die Beitragszahler: innen. Die BBC-Charta definiert auch den Auftrag und die öffentlichen Zwecke (Public Purposes) der BBC. „The Mission of the BBC is to act in the public interest, serving all audiences through the provision of impartial, high-quality and distinctive output and services which inform, educate and entertain“ (BBC Charter 2017-2026, §5). Die BBC hat fünf definierte öffentliche Zwecke: „1. To provide impartial news and information to help people understand and engage with the world around them […] so that all audiences can engage fully 520 13 13 Öffentlich-Rechtliche Medien und Öffentlich-Rechtliches Internet <?page no="521"?> with major local, regional, national, United Kingdom and global issues and participate in the democratic process, at all levels, as active and informed citizens. 2. To support learning for people of all ages […] 3. To show the most creative, highest quality and distinctive output and services […] 4. To reflect, represent and serve the diverse communities of all of the United Kingdom’s nations and regions and, in doing so, support the creative economy across the United Kingdom […] 5. To reflect the United Kingdom, its culture and values to the world” (BBC Charter 2017-2026, §6). Die BBC als solche darf keine kommerziellen Tätigkeiten ausüben, kann dies aber auf der Grundlage von Tochtergesellschaften tun: „The BBC as a corporation must not directly undertake any commercial activities and they must be provided through one or more commercial subsidiaries“ (BBC Agreement 2017-2026, §23 (4)). Kommerzielle Aktivitäten sind definiert als Aktivitäten, die die öffentlichen Zwecke der BBC fördern, nicht durch die Einnahmen aus den Rundfunkgebühren finanziert werden und „are undertaken with a view to generating a profit“ (BBC Agreement 2017-2026, §23 (2)). Die BBC wird durch die Rundfunkgebühr finanziert. Die Erhebung der Rundfunkgebühr von britischen Haushalten und ihre Zahlung an die BBC sind im Communications Act 2003, § 365, gesetzlich geregelt. Die BBC kann bei ihren kommerziellen Diensten Werbung verkaufen, aber ihre Kern‐ dienste sind werbe- und sponsoringfrei. Die BBC-Vereinbarung schließt Werbung aus: „The BBC must not, without the prior approval of the appropriate Minister, include any sponsored material in any of its services. […] ‘sponsored material’ means any material that has some or all of its relevant costs met by a person, other than the BBC or the producer of the material, with a view to promoting their own or another’s name, trade mark, image, activities or products or any other direct or indirect interest” (BBC Agreement 2017-2016, §50 (2) (4)) Öffentlich-rechtliche Medien in Deutschland Die Schaffung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Deutschland war Teil des Wiederaufbaus des Landes nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und des Nazi-Regimes. Die öffentlich-rechtliche Medienlandschaft in Deutsch‐ 13.2 Öffentlich-Rechtliche Medien 521 <?page no="522"?> 65 https: / / www.gesetze-im-internet.de/ gg/ BJNR000010949.html, aufgerufen am 16. De‐ zember 2021. land besteht aus der ARD (Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland), dem ZDF (Zweites Deutsches Fernsehen), neun Landesrundfunkanstalten (Bayerischer Rund‐ funk BR, Hessischer Rundfunk HR, Mitteldeutscher Rundfunk MDR, Nord‐ deutscher Rundfunk NDR, Radio Bremen, Rundfunk Berlin-Brandenburg RBB, Saarländischer Rundfunk SR, Südwestrundfunk SWR, Westdeutscher Rundfunk WDR) und Deutschlandradio. Die ARD ist ein Zusammenschluss der Landesrundfunkanstalten und der Deutschen Welle. Die allgemeinen Grundsätze der öffentlich-rechtlichen Medien wurden von 1991 bis 2020 im Staatsvertrag für Rundfunk und Telemedien (RStV) geregelt. Ende 2020 ist der Medienstaatsvertrag (MStV) in Kraft getreten. Darüber hinaus gibt es gesetzliche Regelungen für einzelne Rundfunkver‐ anstalter, wie zum Beispiel den ZDF-Staatsvertrag. Artikel 5 des deutschen Grundgesetzes definiert die Meinungs- und Medienfreiheit als Grundrecht: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt” 65 . In Anerkennung der Bedeutung öffentlich-rechtlicher Medien für die Be‐ reitstellung von Kommunikation als Universaldienst und der mangelnden Fähigkeit privater, profitorientierter Medien, Universaldienstleistungen (Grundversorgung medienvermittelter Information und Kommunikation) zu erbringen, ist in Deutschland die Existenz und der Zweck öffent‐ lich-rechtlicher Medien für die Verwirklichung des verfassungsrechtlich verankerten Rechts der Medienfreiheit gesetzlich festgelegt. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner 4. Rundfunkentscheidung (1986) dargelegt, dass nur öffentlich-rechtliche Medien die Grundversor‐ gung erbringen können: „In dieser Ordnung ist die unerlässliche ‚Grundversorgung‘ Sache der öffent‐ lich-rechtlichen Anstalten, zu der sie imstande sind, weil ihre terrestrischen Programme nahezu die gesamte Bevölkerung erreichen und weil sie nicht in gleicher Weise wie private Veranstalter auf hohe Einschaltquoten angewiesen, 522 13 13 Öffentlich-Rechtliche Medien und Öffentlich-Rechtliches Internet <?page no="523"?> mithin zu einem inhaltlich umfassenden Programmangebot in der Lage sind. Die damit gestellte Aufgabe umfasst die essentiellen Funktionen des Rundfunks für die demokratische Ordnung ebenso wie für das kulturelle Leben in der Bundesrepublik“ (BVerfGE 73, 118, 157). Im Vereinigten Königreich gibt es keine schriftliche Verfassung. Existenz und Zweck der BBC werden rechtlich in Form einer königlichen Satzung (Royal Charter) für zehn Jahre von der Königin bzw. dem König, d. h. von der britischen Regierung, gewährt. Die Tatsache, dass die BBC ihre Existenz und ihren Zweck alle zehn Jahre rechtlich neu definieren muss, gibt der britischen Regierung eine gewisse Macht, politischen Druck auf die öffentlich-rechtlichen Medien auszuüben. Die öffentlich-rechtlichen Medien in Deutschland sind aufgrund verfassungsrechtlicher Garantien unabhängiger von der Regierung als im Vereinigten Königreich (Rook 2019). Nichtsdestotrotz gibt es in Deutschland auch indirekte Befugnisse, wie Landesregierungen und die Bundesregierung Druck auf den öffent‐ lich-rechtlichen Rundfunk ausüben können, und zwar in der Form einer bestimmten Anzahl von Mitgliedern, die sie in die Leitungsgremien der öffentlich-rechtlichen Medien entsenden können. „In Deutschland wird den Marktmechanismen misstraut und im Vereinigten Königreich vertraut. Daher sind in Deutschland die [öffentlich-rechtlichen] Rundfunkanstalten die Garanten des funktionierenden Rundfunks, während es im Vereinigten Königreich ein möglichst ungehinderter Wettbewerb aller Rundfunkveranstalter ist. […] Die unterschiedlichen Rollen der BBC und der [deutschen öffentlich-rechtlichen] Rundfunkanstalten sind verfassungsrechtlich begründet durch den in Deutschland bestehenden und im Vereinigten Königreich fehlenden Grundversorgungsauftrag. […] Im Vereinigten Königreich kann der Staat mehr direkten Einfluss auf die BBC ausüben während in Deutschland der Staat mehr indirekten Einfluss auf die [öffentlich-rechtlichen] Rundfunkanstal‐ ten ausüben kann” (Rook 2019, 325-326). Neben dem MStV wird die ARD durch ihre Satzung geregelt. Jeweils eine der ARD-Mitgliedsanstalten wird für ein Jahr zur geschäftsführenden Anstalt gewählt (ARD-Satzung, §3), wodurch der/ die entsprechende Intendant: in zum/ zur ARD-Vorsitzenden bestellt wird. Der/ Die Vorsitzende wird durch eine/ n Generalsekretär/ in unterstützt, der/ die von den Intendant: innen für eine Funktionsperiode von fünf Jahren mit einer Zweidrittelmehrheit gewählt wird (§ 3). Die Organisation der Mitgliedsanstalten wird durch 13.2 Öffentlich-Rechtliche Medien 523 <?page no="524"?> eigene Landesgesetze geregelt, wie zum Beispiel das WDR-Gesetz und das Bayerische Rundfunkgesetz. Das Grundprinzip der Führung des ZDF und der Regionalsender ist, dass ein Rundfunkrat den/ die Intendanten/ Intendantin wählt. Im Rundfunkrat sind verschiedene gesellschaftliche Gruppen vertreten, was zu einer Vielfalt in der Entscheidungsfindung führen soll. Es gilt das Prinzip der Delegation. Der Verwaltungsrat wird einerseits vom Rundfunkrat und andererseits von Delegierten, die vom Personalrat oder von den Ländern gewählt werden, gewählt. Der Verwaltungsrat berät und kontrolliert die Arbeit der Intendan‐ tin/ des Intendanten. Die deutsche Regulierung der öffentlich-rechtlichen Medien ist einerseits föderalistisch und andererseits durch das Prinzip der Interessenvertretung gesellschaftlicher Gruppen geprägt. „Die Mitglieder des Fernsehrates und des Verwaltungsrates sind Sachwalter der lnteressen der Allgemeinheit” (ZDF-Staatsvertrag, §19a). Im Gegensatz dazu ist die BBC viel zentraler organisiert und hat Vertreter: innen der vier Länder als föderales Element im BBC-Board. Vertreter: innen gesellschaftlicher Gruppen werden nicht spezi‐ ell in das BBC Board gewählt oder berufen. Die Publikumsräte (Audience Councils) der BBC haben eine rein beratende Funktion. In beiden Ländern spielt die Wahl der entscheidungsbefugten Räte durch das Publikum keine Rolle. Beim ZDF heißt der Rundfunkrat „Fernsehrat“. Der ZDF-Staatsvertrag sieht vor, dass der Fernsehrat aus sechzig Mitgliedern besteht. Dazu ge‐ hören je ein von den Landesregierungen entsandtes Mitglied, zwei von der Bundesregierung entsandte Mitglieder sowie Mitglieder, die entsandt werden von Kirchen, Gewerkschaften, Wirtschaftsverbänden, Zeitungs‐ verlagen, dem Deutschen Journalisten-Verband, Sportverbänden, Umwelt‐ schutzverbänden, Opferverbänden, sowie Landesvertretern aus verschiede‐ nen Interessenbereichen (z. B. Verbraucherschutz, Digitales, Wissenschaft und Forschung, Musik, Migration, Medienwirtschaft und Film, Kunst und Kultur, LGBTTIQ, Heimat und Brauchtum, Muslime, Bürgerschaftli‐ ches Engagement, Senioren, Familie, Frauen und Jugend, Inklusive Gesell‐ schaft, Zivil- und Katastrophenschutz, Regional- und Minderheitenspra‐ chen) (ZDF-Staatsvertrag, §21). Es gilt das Prinzip der Delegation. Der Fernsehrat hat eine Amtszeit von vier Jahren. Er berät den Intendanten in Programmfragen, legt Senderichtlinien fest, überwacht die Einhaltung der Richtlinien und beschließt die Satzung und genehmigt den Haushalt (ZDF-Staatsvertrag, §20). Der ZDF-Verwaltungsrat überwacht die Tätigkeit 524 13 13 Öffentlich-Rechtliche Medien und Öffentlich-Rechtliches Internet <?page no="525"?> des/ der Intendanten/ Indendantin (ZDF-Staatsvertrag, §23). Er besteht aus zwölf Mitgliedern, von denen vier gemeinsam von den Landesregierungen ernannt und acht vom Fernsehrat gewählt werden (ZDF-Staatsvertrag, §24). Der ZDF-Intendant bzw. die ZDF-Intendantin wird vom Fernsehrat für die Dauer von fünf Jahren gewählt (ZDF-Staatsvertrag, § 26). Der Medienstaatsvertrag (MStV) definiert die allgemeinen Aufgaben der öffentlich-rechtlichen Medien in Deutschland: „(1) Auftrag der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ist, durch die Herstel‐ lung und Verbreitung ihrer Angebote als Medium und Faktor des Prozesses freier individueller und öffentlicher Meinungsbildung zu wirken und dadurch die demokratischen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse der Gesellschaft zu erfüllen. Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten haben in ihren Angeboten einen umfassenden Überblick über das internationale, europäische, nationale und regionale Geschehen in allen wesentlichen Lebensbereichen zu geben. Sie sollen hierdurch die internationale Verständigung, die europäische Integration und den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Bund und Ländern fördern. Ihre Angebote haben der Bildung, Information, Beratung und Unterhaltung zu dienen. Sie haben Beiträge insbesondere zur Kultur anzubieten. Auch Unterhaltung soll einem öffentlich-rechtlichen Angebotsprofil entsprechen. (2) Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten haben bei der Erfüllung ihres Auftrags die Grundsätze der Objektivität und Unparteilichkeit der Berichter‐ stattung, die Meinungsvielfalt sowie die Ausgewogenheit ihrer Angebote zu berücksichtigen“ (MStV, §26 (1) (2)) Eine Gemeinsamkeit zwischen den deutschen öffentlich-rechtlichen Medien und der BBC besteht darin, dass ihr Ziel darin besteht, qualitativ hochwertige Informationen, Bildungsinhalte und Unterhaltung sowie eine objektive, unparteiische, ausgewogene und vielfältige Berichterstattung zu bieten, um Demokratie, Kultur und den sozialen Zusammenhalt zu fördern. Ein Unterschied besteht darin, dass die Kerndienste der BBC nicht wer‐ befinanziert sind, während die öffentlich-rechtlichen Medien in Deutsch‐ land durch die Rundfunkbeiträge und Werbung finanziert werden: „Der öffentlich-rechtliche Rundfunk finanziert sich durch Rundfunkbeiträge, Einnahmen aus Rundfunkwerbung und sonstige Einnahmen; vorrangige Finanzierungsquelle ist der Rundfunkbeitrag” (MStV, §35). Werbung in deutschen öffentlich-rechtlichen Medien ist gesetzlich begrenzt. Sie darf bei ARD und ZDF im Durchschnitt 20 Minuten pro Tag nicht überschreiten, ist nach 20 Uhr sowie an Sonn- und Feiertagen verboten und darf 20 Prozent 13.2 Öffentlich-Rechtliche Medien 525 <?page no="526"?> der Programmzeit pro Stunde nicht überschreiten (MStV, § 39). Werbung ist in den Programmen der öffentlich-rechtlichen Landesrundfunkanstalten nicht zulässig (MStV, § 39). Tabelle 13.3 zeigt die Einnahmen von BBC, ARD und ZDF. - BBC 2021 ARD 2020 ZDF 2019 Deutsch‐ landradio 2020 Rundfunk‐ beitrag 3,750 Mrd. £ (74,1%) 5,511 Mrd. € (84,3%) 1 917 548 633 € (85,5%) 228 624 378,75 € (91,4%) Werbung und Sponso‐ ring - 0,149 Mrd. € (2.3%) 173 174 125 € (7,7%) - Sonstige Einnahmen 1.314 Mrd. £ (kommerzi‐ elle Einnah‐ men ein‐ schließlich Werbung und Sponsoring) (25,9%) 0,875 Mrd. € (13,4%) 153 236 048 € (6,8%) - 21 468 013.92 € (8,6%) - Gesamt 5,064 Mrd. £ 6,535 Mrd. € 2 243 958 806 € 250 092 392,67 € Tabelle 13.4: Die Finanzhaushalte von BBC, ARD und ZDF, Datenquellen: BBC Group Annual Report and Accounts 2020/ 21, ARD-Bericht über die wirtschaftliche und finanzielle Lage der Landesrundfunkanstalten 2020, ZDF Jahresabschluss 2019, Deutschlandradio Ertrags- und Aufwandsrechnung für das Geschäftsjahr 2020 Die Jahresbudgets von BBC und ARD haben einen ähnlichen Umfang. Die Zusammensetzung ist unterschiedlich. Die BBC hat keine Werbung in ihrem Hauptprogramm, ist aber insgesamt stärker auf kommerzielle Einnahmen aus Werbung, Sponsoring, Rechteverkauf usw. angewiesen als ARD und ZDF. ARD und ZDF haben Werbung und Sponsoring in ihren Kernprogrammen, stützen sich aber im Vergleich zur BBC mehr auf die Rundfunkgebühren und weniger auf kommerzielle Einnahmen. Trotz dieser Unterschiede ist der Rundfunkbeitrag die wichtigste Einnahmequelle für alle drei Organisationen. Im Vereinigten Königreich ist die BBC die öffentlich-rechtliche Rund‐ funkanstalt. In Deutschland sind ARD, ZDF und Deutschlandradio die drei 526 13 13 Öffentlich-Rechtliche Medien und Öffentlich-Rechtliches Internet <?page no="527"?> öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. Daher muss man den Haushalt der BBC mit dem der drei deutschen öffentlich-rechtlichen Sender verglei‐ chen. Während das Jahresbudget der BBC zu Beginn der 2020er Jahre rund 6 Mrd. Euro betrug, lag das Jahresbudget des deutschen öffentlich-rechtli‐ chen Rundfunks bei rund 9 Mrd. Euro und damit 50 % höher als das der BBC. Sowohl im Vereinigten Königreich als auch in Deutschland wird die Rundfunkgebühr pro Haushalt gezahlt. Im Jahr 2023 betrug die britische Rundfunkgebühr 159 Pfund und der deutsche Rundfunkbeitrag 220,32 Euro. Das bedeutet, dass der deutsche Rundfunkbeitrag rund 20 Prozent höher ist als die britische Rundfunkgebühr. Außerdem müssen in Deutschland alle Haushalte den Rundfunkbeitrag bezahlen, während im Vereinigten Königreich nur diejenigen zahlen müssen, die einen Fernsehempfänger besitzen. Wenn man im Vereinigten Königreich keinen Fernseher, sondern ein Tablet oder einen Laptop hat, auf dem der BBC iPlayer nicht installiert ist und man nicht BBC-Programme sieht oder hört, so muss man die britische Rundfunkgebühr nicht bezahlen. Im Gegensatz dazu muss in Deutschland jeder Haushalt den Rundfunkbeitrag bezahlen. 13.3 Das Öffentlich-Rechtliche Internet Traditionell hat man von „öffentlich-rechtlichem Rundfunk“ gesprochen, da sich die entsprechenden Dienste auf Radio und Fernsehen erstreckten. Die Digitalisierung hat zur Konvergenz der Medien geführt. Öffentlich-Recht‐ liche Medien bieten bereits heute text-, audio- und videobasierte Dienste im Internet an, inklusive das Streaming ihrer audiovisuellen Inhalte. Der Rundfunk ist zu einem digitalen Medium geworden und die digitalen Medien inkludieren den Rundfunk. Es ist daher angebrachter, heute von öffentlich-rechtlichen Medien als vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu sprechen. Dadurch wird auch angedeutet, dass öffentlich-rechtliche Medien‐ anstalten geeignet sind, Internetplattformen zu entwickeln, zu organisieren und anzubieten. Der Aufstieg des Internets fand im Kontext des neoliberalen Kapitalismus statt, in dem die Privatisierung und Kommerzialisierung von (fast) Allem vorherrschen. Es ist daher nicht überraschend, dass die öffentlich-rechtli‐ chen Medien unter Beschuss geraten sind. „For the most part, PSB has been and remains a group of publicly owned corporations - precisely the sort of organisational form that neo-liberalism set out to get rid of, with 13.3 Das Öffentlich-Rechtliche Internet 527 <?page no="528"?> considerable success” (Goodwin 2018, 33). „[P]ublic service media (PSM) providers have been increasingly marginalised in the development of the networked society” (Goodwin 2018, 29) Graham Murdock plädiert dafür, dass das Internet als Gemeingut organi‐ siert werden sollte. „[T]he institution best placed to address the current problems with the Internet […], public broadcasting has a pivotal role to play in building this digital commons” (Murdock 2005, 227; siehe auch Murdock 2018 & Murdock 2021). „The digital commons, as I have sketched it here, has the potential to create contemporary coffeehouses without walls and social exclusions, combining access to the full range of imaginative and information resources that support effective participation with new spaces of encounter and deliberation” (Murdock 2021, 86). Slavko Splichal (2022) plädiert für die demokratische Nutzung von Al‐ gorithmen und Daten. Er schlägt die Entwicklung von öffentlichkeitsre‐ levanten Algorithmen vor, die berechnen, wie öffentlichkeitsrelevant (pu‐ blic-worthy) bestimmte Ereignisse in der Gesellschaft für die Öffentlichkeit sind, und die daraus resultierenden Nachrichten den Mitgliedern der Öffent‐ lichkeit vorschlagen, die dann auswählen, was sie lesen und sich ansehen. Die wichtigsten Aspekte der Öffentlichkeitsrelevanz sind die Auswirkungen von Ereignissen auf die Gesellschaft (125), die öffentliche Relevanz und „Fragen von allgemeinem Interesse" (126). Öffentlichkeitsrelevante Algorith‐ men sind ein Beispiel für Technologien, die „gesellschaftsfreundlich“ und nicht einfach nur „nutzungsfreundlich" sind (130). Das Manifest für Öffentlich-Rechtliche Medien und ein Öffentlich-Rechtliches Internet In den Jahren 2020 und 2021 arbeitete eine Gruppe von mehreren Dut‐ zend besorgten Bürger: innen während des COVID-19-Lockdowns online zusammen, um das Manifest für Öffentlich-Rechtliche Medien und ein Öffentlich-Rechtliches Internet zu verfassen (PSMI Manifesto Collective 2021). Das Manifest fordert die Sicherung der Existenz, der Unabhängigkeit und der Finanzierung der öffentlich-rechtlichen Medien wie BBC, ARD, ZDF usw., die Entwicklung eines öffentlich-rechtlichen Internets und die Ausstat‐ tung der öffentlich-rechtlichen Medien mit Mitteln, um Online-Plattformen zur Verfügung zu stellen. Im Mai 2023 hatten über 1.300 Personen und Organisationen das Manifest unterzeichnet und unterstützt. Zu den Unter‐ stützer: innen gehören Jürgen Habermas, Noam Chomsky, die International 528 13 13 Öffentlich-Rechtliche Medien und Öffentlich-Rechtliches Internet <?page no="529"?> Federation of Journalists, die European Federation of Journalists und viele mehr. Das Manifest kann unter folgender Adresse unterstützt werden: http : / / bit.ly/ signPSManifesto Im Zeitalter von „Fake News“ und Post-Truth-Politik (postfaktischer Politik) ist die Existenz von qualitativ hochwertigen Medienorganisationen sowohl im Rundfunk als auch im Internet wichtiger denn je. Die Medien und Internetplattformen sollten nicht privaten, sondern öffentlichen Interessen dienen. Sie sollten Medien der Öffentlichkeit, von der Öffentlichkeit und für die Öffentlichkeit sein - öffentliche Medien. Das Manifest stellt fest: „Die Digitalgiganten haben die Demokratie und das Internet geschwächt. Wir brauchen ein neues Internet. Wir müssen das Internet wiederaufbauen. Während das heutige Internet von Monopolen und Kommerz beherrscht wird, ist das öffentlich-rechtliche Internet von Demokratie geprägt. Während das heutige Internet von Überwachung beherrscht wird, ist das öffentlich-rechtliche Internet datenschutzfreundlich und transparent. Während das heutige Internet die 6 Öffentlichkeit fehlinformiert und spaltet, bindet das öffentlich-rechtliche Internet die Öffentlichkeit ein, informiert sie und unterstützt sie. Während das heutige Internet vom Profitprinzip angetrieben wird und dieses vorantreibt, stellt das öffentlichrechtliche Internet die sozialen und gesellschaftlichen Bedürfnisse der Menschen in den Vordergrund“ (PSMI Manifesto Collective 2021 [deutsche Übersetzung], 5-6). Ein öffentliches und gemeinwohlorientiertes Internet ist möglich - ein Internet, in dem Menschen sich austauschen, kommunizieren, entscheiden, diskutieren, spielen, kreieren, kritisieren, vernetzen, zusammenarbeiten, Freundschaften finden, pflegen und aufbauen, sich verlieben, sich selbst und sich gegenseitig unterhalten und sich als gemeinsame Aktivität ohne die Vermittlung von Unternehmen weiterbilden. Öffentlich-rechtliche Internetplattformen werden von öffentlich-rechtli‐ chen Medienorganisationen bereitgestellt, die nicht profitorientiert sind und den digitalen Auftrag haben, Informationen, Nachrichten, Debatten, Demokratie, Bildung, Unterhaltung, Beteiligung und Kreativität mit Hilfe des Internets zu fördern. Öffentlich-rechtliche Medien sollten ihren Auftrag als digitalen Auftrag zur Förderung von Information, Unterhaltung, Bildung und Demokratie durch die Nutzung digitaler Plattformen neu definieren. Vier politische Ökonomien der digitalen Plattformen 13.3 Das Öffentlich-Rechtliche Internet 529 <?page no="530"?> Dimen‐ sion Autoritäre Internet‐ plattfor‐ men Kapitalisti‐ sche Inter‐ netplatt‐ formen Öffent‐ lich-rechtli‐ che Internet‐ plattformen Internetplatt‐ formen der Zi‐ vilgesell‐ schaft, digitale Com‐ munity-Me‐ dien Wirt‐ schaft Eigentum und Kontrolle durch einen autoritären Staat oder eine andere autoritäre Or‐ ganisation Digitales Ka‐ pital, privates Eigentum an digitalen Plattformen, die Kapital ak‐ kumulieren Öffent‐ lich-rechtliche Organisation Gemeinschaftsei‐ gentum, Eigen‐ tum von Organi‐ sationen der Zivilgesellschaft, Genossenschaf‐ ten Politik Autoritäre Entscheidun‐ gen von oben nach unten Governance durch private Eigentümer, Aktionäre und Mana‐ ger: innen Entscheidungs‐ findung durch ein demokra‐ tisch legitimier‐ tes Gremium Entscheidungs‐ findung durch die Gemeinschaft der Mitglieder/ Arbeitnehmer: in‐ nen/ Nutzer: innen Kultur Öffentlich zu‐ gängliche di‐ gitale Inhalte, die kontrol‐ liert und zen‐ siert werden und die politi‐ schen Vorstel‐ lungen der au‐ toritären Kontrolleure widerspiegeln Öffentlich zu‐ gängliche di‐ gitale Inhalte, die anfällig für Ideologie und kapitalis‐ tische Werte sind Digitale Inhalte und digitale Dienste, die den öffent‐ lich-rechtlichen Auftrag der de‐ mokratischen Kommunika‐ tion, Bildung, Kultur und Par‐ tizipation erfül‐ len Digitale Inhalte und Dienste, die nutzergenerierte Inhalte, den Bür‐ gerjournalismus und die digitale Beteiligung un‐ terstützen -- Tabelle 13.5: Vier politische Ökonomien der digitalen Plattformen Tabelle 13.4 skizziert einige Grundlagen von vier politischen Ökonomien digitaler Plattformen. Öffentlich-rechtliche Internetplattformen und zivil‐ gesellschaftliche Internetplattformen sind die beiden Arten digitaler Platt‐ formen, die nach nicht-kapitalistischen und nicht-staatlichen Prinzipien arbeiten und damit die politische Ökonomie des digitalen Kapitalismus negieren. Sie operieren in der digitalen Öffentlichkeit. Im Gegensatz dazu kolonisieren, feudalisieren, entfremden und zerstören kapitalistische digi‐ 530 13 13 Öffentlich-Rechtliche Medien und Öffentlich-Rechtliches Internet <?page no="531"?> tale Plattformen und autoritäre Plattformen die digitale Öffentlichkeit. Es gibt auch Mischformen der Medien. Öffentlich-rechtliche Internetplatt‐ formen und zivilgesellschaftliche Internetplattformen sind hervorragende Grundlagen für die Förderung der digitalen Gemeingüter, d. h. der digi‐ talen ökologischen Nachhaltigkeit (natürliche digitale Gemeingüter), des digitalen Sozialismus (wirtschaftliche digitale Gemeingüter), der partizi‐ pativen digitalen Demokratie (politische digitale Gemeingüter) und der digitalen Freundschaften (kulturelle digitale Gemeingüter). Die Schaffung solcher nicht-kapitalistischer digitaler Plattformen ist keine hinreichende Bedingung für den Fortschritt der digitalen Gemeingüter, aber eine gute Grundlage, die eine bessere Wahrscheinlichkeit und Chancen hat, digitale Demokratie, digitale Gleichheit und digitale Gerechtigkeit voranzubringen als digitaler Kapitalismus und kapitalistische digitale Plattformen. Es bedarf bewusster menschlicher Anstrengungen, sozialer Kämpfe und materieller Grundlagen, um alle Dimensionen der digitalen Gemeingüter zu fördern. Eine digitale Plattform kann beispielsweise demokratisch verwaltet werden und sich in demokratischem Besitz befinden (politisch und wirtschaftlich), aber gleichzeitig Elektroschrott und den Klimawandel fördern. Die Orga‐ nisationen und Gemeinschaften, die diese Plattformen betreiben, sollten daher die Schaffung eines nicht-kapitalistischen Green Computing (umwelt‐ freundliche Computernutzung) unterstützen. - Die Umfrage zu öffentlich-rechtlichen Medien/ Internet-Utopien Als Vorarbeit für das Manifest für Öffentlich-Rechtliche Medien und ein Öffentlich-Rechtliches Internet habe ich eine explorative Umfrage unter Expert: innen durchgeführt, die sich mit öffentlich-rechtlichen Medien be‐ schäftigen. Die Umfrage zu Public Service Media/ Internet Utopias wurde vom 10. November bis zum 26. Dezember 2019 durchgeführt. Es gab 141 Teilnehmer: innen. Die Umfrage konzentrierte sich auf drei Themen: ● • Kommunikation, digitale Medien und das Internet in einer idealen Welt; ● • progressive Reformen der öffentlich-rechtlichen Medien; ● • Öffentlich-rechtliche Medien und das Internet im Jahr 2030. Die Ergebnisse wurden in einem Bericht veröffentlicht (Fuchs 2021b). Mittels thematischer Analyse wurden 12 Thematiken zu einem Oberthema 13.3 Das Öffentlich-Rechtliche Internet 531 <?page no="532"?> (das ideale Internet der Zukunft) identifiziert. Die Befragten identifizierten zwölf Merkmale eines idealen Internets der Zukunft: 1. Das Internet wird nicht profitorientiert betrieben, ist werbefrei, und es gibt keine Internetmonopole von Unternehmen. 2. Das Internet hat eine dezentralisierte technologische und soziale Struktur; 3. Die Internetwirtschaft ist eine Wirtschaftsdemokratie, die auf arbei‐ ter- und nutzergeführten Infrastrukturen und Plattformgenossenschaf‐ ten, digitalen Gemeingütern und demokratischer Governance aufbaut. 4. Teile des Internets werden von öffentlich-rechtlichen Medien in Form von öffentlich-rechtlichen Internetplattformen als öffentliche Infra‐ struktur betrieben und besessen. 5. Plattform-Kooperativen (Internet-Plattformen, die von Nutzer: innen und Arbeiter: innen betrieben werden und sich in deren Besitz befinden) und öffentlich-rechtliche Internet-Anbieter koexistieren und kooperie‐ ren auf synergetische Weisen. 6. Es gibt einen kostenlosen Zugang zum Internet und zu digitalen Technologien; freie Software und offene Inhalte sind der Standard. 7. Digitale Technologien sind ökologisch nachhaltig. 8. Es gibt keine autoritäre staatliche Kontrolle, staatliche Zensur und Überwachung des Internets; das Internet ist datenschutzfreund‐ lich und basiert auf dem Prinzip der Datenminimierung. 9. Bildung beinhaltet kritische digitale Medienkompetenz; im Internet gibt es viele ansprechende, kritische Bildungsinhalte. 10. Die Nutzer: innen werden befähigt und ermutigt, sich an der Produk‐ tion von Medieninhalten zu beteiligen; das Internet und persönliche Begegnungen unterstützen die demokratische Debatte und Entschei‐ dungsfindung im öffentlichen Raum; die demokratische Öffentlichkeit fördert Internationalismus und Solidarität und schwächt Hass, Faschis‐ mus, Nationalismus und Rassismus. 11. Im Internet gibt es faktenbasierte, faktengeprüfte Nachrichten und hochwertige Inhalte; kritische Online-Medien berichten die Wahrheit und zeigen Machtstrukturen auf. 12. Im Internet gibt es eine Vielfalt an Medieninhalten, Plattformen, Ziel‐ gruppen, Meinungen und eine Repräsentation verschiedener Gruppen aus allen gesellschaftlichen Schichten und Bereichen sowie allen Regio‐ nen und Teilen der Welt. 532 13 13 Öffentlich-Rechtliche Medien und Öffentlich-Rechtliches Internet <?page no="533"?> Die Teilnehmer: innen der Umfrage sprachen sich dafür aus, dass Teile des Internets von öffentlich-rechtlichen Medien in Form von öffentlich-recht‐ lichen Internetplattformen als öffentliche Infrastruktur betrieben werden sollten. Hier sind einige Beispielantworten aus der Public Service Media/ In‐ ternet Utopias Survey: „Countries desirous of an informed citizenry should set up and fund public institutions run by independently appointed persons to commission content designed to meet social needs unmet by market providers and to arrange its distribution on whatever platforms they deem appropriate“ (#28). „Public service media services across all platforms. Universal service, free to all at the point of reception, content catering to a full range of communities and needs, driven by civic not commercial imperatives. The internet would be operated as a public utility with universal accessibility, net neutrality, with provisions for anonymity and user-control over personal data coupled with checks and balances to prevent abuses (e.g. attempts to manipulate elections through targeted fake news, proliferation of extreme/ hate-based ideologies, mass surveillance)“ (#695). „[The] media would be usable on a public and freely available worldwide information network that was collectively governed and open to all“ (#388). „Public media environment. The ideal media environment would be much more local and definitely not market-based. I would love to get all my information from PSM media - from radio to entertainment and culture and socializing! PSM could provide also the strictly necessary digital components“ (#345). „Public Service Streaming Services: Rather than selling products to private streaming platforms, I would encourage alliances with other PSMs to build a transcontinental streaming platform, where these contents would be exclusively shown. Laws would limit competition from private providers“ (#202). „Provide decentralized and alternative platforms to YouTube or Netflix and create citizen relevant content and make it freely available in these platforms. This could be an effort made at international level, where PSM from different countries could collaborate to implement this vision“ (#815). - Ein öffentlich-rechtliches YouTube Zwei mögliche Dienste des öffentlich-rechtlichen Internets sind ein öf‐ fentlich-rechtliches YouTube und der Club 2.0. Ein öffentlich-rechtliches YouTube wird idealerweise von einem internationalen Netzwerk von öffent‐ lich-rechtlichen und anderen öffentlichen Organisationen betrieben: 13.3 Das Öffentlich-Rechtliche Internet 533 <?page no="534"?> ● Der Schwerpunkt liegt auf Themen, die für die Demokratie wichtig sind. ● Die Möglichkeit für nutzergenerierte Videos begleitet öffentlich-recht‐ liche Radio- und Fernsehsendungen. ● Diskriminierende Inhalte werden herausgefiltert. ● Das Hochladen von Videos zu bestimmten Themen ist zu bestimmten Zeitpunkten möglich. ● Es gibt die kollektive Produktion von Videos in Schulklassen, Schüler- und Studentengruppen, Gemeindebauten, Erwachsenenbildungsgrup‐ pen, Gewerkschaften, religiösen und philosophischen Gruppen, Orga‐ nisationen der Zivilgesellschaft usw. ● Die digitale Kreativität wird gefördert, indem archivierte Inhalte der öffentlich-rechtlichen Medien auf der Grundlage einer Creative Com‐ mons CC-BY-NC-Lizenz veröffentlicht werden. Diese Lizenz erlaubt das Remixen der Inhalte für nichtkommerzielle Zwecke. ● Eine Auswahl von nutzergenerierten Inhalten kann zu bestimmten Zeiten im Radio/ TV ausgestrahlt werden. ● Verschiedene öffentlich-rechtliche Medien kooperieren bei der Einrich‐ tung und dem Betrieb einer globalen Videoplattform. ● Die limitierte Verweildauer von Online-Inhalten steht im Widerspruch zu den Vorteilen des Mediums (z. B. BBC iPlayer: 30 Tage). Auf dem öffentlich-rechtlichen YouTube ist der Inhalt unbegrenzt verfügbar. ● Die Nutzung von Inhalten für kommerzielle, profitorientierte Zwecke ist nicht möglich. - Club 2.0 Der Club 2 war ein Diskussionsformat, das der Österreichische Rundfunk (ORF) von 1976 bis 1995 ausstrahlte. Es bot eine Live-Studiodebatte, war un‐ zensiert, hatte ein offenes Ende (also unbegrenzte Sendezeit), konzentrierte sich auf kontroverse Themen, hatte eine Wohnzimmeratmosphäre, kein Studiopublikum, 4-8 verschiedene Gäste und eine: n Moderator: in. Der Club 2 war ein Prototyp der „langsamen Medien“ (Slow Media). Der Club 2 war eine demokratische Öffentlichkeit. Das Format verschwand mit dem Aufkommen des Reality-TV. Der Club 2.0 ist die Idee der Erneuerung des Club 2 als öffentlich-rechtli‐ ches Internetformat. Er besteht aus einer kontroversen Live-Studiodebatte, die im Fernsehen übertragen wird, und einer öffentlich-rechtlichen Inter‐ netplattform, auf der eine begrenzte Anzahl von Nutzer: inne: n (z. B. zufällig 534 13 13 Öffentlich-Rechtliche Medien und Öffentlich-Rechtliches Internet <?page no="535"?> ausgewählt) debattieren und Videos hochladen können. An bestimmten Punkten der Diskussion werden nutzergenerierte Videos als Input für die Studiodebatte gesendet. Abbildung 13.2 veranschaulicht die Grundsätze des Club 2.0. CLUB 2.0 ! "#$%& ' ()%"*%+,-&..)/ )- 0%12#11%&/ ' 3%4)'56)7"789#/ 9 ' : / ; )/ 1%)7" ' <&/ "7&4)71)-=,)>)/ ' ? 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"#$%&H#6*%2#> ' M)7/ 1),N6)7"789#/ 9 ' O/ *%/ )'56)7"789#/ 9 8#.- $)7-P%$)&H*8"".&7>-LQ' =#6)- E#"; )7R- S#6*%2#> <)%/ )-P)7T)/ $#/ 9-6)1"),)/ $)7-S*8"".&7>)/ -C=T%"")7R- M8+)6&&2IR-%/ ")7/ )"681%)7")-0%12#11%&/ -8#.- P%$)&H*8"".&7>-LQ'=#6) UI-(#1),)7-CO/ *%/ )R-=PI QI-0%12#11%&/ 1%/ H#"1 P%$)&H*8"".&7>-LQ'=#6) J)9%1"7%)7")-E#"; )7-C)+,")7V4&**)7-E8>)W-; #7- J)9%1"7%)7#/ 9-T%7$-; DXD-J#/ $.#/ 29)6N,7)/ 'E#>>)7- &$)7-Y$7)11)/ 'X)1"A"%9#/ 9-6)/ Z"%9"I Y/ ; 8,*-$)7-82"%4)/ V7)9%1"7%)7")/ -E#"; )7-%1"- 6)1+,7A/ 2687 U-0%12#11%&/ 1'[/ H#"-H7&-7)9%1"7%)7")>-X)/ #"; )7-28/ / - TA,7)/ $ $)7-0%12#11%&/ ,&+,9)*8$)/ T)7$)/ \- ' >%/ $)1")/ 1-]-#/ $->8G%>8*-^-_%/ #")/ -*8/ 9 ' _)%/ #/ 9-K-0%12#11%&/ 1.789) ' `%7$-8*1-O/ *%/ )'P%$)&-8#.-LQ'=#6)-9)*8$)/ ]I-S#6*%2#>1'VE#"; )7'0%12#11%&/ \ (T)%-8#19)TA,*") P%$)&1-2Z/ / )/ $%12#"%)7" T)7$)/ \- ' 0%12#11%&/ -8#.-$)7-LQ'=#6)-S*8"".&7> ' P%$)&' #/ $-")G"'681%)7")-<&>>)/ "87)\- 6)97)/ ; "-8#.-G-<&>>)/ "87)-H7&-7)9%1"7%)7")>-X)/ #"; )7- P%$)&2&>>)/ "87)\-^-_%/ #")/ -*8/ 9-a2N7; )7) <&>>)/ "87) 1%/ $ / %+," >Z9*%+,b- =)G"681%)7")-<&>>)/ "87)\->%/ $)1")/ 1-^cc-`Z7")7R- 2)%/ ) O6)797)/ ; ) a)1 %1" 86)7 ; DXD-#/ 7)8*%1"%1+,R-$811 UcRccc-`Z7")7 *8/ 9) <&>>)/ "87) 4&/ -4%)*)/ E#"; )7/ 9)*)1)/ T)7$)/ b E#"; )79)/ )7%)7") P%$)&1-8*1 0%12#11%&/ 1%/ H#"1 ; # ; T)% ()%"H#/ 2")/ W- Y#1T8,* C28/ / 487%%)7" T)7$)/ I\- ' L*#6-QDc-=)8> ' (#.8** ' Y#1T8,* $#7+, )%/ )/ ; #.A**%9 6)1"%>>")/ 7)9%1"7%)7")/ E#"; )7 ' Y#1T8,* $#7+, )%/ )%/ 9)*8$)/ )1 S#6*%2#>1>%"9*%)$ S7&978>>N6)7"789#/ 9 C=PR-&/ *%/ )I Abbildung 13.2: Das Konzept des Club 2.0 13.4 Schlussfolgerungen Dieses Kapitel befasste sich mit der politischen Ökonomie der öffent‐ lich-rechtlichen Medien und des öffentlich-rechtlichen Internets. Es fragte: Wie sieht die politische Ökonomie der öffentlich-rechtlichen Medien und des öffentlich-rechtlichen Internets aus? Wir wollen nun die wichtigsten Ergebnisse zusammenfassen: 13.4 Schlussfolgerungen 535 <?page no="536"?> Erkenntnis 1: Öffentlich-rechtliche Medien Öffentlich-rechtliche Medien sind eine Manifestation und ein Teil der Öffentlichkeit. Sie sind Medien der Öffentlichkeit und unterscheiden sich stark von der Logik der kapitalistischen Medien und der autoritären Me‐ dien. Öffentlich-rechtliche Medien befinden sich in öffentlichem Besitz, sind der Öffentlichkeit gegenüber rechenschaftspflichtig und haben einen öffentlichen Auftrag, hochwertige Informationen, Nachrichten, Bildungs- und Unterhaltungsangebote zu schaffen und zugänglich zu machen, die zur Förderung von Demokratie, Kultur, Lernen, Verständnis und Diskussion beitragen. - Erkenntnis 2: Auf dem Weg zu einem öffentlich-rechtlichen Internet Das Internet wird von großen transnationalen Konzernen beherrscht, die auf die Akkumulation von Kapital ausgerichtet sind. Das Manifest für Öf‐ fentlich-Rechtliche Medien und ein Öffentlich-Rechtliches Internet fordert die Sicherung der Existenz und der Finanzierung öffentlich-rechtlicher Medien und die Schaffung eines öffentlich-rechtlichen Internets, also von Internetplattformen, die von öffentlich-rechtlichen Medienorganisationen betrieben werden. Das öffentlich-rechtliche Internet ist eine demokratische Alternative zum kapitalistischen Internet. Literatur Beck, Klaus. 2018. Das Mediensystem Deutschlands. Strukturen, Märkte, Regulie‐ rung. Wiesbaden: Springer VS. Zweite Auflage. Cañedo, Azahara, Marza Rodríguez-Castro & Ana Maria López-Cepeda. 2022. Distilling the Value of Public Service Media: Towards a Tenable Conceptualisation in the European Framework. European Journal of Communication 37 (6): 586-605. DOI: https: / / doi.org/ 10.1177/ 02673231221090777 Curran, James. 1991. Rethinking the Media as a Public Sphere. In-Communication and Citizenship. Journalism and the Public Sphere,-hrsg. von Peter Dahlgren & Colin Sparks, 27-57. London: Routledge. Curran, James & Jean Seaton. 2010. Power Without Responsibility. Press, Broadcas‐ ting and the Internet in Britain.-London: Routledge. Seventh edition. 536 13 13 Öffentlich-Rechtliche Medien und Öffentlich-Rechtliches Internet <?page no="537"?> Cushion, Stephen. 2012. The Democratic Value of News. Why Public Service Media Matter. Basingstoke: Palgrave Macmillan. Deane, James, Docquir, Pierre François, Winston Mano, Tarik Sabry, & Naomi Sakr. 2020. Achieving Viability for Public Service Media in Challenging Settings: A Holistic Approach London: University of Westminster Press. DOI: https: / / doi.or g/ 10.16997/ book41 Fuchs, Christian. 2021a. Social Media: A Critical Introduction. London: SAGE. Dritte Auflage. Fuchs, Christian. 2021a.-Soziale Medien und Kritische Theorie. Eine Einführung. München: UVK/ utb. Zweite, vollständig überarbeitete Auflage. Fuchs, Christian. 2021b. The Public Service Media and Public Service Internet Utopias Survey Report. In The Public Service Media and Public Service Internet Manifesto, hrsg. von Christian Fuchs and Klaus Unterberger, 19-68. London: University of Westminster Press. DOI: https: / / doi.org/ 10.16997 / book60.c Fuchs, Christian. 2020. Kommunikation und Kapitalismus. Eine kritische Theorie. München: UVK/ utb. Fuchs, Christian. 2014. Social Media and the Public Sphere. tripleC: Communication, Capitalism & Critique 12 (1): 57-101. DOI: https: / / doi.org/ 10.31269/ triplec.v12i1. 552 Garnham, Nicholas. 1990.-Capitalism and Communication. Global Culture and the Economics of Information.-London: SAGE. Goodwin, Peter. 2018. An Impossible Challenge for Public Service Media? The Intellectual Context of the Networked Society. In Public Service Media in the Networked Society, hrsg. von Gregory Ferrell Lowe, Hilde Van den Bulck und Karen Donders, 29-41. Gothenburg: Nordicom. Habermas, Jürgen. 2008. Hat die Demokratie noch eine epistemische Dimension? Empirische Forschung und normative Theorie. In Ach, Europa, 138-191. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Murdock, Graham. 2021. Public Service Media for Critical Times: Connectivity, Climate, and Corona. In The Public Service Media and Public Service Internet Manifesto, hrsg. von Christian Fuchs und Klaus Unterberger, 69-111. London: University of Westminster Press. DOI: https: / / doi.org/ 10.16997/ book60.d Murdock, Graham. 2018. Reclaiming Digital Space. From Commercial Enclosure to the Broadcast Commons. In Public Service Media in the Networked Society, hrsg. von Gregory Ferrell Lowe, Hilde Van den Bulck und Karen Donders, 43-58. Gothenburg: Nordicom. Murdock, Graham. 2011. Political Economies as Moral Economies. Commodities, Gifts, and Public Goods. In The Handbook of the Political Economy of Commu‐ Literatur, empfohlene Lektüre und Übungen 537 <?page no="538"?> nications, hrsg. von Janet Wasko, Graham Murdock und Helena Sousa, 13-40. Chichester: Wiley-Blackwell. Murdock, Graham. 2005. Building the Digital Commons. Public Broadcasting in the Age of the Internet. In Cultural Dilemmas in Public Service Broadcasting: RIPE@2005, hrsg. von Gregory Ferrell Lowe und Per Jauert, 213-230. Gothenburg: NORDICOM. PSMI Manifesto Collective. 2021. The Public Service Media and Public Service In‐ ternet Manifesto. http: / / bit.ly/ psmmanifesto Auch publiziert in: Fuchs, Christian und Klaus Unterberger, Hrsg. 2021.-The Public Service Media and Public Service Internet Manifesto, 7-17. London: University of Westminster Press. DOI: https: / / doi.org/ 10.16997/ book60 Deutsche Übersetzung: Manifest für Öffentlich-Rechtliche Medien und ein Öffent‐ lich-Rechtliches Internet, http: / / bit.ly/ psmmanifesto_de Rook, Robert. 2019. Der Öffentlich-Rechtliche Rundfunk in Deutschland und im Vereinigten Königreich. Ein Rechtsvergleich. Wiesbaden: Springer. Sandoval, Marisol and Christian Fuchs. 2010. Towards a Critical Theory of Alterna‐ tive Media. Telematics and Informatics 27 (2): 141-150. DOI: https: / / doi.org/ 10.10 16/ j.tele.2009.06.011 Splichal, Slavko. 2022. Datafication of Public Opinion and the Public Sphere. How Extraction Replaced Expression of Opinion. London: Anthem Press. Splichal, Slavko. 2012. 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The Global Public Sphere: Public Communication in the Age of Reflective Interdependence. Cambridge: Polity. Williams, Raymond. 1976. Communications. Harmondsworth: Penguin Books. 538 13 13 Öffentlich-Rechtliche Medien und Öffentlich-Rechtliches Internet <?page no="539"?> Aufgabe Merke Frage Literatur Wissen Zusatz Link / www Checkliste Ziele ICON SET 5 Empfohlene Lektüre und Übungen - Lektüre Die folgenden Texte werden als Begleitlektüre zu diesem Kapitel empfohlen: Barbara Thomaß. 2013. Public Service Broadcasting. In-Mediensysteme im interna‐ tionalen Vergleich, hrsg. von Barbara Thomaß, 81-98. Konstanz: UVK. Zweite Auflage. Graham Murdock. 2005. Building the Digital Commons. Public Broadcasting in the Age of the Internet. In Cultural Dilemmas in Public Service Broadcasting: RIPE@2005, hrsg. von Gregory Ferrell Lowe & Per Jauert, 213-230. Gothenburg: NORDICOM. Christian Fuchs. 2021. The Public Service Media and Public Service Internet Utopias Survey Report. In The Public Service Media and Public Service Internet Manifesto, hrsg. von Christian Fuchs und Klaus Unterberger, 19-68. London: University of Westminster Press. DOI: https: / / doi.org/ 10.16997 / book60.c PSMI Manifesto Collective. 2021. The Public Service Media and Public Service Internet Manifesto. http: / / bit.ly/ psmmanifesto Auch publiziert in: Christian and Klaus Unterberger, Hrsg. 2021. The Public Service Media and Public Service Internet Manifesto, 7-17. London: University of Westminster Press. DOI: https: / / doi.org/ 10 .16997/ book60 / Deutsche Übersetzung: Manifest für Öffentlich-Rechtliche Medien und ein Öffentlich-Rechtliches Internet, http: / / bit.ly/ psmmanifesto_de ÜBUNG 13.1: BRITISH BROADCASTING CORPORATION Lesen Sie folgenden Text: Barbara Thomaß. 2013. Public Service Broadcasting. In Mediensysteme im internationalen Vergleich, hrsg. von Barbara Thomaß, 81-98. Kon‐ stanz: UVK. Zweite Auflage. Lesen Sie im Anschluss die BBC Charta, die die Organisation der BBC regelt: BBC Royal Charter 2017-2026: https: / / www.bbc.com/ aboutthebbc/ governance/ charter Diskutieren Sie: Was ist das Wesen eines öffentlich-rechtlichen Mediums? Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Merkmale der BBC? Wie unterscheidet sich die BBC von kapitalistischen Medienorganisa‐ tionen? Wie beurteilen Sie die Grundsätze der BBC? Literatur, empfohlene Lektüre und Übungen 539 <?page no="540"?> Aufgabe Merke Frage Literatur Wissen Zusatz Link / www Checkliste Ziele ICON SET 5 Informieren Sie sich über die jüngsten Debatten und Bedrohungen, denen die öffentlich-rechtlichen Medien ausgesetzt sind. Wie beurtei‐ len Sie diese Entwicklungen? Wie beurteilen Sie die Rundfunkgebühren als Hauptfinanzierungsme‐ chanismus der BBC? Wie funktioniert der Rundfunk in anderen Ländern, die Sie kennen? Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede gibt es zwischen den Rundfunkanstalten in diesen Ländern und der BBC? ÜBUNG 13.2: ÖFFENTLICH-RECHTLICHE MEDIEN IN DEUTSCHLAND Lesen Sie folgenden Text: Barbara Thomaß. 2013. Public Service Broadcasting. In Mediensysteme im internationalen Vergleich, hrsg. von Barbara Thomaß, 81-98. Kon‐ stanz: UVK. Zweite Auflage. Lesen Sie im Anschluss den deutschen Medienstaatsvertrag, der Rund‐ funk, Telemedien und öffentlich-rechtliche Medien in Deutschland regelt. Achten Sie besonders auf Abschnitt III (Sonderbestimmungen für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk): Medienstaatsvertrag https: / / www.die-medienanstalten.de/ fileadmin/ user_upload/ Rechtsg rundlagen/ Gesetze_Staatsvertraege/ Medienstaatsvertrag_MStV.pdf Diskutieren Sie: Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Merkmale der öffent‐ lich-rechtlichen Medien in Deutschland? Wie unterscheiden sich die öffentlich-rechtlichen Medien in Deutsch‐ land von kapitalistischen Medienorganisationen? Wie beurteilen Sie die Grundsätze der öffentlich-rechtlichen Medien? Welche Rolle spielten der Rundfunkbeitrag und die Werbung in der deutschen öffentlich-rechtlichen Medienlandschaft? Wie beurteilen Sie das deutsche Organisationsmodell der öffentlich-rechtlichen Me‐ dien? Wie unterscheidet es sich von dem der BBC? Wie sollten öffentlich-rechtliche Medien in der Zukunft aussehen und welche Rolle sollten sie spielen? 540 13 13 Öffentlich-Rechtliche Medien und Öffentlich-Rechtliches Internet <?page no="541"?> Aufgabe Merke Frage Literatur Wissen Zusatz Link / www Checkliste Ziele ICON SET 5 ÜBUNG 13.3: AUF DEM WEG ZU EINEM ÖFFENT‐ LICH-RECHTLICHEN INTERNET Lesen Sie das Manifest für Öffentlich-Rechtliche Medien und ein Öffentlich-Rechtliches Internet: PSMI Manifesto Collective. 2021. The Public Service Media and Public Service Internet Manifesto. http: / / bit.ly/ psmmanifesto Auch publiziert in: Christian and Klaus Unterberger, Hrsg. 2021. The Public Service Media and Public Service Internet Manifesto, 7-17. London: University of Westminster Press. DOI: https: / / doi.org/ 10.16997/ book60 Deutsche Übersetzung: Manifest für Öffentlich-Rechtliche Medien und ein Öffentlich-Rechtliches Internet, http: / / bit.ly/ psmmanifesto_de Diskutieren Sie: Was ist das öffentlich-rechtliche Internet? Wie unterscheidet sich das öffentlich-rechtliche Internet vom kapita‐ listischen Internet? Stimmen Sie eher zu oder eher nicht zu, dass wir ein öffentlich-recht‐ liches Internet brauchen? Nennen Sie Gründe für Ihre Meinung. Stellen Sie sich eine neue Public-Service-Internet-Plattform vor und beschreiben Sie deren Grundprinzipien. Wie würde sie die Demokratie und die Öffentlichkeit fördern? Bewerben Sie das Manifest für Öffentlich-Rechtliche Medien und ein Öffentlich-Rechtliches Internet. Arbeiten Sie in Gruppen. Ziel ist es, dass jede Gruppe mindestens 50 neue Nutzer: innen dazu bringt, das Manifest hier zu unterschreiben: http: / / bit.ly/ signPSManifesto Literatur, empfohlene Lektüre und Übungen 541 <?page no="543"?> Aufgabe Merke Frage Literatur Wissen Zusatz Link / www Checkliste Ziele ICON SET 5 14 Die Politische Ökonomie des Medienmanagements Was Sie in diesem Kapitel lernen werden: Sie werden sich mit der Frage beschäftigen, was Management ist. Sie werden die Grundlagen des Medienmanagements kennenlernen. Sie werden Einblicke in den Unterschied zwischen fordistisch-tayloris‐ tischen und postfordistischen Managementformen bekommen. Sie werden sich mit der Frage beschäftigen, ob man Kreativität und Kulturarbeit managen kann. 14.1 Einleitung Das Management von Medienorganisationen ist ein Prozess, der auf der mikroökonomischen Ebene stattfindet. Das Management wird von gesell‐ schaftlichen Entwicklungen beeinflusst, ist also mit der politischen Ökono‐ mie der Gesellschaft vermittelt. In diesem Kapitel geht es um die politische Ökonomie und die Grundlagen des Medienmanagements. Um zu verstehen, wie die Medien gemanagt werden, müssen wir zunächst einmal verstehen, was Management überhaupt ist. Abschnitt 14.2 stellt die Frage: Was ist Management? In Abschnitt 14.3 wird der Begriff des Medienmanagements geklärt. In Abschnitt 14.4 werden die Unterschiede zwischen fordistischem und postfordistischem Manage‐ ment erläutert. Abschnitt 14.5 behandelt das Management von Kultur, Medien und Kreativität. In Abschnitt 14.6 werden einige Schlussfolgerungen gezogen. 14.2 Was ist Management? Die Entstehung des Managements als Teil der Arbeitsteilung Sehen wir uns zunächst eine klassische Definition des Managements an. Henri Fayol (1841-1925) war ein französischer Ingenieur und Unternehmer, <?page no="544"?> 66 Übersetzung aus dem Englischen: activities “concerned with drawing up the broad plan of operations of the business, with assembling personnel, co-ordinating and harmonizing effort and activity” (5). 67 To “manage is to forecast and plan, to organize, to command, to co-ordinate and to control. To foresee and provide means examining the future and drawing up the plan of action. To organize means building up the dual structure, material and human, of the undertaking. To command means maintaining activity among the personnel. To co-ordinate means binding together, unifying and harmonizing all activity and effort. To control means seeing that everything occurs in conformity with established rule and expressed command”. der ähnlich wie Frederick Winslow Taylor eine Theorie der Unternehmens‐ führung entwickelte. Fayol formulierte eine einflussreiche Definition des Managements. Er unterscheidet fünf wirtschaftliche Aktivitäten: technische Aktivitäten (Produktion), kommerzielle Aktivitäten (Verkauf), Sicherheitsaktivitäten (Schutz des Eigentums), Buchhaltung und Managementaktivitäten (Fayol 1916/ 1949, 3). Er definiert Management als die Tätigkeiten, „die sich mit der Aufstellung des allgemeinen Betriebsplans des Unternehmens, mit der Zusammenstellung des Personals, der Koordinierung und Harmonisierung der Anstrengungen und Aktivitäten befassen“ 66 (Fayol 1916/ 1949, 5). „Ma‐ nagen heißt voraussehen und planen, organisieren, befehlen, koordinieren und kontrollieren. Vorhersehen und planen bedeutet, die Zukunft zu un‐ tersuchen und einen Aktionsplan zu erstellen. Organisieren bedeutet, die materielle und personelle Doppelstruktur des Unternehmens aufzubauen. Befehlen bedeutet, die Aktivität des Personals aufrechtzuerhalten. Koor‐ dinieren bedeutet, alle Aktivitäten und Anstrengungen zu bündeln, zu vereinheitlichen und zu harmonisieren. Kontrollieren bedeutet, dafür zu sorgen, dass alles in Übereinstimmung mit einer festgelegten Regel und einem ausdrücklichen Befehl geschieht“ 67 (Fayol 1916/ 1949, 6). Der Aufstieg des Managements vollzog sich im Kontext des Übergangs vom Wettbewerbskapitalismus zum imperialistischen Kapitalismus am Ende des 19. Jahrhunderts. Dies hatte zur Folge, dass Großkonzerne entstanden, in denen mehrere Unternehmen kombiniert wurden, um Konkurrenz aus‐ zuschalten. Dieser Übergang hat mit den der kapitalistischen Wirtschaft immanenten Konzentrations- und Monopolbildungstendenzen zu tun. Un‐ ternehmen wurden so groß und komplex, dass die Eigentümer: innen diese nicht mehr selbst leiten und die Arbeit darin nicht mehr selbst organisieren konnten. Daher schufen sie eine Klasse von bezahlten Personen, die Arbeits‐ gruppen, Abteilungen und Unternehmen managen. Der Beruf des Managers 544 14 Die Politische Ökonomie des Medienmanagements <?page no="545"?> entstand und später jener der Managerin. Die Idee des Managements beruht auf einer Arbeitsteilung zwischen geistiger, planender, organisatorischer Tätigkeit einerseits und der ausführenden Arbeit andererseits. Marx argumentiert, dass die Arbeitsteilung charakteristisch ist für Klas‐ sengesellschaften (Marx & Engels 1845/ 1846, Kapitel I, 17-77). Historische Formen der Arbeitsteilung sind laut Marx die Teilung der Arbeit zwischen den Geschlechtern in der Familie, zwischen Stadt und Land, zwischen Landwirtschaft, Industrie und Handel, zwischen geistiger und körperlicher Arbeit, zwischen verschiedenen Nationen, usw. (ebd.). Für Marx ist die Arbeitsteilung ein Ausdruck der Entfremdung: „Die Teilung der Arbeit ist der nationalökonomische Ausdruck von der Gesellschaftlichkeit der Ar‐ beit innerhalb der Entfremdung“ (Marx 1844, 557). Entfremdung meint einen Zustand, bei dem die Menschen keine Kontrolle über die Bedingungen, Strukturen ihres Lebens und die Produkte ihrer Tätigkeit haben. Marx sieht die Arbeitsteilung als „eine der Hauptmächte der bisherigen Geschichte“ (Marx & Engels 1845/ 1846, 46). Laut Marx gehört zur Arbeitsteilung in Klassengesellschaft auch die Teilung zwischen geistiger und körperlicher Arbeit: „Die Teilung der Arbeit wird erst wirklich Teilung von dem Augenblicke an, wo eine Teilung der materiellen und geistigen Arbeit eintritt“ (Marx & Engels 1845/ 1846, 31). Der kritische Theoretiker Alfred Sohn-Rethel argumentiert, dass die Teilung zwischen körperlicher und geistiger Arbeit so alt ist wie die Klassengesell‐ schaften und dass diese auf die Teilung der Arbeit in sklavenhaltenden Gesellschaften zurückgeht, in der Sklav: innen, die körperliche Arbeit ver‐ richteten, während Philosophen, Politiker und Wissenschaftler geistige Tätigkeiten verrichteten. „It is Greek philosophy which constitutes the first historical manifestations of the separation of head and hand in this particular mode” (Sohn-Rethel 1978, 66). Marx beschrieb auch eine Teilung der Arbeit innerhalb der dominanten Klasse des Kapitalismus als Teilung zwischen Intellektuellen, die Ideologie produzieren, und den Kapitaleigentümer: innen: „Die Teilung der Arbeit, die wir schon oben als eine der Hauptmächte der bisherigen Geschichte vorfanden, äußert sich nun auch in der herrschenden Klasse als Teilung der geistigen und materiellen Arbeit, so daß innerhalb dieser Klasse der eine Teil als die Denker dieser Klasse auftritt (die aktiven konzeptiven Ideologen derselben, welche die Ausbildung der Illusion dieser Klasse über sich selbst zu ihrem Hauptnahrungszweige machen), während die Andern sich zu 14.2 Was ist Management? 545 <?page no="546"?> diesen Gedanken und Illusionen mehr passiv und rezeptiv verhalten, weil sie in der Wirklichkeit die aktiven Mitglieder dieser Klasse sind und weniger Zeit dazu haben, sich Illusionen und Gedanken über sich selbst zu machen“ (Marx & Engels 1845/ 1846, 46-47). Die Teilung der Arbeit zwischen Kapitaleigentümer: innen und Mana‐ ger: inne: n ist eine weitere Teilung der Arbeit innerhalb der herrschenden Klasse des Kapitalismus. Der Beruf des Managers und der Managerin hat mit der Arbeitsteilung in komplexen und hochproduktiven Klassengesellschaf‐ ten zu tun. Karl Marx hat im Kapital und den dazugehörigen Vorarbeiten Überlegun‐ gen zu den Grundlagen des Managements angestellt. Er argumentiert, dass mit dem Wachstum des Umfanges der Produktionsmittel, also mit steigender Unternehmensgröße, nicht nur die „Kooperation der Lohnarbeiter“ (Marx 1867, 351) zunimmt, sondern auch für das Kapital „die Notwendigkeit der Kontrolle über“ die „sachgemäße Verwendung der Produktionsmittel“ (Marx 1867, 350-351) wächst. Dazu seien „Plan“ und „Autorität“ (Marx 1867, 351) notwendig, die der Arbeiterschaft „als Macht eines fremden Willens, der ihr Tun“ einem fremden „Zweck unterwirft“ (Marx 1867, 351), entgegentreten. Die „kapitalistische Leitung“ sei „der Form nach despotisch. Mit der Entwicklung der Kooperation auf größrem Maßstab entwickelt dieser Despotismus seine eigentümlichen Formen“ (Marx 1867, 351). „The rise of management has institutionalized the lack of democratic control over the allocation of resources within, and by, work organization“ (Alvesson & Willmott 1996, 12). Marx spricht davon, dass der Kapitalist „die Funktion unmittelbarer und fortwährender Beaufsichtigung der einzelnen Arbeiter und Arbeitergruppen“ abtritt „an eine besondre Sorte von Lohnarbeitern“, die er als industrielle „Oberoffiziere (Dirigenten, managers)“ und „Unterof‐ fiziere (Arbeitsaufseher, foremen, overlookers, contre-maîtres)“ bezeichnet, „die während des Arbeitsprozesses im Namen des Kapitals kommandieren“ (Marx 1867, 351). Die Entstehung des modernen Managements war damit verbunden, dass das „Amt der Direktion“ der Arbeit „auf dem Markt“ verkauft wird (Marx 1861-1863, 487), sodass es zu einer Trennung von Ka‐ pital und „industrial managers“ kam (Marx 1861-1863, 488). Manager: innen haben also eine widersprüchliche Klassenposition, da sie oft vom Kapital hochbezahlt werden, also Lohnarbeiter: innen sind, und zugleich eine das Kapital sichernde Arbeit ausführen, nämlich die Arbeit der Kontrolle der Arbeiterschaft. Wir finden also bereits bei Marx den Begriff des Managers. 546 14 Die Politische Ökonomie des Medienmanagements <?page no="547"?> Die Überwachung und Kontrolle der Arbeitskräfte sind nicht spezifisch für den Kapitalismus. Auch in anderen Klassengesellschaften wie den sklavenhaltenden Gesellschaften gibt es Kontrolleure wie etwa die Sklaven‐ aufseher. Wo es Klassen in der Wirtschaft gibt, gibt es auch Kontrolle und Repressionsmechanismen. Erik Olin Wright argumentiert, dass Manager: innen eine privilegierte, widersprüchliche Klassenposition haben, indem sie die Kontrolle der Arbei‐ ter: innen organisieren und dafür relativ hohe Löhne bezahlt bekommen: „managers and supervisors can be viewed as exercising delegated capitalist class powers in so far as they engage in the practices of domination within production. In this sense they can be considered simultaneously in the capitalist class and the working class: they are like capitalists in that they dominate workers; they are like workers in that they are controlled by capitalists and exploited within production. They thus occupy what I have called contradictory locations within class relation […] to see managers as occupying a privileged position with respect to the process of exploitation which enables them to appropriate part of the social surplus in the form of higher incomes. The specific mechanism through which this appropriation takes place can be referred to as a ‘loyalty rent’. […] [Managers] occupy what might be termed a privileged appropriation location within exploitation relations” (Wright 2000, 16, 17, 18). Auch der Taylorismus als Managementmethode ist ein Ausdruck der Ent‐ wicklung der Arbeitsteilung. Fredrick Winslow Taylor (1856-1915), der Erfinder des Taylorismus, verstand die wissenschaftliche Betriebsführung als Organisation, Planung und Entwicklung der Arbeitsteilung im Produk‐ tionsprozess: „The man in the planning room, whose specialty under scientific management is planning ahead, invariably finds that the work can be done better and more economically by a subdivision of the labor; […] Perhaps the most prominent single element in modern scientific management is the task idea. The work of every workman is fully planned out by the management at least one day in advance, and each man receives in most cases complete written instructions, describing in detail the task which he is to accomplish, as well as the means to be used in doing the work” (Taylor 1911/ 1919, 38-39). 14.2 Was ist Management? 547 <?page no="548"?> Management und Manager: in: Etymologie und Definition Das Wort „managen“ geht zurück auf den lateinischen Begriff manus, was „Hand“ bedeutet, sowie, dass etwas gehandhabt wird. Im Italienischen bildete sich der Begriff maneggiare heraus, der ebenfalls bedeutet, etwas zu handhaben. Ursprünglich bedeutete dieser Begriff die Handhabung von Pferden. Raymond Williams schreibt, dass die Begriffe „Management“, „ma‐ nagen“ und „Manager“ im Englischen seit dem 18. Jahrhundert zunehmend für die Kontrolle wirtschaftlicher Angelegenheiten verwendet worden sind. Manager als Beruf fand im 20. Jahrhundert Eingang in die englische Sprache und andere Sprachen. „The increasingly general C20 [20 th century] sense of management is related to two historical tendencies. First, there was the increasing employment of a body of paid agents to administer increasingly large business concerns. In English these became, with a new emphasis, the managers or the management, as distinct from public agents who were called (from residual reference to the monarchy) civil servants or, more generally, the bureaucracy […] The polite term for semi-public institutions has been the administration (though this is also used as a political synonym for government). […] The second historical tendency was in effect a mystification of capitalist economic relationships […] [management] is an abstract term, and implies abstract and apparently disinterested criteria. […] The description of negotiations between management and men often displaces the real character of negotiations between employers and workers and further displaces the character of negotiations about relative shares of the labour product to a sense of dispute between the general ‘requirements’ of a process (the abstract management) and the ‘demands’ of actual individuals (men). The internal laws of a particular capitalist institution or system can then be presented as general, abstract or technical laws, as against the merely selfish desires of individuals. This has powerful ideological effects” (Williams 1983, 140-141). Williams betont also, dass das Management einerseits Ausdruck der realen Arbeitsteilung und Klassenstruktur des Kapitalismus ist und andererseits ein ideologischer Begriff, der einen Beruf impliziert, der neutral, attraktiv und erstrebenswert ist und hilft, Klassenkonflikte zwischen Arbeit und Kapital zu verdecken. Management wird in dieser Ideologie mit Organisation und organisieren assoziiert, was nicht automatisch negativ besetzte Ausdrücke sind. 548 14 Die Politische Ökonomie des Medienmanagements <?page no="549"?> Auf Basis des bisher Gesagten können wir eine: n Manager: in folgender‐ maßen definieren: Bei einem Manger/ einer Managerin handelt es sich um einen bezahlten Beruf, der Teil eines arbeitsteilig und klassenförmig organisierten Unternehmens ist, dessen Rolle die Organisation, Planung, Ko‐ ordinierung und Kontrolle des Produktionsprozesses und der Arbeiterschaft ist, sodass die Partialinteressen der Eigentümer: innen durchgesetzt werden sollen. Es gibt dabei eine Hierarchie und ein Machtgefälle zwischen Manage‐ ment und den Gemanagten/ Arbeitenden, sodass das Management als von den Arbeitenden getrennte Gruppe und Technokratie (Expert: innengruppe, die auf der Basis von technologischer Rationalität und instrumenteller Ver‐ nunft agiert) die zentralen Entscheidungen trifft. In vielen kapitalistischen Unternehmen haben Manager: innen eine widersprüchliche multiple Klas‐ senposition, indem sie zugleich Lohnarbeit verrichten und die Interessen des Kapitals durch die Arbeit der Kontrolle der Arbeit durchsetzen. In kapitalistischen Organisationen setzt das Management Methoden ein, die auf die Effektivierung (Akkumulation von mehr Kapital und Produktion von mehr Waren) und Effizienzsteigerung (Erhöhung der Produktivität, sodass mehr Waren, Wert und Profit in kürzerer Zeit produziert werden) der Kapitalakkumulation und der Warenproduktion abzielen. Das Management behandelt die Arbeitenden dabei als Mittel zum Zweck und reduziert sie auf den Status von Dingen, weswegen im Management häufig auch von Menschen als „Humankapital“ gesprochen wird. Das Management ist eine Form des instrumentellen Handelns und der instrumentellen Vernunft, die verdinglichend wirken. Das bedeutet, dass die Menschen von Manager: in‐ nen zu Instrumenten gemacht werden, um durch sie äußerliche Zwecke, die nicht ihren Interessen entsprechen, zu erreichen. Manager: innen erhalten höhere Löhne als reguläre Arbeitende, eine Art Mehrlohn, mit dem ihre Loyalität und wichtige Kontrollfunktion im Produktionsprozess belohnt werden. Dieser Extralohn entsteht durch Abzüge von den Löhnen der regulären Arbeitenden. Ein dabei heute typisches Phänomen sind die Bo‐ nuszahlungen („Boni“) von Spitzenmanager: innen. Es gibt viele Ansätze, die Management und Manager: innen abstrakt und unabhängig von der Arbeitsteilung und Klassenverhältnissen definieren. Solche Verständnisse findet man recht häufig in der Managementtheorie und in der Ratgeberliteratur. Hier sind einige Beispiele: 14.2 Was ist Management? 549 <?page no="550"?> 68 Daft gibt auch eine Definition des Managements, die zugesteht, dass es sich um einen Prozess handelt, bei dem es um Kontrolle, Instrumentalität und Hierarchie geht: „Management is defined as the attainment of organizational goals in an effective and efficient manner through planning, organizing, leading, and controlling organizational resources” (Daft 2022, 7). ● „a manager is someone who gets things done with the aid of people and other resources. Management is the activity of getting things done with the aid of people and other resources” (Boddy 2017, 11). ● „Management is what ‘managers’ do, typically in a business or other or‐ ganization, or it is a collective term for these managers, when contrasted with other employees (‘labour’ or ‘workers’) who don’t have the same responsibilities. Managing, in this context, has strong connotations of being in control, of directing things, of designing and implementing systems and processes. […] The word originates from a Latin term for handling or controlling a horse, and it was gradually extended from controlling horses to controlling weapons, boats, people, and, in Britain, affairs more generally“ (Hendry 2013, 1-2). „The defining characteristic of management is responsibility for an organization or organizational unit and for the work of its members“ (Hendry 2013, 12). ● „Management is defined as the efficient and effective pursuit of organi‐ zational goals” (Kinicki & Breaux Soignet 2022, 4). Management „is de‐ fined as (1) the pursuit of organizational goals efficiently and effectively by (2) integrating the work of people through (3) planning, organizing, leading, and controlling the organization’s resources“ (Kinicki & Breaux Soignet 2022, 5). ● „Managers get things done by coordinating and motivating other peo‐ ple” (Daft 2022, 7) 68 . In diesen Definitionen haben Manager: innen und Management damit zu tun, Dinge zu erledigen, etwas zu organisieren, Verantwortung zu übernehmen, etwas zu leiten und Prozesse zu gestalten. So weit gefasst managen wir alle ständig etwas in unserem Leben, das heißt, alle Menschen sind auf die eine oder andere Weise Manager: innen. Die Aufblähung der Bedeutung der Begriffe Manager: in und Management macht diese jedoch bedeutungslos. Indem sie Manager: innen und Management als anthropologische Merkmale der Menschheit und der Gesellschaft definieren, erwecken Managementthe‐ oretiker: innen und Management-Gurus den Eindruck, dass beides natürli‐ che Merkmale der menschlichen Existenz seien. Es wird dabei impliziert, 550 14 Die Politische Ökonomie des Medienmanagements <?page no="551"?> dass das Phänomen des Managements, wie wir es heute als Teil von Klassen‐ beziehungen und kapitalistischen Organisationen kennen, zum Wesen aller Gesellschaften gehöre, also ein natürliches Gesellschaftsmerkmal darstellt. Solche Definitionen naturalisieren daher ideologisch den Kapitalismus. Sie lassen ein Verständnis des historischen Charakters von Manager: innen und Management vermissen. Es gibt einen Unterschied zwischen Organisa‐ tor: innen und Organisation auf der einen Seite und Manager: inne: n und Management auf der anderen Seite. Marx bezeichnet solche ideologischen Naturalisierungen geschichtlicher Phänomene als Fetischismus. Der Fetischismus ist eine Ästhetik und Ideo‐ logie, bei der gesellschaftliche Verhältnisse hinter Dingen verschwinden und bestimmte gesellschaftliche Phänomene verdinglicht werden, also zu Din‐ gen erklärt werden oder als Dinge erachtet werden. „Formen, denen es auf der Stirn geschrieben steht, daß sie einer Gesellschaftsformation angehören, worin der Produktionsprozeß die Menschen, der Mensch noch nicht den Produktionsprozeß bemeistert, gelten ihrem bürgerlichen Bewußtsein für ebenso selbstverständliche Naturnotwendigkeit als die produktive Arbeit selbst” (Marx 1867, 96-97). Marx kritisiert, dass einige Ökonomen und Philosophen Begriffe wie Kapital, Ware, Tausch, Arbeitsteilung, usw. als ewige Naturnotwendigkeiten definieren und analysieren. Management und Manager: innen sind Teile dieser Begriffe, die den Klassengesellschaften und dem Kapitalismus als Gesellschaftsformationen angehören, und oft fetischisiert werden. Management-Gurus, Manager: innen, Neoliberale und Managementtheoretiker: innen fetischisieren oft das Management. “[They] mystify, more or less consciously, the power relations that shape the formation and organization of management“ (Alvesson & Willmott 1996, 38). CEOs in transnationalen Digitalkonzernen Es ist eine nicht seltene Praxis in großen Aktiengesellschaften, dass Ma‐ nager: innen teilweise mit Aktienoptionen belohnt werden und dass Unter‐ nehmensgründer: innen, die derzeitige oder ehemalige geschäftsführende Direktor: inn: en (Chief Executive Officers, CEOs) sind, Großaktionär: innen sind. Die nächste Tabelle zeigt einige Beispiele aus der digitalen Technolo‐ giebranche. 14.2 Was ist Management? 551 <?page no="552"?> Unterneh‐ mer Gründer CEO im Jahr 2022 Größte Ei‐ gentümer von Stamm‐ aktien (% des Aktienbesit‐ zes) Anteil an der Stimmkraft (%) Amazon Jeff Bezos Andrew Jassy (CEO), Jeff Bezos (Executive Chairman) Bezos: 12,7% Vanguard Group: 6,6% BlackRock: 5,7% Bezos: 12,7% Vanguard Group: 6,6% BlackRock: 5,7% Apple Steve Jobs, Steve Woz‐ niak, Ro‐ nald Wayne Tim Cook Vanguard Group: 7,7% BlackRock: 6,5% Berkshire Ha‐ thaway/ Warren E. Buffet: 5,6% Cook: 0,02% Vanguard Group: 7,7% BlackRock: 6,5% Berkshire Ha‐ thaway/ Warren E. Buffet: 5,6% Cook: 0,02% Alphabet/ Google Larry Page, Sergey Brin Sundar Pi‐ chai Class B stock: Page: 43,9%, Brin: 41,8% Page: 26,2%, Brin: 24,9% Microsoft Bill Gates, Paul Allen Satya Na‐ della Vanguard Group: 8,2% BlackRock: 6,9% Vanguard Group: 8,2% BlackRock: 6,9% Alibaba Jack Ma Daniel Zhang Softbank: 23,9% Softbank: 23,9% Meta Platforms/ Facebook Mark Zu‐ ckerberg, Eduardo Sa‐ verin Mark Zu‐ ckerberg Class B stock: Zuckerberg: 88,7% Zuckerberg: 56,9% Tabelle 14.1: Top-Manager und Gründer von großen Digital-Unternehmen und ihre Eigen‐ tums- und Stimmrechtsbefugnisse, Datenquelle: Proxy Statements der Unternehmen 2022 [Alibaba: Jahresbericht 2022] Google und Facebook sind Beispiele für Tech-Konzerne, bei denen die Gründer auch als CEOs agier(t)en und den Großteil der Aktien und der Stimmrechte besitzen. Bei Alphabet/ Google ist Sundar Pichai seit 2015 CEO. Zuvor war Larry Page, der gemeinsam mit Sergey Brin Google gründete, von 2011 bis 2015 der CEO des Unternehmens. Pichai hatte (zumindest bis) 2022 552 14 Die Politische Ökonomie des Medienmanagements <?page no="553"?> nur wenig Aktieneigentum und keine Stimmrechte bei Alphabet/ Google. Sein Gehalt war im Finanzjahr 2021 6.322.599 US-Dollar. Er ist also ein klassischer hochbezahlter Top-Manager, der kein Eigentümer ist, sondern ein Lohnarbeiter, der die für die Kontrolle und Organisation der Arbeit zuständig ist. Mark Zuckerberg ist hingegen ein Beispiel für einen Unterneh‐ mensgründer, der zugleich Haupteigentümer und der Top-Manager (CEO, geschäftsführender Direktor) ist, also zugleich Kapitalist und Manager. In anderen Unternehmen wie Google oder Microsoft haben Gründer, die als Top-Manager agierten, die Rolle des CEOs an andere Leute abgegeben. Die Beispiele in der Tabelle verdeutlichen auch, dass Investmentunternehmen wie die Vanguard Group, BlackRock und SoftBank große Eigentumsanteile an Tech-Unternehmen halten. Dies verdeutlicht die Verkopplung von Fi‐ nanzkapital und digitalem Kapital. Die selbstverwalteten Betriebe Es gibt auch Unternehmen, die nichtkapitalistisch organisiert sind, also keinen Profit machen. Handelt es sich um Arbeiterkooperativen, die auch als Kooperativunternehmen, Kooperativen, selbstverwaltete Betriebe oder Ar‐ beitergenossenschaften bekannt sind, so sind die Produktionsmittel und der Betrieb im Kollektivbesitz die Arbeitenden und es gibt demokratische Ent‐ scheidungsstrukturen. Die wesentlichen Entscheidungen werden von allen Arbeitenden gemeinsam getroffen. Es gibt also in selbstverwalteten Betrie‐ ben kein Management, sondern Selbstorganisation und Selbstverwaltung. Im Englischen wird auch der Begriff des „self-management“ verwendet, der am besten mit „Selbstverwaltung“ übersetzt wird. „Self-management“ weist darauf hin, dass bei der Selbstverwaltung die Fremdbestimmung der Organisation in Unternehmen aufgehoben wird und demokratische Entscheidungsstrukturen geschaffen werden, bei denen die Produzent: innen gemeinsam festlegen, wie Entscheidungen getroffen werden. Selbstverwal‐ tung ist kein Beruf wie der eines Managers, daher gibt es auch nicht den Beruf des Selbstverwalters. Die Selbstverwaltung ist also keine Form des Managements, denn die Arbeitsteilung und undemokratische Entschei‐ dungsfindung sind ein immanenter Teil des Managements. Handelt es sich um komplexe Organisationen, so wird in selbstverwal‐ teten Betrieben oft die Delegation von Organisationsarbeit notwendig, was die demokratische Auswahl und Legitimierung von Organisator: innen notwendig macht. Entscheidend dabei ist, dass die Arbeiterschaft kollektiv 14.2 Was ist Management? 553 <?page no="554"?> demokratische Entscheidungen über ihre eigenen Organisationsstrukturen trifft. Dies ist eine gute Voraussetzung dafür, dass sich die Entscheidungs‐ macht nicht wie in kapitalistischen Unternehmen verselbständigt. Es besteht jedoch immer auch die Gefahr, dass Organisator: inn: en zu Manager: inne: n werden, also zu Personen, die eine undemokratische Ent‐ scheidungsmacht über die Vorgänge im Unternehmen haben und alleine oder als kleine Gruppe agieren und Partialinteressen gegen die Interessen der Arbeiterschaft durchsetzen. Kollektives Eigentum an Unternehmen wie zum Beispiel in der Form von öffentlichem Eigentum oder Selbstverwaltung ist nicht automatisch eine Ga‐ rantie für demokratische Entscheidungsstrukturen. Auch innerhalb kollekti‐ ver Eigentumsstrukturen können undemokratische Managementstrukturen geschaffen werden, die mit stark asymmetrischer Entscheidungsmacht und einer starken Ungleichverteilung der Löhne einhergehen. Marx (1894, 401) argumentiert, dass in der Kooperativfabrik „der gegen‐ sätzliche Charakter der Aufsichtsarbeit“ wegfällt, „indem der Dirigent von den Arbeitern bezahlt wird, statt ihnen gegenüber das Kapital zu vertreten“. In der Kooperativfabrik ist „der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit […] aufgehoben, wenn auch zuerst nur in der Form, daß die Arbeiter als Assoziation ihr eigener Kapitalist sind, d. h. die Produktionsmittel zur Verwertung ihrer eignen Arbeit verwenden“ (Marx 1894, 456). Marx sieht einen der Vorteile der Kooperativen in der Aufhebung des Managements. Er schreibt, dass die Kooperativfabriken zeigen, dass moderne Produktion „ohne die Existenz einer Klasse von Meistern (masters), die eine Klassen von ‚Händen‘ anwendet“ (Marx 1864, 11), funktionieren kann und dass die „assoziierte Arbeit“ (Marx 1864, 12) zeige, dass „um Früchte zu tragen, die Mittel der Arbeit nicht monopolisiert zu werden brauchen als Mittel der Herrschaft über und Mittel der Ausbeutung gegen den Arbeiter selbst“ (Marx 1864, 11). Die Ökonomie determiniert nicht die Politik. Demokratische Entschei‐ dungsstrukturen folgen nicht automatisch aus demokratischen Eigentums‐ strukturen. Dennoch erleichtert die Demokratisierung des Eigentums auch die Demokratisierung der politischen Ökonomie, inklusive der Entschei‐ dungsmacht. Es gibt jedoch keine Garantie gegen das Abgleiten in den Managerialismus. In diesem Abschnitt haben wir einige Grundlagen des Managements kennengelernt. Es wurde verdeutlicht, was das Management ist und wie 554 14 Die Politische Ökonomie des Medienmanagements <?page no="555"?> es entstanden ist. Im nächsten Abschnitt werden wir uns mit der Frage beschäftigen, worum es sich beim Medienmanagement handelt. 14.3 Was ist Medienmanagement? Medienmanagement ist nicht nur eine Berufskategorie in der Medienindus‐ trie, zu der Manager: innen in Medienunternehmen zählen, sondern auch ein akademisches Teilfeld der Medien- und Kommunikationswissenschaften, zu dem Studiengänge, Lehrveranstaltungen, Publikationen, Konferenzen etc. gehören. „In a media saturated world where cultural production and consumption dominate everyday life, it is not surprising schools, depart‐ ments, programs, and courses in information science, (tele-)communication, journalism, and (digital) media studies attract more students every year. […] The vast majority of undergraduate and graduate students majoring in these disciplines want to either work in media industries, manage media companies, or study and understand how the industry and its creative process work“ (Deuze & Steward 2011, 2). Sehen wir uns einige Charakterisierungen des Medienmanagements an: ● „Medienmanagement bedeutet zum einen das Management von Medien als deren bewusste Gestaltung und zum anderen das Management von Medienunternehmen. […] Medien sind gleichzeitig Wirtschaftsgüter und Kulturgüter, Medienunternehmen damit gleichzeitig betriebswirt‐ schaftliche Einheiten und kulturelle Akteure. Die resultierenden Span‐ nungsfelder sind Kunst versus Kommerz, Grundversorgung versus Elite, Information versus Unterhaltung” (Scholz 2006, 13). ● „Im Rahmen der Medienökonomie lassen sich gegenwärtig zwei Grundströmungen feststellen: Zum einen die eher volkswirtschaftlich orientierte Media Economics (teilweise auch als ‚Medienökonomie‘ und ‚Medienwirtschaft‘ bezeichnet), zum anderen das eher betriebs‐ wirtschaftlich orientierte Media Management (‚Medienmanagement‘)“ (Scholz 2006, 33). ● „Media management encompasses all the goal-oriented activities of planning, organization, and control within the framework of the crea‐ tion and distribution of information or entertainment content in media enterprises” (Wirtz 2020, 12). 14.3 Was ist Medienmanagement? 555 <?page no="556"?> ● Medienmanagement muss die komplexen Faktoren der Medien berück‐ sichtigen. Dazu zählen: „content, process, people, technology, and all other variables - not in the least including the implicit and unconscious aspects of organizational life such as beliefs, values, and emotions that can have a tremendous influence on planning and behavior. Managing media work is necessarily made up of both material and immaterial factors, which must be considered in conjunction. In other words, a key approach to media management is focusing on the many resources (both human and nonhuman) that combine to form the source of all media action“ (Deuze & Steward 2011, 3). Medienmanagement als Beruf hat zwei Anwendungskontexte. Es hat einer‐ seits mit dem Management von Medienorganisationen, also Unternehmen in der Medienindustrie, die Produktion, Distribution und Konsum von Information organisieren, zu tun. Andererseits hat es mit dem Management von Medien in Unternehmen im Allgemeinen zu tun. Die Leitung einer Abteilung für digitales Marketing in einem Automobilkonzern ist also ebenso Teil des Bereiches des Medienmanagements wie die Leitung eines Buchverlages oder eines Filmproduktionsunternehmens. Es geht dabei also um die Organisation, Kommandierung und Kontrolle der Medienarbeiten‐ den und der Ressourcen, die in Medienunternehmen und Medienabteilungen existieren. Medienmanagement ist nicht nur eine Tätigkeitsbezeichnung in der Wirtschaft, sondern auch der Name eines Analysefeldes, das sich mit der Analyse des Medienmanagements beschäftigt. Scholz (2006, 36) schreibt, dass zum Medienmanagement das Management von Medien in Unternehmen und das Management von Medienunterneh‐ men zählen. Bei Medienmanagement müsse man als Kontexte Medienwis‐ senschaft, Mediengeschichte, Medienrecht, Medienpolitik, Medientechnik, Medienökonomie, Medienethik, Medientheorie und Medienpsychologie be‐ rücksichtigen. Deuze und Steward (2011, 5-9) argumentieren, dass Medienmanager: in‐ nen zwar auf der Mikroebene der Medienunternehmen operieren, aber auch Aspekte der Mesoökonomie und der Makroökonomie verstehen müssen. Sie identifizieren daher drei relevante Ebenen des Medienmanagements (Deuze & Steward 2011, 5-9). Es ist dabei zu beachten, dass die Meso-Ebene dabei als die Organisationsebene verstanden wird. Organisationen werden in vielen Ansätzen aber als Teil der Mikroebene, also der Betriebswirtschaft, erachtet. 556 14 Die Politische Ökonomie des Medienmanagements <?page no="557"?> Für Deuze und Steward ist die institutionelle Ebene der Medienmärkte Teil der Makroebene. 1. Die Mikro-Ebene des Medienmanagements: Ebene der Indivi‐ duen, zwischenmenschliche Kommunikation/ Arbeitsplatzkommunika‐ tion, soziale Beziehungen am Arbeitsplatz, individuelle Fähigkeiten, berufliche Identitäten, Arbeitszufriedenheit, Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben (Work-Life-Balance), neue Technologien und individu‐ elle Fähigkeiten, usw. 2. Die Meso-Ebene des Medienmanagements: Organisationsebene, organisatorische Methoden und Techniken: fordistische Management‐ methoden, partizipatives Management, etc.; Organisationskultur: Philo‐ sophie, Organisationsstrategie, Werte/ Ethos, soziale Verantwortung der Unternehmen, Arbeitsplatzkultur, Image/ Reputation/ Öffentlichkeitsar‐ beit (PR), Organisationspolitik, Managementstil, Veränderung von Or‐ ganisationen durch neue Technologien, usw. 3. Die Makro-Ebene des Medienmanagements: Die Wirtschaft als Totalität, Weltwirtschaft, globale Medienorganisationen, internationale Arbeitsteilung, internationale Märkte für Waren und Arbeitskräfte, Branchenebene, Wettbewerbsstrukturen, Medienkonzentration, politi‐ sche Regulierung der Wirtschaft, Veränderungen der Weltwirtschaft durch neue Technologien. Mierzejewska (2011) identifiziert einige Faktoren des Medienmanagements: ● Neue Technologien stehen oft im Zusammenhang mit dem Wandel von Märkten, Fähigkeiten, Geschäftsmodellen, den Wünschen, Bedürfnissen und Anforderungen des Publikums und der Nutzer: innen, den Medien‐ arten, der Medienorganisation, usw. ● Transnationale Medienorganisationen ● Kulturelle Herausforderungen: In einer Organisation gibt es mehrere Kulturen, die miteinander in Einklang gebracht werden müssen. ● Führung: Medienarbeit ist kreative Arbeit und erfordert daher einen besonderen Führungsstil. Medienorganisationen sind zugleich wirtschaftlicher und kultureller Na‐ tur. Das Medienmanagement ist daher immer mit mehreren Aspekten gleichzeitig konfrontiert. Dazu gehören zum Beispiel Technik/ Inhalt, Produktion/ Vertrieb/ Konsum (Prosumtion), menschliche Aspekte/ physi‐ 14.3 Was ist Medienmanagement? 557 <?page no="558"?> sche Aspekte, Finanzmanagement/ Kreativitätsmanagement, bewusste Pro‐ zesse/ unbewusste Prozesse, individuelle/ soziale Aspekte. Charles Brown (2016) plädiert für ein kritisches Medienmanagement, was bedeutet, dass diejenigen, die Medien studieren, mit ihnen arbeiten und sie managen, sich kritisch mit den gesellschaftlichen, organisatorischen, individuellen und technologischen Aspekten der Medien auseinandersetzen sollten. Er argumentiert, dass Critical Management Studies, also die kritische Analyse des Managements, mit der Analyse des Medienmanagements zum kritischen Medienmanagement kombiniert werden sollte. Eine derartige Analyse müsse den Fokus auf die Tätigkeiten der Medienmanager: innen und der Medienarbeiter: innen, der verwendeten Technologien, Medien und organisatorischen Rahmenbedingungen im Kontext der gesellschaftlichen Umweltfaktoren richten (siehe Brown 2016, 95). „Perhaps the primary focus of media management research is the respective and interdependent organisation and the managers and media workers within that organisation. A non-reductionist approach recognises that such organisations and workers are influenced by external environmental factors and also their own values and further that there are contradictions as well as overlapping interests. In the critical view, these are not fixed and immutable but rather develop over time through reflexive interaction (hence the porous boundaries delineating these entities in the diagram). These agents, in turn, use generic tools derived from management science and other tools and techniques that are specific to particular disciplines (e.g. sociology, anthropology, political science, audience studies, production studies, etc.)” (Brown 2016, 96). Medienmanagement, Medienarbeit und Medienorganisationen, die auf der Mikroebene der Wirtschaft angesiedelt sind, können nur richtig verstanden werden, wenn sie im Kontext der Institutionen der Wirtschaft und der Gesellschaft sowie der Strukturen, Dynamiken, Widersprüche, Praktiken, Machtverhältnisse und Kämpfe der Gesellschaft, also der Gesellschaft als Totalität, situiert werden. Die betriebswirtschaftliche Analyse des Medien‐ managements und der Medienorganisationen vergisst häufig die politische Ökonomie und ist daher oft reduktionistisch, affirmativ und instrumentell. Die Analyse des Medienmanagements, der Medienarbeit und der Medien‐ organisationen können nur adäquat operieren, wenn Sie als Teilaspekt der Politischen Ökonomie der Medien und der Kommunikation erachtet werden. 558 14 Die Politische Ökonomie des Medienmanagements <?page no="559"?> Nachdem wir uns mit Grundlagen des Medienmanagements auseinander‐ gesetzt haben, werden wir uns nun verschiedene Managementmethoden ansehen und diskutieren, welche Rolle sie heute im Informationssektor spielen. 14.4 Fordistisch-tayloristisches und postfordistisches Management Fordismus und Taylorismus Beim Taylorismus handelt es sich um eine Managementmethode, die auf Fredrick Winslow Taylor (1856-1915) zurückgeht und die zuerst in den Au‐ tofabriken von Henry Ford (1863-1947) eingesetzt wurde. Der Taylorismus ist ein wichtiger Aspekt der Arbeitsorganisation des auf Massenproduktion und Massenkonsum beruhenden Produktionsmodells des Fordismus. Die Fließbandarbeit ist eine klassische Anwendung des Taylorismus. Füh‐ ren Sie Aufgabe 14.1 (im Übungsteil am Ende dieses Kapitels) aus. Sie werden sich dabei eine Szene aus Charlie Chaplins Film Modern Times ansehen, in der es um die Fließbandarbeit und eine Kritik am Taylorismus geht. Modern Times ist eine Persiflage auf die tayloristische Arbeitsorganisation und die Probleme, die diese mit sich bringt. Der Taylorismus war die dominante wissenschaftlich-technische Organi‐ sationsweise der Arbeit im Fordismus. Der Fordismus als Kapitalakkumu‐ lationsregime existierte von den Anfängen des 20. Jahrhunderts bis in die 1970er-Jahre. Er hat heute nicht aufgehört zu existieren, der Kapitalismus wurde jedoch um ein flexibles Akkumulationsregime und neue Manage‐ mentformen erweitert. Der Fordismus ist u. a. gekennzeichnet durch industrielle Massenpro‐ duktion, angelernte Arbeit, die Standardisierung der Arbeit am Fließband, Hierarchien, Kontrolle, relative hohe Löhne, starke Gewerkschaften, den Taylorismus, die Rationalisierung der Produktion, große Firmenkomplexe, die Kombination von Massenproduktion und Massenkonsum, die Konsum‐ kultur, die Konsumideologie, die Kulturindustrie und die Standardisierung der Produkte. Im Fordismus erwarteten sich die Unternehmer steigende Profite durch einen positiven Kreislauf des Fordismus: höhere Produktivität durch taylo‐ ristische Methoden à steigende Löhne à mehr Nachfrage à höhere Profite à 14.4 Fordistisch-tayloristisches und postfordistisches Management 559 <?page no="560"?> mehr Investionen à höhere Produktivität durch tayloristische Methoden à steigende Löhne à mehr Nachfrage à höhere Profite à … Der Fordismus war in vielen Ländern gekoppelt mit der Ausbildung keynesianischer Wohlfahrtsstaaten, in denen es staatliche Eingriffe in die Wirtschaft, die Stärkung der Arbeiterrechte und die Einführung sozialstaat‐ licher Dienste und Versicherungsleistungen gab. Ab Mitte der 1960er-Jahre war der Fordismus mit Problemen konfrontiert. Dazu gehörten u. a. die internationale Konkurrenz, Grenzen der zentralen Planung der Produktion, der Anstieg der Lohnkosten und die Abschwä‐ chung des Produktivitätswachstums. Taylor war Maschinenbauingenieur. Er fragte sich, wie die industrielle Effizienz verbessert werden kann und entwickelte dazu die Methode der wissenschaftlichen Betriebsführung (Scientific Management), die er in seinem Buch The Principles of Scientific Management (Taylor 1911/ 1919) dokumentierte. Der Taylorismus versteht sich als Wissenschaft, die das Wissen der Arbeiterschaft sammelt, aufzeichnet, misst und tabellarisch darstellt, um die effizienteste und rationellste Art und Weise, die Produktion zu organisieren, zu identifizieren. „The managers assume, for instance, the burden of gathe‐ ring together all of the traditional knowledge which in the past has been possessed by the workmen and then of classifying, tabulating, and reducing this knowledge to rules, laws, and formulae which are immensely helpful to the workmen in doing their daily work” (Taylor 1911/ 1919, 36). Der Taylorismus ist eine Managementmethode, also eine spezifische Weise der Arbeitsteilung zwischen Management und Arbeiter: innen und der Trennung von planenden und ausführenden Tätigkeiten: „Thus all of the planning which under the old system was done by the workman, as a result of his personal experience, must of necessity under the new system be done by the management in accordance with the laws of the science; because even if the workman was well suited to the development and use of scientific data, it would be physically impossible for him to work at his machine and at a desk at the same time. It is also clear that in most cases one type of man is needed to plan ahead and an entirely different type to execute the work” (Taylor 1911/ 1919, 38). Beim Taylorismus als Methode gibt es fünf Schritt der wissenschaftlichen Betriebsführung: 1. Auswahl, 2. Analyse, 3. Vergleich der Bewegungsabläufe, 4. Eliminierung, 5. Optimierung. 560 14 Die Politische Ökonomie des Medienmanagements <?page no="561"?> 1. Auswahl: „First. Find, say, 10 or 15 different men (preferably in as many separate establishments and different parts of the country) who are especially skilful in doing the particular work to be analysed” (Taylor 1911/ 1919, 117). 2. Analyse: „Second. Study the exact series of elementary operations or motions which each of these men uses in doing the work which is being investigated, as well as the implements each man uses” (Taylor 1911/ 1919, 117). 3. Vergleich der Bewegungsabläufe: „Third. Study with a stop-watch the time required to make each of these elementary movements and then select the quickest way of doing each element of the work” (Taylor 1911/ 1919, 117). 4. Eliminierung: „Fourth. Eliminate all false movements, slow move‐ ments, and useless movements” (Taylor 1911/ 1919, 117). 5. Optimierung: „Fifth. After doing away with all unnecessary move‐ ments, collect into one series the quickest and best movements as well as the best implements. This one new method, involving that series of motions which can be made quickest and best, is then substituted in place of the ten or fifteen inferior series which were formerly in use. This best method becomes standard, and remains standard, to be taught first to the teachers (or functional foremen) and by them to every workman in the establishment until it is superseded by a quicker and better series of movements. In this simple way one element after another of the science is developed” (Taylor 1911/ 1919, 117-118) Ein Beispiel für den Taylorismus war die Bethlehem Steel Corporation, bei der die Wissenschaft des Schaufelns angewendet wurde. Es gab verschie‐ dene Schaufelgrößen für unterschiedliche Materialien. Es wurde gemessen, wie lange es dauert, eine bestimmte Menge eines bestimmten Materials mit verschiedenen Arten von Schaufeln zu schaufeln. Die Arbeitenden erhielten Aufgaben auf einem Blatt Papier, anstatt darauf zu warten, dass ihr Vorgesetzter/ Vorarbeiter ihnen zeigt, was sie an einem bestimmten Tag zu tun haben. Die Arbeitsaufgaben wurden im Voraus geplant. Frank B. Gilbreth war ein Bauunternehmer und Berater, der in seinem Betrieb Zeit- und Bewegungsstudien als Teil einer Wissenschaft des Maurerhandwerks durchführte. Die Anzahl der für die Verlegung eines Ziegels erforderlichen Arbeitsschritte wurde reduziert. 14.4 Fordistisch-tayloristisches und postfordistisches Management 561 <?page no="562"?> Marx analysierte verschiedene Methoden, die Unternehmen einsetzen, um mehr Wert, Waren und Profit zu produzieren. Eine davon ist die Methode der relativen Mehrwertproduktion, bei der „eine Verändrung im Arbeitspro‐ zess“ stattfindet, „wodurch die zur Produktion einer Ware gesellschaftlich erheischte Arbeitszeit verkürzt wird, ein kleinres Quantum Arbeit also die Kraft erwirbt, ein größres Quantum Gebrauchswert zu produzieren“ (Marx 1867, 333). Der Taylorismus ist eine Managementmethode, die zur relativen Mehrwertproduktion eingesetzt wird. Durch die Erhöhung der Geschwindigkeit der Arbeit sollen mehr Waren in kürzerer Zeit produziert werden, also die Produktivität der Arbeit erhöht werden. Die Hauptkritik am Taylorismus ist, dass er die Entfremdung der Arbeit vorantreibt und zu Monotonie durch die anstrengende Wiederholung der‐ selben Bewegungen sowie zur Dequalifizierung der Arbeiter: innen führt. Diese Kritik wurde u. a. von Harry Braverman (1974) formuliert. Braverman schuf die Arbeitsprozesstheorie (Labour Process Theory). Der Taylorismus sei unmenschlich, er entmenschliche die Produktion und entqualifiziere die Menschen. Arbeitende werden dabei wie Maschinen behandelt: „The physical processes of production are now carried out more or less blindly […] The production units operate like a hand, watched, corrected and controlled by a distant brain” (Braverman 1974/ 1998, 125). Der Taylorismus führt zur „the progressive alienation of the process of production from the worker” (Braverman 1974, 58) Der Taylorismus wurde zwar für die klassische Fließbandproduktion im Fordismus geschaffen, existiert aber auch heute noch in verschiedenen Formen. Bei McDonald’s werden Burger wie am Fließband produziert. Die Fließbandarbeit ist weiterhin von Bedeutung, zum Beispiel bei der Montage von Computerhardware in Unternehmen wie Foxconn. In Kapitel 10 wurde Foxconn als Beispiel digitaler Arbeit diskutiert. In dem Unternehmen wer‐ den tayloristische Methoden eingesetzt. Militärischer Drill, Überwachung und Strafen werden verwendet, um zu versuchen, dass die Arbeiter: innen immer schneller arbeiten und dadurch immer mehr iPhones und andere Technologien pro Tag zusammengebaut werden. Die Arbeiter: innen werden entmenschlicht und wie Maschinen behandelt. „In order to maximize pro‐ ductivity, workers at Foxconn are made to work like machines. They have to work continuously for more than 10 hours a day. They cannot stop for a second. ‘I think we are even faster than machines’, a worker at the Longhua campus pointed out” (SACOM 2010, 10). 562 14 Die Politische Ökonomie des Medienmanagements <?page no="563"?> Der Taylorismus ist heute also nicht tot, sondern hochlebendig. Das Management, also die Kontrolle der Arbeiter: innen, wurde aber um neue Methoden erweitert, die auch unter dem Begriff des postmodernen Manage‐ ment diskutiert werden. Das postfordistische Management Die Büros von Google sehen nicht aus wie traditionelle Arbeitsplätze. Es gibt Spielplätze, Sportplätze, Restaurants, Entspannungsbereiche, Un‐ terhaltungsmöglichkeiten, Vorträge von Intellektuellen, usw. Bei Google verschwimmen die Grenzen zwischen Arbeitsplatz und zuhause, Arbeitszeit und Freizeit, Arbeit und Spaß (Playbour: Play & Labour), Produktion und Konsum, usw. Arbeit bei Google ist durch eine (Pseudo-)Spaßkultur und Gratisangebote am Arbeitsplatz (Essen, Sport, Kultur, Weiterbildung, Sozia‐ lisierung, Unterhaltung) gekennzeichnet. Führen Sie Übung 14.2 durch (am Ende dieses Kapitels). Es geht dabei um die Arbeit bei Google. Die Übung verdeutlicht, dass Google neue Managementmethoden anwendet, die sich vom Taylorismus unterscheiden. Das Leben der Angestellten soll angenehm gestaltet werden, damit sie mög‐ lichst viel Zeit im Unternehmen verbringen. Das Management erhofft sich dadurch, dass die Leute dadurch insgesamt mehr und produktiver arbeiten. Solche Strategien werden auch als postfordistische Managementmethoden bezeichnet. Wir haben bereits die Methode der relativen Mehrwertproduktion ken‐ nengelernt. Eine weitere Methode der Mehrwertgenerierung, die Marx analysiert, ist die absolute Mehrwertproduktion. „Durch Verlängrung des Arbeitstags produzierten Mehrwert nenne ich absoluten Mehrwert“ (Marx 1867, 334). Absolute Mehrwertproduktion bedeutet die „Verlängrung des Ar‐ beitstags über den Punkt hinaus, wo der Arbeiter nur ein Äquivalent für den Wert seiner Arbeitskraft produziert hätte“ (Marx 1867, 532). Der Arbeitstag besteht aus dem Teil, in dem die Arbeitenden das Äquivalent ihres Lohnes produzieren, die notwendige Arbeitszeit, und der Mehrarbeitszeit, jenem Teil des Arbeitstages, in dem sie unbezahlt für das Kapital arbeiten und Mehrwert generieren, aus dem der Profit entsteht. Die Managementstrategie bei Google besteht darin, Anreize dafür zu schaffen, dass die Arbeitenden möglichst viel Zeit im Unternehmen verbringen. Teilweise ist diese Zeit dann auch Freizeit, insgesamt erhofft sich das Management aber, dass die Mehrarbeitszeit erhöht werden kann, indem die Angestellten mehr Zeit 14.4 Fordistisch-tayloristisches und postfordistisches Management 563 <?page no="564"?> bei ihrer eigentlichen Arbeitstätigkeit verbringen. Spielarbeit bei Google ist also eine Strategie der absoluten Mehrwertproduktion, die darauf abzielt, den Arbeitstag und damit die Mehrarbeitszeit absolut zu verlängern. Fühlen sich die Arbeitenden im Unternehmen wohl, so nimmt eventuell auch ihre Produktivität zu, indem sie mehr in kürzerer Zeit produzieren. Spielarbeit kann also auch den Effekt relativer Mehrwertproduktion haben. Wie geht es nun aber den Arbeitenden, die dieser Managementstrategie der Spielarbeit als absoluter Mehrwertproduktion bei Google ausgesetzt sind? Für das Buch Social Media: A Critical Introduction habe ich dazu eine empirische Analyse gemacht, indem ich Postings von Google-Arbeitenden analysierte, die auf Glassdoor.com und Reddit über ihre Arbeitsbedingungen berichtet haben. Ich filterte dabei alle Beiträge heraus, in denen die Arbeits‐ zeit als Thema diskutiert wird. Für die erste englischsprachige Auflage des Buches konnte ich 76 der‐ artige Postings aus den Jahren von 2008 bis 2012 identifizieren (Fuchs 2014, 141-146), für die dritte englischsprachige Auflage, die als zweite deutschsprachige Auflage publiziert wurde, fand ich 46 relevante Beiträge aus dem Jahr 2019 (Fuchs 2021a, 120-124; Fuchs 2021b, 197-202). In 58 von 76 Beiträgen (76 %) bzw. 33 von 46 Beiträgen (72 %) fanden sich Klagen über eine mangelnde Work-Life-Balance bei Google. Hier sind einige Beispielaussagen (Fuchs 2021a, 121-122; Fuchs 2021b, 197-198): „Google is evil, long hours sometimes”. „Was very hard work that would sometimes take weekends”. „Lack of free time”. „no work-life balance”. „terrible work/ life balance”. „Hours - you are expected to give everything to the company; little time for a personal life”. „Very stressing job and much overtime”. „Heavy workload. Staying at the office until the late hours just trying to get work done” „Stop burying people in work and burning out engineers”. „Work/ life balance is nearly non-existent and, as a result, there are increasing levels of burnout within the organization”. „Prepare to work all day and night long” Im Zeitraum zwischen 2008 und 2019 sind die haben sich die Arbeitsbedin‐ gungen bei Google nicht verändert. Die Arbeiter: innen mögen den Inhalt 564 14 Die Politische Ökonomie des Medienmanagements <?page no="565"?> ihrer Arbeit und die Vergünstigungen wie beispielsweise Gratis-Essen. Sie hassen die vielen Überstunden und den Mangel an Work-Life-Balance. Im Fordismus wurde die Arbeit oft als entfremdet empfunden, es gab aber zumindest mehr Trennung von Lohnarbeitszeit und Freizeit. Arbeitet man bei Google, so ist das gesamte Leben Google: Google ist Arbeit. Google ist Freizeit. Google ist Lebenszeit, Arbeitszeit und Freizeit. Google-Arbeitende arbeiten nicht, um zu leben, sie leben, um für Google zu arbeiten. Sie sind meist gutbezahlt, manche von ihnen sogar reich, zugleich sind sie aber sozial arm. Materieller Reichtum geht bei Google mit sozialer Armut einher. Wenn das Unternehmen, in dem man arbeitet, das Leben der Angestellten aufsaugt, so ist dies das Ende des guten Lebens. Leben als Arbeit ist ein beschädigtes Leben. Führen Sie als nächstes Übung 14.3 (am Ende dieses Kapitels) durch. In einem der Artikel, die Sie in dieser Übung lesen, bestätigt ein Google-Ange‐ stellter die soziale Armut des Arbeitslebens bei Google: „You do have free food available all the time, and many cafes, gyms, laundry rooms etc. but over time as you start using all these perks (because it's just too convenient) you spend more and more of your time at the office. You start making the same choices day in and day out. You hang out more and more with the same people you work with” (Edwards 2016). Der Artikel aus der New York Times, den Sie ebenfalls in Übung 14.3 lesen, wurde von den Vorsitzenden der Alphabet Workers Union (AWU) geschrieben, einer Gewerkschaft von Google-Arbeiter: innen (Koul & Shaw 2021). In dem Video, das Sie sich in der Übung ansehen, spricht ein AWU-Mitglied darüber, warum eine Gewerkschaft bei Google gegründet wurde. In der Digitalindustrie waren Gewerkschaften lange Zeit kaum vertreten. Das hat damit zu tun, dass viele Software-Ingenieure und Software-Inge‐ nieurinnen hohe Löhne haben und sich oft eher als Unternehmer: innen und Erfinder: innen und nicht als Arbeiter: innen verstehen. Sie bilden also eine Art Aristokratie der digitalen Arbeiterschaft. Die realen Zustände im Tech-Sektor haben aber das Machtgefälle zwischen digitalem Kapital und digitaler Arbeit verdeutlicht, was im Laufe der Zeit zu einer stärkeren gewerkschaftlichen Organisierung in dieser Industrie geführt hat. Die neuen Managementmethoden, die Spaß, Partizipation und Kooperation betonen, sind vorwiegend Ideologien, die die reale Macht des Managements und der Eigentümer: innen nicht verändern und zur Überforderung der Arbei‐ tenden führen, was sich in einem Mangel an Work-Life-Balance ausdrückt. Unternehmen wie Google präsentieren sich als arbeiterfreundlich und fort‐ 14.4 Fordistisch-tayloristisches und postfordistisches Management 565 <?page no="566"?> schrittlich, in Realität ist die Arbeit in diesen Unternehmen aber von einem hohen Ausbeutungsgrad gekennzeichnet. Das sogenannte „partizipative“ Management, das auch das Prinzip „Do what you love“ (Mach das, was dir lieb ist) postuliert, präsentiert sich als Humanisierung und Demokrati‐ sierung der (digitalen) Arbeit, ist aber nichts anderes als eine Intensivierung und Extensivierung der Ausbeutung, also eine Steigerung der unbezahlten Arbeitszeit durch absolute und relative Mehrwertproduktion. Eine wahr‐ hafte Humanisierung und Demokratisierung von Unternehmen wie Google benötigt deren Transformation in selbstverwaltete Unternehmen, die durch die Angestellten und Nutzer: innen demokratisch verwaltet werden und in deren Gemeineigentum übergehen. Das Management bei Google ist ein Ausdruck der postfordistischen Ar‐ beitsorganisation. Die postfordistischen Produktion ist u. a. durch folgende Merkmale gekennzeichnet (Amin 1994, Harvey 1990): ● Post-tayloristische Arbeitsorganisation: flexible, dezentrale, globale Produktion; ● Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien zur Orga‐ nisation der Produktion; ● Globalisierung der Produktion; ● Flexible Spezialisierung: Personalisierte und maßgefertigte Güter; ● Nischenmärkte, Nischengeschmäcker; ● Branding: ● Zunahme der Bedeutung von Wissensarbeit und Dienstleistungen; ● Individualisierung, Pluralisierung der Lebensstile; ● Integration von Freizeit und Arbeit, Spiel und Arbeit, Spaß und Ernst; ● Prägung des Arbeitens und des Lebens durch den Neoliberalismus; (Privatisierung, Monetarisierung, individuelle Verantwortung statt kol‐ lektiver Verantwortung, neue Managementmethoden der Arbeitszeit‐ verlängerung). Der Begriff des Postfordismus ist unbefriedigend, da er nur andeutet, dass sich die Organisation von Arbeit und Akkumulation sowie die Manage‐ mentmethoden gewandelt haben, es also Formen gibt, die zeitlich nach der fordistisch-tayloristischen Arbeitsorganisation entstanden sind (vgl. Jessop 1992; Lipietz 1987, 2001), was nicht das Ende des Taylorismus, sondern dessen Transformation bedeutet. David Harvey (1990) hat den Postfordismus treffend als flexibles Akkumulationsregime charakterisiert: 566 14 Die Politische Ökonomie des Medienmanagements <?page no="567"?> „Flexible accumulation, as I shall tentatively call it, is marked by a direct conf‐ rontation with the rigidities of Fordism. It rests on flexibility with respect to labour processes, labour markets, products, and patterns of consumption. It is characterized by the emergence of entirely new sectors of production, new ways of providing financial services, new markets, and, above all, greatly intensified rates of commercial, technological, and organizational innovation. […] It has also entailed a new round of what I shall call 'time-space compression' […] in the capitalist world - the time horizons of both private and public decision-making have shrunk, while satellite communication and declining transport costs have made it increasingly possible to spread those decisions immediately over an ever wider and variegated space. These enhanced powers of flexibility and mobility have allowed employers to exert stronger pressures of labour control” (Harvey 1990, 147). Als Reaktion auf Wirtschaftskrisen haben Unternehmen und Politik in vielen Ländern seit den 1970er-Jahren Innovationen im Bereich der digitalen Technologien sowie Kulturarbeit und digitale Arbeit gefördert. Kreativität und digitale Innovationen werden dabei als Quelle von Wettbewerbsvor‐ teilen angesehen. Der Aufstieg des Computers und des Internets in der Produktion sowie der Wissensarbeit seit den 1970er-Jahren sind also die Folge des Übergangs zu einem flexiblen Akkumulationsregimes im Zuge der Krise des Fordismus. In ihrem Buch Der neue Geist des Kapitalismus haben die beiden franzö‐ sischen Soziolog: innen Luc Boltanski und Ève Chiapello (2003) eine Kritik des postmodernen Managements formuliert. „In vielerlei Hinsicht erleben wir heute eine Situation, die sich seit Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre in ihr Gegenteil verkehrt hat. Damals litt der Kapitalismus unter einem Wachstums- und Rentabilitätsrückgang, der zumindest aus einer regulationistischen Perspektive mit einer Verlangsamung der Produkti‐ vitätsgewinne als Folge stetig und in unverändertem Tempo steigender Reallöhne zusammenhing. Die Kritik stand demgegenüber in ihrem Zenit, wie die Ereignisse von 1968 belegen, als eine Sozialkritik klassisch-marxistischer Prägung und Forderungen ganz anderer Art nach Kreativität, Freude und Kraft der Phantasie, nach einer Emanzipation in allen Lebensbereichen und der Zerstörung der ‚Konsumgesellschaft‘ einen Schulterschluss vollzogen” (Boltanski & Chiapello 2003, 21). 14.4 Fordistisch-tayloristisches und postfordistisches Management 567 <?page no="568"?> Die 1968er-Studierendenbewegung forderte, „das menschliche Potenzial an Autonomie, Selbstorganisation und Kreativität freizusetzen” (84). Diese Werte werden heute in der Kulturarbeit verwirklicht, jedoch um den Preis von Ungleichheiten, mangelnder Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben, Stress, Unsicherheit, usw. Boltanski und Chiapello argumentieren, dass die neuen Managementmethoden Arbeit auf Projektbasis organisieren: „In der neuen Welt ist alles möglich, weil Kreativität, Reaktivität und Flexibilität als neue Schlagwörter gelten. Niemand ist mehr durch seine Zugehörigkeit zu einer Abteilung limitiert oder der Macht eines Chefs völlig unterstellt, denn alle Grenzen sind kraft der Projekte übertretbar” (134). Die beiden Au‐ tor: innen kritisieren, dass die neuen Managementformen zwar Kreativität und Partizipation fördern und dabei die Sprache der 68er-Bewegung miss‐ brauchen, die reale Arbeit aber zu Überarbeitung, Prekarität, mangelnder Work-Life-Balance, Ungleichheiten usw. führe. Boltanski and Chiapello unterscheiden zwischen der Künstlerkritik und der Sozialkritik. Die erste kritisiert einen Mangel an Autonomie, Kreativität und Authentizität und fordert eine Befreiung aus der Entfremdung. Die Sozialkritik ist eine Kritik der Ungleichheiten und des Individualismus. Sie fordert eine “Verringerung der Ungleichheiten und der Ausbeutung” (574) und analysiert „vor allem die Ungleichheits- und Armutsprobleme“ (83). Das Management und Unternehmen haben die Künstlerkritik ernstgenommen und für ihre Zwecke verwendet. Es gibt jetzt mehr Autonomie und Kreati‐ vität der Arbeit, aber weniger Gerechtigkeit in Unternehmen und in der Gesellschaft. Boltanski und Chiapello erläutern, was am Taylorismus einerseits und am postfordistischen Management andererseits problematisch ist: „Die Taylorisierung der Arbeit besteht natürlich unbestritten darin, die Menschen wie Maschinen zu behandeln. Gerade weil allerdings die eingesetzten Methoden eine Robotisierung der Menschen bedeuten, können aufgrund des rudimentären Charakters dieses Arbeitsansatzes die menschlichsten Eigenschaften der Arbeit‐ nehmer - ihre Gefühle, ihr Moralverständnis, ihre Ehre, ihre Erfindungsgabe - nicht unmittelbar in den Dienst des Profitstrebens gestellt werden. Umgekehrt dringen die neuen Strukturen, die ein umfassenderes Engagement fordern und sich auf eine subtilere Ergonomie stützen, in der auch die Beiträge der postbeha‐ vioristischen Psychologie und der kognitiven Wissenschaften mit einfließen, in gewisser Hinsicht gerade aufgrund ihrer größeren Menschlichkeit tiefer in das Seelenleben der Menschen ein, von denen erwartet wird, dass sie - wie es heißt - 568 14 Die Politische Ökonomie des Medienmanagements <?page no="569"?> 69 Übersetzung aus dem Englischen: “truncated version of humanity - the freedom to align oneself with the organisational machine or to be punished”. 70 Übersetzung aus dem Englischen: “the post-bureaucratic variant of culture manage‐ ment“ tries to “harness human agency without even offering stable employment in return“. sich ihrer Arbeit hingeben. Dadurch ermöglichen sie erst eine Instrumentalisie‐ rung der Mitarbeiter in ihrem eigentlichen Menschsein“ (145). Wissensarbeit und soziale Arbeit sind Informationsarbeit und affektive Ar‐ beit. Sie inkludieren einen Fokus auf Emotionen, Moral, geistige Fertigkeiten etc. Es geht bei solcher Arbeit darum, emotionale Reaktionen bei anderen Menschen zu erzeugen. Affektive Arbeit spielt eine Rolle in der Erziehung, Pflege, Werbung/ PR, Psychotherapie, bei persönlichen Dienstleistungen mit zwischenmenschlichem Kontakt, Influencer: innen auf sozialen Medien, Social Media-Manager: innen, usw. Boltanski und Chiapello kritisieren, dass neue Managementmethoden die Arbeitenden zu sehr emotional und sozial in die Arbeit einspannen und sie dadurch überfordern. Das postfordistische Management fördert instabile und unsichere Arbeit und führt zu einer „verkürzten Version der Menschlichkeit - der Freiheit, sich dem Organisationsapparat anzuschließen oder bestraft zu werden” 69 (Grey 2021, 91). „Die postbürokratische Variante des Kulturmanagements versucht, die menschliche Handlungsfähigkeit zu nutzen, ohne im Gegenzug stabile Arbeitsplätze anzubieten" 70 (Grey 2021, 91). Auf Basis der Auseinandersetzung mit Fordismus, Taylorismus und Post‐ fordismus wollen wir uns im nächsten Abschnitt mit der Frage auseinan‐ dersetzen, ob Kultur, Medien und Kreativität gemanagt werden können. 14.5 Das Management von Kultur, Medien und Kreativität Kreativität In der Literatur wird die Frage behandelt, ob und wie kreative Arbeit gemanagt werden kann (Bilton 2011, Bilton & Cummings 2014, Dwyer 2016; Rimscha & Siegert 2015, Kapitel 10). Dabei stellt sich aber zunächst die Frage, was Kreativität ist. Sehen wir uns einige Definitionen des Begriffs der Kreativität an: 14.5 Das Management von Kultur, Medien und Kreativität 569 <?page no="570"?> ● „I will use the word ‘creativity’ - and the phrase ‘everyday creativity’ […] in relation to the activities of making which are rewarding to oneself and to others” (Gauntlett 2011, 13). ● „Kreativität wird als die Genese der Idee verstanden, Innovation als die ökonomische Verwertung der Idee“ (von Rimscha & Siegert 2015, 161). ● Für Richard Sennett hat Kreativität hat mit Handwerk und handwerk‐ lichem Geschick zu tun: Der Begriff des handwerklichen Könnens ver‐ weist „auf ein dauerhaftes menschliches Grundbestreben: den Wunsch, eine Arbeit um ihrer selbst willen gut zu machen. […] [Das Handwerk beschränkt sich] keineswegs auf den Bereich qualifizierter manueller Tätigkeiten. Fertigkeiten und Orientierungen dieser Art finden sich auch bei Programmierern, Ärzten und Künstlern. Selbst als Eltern oder Staatsbürger können wir uns verbessern, wenn wir diese Tätigkeit mit handwerklichem Geschick ausüben. Fertigkeiten und Kindererziehung verbessert sich, wenn sie als Handwerk ausgeübt wird, ebenso wie die Staatsbürgerschaft. Auf all diesen Gebieten konzentriert sich das handwerkliche Können auf objektive Maßstäbe, auf die Dinge als solche. […] Bei jedem guten Handwerker stehen praktisches Handeln und Denken in einem ständigen Dialog. Durch diesen Dialog entwickeln sich dauerhafte Gewohnheiten, und diese Gewohnheiten führen zu einem ständigen Wechsel zwischen dem Lösen und dem Finden von Problemen. Solch ein Verhältnis zwischen Hand und Kopf findet sich in scheinbar so unterschiedlichen Bereichen wie Mauern, Kochen, dem Entwurf eines Spielplatzes oder dem Cellospiel - doch auf all diesen Gebieten kann die Fertigkeit auch scheitern oder nicht zur vollen Reife gelangen” (Sennett 2008, 19, 20). ● Kreativität bedeutet „eine Reihe von losen und festen Prozessen, per‐ sönlichen Qualitäten und Produkteigenschaften, die zu neuen und wertvollen Ergebnissen führen” (Bilton & Cummings 2014, 5). Kreativität produziert Neues. Es handelt sich um das reflektierende Handeln eines Menschen, das sein praktisches Handeln, das etwas Neues produziert, anleitet. Es wird oft von kreativer Arbeit oder der Kreativindustrie gespro‐ chen. So definieren zum Beispiel Hesmondhalgh und Baker (2011) in ihrem Buch Creative Labour die Kreativarbeit folgendermaßen: „those jobs, centred on the activity of symbol-making, which are to be found in large numbers in the cultural industries“ (9). Unter den Kulturindustrien verstehen die Autoren „‘the arts’ (painting, sculpture and literature and so on) but more 570 14 Die Politische Ökonomie des Medienmanagements <?page no="571"?> prominently […] the television, film, music and publishing businesses, […] the various institutions known as ‘the media’” (2). Im Wesentlichen geht es in dieser Definition also um künstlerische Tätigkeiten. Die Definition von Hesmondhalgh und Baker ähnelt der von Richard Florida. Florida definiert Kreativarbeitende in seinem Buch The Rise of the Creative Class als „people in science and engineering, architecture and design, education, arts, music, and entertainment whose economic function is to create new ideas, new technology, and new creative content” (Florida 2012, 8). Beide Definitionen beruhen auf einem Snobismus und Elitismus, der Künstler: innen als die besseren und wichtigeren Arbeiter: innen sieht und andere Arbeiten als unkreativ und daher als simpel und einfallslos. Bei jeder Arbeit werden Symbole durch Reflexion produziert und dadurch Ideen hervorgebracht. Alle Arbeit beruht auf einer Dialektik von Geist und Körper. Bei aller Arbeit muss der Mensch darüber nachdenken, welches Resultat produziert werden soll. Das Resultat wird also geistig vorwegge‐ nommen und geplant. Die Kreativität des Menschen besteht also darin, dass er seine eigenen Kreationen ideell, also geistig, antizipiert. Darauf wies bereits Karl Marx hin, als er den Unterschied von Mensch und Tier ausführte: „Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Bau‐ meister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war“ (Marx 1867, 193). Alle Arbeit ist in einer gewissen Hinsicht kreativ, da sie Neues produziert. Es gibt aber sehr wohl einen Unterschied zwischen Arbeit, die primär körperlich orientiert ist und physische Produkte hervorbringt und primär geistiger Arbeit, die Ideen produziert. Man kann daher zwischen körper‐ licher Arbeit einerseits und geistiger Arbeit andererseits unterscheiden. Kreativität wird bei beiden benötigt. Die geistige Arbeit wird auch als Informationsarbeit, Wissensarbeit, mentale Arbeit, kulturelle Arbeit oder Kulturarbeit bezeichnet. 14.5 Das Management von Kultur, Medien und Kreativität 571 <?page no="572"?> Kultur- und Medienmanagement als Destruktivkraft: Vom Management zur Selbstverwaltung Geistige Tätigkeit ist oft spontan, offen, unberechenbar, unkontrollierbar, nicht planbar und nichtvorhersehbar. Das Management gilt hingegen als eher planend, geschlossen, berechnend, kontrollierend und vorausschauend. Die Frage, ob Wissensarbeit gemanagt werden kann und soll, ist daher unweigerlich widersprüchlich und mit der Frage verknüpft, ob das Manage‐ ment nicht zum Abtöten von Initiative, Spontanität und Schöpfungskraft führt. „Conventional management practices ‘kill’ creativity […] because they inhibit employees’ intrinsic motivation to work creatively“ (Dwyer 2016, 348). Kulturelle Tätigkeit „ist an einzelne Personen gebunden, deren Input nur begrenzt kontrolliert und koordiniert werden kann und soll, denn für die kreative Entwicklung von Inhalten ist ein beträchtliches Maß an Freiraum notwendig” (von Rimscha & Siegert 2015, 157). Beim Kapitalismus geht es schlussendlich immer um die Akkumulation von Kapital und die Erzielung von Profit. In der Kulturindustrie müssen dazu die Offenheit, Spontanität und Unberechenbarkeit der kulturellen Tä‐ tigkeit unter Pläne und instrumentelle Vernunft, die durch das Management vorgegeben werden, unterworfen werden. Der Managerialismus und der Versuch, Kulturarbeit zu kontrollieren und zu planen, sie also zu managen, hemmt aber die Freiheit der Tätigkeit und bedeutet automatisch eine gewisse Form der Entfremdung. Kulturelles Werken funktioniert daher am besten, wenn sie nicht unter das Kapital subsummiert wird, sondern die Kulturschaffenden frei von Kapitalzwängen tätig sind. Unter Managerialismus („managerialism”) verstehen wir die Kontrolle einer Organisation und der darin stattfindenden Arbeit. Der Managerialis‐ mus ist zentralistisch, hierarchisch und schränkt Autonomie und Freiräume ein. Es handelt sich um ein Übermanagement von Organisationen und Individuen. „Managerialism combines management knowledge and ideo‐ logy to establish itself systemically in organisations and society while depriving owners, employees (organisational-economical) and civil society (social-political) of all decision-making powers. Managerialism justifies the application of managerial techniques to all areas of society on the grounds of superior ideology, expert training, and the exclusive possession of managerial knowledge necessary to efficiently run corporations and societies” (Klikauer 2015, 1105). Der Managerialismus und schlussendlich jedes Management steht in der tayloristischen Tradition. 572 14 Die Politische Ökonomie des Medienmanagements <?page no="573"?> Die Machtbasierung, die dem Management innewohnend ist, und die Arbeitsteilung, bei der Manager: innen nicht an der schwierigen Alltags‐ arbeit im Unternehmen beteiligt sind, zerstören Innovationspotentiale in wissensproduzierenden und anderen Organisationen. Es reicht eine falsche Person an einer Management-Schaltstelle, um eine gesamte Organisation oder Unterorganisation zu zerstören. Die Evaluitis, also der Drang des Managements zu permanenten Evaluierungen, detaillierten und strikten Plänen, Leistungskennzahlen (KPIs: Key Performance Indicators), unrealis‐ tischen Zielen, einer bürokratischen, formalistischen Berichtskultur etc. zerstört wissensbasierte Organisationen. Realistische Ziele, die erreicht werden können, motivieren besser als unrealistische und überzogene Ziele, die Stress produzieren. Gute Organisator: innen sind selber vorbildliche Arbeiter: innen, die von anderen aufgrund ihrer Arbeit respektiert werden, anderen helfen und in die alltägliche Arbeit involviert sind. Gute Organisationsarbeit kümmert sich um einen guten Kontext, in dem Wissensarbeitende agieren können. Ein gedeihender Garten, in dem viele Menschen gemeinsam gärtnern, neue Samen anbauen und bestehende Pflanzen pflegen, ist eine gute Metapher für gute Organisationsarbeit. Management ist im Gegensatz dazu immer eine Art Dampfwalze, die den Garten mehr oder weniger subtil in eine Betonwüste verwandelt. Durch nutzergenerierte Inhalte, soziale Medien und Digitalisierung sind Nutzer: innen und Konsument: inn: en zu potentiellen und reellen kulturel‐ len Produzent: inn: en von Inhalten geworden. Dadurch ist es schwieriger geworden, Medienarbeit zu organisieren und dabei dadurch einen Unterhalt zu verdienen, der das Überleben sichert. Es gibt eine klassische Trennung zwischen Künstler: innen und Manage‐ ment. Heute sind aber viele Künstler: innen und Wissensarbeiter: innen Freiberufler: innen, also Einpersonen-Unternehmen. Freiberufler: innen sind zugleich Arbeitende und Unternehmer, Werktätige und Manager: innen. Sie sind mit dem Widerspruch konfrontiert, dass sie sich zugleich selbst‐ verwirklichen wollen und sich durch das Management des Selbst auch selbst entfremden müssen. Das Management ist heute Teil der Arbeit in der Kulturindustrie. Dies äußert sich zum Beispiel darin, dass Kulturschaffende Profile auf sozialen Medien haben, um mit Konsument: innen in Kontakt zu sein. Sie managen sich selbst. Freiberufliche Kulturarbeiter: innen arbeiten oft sehr selbstbestimmt, sind aber zugleich auch häufig prekäre Arbeiter: innen. Die Risiken der Verein‐ zelung der Kulturtreibenden kann durch gewerkschaftliche Organisation 14.5 Das Management von Kultur, Medien und Kreativität 573 <?page no="574"?> und die Organisation von Kulturproduktion in der Form selbstverwalteter Betriebe, Kulturkooperativen, minimiert werden (siehe die Diskussion in Kapitel 9). Dabei wird das Management durch Selbstverwaltung ersetzt. 14.6 Schlussfolgerungen Dieses Kapitel handelte von der politischen Ökonomie und den Grundlagen des Medienmanagements. Wir wollen nun die wesentlichen Ergebnisse zusammenfassen. - Erkenntnis 1: Definition von Manager: in und Management Bei einem Manger/ einer Managerin handelt es sich um einen bezahlten Beruf, der Teil eines arbeitsteilig und klassenförmig organisierten Unter‐ nehmens ist, dessen Rolle die Organisation, Planung, Koordinierung und Kontrolle des Produktionsprozesses und der Arbeiterschaft ist, sodass die Partialinteressen der Eigentümer: innen durchgesetzt werden sollen. Es gibt dabei eine Hierarchie und ein Machtgefälle zwischen Management und den Gemanagten/ Arbeitenden, sodass das Management als von den Arbeitenden getrennte Gruppe und Technokratie (Expert: innengruppe, die auf der Basis von technologischer Rationalität und instrumenteller Vernunft agiert) die zentralen Entscheidungen trifft. In vielen kapitalistischen Unternehmen ha‐ ben Manager: innen eine widersprüchliche multiple Klassenposition, indem sie zugleich Lohnarbeit verrichten und die Interessen des Kapitals durch die Arbeit der Kontrolle der Arbeit durchsetzen. Das Management in kapitalistischen Organisationen setzt Management‐ methoden ein, die auf die Effektivierung (Akkumulation von mehr Kapi‐ tal und Produktion von mehr Waren) und Effizienzsteigerung (Erhöhung der Produktivität, sodass mehr Waren, Wert und Profit in kürzerer Zeit produziert werden) der Kapitalakkumulation und der Warenproduktion ausgerichtet sind. Das Management behandelt die Arbeitenden dabei als Mittel zum Zweck und reduziert sie auf den Status von Dingen, weswegen im Management häufig auch von Menschen als „Humankapital“ gesprochen wird. Das Management ist eine Form des instrumentellen Handelns und der instrumentellen Vernunft, die verdinglichend wirken. Das bedeutet, dass die Menschen von Manager: innen zu Instrumenten gemacht werden, um ihnen äußerlichen Zwecke, die nicht ihren Interessen entsprechen, zu 574 14 Die Politische Ökonomie des Medienmanagements <?page no="575"?> erreichen. Manager: innen erhalten höhere Löhne als reguläre Arbeitende, eine Art Mehrlohn, mit dem ihre Loyalität und wichtige Kontrollfunktion im Produktionsprozess belohnt wird. Dieser Extralohn entsteht durch Abzüge von den Löhnen der regulären Arbeitenden. Ein dabei heute typisches Phänomen sind die Bonuszahlungen („Boni“) von Spitzenmanager: innen. - Erkenntnis 2: Medienmanagement als Beruf und Analysefeld Medienmanagement als Beruf hat zwei Anwendungskontexte. Es hat einer‐ seits mit dem Management von Medienorganisationen, also Unternehmen in der Medienindustrie, die Produktion, Distribution und Konsum von Information organisieren, zu tun. Andererseits hat es mit dem Management von Medien in Unternehmen im Allgemeinen zu tun. Es geht dabei also um die Organisation, Kommandierung und Kontrolle der Medienarbeitenden und der Ressourcen, die in Medienunternehmen und Medienabteilungen existieren. Medienmanagement ist nicht nur eine Tätigkeitsbezeichnung in der Wirtschaft, sondern auch der Name eines Analysefeldes, das sich mit der Analyse des Medienmanagements beschäftigt. - Erkenntnis 3: Die Politische Ökonomie des Medienmanagements Die Analyse des Medienmanagements, der Medienarbeit und der Medien‐ organisationen können nur adäquat operieren, wenn Sie als Teilaspekt der Politischen Ökonomie der Medien und der Kommunikation erachtet wer‐ den, sodass Medienmanagement, Medienarbeit und Medienorganisationen im Kontext der Gesellschaft als Totalität, ihrer Strukturen, Dynamiken, Widersprüche, Praktiken, Machtverhältnisse und Kämpfe, analysiert wird. - Erkenntnis 4: Das tayloristische Management Der Taylorismus ist eine Managementmethode, bei der durch Analyse und Reorganisation des Arbeitsablaufs versucht wird, die Produktivität zu erhöhen. Die Geschwindigkeit der Produktion soll dadurch erhöht werden. - Erkenntnis 5: Das postfordistische Management Postfordistische Managementmethoden sind im Zuge des Aufkommens eines flexiblen Akkumulationsregimes entstanden. Sie setzen auf Aktivie‐ 14.6 Schlussfolgerungen 575 <?page no="576"?> rung und die Integration des gesamten Arbeiters/ der gesamten Arbeiterin, inklusive seiner/ ihrer Emotionen und Freizeit, in den Arbeitsprozess. Solche Methoden arbeiten mit der Entgrenzung von Arbeitsplatz und zuhause, Ar‐ beitszeit und Freizeit, Arbeit und Spaß (Playbour: Play & Labour, Playbour), Produktion und Konsum, usw. - Erkenntnis 6: Das Management der Kulturarbeit Alle Arbeit ist kreativ, da sie Neues produziert, auf einer Dialektik von Geist und Körper und der geistigen Antizipation und Planung des Produktes beruht. Man kann aber zwischen primär geistiger und primär körperlicher Arbeit unterscheiden. Kulturarbeit ist die Schaffung von Ideen. Sie wird auch als geistige Arbeit, Wissensarbeit oder Informationsarbeit bezeichnet. Der Versuch, Kulturarbeit, inklusive Medienarbeit zu managen und unter die Kapital- und Warenform zu subsummieren, ist eine Destruktivkraft, die die Innovations‐ kraft der kulturellen Tätigkeit hemmt, tendenziell zerstört und Entfremdung kreiert. Literatur Alvesson, Mats und Hugh Willmott. 1996. Making Sense of Management. A Critical Introduction. London: Sage. Amin, Ash, Hrsg. 1994. Post-Fordism. A Reader. Oxford: Blackwell. Artero, Juan Pablo & Jean Luis Manfredi. 2016. Competencies of Media Managers: Are They Special? In Managing Media Firms and Industries: What’s so Special About Media Management? , hrsg. von Gregory Ferrell Lowe und Charles Brown, 43-60. Cham: Springer. Bilton, Chris. 2011. The Management of Creative Industries: From Content to Context. In Managing Media Work, hrsg. von Mark Deuze, 31-42. Thousand Oaks, CA: SAGE. Bilton, Chris und Stephen Cummings. 2014. A Framework for Creative Management and Managing Creativity. In Handbook of Management and Creativity, hrsg. von Chris Bilton und Stephen Cummings, 1-12. Cheltenham: Edward Elgar. Boddy, David. 2017. Management: An Introduction. Harlow. Pearson Education. Seventh edition. 576 14 Die Politische Ökonomie des Medienmanagements <?page no="577"?> Boltanski, Luc und Ève Chiapello. 2003. Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz: UVK. Braverman, Harry. 1974. Labor and Monopoly Capital. The Degradation of Work in the Twentieth Century. New York: Monthly Review Press. Brown, Charles. 2016. Media Management: A Critical Discipline? In Managing Media Firms and Industries: What’s so Special About Media Management? , hrsg. von Gregory Ferrell Lowe und Charles Brown, 83-100. Cham: Springer. Daft, Richard L. 2022. Management. Boston, MA: Cengage. 14. Auflage. Deuze, Mark und Brian Steward. 2011. Managing Media Work. In Managing Media Work, hrsg. von Mark Deuze, 1-10. Thousand Oaks, CA: SAGE. Dwyer, Paul. 2016. Managing Creativity in Media Organisations. In Managing Media Firms and Industries: What’s so Special About Media Management? , hrsg. von Gregory Ferrell Lowe und Charles Brown, 343-365. Cham: Springer. Edwards, Jim. 2016. Google Employees Confess all the Things They Hated Most About Working at Google. Business Insider, 12. Dezember 2016. https: / / www.busi nessinsider.com/ google-employees-worst-things-about-working-at-google-2016 -12 Fayol, Henri. 1916/ 1949. General and Industrial Management. London: Sir Isaac Pitman & Sons. Florida, Richard. 2012. The Rise of the Creative Class, Revisited. New York: Basic Books. Aktualisierte Neuauflage. Fuchs, Christian. 2021a. Social Media. A Critical Introduction. London: SAGE. Dritte Auflage. Fuchs, Christian. 2021b. Soziale Medien und Kritische Theorie. Eine Einführung. Mün‐ chen: UVK/ utb. Zweite deutsche Auflage (Übersetzung der dritten englischen Auflage). Fuchs, Christian. 2014. Social Media. A Critical Introduction. London: SAGE. Erste Auflage. Gauntlett, David. 2011. Making is Connecting. The Social Meaning of Creativity, from DIY and Knitting to YouTube and Web 2.0. Cambridge: Polity Grey, Chris. 2021. A Very Short, Fairly Interesting and Reasonably Cheap Book About Studying Organizations. Los Angeles, CA: SAGE. Fünfte Auflage. Harvey, David. 1990. The Condition of Postmodernity. Cambridge, MA: Blackwell. Hendry, John. 2013. Management: A Very Short Introduction. Oxford: Oxford Univer‐ sity Press. Hesmondhalgh, David und Sarah Baker. 2011. Creative Labour. Media Work in Three Cultural Industries. London: Routledge. Literatur, empfohlene Lektüre und Übungen 577 <?page no="578"?> Jessop, Bob. 1992. Fordism and post-Fordism: A Critical Reformulation. In Pathways to Industrialization and Regional Development, hrsg. von Michael Storper und Allen J. Scott, 42-62. London: Routledge. Kinicki, Angelo und Denise Breaux Soignet. 2022. Management: A Practical Intro‐ duction. New York: McGraw Hill. 10. Auflage. Klikauer, Thomas. 2015. What is Managerialism? -Critical Sociology-41-(7-8): 1103-1119. DOI: https: / / doi.org/ 10.1177/ 0896920513501351 Koul, Parul und Chewy Shaw. 2021. We Built Google. This Is Not the Company We Want to Work For. The New York Times, 4. Januar 2021. https: / / www.nytimes.co m/ 2021/ 01/ 04/ opinion/ google-union.html Lipietz, Alain. 2001. The Fortunes and Misfortunes of post-Fordism. In Phases of Capitalist Development, hrsg. von Robert Albritton et al. 17-36. Basingstoke: Palgrave Macmillan. Lipietz, Alain. 1987. Mirages and Miracles. The Crises of Global Fordism. London: Verso. Marx, Karl. 1894. Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. Marx Engels Werke (MEW) Band-25. Berlin: Dietz. Marx, Karl. 1867. Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. Marx Engels Werke (MEW) Band-23. Berlin: Dietz. Marx, Karl. 1864. Inauguraladresse der Internationalen Arbeiter-Assozation. In Marx Engels Werke (MEW) Band-16, 5-13. Berlin: Dietz Marx, Karl. 1861-1863. Theorien über den Mehrwert (Vierter Band des „Kapitals“). Dritter Teil: Neunzehntes bis vierundzwanzigstes Kapitel und Beilagen. Marx Engels Werke (MEW) Band-26.3. Berlin: Dietz. Marx, Karl. 1844. Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844. In Marx Engels Werke (MEW) Band-1, 465-588. Berlin: Dietz. Marx, Karl und Friedrich Engels. 1845/ 1846. Die deutsche Ideologie. In Marx Engels Werke (MEW) Band-3, 5-530. Berlin: Dietz. Mierzejewska, Bozena I. 2011. Media Management in Theory and Practice. In Managing Media Work, hrsg. von Mark Deuze, 13-30. Thousand Oaks, CA: SAGE. Scholz, Christian. 2006. Medienmanagement - Herausforderungen, Notwendigkeit und ein Bezugsrahmen. In Handbuch Medienmanagement, hrsg. von Christian Scholz, 11-71. Berlin: Springer. Sennett, Richard. 2008. Handwerk. Berlin: Berlin Verlag. Sohn-Rethel, Alfred. 1978. Intellectual and Manual Labour: A Critique of Epistemo‐ logy. London: Macmillan. Students & Scholars against Corporate Misbehaviour (SACOM). 2010. Workers as Machines. Military Management in Foxconn. https: / / www.somo.nl/ wp-content/ up 578 14 Die Politische Ökonomie des Medienmanagements <?page no="579"?> loads/ 2010/ 08/ military-management-in-Foxconn.pdf (abgerufen am 8. Dezember 2022). Taylor, Frederick Winslow. 1911/ 1919. The Principles of Scientific Management. New York: Harper & Brothers. von Rimscha, Bjørn & Gabriele Siegert. 2015. Medienökonomie. Eine problemorien‐ tierte Einführung. Wiesbaden: Springer VS. Williams, Raymond. 1983. Keywords. A Vocabulary of Culture and Society. New York: Oxford University Press. Wirtz, Bernd W. 2020. Media Management. Strategy, Business Models and Case Studies. Cham: Springer. Zweite Auflage. Wright, Erik Olin. 2000. Class Counts. Cambridge: Cambridge University Press. Studienausgabe. Empfohlene Lektüre und Übungen - Lektüre Die folgenden Texte werden als Begleitlektüre zu diesem Kapitel empfohlen: Raymond Williams. 1983. Management. In Keywords. A Vocabulary of Culture and Society, 139-141. New York: Oxford University Press. Bob Jessop. 1992. Fordism and post-Fordism: A Critical Reformulation. In Pathways to Industrialization and Regional Development, hrsg. von Michael Storper und Allen J. Scott, 42-62. London: Routledge. Christian Fuchs. 2021. Soziale Medien und Kritische Theorie. Eine Einführung. Mün‐ chen: UVK/ utb. Zweite deutsche Auflage (Übersetzung der dritten englischen Auflage): Kapitel 5: Google: Eine gute oder böse Suchmaschine? (S.-180-220). Luc Boltanski und Ève Chiapello. 2003. Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz: UVK: Kapitel I: Der Managementdiskurs der 90er Jahre (S.-91-146). Thomas Klikauer. 2015. What Is Managerialism? -Critical Sociology-41-(7-8): 1103-1119. DOI: https: / / doi.org/ 10.1177/ 0896920513501351 Literatur, empfohlene Lektüre und Übungen 579 <?page no="580"?> Aufgabe Merke Frage Literatur Wissen Zusatz Link / www Checkliste Ziele ICON SET 5 Aufgabe Merke Frage Literatur Wissen Zusatz Link / www Checkliste Ziele ICON SET 5 ÜBUNG 14.1: Tayloristisch-fordistische Arbeitsorganisation Sehen Sie sich die erste Szene in Charlie Chaplins Film Modern Times an, in der es um die Einführung einer Essensmaschine in einer Fabrik geht, in der die Leute am Fließband arbeiten. Die Mittagspause und das Essen sollen dadurch halbautomatisiert und beschleunigt werden, um freie Zeit durch Arbeitszeit ersetzen zu können. Charles Chaplin (director). 1936, Modern Times. United Artists. Film‐ information: https: / / www.imdb.com/ title/ tt0027977 Szene 1: Start: 00: 00, Ende: 13: 00 Diskutieren Sie die folgenden Fragen: Wie beurteilen Sie Chaplins Film? Wie beurteilen Sie die tayloristische Art des Managements? Gibt es Aspekte des Taylorismus in der Medien-, Kultur- und Kreativ‐ industrie heute? Wie sieht die Gestaltung der Arbeitszeit in heutigen Unternehmen aus? Welche Formen des Managements brauchen wir heute? Warum? ÜBUNG 14.2: Die postfordistische Arbeitsorganisation bei Goo‐ gle Sehen Sie sich die folgenden Videos über die Arbeitsorganisation bei Google an: Life at Google (https: / / www.youtube.com/ @LifeatGoogle): What’s It Like to Work at Google? https: / / www.youtube.com/ watch? v=n_Cn8eFo7u8 Life at Google (https: / / www.youtube.com/ @LifeatGoogle): A Look Inside Google’s Culture https: / / www.youtube.com/ watch? v=1snG8ZmLOWE Diskutieren Sie: Was sind Vor- und Nachteile der Arbeit (Arbeitsbedingungen und Arbeitsplatz) bei Google? 580 14 Die Politische Ökonomie des Medienmanagements <?page no="581"?> Aufgabe Merke Frage Literatur Wissen Zusatz Link / www Checkliste Ziele ICON SET 5 ÜBUNG 14.3: Unzufriedenheit und gewerkschaftliche Organi‐ sierung bei Google Die Arbeit bei Google ist nicht nur Spaß. Die langen Arbeitszeiten und die politischen Probleme Googles, wie etwa die Involvierung in Militärprojekten, werden von den Angerstellten als Entfremdungsfor‐ men wahrgenommen, wogegen sich auch Widerstand wie Streiks und gewerkschaftliche Organisierung geregt hat. Lesen Sie zunächst die folgenden zwei Artikel und sehen Sie sich dann das Video an. Jim Edwards. 2016. Google Employees Confess all the Things They Hated Most About Working at Google. Business Insider, December 12, 2016. https: / / www.businessinsider.com/ google-employees-worst-thin gs-about-working-at-google-2016-12 Parul Koul und Chewy Shaw. 2021. We Built Google. This Is Not the Company We Want to Work For. The New York Times, January 4, 2021. https: / / www.nytimes.com/ 2021/ 01/ 04/ opinion/ google-union.html Left Nite: Alex Gorowa. Interview mit Alex Gorowara, Sprecher der Alphabet Workers Union, einer Gewerkschaft von Google-Arbei‐ ter: innen https: / / www.youtube.com/ watch? v=Dwr3-rkgirI Diskutieren Sie: Wie beurteilen Sie die Managementmethoden bei Google? Warum hat sich eine Gewerkschaft bei Google gebildet? Wie sehen ein idealer Arbeitsplatz und ein ideales Unternehmen aus? Wie können schlechte Arbeitsbedingungen vermieden werden? Wie sollten Arbeitende auf schlechte Arbeitsbedingungen reagieren? Literatur, empfohlene Lektüre und Übungen 581 <?page no="582"?> Abbildungsverzeichnis Abbildung 1.1: Die Lasswell-Formel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Abbildung 2.1: Konzeptionen von Politik, basierend auf Caporaso und Levine (1992, 20) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Abbildung 2.2: Ein Modell der Politischen Ökonomie . . . . . . . . . . . . . 35 Abbildung 3.1: Ein Modell der Medienökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Abbildung 4.1: Visualisierung des Ansatzes der Politischen Ökonomie der Kommunikation und der Medien . . . 100 Abbildung 4.2: Die Analysedimensionen der Politischen Ökonomie der Kommunikation und der Medien . . . . . . . . . . . . . 112 Abbildung 4.3: Der Prozess der Kapitalakkumulation . . . . . . . . . . . . . 122 Abbildung 4.4: Die Entwicklung von Facebooks Profiten . . . . . . . . . . 129 Abbildung 6.1: Die ökonomische Güterlehre (in Anlehnung an Hess und Ostrom 2007, 9) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 Abbildung 6.2: Zwei Theorien der Medienkonzentration (Quelle: Knoche 2021, übersetzt und nachgedruckt mit Genehmigung der Zeitschrift tripleC) . . . . . . . . . . . . . 206 Abbildung 7.1: Die Entwicklung des Anteils bestimmter medienspezifischer Werbeformen an den weltweiten Werbeeinnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Abbildung 7.2: Kapitalakkumulation in der Werbeindustrie . . . . . . . 259 Abbildung 8.1: Die Akkumulation des Kapitals . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Abbildung 8.2: Entwicklung des Anteils der weltweiten Direktinvestitionsströme (FDI) am globalen BIP, in % (Datenzugriff am 15. Dezember 2021, für das Jahr 2021: Datenzugriff am 15. Dezember 2022) . . . . . . . . . 307 Abbildung 8.3: Die Entwicklung des Anteils der weltweiten Exporte am globalen BIP (Datenzugriff am 15. Dezember 2021, für das Jahr 2021: Datenzugriff am 15. Dezember 2022) 309 Abbildung 8.4: Die Entwicklung der globalen Verteilung der Abflüsse ausländischer Direktinvestitionen . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Abbildung 8.5: Die Entwicklung der globalen Verteilung der Zuflüsse ausländischer Direktinvestitionen . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Abbildung 9.1: Der Arbeitsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Abbildung 9.2: Der Prozess der wirtschaftlichen Entfremdung . . . . . 358 <?page no="583"?> Abbildung 9.3: Aspekte der Arbeitsbedingungen in der kapitalistischen Wirtschaft, Quelle: Sandoval (2013), wiedergegeben mit Genehmigung . . . . . . . . . . . . . . . . 363 Abbildung 9.4: Alltagsleben und Alltagskommunikation . . . . . . . . . . 386 Abbildung 9.5: Alltagsleben und Alltagskommunikation in der Coronavirus-Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 Abbildung 10.1: Die Entwicklung der Profite von Google . . . . . . . . . . 402 Abbildung 10.2: Der Zyklus der Kapitalakkumulation . . . . . . . . . . . . . 405 Abbildung 10.3: Der Kapitalakkumulationszyklus der zielgerichteten Werbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 Abbildung 10.4: Die internationale Teilung der digitalen Arbeit . . . . . 412 Abbildung 11.1: Eine Typologie der Theorien der Informationsgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 Abbildung 11.2.: Die Produktionsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452 Abbildung 12.1: Ein Modell der Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482 Abbildung 12.2: Ein Modell der digitalen Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . 498 Abbildung 13.1: Das Mediensystem als Teil der Öffentlichkeit. Weiterentwicklung auf der Grundlage von Habermas 2008, Abbildung 1 & 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511 Abbildung 13.2: Das Konzept des Club 2.0 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 535 Abbildungsverzeichnis 583 <?page no="584"?> Tabellenverzeichnis Tabelle 2.1: Die Entwicklung der Lohnquote in ausgewählten Ländern, Datenquelle: AMECO, bereinigte Lohnquote, Gesamtwirtschaft, BIP zu jeweiligen Marktpreisen, aufgerufen am 13. Februar 2023 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 Tabelle 2.2: Unterschiede zwischen Neoklassischer Ökonomik und Kritik der Politischen Ökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Tabelle 3.1: Die Medien- und Kommunikationswissenschaften und einige ihrer Unterfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Tabelle 4.1: Arten der Forschungsfragen, die die Politische Ökonomie der Kommunikation und der Medien stellt . 115 Table 5.1: Die Anzahl der Mitglieder der IAMCR-Gruppen (Sektionen und Arbeitsgruppen), Datenquelle: https: / / ia mcr.org/ , abgerufen am 4, November 2021 . . . . . . . . . . . 152 Tabelle 5.2: Anzahl der Mitglieder aus bestimmten Ländern in der Sektion Politische Ökonomie der IAMCR, Datenquelle Tabelle 5.2: Anzahl der Mitglieder aus bestimmten Ländern in der Sektion Politische Ökonomie der IAMCR, Datenquelle: https: / / iamcr.org/ , abgerufen am 4. November 2021 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Tabelle 6.1: Anteil der Suchanfragen, die auf Desktop- und Laptop-Computern, Tablets und Mobiltelefonen von 4/ 2022 bis 3/ 2023 durchgeführt wurden, Datenquelle: ht tp: / / www.netmarketshare.com . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 Tabelle 6.2: Die meistverkauften Filme aller Zeiten. Datenquelle: htt ps: / / www.boxofficemojo.com/ chart/ top_lifetime_gross/ ? area=XWW. abgerufen am 14. Dezember 2022 . . . . . . . 195 Tabelle 6.3: Unternehmen. die den weltweiten Umsatz an den Kinokassen dominieren. 1995-2022. Datenquelle: https: / / www.the-numbers.com/ current/ market/ distributors, abgerufen am 14. Dezember 2022 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Tabelle 6.4: Tagesreichweite der national erscheinenden britischen Zeitungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 <?page no="585"?> Tabelle 6.5: Reorganisierte Daten zur Tagesreichweite britischer Tageszeitungen, die auf nationaler Ebene veröffentlicht werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Tabelle 6.6: Die Reichweite der überregionalen Zeitungen in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 Tabelle 6.7: Reorganisierte Daten zur Tagesreichweite der deutschen überregionalen Zeitungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Tabelle 6.8: Anteil der Suchanfragen, die über Desktop- und Laptop-Computer, Tablets oder Mobiltelefone durchgeführt werden, von April 2022 bis März 2023, . . . 218 Tabelle 7.1: Finanzdaten von Procter & Gamble, Datenquelle: P&G, SEC Filings, Formular 10-K, verschiedene Jahre . . . . . . . 231 Tabelle 7.2: Anteil bestimmter Medien an den weltweiten Werbeeinnahmen im Jahr 2024, Datenquelle: Statista, ht tps: / / www.statista.com/ statistics/ 269333/ distribution-of -global-advertising-expenditure/ , abgerufen am 13. Februar 2023 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 Tabelle 7.3: Die Entwicklung der Werbung im Kapitalismus, basierend auf Murdock (2013, 130) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Tabelle 7.4: Raymond Williams‘ Inhaltsanalyse von Fernsehprogrammen, basierend auf Williams (1974, 83) 254 Tabelle 7.5: Raymond Williams' Inhaltsanalyse von Fernsehprogrammen, umkodierte Daten, basierend auf Williams (1974, 84) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 Tabelle 8.1: Anteil der Einnahmen der weltweit größten 2.000 Unternehmen am globalen BIP, Datenquelle: Forbes 2000, 2008-2022 (Einnahmen), WDI (Globales BIP in laufenden US$, abgerufen am 15. Dezember 2022) . . . . . 299 Tabelle 8.2: Durchschnittlicher Transnationalitätsindex der weltweit größten transnationalen Unternehmen und Informationskonzerne, Datenquelle: World Investment Report 2012, 2013, 2021 & 2022 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Tabelle 8.3: TNI der Informationskonzerne, Datenquelle: World Investment Report 2022, N=21 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Tabelle 8.4: Anteil der fünf größten Branchen an den Kapitalanlagen der 2000 größten Unternehmen der Welt (Datenquelle: Forbes 2000 List of the World's Largest Public Companies, Liste für das Jahr 2013) . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 Tabellenverzeichnis 585 <?page no="586"?> Tabelle 8.5: Anteil bestimmter Branchen an den gesamten Profiten, Einnahmen und Kapitalanlagen der weltweit größten 2000 transnationalen Konzerne (Datenquelle: Forbes 2000 List of the World‘s Largest Public Companies, Jahr 2018) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Tabelle 8.6: Die Weltwirtschaft während der COVID-19-Pandemie, Datenquelle: BIP: World Development Indicators, andere: UNCTAD Stat; Datenzugriff für 2018-2020 am 15. Dezember 2021, für das Jahr 2021 am 15. Dezember 2022 307 Tabelle 8.7: Länder mit den größten Anteilen an den weltweiten Beständen ausländischer Direktinvestitionen, in %, aufgeführt sind alle Länder, die in einem der angezeigten Jahre einen Anteil von > 4-% hatten, Datenquelle: UNCTAD, abgerufen am 8. November 2021 . . . . . . . . . . 312 Tabelle 8.8: Länder mit den größten Anteilen an den weltweiten Beständen ausländischer Direktinvestitionen, in %, aufgeführt sind alle Länder, die in einem der angezeigten Jahre einen Anteil von > 4-% hatten, Datenquelle: UNCTAD, abgerufen am 8. November 2021 . . . . . . . . . . 314 Tabelle 8.9: Die Macht der konkurrierenden politisch-ökonomischen Kräfte in der heutigen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 Tabelle 8.10: Das weltweite Atomwaffenarsenal, Datenquelle: https: / / www.sipri.org/ yearbook/ 2022/ 10, abgerufen am 30. Januar 2023 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 Tabelle 8.11: Absoluter Anteil der weltweit größten 100 Unternehmen, die ihren Hauptsitz in ausgewählten Regionen und Ländern haben, Datenquelle: Forbes 2000 Liste für das Jahr 2022 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Tabelle 8.12: Weltweit meistverkaufte Filme im Jahr 2009, Datenquelle: https: / / www.boxofficemojo.com/ year/ wor ld/ 2009/ , abgerufen am 23. November 2021 . . . . . . . . . . . 323 Tabelle 8.13: Weltweit meistverkaufte Filme im Jahr 2019, Datenquelle: https: / / www.boxofficemojo.com/ year/ wor ld/ 2019/ , abgerufen am 23. November 2021. . . . . . . . . . . 325 Tabelle 8.14: Weltweit meistverkaufte Filme im Jahr 2020, Datenquelle: https: / / www.boxofficemojo.com/ year/ wor ld/ 2020/ , abgerufen am 23. November 2021. . . . . . . . . . . 326 586 Tabellenverzeichnis <?page no="587"?> Tabelle 8.15: Weltweit meistverkaufte Filme im Jahr 2021, Datenquelle: https: / / www.boxofficemojo.com/ year/ wor ld/ 2021/ , abgerufen am 23. November 2021 . . . . . . . . . . . 328 Tabelle 8.16: Entwicklung der Auslandsverschuldung von Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen gegenüber China, den USA, der Internationalen Entwicklungsorganisation (IDA) der Weltbank, der Internationalen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (IBRD) der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds (IWF), in Milliarden US$, Datenquelle: World Bank Data, World Bank International Debt Statistics, abgerufen am 19. August 2022) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 Tabelle 8.17: Internationale Schuldverschreibungen im Jahr 2021, in Milliarden US$, Datenquelle: Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) Statistics, https: / / stats.bis.org/ , abgerufen am 19. August 2021 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Tabelle 9.1: Ein Klassenschema (beruhend auf Wright 1997, 25) . . . . 360 Tabelle 9.2: Veränderungen der Klassenstruktur in den USA von 1960 bis 1990 (basierend auf Wright 1997, 99), in Prozent der Erwerbsbevölkerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Tabelle 9.3: Aspekte der globalen Arbeiterklasse, Angaben in Millionen, Datenquelle: ILO World Employment and Social Outlook, abgerufen am 26. November 2021 . . . . . 361 Tabelle 9.4: Dimensionen der Arbeitsbedingungen, Quelle: Sandoval (2013), wiedergegeben mit Genehmigung . . . . . . . . . . . . 363 Tabelle 9.5: Modelle der Produktion von Kulturwaren und dabei relevante Formen der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 Tabelle 9.6: Bereinigte Lohnquote in Prozent des BIP zu aktuellen Marktpreisen, Datenquelle: AMECO, abgerufen am 9. November 2021 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Tabelle 9.7: David Harveys (2005) Typologie des sozialen Raums . . . 383 Tabelle 9.8: Sozialer Raum in der Coronavirus-Krise . . . . . . . . . . . . . 384 Tabelle 9.9: Lefebvres Unterscheidung zwischen dem Erlebten und dem Leben (Quelle: Lefebvre 2002, 166, 216-218) . . . . . . 385 Tabellenverzeichnis 587 <?page no="588"?> Tabelle 9.10: Vor- und Nachteile des Homeoffices in der COVID-19 Pandemie, Durchschnittswerte einer Likert-Skala (1: „Ich stimme überhaupt nicht zu“, 5: „Ich stimme vollständig zu“), Quelle: Ipsen, van Vaeldhoven Kirchner & Hansen 2021, Tabelle 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Tabelle 10.1: Rang von Google in der Liste der größten börsennotierten Unternehmen der Welt, Datenquelle: Forbes 2000-Liste für verschiedene Jahre . . . . . . . . . . . . . 403 Tabelle 10.2: Entwicklung der Rangfolge der drei reichsten Direktoren von Google in der Liste der 400 reichsten Amerikaner, Datenquelle: Forbes 400 List of the Richest Americans, verschiedene Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 Tabelle 10.3: Eine Typologie der digitalen Arbeit und der Kapitalakkumulationsmodelle in der digitalen Kulturwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 Tabelle 11.1: Die Entwicklung der Berufsstruktur in den Vereinigten Staaten (Datenquelle: Machlup 1962, 381) . . . . . . . . . . . . 437 Tabelle 11.2: Akkumulation als allgemeiner Prozess in der kapitalistischen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444 Tabelle 11.3: Drei Formen der Organisation der Produktivkräfte . . . . 453 Tabelle 11.4: Fünf Produktionsweisen, definiert durch ihre Klassenverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 Tabelle 11.5: Beschäftigung in der Landwirtschaft weltweit, in Millionen, Datenquelle: ILO World Employment and Social Outlook, abgerufen am 23. Januar 2022 . . . . . . . . 456 Tabelle 11.6: Beschäftigung in der verarbeitenden Industrie weltweit, in Millionen, Datenquelle: ILO World Employment and Social Outlook, abgerufen am 23. Januar 2022 . . . . . . . . 456 Tabelle 11.7: Beschäftigung im Dienstleistungssektor weltweit, in Millionen, Datenquelle: ILO World Employment and Social Outlook, abgerufen am 23. Januar 2022 . . . . . . . . 457 Table 11.8: Entwicklung der Beschäftigung in der Landwirtschaft, in der verarbeitenden Industrie und im Dienstleistungssektor, in Millionen und %, Datenquelle: http: / / www.ilo.org/ wesodata, abgerufen am 23. Januar 2022 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 Tabelle 11.9: Globale Lohnquote (Global Labour Income), Datenquelle: ILOSTAT, abgerufen am 16. Dezember 2022 458 588 Tabellenverzeichnis <?page no="589"?> Tabelle 11.10: Ebenen und Strukturen der kapitalistischen Gesellschaft 469 Tabelle 11.11: Akkumulation als allgemeiner Prozess in der kapitalistischen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470 Tabelle 11.12: Die Antagonismen des digitalen Kapitalismus . . . . . . . . 470 Tabelle 11.13: Die Rolle der Akkumulation im digitalen Kapitalismus . 471 Tabelle 12.1: Splichals Modell der Öffentlichkeit (basierend auf Splichal 2022a, 139) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 Tabelle 12.2: Antagonismen bei drei Formen der Entfremdung . . . . . 491 Tabelle 12.3: Hauptakteure in der entfremdeten und der humanistischen Gesellschaft; beruhend auf Fuchs 2020, S.-140: Tabelle 4.4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492 Tabelle 12.4: Drei Formen der digitalen Entfremdung . . . . . . . . . . . . . 501 Tabelle 13.1: Vier politische Ökonomien der Medien (aufbauend auf Fuchs 2020, Kapitel 8 & 12 & 14; Murdock 2011) . . . . . . 511 Tabelle 13.2: Dimensionen des Selbstverständnisses der öffentlich-rechtlichen Medien in vierzehn Ländern (auf der Grundlage von Cañedo, Rodríguez-Castro und López-Cepeda 2022) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 516 Tabelle 13.3: Ein Modell der öffentlich-rechtlichen Medien . . . . . . . . . 518 Tabelle 13.4: Die Finanzhaushalte von BBC, ARD und ZDF, Datenquellen: BBC Group Annual Report and Accounts 2020/ 21, ARD-Bericht über die wirtschaftliche und finanzielle Lage der Landesrundfunkanstalten 2020, ZDF Jahresabschluss 2019, Deutschlandradio Ertrags- und Aufwandsrechnung für das Geschäftsjahr 2020 . . . . . . . 526 Tabelle 13.5: Vier politische Ökonomien der digitalen Plattformen . . 530 Tabelle 14.1: Top-Manager und Gründer von großen Digital-Unternehmen und ihre Eigentums- und Stimmrechtsbefugnisse, Datenquelle: Proxy Statements der Unternehmen 2022 [Alibaba: Jahresbericht 2022] . . 552 Tabellenverzeichnis 589 <?page no="590"?> ISBN 978-3-8252-6077-4 Das Buch führt in eine Vielzahl von Methoden und Themen ein, darunter die politische Ökonomie der Kommunikation im Kapitalismus, Medienkonzentration, Werbung, globale Medien und transnationale Medienkonzerne, Klassenverhältnisse und Arbeitsbedingungen in der Medien- und Kommunikationsindustrie, das Internet und digitale Medien, die Informationsgesellschaft und der digitale Kapitalismus, die Medien in der Öffentlichkeit, öffentlichrechtliche Medien, das öffentlich-rechtliche Internet und das Medienmanagement. Das Buch kann in Studiengängen mit den Schwerpunkten Medien- und Kommunikationswissenschaft, Digitale Medien, Medienökonomie, Soziologie, Politikwissenschaft, Management- und Organisationswissenschaft, Wirtschaftswissenschaften, Volkswirtschaftslehre und Betriebswirtschaftslehre eingesetzt werden. Medienwissenschaft | Kommunikationswissenschaft | Wirtschaftswissenschaften | Sozialwissenschaften Dies ist ein utb-Band aus dem UVK Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehr- und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel