Geschichte der Kulturwissenschaft
Vom Gilgamesch-Epos bis zur Kulturpoetik
0925
2023
978-3-8385-6096-0
978-3-8252-6096-5
UTB
Gerhard Katschnig
10.36198/9783838560960
Kultur ist jene ebenso grundlegende wie umfassende anthropologische Konstante, die den Menschen als sich selbst und seine Welt als solche erfahrbar macht. Sie entsteht im historischen wie im tagtäglichen Prozess und ist zugleich Reflexion des Menschen über diesen Prozess - Objektebene und Metaebene in einem. Der methodische Umgang damit markiert die Kernkompetenz der Kulturwissenschaft.
Die vorliegende "Geschichte der Kulturwissenschaft" beschreibt dieses weite Feld kulturwissenschaftlicher Erkenntnisinteressen und Forschungsperspektiven anhand von entscheidenden historischen Semantiken, Untersuchungsfeldern, Kulturrevolutionen, kulturkritischen Zeitdiagnosen und ausgewählten Kulturtheoretikern in einem Überblick vom Gilgamesch-Epos in der Antike bis zur amerikanischen Kulturpoetik in der Gegenwart.
<?page no="0"?> Gerhard Katschnig Geschichte der Kulturwissenschaft <?page no="1"?> utb 6096 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Brill | Schöningh - Fink · Paderborn Brill | Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen - Böhlau · Wien · Köln Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Narr Francke Attempto Verlag - expert verlag · Tübingen Psychiatrie Verlag · Köln Ernst Reinhardt Verlag · München transcript Verlag · Bielefeld Verlag Eugen Ulmer · Stuttgart UVK Verlag · München Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld Wochenschau Verlag · Frankfurt am Main <?page no="2"?> Dr. Gerhard Katschnig ist Kulturwissenschafter und Lehrbeauftragter am Institut für Kulturanalyse an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. <?page no="3"?> Gerhard Katschnig Geschichte der Kulturwissenschaft Vom Gilgamesch-Epos bis zur Kulturpoetik Narr Francke Attempto Verlag · Tübingen <?page no="4"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.36198/ 9783838560960 © 2023 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Ver‐ vielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: in‐ nen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: siegel konzeption | gestaltung CPI books GmbH, Leck utb-Nr. 6096 ISBN 978-3-8252-6096-5 (Print) ISBN 978-3-8385-6096-0 (ePDF) ISBN 978-3-8463-6096-5 (ePub) Umschlagabbildung: Robert de Baudous (1574/ 75-1659), „Prometheus Making Man and Animating Him with Fire from Heaven“, Ailsa Mellon Bruce Fund, Courtesy National Gallery of Art, Washington, Creative Commons Zero (CC0). Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 7 9 9 I 23 a) 23 b) 28 c) 33 II 41 a) 41 b) 46 c) 52 III 59 a) 59 b) 64 c) 69 IV 77 a) 77 b) 83 c) 89 V 95 a) 95 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung oder Krux der Selbstthematisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nun sag’, wie hast du’s mit der Kulturwissenschaft? . . . . . . . . . . . Ecce homo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gilgamesch und die Anfänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mythen und wahre Erzählungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kultur zwischen Strafe, Selbstsetzung und Barbarei . . . . . . Glaube und Wissen - Imperium und Sacerdotium . . . . . . . . . . . . . Christentum und Mönchskultur im Westen . . . . . . . . . . . . . Organisiertes Wissen und Kulturtransfer . . . . . . . . . . . . . . . Von neuen Glaubensformen zu ersten Anklängen volkssprachlicher Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischen Humanismus und Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ad fontes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Buchdruck, Selbstfindung und Bildungsbedürfnis . . . . . . . Florentinische Selbstbilder der Renaissance . . . . . . . . . . . . . Von unbekannten Welten bis zum Verstehen der eigenen Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neue Alteritätserfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anfänge institutionalisierter (natur-)wissenschaftlicher Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Souverän der eigenen Existenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Historizität: von den Universalgeschichten zur Kulturgeschichtsschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von den Utopien zu den Universalgeschichten . . . . . . . . . . <?page no="6"?> b) 100 c) 106 VI 113 a) 113 b) 118 c) 124 VII 131 a) 131 b) 137 c) 143 VIII 149 a) 149 b) 155 c) 162 IX 169 a) 169 b) 177 c) 183 191 a) 191 b) 199 207 209 248 Kultur und Selbsterkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kultur und Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Genuss und Kritik im Zeitalter der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . Kulturgenuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kultur als Verderbnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kompensation durch Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kulturphilosophie - zwischen Industrialisierung und Naturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Industrie - Technik - Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Naturwissenschaft - Geisteswissenschaft - Kulturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Preis der Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Pessimismus zum Kompromiss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Objektivität und Gegenstand der Kulturwissenschaft . . . . Kaffeehaus und Elendsviertel: Wien um 1900 . . . . . . . . . . . Kultur zwischen Heuchelei und Kompromiss . . . . . . . . . . . Der Weg in die Internationalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kulturwissenschaftliche Institutionalisierung . . . . . . . . . . . Widerstand zwischen Faschismus und Antisemitismus . . . Kultur als Protest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausblick - Kulturwissenschaft heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Perspektiven kulturwissenschaftlicher Forschung . . . . . . . Was heißt und zu welchem Ende studiert man Kulturwissenschaft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> Vorwort Der vorliegende Band stützt sich auf zahlreiche, intensive Vorarbeiten der letzten Jahre. Am Institut für Kulturanalyse an der Universität Klagenfurt halte ich Lehrveranstaltungen zur Geschichte der Kulturwissenschaft, wel‐ che die neun Hauptkapitel sowie den Ausblick als Abschluss widerspiegeln. 2015 bis 2017 erschienen in der Zeitschrift Kultursoziologie, herausgegeben von Wolfgang Geier et al. in Potsdam, die überarbeiteten und in eine wissenschaftliche Form gebrachten ersten sieben Kapitel, ehe die Zeitschrift Mitte 2017 eingestellt wurde. Für das vorliegende Buch wurden diese Kapitel - wie der Rest des Bands - deutlich überarbeitet und erweitert. Für ausführliche Gespräche, Vorschläge und schriftliche Hinweise, denen manche Korrektur und Erweiterung folgte, danke ich Reinhard Kacianka (†), Johann Strutz (†), Klaus Schönberger, Harald Krahwinkler, Mario Rausch (alle Klagenfurt am Wörthersee), Ingo Meyer (Bielefeld), Richard Saage (Berlin) sowie Stefan Selbmann vom Narr Francke Attempto Verlag. Großer Dank gilt außerdem Wolfgang Geier (Leipzig), der das Konzept dieses Buches geprägt sowie von Anfang an begleitet und unterstützt hat. Wo es aufgrund von sprachlicher Präzisierung oder fehlender Überset‐ zung angebracht scheint, werden fremdsprachige Quellen im Original zi‐ tiert, ansonsten folgt eine deutschsprachige Übersetzung. <?page no="9"?> 1 von Goethe, J. W.: Faust. Der Tragödie erster Teil (= Goethe Werke, Bd. 3). Herausge‐ geben von Albrecht Schöne und Waltraud Wiethölter. Frankfurt am Main/ Leipzig 1998, V. 3415-3417. 2 Vgl. Liessmann, K. P.: Gretchens Frage und warum Faust darauf keine Antwort wusste. In: Ders. (Hrsg.): Die Gretchenfrage Nun sag, wie hast du’s mit der Religion? (= Philosophicum Lech, Bd.-11). Wien 2008, S.-9-13. Einleitung oder Krux der Selbstthematisierung Nun sag’, wie hast du’s mit der Kulturwissenschaft? Die Frage „Nun sag’, wie hast du’s mit der Kulturwissenschaft? “ klingt teils vertraut, geht sie doch auf eine bekannte Szene in Faust. Der Tragödie erster Teil zurück: „Nun sag’, wie hast du’s mit der Religion? Du bist ein herzlich guter Mann, allein ich glaub‘, du hältst nicht viel davon.“ 1 Gretchens Frage an Faust bildet einen Störfaktor inmitten der konstruierten Intimität zwischen einem Gelehrten, der mit dem Teufel paktiert, und einer Jugendlichen, die nicht leicht verführt werden will. Fausts Antwort verweist auf die Schwierigkeit, Anfang und Ende einer Argumentationskette zu benennen, die vor Jahrhunderten entwickelt wurde, und fordert ein Bekenntnis heraus, zu dem man, sollten erhebliche Reflexionsstandards fehlen, nicht ohne Weiteres bewegt wird. 2 Ähnlich verhält es sich bei der an den Leser wie an den Autor des vorliegenden Bands gestellten Gretchen-Frage nach dem Verhältnis zur Kulturwissenschaft - vor allem, wenn wir nach den Anfängen, methodischen Grundlagen sowie Quellen und Gegenstandsfeldern fragen. Kultur ist jene ebenso grundlegende wie umfassende anthropologische Konstante, die den Menschen als sich selbst und seine Welt als solche erfahrbar macht. Es gibt nichts Komplexeres, das der Mensch untersuchen kann. Zugleich gibt es für den methodischen Umgang mit Kultur - und das markiert die Kernkompetenz der Kulturwissenschaft - keine verbind‐ liche disziplinäre Zuschreibung, die eine rasche Selbstklärung garantiert. Wenn wir auf die terminologische Erstnennung im deutschsprachigen Raum rekurrieren wollen, so ist der Befund recht eindeutig: am Ausgang <?page no="10"?> 3 Vgl. Koselleck, R.: Zeitschichten. Studien zur Historik. Mit einem Beitrag von Hans Georg Gadamer. Frankfurt am Main 2003, S.-302f. 4 Vgl. Stender, A.: Durch Gesellschaftswissenschaft zum idealen Staat. Moritz von Lavergne-Peguilhen (1801-1870) (= Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, Bd. 29; zugleich Diss., Univ. Gießen 2002). Berlin 2005, S.-115-119. 5 von Lavergne-Peguilhen, M.: Grundzüge der Gesellschaftswissenschaft. Zweiter Theil: Die Kulturgesetze. Königsberg 1841, S.-6f. der von dem Historiker Reinhart Koselleck als heuristischen Vorgriff auf das Grundlagenwerk Geschichtliche Grundbegriffe benannten Sattelzeit in der Mitte des 19. Jahrhunderts, als nach dem Ende der Aufklärung und der Französischen Revolution ein neues Verhältnis des Menschen zu politischen/ ideologischen, religiösen und sozialen Zuordnungen sowie Erfahrungen ausgebildet wurde. 3 Der aus Preußen stammende, heute weit‐ gehend unbekannte Politiker und wissenschaftliche Autodidakt Moritz von Lavergne-Peguilhen 4 veröffentlichte 1838 bis 1841 sein auf drei Bände ange‐ legtes Hauptwerk Grundzüge der Gesellschaftswissenschaft. Darin plante er, die Gesellschaftswissenschaft als universitäres Verbindungsglied zwischen Staatswissenschaft und Nationalökonomie anzulegen. Im zweiten Band Die Kulturgesetze (1841) kam er auf die Kulturwissenschaft zu sprechen, deren Rolle und Bedeutung in der Gesellschaft er kühn und verheißungsvoll wie folgt ausformulierte: Die Kulturwissenschaft steht in der Mitte zwischen den rein philosophischen und den rein practischen Wissenschaften, […] Abgesehen von der erhöheten Intelligenz, die aus der Beschäftigung mit einer so umfassenden Wissenschaft unausbleiblich hervorgeht, gewährt diese, wie die Gesellschaftswissenschaft überhaupt, zugleich eine klare Anschauung des gesellschaftlichen Gesammtor‐ ganismus, sie lehrt das Verhältnis des individuellen Wirkungskreises zu dem der Nation, die Richtung beider kennen, und giebt dadurch die Mittel an die Hand, beide in Einklang ihrem gemeinsamen Ziele entgegen zu führen. 5 Lavergne-Peguilhens Einschätzung liest sich wie ein curriculares Wunsch‐ prospekt: Zwischen philosophischer Theorie und wissenschaftlicher Praxis vermittelnd, sucht den Studierenden nicht nur unweigerlich die erhöhte Intelligenz heim, sobald er sich dem Studium der Kulturwissenschaft hingibt. Vielmehr solle es das studierende Individuum schulen, um über die Vervollkommnung des Menschen zu wissenschaftlicher Erkenntnis und gesellschaftlichem Fortschritt beizutragen. Im weiteren Verlauf war 10 Einleitung oder Krux der Selbstthematisierung <?page no="11"?> 6 Vgl. Miller, P.: The Missing Link: „Antiquarianism,“ „Material Culture,“ and „Cultural Science“ in the Work of G. F. Klemm. In: Ders. (Hrsg.): Cultural Histories of the Material World. University of Michigan Press 2013, S.-269ff. 7 Klemm, G.: Grundideen zu einer allgemeinen Cultur-Wissenschaft. In: Sitzungsberichte der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Classe. Bd. 7. Wien 1851, S.-184f. Lavergne-Peguilhen darum bemüht, die Erreichung eines kulturellen Ideal‐ zustands über einzelne Entwicklungsstufen zu skizzieren. Schwieriger wird es, wenn wir nach den methodischen Grundlagen und Quellen, nach dem Forschungsprogramm einer Kulturwissenschaft fragen. Zu einer diesbezüglich akademischen Bestimmung setzte der heutzutage fast ebenso wenig bekannte Ethnologe und Archäologe Gustav Klemm an. In den Grundideen zu einer allgemeinen Cultur-Wissenschaft, die er als Abhandlung 1851 der philosophisch-historischen Klasse der Akademie der Wissenschaften in Wien zum Vorlesen geschickt und für den Abdruck bestimmt hatte, skizzierte er in Abgrenzung zur Kulturgeschichte und zur Naturwissenschaft für die Kulturwissenschaft folgenden dreiteiligen Forschungsfokus: 6 Die Culturwissenschaft beginnt mit den materiellen Grundlagen des menschli‐ chen Lebens, mit der Darstellung der körperlichen Bedürfnisse, den Mitteln zu deren Befriedigung und den daraus entspringenden Erzeugnissen. Sie stellt so‐ dann die menschlichen Verhältnisse in der Familie und in ihrer Erweiterung zum Staate dar. Der letzte Abschnitt derselben aber hat die Betrachtung der Ergebnisse menschlicher Erforschung und Erfahrung, so wie die geistigen Schöpfungen des Menschen in der Wissenschaft und Kunst zu entwickeln. 7 Der im Wiener Sitzungsbericht als Bibliothekar zu Dresden titulierte Klemm versuchte es somit zehn Jahre nach Lavergne-Peguilhen mit einer etwas bescheideneren Formulierung, in der von intellektueller Attraktivität und gesellschaftlicher Gesamtgenesung keine Rede mehr war. Kulturwissen‐ schaft zu betreiben, hieß für Klemm, sich den materialen Grundlagen des Menschen zu widmen, den Verhältnissen der Menschen zueinander in Kleingruppen sowie in größeren Verbänden/ Gesellschaften Beachtung zu schenken sowie das von Menschen aus allen Zeiten Geschaffene bzw. Pro‐ duzierte, das nach dieser Formulierung die Gnade Gottes ebenso einschloss wie den Klassenkampf oder ein nach standardisierten Maßstäben geschaf‐ fenes Kunstwerk, zu inkludieren. Als Quellen einer solcherart verstandenen Nun sag’, wie hast du’s mit der Kulturwissenschaft? 11 <?page no="12"?> 8 Ebda., S.-169. 9 Siehe: Institut für Kulturanalyse: Bachelorstudium: https: / / www.aau.at/ kulturanaly se/ studium-angewandte-kulturwissenschaft/ bachelorstudium-angewandte-kulturwiss enschaft/ Kulturwissenschaft waren „sämmtliche Denkmale menschlicher Thätigkeit“ zu bezeichnen: […] alle von den Menschen für seine Nahrung, Kleidung, Wohnung veränderte und bearbeitete Naturstoffe, oder […] Gefässe, Werkzeuge, Maschinen u.s.w. Dann aber sind vornehmlich für die höhern Culturstände die Berichte und Urkunden von Verträgen, Verordnungen, Einrichtungen zu nennen, sowie die Berichte jeglicher Art, die über menschliche Zustände vorhanden sind, nebst den Erzeugnissen der Wissenchaft und Kunst. Diese Denkmale werden aber erst geniessbar, belehrend und beweisend, wenn sie je nach ihrer Entwicklung aus den ersten Anfängen auf einem Puncte vereinigt sind. 8 In moderne Termini übertragen, fokussierte Klemm auf Materialität und Überlieferung, auf die materiale und die mentale Dimension von Kultur sowie auf den Gesamtkomplex kollektiver Sinnkonstruktionen, der sich in alltäglichen Handlungsformen ebenso wie in übergreifenden Normen‐ horizonten widerspiegelt. Vergleichbares findet sich in gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Studienprogrammen - so etwa am Institut für Kulturanalyse mit dem Studiengang Angewandte Kulturwissenschaft an der Universität Klagenfurt: Kulturanalyse: In diesem Schwerpunkt setzen Sie sich mit unterschiedlichen kulturellen Phänomenen auseinander. Unter kulturellen Phänomenen verstehen wir alltägliches Handeln genauso wie Kunst, Musik und Literatur. Sie lernen qua‐ litative, insbesondere ethnographische Methoden (z. B. Interview, teilnehmende Beobachtung, visuelle Methoden) sowie hermeneutisch-interpretative und quan‐ titative Methoden kennen […]. Sie erproben diese methodischen Zugänge an gegenwärtigen sowie historischen Themen. 9 Es spricht viel dafür, den Ansatz Klemms für eine Geschichte der Kulturwis‐ senschaft zu verfolgen, wenngleich eine Spezifizierung notwendig ist, um nicht in den Versuch einer Weltgeschichte abzugleiten, der einer Nabelschau menschlicher Leistungen gliche. Betrachtet man die heute gängigen und zentralen Einführungsbände zum Thema Kulturwissenschaft, so fällt auf, dass es sich dabei überwiegend um gelungene Lehrbzw. Nachschlagewerke 12 Einleitung oder Krux der Selbstthematisierung <?page no="13"?> zu den zahlreichen Facetten und Standortbestimmungen des akademischen Fachs handelt. Sie erörtern und diskutieren, wenn die historische Genese der Methodologie bzw. des Untersuchungsgegenstands eruiert wird, nach unterschiedlichen Schwerpunkten Geschichten der Kulturwissenschaft und werden im Folgenden ab Kapitel VIII gebührend zitiert. In der Regel reicht dabei der inhaltliche und zeitliche Fokus aber nicht weiter als bis ins 18. Jahrhundert zurück, da mit diesem Zeitrahmen der Beginn der moder‐ nen Kulturtheorien, folglich der Kulturwissenschaft, angesetzt wird. Kurze Verweise auf antike Begriffsmuster bei Platon, Aristoteles oder Cicero runden den Blick ab. Während der Vorzug dieser Einführungsbände in der konzisen Beschreibung von drei Jahrhunderten liegt, wird der Nach‐ teil darin ersichtlich, dass Zeiträume und Phasen von über 2000 Jahren sowie epochenübergreifende kulturwissenschaftliche Fragestellungen und Forschungsperspektiven ausgeklammert und damit unweigerlich den aka‐ demischen Nachbardisziplinen (Kunst-)Geschichte, Theologie, Philosophie, Germanistik etc. überlassen werden. Ausnahmen bilden jene Werke, bei denen es sich zumeist um Sammelbände handelt, die einen historischen Bei‐ trag zum (Selbst-)Verständnis der Kulturwissenschaft leisten. Wenngleich es sich dabei um zum Teil disparat verfasste Einzelstudien handelt, die in einem thematisch breit gefächerten Band lose zusammengehalten werden, zielen sie darauf ab, wesentliche Aspekte des Forschungsbereichs Kultur‐ wissenschaft von den Anfängen der Schriftkultur im griechischen Altertum bis in die Gegenwart der Cultural Studies und der deutschsprachigen Kulturwissenschaft(en) sichtbar zu machen. Die Vorzüge beider Ansätze sind schwierig zu vereinen, dennoch soll hier der Versuch aufgegriffen werden. Das Potenzial zur Originalität des folgenden Versuchs liegt darin, dass die Kulturwissenschaft nicht erst ab dem mehr oder minder bekannten Traditi‐ onsbestand aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, sondern in ihrer historischen Genese aus antiker Philosophie wie den späteren Geisteswissenschaften aufgegriffen und als transdisziplinäres Forschungsfeld behandelt wird, das es gilt, vom Gilgamesch-Epos bis zur amerikanischen Kulturpoetik zu bearbeiten. Nach einem Wort von Hartmut Böhme, Peter Matussek und Lothar Müller fehlt der Kulturwissenschaft, wie sie im Folgenden dargestellt sowie analysiert werden soll, die „Archäologie“ ihrer eigenen disziplinären Nun sag’, wie hast du’s mit der Kulturwissenschaft? 13 <?page no="14"?> 10 Vgl. Böhme, H./ Matussek, P./ Müller, L.: Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will. Reinbek/ Hamburg 3 2007, S.-108. 11 Vgl. Musner, L./ Wunberg, G./ Lutter, C. (Hgg.): Cultural Turn. Zur Geschichte der Kulturwissenschaften (= Kultur.Wissenschaft, Bd.-3). Wien 2001, S.-7. 12 Vgl. Geertz, C.: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Übersetzt von Brigitte Luchesi und Rolf Bindemann. Frankfurt am Main 13 2015, S.-9. Herkunftsgeschichte. 10 Verfügt die Kulturwissenschaft über eine solche Erzählung, die von den antiken Anfängen bis in die Gegenwart geschrieben und argumentiert werden kann? Eine derartige konzise und repräsentative Geschichte der Kulturwissenschaft, die einerseits zur Selbstbegründung der disziplinären Identität, andererseits als programmatische Umrisszeichnung gegenüber einem universitär verankerten Fächerspektrum fungiert, ist als Monografie, so Lutz Musner, Gotthart Wunberg und Christina Lutter im Geleitwort zu ihrem Sammelband, 11 noch nicht geschrieben worden. Was folgen soll, ist jedoch kein systematischer Anspruch à la Systemtheorie an sich oder gar eine definitorische Bestimmung der Kulturwissenschaft, die ein einheitliches Fachverständnis verlangt. Vielmehr wird über weite Teile ein Dialog mit den benachbarten geisteswissenschaftlichen Fächern geführt, um das komplexe Feld kulturwissenschaftlicher Erkenntnisinteressen und Forschungsperspektiven im Sinne einer methodischen und theoretischen Selbstklärung sowie Standortprofilierung zu erschließen. Das mag wie ein kühner Ansatz wirken, der zum fröhlichen Eklektizismus einlädt, doch wissen wir spätestens seit Clifford Geertz, dass es nicht nur eine Richtung gibt, die einzuschlagen wäre, sondern sehr viele, zwischen denen man eine Wahl treffen muss. 12 Folglich kann der Band nicht anders denn als Überblick angelegt sein und aus Platzsowie vor allem aus Kom‐ petenzgründen keine erschöpfende Darstellung beanspruchen. Er richtet sich dabei sowohl an Studierende als Orientierungshilfe, um grundlegende Themenbereiche und Fragestellungen der Kulturwissenschaft anzuführen sowie zentrale kulturtheoretische Begrifflichkeiten zu benennen, als auch an Kultur- und Geisteswissenschaftler als Reflexionsangebot. In Anlehnung an Klemms dreigeteilten Forschungsfokus werden pro Kapitel historische Semantiken (z. B. cultura animi, Tragödie der Kultur), Untersuchungsfelder (z. B. Kultur als Hinweis auf die Pflege und das Gepflegte des Menschen, Per‐ spektiven kulturwissenschaftlicher Forschung), Kulturrevolutionen (z. B. karolingische Bildungsreform, industrielle Revolution), kulturkritische Zeit‐ diagnosen (z. B. Kompensation durch Kunst, Kultur als Protest) sowie ausgewählte Vertreter der Kulturtheorien (z. B. Giambattista Vico, Max 14 Einleitung oder Krux der Selbstthematisierung <?page no="15"?> 13 Vgl. Aleksandrowicz, D.: Die beiden Grundprobleme der Kulturwissenschaft. In: Kitt‐ steiner, H. D. (Hrsg.): Was sind Kulturwissenschaften? 13 Antworten. München 2004, S. 29ff.; Böhme, H.: Kulturwissenschaft als Modell? - Perspektiven grenzüberschreiten‐ der Wissenschaftsentwicklung. In: Neue Beiträge zur Germanistik, 2004, 3/ 3, S.-12. 14 Als Liste mustergültiger Personen und Werke ohne Anspruch auf Vollständigkeit etwa bei Leggewie, C. et al. (Hgg.): Schlüsselwerke der Kulturwissenschaften (= Edition Kulturwissenschaft, Bd. 7). Bielefeld 2012 - mit Teilabdruck der Originaltexte bei Borgards, R. (Hrsg.): Texte zur Kulturtheorie und Kulturwissenschaft. 2., bibliografisch ergänzte Auflage. Stuttgart 2019 oder auch bei Wirth, U. (Hrsg.): Kulturwissenschaft. Eine Auswahl grundlegender Texte. Frankfurt am Main 2008. 15 Vico, G.: Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker. Übersetzt und herausgegeben von Vittorio Hösle und Christoph Jermann und mit Textverweisen von Christoph Jermann. Hamburg 2009, Abs. 331. Weber) in ihre historischen und disziplinären Kontexte eingebettet, um einen fächerübergreifenden Bezugsrahmen herzustellen. Kultur wird dem‐ nach sowohl als eigentlicher Untersuchungsgegenstand innerhalb eines spezifischen Themenfeldes als auch als explanative Kategorie verwendet, um im Gefüge geistes- und sozialwissenschaftlicher Disziplinen, die an der Universität zum Teil seit über 100 Jahren das weite Feld ‚Kultur‘ mit‐ einander konkurrierend wissenschaftlich bearbeiten, auf den gemeinsamen Nenner ‚Kulturwissenschaft‘ zu rekurrieren. 13 Persönliche Schwerpunkte, die manche Gemeinplätze behandeln, aber auch Auslassungen bedingen und ausschnitthaft wirken können, sind in einem Überblicksband unver‐ meidlich, da jegliche Methoden- und Standortwahl nicht nur aus Gründen der Darstellbarkeit ihren eigenwilligen Exklusionscharakter besitzt. Da die Kulturwissenschaft jedoch über keine verbindliche Tradition historischer Textlektüre und damit über keinen Kanon verfügt, dessen Lektüre eine Methodik des Fachs akademisch zwingend voraussetzt, soll dies keinen Makel darstellen. 14 Für die Kulturwissenschaft, wie sie im Folgenden vertreten und darge‐ stellt wird, gilt jene unhintergehbare Sinndimension, die uns vor knapp 300 Jahren Giambattista Vico in der Dämmerung der historischen Hermeneutik zum Nachlesen und Nachdenken hinterlassen hat: […] in solch dichter Nacht voller Finsternis, mit der die erste von uns so weit entfernte Urzeit bedeckt ist, erscheint dieses ewige Licht, das nicht untergeht, folgender Wahrheit, die auf keine Weise in Zweifel gezogen werden kann: daß diese politische Welt [mondo civile] sicherlich von den Menschen gemacht worden ist; deswegen können (denn sie müssen) ihre Prinzipien innerhalb der Modifikationen unseres eigenen menschlichen Geistes gefunden werden. 15 Nun sag’, wie hast du’s mit der Kulturwissenschaft? 15 <?page no="16"?> Die ersten vier Kapitel werden sich in unterschiedlichen Perspektiven mit Vicos angesprochenem Wirkungszusammenhang in der mondo civile zwischen Natur, Kultur und Gesellschaft beschäftigen, ehe ab Kapitel V mo‐ derne Ansätze und Kulturtheorien analysiert werden. Im Anschluss daran wird der konkrete Argumentationsstrang zum akademischen Terminus Kulturwissenschaft in der Mitte des 19. Jahrhunderts eröffnet. Wenngleich somit erst ab Kapitel V die für viele vertrautere Annäherung an das Fach Kulturwissenschaft bis in die Gegenwart erfolgt, dürfen dessen kultur- und wissenschaftshistorische Ursprünge als Vorgeschichte - besser gesagt: als Vorbedingung - nicht übersehen werden. Kapitel I beginnt folglich bei den Ursprüngen des modernen Menschen. Diese verlaufen innerhalb eines Zeitbereiches, der für Kulturwissenschaftler eher an die Fantasie als an eindeutige Fakten appelliert, sowie entlang einer Quellenlage, die auf Kulturreste angewiesen ist, deren Aussagewert zwischen zäher Hypothesenbildung und vager Nachweisbarkeit pendelt - wohin der Blick heutiger Archäologen und Paläoanthropologen im Wesent‐ lichen gerichtet ist: auf eine Welt, die sicherlich von den Menschen gemacht worden ist. Die vom dritten vorchristlichen Jahrtausend bis in die Zeit des römischen Altertums entstandenen Auffassungen, die Unterscheidungen zwischen Natur und Kultur, Vorgegebenem und menschlich Gesetztem (Gil‐ gamesch, Hesiod, Homer, Platon, Aristoteles, Cicero, Vergil) formulierten, schließen das Kapitel ab. Die kulturwissenschaftlich-begriffliche Grundlegung ging, so Kapitel II, mit dem Zerfall des römischen Weltreichs zu einem Gutteil verloren und geriet zum überwiegenden Teil in Vergessenheit, ehe sie in einer kurzen, aber transkulturell äußerst fruchtbaren Phase der convivencia aller drei Abrahamitischen Religionen auf der Iberischen Halbinsel und in Süditalien erneuert wurde. Der Versuch des Imperium Romanum, eine transkulturelle Einheit mit Hunderten Sprachen und beinahe ebenso vielen Kulturen/ Eth‐ nien auf geopolitischer Basis in Europa durchzusetzen, wurde von den juristisch festgesetzten Stellvertretern Christi auf Erden mit einer deutlichen Akzentverschiebung weitergeführt: verschiedene Herrscher, verschiedene Kulturen/ Ethnien, eine Gelehrtensprache, ein Glaube. Nachdem Dante Alighieri - als Abschluss von Kapitel II - seiner Gegen‐ wart mit den Stilmitteln hochmittelalterlicher Vorstellungswelten zu neuen (Glaubens-)Horizonten verholfen hatte, griff Francesco Petrarca (Kapitel III) auf die griechische und römische Antike zurück, deren Lebensweise und Sprache er, ohne Konkurrenz zur christlichen Leitkultur, aktualisieren 16 Einleitung oder Krux der Selbstthematisierung <?page no="17"?> wollte. Entgegen der hochmittelalterlichen Ausrichtung, die Schriften der kirchlichen Autoritäten durch Rückgriffe auf Aristoteles zu vermitteln, begründeten Humanismus und Renaissance des 14. bis 16. Jahrhunderts das moderne Selbstbewusstsein auf der Antikenverehrung, welche sie in unterschiedlicher Funktionalität mit der Konstitution des Menschseins verbanden. Ausgewählte Beispiele aus der Malerei (Masolino da Panicale, Masaccio), der Kunstgeschichtsschreibung (Giorgio Vasari) und der Moral‐ philosophie (Giovanni Pico della Mirandola) entfalten dies. Die in der Renaissance profilierte Hinwendung zur Welt und zum Menschen wurde im Übergang zum 17. Jahrhundert (Kapitel IV) durch säkularisierende Diskurse erweitert. Die Entdeckung einer neuen Welt ließ Gesellschaften fernab des christlichen Glaubens in das Licht der europäi‐ schen Geschichte und kulturellen Normierung eintreten (Christoph Kolum‐ bus, Bartolomé de las Casas). Diese Neuskizzierung des geografischen und kulturellen Weltbildes richtete die Aufmerksamkeit auf das eigenmächtige Handlungsmoment, das Bestehen und Gedeihen von Gesellschaft der freien Konstruktion zu unterwerfen: in Form von Utopien (Thomas Morus, Francis Bacon), die eine in sich geschlossene Gruppe mit kontrollierbarer Genese formulierten. Die aufstrebenden Naturwissenschaften lehrten eine neue Auslegung der menschlichen Natur sowie eine neue Sichtweise auf den Lauf der Gestirne (Nikolaus Kopernikus, Galileo Galilei). Die Rückbindung letzt‐ gültiger Erkenntnisgewissheit auf den Menschen forderte die Bereitschaft zur Konzeption eines innerweltlichen Zukunftsraums und zur Kontingenz der eigenen Kulturwelt (René Descartes, Thomas Hobbes, Isaac La Peyrère). Die historisch-anthropologischen Erstversuche, die im 17. Jahrhundert als Ausfluss aus der Geometrisierung der Natur auf die Kulturwelt des Menschen ausgelegt worden waren, erfuhren im Zeitalter der Aufklärung (Kapitel V) jenen weiterführenden Wandel, der an die Stelle der theologi‐ schen Dauerbegründungen epochenübergreifende Zusammenhänge inmit‐ ten der Auseinandersetzung mit Kirche und Staat, Monarchie und Despotie setzte. Aus dem Aufschreiben säkularer Geschichte wurde ein Umschreiben durch universalgeschichtliche sowie kulturkomparatistische Zugriffe, die sämtliche Tätigkeitsbereiche des Menschen als Formen ausschlaggebender Selbstermächtigung zwischen Gegenwart und Zukunft einbezogen ( Jacques Bénigne Bossuet, Giambattista Vico, Voltaire, Johann Gottfried Herder). Der Erkenntnisgewinn von der Historizität vergangener Lebensbereiche ließ eine normative Kulturentwicklung in den Hintergrund treten, während Nun sag’, wie hast du’s mit der Kulturwissenschaft? 17 <?page no="18"?> der Kern eigentlicher Menschwerdung deutlicher denn je mit Kultur in Verbindung gebracht wurde ( Johann Christoph Adelung). Die kultur- und universalgeschichtlichen Grundlagenwerke eröffneten ein breites Feld des sittlichen wie zivilisatorischen Versprechens, das in einer Zukunft als planbare Jetztzeit eingelöst werden sollte. Zugleich erstarkten, wie Kapitel VI zeigt, Zweifel am aufgehobenen Spannungsfeld zwischen Natur- und Kulturzustand, die im Zeitalter der Aufklärung die kulturellen Errungenschaften im Namen und Betätigungsfeld ihrer eigenen Prinzipien kritisch infrage stellten ( Jean-Jacques Rousseau) oder zur Kompensation anregten (Friedrich Schiller). Die Säkularisierungssowie Rationalisierungstendenzen der Aufklä‐ rungszeit wurden, so führt Kapitel VII aus, im 19. Jahrhundert durch den Aufstieg des Bürgertums auf breitere Bevölkerungsteile ausgeweitet. Infolge des Scheiterns der Französischen Revolution verloren geschichtsphiloso‐ phisch begründete Fortschrittsideen ihre Anziehungskraft. Die einsetzende industrielle Revolution schien dagegen einige Versprechen einzulösen, die seit den Utopien und Universalgeschichten des 16. bis 18. Jahrhunderts formuliert worden waren (Gottfried Semper, John Ruskin). Während sich Vertreter des süddeutschen Neukantianismus (Heinrich Rickert, Wilhelm Windelband) darum bemühten, die methodologischen Anforderungen eines kulturwissenschaftlichen Forschungsfeldes in deutschsprachiger Tradition gegenüber naturwissenschaftlichen Ausrichtungen (Charles Darwin) zu profilieren, wurde der bei Rousseau und Schiller ebenso prestigeträchtig wie sprachmächtig formulierte Zweifel an der Vernunftorientierung der menschlichen Kulturentwicklung durch die skeptische Kulturphilosophie des 19.-Jahrhunderts (Georg Simmel) wieder aufgegriffen. Die bei Windelband und Rickert begründeten wissenschaftstheoretischen Konzepte durch die Unterscheidung zwischen der nomothetischen Perspek‐ tive der Naturwissenschaften, die Ereignisse und Handlungen durch den Rückgriff auf allgemeine Gesetze erklärt, und der idiografischen Perspektive der Kulturwissenschaft, die auf das Verstehen spezifischer Sinnzusammen‐ hänge abzielt, wurden von Max Weber und Ernst Cassirer (Kapitel VIII) in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf die Relativität aller wissenschaftli‐ chen Analysen des Kulturlebens sowie auf die methodische Eigenständigkeit des Gegenstands Kulturwissenschaft als wissenschaftstheoretische Bestim‐ mung ausgelegt. Alle methodologischen Bemühungen verblassten jedoch hinter der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, dem Ersten Weltkrieg, der zahlreiche Errungenschaften und Folgeerscheinungen des Industriezeital‐ 18 Einleitung oder Krux der Selbstthematisierung <?page no="19"?> ters in ihren Destruktivkräften pervertierte. Während Wien um 1900 Glanz (Stefan Zweig) und Prekariat (Ivan Cankar, Max Winter) erprobte, gelangten Sigmund Freud und Albert Einstein zu nüchternen Einschätzungen über das Los einer destruktiven (Kultur-)Gemeinschaft. Als im ausgehenden 19. Jahrhundert innerhalb etablierter Disziplinen (Geschichts-, Sprach- und Literaturwissenschaften) eine Verschiebung des Gegenstandsinteresses auf kulturelle Phänomene erfolgt war, kam es, darauf verweist Kapitel IX, zu institutionellen Neuausrichtungen und einer Aus‐ weitung des Kulturbegriffes - so etwa in Nordamerika mit der Ethnologie (Clifford Geertz), in Frankreich mit der Mentalitätsforschung (Lucien Febvre, Marc Bloch) oder in Großbritannien am Centre for contemporary cultural studies (Raymond Williams, Richard Hoggart und Stuart Hall). Der politisch desaströsen Wucht der 1930er- und 40er-Jahre konnte man mit medialen Praktiken des performativen Widerstands (Federico García Lorca), mit einer späten Nachbearbeitung in Form der Analyse des Geschehenen zur Verhütung für die Zukunft (Max Horkheimer, Theodor W. Adorno) oder in Form der aufgebrochenen Verdrängung zwischen kollektiver Identität und nationaler Erinnerungspolitik (Thomas Bernhard) begegnen. Das Kapitel Ausblick hebt aus der Fülle gegenwärtiger Ansätze mit der Kulturpoetik (Stephen Greenblatt) und dem Konzept des Schwellenraums (Homi Bhabha) in Verbindung mit Maurits Eschers unmöglicher Figur des Treppenhauses zwei aktuelle bzw. für die Gegenwart international an‐ schlussfähige Perspektiven der Kulturwissenschaft heraus. Den Abschluss bildet ein Blick auf das Studium und das kulturwissenschaftliche Arbeiten selbst: die Infragestellung der Skepsis gegenüber der Praxis- und Berufsori‐ entierung der Kulturwissenschaft. Dabei wird erörtert, ob eine historisch argumentierende Kulturwissenschaft kritische Einsichten in aktuelle Pro‐ blemfelder aufzeigen und zu einer aufschlussreichen Analyse des Kulturle‐ bens beitragen kann. Kultur entsteht als Ausdruck des Menschen im historischen wie im tagtäglichen Prozess und ist zugleich Reflexion des Menschen über diesen Prozess, womit sie stets einen unerwarteten Schritt weiter zu sein scheint, als der kulturwissenschaftliche Theoretiker dies erwartet - nach Hartmut Böhme Objektebene und Metaebene in einem, innerhalb derer sich die Kulturwissenschaft bewegt und zugleich reflexiv selbst bestimmt. Wie bereits die von der Duden-Redaktion computergenerierte Wortwolke zum deutschsprachigen Begriff „Kultur“ (Abb. 1), welche die relative Häufigkeit des Begriffs im Zusammenhang mit Kontextwörtern angibt, zeigt, kann man Nun sag’, wie hast du’s mit der Kulturwissenschaft? 19 <?page no="20"?> Abb. 1: Computergenerierte Wortwolke der Duden-Redaktion zum Begriff „Kultur“ das Monopol der legitimen Auslegung von Kultur bzw. Kulturwissenschaft als Krux der Selbstthematisierung nicht beanspruchen, ohne in gravierende Erklärungsnöte zu geraten, warum welcher Kontext in welchem Umfang benutzt, aber ein anderer weniger deutlich beschrieben oder gar ausgespart wurde etc. Der Hang zur Kontroverse liegt wohl in der definitorischen Offenheit des Begriffs Kultur begründet, der konkurrierende Entwürfe von Eingrenzun‐ gen oder Schwerpunkten geradezu herausfordert. Der Begriff und der me‐ thodische Umgang mit Kulturtheorien kennt keine verbindliche disziplinäre Zuschreibung. Keine neue Forschungsrichtung, kein neuer kulturwissen‐ schaftlicher Ansatz, kein neuer Einführungsband, auch nicht dieser, hat den Goldstandard zur Erkundung und Beschreibung der sozialen Welt, unserer Kulturwelt, sehr wohl aber eine Verpflichtung zur Transdisziplinarität, die als Forschungsvorgabe Rücksicht auf die Eigenarten des zu untersuchenden Gegenstands nimmt. Wir sollten diesbezüglich fachliche und disziplinäre Engführungen aussparen und nach bestem philosophischen Vorbild aner‐ kennen, dass wir alle in einer langen Reihe der Wissenschaftsgeschichte gleichsam auf den Schultern vieler Vordenker stehen, die sich verbinden lassen und uns einen weiten wissenschaftstheoretischen und forschungs‐ praktischen Blick gewähren, um der Komplexität des Gegenstands Kultur 20 Einleitung oder Krux der Selbstthematisierung <?page no="21"?> weitere Rezeptionsvorgänge zu bieten. Nicht mehr, aber auch nicht weniger soll hier geboten werden: entscheidende historische Semantiken, Untersu‐ chungsfelder, Kulturrevolutionen, kulturkritische Zeitdiagnosen und Ver‐ treter der Kulturtheorien als im Folgenden zusammenhängende, über 3000 Jahre umspannende Gesamtschau, welche nicht die, sondern eine Geschichte der Kulturwissenschaft liefert, um sich eingedenk der Methodendiskussio‐ nen und der Standortbestimmung der Gretchen-Frage unseres Fachs zu stellen. Nun sag’, wie hast du’s mit der Kulturwissenschaft? 21 <?page no="23"?> 1 Vgl. Reichholf, J.: Das Rätsel der Menschwerdung. Die Entstehung des Menschen im Wechselspiel der Natur. München 7 2008, S.-275. 2 Vgl. Anghern, E.: Kultur zwischen Bewahrung und Veränderung. Eine hermeneutische Perspektive. In: Deines, S. (Hrsg.): Formen kulturellen Wandels. Bielefeld 2012, S.-94f. 3 Vgl. Graeber, D./ Wengrow, D.: Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Henning Dedekind, Helmut Dierlamm und Andreas Thomsen. Stuttgart 2 2022, S.-98-102. I Ecce homo a) Gilgamesch und die Anfänge Die Kulturwissenschaft ist ein vergleichsweise junges Universitätsfach, doch setzen die Ursprünge ihrer Forschungstradition am Beginn der Menschwerdung an. Die Anfänge des reflektierenden Existierens streifen am Horizont der Kulturbedingtheit des Menschen. Dieser gehört zu den Primaten und ist aus ihnen hervorgegangen - zugleich ist er von Natur aus ein Kulturwesen. 1 Die Rekonstruktion der Anfänge dieser Kultur ist eine Geschichte der Formen des menschlichen Verstandes und seiner handelnden Erscheinungen in den beiden wesentlichsten Stützen (prä-)historischer Nachvollziehbarkeit: Materialität und Überlieferung. Da das menschliche Maß der Vorstellungskraft für einen Zeitraum von Millionen von Jahren aber die Grenzen der Referenzialität erreicht, interessieren hier weniger die konstruierten Stadien und Übergänge der frühen Hominiden bis zum Homo sapiens, sondern ausgewählte Kulturformen und Sinnkonzepte, welche das ursprünglich willkürliche Ankommen in der Wildnis des Seins mit der Frage konfrontierten, wer der Mensch ist und wie er leben soll. 2 Was wir von der Entwicklung dieses Verhältnisses des Menschen zum eigenen Sein wissen, erschließt sich uns entweder aus seinen sterblichen Überresten oder aus den Elementen der materialen Kultur - beides ist zwar weltweit, aber lediglich in Bruchstücken vorhanden, die keine detaillierten Rückschlüsse auf die Struktur und Komplexität früher Gesellschaften, die man als Entwicklungs‐ linie deuten könnte, zulassen. 3 Bestenfalls kann auf eine Bearbeitung sowie Optimierung der unmittelbaren Umgebung geschlossen werden. Diese äl‐ testen menschlichen Spuren erinnern dabei an die durch Samuel Johnson überlieferte Definition Benjamin Franklins - der Mensch als „a tool-making <?page no="24"?> 4 Boswell, J.: The Life of Samuel Johnson. Including a Journal of a Tour to the Hebrides. Vol. I. New York 1833, S.-330. 5 Vgl. Terberger, T.: Die Alt- und Mittelsteinzeit. In: von Schnurbein, S. (Hrsg.): Atlas der Vorgeschichte. Europa von den ersten Menschen bis Christi Geburt. 3., erweiterte und korrigierte Auflage. Darmstadt 2014, S.-13. 6 Vgl. Gehlen, A.: Anthropologische Forschung. Zur Selbstbegegnung und Selbstentde‐ ckung des Menschen. Reinbek bei Hamburg 1961, S.-93f. 7 Vgl. Macho, T.: Tiere zweiter Ordnung. Kulturtechniken der Identität und Identifikation. In: Baecker, D. et al. (Hgg.): Über Kultur. Theorie und Praxis der Kulturreflexion. Bielefeld 2008, S.-99f. animal“ 4 - und deuten auf Kulturgüter zur Existenzsicherung innerhalb der Anfordernisse der segmentierten Gesellschaften als Jäger-und-Samm‐ ler-Kulturen. Da sich der Mensch durch seine natürlichen Anlagen trotz Gemein‐ schaftsstruktur in der Umwelt nur mäßig behaupten konnte, war er auf ma‐ teriale Kompensationen angewiesen, die er selbst erfand: Technik (τέχνη). Der zentrale Unterschied zu den Menschenaffen, die den Gebrauch von Technik ebenso kannten, liegt in der Qualität des Planungsvermögens begründet. 5 Werkzeuge, Waffen und der zunächst wahrscheinlich zufällige, später gezielte Gebrauch des Feuers ermöglichten Ersatz, Entlastung und Überbietung menschlicher Fertigkeiten, 6 um die Vorgaben der Natur besser und anders zu nutzen, als es die biologische Ausstattung des Menschen erlaubt hätte. Die erzwungene Flexibilität barg eine gehaltvolle Horizont‐ erweiterung in sich: Vom Feuersteinsplitter über den Städtebau bis zum Smartphone begann sich zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedli‐ chen Orten das Maß einer Instrumentalisierung der Natur zu entwickeln, das den Menschen in die planbare Geschichte seiner selbst eintreten ließ - aus Naturräumen wurden Kulturräume. Während der Gebrauch von Werkzeug und Feuer die Existenzsicherung verbürgte, bildeten sich mit den komplexer werdenden Gemeinschaftsstruk‐ turen zwischen Ackerbau und Viehzucht erweiterte Formen von Technik, die durch ihren potenziellen Selbstbezug als Kulturtechniken der Selbst‐ thematisierung und der Identitätsbildung fungierten: 7 komplexe Sprache, Ich-Bewusstsein und Religiosität. Gegenüber der zunächst mimetischen Mitteilung über Gebärden und der einfachen Ausdrucksweise durch spon‐ tane Artikulationen ließ die Weiterentwicklung der Sprache dem Menschen die Wahrnehmung seiner Welt benennen. Dadurch wurde eine geistige Aus‐ einandersetzung forciert, die sich in zweierlei Hinsicht fundamental vom Verhalten des Tiers unterscheidet: Einerseits wurde durch die Möglichkeit, 24 I Ecce homo <?page no="25"?> 8 Vgl. Tugendhat, E.: Egozentrizität und Mystik. Eine anthropologische Studie. München 2 2004, S.-19-21. 9 Vgl. Assmann, J.: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 7 2013, S.-135. 10 Vgl. Onetto, M./ Podestá, M. M.: Cueva de las Manos. An Outstanding Example of a Rock Art Site in South America. In: Adoranten. International Rock Art Magazine 2011, S.-71ff. 11 Vgl. Böhme, H.: Stufen der Reflexion: Die Kulturwissenschaften in der Kultur. In: Jaeger, F./ Straub, J. (Hgg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 2: Paradigmen und Disziplinen. Stuttgart 2011, S. 3; Harth, D.: Das Gedächtnis der Kulturwissenschaften. Dresden/ München 1998, S.-24f. Vergangenes mitzuteilen und über Zukünftiges zu diskutieren, das Haften am anschaulich Gegenwärtigen überwunden, andererseits gestattete Spra‐ che die Manipulation der Wahrnehmung. Sprecher wie Hörer verständigen sich über eine gemeinsame Sache und sind nicht länger der Reaktion auf die Umwelt ausgeliefert. Sie referieren vielmehr auf einzelne Gegenstände und Gefühlslagen, die in Raum und Zeit identifiziert werden. 8 Eine derart konzentrierte Kommunikation und Interaktion mit anderen ermöglicht eine Spiegelfunktion (reflexio) im Umgang mit uns selbst und führt gleichsam zur Herausbildung von kultureller Identität, welche die Teilhabe an einer Gruppe sichert. 9 Ob dadurch von anthropomorphen Gottheiten, von Waren‐ tausch oder von Gewohnheitsrecht erzählt wird, das zur Voraussetzung für die dauerhafte Bildung von Sippen anzusehen ist - die Funktion bürgt für anthropologische Signifikanz: ohne Sprache kein Mensch. Damit einher gehen vermutlich erste Formen praktizierter Religiosität, obgleich der Ursprung religiöser Empfindungen älter ist und im Unklaren liegt. Anzeichen für die Beschäftigung mit einem Sinngehalt, der über den rein praktischen Problemhorizont des Überlebens weit hinausgeht, lassen sich Zehntausende von Jahren zurückverfolgen. Sie finden sich einerseits in den Höhlenmalereien und vergleichbaren symbolischen Darstellungen wie in der sogenannten Höhle der Hände (Cueva de las manos) 10 im Südwesten Argentiniens (Abb. 2), deren Abdrücke zum Teil bis zu 9000 Jahre alt sind, andererseits in körperbezogenen Objektivationen nichtsprachlicher Art wie Ritual, Tätowierung und Schmuck, die mit dem Gebrauch von Werkzeug nichts zu tun haben, vielmehr auf ein Verhältnis zur Natur hindeuten, das einer magischen Funktionalität entspricht und ein wesentliches Kommuni‐ kationsmedium darstellt. 11 a) Gilgamesch und die Anfänge 25 <?page no="26"?> 12 Vgl. Fischer, M.: Kulturbeginn. In: Ders. (Hrsg.): Die Kulturabhängigkeit von Begriffen (= Subjekt und Kulturalität, Bd.-1). Frankfurt am Main 2010, S.-107. 13 Vgl. Olshausen, E.: Raum/ Antike. In: Dinzelbacher, P. (Hrsg.): Europäische Mentali‐ tätsgeschichte. Hauptthemen in Einzeldarstellungen. 2., durchgesehene und ergänzte Auflage. Stuttgart 2008, S.-687. 14 Statius, P.: Der Kampf um Theben. Einleitung, Übersetzung und Anmerkungen von Otto Schönberger. Würzburg 1998, S.-63. Abb. 2: Cueva de las manos (Höhle der Hände) in Argentinien (ca. 7000 v.-Chr.) Alle uns bekannten archaischen Kulturen haben sich mit der dezi‐ diert menschlichen Kontingenzer‐ fahrung, mit dem Tod des (Mit-)Menschen, auseinanderge‐ setzt. Menschen werden zu Zeugen anderer Menschen, wenn deren Gegenwart aufgehoben wurde, ohne ein untrügliches Wissen dar‐ über zu haben, wohin sie ent‐ schwunden sind und was zurück‐ gelassen wurde. Die ältesten verlässlich datierbaren Gräber, welche die Seele als das Lebensende über‐ dauernden Wesenskern andeuten, verweisen auf den wichtigsten und zu‐ gleich beunruhigendsten Dialog des Menschen, den er in den Nischen der psychischen Nichtfassbarkeit je führte und je führen wird: zwischen dem Nichts und der Ewigkeit. 12 Reste von Tempelanlagen oder eines als sakral empfundenen Geländes ergänzen die bewussten Bestattungen und weisen als (steinerne) Manifeste der Erinnerung auf einen religiösen Bezugspunkt hin. Nach ihrem indoeuropäischen Wortursprung - *temn-, τέμενος, tem‐ plum 13 - zeigen sie einen aus der Landschaft ausgesonderten Bereich aus dem antiken Alltag an, der als heiliger Raum zur kultischen Selbstverge‐ wisserung verwendet wurde. Doch den Beginn dieser unterschiedlichen Formen von religiösen Merkmalen verstehen zu wollen, heißt, Handlungen der Menschen in ihrem denkgeschichtlichen Horizont zu erfassen. Publius Statius führt in seiner Thebais (ca. 92 n. Chr.) eine gängige Erklärungsformel an, die zum Topos der bekannten Kulturgeschichten in der frühen Neuzeit wurde: „primus in orbe deos fecit timor - Furcht schuf zuerst auf der Welt die Götter.“ 14 Naturereignisse wie Erdbeben, Blitz und Donner seien als göttliche Machterweise betrachtet worden, vor deren Gewalt und Unberechenbarkeit man sich gefürchtet habe. So sei es die autosuggestiv anregende Furcht vor 26 I Ecce homo <?page no="27"?> 15 Vgl. Haarmann, H.: Geschichte der Schrift. München 5 2017, S.-19-22. 16 Vgl. Schneider, T.: Der alte Orient. In: Erdmann, E./ Uffelmann, U. (Hgg.): Das Altertum. Vom Alten Orient zur Spätantike. Idstein 2001, S.-13f. 17 Vgl. Märtin, R.-P.: Räume lesen, Räume schreiben. In: Jenseits des Horizonts. Raum und Wissen in den Kulturen der alten Welt. Herausgegeben von Exzellenzcluster TOPOI. Stuttgart 2012, S.-38ff. diesen unerklärlichen Naturschauspielen gewesen, welche die Religion ge‐ schaffen habe. Zwar lässt sich damit das religiöse Gefühl verstandesgemäß nicht erschließen, doch expandiert nach Statius der Verlauf von Kultur mit dieser sinnlichen Erfahrung, die dem Menschen die Kräfte der Naturgewal‐ ten angstbehaftet ahnen, aber im Zeichen von Strafe und Sühne moralisie‐ rend deuten lässt. Wenn Sprache neben Religion für die kulturelle Entwicklung des Men‐ schen maßgeblich wird, setzt die Schrift den abschließenden Schritt für unser Verständnis früher Kulturen. Gesprochenes in Zeichen aufzubereiten und diese als Bilder bzw. Begriffe mitzuteilen, kann seit dem sechsten vorchristlichen Jahrtausend nachgewiesen werden. An den Stätten der alten Donauzivilisation setzte dieser frühe Gebrauch von Schrift ein, um Kultobjekte wie Tonstatuetten mit rituellen Formeln zu beschriften oder mit Weihinschriften zu versehen. 15 Im Gegensatz zur Assoziierung des Schriftgebrauchs mit religiösen Praktiken dürften am Beginn des dritten Jahrtausends v.-Chr. bei den Sumerern im Handelsraum Ägyptens und Me‐ sopotamiens ansteigende Handelstätigkeiten und die Zunahme städtischer Strukturen, die mit administrativen und wirtschaftlichen Drehpunkten erste Formen von Staatlichkeit erkennen ließen, den Anstoß zur Schaffung eines Schriftsystems gegeben haben. 16 Die anfänglich als reine Bilderschrift (piktografisch) verwendete Keilschrift in Mesopotamien und die Hierogly‐ phenschrift in Ägypten wurden auf Tontafeln, später auf Papyrusrollen verewigt und nur von wenigen ausgewählten Schreibern im Bereich der Tempelwirtschaft beherrscht. Die mediale Revolution durch die Schrift ist kaum zu überschätzen: 17 Zeichen entwickelten sich zum materialen Korrelat der Sprache, um die Welt zu erfassen. Was Menschen sagten und dachten, war nicht länger an Schall und Rauch als ephemeren Sprechakt gebunden, sondern wurde dauerhaft konserviert. Damit konnten Informationen zu Wirtschaft und Gesellschaft, zu Königen und Göttern unabhängig von Raum und Zeit gespeichert sowie weitergegeben werden. Zunächst als Mittel der politischen Kontrolle eingesetzt, um Güterlisten und Steuerabgaben zu regeln, erweiterte sich die a) Gilgamesch und die Anfänge 27 <?page no="28"?> 18 Vgl. Franke, S.: Fortschreibungsprozesse im/ des Gilgamesch-Epos. In: Grohmann, M. (Hrsg.): Identität und Schrift. Fortschreibungsprozesse als Mittel religiöser Identitäts‐ bildung (= Biblisch-theologische Studien, Bd.-169). Göttingen 2017, S.-9-32. Anwendungsmöglichkeit zu einem Florilegium von Königsinschriften und einzelnen Gebeten/ Beschwörungsformeln bis zu den heute maßgebenden Formen der Wissensordnung: Tabelle und Diagramm sowie Archiv und Bi‐ bliothek. Damit schließt sich der Kreis des sprachförmigen Zugangs zu jener Form der Modellbildung, die den Weltzugang in der Kulturwissenschaft vermittelt. Am vorläufigen Höhepunkt des Übergangs von Piktogrammen über Silbenformen zu einem vollständigen Alphabet stehen neben Handels‐ aufzeichnungen Rechtskodizes, die den geregelten Ablauf menschlichen Miteinanders per definitionem festzulegen beginnen, frühe literarische Artikulationen sowie die bekannteste Erzählung des Alten Orients, auf die alle kommenden (Altes Testament, Ilias, Odyssee, Theogonie, …) referieren werden: das Gilgamesch-Epos. b) Mythen und wahre Erzählungen Das Gilgamesch-Epos weist eine mündlich wie schriftlich ebenso komplexe wie weit zurückreichende Überlieferungsgeschichte auf: in mehreren Spra‐ chen vom 21. bis zum 6. vorchristlichen Jahrhundert und von Südbaby‐ lonien bis Kleinasien. Daraus lässt sich beispielhaft schlussfolgern, dass in verschiedenen archaischen Kulturen prägende Wahrnehmungen von natürlichen Erscheinungen sowie Fragen nach dem Ursprung der Welt und nach dem verborgenen Sinnkonzept menschlicher Kulturgüter Denkbilder hervorgerufen haben, die als Mythen neue Vorstellungswelten eröffneten. 18 Zwischen Göttergenealogie und Weltentstehungsgeschichte vermittelten Mythen differenzierte Lebensentwürfe mit zum Teil heroischer Überhö‐ hung. Sie markierten die Leitlinien der Enkulturation und prägten die Ein‐ zigartigkeit der Völker durch deren eigene, genuine Gründungserzählungen. Im Gilgamesch-Epos ist es das von den Göttern aus Lehm geschaffene, menschenähnliche Wesen Enkidu, das zunächst in der Wildnis mit den Tieren zusammenlebt, ehe es, aus Gründen späterer narrativer Nützlichkeit für den Fortgang der Heldentaten Gilgameschs, Kultivierung durch Sess‐ haftwerdung in einem Hirtenlager erfährt. Ecce homo: 28 I Ecce homo <?page no="29"?> 19 Soden, W. (Hrsg.): Das Gilgamesch-Epos. Übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Albert Schott. Stuttgart 2005, S.-26f. 20 Vgl. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S.-275f. 21 Vgl. Wiles, D.: Greek Theatre Performance. An Introduction. Cambridge 2000, S.-167. Sie setzten ihm Speise vor, er sah genau hin, […] Nicht weiß Enkidu Brot zu essen, Rauschtrank zu trinken ward er nicht gelehrt! […] „Iß das Brot, Enkidu, das gehört zum Leben! Trink den Rauschtrank, wie’s Brauch ist im Lande! “ […] Mit Wasser wusch er ab seinen haarigen Leib: Er salbte sich mit Öl und wurde dadurch ein Mensch. Ein Gewand zog er an, wie die Männer ist er nun. 19 So führen uns Mythen zu den Quellen antiker Denktradition sowie zu den Motiven ritueller/ sittlicher Handlungen zurück und ermöglichen eine Erin‐ nerung an die Genese der Grundbegriffe europäischer Geistesgeschichte. In Dichtungen übertragen, verdeutlichen diese frühen Zeugnisse des mensch‐ lichen Geistes die Artikulation des Verhältnisses zur Natur und zugleich zur verewigten Vergewisserung menschlicher Herkunft und Identität. Im Gilgamesch-Epos sind es die Kulturprodukte Brot und Bier, welche die Teilhabe an einer sesshaften Gruppe sichern und damit die früheste uns bekannte Handlungsanleitung für das Gelingen der Menschwerdung anzei‐ gen. Kultur stiftet Gemeinschaft und geteilte Lebenspraxis, sie kennzeichnet die daran Teilhabenden über Sprache, Glaube, Sitten, Traditionen sowie Normen. Somit wird beides, der Zugang des Einzelnen zur Natur und der Ausdruck des Verhältnisses zur Gruppe, zu mehr als nur einer Handhabe des mitteilenden Ausdrucks: zu einem Konstitutiv der Menschwerdung. Im antiken Griechenland wurden diese Dichtungen durch mündliche Auf‐ führungen im Rahmen einer festlichen Rezitationskultur vermittelt. 20 Wir können heute davon ausgehen, dass Rhapsoden, Kitharoden und Auloden als fahrende Sänger/ Dichter die uns bekannten epischen und volkstümlichen Dichtungen, inszeniert mit Phorminx, Kithara oder Aulos, einem interessier‐ ten Publikum bei diversen Polisfesten in Gesängen und Tänzen vortrugen. Die griechische Aufführungspraxis dieser Zeit war überwiegend mündlich. Die Dramatiker lehrten ihren Schauspielern die Rollen von Angesicht zu Angesicht mit der richtigen Intonation, Bewegung und Musik. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die Akteure jemals Skripten oder schriftliche Notizen erhielten. 21 Literatur war dort, wo der Dichter sich aufhielt und sie als Sänger b) Mythen und wahre Erzählungen 29 <?page no="30"?> 22 Vgl. Krummen, E.: Wissen und Gedächtnis. Entstehung und Folgen der Schriftkultur im antiken Griechenland. In: List, E./ Fiala, E. (Hgg.): Grundlagen der Kulturwissenschaften. Interdisziplinäre Kulturstudien. Tübingen/ Basel 2004, S.-143f. 23 Vgl. Vietta, S.: Europäische Kulturgeschichte. Eine Einführung. Paderborn 2007, S. 74ff. 24 Vgl. Canevaro, L. G.: Genre and Authority in Hesiod’s Works and Days. In: Werner, C./ Sebastiani, B. B./ Dourado-Lopes, A. O. (Hgg.): Gêneros poéticos na Grécia Antiga: confluências e frontieras. Sao Paulo 2014, S.-29. darbot - nicht litterae im schriftlichen Sinn, sondern eine sich stets durch den Dichter aktualisierende Aufführung an einem bestimmten Ort. 22 Von phönizischen Städten übernahmen die Griechen im neunten Jahr‐ hundert v. Chr. die Konsonantenschrift und erweiterten sie zur Vollschrift mit einem Alphabet aus Konsonanten und Selbstlauten. Wenngleich die Dominanz der oral-auditiven Kultur bis ins 5. Jahrhundert erhalten blieb, versprach die schriftliche Übermittlung von mythischem Wissen um eine vergangene Welt, über die Erinnerung hinaus neue Zeiträume zu erschlie‐ ßen und Generationen überdauern zu können. Des Weiteren erlaubte die Umstellung von der Keil- und Hieroglyphenschrift auf die Vollschrift, die heutigen Menschen mit griechischer/ lateinischer Sprachstruktur vertrauter erscheint, eine Form der abstrakten zeichenhaften Repräsentation des Laut‐ körpers, welche die überwiegend bildliche Repräsentation nicht erreichte. 23 Obwohl die Motivation der Griechen für die Übernahme und Weiterent‐ wicklung der Schrift ebenso durch die Erfordernisse des Handels begründet wurde, finden wir bei Homer und Hesiod bereits ein Jahrhundert später die für die europäische Kultur grundlegenden Mythen: Ilias und Odyssee sowie Theogonie und Werke und Tage. Während die Existenz Homers in seinen ihm zugeschriebenen Texten hinter traditionellen politischen Eliten und Gottheiten mythisch verankert bleibt, gilt Hesiod, dessen Lebensdaten (740-670 v. Chr.) einigermaßen gesichert nachweisbar sind, als der erste in den Vordergrund gerückte, didaktische Erzähler der europäischen Geschichte. 24 Bereits am Beginn seiner Theogonie erfahren wir Grundlegendes über das Verständnis epischer Dichtung: So aber sprachen die Göttinnen zuerst zu mir, die olympischen Musen, Töchter des aigisführenden Zeus: „[…] vielen Trug verstehen wir zu sagen, als wäre es Wahrheit, doch können wir, wenn wir es wollen, auch Wahrheit verkünden.“ So 30 I Ecce homo <?page no="31"?> 25 Hesiod: Theogonie. Übersetzt und herausgegeben von Otto Schönberger. Stuttgart 2014, S.-5ff. 26 Vgl. Balke, F.: Gründungserzählungen. In: Maye, H./ Scholz, L. (Hgg.): Einführung in die Kulturwissenschaft. München 2011, S.-26f. 27 Homer: Ilias. Odyssee. In der Übertragung von Johann Heinrich Voß. München 4 2008, S.-441. 28 Hesiod: Werke und Tage. Übersetzt und herausgegeben von Otto Schönberger. Stuttgart 2011, S.-5. 29 Vgl. Böhme, H.: Hesiod und die Kultur: Frühe griechische Konzepte von Natur, mythi‐ scher Ordnung und ästhetischer Wahrnehmung. In: Musner, L./ Wunberg, G. (Hgg.): Kulturwissenschaften. Forschung - Praxis - Positionen (= Rombach Wissenschaften, Edition Parabasen, Bd. 1). Freiburg im Breisgau 2 2003, S. 156f.; Ulf, C.: The World of Homer and Hesiod. In: Raaflaub, K. (Hrsg.): A Companion to Archaic Greece (= Blackwell companions to the ancient world). Malden 2009, S.-96. 30 Vgl. Kittler, F.: Philosophien der Literatur. Berliner Vorlesung 2002. Berlin 2013, S.-19. 31 Vgl. Strauss Clay, J.: Commencing Cosmogony and the Rhetoric of Poetic Authority. In: Derron, P. (Hrsg.): Cosmologies et Cosmogonies dans la Littérature Antique (= Entretiens sur L’antiquite Classique de la Fondation Hardt, Bd.-61). Genf 2015, S.-109. sprachen die beredten Töchter des großen Zeus […] und hauchten mir göttlichen Sang ein, damit ich Künftiges und Vergangenes rühme. 25 Die Stelle verdeutlicht auf zweierlei Weise, worauf es in den mündlichen Überlieferungen der großen Mythen von Gilgamesch bis zum Alten Testa‐ ment ankam. Erstens wird die mediale Zugänglichkeit des Wissens über Anfang und Zukunft der Welt von jenen höheren Kräften bereitgestellt, 26 die Töchter nicht nur des Zeus, sondern auch der Mnemosyne, der Erinnerung, sind. Homers Odyssee beginnt mit: „Sage mir, Muse“ 27 - in Werke und Tage heißt es am Beginn: „Musen […] kündet von Zeus.“ 28 Sie hauchen dem entlaufenen Schafhirten Hesiod Pneuma ein, damit er über die Entstehung der Welt und das alltägliche Leben in ihr zwischen Vergangenem und Künftigem berichte. Die Stimme des Sängers konturiert den Horizont des dichterisch Sagbaren über Natur und Kultur, Götter und Menschen. Bei Homer ist dies stärker auf die politischen Eliten ausgerichtet, bei Hesiod mit Blick auf das alltägliche Leben. 29 Bei beiden stehen die Musen als Töchter der Erinnerung - oder profaner: bei Polisfesten als Menschen in ihrer künstle‐ rischen Darbietung, die an einen Gott adressiert ist 30 - am Anfang aller Kultur. Enkulturation durchläuft von den frühesten Erzählungen älterer Völker bis zu den Flötenspielen der Griechen einen langen Weg und ist ohne Erinnerung zwischen Tradition und Gedächtnis nicht möglich. Zweitens erlaubt die Stelle Rückschlüsse auf den enigmatischen Wahr‐ heitsgehalt der Mitteilung. 31 Das waren nicht bloß Geschichten von b) Mythen und wahre Erzählungen 31 <?page no="32"?> 32 Vgl. Mader, E.: Anthropologie der Mythen. Wien 2008, S.-14ff. 33 Am Beispiel Homers: Mühlestein, H.: Der letzte Bearbeiter Homers ein Lykomide. In: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 82, 1990, S.-4. 34 Vgl. Barnes, J.: Aristoteles. Eine Einführung. Aus dem Englischen übersetzt von Christina Goldmann. Stuttgart 2003, S.-132f. 35 Aristoteles: Die Poetik. Übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1987, S.-93. erfundenen Göttern, mediterranen Königreichen und kriegerischen Ausein‐ andersetzungen, um tradierte Berichte realer Ereignisse der Menschheits‐ geschichte auszuschmücken. Der Mythos repräsentierte die menschliche Form der Daseinsbewältigung. 32 Die Stimmigkeit des Handlungsgefüges übermittelte durch den poetischen Wirklichkeitsbezug die Evidenz des Geschehens. Die spätere Verschriftlichung mag vieles verändert haben, 33 doch die von diesen Ursprungsdichtungen ausgehende Präsenz ist von größerer Bedeutung als die Quellenfrage. Es war Aristoteles, der im Gegen‐ satz zur Ablehnung der Dichtung bei Platon und zur Mythenkritik der Vorsokratiker in seiner Poetik knapp vier Jahrhunderte nach Hesiod die bis in die jüngste Vergangenheit geltenden Grundregeln zur Dramengestaltung niederschrieb (Einheit von Zeit und Handlung). Aristoteles stammte aus der nordgriechischen Stadt Stageira und verbrachte einen Gutteil seines Lebens in Athen, einem der kulturellen Zentren der griechischen Stadtstaaten - zunächst als Schüler Platons an der Akademie, später als Lehrender am Lyzeum. Im Gegensatz zu Platon war Aristoteles ein Universalgelehrter, der sich mit allen Wissensbereichen beschäftigte und Arbeiten auf vielen Gebieten hinterließ. Seine Strukturierung menschlichen Wissens wurde grundlegend für das europäische Denken im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. In seiner Poetik beschäftigte er sich mit dem Wesen von Dichtung an sich sowie mit dem Handlungsaufbau und der sprachlichen Form von Epik und Tragödie. Kunst war nach Aristoteles eine Frage der Nachahmung der Wirklichkeit menschlichen Lebens und menschlicher Handlungen. 34 Dabei verwies er mit Vehemenz auf das metaphysisch Wahre der Mythen: Was die Erfordernisse der Dichtung betrifft, so verdient das Unmögliche, das glaubwürdig ist, den Vorzug vor dem Möglichen, das unglaubwürdig ist. […] es ist ja wahrscheinlich, daß sich manches auch gegen die Wahrscheinlichkeit abspielt. 35 Die großen Werke der Poeten müssen nicht wie moralisierende Modelle mit ethischem Fingerzeig, sondern nach der Kohärenz ihrer Handlungen 32 I Ecce homo <?page no="33"?> 36 Vgl. Höffe, O.: Aristoteles. 4., überarbeitete Auflage, München 2014, S.-71. 37 Vgl. Goody, J./ Watt, I.: Konsequenzen der Literalität. In: Goody, J./ Watt, I./ Gough, K. (Hgg.): Entstehung und Folgen der Schriftkultur. Übersetzt von Friedhelm Herborth. Mit einer Einleitung von Heinz Schlaffer. Frankfurt am Main 1986, S.-100-103. 38 Vgl. Blumenberg, H.: Arbeit am Mythos. Frankfurt am Main 4 2014, S.-9. 39 Vgl. Böhme, Stufen der Reflexion, S.-6. verstanden werden. Die Faktizität des Geschehens wird durch das Medium der Überlieferung stilisiert und konzentriert, bleibt in ihrer Grundbeschaf‐ fenheit aber unberührt. Es kommt der archaischen Dichtung nicht darauf an, lediglich Merkmale der Wirklichkeit nachzubilden, sondern strukturell in sich verständliche Handlungsabläufe und Charaktere darzustellen. 36 Die poetische Sprache stellt als Quelle der Mythen somit den Zugang zu den An‐ fangsgründen der kulturellen Menschheitsentwicklung dar. Gleichsam ist mit der Übernahme der Schrift der Übergang von der archaischen Erklärung der Welt (μῦθος) zu ihrer vernunftmäßigen Interpretation (λόγος) als letztes Prinzip der rationalen Ordnung des Universums vorgezeichnet: In kultischer Erinnerung an ein mythisches Zeitalter beginnt mit der Durchsetzung der Buch- und Wissenschaftskultur die koordinierte Sammlung, Reflexion, Or‐ ganisation und Verwaltung von literarischen und wissenschaftlichen Texten - so etwa im Mouseion von Alexandria mit seiner berühmten Bibliothek. 37 c) Kultur zwischen Strafe, Selbstsetzung und Barbarei Die antiken Schöpfungsmythen und Göttergeschichten repräsentieren Er‐ zählungen über eine vergangene Zeit, in der der Mensch daran glaubte, die Bedingungen seiner Existenz nicht in der eigenen Hand zu haben. 38 Sie berichten, wie und woraus der Mensch erschaffen wurde, welche Chancen der Entwicklung ihm entlang des noch unbesetzten Horizonts der Möglichkeiten zuteilwurden und an welchen Herausforderungen er scheiterte. Zugleich spiegelten sie den Wunsch nach einem menschlichen Autonomiegewinn gegenüber Natur und Umwelt wider, der in Hybris und Frevel übergehen konnte. Jene archaischen Momente des menschlichen Selbstbewusstseins, die von einer tiefen Zwiespältigkeit gegenüber diesem Kulturprozess gekennzeichnet sind, liefern der Prometheus-Mythos und der biblische Sündenfall. 39 Hesiod und Aischylos schrieben aufschlussreiche Varianten über die religiöse und kulturelle Stellung des Prometheus. In der Theogonie gehört c) Kultur zwischen Strafe, Selbstsetzung und Barbarei 33 <?page no="34"?> 40 Vgl. Blumenberg, Mythos, S.-330f. 41 Aischylos: Der gefesselte Prometheus. Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von Walther Kraus. Stuttgart 2010, S.-11/ 17. 42 In der altgriechischen Übertragung (Septuaginta) wird der Garten als „Paradies“ bezeichnet, was, aus dem Persischen übersetzt, „Einzäunung“ bedeutet. 43 Vgl. Schmid, K.: Die Unteilbarkeit der Weisheit: Überlegungen zur sogenannten Pa‐ radieserzählung Gen 2 f. und ihrer theologischen Tendenz. In: Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, 114/ 1, 2002, S.-28f. die Erzählung zum Höhepunkt, bei Aischylos ist von der Trilogie nur Der gefesselte Prometheus (ca. 470 v. Chr.) erhalten geblieben, der Hesiods Darstellung aufgreift. Bei beiden verbürgt Prometheus den Menschen die Unverwehrbarkeit ihrer Kultur, indem er ihnen durch den göttlichen Feuer‐ raub zum dauerhaft kulturellen Entwachsensein aus dem schutzbedürftigen Naturzustand verhilft. 40 Pathetisch heißt es bei Aischylos: Sterblichen erwirkt’ ich Gaben, dafür trag ich solches Joch. Im hohlen Stengel trug ich fort des Feuers Quell […] Und manche Künste werden lernen sie davon. 41 Die einzelnen Varianten von Hesiod bis Aischylos handeln von Schuld und List, Unsterblichen und Menschen. Ihnen gemein ist, dass Prometheus zum Kulturstifter der Menschen wird, indem er sie Künste - im weitesten Sinn: τέχνη - lehrt. Gleichsam werden er und die Menschheit für den Feuerraub bestraft, wenn der Preis zu Fortschritt und Wissen den Zorn des obersten Gottes einschließt. Zeus selbst zeigt die kulturelle Relevanz von Abweichung und Devianz an anderer Stelle auf: mit dem Raub der phönizischen Königstochter Europa, deren sodomitischer Spross Minos zum Begründer der kretisch-minoischen und damit europäischen Kultur wird. Im Alten Testament wird das Schema der prometheischen Auflehnung ähnlich behandelt, wenngleich in dieser Erzählung den Menschen kein unsterblicher Feuerbringer zur Seite steht. Der Sündenfall berichtet von einem mythischen Urzustand im Garten 42 von Eden, einem für die ersten Menschen abgesonderten Bereich, in dem ein gehorsamer Wille vorausge‐ setzt wird, der eine Hinterfragung nicht kennt. Wissen, Erinnerung und Technik sind jedoch Kulturmerkmale, die eine Restitution des Willens fordern und das Wunschland bearbeiten. Der Fall des Menschen wird zum Gründungsmythos, als sich Eva entgegen dem Verbot die Früchte vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse einverleibt und Adam davon kosten lässt. 43 Seht, der Mensch ist geworden wie wir; er erkennt Gut und Böse. Dass er jetzt nicht die Hand ausstreckt, auch vom Baum des Lebens nimmt, davon isst und 34 I Ecce homo <?page no="35"?> 44 Gen 3,22-23. 45 Vgl. Auerbach, E.: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Tübingen/ Basel 9 1994, S.-15-19. 46 Vgl. Kerényi, K.: Prometheus. Die menschliche Existenz in griechischer Deutung. Hamburg 1959, S. 50ff.; Römpp, G.: Der Geist des Westens. Eine Geschichte vom Guten und Bösen. Darmstadt 2009, S.-28. 47 Vgl. Geier, W.: Notizen zu einer Geschichte der Kulturauffassungen und Kulturwis‐ senschaften (I): Vom griechisch-römischen Altertum bis zur Renaissance. In: Kultur‐ ewig lebt! Gott, der Herr, schickte ihn aus dem Garten von Eden weg, damit er den Ackerboden bestellte, von dem er genommen war. 44 Die Vertreibung aus dem Paradies steht einerseits im Zusammenhang mit den grundlegenden Bedingungen und Herausforderungen dauerhaft menschlichen Zusammenlebens: Wir erkennen und definieren, welche Handlungen erwünscht (gut), welche unerwünscht (böse) sind und stel‐ len uns damit Fragen nach moralischem Handeln in einer Gemeinschaft, ersetzen Gehorsam durch Bewusstsein sowie sorgenfreies Leben durch Arbeit und bedrohende Sterblichkeit. Andererseits unterstreichen die alt‐ testamentarischen Erzählungen im Gegensatz zu den von Leidenschaften, Wettspielen und Abenteuern geprägten griechischen Epen einen Anspruch auf religiös-geschichtliche Wahrheit, 45 wenngleich deren strukturelle Logik wie bei den griechischen Erzählungen dem bestimmenden Charakteristikum mythologischen Denkens folgt: es werden Identitäten behauptet. Der poe‐ tische Wirklichkeitsbezug hinterfragt nicht, warum Prometheus den Men‐ schen hilft und dadurch riskiert, was ihn nicht interessieren muss, warum Eva und Adam sich versündigen, obschon das Paradies keine Grundlagen bot, die als Bedingungen der Möglichkeit eines Problems hätten gedacht werden können. 46 In beiden Erzählungen erscheint das Charakteristische des Menschen, seine Kultur, als Strafe, wenngleich mit den Diebstählen als Auflehnung die menschliche Selbstsetzung im Kosmos begründet wird. Prometheus und Eva werden zu archaischen Heroen unserer Kulturmerk‐ male. Zwischen Hesiod und Aristoteles liegt eine Zeitspanne, in der das politi‐ sche und geistige Leben in den griechischen Poleis eine rege Entfaltung erreichte. Während die meisten der heutigen Weltreligionen entstanden, wurde die Welt des Mittelmeerraumes mit Athen als Zentrum von Wis‐ senschaften, Künsten und gesellschaftspolitischen Vorstellungen geprägt, die ein soziokulturell bestimmtes Selbstbild - Hellenentum als Kultur - fundierten. 47 Die prunkvollen Feste, die wie die Großen Dionysien seit der c) Kultur zwischen Strafe, Selbstsetzung und Barbarei 35 <?page no="36"?> soziologie. Aspekte, Analysen, Argumente. Wissenschaftliche Halbjahreshefte der Gesellschaft für Kultursoziologie, 2010, 19/ 1, S.-108f. 48 Vgl. Zimmermann, B.: Stadt und Fest. Zur Funktion athenischer Feste im 5. Jahrhundert v. Chr. In: Assmann, A./ Harth, D. (Hgg.): Kultur als Lebenswelt und Monument. Frankfurt am Main 1991, S.-154-157. 49 Lange, F. (Hrsg.): Die Geschichten des Herodotos. Erster Theil. Zweite verbesserte Auflage. Breslau 1824, S.-3. 50 Vgl. Koselleck, R.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main 1989, S.-218ff. 51 Platon: Der Staat. Übersetzt und herausgegeben von Karl Vretska. Stuttgart 2008, S. 336. zweiten Hälfte des 6. vorchristlichen Jahrhunderts Göttern und Heroen gewidmet waren, konnten durch Kultlieder und Dichtungen einen Bezugs‐ punkt zwischen Mythos und Gegenwart herstellen und damit die kulturelle sowie politisch-militärische Bedeutung Athens akzentuieren. So konnte in der Tragödie Die Perser (472 v. Chr.) des Aischylos der Ausgang der historischen Seeschlacht von Salamis angeführt werden, um den Sieg einer der führenden Mächte Griechenlands als Identitätsfindung der jungen athe‐ nischen Demokratie zu präsentieren. 48 Analog dazu verwies das Nichtgrie‐ chentum auf die beanspruchte Eigenheit, später Überlegenheit griechischer Wissenschaften, Künste und Lebensweisen in Form der Ausgrenzung als Kulturgefälle. Die griechischen Ansichten und Erkenntnisse über Kultur verbanden das Fremdbild mit Barbarei. So heißt es im Proömium der Historien (ca. 430-v.-Chr.) von Herodot: Was Herodotos von Halikarnassos erkundiget, das hat er hier aufgezeichnet, auf daß nicht mit der Zeit verlösche, was […] die Hellenen nicht minder als Barbaren vollbracht, vor allem aber, warum sie wider einander Krieg geführet. 49 Herodots Hauptbezugspunkt bildet die Auseinandersetzung mit den Per‐ sern, die er als Barbaren subsumierte und ethnozentrisch abwertete. 50 Die zur vielfältigen Abgrenzung einsetzbare Sprachfigur des Barbaren blieb bis in die frühe Neuzeit erhalten und beanspruchte mit dem Aufkommen des Imperium Romanum sowie später im Christentum diverse Fremdbilder als Heterostereotype (Nichtrömer, Heiden). Der Begriff ‚Kultur‘ selbst ist jüngeren Ursprungs. Er überträgt die grie‐ chische Auffassung von παιδεία - in Platons Politeia im Sinne aktiver geisti‐ ger Selbstformung: „das Herausführen der Seele aus einer Art nächtlichem in den wirklichen Tag“ 51 - und enthält als Lehnwort die lateinischen Wurzeln von colere, cultura sowie cultus, die einen komplexen Bedeutungsreichtum entfalten. Colere kann von pflegen und bewohnen bis hin zu anbeten und 36 I Ecce homo <?page no="37"?> 52 Vgl. Eagleton, T.: Was ist Kultur? Eine Einführung. Aus dem Englischen von Holger Fliessbach. München 2009, S.-9. 53 Vgl. Böhme, Stufen der Reflexion, S.-7. 54 Vgl. Giebel, M.: Marcus Tullius Cicero. Überarbeitete Neuausgabe, Reinbek bei Hamburg 2013, S. 122-126; Christes, J.: Cicero und der römische Humanismus. In: Humanismus in Europa. Herausgegeben von der Stiftung „Humanismus Heute“ des Landes Ba‐ den-Württemberg. Mit einem Geleitwort von Helmut Engler. Heidelberg 1998, S. 49-53; Stroh, W.: Cicero. Redner, Staatsmann, Philosoph. 3., durchgesehene Auflage. München 2016, S.-88-99. beschützen vieles bedeuten, das wohl ursprünglich im Zusammenhang mit Feldarbeit und Pflege des natürlichen Wachstums ausgesprochen wurde. Von colere führt der Weg über recolere (wiederherstellen) und colonus (Ansiedler) zu cultura (Bearbeitung, Anbau, Pflege) und cultus (Gewohnheit, Kult). Damit wird die folgenreiche Dialektik zwischen dem Gemachten und dem Natürlichen, zwischen dem, was wir mit und in der Welt tun, sowie dem, was die Welt mit uns tut, 52 aufgeworfen. Entsprechend den griechischen Vorbildern verfassten Gelehrte im römischen Staatswesen der letzten vor- und ersten nachchristlichen Jahrhunderte kulturbegriffliche Grundlagenwerke, in denen Kultur auf alle menschlichen Handlungen verweist, welche das Vorgefundene der Natur, das den Menschen selbst nicht ausschließt, pflegen, erhalten oder verbessern. 53 Eine der ältesten und bekanntesten historischen Semantiken der Kultur‐ wissenschaft findet sich bei Marcus Tullius Cicero, 54 dessen Bildungsgang entschieden durch die Rezeption von griechischer Kunst, Literatur sowie Philosophie geprägt war und in einer Synthese mit römischer Gerichtspraxis Entfaltung fand. Im Gegensatz zu Aristoteles, der durch seine Lehre zwar in der Öffentlichkeit gestanden, aber keine politischen Ämter bekleidet hatte, durchlief Cicero, nachdem er sich als Anwalt in diversen Prozessen bereits einen Namen gemacht hatte, die römische Ämterlaufbahn vom Finanz- und Verwaltungsbeamten (Quaestur) bis zum höchsten Staatsamt (Konsulat). Ciceros machtpolitischer Ehrgeiz, mit einer stabilen Grundordnung des Staates egoistischen Einzelinteressen entgegenzuwirken, kollidierte mehr‐ fach mit innerrömischen Agitationen und dem politisch wenig zimperlichen Tagesgeschäft einer Weltmacht vor dem Ende ihrer republikanischen Aus‐ prägung. Den Gegenpol zum Forum Romanum bildete das Tusculanum, eine von mehreren Villen Ciceros, die südöstlich von Rom lag, wo er, umgeben von Büchern und Kunstwerken, philosophische Studien betreiben und rhetorische Anleihen für die politische Bühne entwickeln konnte, auf c) Kultur zwischen Strafe, Selbstsetzung und Barbarei 37 <?page no="38"?> 55 Vgl. Busche, H.: Was ist Kultur? In: Dialektik. Zeitschrift für Kulturphilosophie, 2000/ 1, S.-71. 56 Cicero, M. T.: Gespräche in Tusculum. Übersetzt und herausgegeben von Ernst Alfred Kirfel. Stuttgart 2008, S.-162f. die er je nach Status quo regelmäßig zurückkehrte. Durch seine Übertragung griechischer Philosophie in die römisch-lateinische Gedankenwelt wurde er zu einem der maßgebenden Vermittler für die vielen klerikalen Gelehrten aus der Frühzeit des Christentums, die Platon oder Aristoteles nicht im Original lesen konnten oder dies, wie Augustinus von Hippo, ignorierten. So schrieb Cicero 45 v. Chr. in seinem philosophischen Refugium unter anderem die nach aristotelischem Vorbild aufgebauten Tusculanae disputationes in fünf Büchern. Im zweiten Buch treffen wir auf die klassische Metapher der (Geistes-)Kultivierung, 55 die in diesem Zusammenhang verdient, ausführlich zitiert zu werden: […] ut ager quamvis fertilis sine cultura fructuosus esse non potest, sic sine doctrina animus; ita est utraque res sine altera debilis. cul‐ tura autem animi philosophia est; […] wie ein Acker, mag er auch noch so frucht‐ bar sein, ohne Pflege keine Frucht tragen kann, so auch die Seele nicht ohne Unterweisung; beides ist ohne das andere wirkungslos. Pflege der Seele aber ist die Philosophie. 56 Ciceros von griechisch-römischer Akkulturation geprägter Vergleich zwi‐ schen der Pflege der Landwirtschaft und der Pflege der Seele greift die antike Differenzierung zwischen Natur und Kultur auf, erscheint aber nur auf den ersten Blick profan. In vielen Kulturen war die Aussaat nicht nur mit Wissen um Zeit und Wachstum, sondern stets mit dem Kult verbunden, dass man mit dem Säen der Körner zugleich einen Teil den Göttern opferte, um den Rhythmus der Natur mit religiösem Glauben zu verbinden. Mit cultura fructuosus und cultura animi erscheint Kultur als Inbegriff aller Arbeits- und Lebensformen des Menschen, zugleich werden erstmals kategoriale Unterscheidungen von materieller und geistiger Kultur, von Rohstoff und Selbstkultivierung eingeführt. Vergil schaffte 29 v. Chr. mit seinem landwirtschaftlichen Lehrgedicht Georgica weitere kulturbegriffli‐ che Grundlagen: colere und cultum, cultura agri und cultura animi führen die Zusammenhänge von Natur und Kultur, Mensch und Gesellschaft fort. Vergils Lob auf das Landleben verbindet Mythen und poetische Reflexionen mit landwirtschaftlichen Themen. Der Hinweis auf die Pflege und das Gepflegte des Menschen als bewusster Weg des guten Lebens und der Selbst‐ 38 I Ecce homo <?page no="39"?> 57 Vgl. Eagleton, Kultur, S.-13. 58 Vgl. Heijl, P.: Kultur. In: Nünning, A. (Hrsg.): Grundbegriffe der Kulturtheorie und Kulturwissenschaften. Stuttgart/ Weimar 2005, S.-106. formung baut, wie bei Cicero, auf dem griechischen παιδεία-Konzept auf. Zugleich wird eine Dualität zwischen höheren und niederen Fähigkeiten, zwischen Geistigem und Natürlichem postuliert. 57 Der Zusammenhang mit Agrikultur 58 blieb erhalten, bis Jean-Jacques Rousseau im 18. Jahrhundert eine Gegenfigur zur Kultivierung schuf und diese zur Norm einer idealen Vergemeinschaftung von Individuen erhob: den natürlichen Menschen. c) Kultur zwischen Strafe, Selbstsetzung und Barbarei 39 <?page no="41"?> 1 Vgl. Vietta, Europäische Kulturgeschichte, S.-179. 2 Vgl. Koselleck, Vergangene Zukunft, S.-236f. 3 Vgl. Horn, C.: Augustinus. Antike Philosophie in christlicher Interpretation. In: Ertler, M./ Graeser, A. (Hgg.): Große Philosophen. Bd. 1: Philosophen des Altertums. Darmstadt 2010, S.-156f. II Glaube und Wissen - Imperium und Sacerdotium a) Christentum und Mönchskultur im Westen Mit dem Aufstieg des Imperium Romanum zu einer Weltmacht und dem Versuch, an eine mit der griechischen Kultur vergleichbare Originalität in Philosophie, in den Künsten und in religiösen Fragen anzuschließen, 1 etablierte sich mit Rom neben Athen ein weiterer gesellschaftspolitisch und kulturell entscheidender Ballungsraum Alteuropas. Allerdings setzten mit dem Auftreten und Verschwinden des jüdischen Wanderpredigers Jesus Christus Deutungen seiner Existenz ein, die den Keim zu einer neuen Weltreligion und damit Weltmacht enthielten: dem Christentum. Das an‐ tik-kulturelle Gegensatzpaar Hellenen und Barbaren war mit dem Auftreten der Christen nicht mehr aufrechtzuerhalten. Im Angesicht der Vielgötterei wurde dieses gleichermaßen zu Heiden gegenüber Christen, die die ihnen bekannte Welt aller Völker in die Ordnung des einen Schöpfergottes einge‐ bunden sahen. Im Hintergrund der sogenannten Völkerwanderung schrieb der einflussreiche nordafrikanische Kirchenvater Augustinus von Hippo eines der maßgeblichsten Werke für das Mittelalter: De civitate Dei. Darin entfaltete Augustinus eine „Zwei-Welten-Lehre“ zwischen Gottesstaat und irdischem Staat (civitas Dei - civitas terrena), die es ihm ermöglichte, ein elas‐ tisches Argumentationspotenzial für den Untergang Roms zu definieren. 2 Im 22. und damit letzten Buch von De civitate Dei kommt Augustinus auf den Lehrgehalt der christlichen Offenbarungsreligion zu sprechen. Wenngleich die Leiden auf der Welt für Christen sowie für Nichtchristen die gleichen sein konnten, lag der spirituelle und damit für ihn wesentliche Kern eines durchschnittlichen Menschenlebens in der Strebenstendenz zu Gott hin, 3 die in der wahren Philosophie des sich verbreitenden Christentums Ausdruck fand: <?page no="42"?> 4 Augustinus: Vom Gottesstaat. Aus dem Lateinischen übertragen von Wilhelm Thimme. Eingeleitet und kommentiert von Carl Andresen. München 2007, S.-806. 5 Vgl. Brunner, K.: Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters. München 2012, S.-139. 6 Vgl. Jussen, B.: „Abendland“ - „Lateineuropa“ - „Provincializing Europe“: Bemerkungen zum poströmischen Europa zwischen alten und neuen Deutungsmustern. In: Ansorge, D. (Hrsg.): Pluralistische Identität. Beobachtungen zu Herkunft und Zukunft Europas. Darmstadt 2016, S.-25ff. Freilich, wenn die wahre Philosophie das einzige Heilmittel gegen die Nöte dieses Lebens ist, das nur wenigen von Gott dargereicht wird, so geht schon daraus hervor, daß das Menschengeschlecht zu Elend und Pein verdammt wurde. Ist aber nach ihrem Geständnis keine göttliche Gabe größer als diese, muß man auch annehmen, daß sie nur von dem Gott kommen kann, den auch sie, obwohl Verehrer vieler Götter, für den größten von allen halten. 4 Somit konnte Rom, die Manifestation irdischer Herrschaft als kirchliche und weltliche Organisationsform, mit dem Einmarsch der Westgoten untergehen und die civitas Dei als Firmament einer neu institutionalisierten Religion in unverrückbarer Ferne bestehen bleiben. Das lateinische Christentum und die römische Kirche vermittelten im Mittelalter ein Kulturverständ‐ nis mit holistischem Charakter, da es alle Möglichkeiten sowie Grenzen des Bildungserwerbs dominierte, damit den Sinnhorizont als kultureller Ereignisträger par excellence verbindlich und widerspruchsfrei festlegte. Zugleich ist das Mittelalter nicht die Zeit, in der Europa genuin christlich war, sondern in der es christianisiert wurde. 5 Im Zuge dieses Jahrhunderte währenden Prozesses geriet die Bezeichnung christlich nach römisch-latei‐ nischer Normierung zu einem Kampf- und Ausgrenzungsbegriff gegen ara‐ bisch-islamische Kulturen, gegen Juden sowie gegen jene, deren Anspruch auf die Verkörperung des wahren Christentums andere Formen religiöser und sozialer Institutionen hervorgebracht hatte. 6 Nach dem Verblassen christlich-apokalyptischer Erwartungen hatte sich das noch junge Christentum während des Zeitabschnitts von Kaiser Kon‐ stantin bis Kaiser Theodosius zu weiten Teilen auf ein in seinen wesent‐ lichen Glaubensformen noch vage ausformuliertes Verständnis geeinigt, wer Jesus Christus gewesen sein und was er bewirkt haben könnte. Mit der staatspolitischen Etablierung verloren die meisten antiken Kulte sowie Mysterienreligionen ihre Anziehungskraft - sie überdauerten lediglich in lokalen Bräuchen und Traditionen, die vom Christentum assimiliert wurden. Zugleich wurde mit der Expansion des Islam ab dem 8. Jahrhundert auf der 42 II Glaube und Wissen - Imperium und Sacerdotium <?page no="43"?> 7 Vgl. Logan, D.: Geschichte der Kirche im Mittelalter. Aus dem Englischen übersetzt von Karl Nicolai. Darmstadt 2005, S.-22f. 8 Vgl. Vogel, C.: Boethius’ Übersetzungsprojekt. Philosophische Grundlagen und didak‐ tische Methoden eines spätantiken Wissenstransfers (= Episteme in Bewegung. Beiträge zu einer transdisziplinären Wissensgeschichte, Bd.-6). Wiesbaden 2016, S.-13. Iberischen Halbinsel und in Südeuropa das mare nostrum der griechisch-rö‐ mischen Antike zum kulturellen und militärischen Grenzgebiet. In der politisch instabilen Zeit des 4. bis 6. Jahrhunderts entstanden im Os‐ ten ein griechisch-byzantinisches Kaiserreich und im Westen ein Gemenge zahlreicher ‚germanischer‘ Kleinkönigtümer. Als sich die römischen Patri‐ archen gegenüber den anderen vier Hochthronen des noch jungen Christen‐ tums in Konstantinopel, Alexandria, Antiochia und Jerusalem als Nachfolger des Apostelfürsten Petrus legitimierten, stieg der Bedeutungsgehalt Roms mit dem Sitz der Päpste als Wahlmonarchen zumindest in kirchenpolitischer Hinsicht in Mittel- und Westeuropa. Zugleich erstarkte der Wille zu einem geordneten System der christlichen Theologie, das kontroverse Ansichten (Natur Christi, Glaubensbekenntnis, Formen der Institutionalisierung, …) in Bischofskonzilien und Synoden auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen versuchte. 7 Abseits theologischer Streitpunkte zwischen diversen Glaubensausformungen gab es nur wenige Gelehrte, die im 6./ 7. Jahrhundert versuchten, eine Geistes- und Bildungsbrücke zwischen antikem, griechi‐ schem Wissen und frühem, lateinischem Mittelalter zu schlagen. Neben Isidor von Sevilla (Etymologiae) kann an dieser Stelle Boethius genannt werden, dessen Versuch, das Gesamtwerk des Aristoteles zu übersetzen, zur Grundlage für den Logikunterricht und die Lehre der Trivium-Fächer in den artes liberales (freien Künsten) der folgenden Jahrhunderte wurde. 8 Andere Gelehrte wie Cassiodor und Benedikt von Nursia wurden zu entscheidenden Wegbereitern des späteren christlichen Europas, indem sie Mönche in der rechten Anwendung des Bibelstudiums als christliche Lebensregel unterrichteten. Cassiodor, der im Dienst des Ostgotenkönigs Theoderich am Hof in Ravenna stand, gründete in Kalabrien das Kloster Vivarium, in dem durch die koordinierte Zusammenführung von Kloster, Schule, Bibliothek und Skriptorium an einem Ort versucht wurde, das griechische und jüdische antike Erbe zu bewahren sowie durch gelehrte Bearbeitungen und Übersetzungen zu erschließen. 562 verfasste Cassiodor die Institutiones divinarum et saecularium litterarum, in denen er, wie es a) Christentum und Mönchskultur im Westen 43 <?page no="44"?> 9 Vgl. Geier, W.: Europabilder. Begriffe, Ideen, Projekte aus 2500 Jahren. Wien 2009, S. 28; Boehm, L.: Organisationsformen der Gelehrsamkeit im Mittelalter. In: Garber, K./ Wismann, H. (Hgg.): Europäische Sozietätsbewegung und demokratische Tradition. Die europäischen Akademien der Frühen Neuzeit zwischen Frührenaissance und Spätaufklärung. Bd. I. Tübingen 1996, S.-100f. 10 Vgl. Gleba, G.: Klosterleben im Mittelalter. Darmstadt 2004, S. 64-68; Licht, T.: Die ältesten Zeugnisse zu Benedikt und dem benediktinischen Mönchtum. In: Erbe und Auftrag 89, 2013, S.-434ff. 11 Vgl. Wendehorst, A.: Wer konnte im Mittelalter lesen und schreiben? In: Fried, J. (Hrsg.): Schulen und Studium im sozialen Wandel des hohen und späten Mittelalters (= Vorträge und Forschungen, Bd.-30). Sigmaringen 1986, S.-10. der Titel andeutet, das Bibelstudium von dem weltlichen Studium trennte. 9 Benedikt von Nursia entstammte einer wohlhabenden Familie aus Peru‐ gia, entzog sich aber der Adelsgesellschaft, um sich für ein asketisches Leben zu entscheiden. 529 gründete er auf Monte Cassino, wo sich Reste einer römischen Befestigungsanlage mit einem Apollotempel befanden, ein eigenes Kloster. Er prägte die Mönchskultur seiner Nachwelt durch die nach ihm benannte Regula Benedicti, die als Kompendium seiner eigenen Grundsätze und älterer, zum Teil anonymer Sammlungen gewissermaßen das Curriculum für in Gemeinschaft lebende Mönche formulierte. 10 Wenngleich Benedikts Klosterregel vorsah, dass Eintretende die Fähig‐ keit des Lesens mitbrachten, beherrschten keineswegs alle Angehörigen des Klerus elementare Kulturtechniken. 11 Jegliche Form frühmittelalterlich höherer Bildung beruhte zwar auf Schriftlichkeit, die an die lateinische Sprache gebunden war, doch konnten nur wenige - Geistliche ebenso wie Herrscher, Ritter oder Kaufleute - lesen und schreiben. Sagen und Dichtun‐ gen wurden in volkssprachlichen Überlieferungen weiterhin weitgehend mündlich tradiert. Reden war und blieb das optimale Herrschaftsinstrument in der durch Mündlichkeit geprägten Gesellschaft des Frühmittelalters. Reformiert wurde dieses Konzept durch das Bildungsbestreben Karls des Großen, die Geheimnisse des Glaubens in Psalmen und liturgischen Texten auf Latein subtiler zu vermitteln, als dies ein fränkischer Dialekt leisten konnte und bisher geleistet hatte. Mit der Einladung Alkuins von York an Karls Hof in Aachen folgten entscheidende Impulse für die karolingische Bildungsreform. Alkuin entstammte der Tradition insularen Mönchtums, die einen größeren Wert auf Bildung und Didaktik der lateinischen Sprache legte als die meisten Klöster auf dem Festland. Seine Leitung der Hofschule in Aachen als Versammlung einiger der bedeutendsten Gelehrten Euro‐ pas führte zur Grundlegung der geistigen Bildung in Europa: Lehrwerke 44 II Glaube und Wissen - Imperium und Sacerdotium <?page no="45"?> 12 Vgl. Einhard: Vita Karoli Magni. Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von Evelyn Scherabon Firchow. Stuttgart 2006, S. 49-51 (cc. 25-26); Nonn, U.: Mönche, Schreiber und Gelehrte. Bildung und Wissenschaft im Mittelalter. Darmstadt 2012, S. 19-26; Fried, J.: Karl der Große. Gewalt und Glaube. Eine Biographie. München 2014, S.-322-324. 13 Vgl. Böhme, Stufen der Reflexion, S. 9; Bourdieu, P.: Sozialer Sinn. Kritik der theoreti‐ schen Vernunft. Übersetzt von Günter Seib. Frankfurt am Main 9 2015, S. 112f.; Rehbein, B./ Saalmann, G.: Habitus. In: Fröhlich, G./ Rehbein, B. (Hgg.): Bourdieu-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart/ Weimar 2009, S. 114; Wacquant, L.: Eine kurze Genealogie und Anatomie des Habitusbegriffs. In: Berliner Debatte Initial 27/ 4 2016, S.-103f. wurden verfasst, die im ganzen Reich als verbindliches Muster gelten sollten, sowie Bildungsbestrebungen (Verbesserung der Lateinkenntnisse und des Kirchenrechts, Aneignung antiker Bildungsinhalte für die kirchliche Bildung, Normierung der religiösen Praxis und Pflege der Volkssprache) wurden an alle Reichsklöster und größeren Kirchen weitergegeben. 12 So entwickelte sich ein theologischer Kontrollrahmen, der die Momente früher Kulturkritik, wie sie bei den Griechen und Römern aufgekommen waren, übernahm, da es zur Vermittlung der normierten Bildungsinhalte einer Mönchskultur bedurfte, die auf geschulten, letztlich exklusiven La‐ teinkenntnissen aufbaute. Wenngleich Karls Versuch, seine Hofakademie als geistig-kulturelles Zentrum zu etablieren, das mit Athen oder Rom zu vergleichen wäre, seine Nachfolger nicht überdauerte, konnte sich die Mönchskultur als Expertenkultur durch das charakteristische Moment der Schrifthermeneutik gegenüber einer illiteraten und/ oder paganen Volkskul‐ tur absetzen. Kultur konnte folglich mit der Institution Kirche gleichgesetzt werden, weil diese ein Repertoire von Wahrnehmungs-, Denk- und Hand‐ lungsschemata bereitstellte, das frei nach Pierre Bourdieu habitualisiert wurde. 13 Damit beschreibt der französische Soziologe mit Bezug auf den hochmittelalterlichen Kirchenlehrer Thomas von Aquin, der die altgriechi‐ sche Bezeichnung für Verhaltens- und Wahrnehmungsnormen bei Aristo‐ teles als habitus ins Lateinische übertrug, Kategorien und Überzeugungen des Denkens wie Verhaltens (Sprache und Kommunikationsnormen, Glaube, Emotionen, Essgewohnheiten, Kleidung, …). Diese bestimmten wie antrai‐ nierte Fähigkeiten den Lebensstil all jener Personen, die in der Umgebung der Kirche und ihrer Glaubensträger lebten. Der christliche Glaube und alle damit verbundenen Tätigkeiten prägten die Kultur wie ein inkorporiertes Konstrukt, das bis in die frühe Neuzeit hinein die sozialen Strukturen und Bedingungen der Handlungsmöglichkeiten bestimmte, an denen sich Gläubige wie Nichtgläubige orientierten. a) Christentum und Mönchskultur im Westen 45 <?page no="46"?> 14 Vgl. Sturlese, L.: Die Philosophie im Mittelalter. Von Boethius bis Cusanus. München 2013, S.-13. 15 Vgl. Lettieri, G.: De doctrina christiana (Über die christliche Wissensaneignung und Lehre). In: Drecoll, V. (Hrsg.): Augustin Handbuch. Tübingen 2007, S.-377. 16 Augustinus, A.: Die christliche Bildung (De doctrina christiana). Übersetzung, Anmer‐ kungen und Nachwort von Karla Pollmann. Stuttgart 2013, S.-97. b) Organisiertes Wissen und Kulturtransfer Europäische Einrichtungen, die Wissen auf hohem Niveau vermittelten, gab es seit der Spätantike. Doch während im griechisch-orthodoxen Osten die bewährten Bildungsanstalten weiterhin Bestand hatten, zog sich im lateinischen Westen jegliche Wissensvermittlung in den Bereich der Klos‐ terschulen, später in die Dom- und Kathedralschulen, zurück. 14 Im zweiten Buch von De doctrina christiana, dem in vier Bücher gegliederten Standard‐ werk zur (christlich-)kirchlichen Glaubenslehre, formulierte Augustinus das für die folgenden Jahrhunderte entscheidende christliche Bildungsmodell: 15 So bestehen alle Wissenschaften der Heiden nicht nur aus vorgetäuschten und abergläubischen Erdichtungen und schweren Bürden von überflüssiger Mühe, […] sondern sie enthalten auch die sogenannten freien Künste, die für den Nutzen der Wahrheit recht geeignet sind, und einige sehr nützliche Vorschriften zur praktischen Lebensführung. Selbst über die Verehrung des einzigen Gottes findet sich bei ihnen einiges Wahre. 16 Diese Verbindung sowie Aneignung der antiken Wissenschaften und Künste mit dem christlichen Glauben erfolgte durch das von der römischen Kultur seit Cicero bekannte und so benannte Bildungskonzept der septem artes liberales (die Sprachfächer im trivium und die mathematischen Disziplinen im quadrivium), das für alle Schulen des lateinischen Westens maßgeblich wurde. In den vielgestaltigen höheren Schulen des späten Frühmittelalters (Dom- und Kathedralschulen) wurden die freien Künste in Verbindung mit einem Verständnis ausgewählter biblischer Schriften und liturgischer Texte in lateinischer Sprache unterrichtet. Anders als im Osten verblieb das pro‐ fessionelle Lesen und Schreiben bis zur Gründung der ersten Hochschulen bei Geistlichen, welche die Spezialisierung der Wissenskultur als klerikalen Bildungsmarker fest in ihrer Hand hielten. Die karolingische Bildungsre‐ form festigte diese Ausrichtung, bis eine unerwartete Umgestaltung der Wissensinhalte eintrat. 46 II Glaube und Wissen - Imperium und Sacerdotium <?page no="47"?> 17 Vgl. Hourani, A.: Die Geschichte der arabischen Völker. Aus dem Englischen von Manfred Ohl und Hans Sartorius. Frankfurt am Main 1992, S. 107ff.; Hunke, S.: Allahs Sonne über dem Abendland. Unser arabisches Erbe. Frankfurt am Main 5 2005, S. 192; Bauer, T.: Warum es kein islamisches Mittelalter gab. Das Erbe der Antike und der Orient. München 2018, S.-75-83. 18 Vgl. Höffe, Aristoteles, S. 280f.; al-Khalili, J.: Im Haus der Weisheit. Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur. Aus dem Englischen von Sebastian Vogel. Frankfurt am Main 2 2016, S. 123-129; Braun, B.: Die Herkunft Europas. Eine Reise zum Ursprung unserer Kultur. Darmstadt 2022, S.-371ff. 19 Vgl. Koch, H.-A.: Die Universität. Geschichte einer europäischen Institution. Darmstadt 2008, S.-10. Die Schriften des Aristoteles wurden im lateinischen Westen des Frühmit‐ telalters kaum rezipiert. Boethius‘ Versuch, eine kommentierte lateinische Übersetzung von dessen überliefertem Werk zu erstellen, scheiterte an seiner Hinrichtung. Im islamisch-arabischen Kulturraum hingegen gehörte das Studium griechischer und jüdischer Philosophie zum Kanon der Bildung, als unter den Abbasiden-Kalifen Hārūn ar-Raschīd und seinem Nachfolger al-Ma’mūn Generationen von griechisch- und syrischsprachigen Christen sowie jüdischen und arabisch-islamischen Wissenschaftlern Manuskripte aus dem griechischen, persischen und indischen Kulturraum ins Arabische übersetzten. 17 Vergleichbar mit Karls Hof in Aachen wurde in Baġdād mit dem Haus der Weisheit ein Versammlungsort geschaffen, den wir heute als interdisziplinäres Forschungszentrum bezeichnen würden. Dort trafen sich „internationale“ Gelehrte, um eine Integration und Aneignung von Texten und Diskursen zur Theologie, Astronomie etc. zu ermöglichen sowie eine konzentrierte Übersetzertätigkeit im Umfeld der großen Palastbibliothek zu fördern. Als Baġdād, das damalige geistig-kulturelle Zentrum der arabischen Welt, im Laufe des 11. Jahrhunderts von den Seldschuken erobert wurde, ka‐ men manche Übersetzer und gründliche Kenner des Aristoteles, Ptolemaios und anderer Gelehrter nach Süditalien sowie auf die Iberische Halbinsel. 18 Während sich das arabische Zentrum von Wissenschaft und Bildung in der Folge nach Kairo und Damaskus verschob, erschloss sich der lateinischen Kulturwelt binnen weniger Jahrzehnte durch Nebenüberlieferungen oder Rückübersetzungen aus der arabischen Sprache die erweiterte und revidierte Grundlegung europäischer Wissenschaft in Theologie, Jurisprudenz und Medizin. Die Rettung und Rückübersetzung eines Teils der antiken Werke bildete eine der Grundvoraussetzungen europäischer Kultur- und Geistesge‐ schichte, durch die wesentliche wissenschaftliche Paradigmen neu skizziert wurden. 19 b) Organisiertes Wissen und Kulturtransfer 47 <?page no="48"?> 20 Vgl. Thomas, J.: Spanien/ al-Andalus: Alte und junge Mythen. In: Graziadei, D. et al. (Hgg.): Mythos - Paradies - Translation. Kulturwissenschaftliche Perspektiven (= Edition Kulturwissenschaft, Bd.-135). Bielefeld 2018, S.-128-134. 21 Vgl. Geier, W.: Juden in Europa. Historische Skizzen aus zwei Jahrtausenden (= Wieser Enzyklopädie des Europäischen Ostens, Bd.-9.1). Klagenfurt 2012, S.-40-44. 22 Vgl. Bossong, G.: Das maurische Spanien. Geschichte und Kultur. 2., durchgesehene Auflage, München 2010, S.-74-76. 23 Vgl. Belting, H.: Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks. München 3 2009, S.-105ff. 24 Vgl. Burnett, C.: Some Comments on the Translating of Works from Arabic into Latin in the Mid-Twelfth Century. In: Zimmermann, A./ Cremer-Ruegenberg, I. (Hgg.): Orientalische Kultur und europäisches Mittelalter (= Miscellanea mediaevalia, Bd. 17). Berlin/ New York 1985, S. 166; König, D.: Übersetzungskontrolle. Regulierung von Übersetzungsvorgängen im lateinisch/ romanisch-arabischen Kontext (9.-15.-Jahrhun‐ dert). In: Oschema, K./ Lieb, L. et al. (Hgg.): Abrahams Erbe: Konkurrenz, Konflikt und Koexistenz der Religionen im europäischen Mittelalter (= Das Mittelalter: Beihefte, 2). Berlin 2015, S.-474. 25 Vgl. Katschnig, G.: Übersetzung und Mehrsprachigkeit im 12. Jahrhundert: Hermann von Karinthia. In: Colloquium: New Philologies. Volume 5/ 2, 2020, S.-140-149. Im 12./ 13. Jahrhundert erlebten und lebten Teile Spaniens eine nicht gewalt- und konfliktfreie, 20 aber wissenschaftlich kooperative und konkur‐ renzfähige Zeit der convivencia aller drei Abrahamitischen Religionen. 21 In Toledo, Barcelona, Córdoba und weiteren Gebieten der Iberischen Halbinsel fanden transkulturelle Begegnungen statt, die eine markante Integration griechischer, arabischer und jüdischer Philosophie in das lateinisch-christ‐ liche Weltbild bedingten. So kamen etwa in der während der Herrschaft des kastilischen Königs Alfons VII. begründeten Übersetzerschule von Toledo 22 Gelehrte aus verschiedenen Winkeln Europas zusammen, um phi‐ losophische, medizinische, astronomische/ astrologische, juristische sowie naturwissenschaftliche Werke der Antike (Hippokrates, Aristoteles, Euklid, Galen) wie der jüngeren Vergangenheit (Avicenna/ Ibn Sīnā, Alhazen 23 ) zu übersetzen. Um ein optimales Verständnis des Originaltextes zu erreichen und Qualitätssicherung zu betreiben, wurde dabei vielfach in Zweierteams vorgegangen, die aus Einheimischen und zugereisten Gelehrten bestanden: einer übersetzte zum Allgemeinverständnis mündlich aus dem Arabischen in eine romanische Umgangssprache, ehe der andere diese Version weiter ins Lateinische übersetzte und schriftlich übertrug. Da die griechischen Originaltexte vielfach nicht vorhanden waren, handelte es sich bei den meisten Übertragungen um Übersetzungen von Übersetzungen. 24 Hermann von Karinthia 25 etwa studierte in Chartres oder Paris das klassische Bildungskonzept, ehe er sich im Zuge einer Studienreise mit dem 48 II Glaube und Wissen - Imperium und Sacerdotium <?page no="49"?> 26 Vgl. Kritzeck, J.: Peter the Venerable and Islam. Princeton 1964, S. 84-96; Albayrak, I.: Qur’anic Narrative and Isra’iliyyat in Western Scholarship and in Classical Exegesis. Diss. Leeds 2000, S. 17f.; Kutleša, S.: Croatian Philosophers I: Hermann of Dalmatia (1110-1154). In: Prolegomena. Journal of Philosophy 3/ 1, 2004, S. 64; Vones, L.: Zwischen Kulturaustausch und religiöser Polemik. Von den Möglichkeiten und Grenzen christ‐ lich-muslimischer Verständigung zur Zeit des Petrus Venerabilis. In: Speer, A./ Wegener, L. (Hgg.): Wissen über Grenzen. Arabisches Wissen und lateinisches Mittelalter (= Miscellanea Mediaevalia, Bd.-33). Berlin/ New York 2006, S.-217-222. 27 Vgl. Tischler, M.: Die Iberische Halbinsel als christlich-muslimischer Begegnungsraum im Spiegel von Transfer- und Transformationsprozessen des 12.-15. Jahrhunderts. In: Anuario de Historia de la Iglesia 20, 2011, S.-134-140. englischen Astronomen Robert von Ketton in den Nahen Osten mit arabi‐ scher Sprache, Kultur und Wissenschaft beschäftigte. Um 1138 kam er auf die Iberische Halbinsel, wo er in der Gegend um Tudela und Tarazona, später in León und Toledo vorwiegend naturwissenschaftliche Schlüsseltexte zur Mathematik und Astrologie (Euklid, Ptolemaios) ins Lateinische übersetzte wie kommentierte. Außerdem beauftragte ihn Petrus Venerabilis, der Bene‐ diktinerabt von Cluny, um 1141/ 42, in einem Arbeitsteam gemeinsam mit Robert von Ketton und weiteren Mitarbeitern erstmals religiöse Texte des Islam (Koran, Hadithe) ins Lateinische zu übertragen - so etwa Doctrina Mahumet (Abb. 3), eine in Dialogform verfasste Bekehrungslegende dreier jüdischer Fragesteller, die an Muḥammad mit religiösen Fragen herantreten. Dabei konnten die differenten Wertvorstellungen und Identifikationsmuster dieses mit dem Christentum konkurrierenden Religionssystems besser ken‐ nengelernt werden - faktisch wohl mit dem Ziel, diese zu widerlegen und die Andersgläubigen zum Übertritt ins Christentum zu bewegen. 26 Allesamt waren die Übersetzer und Kommentatoren kulturelle Grenz‐ gänger, die entweder in der mehrsprachigen andalusischen Gesellschaft aufgewachsen waren oder Mut und Neugier zur Überschreitung religiö‐ ser wie kultureller und wissenschaftlicher Grenzen mitbrachten. 27 Gerade die logischen Schriften des Aristoteles lieferten die allgemeine Gültigkeit beanspruchenden Instrumente wissenschaftlichen Denkens, die zu einer neuen Fundierung von Wissenschaft auf allen Gebieten führten. In diesem historischen Moment, in dem Gelehrte wie Averroës (Ibn Ruschd), Hermann von Karinthia, Gerhard von Cremona oder Michael Scotus antikes Wissen in den Bildungszentren des maurischen Spaniens wieder zugänglich machten, entstand mit der Universität eine neue Form institutionalisierter Wissens‐ vermittlung als Kennzeichen konzentrierter monastischer Gelehrsamkeit. b) Organisiertes Wissen und Kulturtransfer 49 <?page no="50"?> Abb. 3: Doctrina Mahumet von Hermann von Karinthia (ca. 16.-Jahrhundert) Mit der Herausbildung städtischer Strukturen, dem zunehmenden Grad an Verschriftlichung als Ordnungsleistung für bürokratische Abläufe so‐ wie dem Verlangen nach einer sicheren und anerkannten, allgemeinen 50 II Glaube und Wissen - Imperium und Sacerdotium <?page no="51"?> 28 Vgl. Nonn, Mönche, Schreiber und Gelehrte, S.-80. 29 Vgl. Seibt, F.: Die Begründung Europas. Ein Zwischenbericht über die letzten tausend Jahre. Bonn 2005, S.-374-384; Kittler, Philosophien der Literatur, S.-69f. und kirchlichen Rechtsordnung bildeten sich ab der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts die ersten Formen höherer Lehrorganisation mit eigenen Körperschaften heraus. Eine Gemeinschaft (universitas) von Lehrenden und Studierenden versammelte sich um Bücher in gemieteten Häusern oder Kirchenräumen. Dem Grundstudium der freien Künste folgte die Spezialisie‐ rung in Theologie, Rechtswissenschaft oder Medizin. In Bologna beginnend, verbreiteten sich diese in Form und Organisation genuin europäischen Bildungsstätten binnen weniger Jahrzehnte bis nach Frankreich, England und Spanien. Während die Universitäten in Bologna, Modena und Padua ihren hohen Stellenwert als juristische Ausbildungseinrichtungen durch die Auslegung des Corpus iuris civilis von Justinian bewiesen, ging der Aufbruch der Wissenschaften aus kirchenrechtlicher Sicht von den führenden Dom- und Stiftsschulen Nordfrankreichs (Chartres, Paris) aus. Hier wurde im Übergang zum 12.-Jahrhundert die Scholastik als mittelalterliche Schulwis‐ senschaft entwickelt, um kanonisierte Textkorpora wie die Bibel, Texte der Kirchenväter oder Konzilstexte mithilfe der methodischen Trias lectio, quaestio und disputatio korrekt vorzulegen sowie verbindlich auszulegen. 28 Da die Kirche in den meisten Fällen Förderer und institutioneller Garant der Universitäten war, lag deren Bedeutsamkeit zunächst weniger in der Entwicklung neuer Fähigkeiten der Textexegese als in der verbindlichen, widerspruchsfreien Vermittlung der Texte der Bibel und der Überzeugungen der Kirchenväter für die Qualifizierung des eigenen Personals. So versuchten in Paris angesehene Vermittler des Wissens wie Peter Abaelard oder später Thomas von Aquin in der Auseinandersetzung mit Aristoteles, Gehalte spekulativen Denkens, die im Widerspruch zur Offenbarung standen, mit christlicher Doktrin zu vereinbaren. Die Scholastik diente einerseits zum höheren Nutzen der kanonischen Schriften und verleibte sich andererseits den latinisierten Aristoteles ein. Damit eröffneten die ersten Universitäts‐ gründungen neben dem wissensvermittelnden Klerus in den Domschulen einen weiteren Kommunikationsraum auf theologischem Fundament. 29 b) Organisiertes Wissen und Kulturtransfer 51 <?page no="52"?> 30 Vgl. im Folgenden: Clauss, M.: Ludwig IV. - der Bayer. Herzog, König, Kaiser. 2., überarbeitete Ausgabe, Regensburg 2014, S. 60-66; Schimmelpfennig, B.: Das Papsttum. Von der Antike bis zur Renaissance. 6. Auflage. Bibliographie bearbeitet und aktualisiert von Elke Goez. Darmstadt 2009, S. 240ff.; Goez, E.: Geschichte Italiens im Mittelalter. Darmstadt 2010, S.-215f. 31 Vgl. Beckmann, J.: Wilhelm von Ockham. München 2 2010, S.-136. c) Von neuen Glaubensformen zu ersten Anklängen volkssprachlicher Dichtung Das gesellschaftspolitische Leben des 12. bis 15. Jahrhunderts wurde von fortwährenden, innereuropäischen Konflikten zwischen Imperium und Sa‐ cerdotium überlagert, da das Königs- und Kaiseramt sakrale Elemente inkludierte, die für die Abhängigkeit von der Kirche standen. Erst zu Beginn des 14. Jahrhunderts verdichteten sich während der Herrschaft Kaiser Ludwigs des Bayern, als der Schutz des Papsttums längst keine Christenpflicht mehr darstellte, jene Glaubenswie Wissensformen, die der Renaissance nördlich der Alpen vorausgehen sollten. Als Ludwig seine Kaiserkrönung plante, hatten die aus heutiger Sicht antikapitalistischen Visionen des Franz von Assisi, die das Armutsideal Christi im Verhältnis zu den Besitztümern der katholischen Kirche zu einem spirituellen Dogma erhoben, von den Franziskanern auf die Kirche sowie auf Laienassoziationen in der städtischen Gesellschaft übergegriffen. Wanderprediger, Sektierer und spätere Heilige popularisierten diese neuen Ansichten der christlichen Botschaft. Durch die enge Verzahnung der Kirche mit den politischen Eliten kam es zu einem Wechselspiel zwischen politischem Machtanspruch und kirchlichen Machtmitteln, die der in Avignon residierende Papst Johannes XXII. eskalieren ließ. So fanden sich binnen weniger Jahre bedeutende Intellektuelle als politisch-religiöse Emigranten und Berater am bayerischen Hof wieder. 30 Als Michael von Cesena Wilhelm von Ockham 31 von der Wahrhaftigkeit der evangelischen Armut überzeugen konnte, flüchteten sie gemeinsam mit Bonagratia von Bergamo von Avignon an den Hof Ludwigs, wo Ockham naturphilosophische und theologische Schriften verfasste. In politischer und kirchenrechtlicher Hinsicht forderte er die Trennung von Glauben und Wissen. Er lehnte die Möglichkeit ab, Theologie als Wissen‐ schaft zu verstehen, da sie die menschliche Erkenntniskraft übersteige, und sah jegliche politische Macht an das Individuum rückgebunden. Als zeitweiliger Mitstreiter des kaisertreuen Cangrande della Scala und ehemaliger Rektor der Pariser philosophischen Fakultät führte Marsilius 52 II Glaube und Wissen - Imperium und Sacerdotium <?page no="53"?> 32 Vgl. Godthardt, F.: Marsilius von Padua und der Romzug Ludwigs des Bayern. Politische Theorie und politisches Handeln (= Nova Mediaevalia. Quellen und Studien zum europäischen Mittelalter, Bd.-6). Göttingen 2017, S.-41-88. 33 Marsilius von Padua: Der Verteidiger des Friedens. Auf Grund der Übersetzung von Walter Kunzmann bearbeitet von Horst Kusch. Auswahl und Nachwort von Heinz Rausch. Stuttgart 1971, S.-189. 34 Vgl. Miethke, J.: Politiktheorie im Mittelalter. Von Thomas von Aquin bis Wilhelm von Ockham. Durchgesehene und korrigierte Studienausgabe. Tübingen 2008, S. 217-220; Flasch, K.: Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli. Stuttgart 1988, S.-474-480. 35 Vgl. Clauss, Ludwig IV., S.-51. von Padua 32 ähnliche Grundgedanken in seinem Werk Defensor pacis aus. In diesem zukunftsweisenden Leitfaden, den er 1324 anonym verfasste, aber Ludwig sowie dessen Politik widmete, forderte er eine strikte Trennung zwischen Kaiser- und Papsttum sowie die Begründung einer Form der Volks‐ souveränität, die an Ockhams Ansicht von politischer Macht anknüpfte. Mit Bekanntwerden seiner Autorschaft verließ Marsilius Paris und begab sich an den Hof Ludwigs. Seine Ausführungen zu institutionellen Formen menschlicher Vergemeinschaftung unterschieden zwischen menschlicher und göttlicher Gesetzgebung. Sie wandten sich entschieden gegen den Primat des Papstes, da diesem keine Gerichtshoheit über weltliche Belange zukäme, und gegen die rechtlich-politische Sonderstellung des Klerus. Als Verteidiger des Friedens bezeichnete Marsilius sein Werk, da es „ausführlich die wichtigsten Ursachen, die Frieden oder Ruhe im Staate erhalten und bewahren, wie diejenigen, die das Gegenteil davon, den Streit, hervorrufen, […]“ 33 beschrieb: den Staat als Garanten des Friedens, die Kirche als Quelle des Unfriedens. 34 Im Gegensatz zu Karl dem Großen und Hārūn ar-Raschīd, die beiderseits regen und lernenden Anteil an ihren gelehrten Gästen nahmen, sah Ludwig der Bayer seine exkommunizierte Schar an Flüchtlingen eher als intellektuell nützliche politische Mitstreiter, um seine Position gegen den Papst zu be‐ haupten. Ein anderer Aspekt seiner Herrschaft hatte diesbezüglich weniger Brisanz, wurde aber richtungsweisend für alle volkssprachlichen Bemühun‐ gen: Mit Ludwig IV. begann sich das Deutsche als Urkundensprache gegen das Lateinische durchzusetzen. 35 Seit dem ausgehenden 11. Jahrhundert wurde im französischen und deutschen Sprachraum weltliche höfische Literatur in der jeweiligen Volkssprache verfasst, womit dieses volgare den Rang einer Literatursprache einzunehmen begann und ein säkulares c) Von neuen Glaubensformen zu ersten Anklängen volkssprachlicher Dichtung 53 <?page no="54"?> 36 Vgl. Brunner, H.: Geschichte der deutschen Literatur des Mittelalters im Überblick. Stuttgart 2007, S.-27. 37 Vgl. Voßler, K.: Die göttliche Komödie. Entwicklungsgeschichte und Erklärung. I. Band, II. Teil: Ethisch-politische Entwicklungsgeschichte. Heidelberg 1907, S. 525-552; Stierle, K.: Dante Alighieri. Dichter im Exil, Dichter der Welt. München 2014, S.-15-30. 38 Vgl. Petronio, G.: Geschichte der italienischen Literatur. Bd. 1: Von den Anfängen bis zur Renaissance. Tübingen/ Basel 1992, S.-83-85. Menschenbild anklingen ließ. 36 Bis ins ausgehende 14. Jahrhundert nahmen damit Schreibschulen in der Volkssprache zu und forcierten die Bildung nichtgeistlicher Bevölkerungsschichten. Im italienischen Sprachraum sind die Anfänge der volkssprachlichen Literatur mit dem Namen Dante Alighieri 37 verbunden. Der aus dem Florentiner Kleinadel stammende Dichter strebte zunächst eine Karriere als Lokalpolitiker an und schaffte es im Jahr 1300, ins höchste politische Gremium der Stadt gewählt zu werden. Im Rahmen dessen geriet er in die seit Jahren schwelenden machtpolitischen Auseinandersetzungen mit den toskanischen Nachbarstädten sowie zwischen den Anhängern des Kaisers (Ghibellinen) und jenen des Papstes (Guelfen). Die politischen Turbulenzen endeten für Dante 1302 mit der lebenslangen Verbannung aus Florenz. Wie bei Aristoteles und Cicero begann Dantes literarisch-philosophische Schaf‐ fenszeit außerhalb seines bisherigen und eigentlichen Wirkungskreises - an diversen Herrscherhöfen in der Toskana (etwa Arezzo, Lucca) und in unmittelbarer Nähe (etwa Venedig, Ravenna, Verona). Im Exil verfasste er zwischen 1304 und 1307 mit Convivio (Gastmahl) und De vulgari eloquentia (Über die Beredsamkeit in der Volkssprache) zwei in Form und Sprache unterschiedliche Werke, deren gemeinsames Anliegen es war, die romani‐ sche Volkssprache in der Toskana als neue Standardsprache gegenüber Latein und dem benachbarten Französisch zu behaupten. 38 Dieser Versuch gelang in seinem Hauptwerk, La Divina Commedia, das nach den Gesängen Homers und Hesiods das letzte große Versepos zwischen Mythos, Logos und verkirchlichten Jenseitsbezügen darstellt. Die Göttliche Komödie bildet ein Panoptikum mittelalterlicher Kultur und christlicher Seinsweise, das von einer siebentägigen Jenseitsreise Dantes auf der Suche nach seiner realhistorisch in frühem Alter verstorbenen und später idealisierten Jugendliebe Beatrice ausgefüllt wird. Vergil und Statius als weise Weggefährten helfen Dante, um auf der Reise zu seiner Muse und Himmelsführerin in der Ich-Form alle Stadien der hochmittelalterlichen Glaubenswelt vom Grab bis in den Himmel zu durchlaufen. Um die philo‐ 54 II Glaube und Wissen - Imperium und Sacerdotium <?page no="55"?> 39 Vgl. Klinkert, T.: Dunkelheit und Licht in Dantes Commedia und die Selbstreflexion des Sprechens über das Unsagbare. In: Asholt, W. et al. (Hgg.): Engagement und Diversität. Frank-Rutger Hausmann zum 75. Geburtstag (= Romanische Studien, Beihefte 4). München 2018, S.-303f.; Lewitscharoff, S.: Warum Dante? Berlin 2021, S.-56. 40 Alighieri, D.: Die göttliche Komödie. Übersetzung von Walter Naumann. Illustriert von Gustave Doré. Mit einer kunsthistorischen Einleitung von Anja Grebe. Darmstadt 4 2021, Inferno, Gesang XXVIII, 133-142. sophische und theologische Bestandsaufnahme seiner Zeit als literarische Fiktion mit didaktischem Anspruch zu vermitteln, bediente er sich allego‐ rischer und symbolischer Ausdrucksmittel. Sie erlaubten es ihm, Päpste gleichermaßen wie Könige, Feldherren, Kaufleute und Gelehrte in der Hölle, im Fegefeuer oder im Paradies anzutreffen, um Glaubensvorstellungen mit historisch gedeuteten Tatsachen in einen Zusammenhang zu bringen. Sie emanieren dem vorbeikommenden Dante dabei aus ihren jeweils abgelebten Hintergründen als eloquente Belohnte oder Bestrafte. 39 Als er beispielsweise dem provenzalischen Minnesänger Bertran de Born begegnet, berichtet ihm dieser von seinen Verfehlungen im Leben, für die er in der Hölle bestraft wird: Und damit du von mir Kunde mitnimmst, so wisse, daß ich Bertran de Born bin, er, der dem jungen König die bösen Ratschläge gab. Ich machte den Vater und den Sohn untereinander uneinig; […] Weil ich so eng verbundene Personen trennte, trage ich mein Hirn getrennt, ich Elender, von seinem Ursprung, der sich in diesem Rumpf befindet. So wird an mir Vergeltung vollzogen. 40 Seit jedoch Thomas von Aquin den vierfachen Schriftsinn als Lesart der Bibel aus spätrömischen Quellen exzerpiert und verbindlich festgelegt hatte, waren Metaphern, Allegorien und andere Mehrdeutigkeiten/ Widersprüche der kanonischen Schriften Gleichnisse, die als theologische Rechtfertigung der Offenbarung dienten und für den Allgemeinverstand kommentiert werden mussten. In einem Brief an seinen politischen Mitstreiter Cangrande della Scala, der wiederum zeitweilig Marsilius von Padua begleitet hatte, erläuterte Dante in einer tentativen Selbstdeutung den Sinngehalt seiner Divina Commedia: Zum Erweis nun des zu Sagenden muß man wissen, daß der Sinn des Werkes nicht ein einfacher ist, vielmehr ein vielsinniger. […] So ist denn der Gegenstand des ganzen Werkes, bloß wörtlich genommen, der Zustand der Seelen nach dem Tode ohne weiteres. […] Im allegorischen Sinne ist aber der Gegenstand der Mensch, je nachdem er vermöge seines freien Willens durch Verdienst oder Unverdienst c) Von neuen Glaubensformen zu ersten Anklängen volkssprachlicher Dichtung 55 <?page no="56"?> 41 Dante Alighieri an Francesco della Scala. In: Ritter, A. (Hrsg.): Dantes Werke. Der unbekannte Dante. Berlin 1922, S.-237-240. 42 Vgl. Hirdt, W.: Phantasie und Konstruktion. Anmerkungen zu Dantes Göttlicher Komö‐ die. In: Deutsches Dante-Jahrbuch 72, 1997, S. 29f.; Kittler, Philosophien der Literatur, S.-80f. 43 Vgl. Aertsen, J.: Thomas von Aquin. Alle Menschen verlangen von Natur nach Wissen. In: Kobusch, T. (Hrsg.): Große Philosophen. Bd. 2: Philosophen des Mittelalters. Darm‐ stadt 2010, S.-109f. 44 Alighieri, Die göttliche Komödie, Paradiso, Gesang XXXIII, S.-292f. der belohnenden oder strafenden Gerechtigkeit unterworfen ist. […] Die Art der Philosophie aber, welche hier im Ganzen und im Teile angewandt wird, ist die moralische oder ethische, weil das Ganze erfunden ist nicht zur Forschung, sondern zur Ausübung. 41 Der Verweis auf den Sinngehalt und den Anthropozentrismus für die in Freiheit getroffene Wahl zwischen Gut und Böse deutet an, dass eine profane Schrift wie jene des Dante Alighieri das Gleiche leisten kann, was die Scholastik der theologischen Exegese vorbehalten hat: ein theologisches Weltgedicht mit philosophischer Ethik, das der Kommentierung bedarf, um beispielsweise zu verstehen, warum Bertran de Born seinen eigenen Kopf in der Hand trägt. 42 Als Dante am Ende seiner Reise versucht, im Paradies Gott zu erkennen, verbindet er Augustinus mit Thomas von Aquin: eingedenk aller Strebenstendenzen zu Gott hin erstarrt jeglicher Erkenntniswille der Wissenschaft vor dem Glauben. Nach Thomas von Aquin überschneidet sich das Endziel menschlichen Wissensverlangens mit der christlichen Offenbarung, welche die Fassungskraft der Vernunft übersteigt und in Gleichnissen ausgedrückt werden muss. 43 In den Worten Dantes am Ende des Paradiso: Von da an wurde meine Schau größer, als die Sprache es zeigt, die solcher Sicht weicht […]. Wie der Feldmesser, der ganz sich darauf sammelt, den Kreis zu messen, und, wie sehr er nachdenkt, den Grundsatz nicht findet, an dem es ihm gebricht, so war ich vor diesem neuen Anblick; […] Der hohen Phantasie versagte hier die Kraft; 44 Die Stelle verdeutlicht selbst und gerade in der Divina Commedia den eminent mittelalterlichen Bezug zu den nach Mönchsart grundlegenden Ansichten vom Menschen als Gattungswesen und als Individuum: durch den mehrfachen Schriftsinn wird jegliche Gotterkenntnis zum philologi‐ schen Filter der Selbsterkenntnis. Dantes Gottesvision nimmt damit als 56 II Glaube und Wissen - Imperium und Sacerdotium <?page no="57"?> 45 Vgl. Petronio, Geschichte der italienischen Literatur, S.-143. Quadratur des Kreises die Geometrisierung aller Erkenntnis vorweg, wie sie in den entstehenden Naturwissenschaften des 17. Jahrhunderts zum Ausdruck kommen sollte. 1373 beauftragten Florentiner Stadtführer einen anderen Dichter, Giovanni Boccaccio, die Mehrdeutigkeiten der Göttlichen Komödie in einer Kirche öffentlich auszulegen. Mit der Durchsetzung des Toskanischen als Standardsprache schuf Dante die kulturellen Grundlagen von Humanismus und Renaissance in Florenz - als einer ihrer begrifflichen Begründer schrieb Boccaccio eine frühe in humanistischem Ton gehaltene Biografie eines Dichters: 45 Trattatello in laude di Dante. Boccaccio erhob den menschlichen Autor Dante zu einem Dichtergenie, der dem Erkenntnisin‐ teresse an der Bibel den Rang abzulaufen begann. c) Von neuen Glaubensformen zu ersten Anklängen volkssprachlicher Dichtung 57 <?page no="59"?> 1 Vgl. Zichy, M.: Das humanistische Bildungsideal. In: Schmidhuber, M. (Hrsg.): Formen der Bildung. Einblicke und Perspektiven. Frankfurt am Main 2010, S.-30f. 2 Walther, G.: Humanismus. In: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd.-5. Im Auftrag des Kultur‐ wissenschaftlichen Instituts (Essen) und in Verbindung mit den Fachwissenschaftlern herausgegeben von Friedrich Jaeger, Stuttgart/ Weimar 2007, Sp. 667. 3 Vgl. Stein, E.: Auf der Suche nach der verlorenen Antike. Humanisten als Philologen. In: Maissen, T./ Gerrit, W. (Hgg.): Funktionen des Humanismus. Studien zum Nutzen des Neuen in der humanistischen Kultur. Göttingen 2006, S.-76. III Zwischen Humanismus und Renaissance a) Ad fontes Humanismus wurde als Epochenbezeichnung und geistige Haltung in der Mitte des 19. Jahrhunderts von dem Historiker Karl Hagen und dem Philo‐ logen Georg Voigt eingeführt. 1 Als rhetorisch-ethisches Bildungsprogramm wurden die „studia humanitatis“ (Studien der menschlichen Sphäre) bereits von Cicero verwendet und aus seiner Rede Pro Archia (62 v. Chr.) übernom‐ men, in der er das Studium der Dichtung, der Literatur und der Geschichte preist. 2 Der Humanismus stellt eine neue Phase der Überlieferung und Wiederherstellung, des Studiums und der Interpretation des Erbes der klas‐ sischen Antike dar, die im Italien des 14.-Jahrhunderts ihren Anfang nahm. Diese Form der Rezeption und Anverwandlung wurde merkmalsprägend für alle Bildungsbestrebungen, die ein Bedürfnis nach Antikisierung 3 ausfüllten. Die Kultur- und Geisteswelt des griechischen und römischen Altertums (Philosophie, Politik, Kunst, Literatur und Geschichte) wurde als vorbild‐ haft und nachahmenswert für die optimale Entfaltung des Menschseins empfunden. Paradigmatisch für diesen kulturellen Code der spezifischen Rezeption war die Suche nach verlorenen oder verloren geglaubten Büchern und Handschriften, die man in den geistigen Schatzkammern Europas, in den Klöstern und/ oder Bibliotheken, vermutete. In einem Brief an Giovanni Boccaccio schrieb Francesco Petrarca 1362 bekennend: <?page no="60"?> 4 Francesco Petrarca an Giovanni Boccaccio, 28. Mai 1362. In: Petrarca, F.: Dichtungen. Briefe. Schriften. Auswahl und Einleitung von Hanns W. Eppelsheimer. Frankfurt am Main 1980, S.-154. 5 Vgl. Baron, H.: Bürgersinn und Humanismus im Florenz der Renaissance (= Kleine kulturwissenschaftliche Bibliothek, Bd. 38). Aus dem Englischen von Gabriele Krü‐ ger-Wirrer. Mit einem Vorwort von Horst Günther. Berlin 1992, S.-50-54. Ich will gar keinen Hehl daraus machen, daß ich gierig auf Bücher bin. Denn wollte ich es leugnen, so würde ich durch meine eigenen Schriften überführt werden. 4 Die eifrige Suche nach den Manifesten der idealisierten, innerweltlichen Vergangenheit bezeugte zugleich den wesentlichen Unterschied zu den Bildungsbestrebungen der mittelalterlichen Klosterkultur: Während die Pflege von Autor und Autorität der Versinnbildlichung des Christentums und der Wahrung der Wissenstraditionen galt, waren die Humanisten stärker um die historische Kontextualisierung und um die philologische Betrachtung der Überlieferung bemüht - Pflege der Seele als Pflege des Textes. Petrarcas Lebenslauf ist beispielgebend für diese neue Bildungsbe‐ wegung: 5 Aus einer Florentiner Notarsfamilie stammend, verbrachte er seine Jugend in Avignon und, nach Studien in Montpellier und Bologna, in der Abgeschiedenheit von Vaucluse zum Selbststudium. Da er die niederen Weihen erhalten hatte und damit Kirchenpfründe bezog, konnte Petrarca seiner literarisch-wissenschaftlichen Tätigkeit materiell großteils ungebun‐ den nachgehen. Nach der Krönung zum poeta laureatus auf dem Kapitol in Rom, die als festlicher Höhepunkt antikisierender Vergegenwärtigung galt, war er Gast unterschiedlicher Herrscherhäuser in Mailand, Venedig und Padua, deren (Tyrannen-)Höfe die ehemals kulturellen Kristallisations‐ punkte der mittelalterlichen Klöster abgelöst hatten. Die temporäre Bindung an diverse Mäzene erlaubte es ihm, ausgedehnte Reisen zu unternehmen, um an antike schriftliche Quellen zu gelangen. So stieß er in Lüttich auf Ciceros verloren geglaubte Rede Pro Archia, während er in Verona einen Teil von dessen großer Briefsammlung entdeckte. Angesprochen auf seine Cicero-Sammlung, antwortete Petrarca 1374 dem Juristen Luca von Penna: wenn Freunde fragten, ob ich nicht irgend etwas aus ihrer Heimat haben wollte, pflegte ich zu antworten: ’Nichts außer Schriften von Cicero.‘ […] Mit vielem Eifer und vielem 60 III Zwischen Humanismus und Renaissance <?page no="61"?> 6 Francesco Petrarca an Luca von Penna, 27. April 1374. In: Petrarca, Briefe, S.-189f. 7 Vgl. Kristeller, P.: Humanismus und Renaissance. II: Philosophie, Bildung und Kunst. Herausgegeben von Eckhard Keßler. Übersetzungen aus dem Englischen von Renate Schweyen-Ott. München o.-J., S.-11. 8 Vgl. Walther, Humanismus, Sp. 676; Scholtz, G.: Zwischen Wissenschaftsanspruch und Orientierungsbedürfnis. Zu Grundlage und Wandel der Geisteswissenschaften. Frankfurt am Main 1991, S.-24ff. 9 Vgl. Hausmann, F.-R.: Humanismus und Renaissance in Italien und Frankreich. In: Schwarze, M. (Hrsg.): Der neue Mensch. Perspektiven der Renaissance (= Eichstätter Kolloquium, Bd.-9). Regensburg 2000, S.-19. 10 Vgl. Gastgeber, C.: Die Brücke in den Westen. Griechisch-byzantinischer Kulturtransfer in der Renaissance. In: Gastgeber, C./ Daim, F. (Hgg.): Byzantium as bridge between Bemühen habe ich von überall her eine ganze Anzahl von Bänden gesammelt […]. 6 Humanist war, wer sich als Lehrender oder Lernender den Fächern Gramma‐ tik, Rhetorik, Poetik, Geschichte und Moralphilosophie unter Bezugnahme der Lektüre klassischer, vorwiegend römischer Autoren widmete. 7 Im Laufe des 15. Jahrhunderts wurden Jurisprudenz, Theologie, Medizin und die Naturwissenschaften ebenso in den Kreis der menschlichen Sphären aufge‐ nommen. Vor allem anderen aber stand die selbststilisierende Paradediszi‐ plin humanistischer Bildung im Vordergrund: die Eleganz der Sprache im Sprechen und Schreiben. Die „cultura animi“ vollzog sich durch die Verse der Dichter, indem man die bekannten Redner der Antike als individuelle Partner eines verschriftlichten Zwiegesprächs suchte, um die eigenen See‐ lenkräfte zu stimulieren und die Sensibilität zu verfeinern. Zugleich wurde damit eine Wertschätzung und Eigenständigkeit der sprachlichen Diszipli‐ nen (trivium) vorbereitet, die nicht länger propädeutisch auf die weitere Ausbildung in den Fakultäten (Theologie, Jurisprudenz und Medizin) aus‐ gerichtet waren, sondern zum Vorläufer der späteren Geisteswissenschaften aufstiegen. 8 Petrarcas Wirken hatte einen nachhaltigen Einfluss auf Zeitgenossen wie Boccaccio, der seinen Dante-Lehrstuhl zur Vertiefung des Griechischen nutzte, sowie Poggio Bracciolino oder Collucio Salutati. Salutati war Kanzler der noch immer reichen Republik Florenz und beschrieb 1402 die „studia humanitatis“ richtunggebend, indem er der Rhetorik, die zur Veredelung des Menschen führen sollte, den Vorrang gegenüber den anderen Künsten einräumte. 9 Ebenso hatte er mit Manuel Chrysoloras einen von Zeitgenossen hochgeschätzten byzantinischen Gelehrten nach Florenz eingeladen, der Griechischunterricht erteilte. 10 Sein philologisches Interesse unterstrich a) Ad fontes 61 <?page no="62"?> west and east. Proceedings of the international conference, Vienna, 3rd-5th May 2012 (= Veröffentlichungen zur Byzanzforschung, Bd. 36). Wien 2015, S. 308ff. So etwa kommentierte Enea Silvio Piccolomini in einem Brief an den Herzog Sigismund von Österreich am 5. Dezember 1443: „[…] dieser Mann gab den Italienern, welchen um ihre verschlechterte und verderbte Sprache schon leid war, […] die wahre schöne Ausdrucksweise zurück, so daß die Kunst der heutigen Italiener wohl der in der Zeit des Oktavian an die Seite gestellt werden kann […].“ In: Piccolomini, E. S.: Briefe - Dichtungen. Aus dem Lateinischen übertragen von Max Mell und Ursula Abel und mit einem Nachwort versehen von Gerhart Bürck. München 1966, S.-85f. 11 Vgl. Stein, Humanisten als Philologen, S.-97f. 12 Vgl. Reinhardt, V.: Die Renaissance in Italien. Geschichte und Kultur. 3., durchgesehene Auflage. München 2012, S.-11. 13 Vgl. Koch, Die Universität, S.-73f. 14 Vgl. Nardi, P.: Die Hochschulträger. In: Rüegg, W. (Hrsg.): Geschichte der Universität in Europa. Bd.-1: Mittelalter. München 1993, S.-104. Salutati damit, dass er in öffentlichen Bibliotheken ausschließlich auf Fehler und Unvollständigkeit überprüfte Texte zur Verfügung stellen ließ. Die damit verbundene Aufwertung und zugleich merkantile Wertschätzung der handschriftensuchenden Intellektuellengruppe ging Hand in Hand mit der Abwertung der Mönchskultur, die nach dem Selbstverständnis der Humanisten dem hohen Wert antiken Schriftgutes philologisch laienhaft begegnet war. 11 Wenngleich vieles der humanistischen Antikenverehrung, deren Vertreter oftmals in enger Verbindung zur Kirche standen, auf den Grundlagen der mittelalterlichen Sprachpflege aufbauen konnte, ersann die Generation im Gefolge Petrarcas erstmals und folgenschwer die kulturge‐ schichtlich abwertende Grenzziehung zwischen Antike und humanistischer Gegenwart in der Gestalt der als Barbarei verstandenen Zwischenzeit des Mittelalters. 12 Auf der institutionalisierten Ebene der Wissensvermittlung kam es in Italien zwischen 1350 und 1500 zur Gründung von zahlreichen Akademien, die sich, wie die Accademia Pontaniana in Neapel, abseits der Universitäten literatur- und kunsttheoretischen Fragen widmeten. 13 Ihre Rolle wird für die weiteren Kulturauffassungen der nachfolgenden zwei Jahrhunderte entscheidend sein. Während die „studia humanitatis“ in Frankreich über den Petrarca-Schüler Nicolas de Clémanges und Robert Gaguin, dem späteren Lehrer des Erasmus von Rotterdam, rezipiert wurden, fanden im deutschen Sprachraum infolge des Papstschismas zahlreiche Universitätsgründungen statt, die auf landesfürstliche Initiativen zurückgingen. 14 Gelehrte wie Rudolf Agricola oder Konrad Celtis konnten durch Studien an italienischen Univer‐ sitäten humanistisches Gedankengut über die neuen Editionen der antiken 62 III Zwischen Humanismus und Renaissance <?page no="63"?> 15 Vgl. Grössing, H.: Die Wiener Universität im Zeitalter des Humanismus von der Mitte des 15. bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts. In: Hamann, G./ Mühlberger, K./ Skacel, F. (Hgg.), Das alte Universitätsviertel in Wien, 1385-1985 (= Schriftenreihe des Universi‐ tätsarchivs, 2. Band). Wien 1985, S.-38-43. 16 Vgl. Huber-Rebenich, G.: Neue Funktionen der Dichtung im Humanismus? In: Mais‐ sen/ Walther, Funktionen des Humanismus, S.-58f. 17 Vgl. Schimmelpfennig, Das Papsttum, S.-263. Texte sowie über volkssprachliche Literatur nördlich der Alpen verbreiten. Celtis war 1492 zum ersten Mal als Vortragender nach Wien gekommen. In dieser Zeit war er Lehrender an der Universität in Ingolstadt und führte die Verbreitung der humanistischen Anfänge seines Lehrers Agricola fort. 1497 berief Kaiser Maximilian Celtis als Professor für Poetik und Rhetorik nach Wien. Durch sein Wirken kam es zur Gründung des Collegium poetarum et mathematicorum, der ersten humanistischen Hochschule im deutschsprachigen Raum. 15 Die auf Poesie (Beredsamkeit) und Mathematik (Naturphilosophie) grundgelegten „studia humanitatis“ ergänzten scholas‐ tische Bildungsformen, um die historisch-philologische Pflege antiker Texte durch die Einbeziehung von Natur- und Geisteswissenschaften zu vertiefen. Nach der Vorstellung von Celtis forcierten die Errungenschaften und Folgen des Buchdrucks eine „translatio artium“. Darunter verstand er eine nach dem Vorbild der „translatio imperii“ - der Übertragung der antiken römischen Kaiserwürde und damit Macht auf neue, aufstrebende Großmächte - zu erfolgende Übertragung der „studia humanitatis“ auf den deutschsprachigen Raum, um einen Anschluss an die geistige und kulturelle Größe der griechi‐ schen/ lateinischen Antike zu erreichen. 16 Die lateinische Kirche selbst widmete sich im Zuge der bedeutenden, zum Teil aber unter dubiosen Umständen stattfindenden Generalkonzilien der ersten Hälfte des 15.-Jahrhunderts in Pisa, Konstanz, Pavia/ Siena, Basel und Ferrara/ Florenz der Bewältigung von Schisma und Glaubensfragen. Da mit Konstanz und Basel erstmals deutschsprachige Gebiete als Kongressorte ausgewählt wurden, konnte der Humanismus seine Verbreitung als europäisches Bildungsprinzip versuchen. Abseits der theologischen Begeg‐ nungsstätte, die einerseits einen entschiedenen Disputcharakter zwischen Ost- und Westkirche aufwies, andererseits selbst innerhalb der Westkirche kaum einigende Fortschritte erlangte, 17 nahmen europäische Gelehrte in unterschiedlichen Funktionen an den Konzilien teil, womit diese gleichsam als Treffpunkte der Bildungselite zu internationalen kulturellen Kommuni‐ a) Ad fontes 63 <?page no="64"?> 18 Vgl. Helmrath, J.: Diffusion des Humanismus und Antikerezeption auf den Konzilien von Konstanz, Basel und Ferrara/ Florenz. In: Grenzmann, L. u. a. (Hgg.): Die Präsenz der Antike im Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit. Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters 1999 bis 2002 (= Ab‐ handlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Philologisch-Historische Klasse, Dritte Folge, Bd.-263). Göttingen 2004, S.-17. 19 Ebda., S.-50f. 20 Vgl. Reinhardt, V.: Pius II. Piccolomini. Der Papst, mit dem die Renaissance begann. Eine Biographie. München 2013, S.-250-268. 21 Vgl. Requate, J.: Kommunikation/ Neuzeit. In: Dinzelbacher, P. (Hrsg.): Europäische Mentalitätsgeschichte. Hauptthemen in Einzeldarstellungen. 2., durchgesehene und ergänzte Auflage. Stuttgart 2008, S.-453. kationszentren 18 wurden. Hervorzuheben ist das Florentinum von 1438/ 39: Angesichts der Expansion der Osmanen im Osten kam der griechische Patriarch nach Italien, um neben dogmatischen Unterschieden bezüglich Purgatorium, Hostienbrot, der Frage nach der Dreieinigkeit Gottes oder der Stellung des Papstes mit den päpstlichen Gesandten der Westkirche auch über eine militärische Hilfestellung zu diskutieren. Durch die unmit‐ telbare Anforderung, sich der christlichen Antike zuzuwenden, bedurften Theologie und Glaube mehr denn je der Philologie. Die patristischen Texte waren zum Teil in Griechisch verfasst, womit entsprechende Textkritik und Schriftexegese gefragt waren, die es erlaubten, Glaubenstexte gegenüber anderen Glaubensrichtungen exakt auslegen zu können. 19 Vorübergehend konsensfähig wurden Ost- und Westkirche erst, als der in kaiserlichen und päpstlichen Diensten stehende Gesandte, Diplomat und spätere Papst Enea Silvio Piccolomini Päpste, Kaiser und sonstige Herrscher in den 1450er-Jahren auf die Osmanen als nunmehr gemeinsames kulturelles Feindbild einschwor. 20 b) Buchdruck, Selbstfindung und Bildungsbedürfnis Johannes Gutenbergs Erfindung der Druckerpresse in den 1440er-Jahren hatte im Zusammenhang mit dem Aufkommen erster Papiermühlen einen erheblichen Einfluss auf die Aufwertung des gedruckten Wortes gegenüber dem gesprochenen, das von den Schreibtischen der Kopisten in die Werk‐ stätten der Buchdrucker wechselte. 21 Die neuen Möglichkeiten der überper‐ sonalen Kommunikation ebneten den Erfolg der schriftlichen Glaubenswie Wissensträger (Flugschriften, Ablassbriefe, Bibeln, Predigthandbücher, 64 III Zwischen Humanismus und Renaissance <?page no="65"?> 22 Vgl. Eisenstein, E.: Die Druckerpresse. Kulturrevolutionen im frühen modernen Europa (= Ästhetik und Naturwissenschaften: Medienkultur). Übersetzt von Horst Friessner. Wien/ New York 1997, S.-72f. 23 Vgl. Füssel, S.: Johannes Gutenberg. Hamburg 4 2007, S.-105. 24 Vgl. Scholz, L.: Die Industria des Buchdrucks. In: Kümmel, A./ Scholz, L./ Schumacher, E. (Hgg.): Einführung in die Geschichte der Medien. Paderborn 2004, S.-17-20. 25 Vgl. Burke, P.: Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft. Aus dem Englischen von Matthias Wolf. Berlin 2014, S.-28f. Legendensammlungen, Schriften der Rechtsprechung und der Naturwissen‐ schaft, Ausgaben und Übersetzungen lateinischer Klassiker) durch die im Vergleich zu Pergamentkodizes billigere und raschere Produktion. Kostbare Handschriften in Drucktypen setzen und beliebig oft reproduzieren zu können, erhöhte zudem die Beständigkeit von Gedrucktem, das im Zeitalter der Handschriftenkultur von Verfall, Verfälschung oder Verlust bedroht war. Der durch vielfache Kopien gesicherte Fortbestand ehemals einzelner Hand‐ schriftendokumente erleichterte die kumulative Weitergabe von Informa‐ tionen - bei neuen religiösen Ideen als Propaganda und Agitation von einem Ort zum nächsten, bei antiken Klassikern bewahrend und belehrend von einer Generation zur nächsten. 22 Die in dieser Zeit am häufigsten gedruckten Werke römischer Autoren waren die Schriften Ciceros, Vergils oder die Komödien des Terenz, welche ab 1470 durch Johannes Mentelin, der sich mit der ersten, vollständig in die Volkssprache übersetzten Bibel von 1466 bereits einen Namen als Buchdrucker erworben hatte, im deutschsprachigen Raum angeboten wurden. 23 Aus kirchlicher Sicht bedeutsam gelang Gutenberg der Druck der Vulgata, der lateinischen Bibelübersetzung des Hieronymus aus der Spätantike. Mit Verweis auf die Gutenberg-Bibel wurden in der zweiten Hälfte des 15.-Jahrhunderts mehrere Dutzend nachgedruckt. Neben den großformatigen Folianten für den kirchlichen und/ oder uni‐ versitären Gebrauch konnten nun Handschriften und Kleindrucke unter‐ schiedlichen Inhalts (Kalender, Postillen, Kräuter-, Volks- und Wörterbü‐ cher, Andachts- und Stundenbücher) hergestellt werden, die einen privaten Gebrauch abseits der Gelehrtenwelt förderten und städtische Bildungsinte‐ ressen bedienten. 24 Durch diese erweiterte Verortung des (Selbst-)Lesens erschlossen sich neue Berufsfelder, die infolge der raschen Ausbreitung des Druckgewerbes bis nach Italien entstanden. 25 Zwar sanken im Laufe des 16. Jahrhunderts die Kosten für das Drucken von Flugschriften oder Volksbüchern, sodass es um 1500 bereits über 200 Druckereien im deutschen Sprachraum gab. Aufgrund des weiterhin kostspieligen Aufwands für hoch‐ b) Buchdruck, Selbstfindung und Bildungsbedürfnis 65 <?page no="66"?> 26 Vgl. Scheutz, M./ Tersch, H.: Individualisierungsprozesse in der Frühen Neuzeit? An‐ merkungen zu einem Konzept. In: Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit. 1. Jg. 2001/ 2, S.-45. wertige Bibeldrucke und deren Ausgaben beschränkte sich der Druck dieser und ähnlicher Werke jedoch auf Handelsmetropolen wie Wien, Köln oder Venedig, die über das nötige Kapital und die Handelsbeziehungen verfügten. Die leicht zunehmende Literalisierung der Gesellschaft ging mit einer Ver‐ änderung der Bildungslandschaft einher. Zu den etablierten Universitäten und höheren geistlichen Bildungseinrichtungen (Dom- und Kathedralschu‐ len) gesellten sich Schreibschulen, welche die grundlegenden Kenntnisse im Lesen, Schreiben und Rechnen in der Volkssprache vermittelten, sowie die Lateinschule, welche die Grundlage für den Besuch höherer Schulen darstellte. Der Einfluss wirkte zwar kaum über die städtischen Zentren hinaus, ging jedoch einerseits mit einer Vereinheitlichung und Normierung der Volkssprache einher, andererseits mündete sie in die Forcierung des individuellen Lebens, ohne zugleich traditionelle Bindungen aufzugeben. Dies zeigte sich im vermehrten Auftreten von Selbstzeugnissen, (Auto-)Bio‐ grafien, Tagebüchern und privaten Briefwechseln zeitlich von Petrarca über Teresa von Ávila (Vida, 1565) bis Michel de Montaigne (Essais, 1580-1588). Schriftliche Bemühungen zur Selbstfindung, zum Ausdruck von Gefühlen, Empfindungen und Gedanken zu alltäglichen oder einmaligen Ereignissen sowie zum stilisierten Austausch brieflicher Freundschaften lassen sich freilich bis zu den Confessiones von Augustinus zurückverfolgen, finden aber ab dem 14. Jahrhundert eine ansteigende Ausprägung in der schreib‐ kundigen Schicht. Wenngleich damit der Fokus auf den Intellekt und auf die Aussagekraft von Selbstzeugnissen einer zweifellos kleinen städtischen Elite gelegt wird, 26 so darf nicht übersehen werden, dass spätestens mit der Verbreitung des Buchdrucks die Möglichkeit gefördert wurde, gedrucktes Schriftgut in privater Zurückgezogenheit zu lesen. Inventare, Gerichtsakten und Verlassabhandlungen von Bürgern, Händlern und Handwerkern aus dem 16. Jahrhundert geben Auskunft darüber, ob neben Urkunden, Barschaft und hinterlassenem Werkgewand oder Hausrat auch Bücher/ Schriften im Umlauf waren und wie umfangreich deren Bücherbestände ausfielen. Wenn dann ein Müller aus Friaul oder ein Bürgermeister aus Klagenfurt, die man beiderseits nicht in erster Linie mit der humanistischen Bildungsbewe‐ gung in Verbindung bringt, Interesse für verschriftlichtes religiöses wie philosophisches Wissen aus der Antike zeigte, kann auf ein Erbauungs- und 66 III Zwischen Humanismus und Renaissance <?page no="67"?> 27 Vgl. Ginzburg, C.: Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600. Aus dem Italienischen von Karl F. Hauber. Berlin 8 2020, S. 98f.; Katschnig, G.: Die Rezeption des Humanismus im Kulturraum Klagenfurt. In: Drobesch, W./ Wadl, W. (Hgg.): Klagenfurt 1518. Eine Stadt im Aufbruch (= Archiv für vaterländische Geschichte und Topographie, Bd.-110). Klagenfurt am Wörthersee 2018, S.-302f. 28 Vgl. Fasolt, C.: Europäische Geschichte, zweiter Akt: Die Reformation. In: Brady, T. (Hrsg.): Die deutsche Reformation zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit (= Schriften des Historischen Kollegs: Kolloquien, Bd.-50). München 2001, S.-247. 29 Vgl. van Dülmen, R.: Die Entdeckung des Individuums. 1500-1800. Frankfurt am Main 1997, S.-16-20. Bildungsbedürfnis rückgeschlossen werden, das über deren unmittelbaren, in den meisten Fällen beruflichen Horizont weit hinausging. 27 Die Frage nach den Ausprägungen von Selbstfindung und Bildungsbe‐ dürfnis in kirchlich-religiöser Hinsicht wird mit der Reformationsbewegung in den nördlichen Ländern Europas beantwortet. Einzelne Gläubige sind zwar nicht in einem allgemeinen christlichen Universalismus untergegan‐ gen, doch hatte sich im orthodoxen Katholizismus eine Herrschaftskirche herausgebildet, die eine rigide Trennung von Geistlichkeit und Laien voll‐ zog. Mit dem Aufkommen der Reformation wurde dieser Führungsanspruch der Kirche in die weltlichen Hände von Laieneliten übergeben. 28 Aspekte der religiösen Selbstfindung und Forderungen nach persönlicher Glaubensfüh‐ rung gingen Hand in Hand mit den Mitbestimmungsrechten des einzelnen Kirchenmitglieds nach den Prinzipien der Eigenverantwortlichkeit, Gewis‐ sensfreiheit und Selbstkontrolle. 29 Dies steigerte einerseits den Akt der Selbstreflexion zu jener individuell religiösen Devotion, die es ermöglichen sollte, ohne priesterliche Vermittlung in ein unmittelbares Verhältnis zu Gott zu treten und die Heiligen Schriften gemäß reformatorischem Schrift‐ prinzip selbst zu lesen. Andererseits brachte die Reformation bei aller Unterschiedlichkeit der einzelnen Bewegungen und deren Vertreter (Martin Luther, Johannes Calvin, Huldrych Zwingli, Philipp Melanchthon u. a.) eine gemeinsame Absage an das Papsttum. Das Verhältnis zu den griechischen und römischen Göttern war dagegen wesentlich entspannter. Wenngleich das in der Antike geschriebene Wort vollständig und ediert in Händen zu halten seit und mit Petrarca zum Ausdruck humanistischen Denkens geworden war, wandte sich der Humanismus als Bildungsbewegung weder gegen die Kirche noch gegen das Christentum an sich. Folglich konnten christliche Gläubige jedweder Provenienz gleichermaßen vom Interesse für antike Mythologie, Kunst und Philosophie angesprochen werden, ohne b) Buchdruck, Selbstfindung und Bildungsbedürfnis 67 <?page no="68"?> 30 Vgl. Meuthen, E.: Charakter und Tendenzen des deutschen Humanismus. In: Anger‐ meier, H. (Hrsg.): Säkulare Aspekte der Reformationszeit (= Schriften des Historischen Kollegs, Bd.-5). München/ Wien 1983, S.-227. 31 Vgl. Walter, P.: Erasmus von Rotterdam. Humanist und Theologe des Wortes Gottes. In: Jung, M./ Walter, P. (Hgg.): Theologen des 16. Jahrhunderts. Humanismus - Reformation - Katholische Erneuerung. Eine Einführung. Darmstadt 2002, S. 35; Ribhegge, W.: Erasmus von Rotterdam (= Gestalten der Neuzeit). Darmstadt 2010, S.-18-41. 32 Erasmus von Rotterdam an John Colet, Oktober 1499. In: Erasmus von Rotterdam: Briefe. Verdeutscht und herausgegeben von Walther Köhler. Erweiterte Neuausgabe von Andreas Flitner. Bremen 3 1956, S.-38. mit den Forderungen intensivierter Religiosität oder Konfessionalisierung zwangsläufig zu kollidieren. 30 Indessen hatten philologische Interessen eines Lorenzo Valla zum Ver‐ gleich des lateinischen Bibeltextes von Hieronymus mit dem griechischen Original geführt. Die Arbeit kulminierte mit dem Auftreten des Erasmus von Rotterdam, 31 dessen Wirken zwischen humanistischen Studien und seinen Bemühungen um das revolutionäre Projekt stand, das Neue Testament neu zu übersetzen. Als Vollwaise sozialisiert unter der Ägide der Augusti‐ nerchorherren in Gouda, widmete sich Erasmus von seiner Jugendschrift Antibarbari (1495) über seine Sammlung antiker Sprichwörter (Adagiorum Collectanea, 1500) bis zur peniblen Anleitung zur richtigen Aussprache des Lateinischen und Griechischen (De recta Latini Graecique sermonis pronuntiatione, 1528) der Verbreitung humanistischer Bildung auf Basis der klassischen antiken Literatur. Nach einem wenig erquicklichen Studium in Paris bei dem französischen Humanisten Robert Gaguin und diversen Hauslehrertätigkeiten besuchte er 1499, und später mehrfach, London und Oxford, wo er den kleinen Kreis englischer Humanisten ( John Colet, Thomas Linacre, Thomas Morus) kennenlernte. Zurück in Paris schrieb er, finanziell ruiniert aufgrund der englischen Zollgebühren, aber reich an Erfahrung in einem Brief an John Colet als Ausdruck des expliziten Selbstbezuges wie als Stimmungsbild für sein späteres Leben: Ich will Dir selbst ein Bild von mir entwerfen, um so besser, als ich mich ja selbst viel genauer kenne, als andere es tun. Du bekommst einen Menschen mit geringem, ja, gar keinem Vermögen, […] in der Wissenschaft noch schwach, aber ihr glühendster Bewunderer, […] Dein England ist mir besonders deshalb lieb, weil es reich ist an dem, was mir allein lieb ist, an wissenschaftlichen Größen […]. 32 68 III Zwischen Humanismus und Renaissance <?page no="69"?> 33 Vgl. van Dülmen, Die Entdeckung des Individuums, S.-26f. 34 Vgl. Burke, P.: Die Renaissance in Italien. Sozialgeschichte einer Kultur zwischen Tradition und Erfindung. Aus dem Englischen von Reinhard Kaiser. München 1988, S.-39. 35 Vgl. Watson, Ideen, S.-652. Abseits der üblichen humanistischen Stilisierung blieb Erasmus kirchendog‐ matisch unabhängig, um die subjektiven Eindrücke seiner Interessenwelt offenkundig mitzuteilen. 33 1516 gab er auf Basis des griechischen Originals und der Kommentare der spätantiken Kirchenväter eine neue lateinische Übersetzung mit dem Originaltext in zwei nebeneinander gedruckten Ko‐ lumnen heraus, um die wunschgemäß unverfälschte Quelle der christlichen Philosophie wieder zugänglich zu machen. In manchen Punkten ging er mit den Reformatoren konform - Kritik an oberflächlicher Frömmigkeit, Erneuerung der Kirche nach Maßgabe der evangelischen Ideale -, anderer‐ seits war er ein Kosmopolit, der die englischen Humanisten den Pariser Scholastikern und dem eigenen geistlichen Orden vorzog, dessen Habit er nach päpstlichem Dispens ablegte, um von seinem Gelübde entbunden zu werden und als Weltpriester zu leben. In Anlehnung an Petrarca galt Erasmus die Pflege des Textes als Pflege des eigenen Selbst, die eine Verbindung des Christentums mit Elementen der griechischen Philosophie nicht ausschloss. c) Florentinische Selbstbilder der Renaissance Die Bemühungen zu Bildung und Selbstfindung wiesen einen profanen Zugang auf, der sich in den bildenden Künsten von Italien ausgehend auf weite Teile Europas verbreiten sollte. Das profane Bekenntnis zeigte sich durch die Darstellung weltlicher Themen, deren Anteil innerhalb der italienischen Malerei im Laufe des 15. Jahrhunderts sichtbar anstieg - inbegriffen war das Interesse am Individuum, welches neue Selbstbilder des Menschen erschloss. 34 Europaweit begannen Portraits und Gemälde, von Jan van Eyck bis Albrecht Dürer, säkulare Geschichten zu erzählen, von denen sich der Betrachter durch den menschlichen Selbstbezug unmittelbar und direkt angesprochen fühlen konnte. 35 Doch konnte diese Betonung selbst in Anbetracht eines religiösen Rahmens eine neue Geisteshaltung erzeugen. Als dafür geradezu stellvertretend kann die Gegenüberstellung c) Florentinische Selbstbilder der Renaissance 69 <?page no="70"?> 36 Vgl. im Folgenden: Longhi, R.: Masolino und Masaccio. Aus dem Italienischen von Heinz-Georg Held. Berlin 2011, S.-243-249. zweier Werke von Masolino und Masaccio gelten, die beide Urszenen westlicher Anthropologie darstellen (Abb. 4/ 5). 36 - Abb. 4/ 5: Der Sündenfall von Masolino da Panicale und Die Vertreibung aus dem Paradies von Masaccio Im Jahr 1422 hatte der Florentiner Seidenhändler und Kaufmann Felice Brancacci in diplomatischen Diensten eine heikle Reise zum Sultan nach Ägypten angetreten. Nachdem der Auftrag zugunsten des Florentiner Handels ausgeführt und die Rückkehr trotz Krankheit heil überstanden worden war, stiftete er der Kirche Santa Maria del Carmine in Florenz 70 III Zwischen Humanismus und Renaissance <?page no="71"?> 37 Vgl. Brockhaus, H.: Die Brancacci-Kapelle in Florenz. In: Mitteilungen des Kunsthisto‐ rischen Institutes in Florenz 3. Bd., H. 4/ 1930, S.-170. 38 Vgl. Busi, G.: Giovanni Pico della Mirandola und die Entdeckung der jüdischen Mystik im italienischen Quattrocento. In: Helmrath, J. (Hrsg.): Historiographie des Humanis‐ mus. Literarische Verfahren, soziale Praxis, geschichtliche Räume (= Transformationen der Antike, Bd.-12). Berlin 2013, S.-243f. eine Kapelle. 37 Zur Gestaltung eines Freskenzyklus wurden Masolino da Panicale und sein jüngerer Kollege Masaccio herangezogen. Nach Beendung des Freskos Zinsgroschen malte Masaccio 1427 auf dem angrenzenden Halbpfeiler Die Vertreibung aus dem Paradies, dessen Ausgestaltung im Vergleich zu Masolinos Sündenfall auf der gegenüberliegenden Seite den Renaissanceindividualismus symbolisierte. Masolinos Szenerie des archai‐ schen Ungehorsams gleicht einem formellen Arrangement. Während das bi‐ blische Menschenpaar vor dunklem Hintergrund ausdruckslos der Ursünde begegnet und damit die Ohnmacht des sündigen Menschen zeigt, folgt der alttestamentarischen Erzählfolge bei Masaccio das schmerzhafte Erwachen im Diesseits. Masaccios dichte Fülle von Licht und Schatten enthüllt das Geheimnis irdischen Daseins: Adam und Eva stehen mit gepeinigter Hal‐ tung im Angesicht ihrer eigenen existenziellen Gewissheit, sich nunmehr dem Irdischen zuwenden zu müssen. Doch der Schatten, den sie festen Schrittes auf den Boden werfen, zeichnet seit Dantes La Divina Commedia das Menschsein aus und spricht für die Entschlossenheit, das Drama des Lebens selbst auszutragen. Masaccio verweist eindringlich darauf, welchen Wert Individualität hat: Obgleich das Paradigma des Christentums darin besteht, den Gläubigen per Geburtsschuld eine fundamentale Sündhaftigkeit zuzusprechen, steht bei ihm nicht diese Verworfenheit des Menschen im Mittelpunkt, sondern die Würde der Eigenverantwortung. Die Überzeugung von der Würde der Eigenverantwortung als Kern jeder Menschwerdung zum Bildner und Gestalter des eigenen Lebens erweiterte Giovanni Pico della Mirandola in umfassender moralphilosophischer Hin‐ sicht. Nach Studien in Bologna und Ferrara lernte Pico in Padua den jüdischen Averroës-Übersetzer Elias Delmedigo kennen, der ihn in die jüdische Mystik der Kabbala einführte. Beeinflusst durch den esoterischen Zugang, kam er wenig später in Kontakt mit dem jüdischen Philosophen Flavius Mithridates, mit dem er Hebräisch und Arabisch lernte, um die Schriften der Kabbala eingehend zu studieren und Teile zu übersetzen. 38 In c) Florentinische Selbstbilder der Renaissance 71 <?page no="72"?> 39 Vgl. Frigo, G. F.: Zwischen dignitas hominis und Kabbala: Giovanni Pico della Mirandola als Vertreter der Renaissance. In: Geier, W./ Bitterlich, T./ Widdau, C. S. (Hgg.): Die Renaissance (= Kultursoziologie, 24), 1/ 15, S.-49. 40 Vgl. Blum, P. R.: Giovanni Pico della Mirandola (1463-1494) and Renaissance Philoso‐ phy. In: Aither. Journal for the Study of Greek and Latin Philosophical Traditions. Nr.-3/ 2014, S.-25. 41 Vgl. Hoffmann, T. S.: Giovanni Pico della Mirandola (1463-1494). In: Ders. (Hrsg.): Philosophie in Italien. Eine Einführung in 20 Porträts. Wiesbaden 2007, S.-124ff. 42 Pico della Mirandola, G.: Über die Würde des Menschen (= Philosophische Bibliothek, Bd. 427). Übersetzt von Norbert Baumgarten. Herausgegeben und eingeleitet von August Buck. Hamburg 1990, S.-11. Kombination mit Marsilio Ficinos christlichem Platonismus 39 begann Pico, die humanistische Abkehr von der spätmittelalterlichen Mönchskultur zu ignorieren. Indem er sich den arabisch-lateinischen Aristoteles-Kommen‐ tatoren und den nahöstlichen Kulturen (Kabbala, Corpus Hermeticum) zuwandte, versuchte er, eine Synthese aller religiösen und philosophischen Hauptströmungen in 900 Thesen nachzuweisen. Mit deren Publikation wollte Pico zu einer öffentlichen Diskussion mit europäischen Gelehrten einladen, die auf seine Kosten in Rom stattfinden und mit seiner Eröffnungs‐ rede De hominis dignitate, so die spätere Betitelung, beginnen sollte. 40 Picos geplante, aufgrund von kirchlichen Zensur- und Verfolgungsmaß‐ nahmen aber nicht gehaltene Rede ist gleichsam ein Traktat über die Würde sowie das Selbstbild des Menschen. In der Verbindung von reflexivem Selbstverständnis mit freiem Selbstvollzug formulierte er ein positives Menschenbild: 41 Es gebe kein wunderbareres Geschöpf auf der Welt als den Menschen, denn dieser könne sich durch einen Akt der Selbstbestimmung vervollkommnen. Jedoch sah Pico sein Menschenbild mit der Anforderung verbunden, die mannigfaltigen Anlagen in rechter Weise zu nutzen. Damit wir verstehen: da wir unter der Bedingung geboren worden sind, daß wir das sind, was wir sein wollen, müssen wir am ehesten dafür sorgen, daß man nicht von uns sagt, als wir in Ansehen standen, hätten wir nicht erkannt, daß wir dem vernunftlosen Vieh ähnlich geworden seien. 42 Seine Bestimmung des freien Willens zeugt nicht nur von einem der wirk‐ mächtigsten moralphilosophischen Antidepressiva, sondern wird maßge‐ bend für die Aufklärungstexte der frühen Neuzeit. Wenngleich der Mensch das große Wunder (magnum miraculum) sei, solle er stets darum bemüht sein, nicht ins Tierische herabzusinken, sondern jene mystische Seinsfülle menschlicher Veredelung zu erreichen, die in den Heiligen Schriften ebenso 72 III Zwischen Humanismus und Renaissance <?page no="73"?> 43 Vgl. Reinhardt, V.: Die Renaissance in Italien. Geschichte und Kultur. 3., durchgesehene Auflage. München 2012, S. 68; Schirrmeister, A.: Triumph des Dichters. Gekrönte Intellektuelle im 16. Jahrhundert (= Frühneuzeitstudien. Neue Folge, Bd. 4). Köln/ Weimar/ Wien 2003, S. 25f.; Cardini, F.: Kurze Geschichte der Stadt Florenz. Pisa 2007, S.-114. 44 Vgl. Elias, N.: Die höfische Gesellschaft: Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie. Mit einer Einleitung: Soziologie und Geschichtswissen‐ schaft. Frankfurt am Main 1992, S.-89f. enthalten sein kann wie in der Kabbala oder in der arabischen Philosophie. Picos Versuch einer pax philosophica kontrastierte mit den glaubenspoliti‐ schen Zeitumständen: einerseits mit seiner persönlichen Hinwendung zum chiliastischen Bußprediger Girolamo Savonarola, andererseits im Angesicht von Reformation sowie kommender Gegenreformation. Sein Traktat über die transkulturelle Wesensbestimmung des Menschen bleibt aber als Anker‐ punkt einer Synthese jüdischer, arabischer, griechischer, lateinischer/ christ‐ licher Philosophie und Religion in seiner Einmaligkeit erhalten und findet unmittelbaren Anklang bei Thomas Morus, der die erste Biografie Picos ins Englische übertrug (Life of John Picus, 1510), später bei Giambattista Vico. Das Bildungsgut des Humanismus konzentrierte sich ab der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts an den größeren Höfen und herrschaftlichen Entscheidungszentren, während sich die Humanisten selbst als Kleriker, juristisch gebildete Beamte, Hofliteraten oder gekrönte Dichter den Reprä‐ sentationsbedürfnissen der höfischen Kultur unterordnen mussten. Somit geriet die Förderung von Literatur und Kunst zur politischen Investition. Sie hob den Mäzen in den Vordergrund und legitimierte dessen Herrschaft, mobilisierte intellektuelle und wirtschaftliche Reserven, erzeugte zugleich finanzielle Abhängigkeiten und moralische Verpflichtungen. 43 Künstler und Gelehrte beeinflussten den Zeitgeist, zugleich instrumentalisierte die Eli‐ tekultur des Hofes den eigenen Herrschaftsbereich als Dreh- und Angel‐ punkt der Selbstdarstellung mit dem geschriebenen Wort (Prunkreden) oder mit anderen künstlerischen Produkten (Bilder, Statuen, Bauten). Ob man diese Kunstpatronage mit Norbert Elias als Standesethos bezeichnet, 44 das einem zwanghaften Streben des Adels nach Selbstdarstellung gleicht, oder in diesem höfischen Wettstreit um Prestige und Status den Aufbau von symbolischem Kapital sieht, das sich gegenüber der Konkurrenz zu anderen Höfen abhebt, wie dies Pierre Bourdieu beschrieben hat - Kunst wurde Teil fürstlicher Repräsentationsformen, während die antikisierende Sprachpflege der Humanisten den unmittelbaren Anforderungen des Hofes c) Florentinische Selbstbilder der Renaissance 73 <?page no="74"?> 45 Vgl. Blum, G.: Giorgio Vasari. Der Erfinder der Renaissance. Eine Biographie. München 2011, S.-148-156. 46 Vgl. Verstegen, I.: Vasari’s Progressive (but Non-Historicist) Renaissance. In: Journal of Art Historiography 5/ 2011, S. 3f.; Bourdieu, P.: Kunst und Kultur. Zur Ökonomie symbolischer Güter (= Schriften zur Kultursoziologie, Bd. 4). Herausgegeben von Franz Schultheis und Stephan Egger. Aus dem Französischen von Hella Beister. Berlin 2014, S.-17f. zwischen Standesbewusstsein und Schaubühne, Herrschaftslegitimation und Patronage wich. Die Hochschätzung sowie Förderung von Kunst in Form von Malerei und Bildhauerei durch sowohl kirchliche als auch weltliche Auftraggeber hatte in Florenz einen ihrer Kulminationspunkte und erweiterte sich bis zur ersten kunsttheoretischen Darlegung durch Giorgio Vasari. 45 Der aus Arezzo stammende Künstler hatte sich in den 1540er-Jahren unter wechselnder florentinischer (Medici) und römischer (Kardinal Alessandro Farnese) Gön‐ nerschaft einen Namen als Architekt und Hofmaler gemacht, ehe er von der Praxis in die Theorie wechselte und eine systematische Geschichte der bildenden Künste verfasste. Sein Werk Le vite de’ più eccellenti architetti, pittori, et scultori italiani, da Cimabue insino a’ tempi nostri (1550) begründete die Kunstgeschichtsschreibung. Petrarca mit seinen Biografien zur römi‐ schen Geschichte (De viris illustribus) und Vespasiano da Bisticci mit seinen Vite dei uomini illustri (1480) hatten jene Vorlagen geliefert, die Herrscher, Feldherren und berühmte Persönlichkeiten gegenüber den christlichen Säulenheiligen in den Mittelpunkt des Interesses stellten. Darauf aufbau‐ end, rezipierte Vasari Dante sowie Boccaccio und hielt (Brief-)Kontakt zu Gelehrten und Künstlern, um eine Gesamtschau über die neue Stellung des Menschen in der Welt zu liefern: der Künstler als Symbol eines sich verändernden Selbstbewusstseins, das zur Bildung eines von Herrschertum und Kirche unabhängigen künstlerischen Feldes ansetzte. 46 Nach einem einleitenden allgemeinen Teil zu den drei Schwesternkünsten Architektur, Bildhauerei und Malerei folgt im Stil der geschichtstheolo‐ gischen Mittelalterchroniken eine Gesamtdarstellung der Kunst von der biblischen Genesis bis zu Michelangelo. Die für uns interessanten Lebens‐ beschreibungen der Künstler gliedern sich kategorial in drei Zeitabschnitte: von den Anfängen der Künstler im 13./ 14. Jahrhundert, die sich durch Rohheit und Ungeschicklichkeit auszeichneten, über ein Zwischenstadium, das in den Feinheiten der Malerei und Bildhauerei bereits Anzeichen der Verbesserung enthielt, bis zur Perfektion im 16. Jahrhundert. Damit sollte 74 III Zwischen Humanismus und Renaissance <?page no="75"?> 47 Vgl. Kablitz, A.: Renaissance - Wiedergeburt. Zur Archäologie eines Epochennamens (Giorgio Vasari - Jules Michelet). In: Ecker, U./ Zintzen, C. (Hgg.): Saeculum tamquam aureum. Internationales Symposion zur italienischen Renaissance des 14.-16. Jahrhun‐ derts am 17./ 18. September 1996 in Mainz. Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz. Hildesheim 1997, S.-83. 48 Vasari, G.: Leben der berühmtesten Maler, Bildhauer und Baumeister von Cimabue bis zum Jahr 1567. Herausgegeben und mit Anmerkungen versehen von Ludwig Schorn und Ernst Förster. Wiesbaden 2010, S.-563f. 49 Vgl. Burioni, M.: Vasari’s rinascita: History, Anthropology or Art Criticism? In: Lee, A./ Péporté, P./ Schnitker, H. (Hgg.): Renaissance? Perceptions of Continuity and Dis‐ continuity in Europe, c.1300-c.1550. Leiden/ Boston 2010, S.-117f. der Nachweis erbracht werden, dass von Giotto und Cimabue jene Wieder‐ geburt antiker Kunst eingeleitet worden war, die in Vasaris eigener Zeit unter Michelangelo Buonarotti zur Vollendung gelangte. 47 Mit dem Blick auf Das Jüngste Gericht von Michelangelo wird jenes moderne Verständnis von Kunst ausgedrückt, wonach Malerei zum Medium eigener Realitätser‐ fahrung wird: Wer demnach Einsicht besitzt und von der Malerei etwas versteht, der erkennt hier die Gewalt der Kunst, sieht in den Gestalten Gedanken und Leidenschaften veranschaulicht […]. Hier lernt man, wie den Stellungen Mannigfaltigkeit gege‐ ben werden könne […]. 48 Noch 1568, als Vasari im Gunstkreis von Cosimo de‘ Medici bereits zum Hofmaler und Kunstintendanten aufgestiegen war, erschien eine zweite, überarbeitete und erheblich erweiterte Auflage. Wenngleich Vasari in nach heutigen Maßstäben wohl positivistischer Manier Lebensgeschichte und Herkunft der Künstler vor ihrem Künstlerdasein überwiegend außer Acht ließ 49 und die diversen Leistungen beinahe ausschließlich durch seine Tos‐ kaner/ Florentiner Landsleute als erbracht würdigte, prägte er das Substantiv rinascità als Epochenbegriff und übte einen nachhaltigen Einfluss auf alle kunsttheoretischen Beschäftigungen bis zu Jacob Burckhardts Cicerone (1854) aus. c) Florentinische Selbstbilder der Renaissance 75 <?page no="77"?> 1 Vgl. Guichard, P.: Die islamischen Reiche des spanischen Mittelalters. In: Schmidt, P. (Hrsg.): Kleine Geschichte Spaniens. Stuttgart 2007, S.-102f. 2 Vgl. Reichert, F.: Marco Polos Buch. Lesarten des Fremden. In: Harth, D. (Hrsg.): Fiktion des Fremden. Erkundung kultureller Grenzen in Literatur und Publizistik. IV Von unbekannten Welten bis zum Verstehen der eigenen Geschichte a) Neue Alteritätserfahrungen Als nach erfolgreicher Heiratsunion die katholisch-habsburgischen Herr‐ scher Ferdinand II. von Aragón und Isabella I. von Kastilien 1492 Granada gemeinsam einnahmen, setzten sie den Schlussakt einer langen Reihe an (Rück-)Eroberungen und beendeten eine knapp acht Jahrhunderte wäh‐ rende muslimische Vorherrschaft auf der Iberischen Halbinsel. Die trans‐ kulturelle Symbiose des Hochmittelalters wurde mit der Vertreibung des letzten muslimischen Emirs Muhammad XII. unterbunden, 1 bis in einem durch zahlreiche Verfolgungen und gesellschaftspolitische Einschnitte wal‐ tenden Prozess aus „Allah“ „Olé“ wurde. Die wieder erstarkte spanische Monarchie zeigte sich nun finanziell in der Lage, das langjährige Ansinnen des Genuesen Christoph Kolumbus, nach der versuchten Austreibung der arabisch-muslimischen Kultur zu neuen Horizonten aufzubrechen, zu un‐ terstützen. Der schier unendliche Ozean, über den man sich seit dem 13. Jahrhundert auf der Suche nach orientalischen Gewürzen und vielem mehr verbindlich informierte, wurde zum Roulette der Kompassnadeln, die den einen oder an‐ deren Seeweg nach Indien anzeigen sollten. Die Riege der spätmittelalterlich großen Entdeckungsreisen von Marco Polo bis Vasco da Gama kulminierte in der wirtschaftlichen wie kulturellen Erschließung - und damit in dem Beginn der Kolonialisierung und des transatlantischen Sklavenhandels - Amerikas im ausgehenden 15. Jahrhundert. Gestützt auf Erzählungen und Erfahrungen aus den Atlantikfahrten des 14. und 15. Jahrhunderts, auf die Schriften des Alten Testaments, auf antike Kartografien bei Plutarch und Plinius sowie auf Marco Polos Asien-Reisebericht Il Milione, suchte Kolumbus nach der China vorgelagerten indischen Inselwelt. 2 Im Februar <?page no="78"?> Frankfurt am Main 1994, S. 193ff; Wehle, W.: Columbus’ hermeneutische Abenteuer. In: Wehle, W. (Hrsg.): Das Columbus-Projekt. Die Entdeckung Amerikas aus dem Weltbild des Mittelalters. München 1995, S. 162-165; Schmieder, F.: Der Fall von der Erdscheibe, oder: Wie begrenzt war die Welt im Spätmittelalter? In: Landwehr, A. (Hrsg.): Grenzerfahrungen (= Studia Humaniora. Düsseldorfer Studien zu Mittelalter und Renaissance, Bd.-48). Düsseldorf 2015, S.-54f. 3 Kolumbus: Der erste Brief aus der Neuen Welt. Mit dem spanischen Text des Erstdrucks im Anhang. Übersetzt, kommentiert und herausgegeben von Robert Wallisch. Stuttgart 2015, S.-33ff. 4 de Las Casas, B.: Kurzgefaßter Bericht von der Verwüstung der westindischen Länder. Herausgegeben von Michael Sievernich. Mit einem Nachwort von Hans Magnus Enzensberger. Frankfurt am Main/ Leipzig 2 2014, S.-20f. 1493 berichtete er an seine Geldgeber, die ihm eine Gewinnbeteiligung am Warenverkehr versprochen hatten: Ich werde unseren unbesiegbarsten Königlichen Hoheiten auch bei geringer Unterstützung von deren Seite so viel Gold verschaffen, wie sie benötigen, außerdem so viele Gewürze, so viel Baumwolle, Mastix […] und Aloe-Holz, außerdem so viele heidnische Sklaven, wie Ihren Majestäten zu verlangen gefallen wird, und ebenso Rhabarber und andere Arten von Gewürzen […]. 3 Seine Nachricht über Gold und Bekehrung sowie über den gleichen Stellen‐ wert von Rhabarber und Sklaven sparte aus, was der spanische Missionar Bartolomé de Las Casas 1542/ 1552 in seinem Kurzgefaßten Bericht von der Verwüstung der Westindischen Länder konzis, aber drastischer zusammen‐ fasste: Die Insel Española war […] die erste, auf der die Christen einfielen, und dort begannen sie mit dem großen Metzeln und Morden unter diesen Leuten […]. Die Christen mit ihren Pferden, Schwertern und Lanzen verübten Metzeleien und unerhörte Grausamkeiten an ihnen. Sie drangen in die Ortschaften ein; sie verschonten nicht einmal Kinder oder Greise, Schwangere oder Wöchnerinnen; ihnen allen schlitzten sie den Bauch auf und zerstückelten sie, als fielen sie über ein paar Lämmer her, die in ihren Hürden eingesperrt wären. 4 De Las Casas berichtete in versuchter kritischer Distanz von der Mischung aus Neugierde, Geldgier und Missionseifer, mit der die Konquistadoren in Mittel- und Südamerika eingefallen waren. Abseits der zahlreich geschilder‐ ten Bestialisierungen bot die von Amerigo Vespucci titulierte Neue Welt eine unbekannte Alteritätserfahrung, die in keinem klassischen Bildungskanon erwähnt wurde. Jenseits eigener Traditionen und kultureller Leitwerte tra‐ 78 IV Von unbekannten Welten bis zum Verstehen der eigenen Geschichte <?page no="79"?> 5 Vgl. Rubiés, J.-P.: Comparing Cultures in the Early Modern World: Hierarchies, Ge‐ nealogies and the Idea of European Modernity. In: Gagné, R./ Goldhill, S./ Lloyd, G. (Hgg.): Regimes of Comparatism: Frameworks of Comparison in History, Religion and Anthropology. Leiden/ Boston 2019, S.-127-130. 6 Vgl. Todorov, T.: Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen. Aus dem Fran‐ zösischen von Wilfried Böhringer. Frankfurt am Main 1985, S. 47-66; Elliot, J.: Die Neue fen die militanten Ankömmlinge auf Glaubensformen, Verhaltensweisen so‐ wie Sitten, die eine neue Bezugsgröße von Akkulturation und Enkulturation definierten. Die Erfahrung der indigenen Bevölkerung, die den Europäern fremd war, stellte eine Herausforderung für die kulturelle Selbstvergewis‐ serung dar. Mitgereiste Ordensleute, Kaufleute und Humanisten versuchten, die vorgefundenen Zustände mit den europäischen zu vergleichen und sie normierend einzuordnen. De Las Casas selbst fasste die gesammelten Eindrücke und Erfahrungen in seinen beiden kulturanthropologisch-ethno‐ grafischen Hauptwerken Geschichte Westindiens und Kurze apologetische Geschichte zusammen, in denen er auf die kulturpolitische Eigenart der amerikanischen Ureinwohner zu sprechen kam, die als Gradmesser der Zivilisierung in keiner Weise der europäischen unterlegen wäre oder ihr auch nur im Geringsten nachstünde. 5 Es dauerte bis ins ausgehende 16. Jahrhundert, ehe diese Fingerübungen in angewandter Anthropologie so weit gediehen waren, dass die Missionare zur methodischen Erforschung von Sprache, Religion und Gesellschaft der Ureinwohner übergingen. Ungeachtet dessen zeigte der europäische Blick auf unbekannte Kulturen in den Eroberungszügen von Anfang an, dass nicht christliche Formen von Vergesellschaftung existierten, die ihr Leben fernab eines eschatologischen Heilsplans selbst gestalten konnten. Die Sendschreiben der ersten Berichterstatter wurden angestrengt rezipiert und boten einen zwiespältig fantasiebehafteten Entfaltungsraum, der die Indigenen in die Überlieferungsgeschichte europäischer Erinnerung eintre‐ ten ließ. Im Hintergrund der Berichte von Kolumbus, de Las Casas und anderen konnte der von europäischer Zivilisation unberührte Natur- und Gesellschaftszustand ein religiöses Ideal als alternative Möglichkeit von Vergemeinschaftung ausmalen, das mit den Vorstellungen einer neuen apostolischen Urgemeinde einherging, oder ein nivellierendes Maß an Zivilisiertheit markieren, das gegenüber den Indigenen ein kollektives, abwertendes Vorurteil festigte und diese anderen Menschen in ihrer Entde‐ ckung zugleich ablehnte. 6 a) Neue Alteritätserfahrungen 79 <?page no="80"?> in der Alten Welt. Folgen einer Eroberung 1492-1650 (= Kleine kulturwissenschaftliche Bibliothek, Bd.-36). Aus dem Englischen von Christa Schuenke. Berlin 1992, S.-31-39. 7 Vgl. Bloch, E.: Das Prinzip Hoffnung. Zweiter Band. Frankfurt am Main 1973, S. 874-880; Nipperdey, T.: Reformation, Revolution, Utopie. Studien zum 16. Jahrhundert. Göttingen 1975, S.-129f. 8 Vgl. Gnüg, H.: Utopie und utopischer Roman. Stuttgart 1999, S.-9. 9 Vgl. Herz, D.: Thomas Morus zur Einführung. Unter Mitarbeit von Veronika Weinberger. Hamburg 1999, S.-12-33. Neben immensen wirtschaftlichen und geopolitischen Auswirkungen bedingte die Erweiterung des lateinischen Erfahrungshorizontes literari‐ sche Entwürfe eines gesellschaftspolitisch anderen Gemeinwesens: Utopien als schriftlich verwirklichte Träume, besser zusammenzuleben. 7 Diese be‐ gründeten den kulturgeschichtlich verankerten Gegenentwurf zu jener gesellschaftlichen Realität im christianisierten Europa, 8 deren unikaler Ge‐ halt durch die Ozeanexpeditionen relativiert worden war. Begriffsprägend wurde eine kurze Erzählung des englischen Gelehrten und Staatsmanns Thomas Morus über die beste Regierungsform einer möglichen Gesellschaft auf der entlegenen Insel Utopia. Morus, der nach einer verpassten kirchli‐ chen Laufbahn auf Wunsch des Vaters in London eine juristische Schulung durchlief, beschäftigte sich neben seiner Ausbildung bereits früh mit der griechischen und lateinischen Antike. Über seine Kontakte zu Thomas Linacre und John Colet begann er, sich mit Pico della Mirandola und dessen Verbindung von humanistischer Gelehrsamkeit mit christlichem Leitbild auseinanderzusetzen. Neben seiner juristischen Laufbahn trat er in das aktive politische Leben ein und machte rasch Karriere: vom Under-Sheriff 1510 bis zum Lordkanzler von König Heinrich VIII. 1529. Im Rahmen seiner beachtlichen politischen Laufbahn veröffentlichte Morus politisch-religiöse Schriften gegen Martin Luther und die Reformationsbewegung - in seiner kurzjährigen Funktion als Lordkanzler ließ er überzeugte Anhänger der lutherischen Reformation verfolgen und hinrichten, ehe er selbst zum Opfer religionspolitischer Ränkespiele wurde, als sich der König zum eigenmäch‐ tigen Oberhaupt einer neuen Kirche gewandelt hatte. 9 In seiner frühen humanistisch geprägten Phase lernte Morus über Colet Erasmus von Rotterdam kennen, der ihm 1516 im liberalen Löwen zur Veröffentlichung seiner Utopia verhalf. Die Wortschöpfung Utopie ist ein grammatikalisch kühner Neologismus, der wortwörtlich auf einen Nichtort, in englischer Aussprache aber auf einen Glücksort verweist, womit die Frage nach der prinzipiellen Möglichkeit der Realisierung eines Gemeinwesens 80 IV Von unbekannten Welten bis zum Verstehen der eigenen Geschichte <?page no="81"?> 10 Vgl. Biesterfeld, W.: Die literarische Utopie. 2., neubearbeitete Auflage. Stuttgart 1982, S.-1. 11 Vgl.: Saage, R.: Politische Utopien der Neuzeit. Darmstadt 1991, S.-4. bereits im Titel doppeldeutige Anregungen bietet. 10 Dem phonetischen Spiel mit dem Präfix schließt sich die recht eigenwillige Form der inhaltlichen Darbietung an. Morus tritt als Autor in den Hintergrund und erklärt, in einem zweigeteilten Dialog seine Unterhaltung mit einem fiktiven Reisebe‐ gleiter Amerigo Vespuccis wiederzugeben. Dieses philosophische Gespräch über die Staats- und Lebensform einer neuen Welt wurde zur Blaupause späterer Entwürfe organisierter Wunschgemeinschaften: so etwa Caspar Stiblins Entwurf zur Republik der Glücklichen (1555), La città del Sole (1604) von Tommaso Campanella, Nova Atlantis (1627) von Francis Bacon oder The Blazing World (1668) von Margaret Cavendish. Ihnen gemein ist, dass sie zumeist das Schicksal Reisender beschreiben, die mit einem Schiff, per Raumflug, im Traum oder in Trance, ob durch blinden Zufall oder forsche Entdeckungslust, an den Ufern unbekannter, geografisch meist isolierter Eilande strandeten, wo sie neuartige Gemeinschaftsformen vorfanden, die es in ihrer Struktur und Modellhaftigkeit galt, der eigenen Heimat - als Autor und Autorität über das zu Berichtende - erzählend vorzustellen. Unbekanntes bzw. Ungeahntes aus der neuen Welt konnte als Reiseerzäh‐ lung, literarischer Roman, geschichtsphilosophische Abhandlung oder als kulturpessimistischer Blick mitgeteilt und rezipiert werden. Die ideale gemeinschaftliche Existenzform konnte sich an den antiken Vorläufern orientieren, sich nach den Vernunftregeln der Rationalität richten, die uneingeschränkte Freiheit und Verwirklichungsmöglichkeit des Menschen einfordern oder ein Fantasieexperiment verkörpern, das die Bestimmung des Einzelnen innerhalb des Gesamtprojekts Menschheit zusammenfasste. Analog dem Wunschbild, das viele Mitreisende der großen Expeditionen in den amerikanischen Kolonien auf der Suche nach Beute und nach Wundern erblickten, wollten die Utopien keine Prognosen zukünftiger Zustände erstellen, sondern beschreiben, wie die denkmöglichen Welten sein oder nicht sein sollen. 11 Gegenüber eschatologischen Heilserwartungen zeichnete die frühneu‐ zeitliche Utopie die innerweltliche Alternative aus, die - zugleich als Kritik an der zeitgenössischen Lebenswirklichkeit - einem Leitbild auf Erden gerecht wurde. Die Überzeugung von der homogenen Planbarkeit allen a) Neue Alteritätserfahrungen 81 <?page no="82"?> 12 Vgl.: Heyer, A.: Sozialutopien der Neuzeit: bibliographisches Handbuch. Bd. 2: Biblio‐ graphie der Quellen des utopischen Diskurses von der Antike bis zur Gegenwart (= Politica et Ars, Bd.-20). Mit einem Geleitwort von Richard Saage, Berlin 2009, S.-164. 13 Vgl. Schölderle, T.: Geschichte der Utopie. Eine Einführung. Köln/ Weimar/ Wien 2012, S.-33-45. 14 Morus, T.: Utopia. Übersetzt von Gerhard Ritter. Nachwort von Eberhard Jäckel. Stuttgart 2011, S.-72ff. Lebens 12 bestimmte das Gemeinwohlideal, das die kulturellen, religiösen sowie gesellschaftspolitischen Voraussetzungen bedingte. Die normativen Aussagen über die Struktur der gesellschaftlichen Pflichten und der zu befriedigenden Bedürfnisse sollten ein Optimum an dauernder Existenz‐ fähigkeit der Gemeinschaft sowie an persönlicher Verwirklichung des Individuums ermöglichen. In Utopia 13 von Morus scheinen Vernunft und Rationalität die Maximen des guten Zusammenlebens auszureizen. Es gibt kein Privateigentum, aber Religionsfreiheit, es herrscht Arbeitspflicht, da‐ für hungert niemand, Scheidung und Wiederverheiratung sind möglich, Privatsphäre wird jedoch der gegenseitigen Überwachung preisgegeben, Bildung und Wissenschaft genießen als erklärte Wegweiser zum Glück die höchste Wertschätzung - wer darüber anders befindet, wird vertrieben oder bekämpft: Denn die Behörden beschäftigen die Bürger nicht gegen ihren Willen mit überflüssiger Arbeit, da die Wirtschaftsverfassung dieses Staates vielmehr in erster Linie das eine Ziel vor Augen hat, […] für alle Bürger möglichst viel Zeit frei zu machen von der Knechtschaft des Leibes für die freie Pflege geistiger Bedürfnisse. Denn darin, glauben sie, liege das wahre Glück des Lebens. […] Wer sich dagegen weigert, nach ihren Gesetzen zu leben, den vertreiben sie aus den Grenzen, die sie sich selber setzen. Gegen die Widerstrebenden führen sie Krieg. 14 Die Utopien entstanden aus dem Selbstbewusstsein des Humanismus und rezipierten Platons Politeia stückhaft. Es galt nicht, die Ideen des Urchris‐ tentums vorzustellen, sondern ein politisches Modell des besten Staates, das auf den Gesamtnutzen seiner Bewohner ausgerichtet ist. Der antike Orientierungspunkt wich dem Hier und Jetzt einer utilitaristischen Pla‐ nungsgemeinschaft, die die Menschen mithilfe ihrer selbst geschaffenen Institutionen aus den Unbilden einer unsicheren Zukunft befreite. Die Kehrseite des homogenisierten Glücks liegt in der konfliktfreien, weil unterdrückten Vielgestalt menschlicher Sozialisationsentwürfe, welche die conditio sine qua non aller Kulturwissenschaft darstellt: Da die Schilderung 82 IV Von unbekannten Welten bis zum Verstehen der eigenen Geschichte <?page no="83"?> 15 Vgl. Isekenmeier, G.: Das beste Gemeinwesen? Utopie und Ironie in Morus’ Utopia. In: Arnswald, U./ Schütt, H.-P. (Hgg.): Thomas Morus‘ Utopia und das Genre der Utopie in der Politischen Philosophie (= Europäische Kultur und Ideengeschichte, Studien, Bd. 4). Karlsruhe 2010, S.-40f. eines optimal funktionierenden Gemeinwesens für Leser wie Zuhörer eine detaillierte Konkretion und Nachvollziehbarkeit verlangt, wird zugunsten der Deskriptionslastigkeit weitgehend auf komplexe Handlungsabläufe, die das Leben in einer Gemeinschaft ebenso einzigartig wie interessant und konfliktbehaftet machen, verzichtet. Wenn jedoch alles beschriebene Handeln der bereits durchgesetzten gesellschaftlichen Harmonisierung, der Beherrschung der Natur und der Bannung von Kontingenz dient, verliert Kultur ihre attraktivsten Charakteristika: das Ziellose und Prozesshafte, das Zufällige und Unvorhersehbare, das Heterogene und Multiperspektivische, das Vielsprachige und Dialoghafte. Zugleich erzwingt die latente Sinnzu‐ weisung innerhalb der insularen Grenzen und Differenzierungen den kon‐ turierenden Hintergrund eines Geltungsbereichs, der historisch gewachsen ist, aber auf ein Einheitsmaß reduziert wird, indem allem Vielfältigen sowie von der Idealnorm Abweichenden die Entfaltung versagt wird. 15 b) Anfänge institutionalisierter (natur-)wissenschaftlicher Forschung Die Utopien waren keine naiven Wunschvorstellungen innerhalb einer rationalen Konstruktion, sondern entsprachen dem aus dem Humanismus heraus entstehenden Bewusstsein einer sozialen Verantwortung von Wis‐ senschaft und Bildung. Gemeinschaft in Wissenschaft begann, im Spiegel jeweils zeitgenössischer gesellschaftspolitischer Verhältnisse ein genuin europäisches Produkt für die Erkenntnisse kommender Jahrhunderte zu werden. Wenngleich die meisten Naturforscher und Philosophen an Univer‐ sitäten studiert hatten, entwickelten sie ihr Weltbild häufig außerhalb der Alma Mater und gingen in den seltensten Fällen universitären Lehraufträgen nach. Die Koordinaten angewandter Forschung verschoben sich folglich von den Universitäten, die von der theologischen Fakultät mitsamt ihrer Wissens- und Traditionsbewahrung orthodoxer Lehrmeinungen dominiert wurden, zu den Akademien, die den Rahmen zur Erkenntnisfindung über b) Anfänge institutionalisierter (natur-)wissenschaftlicher Forschung 83 <?page no="84"?> 16 Vgl. Holzhey, H.: Der Philosoph im 17. Jahrhundert. Selbstbild und gesellschaftliche Stellung. In: Neuenschwander, E. (Hrsg.): Wissenschaft, Gesellschaft und politische Macht. Basel/ Boston/ Berlin 1993, S.-50f. 17 Vgl. im Folgenden: Maurer, M.: Kleine Geschichte Englands. Stuttgart 2007, S. 208f.; Weiß, W.: An Attempt, which all Ages had despair’d of. Das Selbstverständnis der Royal Society im 17. Jahrhundert. In: Garber, K./ Wismann, H. (Hgg.): Europäische Sozietätsbewegung und demokratische Tradition. Die europäischen Akademien der Frühen Neuzeit zwischen Frührenaissance und Spätaufklärung. Bd. I. Tübingen 1996, S.-685ff. 18 Vgl. Bacon, F.: Weisheit der Alten. Herausgegeben und mit einem Essay von Philipp Rippel. Aus dem Lateinischen und Englischen übertragen und mit Anmerkungen versehen von Marina Münkler. Frankfurt am Main 1990, S.-9-13. ein religiöses Bekenntnis hinaus durch die dezidierte Einbeziehung der Naturwissenschaften vergrößerten. 16 Da weite Gebiete im heutigen Mittel- und Westeuropa von den Auswir‐ kungen des Dreißigjährigen Krieges bestimmt wurden, verorteten sich die Einflüsse einer sich neu etablierenden Wissenschaft zunächst in Italien, England und Frankreich. Organisationszentren einer erstmals institutiona‐ lisierten Forschung an der Accademia dei Lincei (1603) in Rom, in der Royal Society for Improving Natural Knowledge (1660) in London oder an der Académie Royale des Sciences (1666) in Paris förderten einerseits den Übergang von Latein zu den diversen Volkssprachen, fokussierten andererseits durch die Kombination von Mathematik und empirischen Methoden die naturwissenschaftliche Ausrichtung, um sich von den litera‐ rischen Akademien der Renaissance wie von den Geisteswissenschaften insgesamt abzugrenzen. So stand etwa die Royal Society federführend für den Umbruch der Wissenschaften und Künste sowie für eine in die Moderne vorausweisende Arbeitsgemeinschaft von Gelehrten und Dilettanten. 17 Sie wurde 1660 in London gegründet, stand ab 1662 unter dem Patronat Karls II. und berief sich auf den geistigen Ahnherren Francis Bacon. Der englische Philosoph und Jurist in Staatsdiensten hatte bereits in der 1609 erschienenen Mythenallegorese Die Weisheit der Alten (De sapientia veterum) historische Bezugspunkte zwischen griechischer Mythologie und Altem Testament hergestellt, um zwischen Wissenschaft, ethischen Prinzipien und Glaubens‐ lehre zu unterscheiden. 18 In Nova Atlantis (1627) vermittelte Bacon das Credo wissenschaftlicher Arbeitsweise des Hauses Salomon, das in der Erzählung schiffbrüchigen Europäern als geistiges Asyl dient: Unsere Gründung hat den Zweck, die Ursachen des Naturgeschehens zu ergrün‐ den, die geheimen Bewegungen in den Dingen und die inneren Kräfte der Natur 84 IV Von unbekannten Welten bis zum Verstehen der eigenen Geschichte <?page no="85"?> 19 Bacon, F.: Neu-Atlantis. Übersetzt von Gerhard Bugge. Durchgesehen und neu heraus‐ gegeben von Jürgen Klein. Stuttgart 2013, S.-43. 20 Vgl. Schiebinger, L.: Schöne Geister. Frauen in den Anfängen der modernen Wissen‐ schaft. Aus dem Amerikanischen von Susanne Lüdemann und Ute Spengler. Stuttgart 1993, S.-47ff. 21 Vgl. Cassirer, E.: Die Philosophie der Aufklärung (= Philosophische Bibliothek, Bd. 593). Text und Anmerkungen bearbeitet von Claus Rosenkranz. Mit einer Einleitung von Gerald Hartung und einer Bibliographie der Rezensionen von Arno Schubbach. Ham‐ burg 2007, S.-45f. zu erforschen und die Grenzen der menschlichen Macht so weit auszudehnen, um alle möglichen Dinge zu bewirken. 19 Wenn man bedenkt, dass die Ingenious in many considerable parts of the world, wie die Mitglieder im Titelblatt der ersten Ausgabe der Philosophical Transactions genannt werden, neben Adeligen und wohlhabenden Bürgern auch Handwerker, aber keine Frauen egal welcher Herkunft oder welchen Bildungsstandes aufnahmen, 20 mag die tatsächliche Praxis den Vorgaben des utopischen Forschungszentrums etwas hinterhergehinkt sein. Dennoch wurde ein Mittelpunkt geschaffen, der sich diesem Ideal - die Natur als willfähriges Objekt zum Fortschritt der Erkenntnis - verpflichtet fühlte. Gemäß dem Motto Nullius in verba galt es, einen regen, kritischen Austausch zu ermöglichen, der zu naturwissenschaftlichen Erkenntnissen beitragen sollte, wenn die empirische Probe bestanden wurde. 21 Mitglieder aller Konfessionen, Nationalitäten und sonstiger Interessen pflegten eine reiche Korrespondenz und trafen sich zu Plenarsitzungen, um Experimente vor‐ zuführen oder um aktuelle wissenschaftliche Problemstellungen zu bespre‐ chen und zu verhandeln. Ihre Ergebnisse wurden ab 1665 in dem Journal Philosophical Transactions publiziert, um die Öffentlichkeit daran teilhaben zu lassen. Ihre religiöse und politische Toleranz inmitten der englischen Bürgerkriegszeit sowie ihr von Bacon utopisch bestimmtes Ansinnen, die Naturforschung nicht gegen biblische Wissensordnungen auszuspielen, verwiesen auf den Beginn von gesellschaftlicher Breitenwirkung wissen‐ schaftlicher Arbeitsweise. Mit dem Erscheinen des sogenannten Commentariolus war die kritische Distanz gegenüber den konfessionellen Grenzen von Mensch und Welt infrage gestellt worden: Auf Basis der Daten der ptolemäischen Astronomie entwarf der katholisch-polnische Domherr Nikolaus Kopernikus eine neue b) Anfänge institutionalisierter (natur-)wissenschaftlicher Forschung 85 <?page no="86"?> 22 Vgl. Rossi, P.: Die Geburt der modernen Wissenschaft in Europa. Deutsch von Marion Sattler Charnitzky und Christiane Büchel. München 1997, S.-96ff. 23 Siehe Nicolai Coppernici de hypothesibus motuum coelestium a se constitutis com‐ mentariolus. In: Prowe, Leopold: Nicolaus Coppernicus. Zweiter Band: Urkunden. Berlin 1884, S. 186: Secunda petitio. Centrum terrae non esse centrum mundi, sed tantum gravitatis et orbis Lunaris. Tertia petitio. Omnes orbes ambire Solem, tanquam in medio omnium existentem, ideoque circa Solem esse centrum mundi. 24 Vgl. Carrier, M.: Nikolaus Kopernikus. München 2001, S. 171; Kuhn, T.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Ins Deutsche übersetzt von Hermann Vetter. Zweite revidierte und um das Postskriptum von 1969 ergänzte Auflage, Frankfurt am Main 1976, S.-37. 25 Historia von D. Johann Fausten. Kritische Ausgabe. Mit den Zusatztexten der Wolfen‐ bütteler Handschrift und der zeitgenössischen Drucke. Herausgegeben von Stephan Füssel und Hans Joachim Kreutzer. Stuttgart 2006, S.-45. Kosmologie, welche die These des geozentrischen Weltbildes negierte. 22 Zwei seiner insgesamt sieben Grundsätze, die er nach der Vorrede leser‐ freundlich für die mit geringen Lateinkenntnissen ausgestattete Nachwelt zusammengestellt hatte, verdeutlichten dies unmissverständlich: Die Erde sei nicht der Mittelpunkt der Welt - da alle Bahnen die Sonne umgeben, müsse dieser Mittelpunkt vielmehr in Sonnennähe liegen. 23 Als mathema‐ tisches Modell verfasst, konnte es keinen Wahrheitsanspruch vertreten, stellte aber als Kuhnsches Paradigma ein Objekt für weitere Artikulierung und Spezifizierung unter veränderten Voraussetzungen dar: die empirische Probe. 24 Im Urfaust, der 1587 durch den Buchdrucker Johann Spies heraus‐ gebrachten Historia von D. Johann Fausten, dem weitbeschreyten Zauberer und Schwartzkünstler, wird die Kunst der Astronomie/ Astrologie noch als verborgenes Werk Gottes bezeichnet wird, das die Menschen nicht ergründen könnten: Denn es sind verborgene Werck GOTtes / welche die Menschen nicht / wie wir Geister / die wir im Lufft / vnter dem Himmel schweben / die Verhaͤngnuß Gottes sehen / vnd abnemmen / ergruͤnden koͤnnen. 25 Doch gerade dieser Erkenntniswille, den Himmel mittels Geometrie zu er‐ schließen, wurde zum eigentlichen Prinzip der neuzeitlichen Wissenschaft. Gefördert durch den neuen institutionellen Hintergrund, erlaubte die tech‐ nische Weiterentwicklung der Fernrohre und Teleskope einen genaueren Blick in den Weltraum. Die Geometrie war bereits bei den Renaissancekünst‐ lern zum zentralen Hilfsinstrument ihrer Wahrnehmung von Raumdarstel‐ lung geworden. Die aus der Zentralperspektive der Renaissancemalerei übernommene Gleichsetzung von Sehraum mit physikalisch-optischem 86 IV Von unbekannten Welten bis zum Verstehen der eigenen Geschichte <?page no="87"?> 26 Vgl. Feyerabend, P.: Wider den Methodenzwang. Frankfurt am Main 1986, S. 145ff.; Feyerabend, P.: Wissenschaft als Kunst. Frankfurt am Main 1984, S.-22f. 27 Vgl. Hemleben, J.: Galileo Galilei mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 19 2006, S.-43-50. 28 Galilei, G.: Sidereus Nuncius. Nachricht von neuen Sternen. Herausgegeben und eingeleitet von Hans Blumenberg. Frankfurt am Main 1980, S.-104f. 29 Galileo Galilei an Piero Dini, Mai 1615. In: Galilei, G.: Schriften - Briefe - Dokumente. Bd.-2: Briefe - Dokumente. Herausgegeben von Anna Mudry. Berlin 1987, S.-48f. Raum beeinflusste die neuen Perspektiven der Astronomie. Trotz Ungenau‐ igkeiten vertraute man dem verlängerten Auge das Abbild der himmlischen Wirklichkeit an. 26 Damit erwuchs ein halbes Jahrhundert nach Kopernikus aus der theoretischen Außerordentlichkeit die empirische Anerkennung: Galileo Galilei 27 hatte 1609, inspiriert von den Künsten holländischer Glas‐ schleifer, sein eigenes Fernrohr geschaffen und den venezianischen Patrizi‐ ern vorgeführt. Das Ergebnis dieser und der folgenden konzentrierten Blicke in den Weltraum veröffentlichte er 1610 in dem Buch Sidereus nuncius, das die kopernikanische Wende durch die Summe und Qualität der wahrnehm‐ baren Daten festigte. Die mit zahlreichen Zeichnungen aus der Summe zweimonatiger Beobachtungen versehene Mitteilung gab Auskunft über das Antlitz des Mondes sowie über neu entdeckte Planeten und kündigte einen Beweis an, der aufgrund kirchlicher Zensurmaßnahmen erst 20 Jahre später verschriftlicht werden sollte: […] für diejenigen, die unentwegt behaupten, man müsse die Erde aus dem Reigen der Sterne fernhalten, vornehmlich deshalb, weil sie ohne Bewegung und Licht sei. Ich werde nämlich beweisen, daß sie sich bewegt und daß sie den Mond an Glanz übertrifft, […]. 28 Angesprochen auf seine Forschung und seine Entdeckungen, schrieb Galilei in einem sehr aufschlussreichen Brief, der über die Tragweite naturwissen‐ schaftlichen Forschens und Denkens in der frühen Neuzeit informiert, an Piero Dini im Mai 1615: [I]ch rede vom Eindringen in die Heilige Schrift, in die niemals ein Astronom oder ein Naturphilosoph mit ihren Begriffen eingedrungen sind: […] Der für mich ungesäumteste und sicherste Weg, um zu beweisen, daß die Haltung des Kopernikus nicht im Widerspruch zur Schrift steht, wäre, durch zahlreiche Versuche zu zeigen, daß sie richtig ist und daß die gegenteilige Ansicht keinesfalls bestehen kann; weil aber zwei Wahrheiten sich nicht widersprechen können, müssen diese und die Heilige Schrift völlig übereinstimmen. 29 b) Anfänge institutionalisierter (natur-)wissenschaftlicher Forschung 87 <?page no="88"?> 30 Vgl. Koyré, A.: Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum. Übersetzt von Rolf Dornbacher. Frankfurt am Main 2 2008, S.-37. 31 Vgl. Küng, H.: Das Christentum. Wesen und Geschichte. München 2007, S.-763. 32 Vgl. Rossi, Geburt der modernen Wissenschaft, S.-129. Galileis Schaffen steht für den Übergang von theoretischen Überlegungen, die bereits von Aristarch von Samos im dritten vorchristlichen Jahrhun‐ dert formuliert worden waren, zu quantitativen Experimenten, die für die Moderne prägend wurden. Die Naturwissenschaften sahen sich durch die elaborierten Formen der Wissenschaftsorganisation bestärkt, den Kosmos neu zu ordnen. Die gewagten Theorien, welche der unmittelbaren Sinnes‐ wahrnehmung widersprachen - von der Erdbewegung über die Zentralität und Unbeweglichkeit der Sonne bis hin zur Theorie des unendlichen Rau‐ mes, von Kopernikus über Johannes Kepler und Galilei bis hin zu Giordano Bruno -, hinterfragten das Jahrhunderte geltende theologisch-heteronome Selbstverständnis des Menschen: Die Erde gab ihre auf den Menschen ausgerichtete zentrale Stellung im Universum auf und der Mensch verlor seine einzigartige, privilegierte Position in einem Kosmos, der nicht länger die wohlgeordneten Fundamente präsentierte, auf denen der von Aristote‐ les geprägte und später christianisierte Gegensatz zwischen himmlischem Reich und irdischer Vergänglichkeit aufbauen konnte. 30 Theologische Deutungen über den Lauf der Planeten, die in antiken Büchern standen und mit dem freien Auge bestätigend wahrgenommen werden konnten, begannen, ihren eigenständigen Wert, der in sich über Jahrhunderte Schlüssigkeit wie Sicherheit vermittelt hatte, an wissenschaft‐ liche Erstversuche abzugeben, deren Sichtbarkeit und Nachvollziehbarkeit an eine gläserne Hilfskonstruktion gebunden war. Damit wurde die neue Erfahrungswissenschaft den Glaubenswahrheiten gegenübergestellt, ohne als Wissensform per se dezidiert religionskritisch zu sein. Die kirchlichen Würdenträger waren ihrerseits nicht bereit, das durch das neue, technisch gestützte Sehvermögen veränderte Bild des Himmelsgewölbes nachzuzeich‐ nen. Die Kirche als Institution wurde in den Wirren von Reformation und Gegenreformation vom ehemals kulturellen Maß aller Dinge zu einer ver‐ harrenden Potenz, die kosmische Kosmetik betrieb, indem sie nach Zensur, Index und Inquisition rief. 31 Luther, Calvin und Melanchthon bekräftigten eine abwertende Haltung gegen die Thesen des Kopernikus. Die Ergebnisse des Konzils von Trient (1563) zogen einen unmissverständlichen Grenzstrich zwischen Häresie und Orthodoxie. 32 Giordano Bruno wurde für seine Über‐ 88 IV Von unbekannten Welten bis zum Verstehen der eigenen Geschichte <?page no="89"?> 33 Vgl. Grössing, H.: Frühling der Neuzeit. Wissenschaft, Gesellschaft und Weltbild in der frühen Neuzeit (= Perspektiven der Wissenschaftsgeschichte, Bd. 12). Wien 2000, S. 48f. 34 Vgl. Foucault, M.: Archäologie des Wissens. Übersetzt von Ulrich Köppen. Frankfurt am Main 16 2013, S. 170; Rorty, R.: Eine Kultur ohne Zentrum. Vier philosophische Essays. Aus dem Englischen übersetzt von Joachim Schulte. Stuttgart 1993, S.-20f. 35 Descartes, R.: Die Welt. Abhandlung über das Licht. Der Mensch. Übersetzt und herausgegeben von Christian Wohlers (= Philosophische Bibliothek, Bd. 682). Hamburg 2015, S.-43. 36 Vgl. René Descartes an Marin Mersenne, Ende November 1633. In: Adam, C./ Tannery, P. (Hgg.): Oeuvres de Descartes. Correspondance, Bd. 1: 1622-1638. Paris 1897, S. 270f. zeugungen 1600 auf dem Campo de‘ Fiori in Rom lebendig dem Feuer übergeben, Galilei wurde 1616 abgemahnt und geriet 1633 in Kerkerhaft, im Zuge dessen er seine Überzeugungen widerrufen musste. Wenngleich ge‐ rade im Prozess gegen Galilei innerhalb des Inquisitionstribunals politische Kontroversen zwischen der habsburgfreundlichen Anhängerschaft Galileis und den franzosenfreundlichen Parteigängern des Papstes eine große Rolle spielten, 33 steht Galileis zitierte Briefstelle als heute verblasster Diskurs für die unterschiedliche Art, die Kulturwelt des Menschen zu sehen und sie ver‐ stehen zu können: entweder durch die Glaubensgrenzen der Heiligen Schrift oder durch die Wissensgrenzen der aufstrebenden Naturwissenschaften, deren diskursive Formation frei nach Michel Foucault die Wirklichkeit als Wahrnehmung der Welt organisierte. 34 c) Souverän der eigenen Existenz Während neue Naturgesetze formuliert wurden, die sich von der Bindung an Glaube und Individuum zu lösen begannen, verwies René Descartes in der Philosophie auf die Geometrie als via regia zur Selbstgewissheit. Zunächst plante er, die mechanistische Erschaffung des Universums und die Bestäti‐ gung der Theorie Galileis über die Erdbewegung in seinem Traité du monde zu veröffentlichen, dessen inhaltliche Argumentation er als Rückversiche‐ rung gegen kirchliche oder politische Hemmschwellen „in die Erfindung ei‐ ner Fabel kleiden [wollte], durch die hindurch die Wahrheit […] ausreichend in Erscheinung treten“ 35 könnte. Wie aus einem Brief an Marin Mersenne hervorgeht, 36 verzichtete Descartes aufgrund der Verurteilung Galileis auf die Veröffentlichung. Die Berechnungen der Geometrie hingegen verwiesen abseits metaphysischer Spekulationen, aber auch kulturbedingter Sitten und Verhaltensmuster auf allgemeingültige Gesetzmäßigkeiten, welche die c) Souverän der eigenen Existenz 89 <?page no="90"?> 37 Descartes, R.: Meditationes de Prima Philosophia. Übersetzt und herausgegeben von Gerhard Schmidt. Stuttgart 2010, S.-53. 38 Vgl. van Dülmen, Die Entdeckung des Individuums, S.-63. 39 Vgl. Poser, H.: René Descartes. Eine Einführung. Stuttgart 2003, S.-14. 40 Vgl. Hagel, M.: Fiktion und Praxis. Eine Wissensgeschichte der Utopie, 1500-1800. Göttingen 2016, S.-124f. Bedingungen des Erkennens markierten. Darum, so schrieb er später in den Meditationes de Prima Philosophia, „konnte ich keine andere Methode befolgen als die in der Geometrie gebräuchliche.“ 37 Im Anschluss an den Re‐ naissanceindividualismus führte Descartes den in der Discours de la Méthode angeführten subjektiven Intellektualismus in den Meditationes fort. 38 An die naturwissenschaftliche Abwertung der Sinneswahrnehmung anknüpfend, formulierte Descartes jenen methodischen Zweifel, der für die Begründung sicherer Erkenntnis die Voraussetzung und letztgültige Absicherung bildete: die intuitive Vergewisserung durch den Zweifel, der von einem denkenden Ich formuliert wird. Wenn jedoch der Zweifel den Weg zu innerer Gewissheit der Existenz darstellt, konnte die kopernikanische Theorie die Erde aus dem Mittelpunkt verjagen, währenddessen sich der Mensch zum erkennenden Maximum dieser Welt erhob. 39 Mit der Ausformulierung von Utopien verschob sich die Sorge um transzendente Ziele zugunsten einer Beschäftigung mit diesem Leben und einer Optimierung dieser Welt, in welcher der Mensch leben wollte. Diese Deu‐ tung konnte dem Haus Salomons in Bacons Nova Atlantis nachempfunden werden: Nicht die statische Darstellung eines optimalen Gemeinwesens, sondern die Deutung der Kräfte der Natur zum Nutzen der Menschen stand im Zentrum der wissenschaftlichen Institution, um gegen Kontin‐ genzphänomene wie zukünftiges Unheil und belastende Unwägbarkeiten gewappnet zu sein. 40 Daran knüpfte sich das ansteigende Interesse am Wissen um die astrologische Kausalität von Makro- und Mikrokosmos, seit der optimierte Blick in den Weltraum noch nicht konsensfähig, aber immerhin streitbar geworden war. Jedwede Ausübung prognostisch-divina‐ torischer Sterndeutung war seit Isidor von Sevilla aus dem christlichen Wissenskanon ausgeschlossen. Das Studium der Bewegung der Himmels‐ körper und deren Auswirkung auf Mensch und Umwelt war allerdings Teil des Quadriviums (Geometrie, Arithmetik, Astronomie und Musik) innerhalb der universitären Ausbildung, um meteorologische Zukunftsdeutungen (Wetter- und Mondkalender) zu verfassen, womit Praktiken der naturphilo‐ sophischen wie der medizinischen Astrologie überdauern konnten. Im Zuge 90 IV Von unbekannten Welten bis zum Verstehen der eigenen Geschichte <?page no="91"?> 41 Vgl. Siebenpfeiffer, H.: Astrologie. In: Bühler, B./ Willer, S. (Hgg.): Futurologien. Ord‐ nungen des Zukunftswissens (= Trajekte. Eine Reihe des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung Berlin). Paderborn 2016, S.-380-387. 42 Vgl. Metz, K. H.: Von der Erinnerung zur Erkenntnis. Eine neue Theorie der Geschichte. Darmstadt 2012, S.-25. 43 Vgl. Anghern, E.: Geschichtsphilosophie. Eine Einführung. Basel 2012/ 1991, S.-59ff. der Wiederentdeckung antiker Schriften kam es zu einer Neubewertung der astrologischen Prognostik, welche durch den Buchdruck, der die Vertei‐ lung von Einblattdrucken und Flugschriften erleichterte, eine ansteigende Breitenwirkung erlangte. Die Instabilität der kulturellen Ordnung durch die Konfessionskriege tat ihr Übriges, um den existenziellen Bedrohungen der Zukunft mit der zeitlosen Gültigkeit kosmischer Strukturen zu begegnen, deren Mitteilungsgehalt über bildhafte Drucke als Handlungsempfehlung von Herrschern ebenso wie von illiteraten Adressaten aufgenommen wer‐ den konnte. 41 Mit der Kombination von utopischen Entwürfen und populären astro‐ logischen Weissagungen setzte eine Profanisierung von Zeit ein, da Men‐ schen begannen, den Verlauf von Lebenswirklichkeiten mit der Zuversicht einer planbaren Zukunft zu kombinieren. 42 Die Geometrisierung, wie sie naturwissenschaftlich experimentell und philosophisch vorgegeben wurde, konnte zwar kein Leitmuster parat stellen, um kulturelles Geschick zwi‐ schen Erdbewegung und Selbstzweifel gedeihen zu lassen. Doch mithilfe mathematischer Methoden den Lauf der Gestirne zu berechnen bzw. vor‐ aussagen und damit den Glauben an die zunehmend vollständigere Anti‐ zipation der Zukunft annehmen zu können sowie die Letztinstanz von Erkenntnis auf den Menschen zu beziehen, war mit dem Anspruch genuin menschengemachter Geschichte als Ideenpotenzial kohärent. Daraus reifte die erkenntnistheoretische Suche nach dem Begreifen menschengemachter Geschichte. Als sich der Dreißigjährige Krieg, dieses große Gemetzel zwischen Nord‐ see und Donau, dem Ende zuneigte, räsonierte Thomas Hobbes über den Anspruch, die Methodik der Geometrie als Erkenntnismittel auf die verste‐ hende Erschließung einer Welt anzuwenden, die von Menschen gemacht und von Menschen zerstört wurde. 43 In der Widmung seiner Schrift Vom Bürger reflektierte er 1646 auf erkenntnistheoretischer Ebene, was die Utopien pragmatisch, utilitaristisch und wunschverpflichtet seit Morus einzulösen versprochen hatten: c) Souverän der eigenen Existenz 91 <?page no="92"?> 44 Hobbes, T.: Vom Bürger. Vom Menschen. Elemente der Philosophie II/ III. Eingeleitet und herausgegeben von Günter Gawlick. 3. Auflage, mit erneut ergänztem Literatur‐ verzeichnis. Hamburg 1994, S.-60f. 45 Vgl. Hölscher, L.: Zukunft und Historische Zukunftsforschung. In: Jaeger, F./ Liebsch, B. (Hgg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 1: Grundlagen und Schlüsselbegriffe. Stuttgart 2011, S.-402-415. [A]lles, was dem menschlichen Leben an Nutzen zufällt, sei es aus der Beobach‐ tung der Gestirne oder der Beschreibung der Länder oder der Einteilung der Zeit oder weiten Seereisen, […] alles endlich, was die heutige Zeit von der Barbarei vergangener Jahrhunderte unterscheidet, ist beinahe nur der Geometrie zu verdanken; […] wenn die Verhältnisse der menschlichen Handlungen mit der gleichen Gewissheit erkannt worden wären, wie es mit den Größenverhältnissen der Figuren geschehen ist, so würden Ehrgeiz und Habgier gefahrlos werden, da ihre Macht sich nur auf die falschen Ansichten der Menge über Recht und Unrecht stützt, und das Menschengeschlecht würde eines beständigen Friedens genießen, […]. 44 Nach Hobbes mündete die Entdeckung einer neuen Welt in das Versuchsla‐ bor utopischer Entwürfe, während die Berechnungen der Geometrie auf die Erkenntnis kulturbedingter Gesellschaft anwendbar sein sollten. Beide Ent‐ wicklungsstränge erprobten neue Selbst- und Weltbeschreibungen, die nicht länger Heilsgeschichte und theologieabhängiges Denken vergegenwärtig‐ ten, sondern Zukunftsräume eröffneten, in denen der Mensch begann, eine dominante Rolle einzunehmen und zum Souverän seiner eigenen Existenz zu werden: Als aktives historisches Subjekt wurde der Mensch selbst zum Schöpfer seiner Pläne und zum Garanten ihrer Verwirklichung. Dass eine Welt ohne Vertrauen letztlich keine Welt des sozialen Zusammenlebens be‐ deuten konnte, darauf hatte Hobbes - spätestens im Leviathan (1651) - deut‐ lich hingewiesen. Durch das Konzept des innerweltlichen Zukunftsraums 45 eröffnete sich dem Menschen die Kontingenz seiner eigenen Kulturwelt, die man zu planen und zu verstehen versuchen oder vor deren Offenheit man sich fürchten konnte. Da religiöse Erlösungsvorstellungen (Wiederkunft Christi, Letztes Gericht) seit über eineinhalb Jahrtausenden ausstanden, die Naturwissenschaften ein neues Modell von Weltverständnis vorgaben und die Religion als Wahrheitsgarant durch den großen konfessionsbedingten Krieg in Misskredit stand, konnte die Zukunft ein Experimentierfeld für die Fähigkeit zur Verarbeitung von Kontingenzerfahrungen darstellen. 92 IV Von unbekannten Welten bis zum Verstehen der eigenen Geschichte <?page no="93"?> 46 Vgl. von Wertheimer, O.: Christine von Schweden. Zürich/ Leipzig/ Wien 1948, S. 141-147; Colliot-Thélène, C.: Chronologie und Universalgeschichte. In: Rohbeck, J./ Nagl-Docekal, H. (Hgg.): Geschichtsphilosophie und Kulturkritik. Historische und systematische Studien. Darmstadt 2003, S. 38-41; Titzmann, M.: Herausforderungen der biblischen Hermeneutik in der Frühen Neuzeit: Die neuen Diskurse der Wissenschaft und der Philosophie. In: Schönert, J./ Vollhardt, F. (Hgg.): Geschichte der Hermeneutik und die Methodik der textinterpretierenden Disziplinen (= Historia Hermeneutika, Bd. 1). Berlin/ New York 2015, S. 147ff.; Pietsch, A.: Isaac La Peyrère. Bibelkritik, Philosemitismus und Patronage in der Gelehrtenrepublik des 17. Jahrhunderts (= Frühe Neuzeit, Bd. 163). Berlin/ Boston 2012, S. 67-70; Kilcher, A./ Theisohn, P.: Jüdische Gelehrsamkeit in Europa und das Judentum im europäischen Gelehrtendiskurs. In: Jau‐ mann, H. (Hrsg.): Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Ein Handbuch. Berlin/ New York 2011, S.-693f. Diese Selbstbestimmung einer neu zu entdeckenden Kulturwelt führte in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts zu den ersten Ansätzen eines moder‐ nen Geschichtsverständnisses. Wenngleich das Schema jüdisch-christlicher Chronologie erhalten blieb, wurde die Trennung in sakrale und profane Geschichte vorbereitet. Jean Bodin hatte bereits 1566 in seinem Methodus, ad facilem historiarum cognitionem auf eine „historia humana“ hingewiesen, die abseits der Heiligen Texte eine eigene Geschichte erzähle. Isaac La Pey‐ rère 46 folgte der ideengeschichtlichen Neuausrichtung und veröffentlichte 1655 im voraufklärerischen Umkreis von Christina von Schweden, dem auch Descartes für wenige Monate angehört hatte, anonym das Systema theologicum ex Praeadamitarum hypothesi. Der aus Bordeaux stammende Rechtsgelehrte aus hugenottischem Elternhaus trat ab 1640 in den Dienst des Hauses Bourbon-Condé in Paris, das beste Verbindungen zum französischen Königshaus pflegte. Im Zuge einer diplomatischen Reise nach Skandinavien lernte er die schwedische Regentin kennen, die ihn in weiterer Folge bei der Veröffentlichung seiner Präadamiten-These in Holland half. Wie der Titel besagt, formulierte er in historisch-hermeneutischer Perspektive, was Galilei auf naturwissenschaftlicher Ebene beschrieben hatte. Der Vergleich des Schöpfungsberichts aus der Genesis mit dem neuen Wissen über neue Kulturen, das die Entdeckungsreisen der letzten 200 Jahre ans Licht gebracht hatten, schien jeden Zweifel auszuschließen: Das Alte Testament erzählte die Geschichte eines auserwählten Volkes, aber nicht jene der gesamten Menschheit. Die Bibel konnte als Heiliger Text für religiöse Zwecke und Sinnbestimmungen bestehen bleiben, musste sich aber als Textsorte mit außerbiblischen Kulturtraditionen auf der gleichen kulturgeschichtlichen Ebene einfinden. Wie Galilei vor ihm, geriet La Peyrère durch die Veröffent‐ c) Souverän der eigenen Existenz 93 <?page no="94"?> lichung in die Fänge der Inquisition und musste in den Folgejahren unter ge‐ strenger Beobachtung seine Rechtgläubigkeit unter Beweis stellen. Dennoch hatten die Naturwissenschaften das Gebiet menschlichen Wissens geöffnet, während die Geisteswissenschaften begannen, jenes der menschlichen Ge‐ schichte zu erfassen: Historizität als spezifisch menschliche Dimension. 94 IV Von unbekannten Welten bis zum Verstehen der eigenen Geschichte <?page no="95"?> 1 Vgl. Gieraths, P.-G.: Kirchengeschichte und Heilsgeschichte. In: Angelicum, 46/ 1969, 3/ 4, S.-208ff. V Historizität: von den Universalgeschichten zur Kulturgeschichtsschreibung a) Von den Utopien zu den Universalgeschichten Das maßgebliche Modell spätmittelalterlicher Weltchroniken wurde seit der Spätantike durch die Heiligen Schriften vorgegeben. Darstellungen wie die Chronica sive Historia de duabus civitatibus des Otto von Freising oder die Schedelsche Weltchronik des Hartmann Schedel waren der historischen Vorstellungswelt von biblischer Entwicklungslinie aus der Vulgata und dem christlichen Heilsplan verpflichtet. Die Chroniken bedienten sich zwar weltlicher überlieferter Quellen, inkludierten die profane Geschichte als genuinen Wissenszweig aber nur insofern, als sie mit den Erzählungen aus der Offenbarung harmonisierte: von der Erschaffung der Welt über des Autors eigene Gegenwart bis hin zu einem Ausblick auf Weltunter‐ gang, Wiederkunft Christi und Jüngstes Gericht in sieben Abschnitten. In einen christlichen Universalismus eingebettet, der als Gemeingut des mittelalterlichen Geschichtsbildes angesehen werden kann, rezitierten die Chroniken den Text der Genesis und ergänzten Lücken mit Kommentaren von Hieronymus und Augustinus zur erweiterten Bibellektüre. 1 In räumlicher Perspektive erfuhren diese Weltgeschichten eine erste universalhistorische Ausprägung seit den europäischen Expansionen im ausgehenden 15. Jahrhundert. Die spätmittelalterlichen Reiseberichte, die aus interessiertem, friedlichem oder aus kolonialem Eifer entstanden waren, öffneten den wertenden Blick für fremde Kulturen. Mochte man diese un‐ bekannten Völker für interessante Heiden halten oder sie versklaven, so war für die Zeitgenossen doch unübersehbar, dass hier (komplexe) Lebensweisen ausgebildet worden waren, die in kein Einteilungsschema der Heiligen Schriften passten. Diese neu entdeckte Vielfalt an Kulturen konnte - abseits der Experimente idealer Geschichte, wie sie in den Utopien formuliert wurden - den Erfahrungsraum der bisherigen Weltchroniken bereichern, <?page no="96"?> 2 Vgl. Koppers, W.: Das Problem der Universalgeschichte im Lichte von Ethnologie und Prähistorie. In: Anthropos. Bd.-52/ 1957, H. 3/ 4, S.-370f. 3 Vgl. Jaumann, H.: Bibelkritik und Literaturkritik in der frühen Neuzeit. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 49/ 2, 1997, S.-126-133. 4 Vgl. Koselleck, Zeitschichten, S.-45. 5 Vgl. Rohbeck, J.: Geschichtsphilosophie - Historismus - Posthistoire. Versuch einer Synthese. In: Rohbeck, J./ Nagl-Docekal, H. (Hgg.): Geschichtsphilosophie und Kultur‐ kritik. Historische und systematische Studien. Darmstadt 2003, S.-310. indem die unterschiedlichen Regionen und Kulturen miteinander verglichen und in den europäischen Diskurs integriert wurden. 2 Bodin, Hobbes oder La Peyrère begannen in ihrer jeweils philoso‐ phisch-naturwissenschaftlichen Ausrichtung, ihre Erkenntnismittel auf die verstehende Erschließung der geschichtlichen Welt des Menschen anzu‐ wenden. Die Rückversicherung auf historisch authentische Texte geht im Gefolge der humanistischen Quellenkritik auf das Wirken Lorenzo Vallas 3 zurück, von dem nicht nur Erasmus, sondern auch die voraufklärerischen Säkularisierungsbestrebungen in der Auseinandersetzung mit der Vergan‐ genheit profitiert haben. Nachdem er zu einer sowohl autoritätsals auch traditionskritischen Beschäftigung mit den Quellen zu Kirche und Glauben (Alter und Herkunft der Völker, allgemeine biblische Chronologie) angelei‐ tet hatte, schuf die beginnende historisch-kritische Bibelwissenschaft von Richard Simon (Histoire critique du Vieux Testament, 1678/ 1685) bis Hermann Samuel Reimarus (Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, 1767/ 68) die Voraussetzung für eine Geschichtsbetrachtung, welche die Autorität der Heiligen Schrift nicht zwingend infrage stellen musste, aber quellenkritisch von situativen Einzelereignissen auf längerfristige Gründe schloss. Sollte in dieser Betrachtung menschlicher Handlungsebenen - als wesentlichste dieser Zeit: Politik, maritimer Handel, Kirchenleben und Wissenschaft - metaphysische Beihilfe gemindert werden und damit Über‐ natürliches als Dauerbegründung in den Hintergrund treten, galt es, die Geschichte selbst zu schreiben und Gesetzmäßigkeiten geschichtlicher Ab‐ läufe zu begreifen. 4 Erfasste man dieses zu beschreibende Weltgeschehen in einem Deutungszusammenhang, der sich auf alle historischen Zeiten - von den mythischen Anfängen der Menschheit bis in die jeweilige Gegenwart - und bekannten Völker erstreckte, konnte von einer Universalgeschichte 5 gesprochen werden, die sich von der bloßen Chronologie abzulösen begann. Jede vertraute oder geläufige Begebenheit sowie Entwicklung hatte ihren Platz und lief auf unterschiedlichen Zeitschienen in einem Kontinuum 96 V Historizität: von den Universalgeschichten zur Kulturgeschichtsschreibung <?page no="97"?> 6 Vgl. Rohbeck, J.: Aufklärung und Geschichte. Über eine praktische Geschichtsphiloso‐ phie der Zukunft. Berlin 2010, S. 59; Loewenstein, B.: Der Fortschrittsglaube. Europäi‐ sches Geschichtsdenken zwischen Utopie und Ideologie. Darmstadt 2015, S.-105f. 7 Bodin, J.: Methodus, ad facilem historiarum cognitionem. Paris 1566, S.-9. zwischen Vergangenheit und Gegenwart auf eine spezifische Zukunft zu - in geweihten Bahnen göttlicher Vorsehung oder entlang der Deutungsfreiheit von Kontingenz. Zugleich ergab das Erfassen unterschiedlicher Völker und Ethnien aus unterschiedlichen Erdteilen und Epochen erste methodische Zugänge zu den Anfängen von Kulturalität preis: zum einen in jenem Punkt, der die eigene Entwicklungslinie mit dem Stand eines anderen Weltbilds verglich und daraus Ideen des Fortschritts regulierte, zum anderen, wenn sich der Umfang der zu behandelnden Geschichte von der religiösen und politischen Sphäre auf alle kulturellen Erscheinungsformen menschlicher Handlungen erweiterte. Jacques Bénigne Bossuet kann als erster Vertreter einer frühneuzeitli‐ chen Universalgeschichte bezeichnet werden. 6 Bossuet war Bischof einer kleinen Diözese in Südwestfrankreich, hatte sich aber durch ebenso strenge wie eloquente Fastenpredigten in Paris königliches Gehör bei Ludwig XIV. verschafft. 1670 wurde er an dessen Hof bestellt, um den legitimen Nachfolger, den Grand Dauphin Louis, zu unterrichten. Neben mehreren politischen Traktaten, die Bossuet im Laufe seiner Jahre als Prinzenerzieher zur Handlungsanleitung für eine Politik im Einklang mit der Heiligen Schrift hinterließ, verfasste er 1681 den Discours sur l’histoire universelle à Monseig‐ neur le Dauphin pour expliquer la suite de la Religion et les changements des Empires. Der Titel zeigt bereits die methodische Annäherung an Bodin. Dieser hatte im ersten von insgesamt zehn Kapiteln seines Methodenwerks von 1566 die Frage nach dem Wesen und den Spielarten von Geschichte gestellt - die Antwort gab er sich selbst: „Historiae, id est verae narrationis, tria sunt genera: humanum, naturale, divinum.“ 7 Geschichte sei eine wahre Erzählung und könne als solche in die menschliche, die natürliche und in die göttliche aufgeteilt werden. Bossuets dreigeteiltes Werk verfolgt einen ähnlichen Aufbau: Es beginnt mit der Folge der Zeiten (la suite des temps), die in zwölf Epochengliederungen von den biblischen Ursprüngen, ohne La Peyrères präadamitische Annahme in Betracht zu ziehen, bis zu Karl dem Großen reicht. Danach wird die Geschichte der Menschheit in zwei parallel verlaufenden Strängen erzählt: die im Buch breiten Raum einnehmende Geschichte der Religion (la suite de la religion), die mit dem Höhepunkt a) Von den Utopien zu den Universalgeschichten 97 <?page no="98"?> 8 Vgl. Starczewski, J.: Richard Simon, Biblical Criticism and Voltaire. In. Religions 13/ 995, 2022, S. 3f.; Reiser, M.: Richard Simon. Histoire critique du Vieux Testament (1678/ 1685). In: Wischmeyer, O./ Durst, M. (Hg.): Handbuch der Bibelhermeneutiken: Von Origenes bis zur Gegenwart. Berlin/ Boston 2016, S. 555ff.; Müller, S.: Kritik und Theologie. Christliche Glaubens- und Schrifthermeneutik nach Richard Simon (1638-1712). In: Münchener Theologische Zeitschrift. 56/ 3, 2005, S.-216f. 9 Vgl. Barry, P.: Bossuet’s „Discourse on Universal History“. In: The Catholic Historical Review, Vol. 20/ 3, 1934, S.-261-269. in ihrer christlichen Ausprägung Dauerhaftigkeit und Konstanz vermittelt, sowie ein knapper Abriss über die profane Geschichte weltlicher Reiche (les empires), welche aufsteigen und vergehen unter dem Deckmantel der göttlichen Vorsehung. Die Entgegnung auf die quellenkritische Arbeit Simons zeigt der Um‐ gang mit der Primärliteratur. Simons 8 hermeneutische Grundsätze zur alt‐ testamentarischen Schriftauslegung betrafen Fragen der unterschiedlichen Autorschaft (verkündender Prophet oder nüchterner Chronist) sowie der Echtheit und authentischen Überlieferung einzelner Textvarianten (vor allem bei Moses), die an die Tücke der Verbalinspiration erinnern, der wir bereits in Hesiods griechischem Götterhimmel der Theogonie begegnet sind: man kann nicht alles glauben. Ohne dadurch den Glaubensvollzug der Kirche oder eines jeden Einzelnen an sich infrage zu stellen, wurde Simons Werk durch Bossuets Einfluss bei Hof erfolgreich aus Frankreich verbannt - er ließ alle Ausgaben der Erstauflage, denen er habhaft wurde, verbrennen. Das Werk fand jedoch, seit Morus‘ Utopia in bewährter Manier, den Weg zurück über Holland, wo es gedruckt und anschließend europaweit, zum Teil illegal, verbreitet wurde. Die vorchristliche Zeit wurde von Bossuet in den Rahmen der Erzählungen des Alten Testaments eingefasst, welche in ihrem historischen Mitteilungsgehalt dem Literalsinn unhinterfragt unterlagen. Für die Geschichte der weltlichen Reiche waren griechische und römische Historiker die besten Gewährsmänner, nahmen aber einen untergeordneten Stellenwert ein. Der zweite Teil widmet sich der Geschichte der Religion, wie sie im Alten und Neuen Testament dokumentiert ist, deren verbindli‐ ches Mittelglied durch das Auftreten und Wirken des jüdisch-christlichen Messias dargestellt wird. Der dritte Teil handelt von Völkern und Staaten - den Ägyptern, Babyloniern, Persern, von Alexander dem Großen und den Römern - mit dem Fokus auf deren erzwungenen Gleichklang mit der Religion, die vom Anbeginn der Zeit gewirkt und alle von Menschenhand errichteten Reiche sowie Institutionen überdauert habe. 9 Beide Abschnitte 98 V Historizität: von den Universalgeschichten zur Kulturgeschichtsschreibung <?page no="99"?> 10 Bossuet, J.-B.: Discours sur l’histoire universelle. Chronologie et préface par Jacques Truchet. Paris 1966, S.-427. 11 Vgl. Bayley, P.: Bossuet: Knowledge and Conversion. In: Lyons, J. (Hrsg.): Le Savoir au XVIIe siècle: actes du 34e congrès annuel de la North American Society for Seventeenth-Century French Literature. Tübingen 2003, S.-175. 12 Vgl. Anghern, Geschichtsphilosophie, S.-68f. - die Geschichte der Zeiten und die Geschichte der Religion sowie der Völker - verbindet bei Bossuet la divine Providence (die göttliche Vorsehung). Zwar sind es neben geografischen und ökonomischen Bedingungen die menschlichen Tugenden wie Untugenden, die Aufstieg und Fall der Reiche beeinflussen, doch liegt diesen de-/ stabilisierenden Faktoren als langer Kette von Einzelereignissen die göttliche Vorsehung zugrunde, welche die Geschicke der Menschheit, der Christen wie der Heiden, lenkt: […] ce long enchaînement des causes particulières, qui font et défont les empires, dépend des ordres secrets de la divine Providence. […] C’est ainsi que Dieu règne sur tous les peuples. Ne parlons plus de hasard ni de fortune; ou parlons-en seulement comme d’un nom dont nous couvrons notre ignorance. 10 Phasenweise liest sich diese Lenkung wie eine Jahrhunderte übergreifende Predigt, welche den biblischen Text mit historischen Subjekten austauscht 11 und den pädagogischen Charakter erkennen lässt: zur Unterweisung für einen Kronprinzen, der über halb Europa hätte herrschen sollen, würden ihn nicht die Pocken bereits vor seinem Vater dahingerafft haben. Wenngleich die Trennung zwischen profaner und sakraler Geschichte zum Signum der neuzeitlichen Geschichtsphilosophie wird, bleibt die Welt bei Bossuet ein von außen dirigierter Schauplatz der Geschichte der Menschheit. Der Chris‐ tengott, der Aufstieg der katholischen Kirche und die faktische Autorität der Testamentarischen Schriften bilden die Angelpunkte seiner Darstellung, um die verborgene Sinnhaftigkeit der Geschichte sichtbar werden zu lassen und die christliche Heilsgewissheit zu bekräftigen. 12 Die bis in seine eigene Zeit geplante Fortführung der Universalgeschichte wurde nicht vollendet, aber später von Voltaire aufgegriffen. a) Von den Utopien zu den Universalgeschichten 99 <?page no="100"?> 13 Vgl. Landwehr, A.: Kulturgeschichte. Stuttgart 2009, S.-18f. 14 Vgl. König, P.: Giambattista Vico. München 2005, S.-13-24. 15 Vgl. Jung, T.: Geschichte der modernen Kulturtheorie. Darmstadt 1999, S. 25; Woidich, S.: Vico und die Hermeneutik. Eine rezeptionsgeschichtliche Annäherung (= Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften. Reihe Philosophie, Bd. 422). Würzburg 2007, S.-58-62. b) Kultur und Selbsterkenntnis Die Anfänge universalgeschichtlicher Abhandlungen, die durch die Beto‐ nung kultureller Aspekte auf historische Sinnzusammenhänge schließen, 13 liegen beim italienischen Rechtsgelehrten und Kulturphilosophen Giam‐ battista Vico. Der in einer Buchhändlerstraße im Zentrum von Neapel aufgewachsene Vico strebte nach mehreren Anläufen an der örtlichen Jesuitenschule Collegio Massimo al Gesù Vecchio eine juristische Laufbahn an. 1699 übernahm der Autodidakt aus Mangel an beruflichen Alternativen den mager besoldeten Lehrstuhl für Rhetorik an der Universität seiner Hei‐ matstadt, lebte aber bis zur späten Anerkennung als königlicher Historiograf im Jahr 1734 von kleineren Vermittlungen wie Hauslehrertätigkeiten in Vatolla, südlich von Salerno, oder literarischen Auftragsarbeiten im nahen Umfeld von Neapel, das er Zeit seines Lebens nie verlassen sollte. Nach den universitären Gepflogenheiten, die mit dem Rhetorik-Lehrstuhl verbunden waren, hielt Vico jährlich zum feierlichen Beginn des akademischen Jahres eine Eröffnungsrede. Die im Laufe der Jahre gehaltenen Reden stellten einen zusammenhängenden Zyklus dar, in dem er sich über die Wahl der Studienmethoden aussprach und sein Wissenschaftsverständnis mitteilte. 14 Mit der Veröffentlichung des Liber metaphysicus als erstes von insgesamt drei geplanten Büchern (De antiquissima italorum sapientia ex linguae latinae originibus eruenda libri tres) schloss Vico 1710 an den Redezyklus an, um ein einheitliches System und Grundprinzip der Wissenschaften darzulegen. Im quellenkritischen Rückgriff auf linguistisches Erkenntnisvermögen schloss er an Hobbes‘ Frage nach der Begreifbarkeit der geschichtlichen Welt an - als Kombination der Sprachakribie der Humanisten mit dem naturwissen‐ schaftlich-erkenntnistheoretischen Wagemut der frühen Neuzeit und der vergessenen Autorität Aristoteles. Sprache erschien Vico als entscheidendes Ausdrucks- und Erkenntnis‐ medium des menschlichen Geistes. 15 Durch sie glaubte er, ein gesproche‐ nes und später verschriftlichtes Zeugnis der Denkweise früher Kulturen interpretieren zu können. So folgerte er aus der Etymologie ausgewählter 100 V Historizität: von den Universalgeschichten zur Kulturgeschichtsschreibung <?page no="101"?> 16 Vgl. Cacciatore, G.: Metaphysik, Poesie und Geschichte. Über die Philosophie von Giambattista Vico. Mit einem Vorwort des Herausgebers Matthias Kaufmann. Aus dem Italienischen von Marianne Hanson. Bearbeitet von Giuseppe Cacciatore, Astrid Döllfelder und Matthias Kaufmann. Berlin 2002, S. 44; Kittler, F.: Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft. 2., verbesserte Auflage. München 2001, S. 30; Burke, P.: Vico. Philosoph, Historiker, Denker einer neuen Wissenschaft. Aus dem Englischen von Wolfgang Heuss. Berlin 2001, S. 112f.; Miner, R.: Verum-factum and Practical Wisdom in the Early Writings of Giambattista Vico. In: Journal of the History of Ideas 59/ 1, 1998, S.-63f. 17 Vico, G.: Liber metaphysicus (De antiquissima Italorum sapientia liber primus). Aus dem Lateinischen und Italienischen ins Deutsche übertragen von Stephan Otto und Helmut Viechtbauer. Mit einer Einleitung von Stephan Otto. München 1979, S.-144f. lateinischer Wörter wie verum, factum, creatum, cogitare oder intelligere, dass bei den Italern der frühen Antike das Wahre (verum) als das über Sprache zu Erkennende zugleich das Gemachte (factum) als Gegenstand menschlichen Wissens darstellt. Im Gegensatz zum Schöpfergott, der eine Einsicht in die Totalität und Schöpfung (creatum) der natürlichen Welt hat, wird dem Menschen lediglich das Denken, aber nicht das Wissen über die Welt ermöglicht. Folglich kann der Mensch nur das in seiner Gänze erkennen, was er selbst hervorgebracht und mit Sprache benannt hat (factum cum verbo). Der Endlichkeit seines Denkens angepasst, erschafft er seine eigene Kulturwelt, in der das Wahre und das Geschaffene mit dem Gesagten konvertibel sind. Dieses Prinzip erweist sich als wahr, da Menschen selber die Elemente der Wahrheit - vom Ackerbau über Mythen bis zur Mathematik - hervorbringen, während die Welt der Natur weiterhin in der Verfügungs- und Erkenntnisgewalt Gottes verbleibt. Indem Vico die Einheit von Wahrheitserkenntnis und geistigem Hervorbringen behauptete, formulierte er, worauf sich spätere kulturwissenschaftliche Untersuchungen über Lebens- und Denkweisen bezogen: 16 et factum et verum cum verbo convertuntur […] ita ut facta Dei dicta sunt, et rerum eventa verborum, quae Deus loquitur, casus, et fatum idem ac factum Auch ist das ausgesprochene Wort mit dem Wahren und dem Gemachten vertauschbar. […] So wie das Geschaffene Wort Gottes ist, und das, was dem Ge‐ schaffenen zustößt, dieses geschaffene göttliche Wort dem Zufall aussetzt, so ist auch zufälliges Geschick und Geschaffenes gleichbedeutend 17 Das für menschliche Maße Wahre und das Gemachte sei bei den Italern sprachlich austauschbar, da der Mensch als erkenntnistheoretisches Män‐ gelwesen lediglich über das Gemachte als Kriterium des Wahren verfügt. b) Kultur und Selbsterkenntnis 101 <?page no="102"?> 18 Der vollständige Titel gibt Auskunft über die Überarbeitung: Principi di scienza nuova d’intorno alla comune natura delle nazioni, in questa terza impressione dal medesimo autore in un gran numero di luoghi corretta, schiarita, e notabilmente accresciuta. 19 Vgl.: Otto, S.: Giambattista Vico. Grundzüge seiner Philosophie. Stuttgart 1989, S. 10; Sini, S.: The Fictive Persons of a Serious Poem: On Vico’s Anthropology of Literature. In: Ivanova, J./ Lomonaco, F. (Hgg.): Investigations on Giambattista Vico in the Third Millennium. New Perspectives from Brazil, Italy, Japan and Russia (= Ars inveniendi, 28). Rom 2014, S.-200ff. 20 Vgl. Croce, B.: The Philosophy of Giambattista Vico. With a New Introduction by Alan Sica. Translated by R. G. Collingwood. New Brunswick/ London 2002, S.-166. Diese etymologische These von der Übereinstimmung zwischen Wissen und Hervorbringen bedeutet in moderner Terminologie, dass jegliche Wissens‐ bestände des Menschen keine andere Basis haben als ihre eigene Historizität. Vico verdeutlichte dieses Grundprinzip in seinem Hauptwerk, das 1744 unmittelbar nach seinem Tod in dritter und überarbeiteter Ausgabe erschien: Principi di scienza nuova d’intorno alla comune natura delle nazioni. 18 Seine in fünf Büchern gegliederte, umfangreiche Universalgeschichte beginnt mit der Grundlegung der Prinzipien sowie Methoden seiner neuen Wissenschaft und untersucht anschließend die Ursprünge von Dichtung, Religion und Sprache, die er mit Sinnlichkeit und Fantasie, nicht aber mit rationalistischen Philosophiekonzepten in Verbindung bringt. 19 Im vierten Buch geht er auf den Lauf der Völker ein und wendet dabei ein zyklisches Geschichtsdenken als Entwicklungsschema von Aufstieg, Fall und Wiederaufstieg (corso - ricorso/ ritorno) an. Dieses Schema der Dreiteilung beginnt in einem vorre‐ flexiven Zeitalter der Theokratie als Frühzeit der Menschwerdung, geht über in ein heroisches Zeitalter (Entstehungszeit der homerischen Epen) und endet mit der rationalen Regierungsform des Menschen (ab der Spät‐ antike). Jedes dieser Zeitalter ist nach Vico durch spezifische Lebensformen (Religion, gesellschaftspolitische Einrichtungen, Rechtsprechung, Sprach- und Ausdrucksformen, Sitten usw.) gekennzeichnet, wodurch erstmals ein kulturgeschichtliches Panorama menschlicher Tätigkeitsbereiche im histo‐ rischen Querschnitt angeführt und gegenüber der politischen/ militärischen Sphäre hervorgehoben wird. 20 Im fünften Buch geht er zur fortschrittsop‐ timistischen Beschreibung seiner eigenen Gegenwart über, die mit einem Ausblick endet. Im Speziellen untersuchte Vico anhand der ältesten literarischen Zeug‐ nisse die frühesten kulturellen Erscheinungsformen humaner Gesellschafts‐ strukturen. Noch Descartes hatte in seinem Discours de la Méthode skep‐ tisch auf das Wissensideal verwiesen, wonach historische Berichte oder 102 V Historizität: von den Universalgeschichten zur Kulturgeschichtsschreibung <?page no="103"?> 21 „[…] dass die Lektüre aller guten Bücher gleichsam eine Unterhaltung mit den vor‐ trefflichsten Männern vergangener Jahrhunderte ist […]. Davon abgesehen lassen die Fabeln Ereignisse als möglich erscheinen, die es gar nicht sind […]. Mir gefiel die Mathematik wegen der Sicherheit und Evidenz ihrer Gründe ganz besonders […].“ In: Descartes, R.: Discours de la Méthode. Übersetzt und herausgegeben von Holger Ostwald. Stuttgart 2009, S.-15-19. 22 Vgl. Berlin, I.: Vico and Herder. Two Studies in the History of Ideas. New York 1976, S. XXV. 23 Vgl. Müller-Funk, W.: Giambattista Vico, Johann Gottfried Herder und die Folgen. Von der Neuen Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker zur aufklärungs‐ kritischen Kulturphilosophie. In: Ders.: Kulturtheorie. Einführung in Schlüsseltexte der Kulturwissenschaften. 3., aktualisierte und erweiterte Auflage. Tübingen 2021, S.-94. 24 Vico, Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker, Abs. 144 und 331. antike Schriften eine gute Unterhaltung mit den Geisteszügen vergangener Jahrhunderte, aber keine Sicherheit und Evidenz von Gründen bei der Suche nach der Wahrheit bieten könnten. 21 Vico hingegen begründete ein Erkenntnismodell, das sich von der mathematischen Gewissheit der Naturwissenschaft als vermeintliches Ideal zahlenmäßiger Berechenbarkeit aller Lebensbereiche unterschied. 22 Er fasste durch den Verweis auf den poetischen Wirklichkeitsbezug des Aristoteles sowie durch anthropolo‐ gisch-sprachtheoretisch fundierte Untersuchungen im zweiten und dritten Buch die bekannten Mythen über die Anfänge des Menschen als ernst zu nehmende kulturelle Konstrukte 23 auf, die Menschen des ganzen Erdballs in räumlicher und zeitlicher Trennung unabhängig voneinander geschaffen hatten. Da alle diese archaischen Erzählungen von Gilgameschs Suche nach Unsterblichkeit über den Sündenfall als Beginn der Menschheitsgeschichte bis Hesiods und Homers Göttergeschichten in unterschiedlicher Deutungs‐ hoheit Formen von Religion, Totenbestattung und Ehe (Bannung des Inzests) anführen, müssen diese als Grundelemente aller Kultur nach Vico einen gemeinsamen Hintergrund haben. Entstehen gleichförmige Ideen bei ganzen Völkern, die miteinander nicht bekannt sind, so müssen sie einen gemeinsamen wahren Hintergrund haben. […] deshalb können (denn sie müssen) ihre Prinzipien innerhalb der Modifikationen unseres eigenen menschlichen Geistes gefunden werden. 24 Die poetische Sprache repräsentiert als Quelle der antiken Zeugnisse somit den Zugang zu den Anfangsgründen der Menschheitsgeschichte. Das wird b) Kultur und Selbsterkenntnis 103 <?page no="104"?> 25 Vgl. Marienberg, S.: Heroische Anfänge. In: Leviathan. Berliner Journal für Sozialwis‐ senschaft 47/ 1, 2019, S.-68-71. 26 Vgl. Jung, Geschichte der modernen Kulturtheorie, S.-18. bereits im Frontispiz 25 (Abb. 6), das ab der zweiten Auflage (1730) dem Werk als Einführung vorangestellt wurde, ersichtlich. Die als Frau mit geflügelten Schläfen personifizierte Metaphysik balanciert auf der Weltenkugel und empfängt in ekstatischer - und damit irrationaler - Haltung den Blick der göttlichen Vorsehung als Lichtstrahl der Vernunft. Diesen Strahl reflektiert sie auf Homer, der das Empfangene durch die poetische Sprache in die Welt überträgt: Pflug und Schrifttafel verweisen auf den Zusammenhang von Sesshaftwerdung mit Sprache und Schrift - das Steuerruder steht für die Suche nach dem Neuen und Unbekannten im endlosen Meer - Urne und Altar zeigen die Einbettung in einen Kosmos der Götter und Menschen etc. Die an Hesiods Dialog mit den Musen erinnernde Konstellation zwischen menschlichem Schaffen und göttlicher Wirkung zeigt, dass die kulturellen Ursprünge der Völker, wie verschieden sie in den Regionen und jeweiligen Epochen sein mögen, Vicos Titel entsprechend einen gemeinsamen Anfang in einem gemeinsamen Motiv der Interpretation haben: im menschlichen Geist als Schaffer seiner eigenen Kulturwelt (mondo civile). Die Auffassung von Kultur, die der Mensch verstehen kann, da er sie selbst geschaffen hat, wird bei Vico, angelehnt an Bossuet, durch das religiöse Element der Vorsehung gestützt, das er dem Fortschrittsgedanken einverleibt: Sie wird verstanden als Ordnungsmacht einer ewigen idealen Geschichte, die zur progressiven Entfaltung von Humanität beitragen soll. Abseits dieses genuin aufklärerischen Fortschrittsoptimismus wird hier ein für die Kulturwissenschaft folgenreiches Interpretationsparadigma for‐ muliert, das sich auf das Sinnverstehen historisch-kultureller Fakten und Prozesse bezog und an dem sich später unter anderem Max Weber, Edward Said oder Stephen Greenblatt orientierten: 26 Im Unterschied zum natur‐ wissenschaftlich-mathematischen Erkenntnismodell orientiert sich histori‐ sche, kulturwissenschaftliche Erkenntnis an der Interpretation kultureller Zeugnisse, die der Mensch - vor dem Hintergrund der Vielschichtigkeit seiner Handlungsmöglichkeiten - ebenso symbolhaft wie sinnstiftend selbst hervorgebracht hat. Zugleich deutete Vico an, dass Kulturleistungen als spezifisch menschliche Leistungen in eine zeitliche und geschichtsphiloso‐ phische Perspektive gestellt werden, welche die Möglichkeit eines steten sittlichen Fortschreitens des Menschen losgelöst von der theologischen Tra‐ 104 V Historizität: von den Universalgeschichten zur Kulturgeschichtsschreibung <?page no="105"?> 27 Vgl. Rüsen, J.: Typen des Zeitbewusstseins - Sinnkonzepte des geschichtlichen Wandels. In: Jaeger, F./ Liebsch, B. (Hgg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Sonderausgabe in drei Bänden, Bd.-1: Grundlagen und Schlüsselbegriffe. Stuttgart 2011, S.-367. Abb. 6: Frontispiz zu Giambattista Vicos Scienza nuova (1730) dition dokumentierte. Damit nistete die Kultur des Menschen im Zeitbruch seiner eigenen Lebensführung, 27 den er über Kontingenz deutend schließen musste - im Wechselspiel zwischen Erinnerung und Erwartung konnte die Offenheit des mondo civile Aufstieg (ricorso) oder Fall (corso) bedeuten. b) Kultur und Selbsterkenntnis 105 <?page no="106"?> 28 Vgl. Tschopp, S./ Weber, W.: Grundfragen der Kulturgeschichte. Darmstadt 2007, S.-55. 29 Vgl. Farr, W.: Voltaire und die Frage nach der Geschichte. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 32/ 2, 1980, S. 108f.; Steinkamp, V.: Voltaire - Europäer oder Kosmopolit? Überlegungen zum Essai sur les moeurs et l’esprit des nations. In: Winklehner, B. (Hrsg.): Voltaire und Europa. Der interkulturelle Kontext von Voltaires „Correspondance“. Unter Mitarbeit von Roman Reisinger und Elisabeth Schreiner. Tübingen 2006, S.-72f.; von Stackelberg, J.: Voltaire. München 2006, S.-84ff. c) Kultur und Geschichte Vico glaubte in seiner Autobiografie, seine Scienza Nuova aufgrund man‐ gelnder Rezeption ins Leere geschickt zu haben - was innerhalb der kultur‐ wissenschaftlichen Forschung zweifellos zutrifft -, doch folgten innerhalb weniger Jahrzehnte weitere Werke, in denen neue Modelle einer Kultur be‐ tonenden Universalgeschichtsschreibung erprobt wurden. 28 Voltaires 1756 veröffentlichter Essai sur l’histoire générale et sur les moeurs et l’esprit des nations depuis Charlemagne jusqu’à nos jours war als chronologische Fortführung von Bossuets Discours geplant, verwarf aber Bossuets euro‐ zentrische Geschichtstheologie und damit die bisherige Tradition frühneu‐ zeitlicher Geschichtsschreibung. Voltaires Schrift beginnt im Anschluss an Simon und La Peyrère nicht mit Adam, sondern im Fernen Osten, womit er - abseits biblischer Chronologie - den europäischen Anspruch auf ein zivilisatorisches Erstgeburtsrecht widerlegte. 29 Wenngleich im Ver‐ lauf des Werks wiederum Europa gegenüber China, Indien oder Persien infolge der entscheidenden renaissance des lettres den größeren Raum der Darstellung beansprucht, wird durch den Blick auf asiatische Kulturen die Verabsolutierung der eigenen Lebens- und Denkformen nach Vico erneut relativiert. Voltaires 1765 hinzugefügte Einleitung Philosophie de l’Histoire führte den Begriff „Geschichtsphilosophie“ ein, der allen Versu‐ chen, Ordnung und Gesetz in geschichtlichen Abläufen zu erkennen, eine konkrete Bezeichnung mit theistischem Hintergrund gab. An die Stelle von Bossuets la divine Providence setzte Voltaire la raison universelle, das dem Menschen, allen Leidenschaften, Tyrannen und Betrügern zum Trotz, eine gattungsgeschichtliche Chance zur Weiterentwicklung bietet - ein von Gott geschenktes geistig-moralisches Entwicklungspotenzial: Dieu nous a donné un principe de raison universelle, […] ce principe est si constant qu’il subsiste malgré toutes les passions qui le combattent, malgré les 106 V Historizität: von den Universalgeschichten zur Kulturgeschichtsschreibung <?page no="107"?> 30 Voltaire: La philosophie de l’histoire. Par feu l’abbé Bazin. Genf 1765, S.-50. 31 Vgl. Anghern, Geschichtsphilosophie, S.-69. 32 Vgl. Pečar, A./ Tricoire, D.: Falsche Freunde. War die Aufklärung wirklich die Geburts‐ stunde der Moderne? Frankfurt am Main/ New York 2015, S. 48f. Zu Fortschrittsdenken und kultureller Differenz bei den Aufklärern allgemein siehe: Kaps, K.: Zwischen Emanzipation und Exklusion: Fortschrittsdenken und die Wahrnehmung kultureller Differenz in der europäischen Aufklärung. In: Ertl, T./ Komlosy, A./ Puhle, H.-J. (Hgg.): Europa als Weltregion. Zentrum, Modell oder Provinz? (= Edition Weltregionen, Bd. 23). Wien 2014, S.-69ff. tirans qui veulent le noyer dans le sang, malgré les imposteurs qui veulent l’anéantir dans la superstition. 30 Voltaires Bemühen um eine auf der natürlichen Vernunft aufbauende Geschichtsanschauung 31 verabschiedete den interpretierenden Zugriff auf Mythen sowie antike Bräuche, suchte aber wie Vico nach einem linearen Trend der Menschheitsgeschichte auf dem Weg zu einer zivilisierten Kultur‐ ordnung. Eine Skizzierung geistig-moralischen Fortschritts auch außerhalb Europas erfolgte erst durch Nicolas de Condorcets Werk Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain (1793), über dessen paradig‐ matischen Fortschrittsoptimismus bereits der Titel bereitwillig Auskunft gibt: ein Vernunftideal aller Lebensbereiche als weltgeschichtliches Anlie‐ gen. Er entkam jedoch ebenso wenig wie Bossuet, Vico oder Voltaire einer wertenden Hierarchisierung der Völker. Wollte man den geeigneten Zivili‐ sationsgrad als aufgeklärtes Volk erreichen, galt es, sich an Frankreich und Nordamerika zu orientieren, die den Fortschritt aller Nationen vorgegeben hätten. 32 Das auf Vico aufbauende und von Voltaire fortgeführte Konzept der Historizität kultureller Phänomene wurde durch Johann Gottfried Herder in einer Vorwegnahme empirischer Kulturwissenschaft durch völkerkund‐ liche Themen erweitert. Herder wurde im Todesjahr seines italienischen Vorgängers in Mohrungen (Ostpreußen) geboren und durch das väterliche evangelische Umfeld stark geprägt. Nach anfänglichen Versuchen als Me‐ dizinstudent an der Universität Königsberg, als außerordentlicher Hörer bei Immanuel Kant und einer Hilfslehrerstelle am pietistisch gefärbten Collegium Fridericianum bekam er 1764 eine Stelle als Domschullehrer in der Hansestadt Riga. Dort exzerpierte er nach seinem theologischen Examen und neben seinen Amtspflichten die europäische Aufklärungsliteratur. Im Gegensatz zu Vico, der seine Campania nie verlassen hatte, unternahm Herder 1769/ 70 seine erste Westeuropareise, um neben Goethe oder Denis c) Kultur und Geschichte 107 <?page no="108"?> 33 Vgl. Irmscher, H. D.: Johann Gottfried Herder. Stuttgart 2001, S.-8-20. 34 Herder, J. G.: Aus dem Journal meiner Reise im Jahr 1769. In: Nicolai, H. (Hrsg.): Sturm und Drang. Dichtungen und theoretische Texte. Mit Anmerkungen von Elisabeth Raabe und Uwe Schweikert, Bd.-1, München 1971, S.-202-205. 35 Herder, J. G.: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (= Werke in zehn Bänden, Bd.-6). Herausgegeben von Martin Bollacher. Frankfurt am Main 1989, S.-38. 36 Vgl. Häfner, R.: Johann Gottfried Herders Kulturentstehungslehre. Studien zu den Quellen und zur Methode seines Geschichtsdenkens (= Studien zum 18. Jahrhundert, Band-19). Hamburg 1995, S.-15. 37 Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, S.-24. Diderot den Exponenten der Aufklärungsbewegung persönlich zu begeg‐ nen. Darauf folgten weitere Reisen durch das halbe Europa, um die Vielfalt der Kulturen vor Ort kennenzulernen. 33 Im Journal meiner Reise im Jahre 1769 kündigte er in einem zielgerichteten Vorgriff seine geschichtsphiloso‐ phische Ausrichtung als Vorreiterrolle für die spätere Mentalitäts- und Mikrogeschichtsschreibung an: Hiezu will ich in der Geschichte aller Zeiten Data sammlen: jede soll mir das Bild ihrer eignen Sitten, Gebräuche, Tugenden, Laster und Glückseligkeiten liefern […] ein Buch zur menschlichen und christlichen Bildung. 34 Für diese Geschichte aller Zeiten verwendete Herder einen reichen Fundus an Quellen und naturwissenschaftlichen Studien - Beobachtungen von „Boile, Börhave, Hales, Gravesand, Franklin, Priestlei, Black, Crawfort, Wilson, Achard u. a.“ 35 -, der in sein nicht abgeschlossenes Hauptwerk Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, das in vier Teilen von 1784 bis 1791 erschien, einfloss. 36 Darin weist er wie seine Vorgänger auf eine Gesetzmäßigkeit des geschichtlichen Verlaufs hin, die eine Kontinuität zwischen verschiedenen Epochen verdeutlicht: beginnend bei den Anfängen im Fernen Osten bis zur Ausprägung in Europa. Von seinen mythischen Ursprüngen und frühen Kulturen im eurasischen Raum bis in Herders Gegenwart habe sich der Mensch infolge geografisch-klimatischer Bedin‐ gungen und kultureller Eigenheiten weiterentwickelt. Verdichtet in einem toleranzgebietenden Grundgedanken, spricht Herder die Entwicklungslinie an, die auf Vicos comune natura zurückgreift: Denn alles Dasein ist sich gleich, ein unteilbarer Begriff; im Größesten sowohl als im Kleinsten auf Einerlei Gesetze gegründet. […] Wo und wer ich sein werde, werde ich sein, der ich jetzt bin, eine Kraft im System aller Kräfte […]. 37 108 V Historizität: von den Universalgeschichten zur Kulturgeschichtsschreibung <?page no="109"?> 38 Vgl. Leiner, Y. Schöpferische Geschichte. Geschichtsphilosophie, Ästhetik und Kultur bei Johann Gottfried Herder (= Wittener kulturwissenschaftliche Studien, Bd. 10). Würzburg 2012, S.-57-66. 39 Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, S.-340. 40 Herder, J. G.: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Beitrag zu vielen Beiträgen des Jahrhunderts. Herausgegeben von Hans Dietrich Irmscher. Stuttgart 2007, S.-77. 41 Vgl. Weidner, D.: Kette, Strom, Wellenschlag. Zur Metaphorologie der Tradition. In: Forum interdisziplinäre Begriffsgeschichte (Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung) 10/ 1, 2021, S.-17ff. 42 Vgl. Irmscher, Johann Gottfried Herder, S.-65. Die eigentliche Menschwerdung eines jeden Einzelnen erfolgt für Herder durch adäquate Erziehung, da der Mensch durch einen Mangel an besonde‐ ren Fähigkeiten und ausgeprägten Instinkten den Gebrauch der geistigen Veranlagung als angeborene Sprachfähigkeit für den Umgang mit der Wirklichkeit erst erlernen müsse. 38 Wollen wir diese zweite Genesis des Menschen, die sein ganzes Leben durchgeht, von der Bearbeitung des Ackers Kultur oder vom Bilde des Lichts Aufklärung nennen: so stehet uns der Name frei; die Kette der Kultur und Aufklärung reicht aber sodann bis ans Ende der Erde. […] Tradition tritt zu ihm und formt seinen Kopf und bildet seine Glieder. Wie jene ist, und wie diese sich bilden lassen: so wird der Mensch, so ist er gestaltet. 39 Diese Kette war bei Bossuet, dessen universalgeschichtliche Anfänge von Herder in seiner kleinen Bückeburger Geschichtsabhandlung als „Deklama‐ tion und Predigt und Jahrzahlregister“ 40 abqualifiziert wurden, noch den besonderen Gegebenheiten infolge des Waltens der göttlichen Vorsehung vorbehalten worden. Bei Herder wird sie in einer generationenübergreifen‐ den Gesellschaft und bildenden Tradition mittels Sprache und Schrift von Erwachsenen an Kinder übergeben sowie als Wahrnehmungshorizont zum Ausdruck gebracht. 41 Durch die Freiheit der kulturellen Prägung liegt der gesamte Geltungsbereich des Menschen in der Anlage, Prometheus seiner eigenen Welt der Kultur zu sein. 42 Herder überlässt es uns Lesern, die Welt der Kultur in der Beherrschung der Sprachen Latein und Französisch oder etwa in der Optimierung des Ackerbaus wahrzunehmen. In Anlehnung an die Wesenswürde des Menschen bei Pico della Mirandola bekommt die durch die Defiziterfahrung der natürlichen Veranlagung erzwungene Kreativität der eigenen Entwicklung eine prominente Position, wenn jedem Einzelnen durch eine ihm selbst gegenüber verantwortliche Wahl die Entwicklung c) Kultur und Geschichte 109 <?page no="110"?> 43 Vgl.: Adler, H.: Grenzen des historischen Denkens oder: Wie historisch ist J. G. Herders Geschichtsphilosophie. In: Andraschke, P./ Loos, H. (Hgg.): Ideen und Ideale. Johann Gottfried Herder in Ost und West. Freiburg 2002, S. 39; Heise, J.: Johann Gottfried Herder zur Einführung. Dresden 2 2006, S.-94ff. 44 Vgl. Fisch, J.: Zivilisation, Kultur. In: Brunner, O./ Conze, W./ Koselleck, R. (Hgg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd.-7. Stuttgart 1992, S.-702f. 45 Vgl. Löchte, A.: Johann Gottfried Herder. Kulturtheorie und Humanitätsidee der Ideen, Humanitätsbriefe und Adrastea. Würzburg 2005, S.-29f. freiliegt, sich zum Despoten („Korruptibilität“) oder zum Humanisten („Per‐ fektibilität“) zu entfalten. 43 Gleichzeitig erfolgte mit Herders Beitrag die Neubestimmung des Kultur‐ begriffs. Während im englischen und französischen Sprachraum um die Mitte des 18. Jahrhunderts die Begriffe civilization/ civilisation zu dominie‐ ren begannen - etwa in An Essay on the history of civil society (1767) des schottischen Moralphilosophen Adam Ferguson -, hatte sich im deutsch‐ sprachigen Raum mit Samuel von Pufendorfs De iure naturae et gentium libri octo (1672) - Acht Bücher vom Natur- und Völkerrecht - seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert die Unterscheidung zwischen barbarischem Naturzustand (status naturalis) außerhalb der Gesellschaft und menschenwürdigem Stand der Kultur (status civilis) verbreitet. Pufendorf verwendete zum einen den Ausdruck cultura animi zur Bezeichnung einer sich selbst auferlegten Pflicht, durch umfassende Pflege der Fertigkeiten den status civilis zu errei‐ chen, zum anderen das Leitwort cultura ohne Genitivattribut als normativen Inbegriff aller Anstrengungen, über den Naturzustand hinauszugelangen. 44 Herder griff Pufendorfs Absolutsetzung auf, verwendete Kultur aber nicht als Gegenüberstellung oder als Bezug auf individuelle Bildung, sondern als Synonym für die Gesamtheit der Lebensumstände eines Volkes und für die historisch gewachsene Vergesellschaftung menschlicher Kollektive an sich. 45 Folgerichtig könne es nach Herder kein kulturloses Volk geben, da Kultur und Aufklärung bis ans andere Ende der Erde reichen. Die Relativierung eurozentrisch-kultureller Werte ergänzte damit die lin‐ guistische Quellenkritik sowie die geschichtsphilosophische Betrachtungs‐ weise vergangener Ereignisse und lieferte die entscheidende Weichenstel‐ lung für das beginnende, moderne Verständnis von Kulturgeschichte, wie es später von Jacob Burckhardt bis Karl Lamprecht und anderen aufgegriffen werden sollte. In den Worten Johann Christoph Adelungs: 110 V Historizität: von den Universalgeschichten zur Kulturgeschichtsschreibung <?page no="111"?> 46 Adelung, J. C.: Versuch einer Geschichte der Cultur des menschlichen Geschlechts. Von dem Verfasser des Begriffs menschlicher Fertigkeiten und Kenntnisse. Leipzig 1782, Vorrede. […] weil die Ursachen, warum das Veränderliche eines sich selbst überlassenen Volkes gerade so und nicht anders erfolget ist, nirgends anders als aus der Cultur und ihrem Gange hergeleitet und erkläret werden kann. 46 Mochte man den Ablauf darzustellender Vergangenheit im Einzelnen un‐ terschiedlich akzentuieren, so galt es, den Kulturbegriff der Entwicklung menschlicher Gemeinschaften voranzustellen. c) Kultur und Geschichte 111 <?page no="113"?> 1 Vgl. Pütz, P.: Die deutsche Aufklärung (= Erträge der Forschung, Bd. 81). 4., überarbei‐ tete und erweiterte Auflage. Darmstadt 1991, S.-11f. 2 Vgl. Chartier, R.: Der Gelehrte. In: Vovelle, M. (Hrsg.): Der Mensch der Aufklärung. Aus dem Französischen von Bodo Schulze und Rolf Schubert, aus dem Italienischen von Andreas Simon. Frankfurt am Main/ New York 1996, S.-146. VI Genuss und Kritik im Zeitalter der Aufklärung a) Kulturgenuss Das 18. Jahrhundert kann mit dem Zeitalter der Aufklärung - ungeachtet der Vieldeutigkeit des Begriffs nach Land und wissenschaftlicher Disziplin so‐ wie der Vielgestaltigkeit und Ungleichzeitigkeit der einzelnen Proponenten - in Verbindung gebracht werden. Die Bedeutungsschichten der wohl aus dem Lateinischen übernommenen Licht- und Wettermetaphorik (éclairer, enlighten, aufklären) konnten auf Sachverhalte und Denkstrukturen, deren zu erschließendes Wesen bisher im Dunkeln lag, als erwünschte Verstandes‐ klarheit übertragen werden. 1 Bisherige Geltungsbereiche und traditionelle gesellschaftliche Bindungen in Religion und Politik wurden mit einem an Vernunft und Rationalitätskriterien orientierten Verstand überprüft. Ein sol‐ cherart aufzuklärender Verstand konnte sein emanzipatorisches Potenzial durch die zunehmende Komplexität der Medienlandschaft erproben. Diese eröffnete neue Möglichkeiten einer Kommunikationskultur, die traditionelle Zentren (Kirche, Hof, Universität) in den nichtakademisierten Bereich verlagerte, der öffentliche und geheime Sozietätsbewegungen (Lesegesell‐ schaften, Freimaurer, Gold- und Rosenkreuzer, …) ebenso einschloss wie den Bereich der privaten Häuslichkeit. In der entstehenden kritischen Öffentlichkeit fungierten diese Zusam‐ mentreffen als Orte intellektueller Geselligkeit, 2 an denen künstlerische Dar‐ bietungen aller Art vorgeführt oder legere Kommunikationsgemeinschaften gebildet wurden. Dabei wurden Bildungsansprüche vermittelt, die jener Form der persönlichen Verwirklichung den Weg bahnten, die ein Reflektie‐ ren über sozialpolitische Einflussnahme oder religiöse Sinnverbindlichkei‐ ten erst ermöglichte. Zugleich konnten diese von obrigkeitlicher Kontrolle freien Räume als Versuchsstationen politischer Bewusstseinsbildung fun‐ gieren, an denen höfische Adelige mit Literaten und Philosophen auf Au‐ <?page no="114"?> 3 Vgl. Im Hof, U.: Das Europa der Aufklärung (= Europa bauen). 2., durchgesehene Auflage. München 1995, S. 95f.; Borgstedt, A.: Das Zeitalter der Aufklärung. Darmstadt 2004, S.-64-69. 4 Vgl. Guillois, A.: Le Salon de Madame Helvétius: Cabanis et les idéologues. Paris 1894 (2007), S. 27-70; Bauer-Funke, C.: Die französische Aufklärung. Literatur, Gesellschaft und Kultur des 18.-Jahrhunderts. Stuttgart 1998, S.-17ff. 5 Vgl. Blom, P.: Böse Philosophen. Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung. München 2011, S.-32ff. 6 Addison, J.: The Spectator, Nr. 10/ 12. März 1711. In: Aitken, G. (Hrsg.): The Spectator. In eight Volumes. Vol. 1. London 1898, S.-52. genhöhe über Themen und Aspekte der Aufklärung zwischen Tradition und Autorität diskutierten. Diesen sowie vergleichbaren Formen der illustren Unterhaltung und der ständeübergreifenden Aktivität von Gleichgesinnten konnte in Salons, in Kaffeehäusern, in Lese- und Musikgesellschaften oder in gemeinnützigen Gesellschaften nachgegangen werden. 3 Die Pariser Salons von Anne-Catherine Helvétius oder Paul-Henri d’Hol‐ bach wurden zum Anziehungspunkt einheimischer Philosophen (Voltaire, Diderot, …) wie für gebildete Paris-Reisende aus dem Ausland (Friedrich Schiller, Horace Walpole, Benjamin Franklin, …). 4 Unter dem Schutz der meist wohlhabenden und nicht selten weiblichen adeligen Gastgeber bot das Privathaus einer ausgewählten Schar an Teilnehmenden aus der vorwiegend finanziell gehobenen bürgerlichen Welt die Gelegenheit, eigene Werke oder Gedanken vorzutragen, anderen zuzuhören oder sich in Meinungsfreiheit zu üben. Diese von semiöffentlichen Kommunikationsbeziehungen bestimm‐ ten Salons boten ebenso geistige Muße wie Möglichkeiten der Konfrontation von Ideal und Anspruch aufklärerischen Gedankenguts. 5 Als Besonderheit distinguierten Lebensstils mit künstlerischer, gesell‐ schaftspolitischer, aber auch wirtschaftlicher Vertiefung sowie Merkmal britisch-bürgerlicher Geselligkeit galten Coffee Houses, wie sie sich in Oxford oder London seit den 1650er-Jahren entwickelten. Im Gegensatz zu den französischen Salons sprachen sie alle Gesellschaftsschichten an, wie durch Joseph Addisons Anspruch im Spectator, die Philosophie aus den aka‐ demischen Zirkeln in die Welt des Alltags zu überführen, nachvollziehbar wird: It was said of Socrates, that he brought Philosophy down from Heaven, to inhabit among Men; and I shall be ambitious to have it said of me, that I have brought Philosophy out of Closets and Libraries, Schools and Colleges, to dwell in Clubs and Assemblies, at Tea-tables, and in Coffee-houses. 6 114 VI Genuss und Kritik im Zeitalter der Aufklärung <?page no="115"?> 7 Montesquieu, C.-L.: Persische Briefe. Übersetzt und herausgegeben von Peter Schunck. Stuttgart 2007, S.-71. 8 Vgl. Schivelbusch, W.: Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft. Eine Geschichte der Genußmittel. Frankfurt am Main 7 2010, S.-59-62. 9 Vgl. Hellmuth, E.: Berliner Mittwochsgesellschaft. In: Schneiders, W. (Hrsg.): Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa. München 1995, S.-60ff. 10 Vgl. Finscher, L.: Zur Struktur der europäischen Musikkultur im Zeitalter der Aufklä‐ rung. In: Csáky, M./ Pass, W. (Hgg.): Europa im Zeitalter Mozarts. Bearbeitet von Harald Haslmayr und Alexander Rausch (= Schriftenreihe der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des 18.-Jahrhunderts, Bd.-5). Wien u.-a. 1995, S.-197-203. Der Kaffee war im Laufe des 17. Jahrhunderts im Gefolge der kolonialen Expansion der europäischen Großmächte von den abstinenten arabisch-is‐ lamischen Kulturen über venezianische Kaufleute zum unverzichtbaren Handelsgut und antialkoholischen Genussmittel in den größeren christli‐ chen Städten aufgestiegen. Mit feiner Ironie kommentierte Charles-Louis Montesquieu in seinen Lettres Persanes (1721) den sozialen Kosmos der Pariser Cafés: In Paris wird sehr viel Kaffee getrunken; es gibt viele öffentliche Häuser, in denen man ihn ausschenkt. […] In einem von ihnen wird der Kaffee so zubereitet, daß er denen, die ihn trinken, Geist verleiht; jedenfalls meinen alle, die das Haus verlassen, daß sie viermal mehr davon besitzen als beim Hineingehen. 7 Während Kaffeehäuser in Wien oder Berlin vergleichsweise rar waren und erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an künstlerischer wie gesellschaftspolitischer Relevanz gewannen, waren im London der 1730er-Jahre bereits über 500 Coffee Houses anzutreffen, deren Quantität zur Differenzierung zwang: Konnte man in Old Slaughter’s Coffee House bevorzugt Büchern und Buchhändlern begegnen oder die Räumlichkeiten als Ausstellungsort benutzen, boten andere wie das Lloyd’s Coffee House Versicherungsdienstleistungen an. 8 Lesegesellschaften wie die preußische Mittwochsgesellschaft wurden ne‐ ben dem gemeinsamen Lesen durch Vortrags- und Verschriftlichungstätig‐ keiten zur zentralen Anlaufstelle der Aufklärung im deutschsprachigen Raum. Sie bedienten neue Bildungsanliegen und Lesebedürfnisse ebenso aus dem theologischen, historischen oder naturwissenschaftlichen wie aus dem populären Bereich der Romane und Reisebeschreibungen. 9 Daneben boten die vermehrt entstehenden Musikgesellschaften 10 eine weitere ge‐ meinschaftsstiftende Vereinigung. Sie bildeten seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts als private Vereinigungen musikalischer Liebhaber den a) Kulturgenuss 115 <?page no="116"?> 11 Paradigmatisch dafür: Darnton, R.: Glänzende Geschäfte. Die Verbreitung von Diderots Encyclopedie oder: Wie verkauft man Wissen mit Gewinn? Aus dem Englischen und Französischen von Horst Günther. Frankfurt am Main 1998. 12 Vgl. North, M.: Genuss und Glück des Lebens. Kulturkonsum im Zeitalter der Aufklä‐ rung. Köln/ Weimar/ Wien 2003, S.-14f. 13 Vgl. Stollberg-Rilinger, B.: Die Aufklärung. Europa im 18. Jahrhundert. 2., überarbeitete und aktualisierte Auflage. Stuttgart 2011, S.-142ff. Gegenpol zum exklusiven Klanggenuss am adeligen Hof. Die gesteigerte Wertschätzung an der Musik zeigte sich zum einen in den eigens dafür erbauten Aufführungsräumen zur Unterhaltung bei Hoffesten, zum anderen in öffentlichen Opern- oder Konzerthäusern für ein zahlendes Publikum. So bildete sich von London über Paris bis nach Wien eine ständeüberschrei‐ tende Musikkultur mit einer Bühne als konkreter Spielfläche aus. Der verschriftlichte Bereich gemeinschaftsstiftender Vereinigungen zeigte sich abseits von umfangreichen sowie emotional gelebten Briefwech‐ seln in der Aufwertung von Druckschriften jeglicher Art. Der rasante Anstieg an Journalen, Zeit- und Wochenschriften sowie der periodischen Tagespublizistik ging einher mit der Ausweitung des literarischen Marktes und der wachsenden Anzahl an Autoren. Bücher wurden zu einem gefragten und ertragreichen Handelsgut. 11 So stellte allein die Rezensionszeitschrift Allgemeine deutsche Bibliothek, die als Pendant zur englischen Monthly Review konzipiert worden war, der lesenden Welt innerhalb von 40 Jahren (1765-1805) circa 80.000 deutschsprachige Neuerscheinungen vor. 12 Von umfangreichen fachwissenschaftlichen Beiträgen bis hin zu kurzen, kriti‐ schen (sozial-)politischen Kommentaren wurde eine Sphäre des öffentlichen Austauschs konstituiert, die Standes-, Berufs- und territoriale Grenzen über‐ schritt. 13 Wenngleich damit in den einzelnen Ländern keine Meinungs- und Druckfreiheit gegeben war, zeichnete sich die Entstehung einer kritischen Öffentlichkeit ab, die an religiösen und/ oder (gesellschafts-)politischen Partizipationsmöglichkeiten Maß nehmen konnte. Die angeführten Sozietätsbewegungen trugen zur Genese dieser Selbst‐ artikulation des Bürgertums in unterschiedlichem Ausmaß bei: Revolutio‐ näre Ideen und politische Meinungsbildung wurden nicht allein durch Bücher und Pamphlete verbreitet, sondern auch durch die zweckmäßige Unterhaltung in Coffee Houses, welche neben Kaffeeausschank vor allem anderen eine Quelle der verdichteten Kommunikation und Diskussion über alltäglichen Klatsch wie über Domänen politischer Rechtsgläubigkeit darstellten, in Salons, deren diskrete Gastgeberinnen selbst die streitbarsten 116 VI Genuss und Kritik im Zeitalter der Aufklärung <?page no="117"?> 14 Vgl. van Dülmen, R.: Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit. Bd. 3.: Religion, Magie, Aufklärung. 16.-18.-Jahrhundert. München 3 2005, S.-160ff. 15 Vgl. Böning, H.: Gemeinnützig-ökonomische Aufklärung und Volksaufklärung. Bemer‐ kungen zum Selbstverständnis und zur Wirkung der praktisch-populären Aufklärung im deutschsprachigen Raum. In: Jüttner, S./ Schlobach, J. (Hgg.): Europäische Aufklä‐ rung(en). Einheit und nationale Vielfalt (= Studien zum achtzehnten Jahrhundert, Bd.-14), Hamburg 1992, S.-218f. Vertreter der Aufklärung vor Verfolgung zu bewahren suchten, in Lesege‐ sellschaften, deren verschriftlichtes Meinungsforum als kritischer Ratgeber der Tagespolitik agierte, und in Musikgesellschaften, welche die didaktische Wirkungsmöglichkeit der Bühne benutzen konnten, um gesellschaftspoliti‐ sche Verhaltensideale im Rahmen von Klang und Gesang einem größeren Publikum zu unterbreiten. Akademien bestimmten neben den Universitäten weiterhin das Bild der europäischen gelehrten Welt. Wie die Sozietätsbewegungen waren auch sie ein Elitephänomen, das überwiegend von Philosophen und Literaten, Ge‐ lehrten und Künstlern aus dem gehobenen Bürgertum geprägt wurde. Was an Wissenschaft und Literatur in den Ballungszentren Westeuropas Geltung erlangte, drang nur in den seltensten Fällen bis zu den ländlichen Bevöl‐ kerungsschichten durch, da deren Arbeits- und Lebenszusammenhänge weniger durch schulische Ausbildung und spätere Weiterbildung als durch Alltags- und Erfahrungswissen geprägt wurden. 14 Mitgliedsbeiträge und das Beherrschen der elementaren Kulturtechniken des Lesens und Schreibens, das selbst im 18. Jahrhundert eine Fähigkeit der Minderheit blieb, ließen die elitären Sozietäten für die allgemeine Bevölkerung unattraktiv erscheinen, sodass diese zum Gutteil von der Aufklärungsbewegung unbeeinflusst blieb. Um breitere Bevölkerungsteile zu adressieren, wurden gemeinnützige und ökonomische Gesellschaften gegründet, die auf praktische Reformen und so‐ ziale Gemeinnützigkeit abzielten. An die Praxisfelder der Naturwissenschaft anknüpfend, konnte man in der Society for the improvement of Husbandry, Agriculture, and other useful Arts in Dublin oder in der Société royales d’agri‐ culture in Paris landwirtschaftliche Innovationen fördern, um - vergleichbar mit dem Anspruch Addisons - mit praktischem Wissen auch Handwerker und Bauern zu erreichen. 15 Preisausschreiben für neuartige Methoden mo‐ tivierten zur praktischen Aufklärung in der Landwirtschaft oder im Gewerbe und wiesen auf ihre Orientierung an den wissenschaftlichen Akademien hin. Auch hier förderten die in Aussicht gestellten finanziellen Zuwendungen den thematisch verbindlichen Gedanken- und Meinungsaustausch. Je nach a) Kulturgenuss 117 <?page no="118"?> 16 Vgl. Programme De l’Académie des Sciences & Belles-Lettres de Dijon, pour le Prix de Morale de 1750. In: Mercure de France. Dédié au Roi. Octobre 1749, S.-153f. 17 Vgl. Jung, T.: Zeichen des Verfalls. Semantische Studien zur Entstehung der Kulturkritik im 18. und frühen 19. Jahrhundert (= Historische Semantik, Bd. 18). Göttingen 2012, S.-374f. Fragestellung der jeweiligen Akademien konnten allgemeine Bildungsanlie‐ gen aus dem theologischen/ historischen Bereich oder kritische Perspektiven zu Politik und Gesellschaft zur Erörterung ausgewiesen werden. b) Kultur als Verderbnis 1749 wurde in der Oktoberausgabe des Mercure de France ein Preisausschrei‐ ben angekündigt, das die Académie des sciences et belles-lettres von Dijon für die Moralklasse von 1750 aufgestellt hatte. Die in lateinischer oder franzö‐ sischer Sprache zu lösende Problemstellung schien dem Selbstverständnis der Aufklärung zu entsprechen und lautete, ob die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste dazu beigetragen habe, die Sitten zu läutern. 16 Als der junge, noch unbekannte Jean-Jacques Rousseau (Abb. 7) während einer seiner regelmäßigen Spaziergänge zu dem im Donjon des Gefängnisses von Vincennes inhaftierten Diderot von dem Wettbewerb erfuhr, soll er, so später in geschickt konstruierter Selbststilisierung, ein Erweckungs- und Inspirationserlebnis erfahren haben, das ihn dazu veranlasste, auf die kulturellen Errungenschaften des Menschen einen Streitruf als Antihymnus anzustimmen. 17 Der junge Mann war unter zerrütteten sozialen Verhältnissen in der kleinen Republik Genf aufgewachsen und hatte im Gegensatz zu Voltaire, Vico, Herder oder auch Diderot keinerlei klassische Schul- oder weiterfüh‐ rende universitäre Bildung erfahren. Nach erfolgreichen autodidaktischen Bildungsschüben, unsteter Wanderschaft und gescheiterten Versuchen, in einem Beruf Fuß zu fassen, kam er 1742 nach Paris. Erste kleinere Lustspiele und musiktheoretische Abhandlungen machten ihn mit adeligen Förderin‐ nen bekannt, die ihm wiederum den Zugang zu den Pariser Salons ebneten, wo er Diderot und weitere Intellektuelle der Aufklärung kennenlernte und mit ihnen in den Folgejahren in Austausch trat. Diderot arbeitete zu dieser Zeit mit Jean le Rond d’Alembert und weiteren Proponenten der Aufklärung an einem Kompendium menschlichen Wissens, der Encyclopédie, ou Dicti‐ onnaire raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers, das als lexikalische 118 VI Genuss und Kritik im Zeitalter der Aufklärung <?page no="119"?> 18 Vgl. Soëtard, M.: Jean-Jacques Rousseau. Leben und Werk. München 2021, S. 12-35; Schneiders, W.: Das Zeitalter der Aufklärung. München 3 2005, S.-66-69. Abb. 7: Jean-Jacques Rousseau (1764/ 72) Zusammenfassung der Errungenschaften des menschlichen Geistes in meh‐ reren Textbänden geplant war. Rousseau bereitete dafür mehrere Artikel zur Geschichte und Theorie der Musik vor. 18 Zuvor jedoch wurde Diderot wegen religionskritischer Aussagen per königlichem Haftbefehl für knapp vier b) Kultur als Verderbnis 119 <?page no="120"?> 19 Rousseau, J.-J.: Abhandlung über die Wissenschaften und die Künste. Übersetzt von Doris Butz-Striebel in Zusammenarbeit mit Marie-Line Petrequin. Herausgegeben von Béatrice Durand. Stuttgart 2012, S.-19. 20 Erasmus von Rotterdam: Lob der Torheit. Übersetzt von Wilhelm Gottlieb Becker. Frankfurt am Main 2009, S.-45. 21 „Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß.“ Siehe: Kant, I.: Kritik der reinen Vernunft. Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Peter Godman. Und einer Einführung von Jörg Lauster. Wiesbaden 2005, S.-47. Monate in Vincennes eingesperrt, wo er mit Rousseau Diskussionspunkte und Antwortmöglichkeiten auf die Preisfrage erörterte. Eingedenk der vermeintlichen Wohltaten des wissenschaftlichen und kulturellen Fortschritts schrieb Rousseau in seiner Discours sur les sciences et les arts betitelten Preisschrift: Während Regierung und Gesetze für Sicherheit und Wohlergehen der versam‐ melten Menschen sorgen, breiten Wissenschaften, Literatur und Künste, weniger despotisch, vielleicht aber mächtiger, ihre Blumenkränze über die ehernen Ketten, an die diese gelegt sind, ersticken in ihnen jedwedes Gespür für die ursprüngliche Freiheit, für die sie geboren zu sein schienen, lassen sie ihre Sklaverei lieben und zu dem werden, was man zivilisierte Völker nennt. 19 Rousseau demaskierte damit gegenüber anderen Mitbewerbern die ver‐ meintliche Höherentwicklung als realen Verfall, doch verwies seine Antwort auf geläufige Klagen über den Zusammenhang von Wissen, Fortschritt und Moral, die bis Platon zurückverfolgt werden können. Auch in Erasmus von Rotterdams Lob der Torheit (1511) können wir die augenzwinkernde Warnung vernehmen, dass Kunst und Wissenschaft dem Menschen nichts Gutes bringen: Die Beglücktesten sind also die, denen es vergönnet ist, mit keiner der Wissen‐ schaften Verkehr zu haben und bloß der Natur zu folgen, die nie auf Abwege verleitet, so lange man nicht die Schranken, die den Sterblichen gesetzt sind, überspringen will. Die Natur verabscheut jede Schminke; lustig wächst das hervor, das durch keine Kunst verdorben worden. 20 Die Kritik an der Entwicklung der Gesellschaft gehörte nicht erst seit Im‐ manuel Kants Fußnote zur Vorrede seiner Kritik der reinen Vernunft 21 (1781) zur Selbstreflexion der Aufklärung. Zum vermeintlichen Fortschritt von Vernunft, Sittlichkeit und Humanität, wie er in den Universalgeschichten 120 VI Genuss und Kritik im Zeitalter der Aufklärung <?page no="121"?> 22 Vgl. Bollenbeck, G.: Eine Geschichte der Kulturkritik. Von Rousseau bis Günther Anders. München 2007, S. 38f.; Ewald, O.: Die französische Aufklärungsphilosophie. München 1924, S. 142f.; Thoma, H.: Politesse und Kulturkritik. Rousseaus Erster Discours im Kontext. In: Amend-Söchting, A. et al. (Hgg.): Das Schöne im Wirklichen - Das Wirkliche im Schönen. Festschrift für Dietmar Rieger zum 60. Geburtstag (= Studia romanica, Bd.-110). Heidelberg 2002, S.-391f. 23 Vgl. Taureck, B.: Jean-Jacques Rousseau. Hamburg 2009, S.-53. 24 Vgl. Hammermeister, K.: Kleine Systematik der Kunstfeindschaft. Zur Geschichte und Theorie der Ästhetik. Darmstadt 2007, S.-89f. 25 Rousseau, Abhandlung über die Wissenschaften und die Künste, S.-45. bei Bossuet und Voltaire angedeutet worden war, schloss sich die Theorie an, dass die Historizität der Kultur, wie bei Vico elementar, Degeneration und Rückfall beinhaltet. Rousseau griff in seinem Schreiben somit trotz aller Versuche, traditionsunvermittelt zu wirken, das diskursive Standard‐ repertoire an Klagen über Verstellungen, ambivalente Konventionen und die Lügenhaftigkeit des Scheins auf, 22 indem er mit Nachdruck an den Zu‐ sammenhang zwischen den Verwirklichungsmöglichkeiten der Menschen und der Gesellschaft als sozialer Katalysator appellierte. Sein Lob auf die Einfachheit erkennt an der Pflege der kulturellen Eckpfeiler der Aufklärung - Kunst und Wissenschaft - den Beginn aller zivilisatorischen Übel. In einem gesellschaftskritisch hypothetischen Rückgang 23 zu den vage bestimmten Anfängen der Menschheit erscheint der natürliche Mensch als in sich ruhend und frei von selbst auferlegten Eidesleistungen der eigenen Kultur. Im Gegensatz zu Ciceros Wertschätzung der cultura animi erscheint bei Rousseau die Pflege der Seele als parasitäre Tätigkeit, die der Pflege der Landwirtschaft abträglich sei, soziale Besitz- und politische Gewaltverhält‐ nisse fördere und damit als Teil der zivilisatorischen Entfremdung gewertet werde: 24 „Wissenschaften und Künste haben ihre Geburt also unseren Lastern zu verdanken.“ 25 Rousseaus Discours setzte sich gegen zwölf Mitbewerber durch und gewann den Preis, womit er 1750 mit 37 Jahren international bekannt wurde und ins Zentrum der französischen Aufklärung rückte. In seiner zweiten Abhandlung, dem Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes, der - ebenfalls auf eine Preisfrage der jungen Universitätsstadt antwortend - 1753/ 54 geschrieben wurde, führte er seine kulturkritischen Grundgedanken fort. Hier versuchte er, das theoretische Postulat von der menschlichen Depravierung durch kulturelle Errungenschaften geschichtsphilosophisch mit empirischen Argumenten sowie zahlreichen Querverwei‐ sen zu stützen und auf den Kern der Menschwerdung selbst auszuweiten. b) Kultur als Verderbnis 121 <?page no="122"?> 26 Jung, Geschichte der modernen Kulturtheorie, S.-28. 27 Hobbes, T.: Leviathan. Erster und zweiter Teil. Übersetzung von Peter Mayer. Nachwort von Malte Diesselhorst. Stuttgart 2010, S.-115. 28 Vgl.: Tilly, C.: Die europäischen Revolutionen. Aus dem Englischen übersetzt von Hans-Jürgen Baron von Koskull. München 1993, S.-237ff. 29 Vgl. Geier, M.: Aufklärung. Das europäische Projekt. Hamburg 2 2012, S.-136ff. Der Parcours durch die Geschichte der Menschheit gleicht dabei einem fortschreitenden Prozess der Selbstentfremdung, der „als Kulturprozeß begriffen und als solcher emphatisch einem unentfremdeten Naturzustand des Menschen gegenübergestellt wird.“ 26 Noch bei den Naturrechtstheoretikern wie Pufendorf oder Hobbes wird der ohne Normen und Vergesellschaftung lebende Mensch als bedrohlich erachtet, dem es mit staatlichen Rahmenbedingungen zu entgegnen gilt. Im Leviathan von Hobbes heißt es an bekannter Stelle: Mitbewerbung, Verteidigung und Ruhm sind die drei hauptsächlichsten Anlässe, daß die Menschen miteinander uneins werden. […] Hieraus ergibt sich, daß ohne eine einschränkende Macht der Zustand der Menschen ein solcher sei, wie er zuvor beschrieben wurde, nämlich ein Krieg aller gegen alle. 27 Der Bürgerkriegszustand, dem Hobbes durch seine zeitgeschichtlichen Er‐ fahrungen ausgesetzt war, bestimmte seine Auffassung von den potenziellen Abgründen der Menschheit. Der durch einen Vertrag eingesetzte Fürst als sterblicher Gott regelt jegliche Form gesellschaftlichen Miteinanders der Menschen, die sich ohne eine einschränkende Macht gegenseitig auslöschen würden. Rousseaus Beantwortung der Frage nach den Ursprüngen der gesellschaftlichen Ungleichheit wurde ein Jahrhundert später geschrieben, als in Frankreich die Gegensätze zwischen den Parlamenten und der Krone sowie zwischen Besitzenden und Besitzlosen akut zu werden begannen und auf eine größere Krise hinwiesen. 28 Inmitten dieser gelebten Ungleichheit geht Rousseau zu den hypothetischen Anfängen der Menschheit zurück und hebt die Natürlichkeit des homme naturel/ homme sauvage gegen den dena‐ turierten homme civil/ homme policé wiederholt hervor. 29 Während Herder die Erziehung als zweite Genesis ansieht, von der alles abhänge, was den Menschen in kultureller Hinsicht auszeichne, bedeutet der Kulturprozess für Rousseau nicht die Umformung der unterentwickelten, instinktarmen Natur des Menschen zugunsten einer Selbstbehauptung, die durch elterliche Vernunft und Sittlichkeit gelenkt wird. Er stellt für ihn vielmehr einen kontinuierlichen Bruch mit der Natur dar, der einer selbst verschuldeten 122 VI Genuss und Kritik im Zeitalter der Aufklärung <?page no="123"?> 30 Vgl. Rousseau, J.-J.: Diskurs über die Ungleichheit. Kritische Ausgabe des integralen Textes. Mit sämtlichen Fragmenten und ergänzenden Materialien nach den Original‐ ausgaben und den Handschriften neu ediert, übersetzt und kommentiert von Heinrich Meier. Paderborn 6 2008, S.-237. 31 Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, S.-89. 32 Ibid., S.-195. Versklavung des Menschen gleiche, weil dieser im Naturzustand eine ein‐ fache, gleichförmige, solitäre Lebensweise - und die wertvollste Fähigkeit aller erwünschten Merkmale des Menschseins: die Freiheit 30 - erfahre. Diese Freiheit erlischt, sobald der Mensch in gesellschaftliche und politische Struk‐ turen, folglich in die Grundzüge moralischer und politischer Ungleichheit, eingebunden wird. Rousseau vergleicht diesen Beginn der durch Menschen autorisierten Ungleichheit am Anfang des zweiten Teils seines Discours sinnbildlich mit demjenigen, der als Erster ein Stück Land einzäunte und dies erfolgreich gegenüber anderen als sein Eigentum behauptete. Unterstützt werde diese Entwicklung durch den Fortschritt des menschlichen Geistes, welcher der Ungleichheit zum gesellschaftlichen Konsens verhelfe. So fol‐ gert Rousseau: Wenn die Natur uns dazu bestimmt hat, gesund zu sein, so wage ich beinahe zu versichern, daß der Zustand der Reflexion ein Zustand wider die Natur und daß der Mensch, der nachsinnt, ein depraviertes Tier ist. 31 Reflexion und Vergesellschaftung sind nach Rousseau Maßstäbe des Verfalls und der Ungleichheit, da durch sie kapitalistische Besitzverhältnisse und korrumpierte Konkurrenzsituationen festgelegt werden, welche unschwer mit den durchschnittlichen Lebensverhältnissen im absolutistischen Frank‐ reich zur Zeit Ludwigs XV. verglichen werden können. Nur in seinem anfänglichen, natürlichen Zustand verkörperte der Mensch die „wahrhafte Jugend der Welt“ 32 , die weder Eigentum noch politische/ moralische Un‐ gleichheit kannte. Das normative Modell dieser Uridylle entbehrt nicht einer gewissen Utopiebehaftung, denn um den natürlichen Menschen als kritischen Maßstab gegen den zivilisierten setzen zu können, muss - anders als bei Hobbes - ebenso bewusst wie spekulativ von allen Kulturtatsachen abstrahiert werden, die nach Rousseau den Nährboden aller politischen und moralischen Ungleichheit darstellen. So bleibt der Mensch im Naturzustand b) Kultur als Verderbnis 123 <?page no="124"?> 33 Vgl.: Jung, Geschichte der modernen Kulturtheorie, S. 29; Kronauer, U.: Gegenwelten der Aufklärung. Heidelberg 2003, S. 40f.; Fetscher, I.: Rousseaus politische Philosophie. Zur Geschichte des demokratischen Freiheitsbegriffs. Dritte, überarbeitete Auflage. Frankfurt am Main 1980, S.-27ff. 34 Voltaire an Jean-Jacques Rousseau, 30. August 1755. In: Rousseau, J.-J.: Korresponden‐ zen. Eine Auswahl. Übersetzung von Gudrun Hohl. Herausgegeben von Winfried Schröder. Leipzig 1992, S.-101. eine interessante, aber hypothetische Gestalt - als Gedankenexperiment fern jeglicher Kulturalität. 33 c) Kompensation durch Kunst Die zweiteilige Kultur- und Fortschrittskritik des streitsamen Genfer Bür‐ gers, die keine Chance zur Kompensation ankündigte, löste ein europaweites Echo aus. Während kritische Stimmen wie der Schriftsteller Guillaume-Tho‐ mas Raynal ihre zum Teil strikten Ablehnungen im Mercure de France veröffentlichten, antwortete Voltaire in einem Brief an Rousseau mehr pointiert als verständnisvoll: Nie hat man soviel Geist aufgeboten, um uns zu dummen Eseln zu machen. Man bekommt Lust, auf allen vieren zu gehen, wenn man Ihr Werk liest. Da ich jedoch seit mehr als sechzig Jahren diese Gewohnheit abgestreift habe, […] überlasse ich diesen natürlichen Gang denen, die seiner würdiger sind als Sie und ich. […] Ich stimme Ihnen zu, daß die Künste und Wissenschaften zuweilen viel Böses angerichtet haben. 34 Die unbedingte Voraussetzung für jede Form von authentischer Kulturkritik bildet ein nuanciertes Verständnis des Begriffs Kultur in Kombination mit der reflexiven Erkenntnis, dass es sich bei dieser Kritik um einen dynamischen Aushandlungsprozess handelt, der historischen und gesell‐ schaftlichen Kontexten unterliegt. Damit wird der notwendige Bezugspunkt für eine kritische Perspektive geschaffen, die über allgemeine Einsprüche gegen und Klagen Intellektueller über miserable Zustände in Staat und Gesellschaft hinausgeht. Im deutschsprachigen Raum hat die Herausbildung des Kollektivsingulars ‚Kultur‘ seit Pufendorf Verschriftlichung erfahren, doch noch über 100 Jahre später konnte Moses Mendelssohn, der Rousseaus 124 VI Genuss und Kritik im Zeitalter der Aufklärung <?page no="125"?> 35 Johann Jacob Rousseau, Bürgers zu Genf Abhandlung von dem Ursprunge der Ungleich‐ heit unter den Menschen, und worauf sie sich gründe: ins Deutsche übersetzt mit einem Schreiben an den Magister Leßing und einem Briefe Voltairens an den Verfasser vermehret von Moses Mendelssohn. Berlin 1756. 36 Mendelssohn, M.: Ueber die Frage: was heißt aufklären? In: Berlinische Monatsschrift 4/ 1784. Herausgegeben von Friedrich Gedike und Johann Erich Biester, S.-193. 37 Ibid., S.-194. 38 Ibid., S.-198. 39 Vgl. Kruse, W.: Die Französische Revolution. Paderborn 2005, S.-29f. 40 Vgl. Alt, P.-A.: Schiller. Leben - Werk - Zeit. Bd. 2: 1791-1805. München 2009, S. 55-61. zweiten Discours bereits 1756 ins Deutsche übersetzt hatte, 35 in seinem be‐ rühmten Kurzbeitrag Ueber die Frage: was heißt aufklären? in der Berlinischen Monatsschrift von 1784 anführen: „Die Worte Aufklärung, Kultur, Bildung sind in unsrer Sprache noch neue Ankömmlinge.“ 36 Aufklärung und Kultur waren nach Mendelssohn Modifikationen menschlicher Vergemeinschaf‐ tung, die in ihrer Verbindung zur Bildung der Menschen führten und die Bemühungen widerspiegelten, „ihren geselligen Zustand zu verbessern“ 37 . Konfliktpotenziale ergeben sich, wenn „die Aufklärung, die der Menschheit unentbehrlich ist, sich nicht über alle Stände des Reichs ausbreiten könne, ohne daß die Verfassung in Gefahr sei, zu Grunde zu gehen.“ 38 Dieses Konfliktpotenzial zeigte sich in der Französischen Revolution. Ihr Verlauf hatte mit den Septembermorden von 1792 eine erschütternde Wen‐ dung vollzogen, die einem ansteigenden Radikalisierungsprozess glich. 39 Die Konstituante schuf mit der Guillotine als standesneutrales Hinrichtungsin‐ strument ein anderes Verständnis von Gleichheit, das zum Symbol der Terrorherrschaft aufstieg und das Ende des Zeitalters der Aufklärung ein‐ leitete. Im Hintergrund dieser Ausschreitungen der Massen werden manche auswärtige Philosophen und Schriftsteller die französischen Zeitumstände mit sicherem Abstand und neugierigem Abscheu beobachtet haben - so etwa der aus Marbach am Neckar stammende Friedrich Schiller. 40 Als widerspenstiger Zögling der Karlsschule, einer Militärakademie mit künst‐ lerischer Vertiefung in Stuttgart, wandte sich Schiller früh der Literatur zu. Seit seinem sehr erfolgreichen literarischen Debut Die Räuber (1780/ 81), das mit politisch destabilisierenden Modellen von bürgerlichen Freiheits- und Verwirklichungsvorstellungen hantierte, die der Zensur zum Opfer fielen, um sie bühnenreif zu machen, erfüllte er die Rolle des wirtschaftlich und sozial unsteten Theaterdichters. Nach Stationen in Mannheim, Leipzig, Dresden und Weimar sowie ersten Versuchen in historisch-wissenschaftli‐ chen Abhandlungen nahm er 1789 eine Professur für Geschichte an der c) Kompensation durch Kunst 125 <?page no="126"?> 41 Friedrich Schiller an Christian Gottfried Körner, 5. Mai 1793. In: Schiller, F.: Schillers Briefe in zwei Bänden: Erster Band. Ausgewählt und erläutert von Karl-Heinz Hahn. Berlin/ Weimar 2 1982, S.-356. Universität in Jena an. Die geringen Kolleggelder und Schillers sowohl schlechte Hand für finanzielle Angelegenheiten als auch seine angeschla‐ gene Gesundheit brachten ihn mehrfach in eine wirtschaftliche Notlage. Ende 1791 wurde ihm schließlich durch zwei dänische Förderer, Prinz Friedrich von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg und Handels‐ minister Ernst Heinrich von Schimmelmann, ein dreijähriges Stipendium zugesagt, das ihm ein materiell abgesichertes Arbeiten ermöglichen sollte. Die Phase der Radikalisierung hatte in Paris inzwischen zum Prozess gegen König Ludwig XVI. geführt. Schiller verfolgte hierbei das naive An‐ sinnen, eine Verteidigungsrede für den König vorzubereiten, um damit nach Paris zu reisen und vor die Nationalversammlung zu treten. Als seinem theo‐ retischen Einsatz für die Sache des Königs dessen Enthauptung zuvorkam, beschwor er in einer Serie von Briefen an seinen Mäzen von Augustenburg die geahnten, aber unverwirklichten Möglichkeiten von Kunst und Kultur, die den vagen, utopischen Ausgangspunkt für eine moderne Gesellschaft bilden konnten. Nachdem die Originale der sogenannten Augustenburger Briefe bei einem Brand vernichtet worden waren, entschloss sich Schiller zu einer Überarbeitung in Form von 27 Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Sie erschienen in drei Teilen 1795 in der von ihm selbst herausgegebenen Zeitschrift Die Horen und waren nunmehr dezidiert an die öffentliche Leserschaft gerichtet. Nach Vorlesungen über die Ästhetik im Wintersemester 1792/ 93 und intensiven Kant-Studien schrieb Schiller an seinen Freund und mehrfachen Schuldentilger Christian Gottfried Körner im Mai 1793: Über meine Schönheitstheorie habe ich unterdessen wichtige Aufschlüsse erhal‐ ten, und ein bejahendes objektives Merkmal der Freiheit in der Erscheinung ist nun gefunden. Ich habe zugleich meinen Kreis erweitert und meine Ideen auch an der Musik geprüft […]. 41 Vermutlich als Reaktion auf den enttäuschenden Verlauf schlugen Schillers neue Ideen über das Schöne in die kulturkritische Anforderung einer ästhetischen Erziehung des Menschen um, die zunächst stark an Rousseau erinnert. Der Mensch seiner Gegenwart lebe, so Schiller in Über die ästheti‐ sche Erziehung des Menschen, in einem Zwiespalt zwischen natürlicher und 126 VI Genuss und Kritik im Zeitalter der Aufklärung <?page no="127"?> 42 Schiller, F.: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Mit den Augustenburger Briefen herausgegeben von Klaus L. Berghahn. Stuttgart 2008, S.-23. 43 Ibid., S.-139. 44 Ibid., S.-22. 45 Vgl. Alt, Schiller, S.-146. kultureller Konstitution. Die vertrauten Bewährungsfelder der bürgerlichen Gesellschaft (Ökonomie, Recht, Politik, Erziehung) böten keine sinnvollen Entwicklungsräume für die Bildung des Individuums. Durch die zuneh‐ mende Funktionalisierung im bürokratischen Gefüge des Staates habe sich der Mensch selbst entfremdet - „Der todte Buchstabe vertritt den lebendigen Verstand […]“ 42 - und verursache den zum Scheitern verurteilten Zivilisati‐ onsprozess. Mit den bürgerkriegsgleichen Zuständen in Paris sah Schiller die Maximen kultureller Entwicklung pervertiert. An seinen fürstlichen Gönner schrieb er im Juli 1793, worauf seine spätere Kulturkritik in nuce aufbaute: Wenn die Kultur ausartet, so geht sie in eine weit bösartigere Verderbniß über, als die Barbarey je erfahren kann. Der sinnliche Mensch kann nicht tiefer als zum Thier herabstürzen; fällt aber der aufgeklärte, so fällt er bis zum Teuflischen herab, und treibt ein ruchloses Spiel mit dem heiligsten der Menschheit. 43 Der Grundgedanke dieser Argumentation wird in den Briefen fortgeführt, wenn er schreibt: „Die Kultur selbst war es, welche der neuern Menschheit diese Wunde schlug.“ 44 Wenngleich damit das kulturkritische Potenzial ausgeschöpft scheint, schlägt Schiller entgegen der Kunst- und vor allem Theaterfeindlichkeit Rousseaus eine Korrektur der gegebenen Verhältnisse vor, die seinen regen Appell an die Kunst ermöglicht: Um dem menschlichen Dasein eine Gleichberechtigung von Sinnlichkeit und Vernunft - in den späteren Briefen: Gefühl und Verstand, Stoff- und Formtrieb - zu bieten, bedürfe es einer ästhetischen Erziehung, durch die jeder Mensch im zweck‐ freien Spiel zur wahren Kultur seiner selbst gelänge. 45 Bereits 1784 hatte Schiller in einer Rede vor der kurpfälzischen Deutschen Gesellschaft zu Mannheim auf die hohe Bedeutung spezieller Kunstrezeption hingewiesen: die Schaubühne als moralische Anstalt. Im Musiktheater des 18. Jahrhunderts konnte die politisch-didaktische Wirkungsmöglichkeit der Bühne benutzt werden, um aufklärerische Ideen oder Verhaltensideale an ein großes Publikum zu übermitteln. Emphatisch überhöhte Schiller dieses Wirkungsideal, indem er darauf aufmerksam machte, dass die Schaubühne als gemeinschaftlicher Kanal zu bezeichnen sei, „[…] in welchen von dem c) Kompensation durch Kunst 127 <?page no="128"?> 46 Schiller, F.: Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? Eine Vorle‐ sung, gehalten zu Mannheim in der öffentlichen Sitzung der kurpfälzischen deutschen Gesellschaft am 26sten des Junius 1784 von F. Schiller, Mitglied dieser Gesellschaft, und herzogl. weimarschen Rat. In: Thalia - Erster Band, Heft 1, Leipzig 1785, S.-21. 47 Ibid., S.-26f. 48 Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S.-62f. 49 Vgl. Bollenbeck, G.: Die konstitutive Funktion der Kulturkritik für Schillers Briefe Über die ästhetische Erziehung. In: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte. Bd. 99/ 2005, S.-240f. 50 Vgl. Berg, S.: Ein Zwischen denken. Überlegungen zum Spiel in Schillers Über die ästhetische Erziehung. In: Berg, S./ von Sass, H. (Hgg.): Spielzüge. Zur Dialektik des Spiels und seinem metaphorischen Mehrwert. Freiburg/ München 2014, S.-164f. denkenden bessern Theile des Volks das Licht der Weißheit herunterströmt, und von da aus in milderen Stralen durch den ganzen Staat sich verbreitet.“ 46 Das leuchtende göttliche Auge aus Vicos Frontispiz wird als Lichtmetapher der Aufklärung bei Schiller durch den Schauspieler ersetzt, der auf der Bühne Wahres zu berichten wisse. Schiller beschloss seine Ausführungen mit dem Hinweis auf das utopische Potenzial dieser Form der Kunstrezeption: […] so empfängt uns die Bühne - in dieser künstlichen Welt träumen wir die wirkliche hinweg, wir werden uns selbst wieder gegeben […] Jeder Einzelne genießt die Entzückungen aller; die verstärkt und verschönert aus hundert Augen auf ihn zurück fallen, und seine Brust giebt jezt nur Einer Empfindung Raum - es ist diese: ein Mensch zu seyn. 47 Wenn die Rezeption das Ganze des Menschseins beeinflussen soll, erhob Schiller die Kunst in die Sphäre eines kategorischen Imperativs. Zehn Jahre und eine gescheiterte Revolution später vertiefte er in Über die ästhetische Erziehung des Menschen seine Ausführungen, wenn es an einer viel zitierten Stelle im 15. Brief heißt: […] der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt. 48 Auch Kant benutzte in seiner Kritik der Urteilskraft den Spielbegriff, be‐ nannte damit aber freies Spiel von Verstand und Einbildungskraft bei der Betrachtung des Schönen im Zusammenhang mit ästhetischen Urteilen. 49 Bei Schiller verbürgt dieser Begriff den Führungsanspruch der Kunst, da durch eine ästhetische Erziehung, wie sie für ihn ausschließlich autonome Kunst gewährt, jener Spieltrieb erreicht werden könne, der von existenzi‐ ellen Nöten und revolutionären Anstiftungen befreit scheint. 50 Durch die 128 VI Genuss und Kritik im Zeitalter der Aufklärung <?page no="129"?> 51 Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S.-84. 52 Vgl. Hofmann, M.: Aufklärung: Tendenzen - Autoren - Texte. Stuttgart 1999, S. 10; Rancière, J.: Ist Kunst widerständig? Herausgegeben, übersetzt, um ein Gespräch mit Jacques Rancière und ein Nachwort erweitert von Frank Ruda und Jan Völker. Berlin 2008, S.-42. 53 Vgl. Zelle, C.: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795). In: Luserke-Jaqui, M. (Hrsg.): Schiller Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart/ Weimar 2011, S.-422. aufgehobene Entgegensetzung von Sinnlichkeit und Vernunft könne der Mensch aus sich selbst machen, was er will, womit „ihm die Freyheit, zu seyn, was er seyn soll, vollkommen zurückgegeben ist.“ 51 Lässt sich dieser ästhetische Gemeinsinn auf eine kunstempfängliche Gesellschaft übertragen, so hieße dies, alle kultur- und zivilisationskritischen Konflikte zwischen Individuen und partikularen Gruppen im Sinne einer höheren Synthese einzulösen, die als Bedingung moralischer Vollkommenheit den Ruin aller politischen Hierarchien und sozialen Zweckbindungen bedeuten würde 52 - in einem ästhetischen Staat, wie er bei Schiller zum anthropolo‐ gischen Ziel gesetzt, aber als Sozialmodell in der Praxis die empirische Geltung unterschlägt, schließlich als gesellschaftspolitischer Allgemeinwille einer gelungenen Vergemeinschaftung von Menschen in der Französischen Revolution verspielt wurde. 53 c) Kompensation durch Kunst 129 <?page no="131"?> 1 Vgl. Hobsbawm, E.: Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780. Aus dem Englischen von Udo Rennert. Frankfurt/ New York 2005, S.-121. 2 Bauer, F.: Das lange 19. Jahrhundert (1789-1917). Profil einer Epoche. Stuttgart 2006, S.-51. VII Kulturphilosophie - zwischen Industrialisierung und Naturwissenschaft a) Industrie - Technik - Kunst Die ausgearteten französischen Sozialisierungsversuche im Stil von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit mündeten in ein napoleonisches Zwischenspiel, welches die geopolitische Landkarte Europas neu skizzierte. Auf den Res‐ taurationsversuch beim Wiener Kongress folgten Übungen in programma‐ tischer Mythologie, 1 die vermeintliche Zugehörigkeiten zu Sprach- und Kulturgemeinschaften (Ethnien) neu definierten. Ihre unterschiedlich re‐ präsentativen Formulierungen brachten jenes Nationalitätsprinzip hervor, welches - zusammen mit dem Rückgang adeliger Grundherrschaft und dem Anstieg politischer Mitbestimmung breiterer Bevölkerungskreise - als ein gesellschaftspolitisch bestimmendes Charakteristikum des 19. Jahrhunderts bezeichnet werden kann. Die Nation bzw. der Staat als politisch-territoriale Institution stellte in Zentraleuropa ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun‐ derts den Rahmen für den Prozess einer Integration, die zum Teil auf unterschiedlichen „Gemengelagen von ethnischen, sprachlich-kulturellen oder historisch-politischen Zusammengehörigkeitsempfindungen und Zu‐ gehörigkeitserfahrungen“ 2 basierte. Während Kodifikationen wie der Code civil von 1804 in Frankreich oder das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch von 1812 in Teilen der Habsburgermonarchie zumindest auf dem Papier einen vereinheitlichten rechtlichen Status aller Untertanen versprachen, konnte dem ansteigenden, zunächst spezifisch bürgerlichen Bedürfnis nach diskursiver Selbstverständigung und nach Unterstützung für kulturelle Wertvorstellungen durch die Gründung eines Vereins nachgegangen wer‐ den. Dieser ging als interessengebundener Ausläufer der aufklärerischen <?page no="132"?> 3 Vgl. Nipperdey, T.: Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Eine Fallstudie zur Modernisierung I. In: Ders. (Hrsg.): Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 18). Göttingen 1976, S.-180ff. 4 Vgl. Maurer, Kleine Geschichte Englands, S.-319-324. 5 Vgl. Wendt, R.: Vom Kolonialismus zur Globalisierung. Europa und die Welt seit 1500. Paderborn 2007, S.-230. 6 Vgl. Judson, P.: Habsburg. Geschichte eines Imperiums. 1740-1918. Aus dem Englischen von Michael Müller. München 2017, S.-156. 7 Vgl. Bauer, Das lange 19.-Jahrhundert, S.-64f. Sozietätsbewegungen mit der beginnenden Emanzipation vom obrigkeitli‐ chen Staat einher. 3 Wirtschaftlich zeichnete sich im 19. Jahrhundert ein Übergang von der Agrarzur Industriegesellschaft ab. Mit dem Einsetzen der industriellen Revolution hatte Großbritannien seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert in den Bereichen der mechanisierten Baumwollspinnerei, der Metallverarbei‐ tung und der Energietechnik eine Vorreiterrolle eingenommen. 4 Das Empire schöpfte dabei aus dem wirtschaftlichen Potenzial, das ihm nicht zuletzt die kolonialen Überseeaktivitäten der letzten zwei Jahrhunderte boten. 5 Während man am Kontinent wie etwa im Habsburgerreich am Beginn des 19. Jahrhunderts noch bemüht war, einen Schienenstrang für die erste Pferdeeisenbahn zu bauen, 6 setzten Englands Bestrebungen zur Revolution des Verkehrswesens einen Initialfaktor frei, der seit den frühesten Zeiten der Fortbewegung auf die organische Beschränkung von Mensch und Tier rückgebunden war: die per Dampfmaschine angetriebene Lokomotive. 7 1849 fasste die englische Royal Society for the Encouragement of Arts, Manufactures & Commerce den Plan, die neuen, vor allem technischen Errungenschaften des Industriezeitalters - wie etwa den Telegrafen oder Textil- und Werkzeugmaschinen - in einer großen, internationalen Aus‐ stellung zu präsentieren, die zugleich die wirtschaftliche Vorreiterrolle Englands unterstreichen sollte. Die als Weltausstellung konzipierte Great Exhibition of the Works of Industry of All Nations eröffnete im Mai 1851 im Londoner Hyde Park auf einer Ausstellungsfläche von knapp 10 Hektar und verzeichnete bis zur Schlussveranstaltung im Oktober etwa sechs Millionen Besucher. Wahrzeichen dieses nach Nationen gegliederten Wirtschafts- und Ideenwettbewerbs war ein aus Eisen- und Glaselementen errichteter Kristallpalast (Abb. 8), der zugleich als Ausstellungsraum fungierte. 132 VII Kulturphilosophie - zwischen Industrialisierung und Naturwissenschaft <?page no="133"?> 8 Ein Besuch in London während der großen Industrie-Ausstellung. Ein verläßlicher Führer und Wegweiser für den deutschen Reisenden aus den besten Quellen bearbeitet. Mit einer Außenansicht und einem Plane des Innern des Ausstellungsgebäudes. Wien 1851, S.-5. 9 Vgl. im Folgenden: Hildebrand, S.: Gottfried Semper. Architekt und Revolutionär. Darmstadt 2020, S.-110-119. Abb. 8: Eingangsbereich des Crystal Palace (1851) In einem deutschsprachigen Ausstellungsführer konnte man bereits auf den ersten Seiten den hohen touristischen Attraktionswert nachlesen: England, das gewerbfleißigste Land der Erde, hat den großen Gedanken erfaßt, eine bisher nie versuchte, nie angestrebte, vielleicht nie gedachte Vereinigung von Hervorbringungen der industriellen Thätigkeit der ganzen civilisirten Welt auf einem einzigen Puncte zu bewerkstelligen. 8 Einer der zahlreichen Teilnehmer war der Architekt und Kunsttheoretiker Gottfried Semper, 9 der als Verfolgter der Revolution im Deutschen Bund aus Dresden über viele Umwege im Herbst 1850 nach London gekommen a) Industrie - Technik - Kunst 133 <?page no="134"?> 10 Vgl. Mallgrave, H. F.: Gottfried Semper and the Great Exhibition. In: Bosbach, F./ Davis, J. R. (Hgg.): Die Weltausstellung von 1851 und ihre Folgen (= Prinz-Albert-Studien, Bd. 20). München 2002, S. 308-312; Hildebrand, S.: „nach einem Systeme zu ordnen, welches die inneren Verbindungsfäden dieser bunten Welt am besten zusammenhält“. Kulturgeschichtliche Modelle bei Gottfried Semper und Gustav Klemm. In: Karge, H. (Hrsg.): Gottfried Semper - Dresden und Europa. Die moderne Renaissance der Künste. Akten des Internationalen Kolloquiums der Technischen Universität Dresden aus Anlass des 200. Geburtstages von Gottfried Semper. München/ Berlin 2007, S.-245f. 11 Semper, G.: Wissenschaft, Industrie und Kunst. Vorschläge zur Anregung nationalen Kunstgefühls. In: Ders.: Wissenschaft, Industrie und Kunst. Und andere Schriften über Architektur, Kunsthandwerk und Kunstunterricht. Mit einem Aufsatz von Wilhelm Mrazek. Ausgewählt und redigiert von Hans M. Wingler. Mainz 1966, S.-28. 12 Vgl. Konersmann, R.: Kulturphilosophie zur Einführung. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Hamburg 2010, S.-20f. war. An sich verfolgte Semper die sichtbaren Errungenschaften der Ausstel‐ lung als punktuelle Repräsentation der Epoche mit Interesse. So erhielt er im Rahmen der Ausstellung von den Organisatoren den Auftrag, die Einrichtung von vier Ländersektionen zu gestalten. Als er allerdings im November 1851 nach privater Anregung die auf einer frühen Rezension aufbauende Broschüre Wissenschaft, Industrie und Kunst. Vorschläge zur Anregung nationalen Kunstgefühls veröffentlichte, hatte er eine verhaltene Sympathie für die Ausstellung mitzuteilen. Das mediale Interesse an den versammelten Industrieerzeugnissen war nach wenigen Wochen wieder verflacht und schien eine - nach heutigen Maßstäben - Effekthascherei zu bezeugen, die den nächsten ergreifenden Begebenheiten entgegeneilt. Semper hatte sogar einen an Gustav Klemms kulturwissenschaftlich-mu‐ sealen Ordnungsmodellen orientierten Plan zu einer kulturgeschichtlichen Sammlung als Gegenvorschlag zur undefinierten Masse an Exponaten, die in London aus allen Teilen der Welt ausgestellt worden war, konzipiert. 10 Was jedoch im Rahmen der Ausstellung, so in der Broschüre ausgeführt, die Rolle von Industrie, Kunst und Wissenschaft anbelange, so liege ihre Herausfor‐ derung in der „Beantwortung jener allgemeineren kulturphilosophischen Fragen […], die das eigentliche Thema sind, wofür es sich rechtfertigt, so gewaltige und kostspielige Mittel in Bewegung gesetzt zu haben.“ 11 Die eigentliche Botschaft umrahmte er mit dem neuen Adjektiv kultur‐ philosophisch, das Voltaires in die Vergangenheit gerichteten Blick der philosophie de l’histoire als Suche nach einer Leitidee der Menschheitsent‐ wicklung zugunsten der aktuellen Zwischenfrage ablöste, wie die industriel‐ len Produktionsmöglichkeiten neue Bedingungen künstlerischer Gestaltung erschließen könnten. 12 Die opulente Zusammenführung der Weltproduktion 134 VII Kulturphilosophie - zwischen Industrialisierung und Naturwissenschaft <?page no="135"?> 13 Semper, Wissenschaft, Industrie und Kunst, S.-32. 14 Vgl. Leonhard, J.: John Ruskin. Ästhetik und Gemeinschaft im Zeitalter der ambivalen‐ ten Moderne. In: Christophersen, A./ Voigt, F. (Hgg.): Religionsstifter der Moderne: von Karl Marx bis Johannes Paul II. München 2009, S. 100f.; Hauser, A.: Sozialgeschichte der Kunst und Literatur. München 1983, S.-870ff. brachte nicht nur einen Überblick über den technischen Fortschritt, über den man sich wie auf einem Jahrmarkt unverbindlich informieren konnte. Es konnte - ein Jahrhundert vor Theodor Wiesengrund Adorno und Max Horkheimer - zudem keinen Zweifel mehr an der technisch-wissenschaftli‐ chen Durchdringung von Kunst und Kultur geben, wenn Granitmonumente mit technisch ungeahnter Leichtigkeit bearbeitet wurden und Londoner Illuminationen altbewährte Kerzen sowie Öllampen der Vergangenheit zuordneten. Der Kristallpalast selbst stand beispielgebend dafür, war er doch ein Fabrikat von vorgefertigten Teilen aus Gusseisen und Glas, die an beliebigen Orten und für beliebige Zwecke auf- und wieder abgebaut werden konnten. Die darin präsentierten Erzeugnisse waren weit mehr als lediglich Industrieobjekte für staunende Besucher - sie bezeugten die Reflexion über die gesellschaftliche Bedingtheit der Kunst. Die Maschine näht, strickt, stickt, schnitzt, malt, greift tief in das Gebiet der menschlichen Kunst und beschämt jede menschliche Geschicklichkeit. 13 Ein Zeitgenosse Sempers, der englische Kunsthistoriker und Sozialreformer John Ruskin, machte in vergleichbarer Argumentation auf den Zusammen‐ hang von mechanischer Produktionsweise und Entfremdung des Künstlers zu seinem eigenen Erzeugnis aufmerksam. 14 In seinem 1850 erschienenen Frühwerk zur Architekturtheorie, den Stones of Venice, verlegte er seine Ansichten über das Ideal des kreativ arbeitenden Handwerkers im Gegen‐ satz zur maschinellen Reproduktionsfunktion des Industriezeitalters in das venezianische Seereich des 15. Jahrhunderts. In den 1870er-Jahren forcierte er diese kultur- und sozialkritischen Positionen in seinen Lectures on Art, die er im Rahmen seiner Gastprofessur als Slade Professor of Fine Art an der Universität Oxford hielt, als er wie Semper von der Diskrepanz zwischen technischer Entwicklung, künstlerischer Intention und Marktanforderun‐ gen sprach: Fast die ganze Methode und Hoffnung unserer modernen Lebensweise beruht im Grunde auf der irrtümlichen Voraussetzung, dass wir Mechanismus an Stelle der Geschicklichkeit, Photographie an die Stelle der Malerei, Gusseisen an die a) Industrie - Technik - Kunst 135 <?page no="136"?> 15 Ruskin, J.: Vorträge über Kunst. In: Ders.: Ausgewählte Werke. Bd. 4. Aus dem Engli‐ schen von Wilhelm Schölermann. Leipzig 1901, S.-101. 16 Vgl. Ruskin, Vorträge über Kunst, S.-9-11. 17 Semper, Wissenschaft, Industrie und Kunst, S.-40. 18 Ibid., S.-43. Stelle der Schmiedearbeit setzen könnten! Darin besteht der Hauptglaube oder vielmehr Hauptaberglaube des 19.-Jahrhunderts. 15 Wenn in den staatlichen Kunstakademien und Industrieschulen die ebenso praktische wie profunde Ausbildung der Künstler zugunsten des Einflusses von Kapital und kaufmännischem Denken für Massenanwendungen in den Hintergrund gerät, so wird nach Ruskin deutlich, dass das Mäzenatentum einen schädlichen Einfluss auf die Kunstschulen ausübt. Doch sieht er das Unvermögen bei den Künstlern selbst, wenn sich diese von der oberfläch‐ lichen Kunstgönnerschaft einnehmen lassen. 16 Semper wiederum ergänzte zuspitzend: „Alles ist auf den Markt berechnet und zugeschnitten.“ 17 Die Beziehung zwischen Kunst und Künstler gerät damit unweigerlich ins inhaltsleere Abseits des Marktkapitalismus, das den idealisierten Renais‐ sancekünstler der Vergangenheit zuweist: Ein für den Markt bestimmtes Kunstwerk kann diese [die Beziehung, Anm. GK] nicht haben, noch weit weniger als ein Industriegegenstand, weil bei diesem die künstlerische Beziehung doch wenigstens einen Halt in dem Gebrauche hat, der davon voraussetzlich gemacht werden soll, das andere aber ganz für sich allein dasteht und nur den Zweck des Gefallens und Anlockens der Käufer in stets unerfreulicher Weise verrät. 18 Die fokussierte Steigerung des Absatzmarktes lässt Eigenheiten des zu be‐ arbeitenden spezifischen Materials sowie des Wesens menschlicher Kunst‐ fertigkeit in den Hintergrund treten und fordert die Analysefähigkeit materialer Kultur heraus: durch die dualistische Trennung von Kunst und Kunstindustrie, ideeller und gewerblicher Kunst, Kunstkenner und Kitschkäufer. 136 VII Kulturphilosophie - zwischen Industrialisierung und Naturwissenschaft <?page no="137"?> 19 Watson, Ideen, S.-985-988. 20 Vgl. Engels, E.-M.: Charles Darwin. München 2007, S.-19-38. b) Naturwissenschaft - Geisteswissenschaft - Kulturwissenschaft Der Anstieg der technischen Beherrschbarkeit der Natur korrelierte mit dem Bedeutungsgehalt der Naturwissenschaft, die das Selbstverständnis des Menschen veränderte. Während im 18. Jahrhundert noch Bezeichnungen wie Naturphilosophie oder Naturgeschichte gegolten hatten, setzte sich seit den 30er-Jahren des 19. Jahrhunderts der Begriff „Naturwissenschaft“ durch, der vor allem durch Arbeiten in der Gesteins- und Fossilienforschung, die eine kreationistische Weltsicht deutlicher denn je anzweifelten, populär wurde. 19 Eng damit verbunden ist das Wirken des britischen Naturforschers Charles Darwin. 20 Darwin wuchs in einem liberalen, an moderner Naturgeschichte interes‐ siertem Elternhaus in Shrewsbury an der Grenze zu Wales auf. Nach einem ähnlich wie bei Herder misslungenen Anlauf, Medizin zu studieren, begann er ein Theologiestudium in Cambridge, das er als einzige akademische Aus‐ bildung zum Abschluss brachte. Ende 1831 bot sich dem jungen Theologen die Möglichkeit, sich durch die Teilnahme an einer fünfjährigen Reise nach Südamerika als Naturforscher zu bewähren. Diese Reise an der H. M. S. Bea‐ gle bedeutete den Startschuss einer über 25 Jahre andauernden, in mehreren Notizbüchern zusammengetragenen durchdringenden Beschäftigung mit Fragen zur Variationsbreite tierischer und menschlicher Unterschiede, zur Fortpflanzung und zum Aussterben von Arten sowie zu deren Abstammung. Seine Ansichten über die Entstehung der Pflanzen- und Tierarten durch Variation und Selektion veröffentlichte Darwin 1859 im binnen Kurzem bekanntesten wissenschaftlichen Werk dieser Zeit: On the Origin of Species by Means of Natural Selection. Es beinhaltete die revolutionäre Theorie, dass der Ursprung von Leben keinen Schöpfungsplan voraussetzte und dass der Kampf um das Dasein über lange Zeit ohne den Menschen stattgefunden hatte. In The Descent of Men, and Selection in Relation to Sex (1871) und On the Expression of the Emotions in Man and Animals (1872) weitete Darwin seine Theorie auf Fragen der menschlichen Abstammung und tierischen Verwandtschaft aus. Bereits Rousseau hatte in der zehnten Anmerkung zu seinem zweiten Discours den in Wortwahl und Schlussfolgerung kühnen Zweifel geäußert, ob jene Lebewesen, die in den kolonialen Reiseberichten b) Naturwissenschaft - Geisteswissenschaft - Kulturwissenschaft 137 <?page no="138"?> 21 „Alle diese Beobachtungen über die Varietäten [sic! ], die tausend Ursachen in der menschlichen Art hervorbringen können und tatsächlich hervorgebracht haben, lassen mich zweifeln, ob verschiedene den Menschen ähnliche Lebewesen, die von den Reisen‐ den ohne lange Prüfung für Tiere gehalten wurden […], nicht in Wirklichkeit wahrhafte wilde Menschen waren, deren Rasse […] sich noch im anfänglichen Naturzustand befand.“ Siehe: Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, S. 326f.; Weigel, S.: Genea-Lo‐ gik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaften. München 2006, S.-215-220. 22 Vgl. Frank, M.: Andere Völker, andere Zeiten. Das evolutionistische Narrativ in den Humanwissenschaften, 1750-1930. In: Höcker, A./ Moser, J./ Weber, P. (Hgg.): Wissen. Erzählen. Narrative der Humanwissenschaften. Bielefeld 2006, S. 133f.; Dupré, J.: Darwins Vermächtnis. Die Bedeutung der Evolution für die Gegenwart des Menschen. Aus dem Englischen von Eva Gilmer. Frankfurt am Main 2009, S.-61f. 23 Darwin, C.: The descent of man, and selection in relation to sex. Vol. 1. London 1871, S.-3. 24 Vgl. Darwin, The descent of man, S.-199. 25 Während die üblichen Lebensbaummodelle die Unabdingbarkeit der Richtung als vor‐ gegebenen Plan zeichneten und den Menschen als Krone der Schöpfung - nicht selten mit dem Adel in den Wipfeln - darstellten, favorisierte Darwin zur zeichnerischen Darstellung der Evolution die Koralle, um alle (ausgestorbenen) Arten in einem sich entwickelnden Prozess in horizontal geschichteten Zeitspannen einzutragen. Siehe: Bredekamp, H.: Darwins Korallen. Frühe Evolutionsmodelle und die Tradition der Naturgeschichte (= Kleine kulturwissenschaftliche Bibliothek, Bd. 73). Berlin 2 2006, S.-71. als Affen bezeichnet wurden, nicht doch Menschen ohne kulturelle Einflüsse gewesen sein könnten. 21 Darwins Interesse war jedoch weniger an Verfalls‐ geschichten von fiktiven idealen Naturzuständen gebunden, sondern an eine naturwissenschaftliche Hinterfragung der exponierten Stellung des Menschen 22 - so etwa in der Schrift von 1871: The conclusion that man is the co-descendant with other species of some ancient, lower, and extinct form […]. 23 Entgegen späteren Vereinnahmungen, die aus seiner naturwissenschaftlich begründeten Entwicklungslinie des survival of the fittest eine Geschichtsi‐ deologie der Rassenhygiene ableiten wollten, machte Darwins Vermutung, dass sich der Mensch in Afrika von mit Affen gemeinsamen früheren Formen entwickelt habe, 24 diesen zu einem Produkt der Evolution. 25 Wie andere Tier- und Pflanzenarten habe sich der Mensch in einem der biblischen Ursprungs‐ geschichte entgegenstehenden biologischen Programm schrittweise bis zu den ersten kulturellen Initialzündungen weiterentwickelt. Damit kann auf die ideengeschichtliche Verknüpfung mit Herders theologisch hinterlegter 138 VII Kulturphilosophie - zwischen Industrialisierung und Naturwissenschaft <?page no="139"?> 26 Vgl. Sarasin, P.: Die Pfauenfedern der Kulturwissenschaft. Die Genealogie der Zeichen bei Charles Darwin. In: Zeitschrift für Ideengeschichte. 3/ 2009, S. 69ff.; Menninghaus, W.: Biologie nach der Mode. Charles Darwins Ornament-Ästhetik. In: Fischer, E. P./ Wiegandt, K. (Hgg.): Evolution und Kultur des Menschen. Frankfurt am Main 2010, S.-223-226. 27 Darwin, The descent of man, S.-142. Natur- und Geschichtsphilosophie hingewiesen werden: begründet in einem gemeinsamen Ursprung, ist sich alles Dasein gleich. Was den Evolutionsschub zum tool-making animal und späteren Homo sapiens begünstigte, veranschaulichte Darwin anhand der geschlechtlichen Zuchtwahl im zweiten und dritten Teil seiner Abhandlung. Um die evolu‐ tionäre Ausbildung von körperlichen Ornamenten bei Tieren zu erklären, ergänzte er den Vorgang der natural selection, der von den auf der Erde unterschiedlichen Existenzbedingungen vorgegeben wird, mit dem Prinzip der sexual selection zwischen Männchen und Weibchen, welches die aktive ästhetische Wertschätzung (glanzvolles Gefieder, fitter Körper, roter Por‐ sche) als genealogische Begründung von Kultur darlegt: Im Prozess der Evolution haben sich die bevorzugten körperlichen Merkmale, die für den praktischen Überlebenszweck eher hinderlich waren, zu arbiträren Zeichen weiterentwickelt, die in ihrer Bedeutung über eine Eigenlogik verfügen, die artspezifisch ist. 26 An diesem Punkt, wenn sich Adaptionen an natürliche Existenzbedingungen mit der Eigengesetzlichkeit ästhetischer Präferenzen kreuzen, wird ersichtlich, dass das klassische Oppositionspaar Natur und Kultur nicht mehr als ein kulturelles Konstrukt ist. Natur und Kultur ver‐ schwimmen zu einem Zeichenprozess, der kein Alleinstellungsmerkmal des menschlichen Geistes darstellt, sondern eingebettet ist in eine wechselsei‐ tige Beziehung zwischen Variation und Selektion - sowohl unter Menschen als auch unter Tieren. Wie schließlich der Mensch seine speziellen, ihn von den anderen Tieren unterscheidenden Fähigkeiten (τέχνη) ausbilden konnte, erklärte Darwin durch eine Theorie der anatomischen Neuorganisation, die bereits von Herder und anderen beschrieben, aber erst Jahrzehnte später bewiesen werden sollte: „[…] an advantage to man to have his hands and arms free and to stand firmly on his feet […].“ 27 Auf den Bedeutungsanstieg der Naturwissenschaften und ihrer empi‐ rischen Methode folgte in den Geisteswissenschaften ein Akt der Selbst‐ b) Naturwissenschaft - Geisteswissenschaft - Kulturwissenschaft 139 <?page no="140"?> 28 Vgl. Hamann, J.: Der Preis des Erfolges. Die „Krise der Geisteswissenschaften“ in feldtheoretischer Perspektive (= Bamberger Beiträge zur Soziologie, Bd. 3). Bamberg 2009, S.-73ff. 29 Vgl. Oakes, G.: Die Grenzen kulturwissenschaftlicher Begriffsbildung. Heidelberger Max Weber-Vorlesungen 1982. Frankfurt am Main 1990, S.-49. 30 Vgl. Jung, Geschichte der modernen Kulturtheorie, S.-70. behauptung, 28 der durch den vorhandenen Konkurrenzdruck zu neuen methodischen Grundlegungen anspornte, die Vicos grundlegende Erkennt‐ nistheorie auf die Kulturwissenschaft übertrugen. Immanuel Kant hatte in seiner Kritik der reinen Vernunft jegliche wissenschaftliche Erkenntnis an das Paradigma von Isaac Newtons Naturphilosophie gebunden: Das Ziel aller wissenschaftlichen Bemühungen liege darin, universal gültige Gesetze zu finden, denen alle empirischen Phänomene unterliegen - die Geisteswissenschaften können mit ihren partikulären Aussagen zu histo‐ rischen Sachverhalten diesem Kriterium der Wissenschaftlichkeit nicht genügen. 29 Den Terminus „Kulturwissenschaft“ dürften erstmals Moritz von Lavergne-Peguilhen und der im Umfeld Sempers wirkende Ethnologe und Archäologe Gustav Klemm benutzt haben (siehe Einleitung). Während Klemm stärker um die Begründung einer Kulturwissenschaft auf Basis archäologischer Feldforschung mit Blick auf die Gesamtheit der materialen und geistigen Überlieferung, aber weniger um methodologische Zugänge in Abgrenzung zur Naturwissenschaft bemüht war, kam es im Gefolge einer erneuerten Kant-Exegese zur Bildung von zwei Hauptrichtungen: der Marburger Schule, der wir mit Ernst Cassirer als bekanntestem Vertreter später begegnen werden, und der Südwestdeutschen Schule mit Wilhelm Dilthey, Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert. Dilthey, Windelband und Rickert erarbeiteten eine veränderte wertthe‐ oretische Grundlegung der Kultur mit wissenschaftstheoretischen Maß‐ stäben und rationalen Begrifflichkeiten. 30 Nachdem Dilthey mit seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften 1883 die Methodendiskussion gewis‐ sermaßen eröffnet hatte, gab Windelband in seiner Straßburger Rektorats‐ rede über Geschichte und Naturwissenschaft (1894) den Anstoß für die weitere Differenzierung der spezifisch naturwie kulturwissenschaftlichen Denkformen. Der formale Charakter ihrer Erkenntnisziele zeige sich im Verhältnis des Allgemeinen zum Besonderen. In den Worten Windelbands: 140 VII Kulturphilosophie - zwischen Industrialisierung und Naturwissenschaft <?page no="141"?> 31 Windelband, W.: Geschichte und Naturwissenschaft. Rede zum Antritt des Rectorats der Kaiser-Wilhelms-Universität Straßburg. Straßburg 1894, S.-12. 32 Vgl. Fauser, M.: Einführung in die Kulturwissenschaft. 5., durchgesehene Auflage. Darmstadt 2011, S. 14; Perpeet, W.: Kulturphilosophie um die Jahrhundertwende. In: Brackert, H./ Wefelmeyer, F. (Hgg.): Naturplan und Verfallskritik. Zu Begriff und Geschichte der Kultur. Frankfurt am Main 1984, S.-389ff. 33 Vgl. Oakes, Die Grenzen kulturwissenschaftlicher Begriffsbildung, S.-71. Das wissenschaftliche Denken ist - wenn man neue Kunstausdrücke bilden darf - in dem einen Falle nomothetisch, in dem andern idiographisch. 31 Während der Naturwissenschaftler das Allgemeine in Form von Gesetzes‐ aussagen in seinen Gegenständen definiert (nomothetisch), verfährt der Kulturwissenschaftler, der nach Windelband vorwiegend historisch arbeitet, in einer Denkform, die das Einmalige, Originäre und Unwiederholbare erschließt (idiografisch). 32 Auf diese Differenz hinsichtlich der formalen Erkenntnisziele aufbauend, hielt Windelbands Schüler Rickert 1898 einen Vortrag in der Kulturwissenschaftlichen Gesellschaft in Heidelberg, um die methodologischen Anforderungen seines eigenen Forschungsfeldes zu vertiefen. Er suchte in Abgrenzung zu den empirischen Disziplinen der Naturwissenschaft nach einem gemeinsamen begrifflichen Nenner, der die Methoden und Untersuchungsbereiche der Wissenschaftslehre abzudecken imstande war. In seinem Bestreben, ein Klassifikationssystem der wissen‐ schaftlichen Disziplinen zu formulieren, 33 das nicht mit der klassischen Dichotomie von Natur und Geist zusammenfällt, veröffentlichte er 1899 die Schrift Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, in der die Kulturwissen‐ schaft als neues Regulativ für spezifische Verfahren herangezogen wurde, die ehemals unter der Bezeichnung Geisteswissenschaften subsummiert worden waren. Die Bezeichnung Geist, wie von Dilthey - analog zu dem Begriff der Natur für die Naturwissenschaften - für die nicht naturwissen‐ schaftliche Ausrichtung verwendet, verband er mit seelischem Sein und würde am Beispiel der Psychologie, die sich mit dem Geist beschäftigt, aber der Naturwissenschaft zuzuordnen sei, zu methodologischen Unklarheiten führen. Während Natur nach Rickert das Bedeutungsfreie und von selbst Entstandene war, bedeutete Kultur für ihn das vom Menschen bewusst Hervorgebrachte. Wir brauchen daher unsern Begriff der Kultur nur noch dahin zu erweitern, daß wir auch die Vorstufen und die Verfallsstadien der Kultur, sowie die kultur‐ fördernden oder -hemmenden Vorgänge mit in Betracht ziehen, dann sehen wir, b) Naturwissenschaft - Geisteswissenschaft - Kulturwissenschaft 141 <?page no="142"?> 34 Rickert, H.: Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft. Sechste und siebente durchge‐ sehene und ergänzte Auflage. Tübingen 1926, S.-22. 35 Ibid., S.-97f. 36 Vgl. Lichtblau, K.: Soziologie als Kulturwissenschaft? Zur Rolle des Kulturbegriffs in der Selbstreflexion der deutschsprachigen Soziologie. In: Helduser, U./ Schwietring, T. (Hgg.): Kultur und ihre Wissenschaft. Beiträge zu einem reflexiven Verhältnis. Konstanz 2002, S.-109. daß er alle Objekte […] also die Gegenstände aller Geisteswissenschaften mit Ausnahme der Psychologie umfaßt, und daß daher der Ausdruck Kulturwissen‐ schaft eine durchaus geeignete Bezeichnung für die nichtnaturwissenschaftlichen Spezialdisziplinen ist. 34 Zusätzlich zu Windelbands Unterscheidung von nomothetisch und idio‐ grafisch war Rickert um den erkenntnistheoretischen Nachweis bemüht, dass beide Methoden auf unterschiedliche Untersuchungsbereiche abzielten und diese Felder beziehungsweise Objekte der Untersuchung verschieden abstrahierten: im naturwissenschaftlichen Bereich als generalisierende, im kulturwissenschaftlichen Bereich als individualisierende Umbildung. Die individualisierende Form verweist auf den emphatischen Begriff der Kultur‐ wissenschaft als historische Wissenschaft, welche Kulturwerte des für den Menschen Sinnhaften erfasst, die von darzustellender Besonderheit sind. Als Kulturwissenschaften handeln sie von den auf die allgemeinen Kulturwerte bezogenen und daher als sinnvoll verständlichen Objekten, und als historische Wissenschaften stellen sie deren einmalige Entwicklung in ihrer Besonderheit und Individualität dar, […] denn wesentlich ist für sie nur das, was als Sinnträger in seiner individuellen Eigenart für den leitenden Kulturwert Bedeutung hat. 35 Im hervorgehobenen Gegensatz zum generalisierenden Verfahren der Na‐ turwissenschaften zeigen die Kulturwissenschaften einmalige Erscheinun‐ gen aus dem unendlichen Strom vergangenen Geschehens in ihrer idealty‐ pischen Form auf, ohne damit notwendig ein Werturteil zu verbinden. 36 Was Darwin als artspezifisch anerkannten ästhetischen Wert im Prozess der sexual selection - im Gegensatz zum indifferent vorgegebenen Wert bei der natural selection - formulierte, legte Rickert als allgemein anerkannten Kulturwert einer Gruppe/ Gesellschaft an, der für das Interesse bürgt, das der Kulturwissenschaftler dem Gegenstand seiner Untersuchung entgegen‐ bringt. 142 VII Kulturphilosophie - zwischen Industrialisierung und Naturwissenschaft <?page no="143"?> 37 Vgl. Füllsack, M.: Arbeit (= Grundbegriffe der europäischen Geistesgeschichte). Wien 2009, S.-53. 38 Vgl. Bremm, K.-J.: Das Zeitalter der Industrialisierung. Darmstadt 2014, S.-15f. 39 Vgl. Stöver, B.: Geschichte Berlins. München 2010, S.-24-42. 40 Vgl. Landmann, M.: Bausteine zur Biographie. In: Gassen, K./ Landmann, M. (Hgg.): Buch des Dankes an Georg Simmel: Briefe, Erinnerungen, Bibliographie. Berlin 2 1993, S. 26f.; Simmel, H.: [Lebenserinnerungen] 1941/ 43. In: Simmel Studies. Jg. 18, 1/ 2008, S.-21/ 49. c) Der Preis der Kultur Wenngleich die im Entstehen begriffene Industrie in den britischen Städten in ihrem Wortursprung (industria) auf Fleiß hinweist, 37 brachten die Maschi‐ nisierung menschlicher Arbeitskraft und die Wachstumserfolge des tech‐ nischen Erfahrungswandels empfindliche Änderungen des Berufsgefüges mit sich. Die industrielle Produktion brach mit den gewohnten saisonalen Rhythmen sowie mit den Intervallen von Tageslicht und Nacht, welche durch die Stechuhr und die Glühlampe ersetzt wurden. Akkumulation und Umsatzgeschwindigkeit wurden zu den großen Siglen der industriellen Revolution und erforderten einen veränderten Arbeitskräftebedarf in einem Metier, das, wie in Manchester, Newcastle oder Glasgow, auf Kinderarbeit, Profitstreben und effiziente Produktion setzte. 38 Von den ersten Fabrikspin‐ nereien in Großbritannien am Ende des 18. Jahrhunderts bis zur Verbreitung der Fließbandfertigung am Kontinent um 1900 schien der Schlüssel zur Produktionsoptimierung gefunden worden zu sein: in der passgenauen Aus‐ tauschbarkeit einzelner Fertigungsteile auf dem Weg zur Massenproduktion. Die Lokomotive wurde auch in Preußen - und damit in Berlin - zum wichtigsten Indikator der Industrialisierung, zugleich zur Voraussetzung für das Wachstum der Stadt und den Ausbau der Infrastruktur. So zeigte sich der Höhenflug der Elektrotechnik in der Elektrifizierung der Industrien sowie der Straßen- und Gebäudebeleuchtung. Um 1900 fuhren bereits die ersten elektrischen U-Bahnen durch Berlin. 39 Im Hintergrund dieses Modernisie‐ rungsschubs, der sich um die Jahrhundertwende auf die meisten größeren Städte Mittel- und Westeuropas erstreckte, führte Georg Simmel die Ansätze Sempers/ Ruskins und Rickerts fort. Der von manchen Zeitgenossen als exzentrisch eingestufte Simmel, 40 dem eine akademische Karriere in Berlin aufgrund von methodischen als auch rassistischen Ressentiments verwehrt wurde, habilitierte sich 1884/ 85 als unbesoldeter Privatdozent. Seine Schrif‐ ten sind in thematischer Hinsicht von überbordender Vielfalt gekennzeich‐ c) Der Preis der Kultur 143 <?page no="144"?> 41 Vgl. Geßner, W.: Georg Simmel. In: Konersmann, R. (Hrsg.): Handbuch Kulturphiloso‐ phie. Stuttgart 2012, S. 102; Fehér, I.: Simmels Kulturbegriff und sein Verständnis der Tragödie der Kultur. Gibt es einen Weg von der Kulturkritik zur Hermeneutik? In: Kulcsár Szabó, E./ Oraić Tolić, D. (Hgg.): Kultur in Reflexion. Beiträge zur Geschichte der mitteleuropäischen Literaturwissenschaften (= Wiener Arbeiten zur Literatur, Bd. 24). Wien 2008, S. 5; Groß, M.: Georg Simmel und „die laute Pracht des wissen‐ schaftlich-technischen Zeitalters“. In: Historical Social Research, 33/ 2, 2008, S. 317ff.; Jung, W.: Georg Simmel zur Einführung. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Hamburg 2016, S.-51-66. net - er las und schrieb über schier alles aus den Bereichen Geschichts- und Kulturphilosophie, Soziologie sowie Ästhetik/ Kunstphilosophie: Geld, Mode, Streit, Konkurrenz, Großstadt, subjektive/ objektive Kultur, soziale Differenzierung, Krieg, Ruine, Schauspieler etc. Simmels Zeitdiagnose, ver‐ standen in der Formel der Veräußerlichung des Lebens, konfrontiert die (materiellen) Fortschritte in Wirtschaft, Technik und Wissenschaft, die im Zusammenhang mit der neuen Großmachtstellung Deutschlands stehen, mit der kulturellen Leere und Verkümmerung der menschlichen Persönlichkeit. Als Beantwortung der Frage nach der Veräußerlichung des Lebens hatte er sich in seinem Hauptwerk Philosophie des Geldes (1900) mit der Frage auseinandergesetzt, wie die Wechselwirkung des Geldgebrauchs zwischen Personen als Ausgangspunkt für soziale Interaktionsformen sowie wie die Objektivität von Werten durch Verkörperung und Symbolisierung möglich ist. Weitere Konfrontationen mit den (materiellen) Fortschritten in Wirt‐ schaft, Technik und Wissenschaft, die er im voluminösen Band Soziologie (1908) zusammenführte, analysierten die Dynamiken der Vergesellschaftung (Herrschaft, Konflikt, Individualisierung, Begrenzung,-…). In dem für uns zentralen Essays Der Begriff und die Tragödie der Kultur (1911) ging er den kulturimmanenten Entfremdungsprozessen des Men‐ schen in der Moderne nach. Die Objektivierung durch Verkörperung lag für Simmel neben der wirtschaftlichen Sphäre am Beispiel des Geldes ebenso allen Erzeugnissen der Kultur zugrunde, die durch ihre eigentümliche Spannung einen Selbstwiderspruch erzeugen. 41 Kultur durchläuft in diesem Sinn einen stets dynamischen Prozess zwischen dem Subjekt und seiner geschaffenen Form als entäußerte Objektivation: 144 VII Kulturphilosophie - zwischen Industrialisierung und Naturwissenschaft <?page no="145"?> 42 Simmel, G.: Der Begriff und die Tragödie der Kultur. In: Ders.: Hauptprobleme der Philosophie. Philosophische Kultur (= Gesamtausgabe, Bd. 14). Herausgegeben von Rüdiger Kramme und Otthein Rammstedt. Frankfurt am Main 1996, S.-389. 43 Siehe dazu Walter Benjamins Beschreibung des Kaiserpanorama in: Ders.: Berliner Kindheit um Neunzehnhundert. Frankfurt am Main 1981, S.-14-17. Kultur entsteht - und das ist das schlechthin Wesentliche für ihr Verständnis -, indem zwei Elemente zusammenkommen, deren keines sie für sich enthält: die subjektive Seele und das objektiv geistige Erzeugnis. 42 Am Beispiel der Fabrik zeigt sich die Verkörperung des geistigen Erzeugnis‐ ses, das durch das Zusammenwirken mehrerer Personen in einem arbeitstei‐ ligen Verfahren als Ganzes keinen einzelnen Produzenten mehr hat. Die per‐ sönlichen Fähigkeiten des Arbeiters nivellieren zu einer indifferenten und versachlichten Funktion für eine nach standardisierten Mustern hergestellte Ware, die sich nach den Kriterien des Kapitals und der Kalkulierbarkeit als massentauglich zu erweisen hat. Durch diese industrielle Produktion entstehen (Kultur-)Objekte, die keine Verbindung zur subjektiven Seele aufweisen, vielmehr die Entfremdung des Menschen zu sich selbst symbo‐ lisieren. Die beeinträchtigte Wechselbeziehung zwischen äußerer sozialer Wirklichkeit und innerem Seelenleben, wie 1903 im Essay Die Großstädte und das Geistesleben noch auf die Ausbildung eines intellektualistischen Charakters bezogen, hatte tiefgreifende Auswirkungen auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen. Während die fabrikmäßige Arbeitsteilung die Entfremdung zum erzeugten Produkt mit sich brachte, forderten im Zeitalter der Innovationen neben der Urbanisierung neue technische Apparaturen zu einem kritischen Bewusstsein gegenüber bisher verlässlichen Bedeutungs‐ inhalten auf: Der Phonograph trennte Stimme und Sprache vom Körper des Sprechenden, bewegliche Bilder 43 in Schaubuden, Kaiserpanoramen und Panoptiken industrialisierten die bildhafte Fantasie, Briefe und Telegramme wurden durch elektromagnetische Telefonapparate ersetzt, die Fremde wie Bekannte bis zu dem eigenen Schreibtisch weiterleiteten. In den Großstädten des ausgehenden 19. Jahrhunderts wurden Menschen mit einem kulturellen Überangebot konfrontiert, das nicht länger von kirch‐ licher oder höfischer Kunst, sondern von den verwertbaren Erfindungen für den Massenmarkt bestimmt wurde. Das Kunstwerk hingegen stellte im Sinne einer spezifisch bildungsbürgerlichen Sensibilität als Realisat von c) Der Preis der Kultur 145 <?page no="146"?> 44 Vgl. Rehberg, K.-S.: Tragödie der Kultur. In: Müller, H.-P./ Reitz, T. (Hgg.): Simmel-Hand‐ buch. Begriffe, Hauptwerke, Aktualität. Berlin 2018, S. 570; Meyer, I.: Georg Simmels Ästhetik. Autonomiepostulat und soziologische Referenz. Weilerswist 2017, S.-227ff. 45 Simmel, Der Begriff und die Tragödie der Kultur, S.-414. 46 Vgl. Ritzer, M.: Georg Simmel (1858-1918), Der Begriff und die Tragödie der Kultur (1911). In: KulturPoetik. Bd.-7/ 2, 2007, S.-260f. 47 Simmel, G.: Psychologische und ethnologische Studien über Musik. In: Ders.: Gesamt‐ ausgabe, Bd. 1. Herausgegeben von Klaus Christian Köhnke. Frankfurt am Main 2000, S.-50. Idee, Konzept und Umsetzung einer Person die Negation der Arbeitsteilung dar. 44 Deshalb ist das Kunstwerk ein so unermeßlicher Kulturwert, weil es aller Arbeitsteilung unzugängig ist, d. h. weil hier […] das Geschaffene den Schöpfer aufs innigste bewahrt. 45 Bereits in seiner frühen Schrift Psychologische und ethnologische Studien über Musik (1882) hatte er sich in Abgrenzung zu Darwin - der die Ursprünge von Gesang und instrumenteller Musik, die er der Sprache vorausgehend ansetzte, der Funktionalität des Geschlechtstriebs unterordnete - auf die kulturelle Eigenheit der künstlerischen Ausdrucksform bezogen. 46 Sprache ist nach Simmel dem Gesang vorausgegangen und hat sich als geistig-seeli‐ sche Komponente des Menschen zu Musik weiterentwickelt: Nichts kommt mir wahrscheinlicher vor, als dass der Gesang an seiner Quelle die durch den Affect nach der Seite des Rhythmus und der Modulation hin gesteigerte Sprache gewesen sei. […] Als rein tierischer Laut ist ein Singen beim Menschen keinesfalls irgendwo nachzuweisen. 47 Mit der Überhöhung der Kunst und des Kunstwerks zum unermesslichen Kulturwert, die an den utopisch-zivilisatorischen Genesungscharakter, den sich Schiller in seinen Briefen versprochen hatte, erinnert, schließt Simmel 1911 an Ruskin an, sofern eine Rückgängigmachung der Arbeitsteilung gelingt. Als spezifischer Inhalt der Kultur kann die ästhetische Produktion der modernen Entfremdung sowie der gesteigerten Beschleunigung und Arbeitsteilung aller Lebensbereiche entgegenwirken, um dem Menschen bei der Selbstausbildung zu helfen. Während Zeitgenossen wie Hugo von Hofmannsthal in seinem Chandos-Brief (1902) der kulturellen Krise mit Sprachskepsis begegneten, da es nicht länger möglich schien, den Alltag mit dem vereinfachenden Blick der Gewohnheit zu erfassen oder Menschen 146 VII Kulturphilosophie - zwischen Industrialisierung und Naturwissenschaft <?page no="147"?> 48 „Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen. Die einzelnen Worte schwammen um mich; sie gerannen zu Augen, die mich anstarrten und in die ich wieder hineinstarren muß: Wirbel sind sie, in die hinabzusehen mich schwindelt, die sich unaufhaltsam drehen und durch die hindurch man ins Leere kommt.“ Hofmannsthal, H. von: Ein Brief. In: Ders.: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Bd. 7: Erzählungen. Erfundene Gespräche und Briefe. Reisen. Frankfurt am Main 1979, S.-466. 49 Simmel, Der Begriff und die Tragödie der Kultur, S.-415. 50 Vgl. Cantó Milà, N.: A Sociological Theory of Value: Georg Simmel’s Sociological Relationism. Bielefeld 2005, S.-218-222. und ihre Handlungen mit einem Begriff zu benennen, 48 griff Simmel auf den Kulturprozess als autonom agierende Entfremdungslogik zurück, wenn dieser eine Selbstständigkeit gewinnt, welche die Aufnahmefähigkeit des Rezipienten übersteigt: […] Was man als die Behangenheit und Überladung unseres Lebens mit tausend Überflüssigkeiten beklagt, von denen wir uns doch nicht befreien können, als das fortwährende Angeregtsein des Kulturmenschen, […] ist […] die tragische Situation, daß die Kultur eigentlich schon in ihrem ersten Daseinsmomente diejenige Form ihrer Inhalte in sich birgt, die ihr inneres Wesen: den Weg der Seele von sich als der unvollendeten zu sich selbst als der vollendeten - wie durch eine immanente Unvermeidlichkeit abzulenken, zu belasten, ratlos, und zwiespältig zu machen bestimmt ist. 49 Der Versuch der kulturellen Selbstentfaltung verlangt einen hohen Preis: Durch den an Vico erinnernden, hier aber desavouierenden Zusammenhang zwischen Wahrem (verum) und Gemachtem (factum) treibt die objektive Kultur im Gegensatz zum Kunstwerk mit einer immanenten Logik die Entfremdung voran. An die Eigengesetzlichkeit kultureller Entfaltung erin‐ nernd, sprach Simmel von einer Tragödie der Kultur für den modernen Menschen, wenn die geschaffenen Objektivationen (Fabrikat, Geld, Handy, Social-Media-Identitäten) eigene Geltungsansprüche entwickeln, die das Gefühl der Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt, Erzeuger und Erzeugtem, Ursprung und Zweck versagen: 50 So entsteht die typische problematische Lage des modernen Menschen: das Gefühl, von einer Unzahl von Kulturelementen umgeben zu sein, die für ihn nicht bedeutungslos sind, aber im tiefsten Grunde auch nicht bedeutungsvoll; die als Masse etwas Erdrückendes haben, weil er nicht alles einzelne innerlich c) Der Preis der Kultur 147 <?page no="148"?> 51 Simmel, Der Begriff und die Tragödie der Kultur, S.-412. assimilieren, es aber auch nicht einfach ablehnen kann, da es sozusagen potentiell in die Sphäre seiner kulturellen Entwicklung gehört. 51 Was Simmel hier als problematische Lage des modernen Menschen in der Großstadt Anfang des 20. Jahrhunderts charakterisiert, könnte ohne gröbere Abstraktionsleistung mit Gegenwartsfolien unterlegt und auf das 21.-Jahrhundert übertragen werden. 148 VII Kulturphilosophie - zwischen Industrialisierung und Naturwissenschaft <?page no="149"?> 1 Vgl. Raab, J.: Wissenssoziologisches Vergleichen. In: Mauz, A./ Sass, H. von (Hgg.): Hermeneutik des Vergleichs. Strukturen, Anwendungen und Grenzen komparativer Verfahren. Würzburg 2011, S.-92ff. 2 Vgl. Kocka, J.: Zwischen Elfenbeinturm und Praxisbezug: Max Weber und die „Objek‐ tivität“ der Kulturwissenschaften. In: Gneuss, C./ Kocka, J. (Hgg.): Max Weber: ein Symposion. München 1988, S.-186ff. 3 Weber, M.: Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Herausgegeben von Johannes Winckelmann. Tübingen 7 1988, S.-180. VIII Vom Pessimismus zum Kompromiss a) Objektivität und Gegenstand der Kulturwissenschaft An die durch Windelband und Rickert ausformulierten methodischen Wei‐ chenstellungen zwischen kulturwissenschaftlicher und naturwissenschaft‐ licher Erkenntnis wurde im ausgehenden 19.-Jahrhundert auf zweierlei Art angeknüpft: Zum einen entwickelten Auguste Comte und Émile Durkheim die vergleichende Methode als empirisches Verfahren zur Untersuchung sozialer Phänomene, das als Äquivalent dem Forschungsstil der auf das Experiment ausgerichteten Naturwissenschaften an die Seite gestellt wer‐ den konnte. Zum anderen entwickelten Max Weber und Ernst Cassirer Konzepte der historischen Kulturwissenschaft - als hermeneutisches Modell des Verstehens sowie als konstitutive Funktion der Welterschließung. 1 Zur methodologischen Grundsatzbestimmung, wie man historische In‐ dividuen und deren Gestaltung des Kulturlebens kulturwissenschaftlich untersuchen kann, schrieb Weber 1904, neben anderen Schriften zur Wis‐ senschaftslehre, über Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpo‐ litischer Erkenntnis. Unter Kulturwissenschaften 2 im Plural verstand Weber im Wesentlichen die in den Geistes- und Sozialwissenschaften zusammen‐ gefassten Fächer der Nationalökonomie, Geschichte, Kunstgeschichte und Sprachwissenschaft sowie die seit und mit Simmel entstehende Soziologie. In seiner Analyse ist Kultur „ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens.“ 3 Der Begriff Kultur bezeichnet folglich den Objektbereich, der abhängig ist von der Präferenz und Perspektive des <?page no="150"?> 4 Vgl. Jaeger, F.: Der Kulturbegriff im Werk Max Webers und seine Bedeutung für eine moderne Kulturgeschichte. In: Geschichte und Gesellschaft 18/ 3, 1992, S. 390; Oexle, O. G.: Geschichte als Historische Kulturwissenschaft. In: Hardtwig, W./ Wehler, H.-U. (Hgg.): Kulturgeschichte Heute (= Geschichte und Gesellschaft, Bd. 16). Göttingen 1996, S.-27f. 5 Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, S.-165. 6 Vgl. Koselleck, R.: Wie sozial ist der Geist der Wissenschaften? Zur Abgrenzung der Sozial- und Geisteswissenschaften. In: Frühwald, W. et al.: Geisteswissenschaften heute. Eine Denkschrift. Frankfurt am Main 2 1996, S. 133ff.; Müller, H.-P.: Max Weber. Eine Einführung in sein Werk. Köln/ Weimar/ Wien 2007, S.-63-65. Akteurs, welcher den Bedeutungsgehalt festlegt, und zugleich den Reflexi‐ onsbegriff der Wissenschaft selbst. Als Kulturmensch ist der Akteur in der Lage, die ihn umgebende Welt zu reflektieren und ihr einen Sinn mittels Kul‐ tur zu verleihen. Die aktive Form der Sinnzuschreibung als hermeneutische Bereitstellung des eigenen Wissensvorrats zeigt den Gegenstandsbereich wissenschaftlicher Erfassung an, mit dem sich die Kulturwissenschaft aus‐ einandersetzt. 4 Sie gehört damit zu jenen Disziplinen, „welche die Vorgänge des menschlichen Lebens unter dem Gesichtspunkt ihrer Kulturbedeutung betrachten.“ 5 Dieser Aspekt der Bedeutungszuschreibung im Objektbereich verdeut‐ licht die Orientierung, an die sich der Wissenschaftler in seiner Untersu‐ chung zu halten hat: Was an empirischer Wirklichkeit für die Untersu‐ chung eines bestimmten Abschnitts aus der Vergangenheit erfasst wird, spiegelt Lebenserscheinungen von Menschen in ihrer Kulturbedeutung wider. Damit wird das Sinnverstehen menschlichen Verhaltens durch die Kulturwissenschaft methodisch vorgegeben. Da es sich hierbei lediglich um einen Ausschnitt aus einer im Prinzip unendlichen Fülle an Informationen handelt, gilt es, die Eigenart sowie die zentralen Aspekte dieses Ausschnitts mit einer analytischen Konstruktion in einem Idealtypus pragmatisch zu veranschaulichen. Dieser Idealtypus 6 fungiert als gemeinsamer Nenner - als das Typische - des gesamten untersuchten Materials, der jedoch nicht wie in den nach Gesetzmäßigkeiten strebenden Naturwissenschaften das Ziel, sondern das repräsentative Mittel der Erkenntnis darstellt. Wenn man beispielsweise, so führt Weber aus, die Frage beantworten möchte, welche Aspekte und Ausprägungen dem Christentum des Mittelalters zuzuschrei‐ ben sind, so gelte es, eine Verbindung von Glaubenssätzen, Kirchenrechts- und sittlichen Normen, Maximen der Lebensführung etc. aufzustellen, die ohne die Verwendung idealtypischer Begriffe nicht gelingen könnte und me‐ 150 VIII Vom Pessimismus zum Kompromiss <?page no="151"?> 7 Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, S.-170. 8 Vgl. Wagner, G./ Härpfer, C.: On the Very Idea of an Ideal Type. In: Società mutamento politica, Vol. 5/ Nr. 9: 1864-2014 - Max Weber: a Contemporary Sociologist. Herausge‐ geben von Gianfranco Bettin Lattes und Hubert Treiber. Florenz 2014, S.-227f. thodisch nicht kontrollierbar wäre. Damit wären sämtliche Darstellungen des Wesens des Christentums Idealtypen zum Vergleich mit der historischen Realität, die nicht mehr greifbar ist, der man sich aber durch den Fortschritt kulturwissenschaftlicher Arbeit annähert. Dieser scheinbar relativierende Aspekt des Erkenntniswerts und der Verbindlichkeit kulturwissenschaftli‐ cher Ergebnisse unterstreicht jedoch die Anforderung der Untersuchung: Es gibt keine schlechthin „objektive“ wissenschaftliche Analyse des Kulturlebens oder […] der „sozialen“ Erscheinungen unabhängig von speziellen und „einsei‐ tigen“ Gesichtspunkten, nach denen sie - ausdrücklich oder stillschweigend, bewußt oder unbewußt - als Forschungsobjekt ausgewählt, analysiert und darstellend gegliedert werden. Der Grund liegt in der Eigenart des Erkenntnisziels […]. 7 Wenn wir nach Vico lediglich das erkennen, was wir selbst hervorgebracht und mit Sprache benannt haben, widmen sich Kulturwissenschaftler, so formuliert Weber indirekt, dem Gegenstand und der Themenstellung ihrer Untersuchung nicht ohne Vorbehalte, die von den eigenen Erkenntnis‐ interessen sowie persönlichen Kultur- und Sinnvorstellungen ausgefüllt werden. Die Definition von Größenverhältnissen und die Formulierung von generalisierenden Gesetzmäßigkeiten oder von Wertideen mit überem‐ pirischer Geltung liegen nicht im Erkenntnisinteresse eines Kulturwissen‐ schaftlers, der aufgrund der Komplexität der zu untersuchenden Kulturwelt mit Idealtypen arbeitet. Die Eigenart des Erkenntnisziels liegt im Verstehen komplexer (Wirkungs-)Zusammenhänge und in der Rekonstruktion von Sinnzuschreibungen, nicht aber in der Definition von Allgemeinaussagen und gesetzesmäßigen Strukturen. 8 1917 wurde Weber vom Freistudentischen Bund des Landesverbandes Bay‐ ern zu einem Vortrag eingeladen, der eine Sinndeutung von Wissenschaft an sich anbieten sollte, aber im Konkreten als Analyse des Zustands der deut‐ schen Universität angelegt war: Wissenschaft als Beruf. Vor dem Hintergrund des Methodenstreits der sich etablierenden Soziologie versuchte Weber, den Beruf des Universitätswissenschaftlers anhand der unterschiedlichen Karrierewege, wie sie sich an Universitäten in Deutschland und in den USA a) Objektivität und Gegenstand der Kulturwissenschaft 151 <?page no="152"?> 9 Vgl. Schluchter, W.: Mit Max Weber. Tübingen 2020, S. 119-123; Lübbe, H.: Die Freiheit der Theorie. Max Weber über Wissenschaft als Beruf. In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 48/ 1962, S.-346f. 10 Weber, M.: Wissenschaft als Beruf. In: Ders.: Studienausgabe der Max-Weber-Gesamt‐ ausgabe, Bd.-17. Abt. 1: Schriften und Reden. Tübingen 1994, S.-14. zeigten, zu vergleichen. Dabei kritisierte er die Spezialisierung der Wissen‐ schaften, die zunehmend kleinteiligere Ausschnitte eines Problemhorizonts analysierten, und das Aufkommen kapitalistischer Universitätsunterneh‐ men, das bereits damals prekäre Beschäftigungsbedingungen begünstigte. In dieser Analyse folgte Weber seinen eigenen berufsspezifischen Erfahrungen. In Bezug auf die zunehmende fachspezifische Ausdifferenzierung liege die Aufgabe von Wissenschaft an sich in der Selbstbescheidung, 9 aus ihren Ergebnissen bzw. Tatsachenfeststellungen keine Handlungsempfehlungen zu geben, Werturteile abzuleiten oder Sinnfragen zu beantworten. Mit Rücksicht auf die Werturteilsfreiheit bezog sich Weber unter anderem auch auf die (historischen) Kulturwissenschaften und konturierte deren grundlegende Ausrichtung: Sie lehren politische, künstlerische, literarische und soziale Kulturerscheinungen in den Bedingungen ihres Entstehens verstehen. Weder aber geben sie von sich Antwort auf die Frage: ob diese Kulturerscheinungen es wert waren und sind, zu bestehen. Noch antworten sie auf die andere Frage: ob es der Mühe wert ist, sie zu kennen. Sie setzen voraus, daß es ein Interesse habe, durch dies Verfahren teilzuhaben an der Gemeinschaft der Kulturmenschen. 10 In Anknüpfung an den Objektivitätsaufsatz lässt sich schlussfolgern: Auf die Gegenüberstellung von nomothetisch/ idiografisch und generalisierend/ in‐ dividualisierend folgte Webers Synthese beider Wissenschaftstraditionen, um die Eigenart von Kulturerscheinungen und das Handeln historischer Individuen zu analysieren - die hermeneutische Methode der Kulturwis‐ senschaft zum Erklären und Verstehen menschlicher Handlungen im Hin‐ tergrund ihrer vielschichtigen, auf keine Einheitlichkeit und Eindeutigkeit reduzierbaren Kulturbedeutung. Webers gegen jegliches objektivistische Wissenschaftsverständnis gerichtete Versuch der kulturwissenschaftlichen Selbstlokalisierung hat zur Folge, dass es keine Autorität auf dem Gebiet der kulturellen Wirkungszusammenhänge und Sinnzuschreibungen gibt, die einen Objektivitätsanspruch ohne konkurrierende Auslegungen erfüllt, und dass wir mehr als 100 Jahre später gut daran tun, die Gedanken 152 VIII Vom Pessimismus zum Kompromiss <?page no="153"?> 11 Vgl. Peukert, D.: „Der Tag klingt ab, allen Dingen kommt nun der Abend …“ - Max Webers „unzeitgemäße“ Begründung der Kulturwissenschaften. In: vom Bruch, R./ Graf, F. W./ Hübinger, G. (Hgg.): Kultur und Kulturwissenschaften um 1900. Krise der Moderne und Glaube an die Wissenschaft. Wiesbaden 1989, S. 165-168; Daniel, U.: Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter. Frankfurt am Main 8 2020, S.-464f. 12 Vgl. im Folgenden: Teichert, D.: Erklären und Verstehen. Historische Kulturwissen‐ schaften nach dem Methodendualismus. In: Dreyer, M. et al. (Hgg.): Historische Kulturwissenschaften. Positionen, Praktiken und Perspektiven. Bielefeld 2010, S. 31-35; Paetzold, H.: Ernst Cassirer zur Einführung. Hamburg 4 2014, S.-35f. 13 Cassirer, E.: Zur Logik der Kulturwissenschaften (= Philosophische Bibliothek, Bd. 634). Hamburg 2011, S.-29. und Ausführungen (kultur-)wissenschaftlicher Vordenker als anregenden Ausgangs-, nicht aber als Endpunkt unserer Untersuchungen zu wählen. 11 Cassirers aus der Zeit der Marburger Schule stammenden erkenntnistheo‐ retischen Arbeiten in der Auseinandersetzung mit Kant führte er in eine Symboltheorie über, die in drei Bänden als sein Hauptwerk (Philosophie der symbolischen Formen, 1923-1929) seine Wende zur Kulturphilosophie darstellt. 12 Auf eine mögliche Kulturwissenschaft ausgerichtet, die den ge‐ schichtsphilosophischen Anteil (Windelband, Rickert, Weber) ausspart, ver‐ öffentlichte Cassirer zwei Kurzzusammenfassungen bzw. konzise Einfüh‐ rungen: die fünfteilige Aufsatzsammlung Zur Logik der Kulturwissenschaften (1942) und, nach der Flucht vor dem Nationalsozialismus bereits im ameri‐ kanischen Exil, An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture (1944). In der ersten Studie Der Gegenstand der Kulturwissenschaft seiner Aufsatzsammlung beginnt Cassirer mit einem Kurzüberblick über antike Erkenntnistheorie sowie über Bedingungen und Formen menschli‐ cher Wahrnehmung. Der Hinweis auf Sprache und Schrift als grundlegende Ordnungskriterien zur kontrollierten Erfassung der Wahrnehmung führt ihn weiter zur frühneuzeitlichen Theoriebildung bei Vico und Herder. Der bei Weber mit Sinn und Bedeutung bedachte Ausschnitt aus der Kulturwelt wird bei Cassirer zum Ordnungsversuch, den selbst gewählten Ausgangs‐ punkt für eine verstehende Welterschließung als Historizität des Wissens zu bilden: Je mehr der Horizont menschlichen Vorstellens, Meinens, Denkens und Urteilens sich erweitert, um so komplexer wird das System der Mittelglieder, deren wir bedürfen, um ihn überschauen zu können. Die Symbole der Wortsprache sind das erste und wichtigste Glied in dieser Kette. 13 a) Objektivität und Gegenstand der Kulturwissenschaft 153 <?page no="154"?> 14 Vgl. Freudenberger, S.: Kulturphilosophie, Kulturwissenschaften, Naturwissenschaften. In: Sandkühler, H. J./ Pätzold, D. (Hgg.): Kultur und Symbol. Ein Handbuch zur Philoso‐ phie Ernst Cassirers. Stuttgart 2003, S.-266-270. 15 Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften, S.-80. Die Mittelglieder bürgen dafür, der Welt selbstreflexiv zu begegnen, in ihr Erfahrungen zu sammeln und ihr einen Sinnzusammenhang zuzusprechen. Neben der Wortsprache als erstem Glied finden sich Mythos, Religion, Kunst, Wissenschaft und Geschichte, die später von weiteren Formen wie Technik oder Wirtschaft ergänzt werden. Was die Rolle der Kulturwissen‐ schaft in dieser Form der Welterschließung anbelangt, so kommt er in seiner dritten Studie Naturbegriffe und Kulturbegriffe auf ein Erkenntnisideal zu sprechen, das an die Idealtypen Webers erinnert: 14 Die Naturwissenschaft wird der Ferne Herr, indem sie sich zur Erkenntnis allgemeiner Gesetze erhebt […] Diese Form der Allgemeinheit ist der Kulturwis‐ senschaft nicht erreichbar. […] Ihr Gegenstand ist nicht die Welt als solche, sondern nur ein einzelner Umkreis von ihr, der […] als verschwindend klein erscheint. […] Was sie erkennen will, ist die Totalität der Formen, in denen sich menschliches Leben vollzieht. Diese Formen sind unendlich differenziert, und doch entbehren sie nicht der einheitlichen Struktur. 15 Die Standpunktgebundenheit aller kulturwissenschaftlichen Objektivitäts‐ versuche wird bei Cassirer damit auf Mittelglieder ausgelagert, die als symbolische Formen fungieren und als solche die Komplexitätserfahrung der Totalität der von Menschen wahrgenommenen Welt abbilden. In seinem Spätwerk An Essay on Man (1944), das als Ableitung seines Hauptwerks gleichsam eine Zusammenfassung für ein amerikanisches Zielpublikum bildete, verdichtet er seine philosophischen Grundeinsichten zu einer Defi‐ nition der Kulturtätigkeit des Menschen: Wir können den Menschen nicht durch ein inneres Prinzip definieren, das sein metaphysisches Wesen ausmacht, und ebensowenig können wir ihn durch eine angeborene Anlage oder einen angeborenen Instinkt, der sich durch empirische Beobachtung bestätigen ließe, definieren. Das Eigentümliche des Menschen, das, was ihn wirklich auszeichnet, ist […] sein Wirken. Dieses Wirken, das System menschlicher Tätigkeiten, definiert und bestimmt die Sphäre des Menschseins. 154 VIII Vom Pessimismus zum Kompromiss <?page no="155"?> 16 Cassirer, E.: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur (= Philosophische Bibliothek, Bd. 488). Aus dem Englischen übersetzt von Reinhard Kaiser. 2., verbesserte Auflage. Hamburg 2007, S.-110. 17 Vgl. Orth, E.: Ernst Cassirer als Kulturwissenschaftler. In: Därmann, I./ Jamme, C. (Hgg.): Kulturwissenschaften. Konzepte, Theorien, Autoren. München 2007, S. 279; Böhme/ Matussek/ Müller, Orientierung Kulturwissenschaft, S.-68-71. 18 Vgl. Lorenz, D.: Wiener Moderne. 2., aktualisierte und überarbeitete Auflage. Stutt‐ gart/ Weimar 2007, S.-20ff. 19 Vgl. de Berg, H.: Freuds Psychoanalyse in der Literatur- und Kulturwissenschaft. Eine Einführung. Aus dem Englischen von Stephan Dietrich. Tübingen 2005, S.-4-8. Sprache, Mythos, Religion, Kunst, Wissenschaft, Geschichte sind die Bestandteile, die verschiedenen Sektoren dieser Sphäre. 16 Kultur bedeutet bei Cassirer Komplexitätsreduktion, die der Mensch in Form von Symbolen selbst erzeugt. Das Symbolsystem als Ganzes bildet die Sphäre des Menschseins - den Wirkbereich des Menschen, der als dynamisches Zeichenagglomerat soziale, materiale und mentale Dimensionen aufweist. Die Kulturwissenschaft ermöglicht es uns dabei, die Symbole zu deuten, die in diesen kulturell sowohl determinierten als auch gelebten Wahrneh‐ mungs- und Wissensstrukturen enthalten sind. 17 b) Kaffeehaus und Elendsviertel: Wien um 1900 Wien um 1900 war nach dem Bau der Ringstraße, der als städtebauliche Er‐ neuerung die Innenstadt mit einem Komplex öffentlicher Gebäude verzierte, der Eingemeindung der Vorstadtbezirke und aufgrund von Zuwandererströ‐ men aus dem Osten des Habsburgerreiches (Böhmen, Mähren, Bukowina) binnen weniger Jahrzehnte rasant angewachsen. Die Vielfalt der Sprachen‐ gemeinschaften und Volksgruppen erzeugte ein kreatives Milieu, 18 das - neben Paris, Berlin oder London - als eines der europäischen Zentren galt, in dem eine ungemeine Dichte von Darbietungen und Errungenschaften in der Literatur, Malerei, Musik, Architektur, Philosophie und Naturwissenschaft vorhanden war. In einer (natur-)wissenschaftlichen Umgebung, die neuro‐ tische Symptome organischen Ursachen zuschrieb, begann Sigmund Freud, an deren Stelle psychologische Ursachen zu definieren sowie Erkenntnisse aus der therapeutischen Praxis als kritische Theorie der Gesellschaft in die Kultur-, Literatur- und Religionswissenschaft zu übertragen. 19 In einer künstlerischen Umgebung, die sich gegen den barocken Hochadel und den b) Kaffeehaus und Elendsviertel: Wien um 1900 155 <?page no="156"?> 20 Vgl. Wunberg, G. (Hrsg.): Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910. Unter Mitarbeit von Johannes J. Braakenburg. Stuttgart 1981, S.-16-19. kaiserlichen Hof mit eigenen Statussymbolen und Repräsentationsbedürf‐ nissen abheben wollte, belebten Künstler und Literaten eine spezifische Wiener Kaffeehauskultur, welche die Salons des 18./ 19. Jahrhunderts durch ihre heterogene Zusammensetzung, Unregelmäßigkeit der Zusammentref‐ fen sowie Unbestimmtheit von Themenwahl und Örtlichkeit ablöste. Man las sich gegenseitig Werke vor oder präsentierte diese bühnenreif, belebte einen Literatur- und Kunstmarkt mit konzentrierter, zum Teil irrlichtender Konkurrenz und diskutierte über politische sowie ästhetische Fragen. Als Teil der gelebten kulturellen Praxis der bürgerlichen Öffentlichkeit wurden das Café Griensteidl (Abb. 9), das Café Central und weitere Kaffeehäuser zum Anziehungspunkt unterschiedlicher Künstler- und Intellektuellengruppie‐ rungen, die aus allen Teilen der Habsburgermonarchie entstammten. 20 Abb. 9: Café Griensteidl am Michaelerplatz von Reinhold Völkel (1896) Im Verlauf der 1890er-Jahre verzeichnete die Presse mit ihren zahlreichen Tageszeitungen einen Aufstieg der öffentlichen Meinung zu einer bestim‐ menden Rolle im wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Leben. Der Journalismus bekam mit dem Feuilleton ein semantisches Reißbrett für aufstrebende, aber unbekannte Künstler - einerseits für Eigenwerbung und ansteigende Bekanntheit, andererseits für stürmisches Lob oder vernich‐ tende Kritik der Konkurrenz, was beiderseits auf eine hohe Leserschaft 156 VIII Vom Pessimismus zum Kompromiss <?page no="157"?> 21 Vgl. Pollak, M.: Wien 1900. Eine verletzte Identität (= édition discours, Bd. 6). Aus dem Französischen übertragen von Andreas Pfeuffer. Konstanz 1997, S.-90ff. 22 Zweig, S.: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. Frankfurt am Main 2006, S.-50-57. 23 Vgl. Matuschek, O.: Stefan Zweig. Drei Leben. Eine Biographie. Frankfurt am Main 4 2018, S.-349ff. traf. 21 Die literarischen Tendenzen der noch jungen und/ oder unbekannten Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler, Leopold von Andrian oder Felix Salten bekamen durch die Vermittlung von bereits Arrivierten wie Hermann Bahr oder Marie Herzfeld Publikationsmöglichkeiten und Plattformen des Austauschs - zunächst in Deutschland, später in Österreich, um eine spezifische Wiener Literaturszene hervorzubringen. In seinem pathetischen und detailreichen, zum Teil autobiografischen Nachruf an jenes Wien um 1900 schrieb Stefan Zweig in Die Welt von Gestern: Österreich war ein alter Staat, von einem greisen Kaiser beherrscht, von alten Ministern regiert, ein Staat, der ohne alle Ambition einzig hoffte, sich durch Abwehr aller radikalen Veränderungen im europäischen Raum unversehrt zu erhalten; junge Menschen, die ja aus Instinkt immer schnelle und radikale Ände‐ rungen wollen, galten deshalb als ein bedenkliches Element, das möglichst lange ausgeschaltet oder niedergehalten werden mußte. […] Aber unsere Bildungsstätte für alles Neue blieb das Kaffeehaus. […] Es ist eigentlich eine Art demokratischer, jedem für eine billige Schale Kaffee zugänglicher Klub, wo jeder Gast für diesen kleinen Obolus stundenlang sitzen, diskutieren, schreiben, […] und vor allem eine unbegrenzte Zahl von Zeitungen und Zeitschriften konsumieren kann. […] So wußten wir alles, was in der Welt vorging, aus erster Hand, […]. 22 Zweigs Lebenserinnerungen an eine für ihn Ende 1941, als er auf der Flucht vor den Nationalsozialisten in Brasilien das Manuskript abschloss, längst untergegangene Welt zeichnen ein grandioses Bild des künstlerischen und literarischen Hochbetriebs im Wien der Jahrhundertwende. 23 Hauptsächlich streifen diese Aufzeichnungen Akteure, die, wie Zweig selbst oder auch Schnitzler, Freud, Rainer Maria Rilke oder Hofmannsthal, dem Großbürger‐ tum bzw. der oberen Mittelschicht entstammten und/ oder ihrer künstleri‐ schen Tätigkeit ohne existenzielle materielle Anliegen nachgehen konnten. Zwischen verrauchten Wölbungen, dunklen Nischen, skurrilen Geschichten und der Zurschaustellung antibürgerlicher Künstlerexistenzen bildete dabei der urbane Sammelpunkt Kaffeehaus einen kleinen, aber bedeutenden Lebensausschnitt gegenüber den sozialen und politischen Dimensionen, die b) Kaffeehaus und Elendsviertel: Wien um 1900 157 <?page no="158"?> 24 Vgl. Portenkirchner, A.: Die Einsamkeit am Fensterplatz zur Welt. Das literarische Kaffeehaus in Wien 1890-1950. In: Rössner, M. (Hrsg.): Literarische Kaffeehäuser. Kaffeehausliteraten. Wien/ Köln/ Weimar 1999, S.-54. 25 Vgl. Maderthaner, W./ Musner, L.: Die Anarchie der Vorstadt. Das andere Wien um 1900. Frankfurt am Main/ New York 2 2000, S.-68-85. 26 Vgl. Haas, H.: Max Winter. Expeditionen ins dunkelste Wien: Meisterwerke der Sozialreportage. Wien 3 2018, S. 9-12; Tesarek, A.: Max Winter. In: Leser, N. (Hrsg.): Werk und Widerhall. Große Gestalten des österreichischen Sozialismus. Wien 1964, S.-448ff. zur Jahrhundertwende an Stabilität verloren. 24 Der vermeintliche kulturelle Hochglanz der prächtigen Ringstraße sowie der florierenden Künstler- und Literaturbetriebe kontrastierte mit dem sozialen Elend der Arbeiterschaft und jener Lebenswelt der eingemeindeten Vorstädte, von der die meisten Künstler und Literaten wenig zu berichten wussten oder dies nicht wollten. Das andere Wien der Dienstboten, Tagelöhner, Fabrikarbeiter, Arbeitswie Obdachlosen und zahlreichen am Rand des Existenzminimums Lebenden, deren bevorzugter Kommunikationsraum seltener im Kaffeehaus, vielmehr im Wurstelprater oder in Hinterhöfen auszumachen war, findet sich in den Sozialreportagen von Journalisten wie Max Winter oder in den von Marginalisierungserfahrungen geprägten Kurzgeschichten Ivan Cankars. 25 Winter 26 stammte aus Tárnok in Ungarn und schlug nach kurzem Studium in Wien eine journalistische Laufbahn ein. 1911 wurde er als Abgeordneter für die Sozialdemokraten zum Reichsrat gewählt, ehe er, politisch weiter erfolgreich, nach dem Weltkrieg zum Vizebürgermeister der Stadt Wien aufstieg, die Gründung der verbreiteten Frauenzeitschrift Die Unzufriedene unterstützte und Obmann der Kinderfreunde, einer Interessenvertretung für Kinder und Familien, wurde. Als Kritiker des späteren austrofaschistischen Regimes emigrierte er schließlich nach Amerika. In den 1890er-Jahren verschriftlichte er als Gerichtsreporter der Arbeiter-Zeitung einige Vororterkundungen und teilnehmende Beobachtungen, die sich Obdachlosen, den sogenannten Überzähligen in zahlreichen illegalen Schlupfwinkeln, widmeten: In Wirklichkeit und bildlich ist es das unterirdische Wien, in das ich den Leser […] einführen will: Nach dem Orte und nach der sozialen Schichtung dieser Ausge‐ stoßenen. Sie kriechen nicht nur unter das Straßenpflaster der lichtumfluteten 158 VIII Vom Pessimismus zum Kompromiss <?page no="159"?> 27 Winter, M.: Im unterirdischen Wien. Im dunkelsten Wien. Reportagen. Mit einer autobiographischen Skizze aus dem Nachlass (= City Lights, Bd. 2). Herausgegeben von Ernst Grabovszki und Julia Pacal. Wien 2017, S.-9. 28 Vgl. Lindner, R.: Die Entdeckung der Stadtkultur. Soziologie aus der Erfahrung der Reportage. Frankfurt am Main 1990, S.-30f. 29 Vgl. Bernik, F.: Ivan Cankar in Wien. In: Brandtner, A./ Michler, W. (Hgg.): Zur Ge‐ schichte der österreichisch-slowenischen Literaturbeziehungen. Wien 1998, S. 294-301; Smolej, T.: Wien in der slowenischen Literatur. In: Wiener slavistisches Jahrbuch. 57/ 2011, S. 185-189; Birk, M.: Fremd- und Selbstinszenierung in der slowenischen Literatur der Moderne. Die Habsburgermetropole in Ivan Cankars Wiener Erzählungen. In: Zeitschrift für Slavische Philologie 69/ 1, 2012/ 2013, S.-183. Residenz, sie leben auch tief unter dem sozialen Niveau derer, die hierzulande und sonstwo die schwerste Last zu tragen haben, der Lohnarbeiter. 27 1904/ 05 gab er seine Berichte redigiert in Buchform (Im dunkelsten Wien, 1904) und im Rahmen eines großen Stadtforschungsprojekts (Großstadt-Do‐ kumente, Bd. 11: Das goldene Wiener Herz, 1904; Bd. 13: Im unterirdischen Wien, 1905) heraus. Dabei lieferte er unter Wiedergabe des Soziolekts der Beobachteten einen authentischen Einblick in die diversen (Über-)Lebens‐ strategien, um auf die offenkundigen Missstände und das Elend in den Katakomben der Großstadt in Buchform aufmerksam zu machen. Winters Wirken geht damit über den Tagesjournalismus hinaus und gehört zu den Anfängen der Sozialreportage, die sich wie Jacob Riis‘ in Buchform erschienene Untersuchung How the other half lives. Studies among the tenements of New York (1890) den Arbeits-, Lebens- und Wohnverhältnissen in den Hinterhöfen und Elendsvierteln der Städte widmete. 28 Cankar 29 stammte aus der Nähe von Ljubljana, kam 1896 nach Wien und immatrikulierte sich zunächst an der Ingenieursschule der K. u. K. Techni‐ schen Hochschule, ehe er in kritischer Haltung gegenüber der slowenischen Heimatliteratur die moderne europäische Literatur, im Speziellen die fran‐ zösische Sprache und Lyrik für sich entdeckte. Nach Abbruch des kurzen Studiums und Pendelerfahrungen zwischen Wien und Ljubljana lebte er zur Untermiete im Arbeiterbezirk Ottakring, wo er für den Lebensunterhalt Feuilletons für Tages- und Kulturperiodika in Ljubljana und Zagreb schrieb. Literarisch erlebte er in der Metropole eine knapp zehnjährige nachhaltige Schaffensphase, die von Bildern der rauen, schmutzigen Vorstadt geprägt wurde, welche in Kontrast zum Volksgarten oder zur Wiener Oper stand. Seine Wiener Erzählungen geben in inneren Monologen oder Gedankenbe‐ richten Alltagserfahrungen einer widerständigen Welt von Lohnarbeitern b) Kaffeehaus und Elendsviertel: Wien um 1900 159 <?page no="160"?> 30 Cankar, I.: Vor dem Ziel. Literarische Skizzen aus Wien. Aus dem Slowenischen und mit einem Vorwort von Erwin Köstler. Klagenfurt 2 1998, S.-30. 31 Vgl. Wietschorke, J.: Anthropologie der Stadt: Konzepte und Perspektiven. In: Mieg, H./ Heyl, C. (Hgg.): Stadt. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart/ Weimar 2013, S.-202f. 32 Vgl. Schorske, C. E.: Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle. Aus dem Ame‐ rikanischen von Horst Günther. München 1994, S. 111ff.; Csáky, M.: Hybride Kom‐ munikationsräume und Mehrfachidentitäten. Zentraleuropa und Wien um 1900. In: Röhrlich, E. (Hrsg.): Migration und Innovation um 1900. Perspektiven auf das Wien der Jahrhundertwende. Unter Mitarbeit von Agnes Meisinger. Wien/ Köln/ Weimar 2016, S.-88f. wieder, die von prekären Lebensverhältnissen und gesellschaftlichen Ab‐ grenzungen umrahmt werden. In der autobiografischen Erzählung Wie ich zum Sozialisten wurde (1913) schrieb Cankar über eine Beobachtung aus dem Alltag von Außenseitern, deren Bedingungen des sozialen (Über-)Lebens nahezu alternativlos erschienen, sich der Wahrnehmung der großbürgerli‐ chen und adeligen Welt aber entzogen: Ich lebte damals im sechzehnten Wiener Bezirk, […] Dieser Bezirk ist nicht nur eine Hochburg der Sozialdemokratie, sondern zugleich das Heim der Armut und der Schwindsucht. […] Das Unrecht der gesellschaftlichen „Ordnung“ stellte sich auf offener Straße zur Schau und gedieh in all seiner schamlosen Nacktheit. Im Winter […] warf man die Familien stellenloser Arbeiter und „selbständiger“, hungernder kleiner Gewerbetreibender auf die Gasse. Ich sah einen Mann, der bewußtlos auf dem Pflaster liegengeblieben war; […] als man den Rettungswagen gerufen hatte, stellte der Arzt fest, daß der zerlumpte Schwindsüchtige nicht wegen Trunkenheit zusammengebrochen war, sondern wegen Hunger. 30 Der Widerspruch von literarischer Ästhetik und Arbeiterelend, von Kaffee‐ haus und illegalen Massenschlafstellen verweist auf die kulturelle Textur 31 Wiens, in die der Kontrast zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen illustrem Kaffeehaus und Vorstadtanarchie eingeschrieben ist. Die im Ge‐ folge von Georg Ritter von Schönerer und Karl Lueger wirkenden (natio‐ nal-)politischen Parteien und nationalistisch auftretenden Massen rekapitu‐ lierten diese Krisensymptome im Sinne einer Konstruktion von Fremd- und Feindbildern, welche sich über sprachliche und ethnische Zugehörigkeiten definierten. Dies betraf Wien gleichermaßen wie andere Ballungsräume im zentraleuropäischen Raum und förderte gesellschaftspolitische sowie kul‐ turelle Gegensätze. 32 Der inmitten der sprachlichen und ethnischen Plurali‐ täten aufkeimende Nationalitätenkonflikt mischte sich mit politisch sowie 160 VIII Vom Pessimismus zum Kompromiss <?page no="161"?> 33 Vgl. Mulacz, P.: Die Schüsse von Sarajevo. Das Attentat, das die „Urkatastrophe des 20.-Jahrhunderts“ ausgelöst hat. In: ÖMZ 3 (2015), S.-292-297. 34 Vgl. Rauchensteiner, M.: Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie. Wien/ Köln/ Weimar 2013, S.-85-93. 35 Vgl. Hobsbawm, E.: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. Aus dem Englischen von Yvonne Badal, München 2007, S.-21. 36 Vgl. Imbusch, P.: Moderne und Gewalt: Zivilisationstheoretische Perspektiven auf das 20. Jahrhundert. Wiesbaden 2005, S. 512-516; Kittler, F.: Il fiore delle truppe scelte. In: Ders.: Die Wahrheit der technischen Welt. Essays zur Genealogie der Gegenwart. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Hans Ulrich Gumbrecht. Berlin 2 2014, S.-301-308. wirtschaftlich motivierten rassenbiologischen Vorstellungen und mündete in den Ersten Weltkrieg. Das Ende des langen 19. Jahrhunderts setzte im Juni 1914 ein, als der potenzielle habsburgische Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau bei einem Militärmanöver in Sarajevo umgebracht wurden. 33 In den darauffolgenden Wochen begann eine Kriegsmaschinerie zu greifen, welche die kulturellen Errungenschaften Mittel- und Westeuropas in eine Welt von gestern verwandelte. 34 Nach einem Wort Eric Hobsbawms begann 1914 das Zeitalter des Massa‐ kers. Der Erste Weltkrieg markierte den Zusammenbruch der westlichen Zivilisation, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch ihren Glauben an Wissenschaft und materiellen Fortschritt fundamental von Europa als Zen‐ trum überzeugt gewesen war. 35 Dieser durch die industriellen Erzeugnisse mechanisierte und technisierte Krieg verwickelte alle Großmächte und die meisten der europäischen Staaten. Darüber hinaus wurden Truppen aus der Welt jenseits der Ozeane in den Kampf und zur Arbeit außerhalb ihrer eigenen Regionen geschickt. Die technischen Optimierungen mobilisierten Truppeneinheiten, verbesserten die Artillerie und erzeugten eine ungeheure Präsenz von Maschinenwaffen, die durch ihre Destruktionskraft ein bis in diese Zeit unvorstellbares Ausmaß von Gewalt an Mensch und Umwelt aus‐ übten, wie die Schlachtfelder in Verdun, in Flandern oder am Isonzo zeigten. Maschinengewehre, Granaten, Gas oder tragbare Minen- und Flammenwer‐ fer führten ein massenhaftes Sterben herbei, das an keine romantisierten Kampf- oder Ehrenrituale der Vergangenheit mehr erinnerte, vielmehr in einem Wettlauf zwischen Technik und Taktik von einem personalintensiven zu einem materialintensiven Krieg überging. 36 b) Kaffeehaus und Elendsviertel: Wien um 1900 161 <?page no="162"?> 37 Vgl. Heer, F.: Der Kampf um die österreichische Identität. 3., unveränderte Auflage. Köln/ Weimar/ Wien 2001, S.-321f. 38 Vgl. Volke, W.: Hugo von Hofmannsthal in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 18 2004, S. 140ff.; Weinzierl, U.: Hofmannsthal. Skizzen zu seinem Bild. Wien 2005, S.-60-67. 39 Rilke, R. M.: Fünf Gesänge. August 1914. In: Ders.: Werke. Bd. II,1: Gedichte und Übertragungen. Frankfurt am Main 1980, S.-86f. c) Kultur zwischen Heuchelei und Kompromiss Während die einen den großen Krieg fürchteten, berauschten sich die anderen an der Kriegsbegeisterung - Hybris und Vernichtung lagen nahe beieinander. Massen von Arbeitern erhofften sich durch den Krieg eine Läuterung von den Konflikten ihrer sozialen Lebensprobleme und fanden in der Presse ein willkommenes Echo. 37 Bei vielen Intellektuellen, die mit dem Temperament der meisten hohen politischen Vertreter Österreich-Un‐ garns und Deutschlands, die aus alten Kriegen noch alte Rechnungen zu begleichen hatten, übereinstimmten, fanden sich nach dem Attentat von Sarajevo Kriegsgedichte, patriotische Reden, Argumente für die Notwen‐ digkeit eines Präventivkriegs sowie kriegsverherrlichende Aufsätze. Hugo von Hofmannsthal kam nach seinem militärischen Kurzaufenthalt als Land‐ sturm-Offizier in Istrien, der durch Protektion und eine eigens attestierte leichte Zuckerkrankheit rasch beendet wurde, in das neu gegründete k. u. k. Kriegspressequartier, wo er neben ebenso begeisterten wie fantasiebehafte‐ ten Frontbriefen an seine Verwandten anfänglich kriegspropagandistische Texte verfasste, die in der Neuen Freien Presse abgedruckt wurden. 38 Rainer Maria Rilke verwechselte im Angesicht beginnender militärischer Ausein‐ andersetzungen einen antiquierten, romantisierten Kriegsgott mit dem drohenden Gemetzel der Realität, als er im ersten seiner Fünf Gesänge. August 1914 feierlich anhob: Zum ersten Mal seh ich dich aufstehn hörengesagter fernster unglaublicher Kriegs-Gott. Wie so dicht zwischen die friedliche Frucht furchtbares Handeln gesät war, plötzlich erwachsenes. […] Endlich ein Gott. Da wir den friedlichen oft nicht mehr ergriffen, ergreift uns plötzlich der Schlacht-Gott, schleudert den Brand: und über dem Herzen voll Heimat schreit, den er donnernd bewohnt, sein rötlicher Himmel. 39 162 VIII Vom Pessimismus zum Kompromiss <?page no="163"?> 40 Vgl. Benda, J.: Der Verrat der Intellektuellen. Aus dem Französischen von Arthur Merin. Mainz 2013, S.-122-132. 41 Vgl. von Ungern-Sternberg, J./ von Ungern-Sternberg, W.: Der Aufruf ’An die Kultur‐ welt! ’ Das Manifest der 93 und die Anfänge der Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg (= Historische Mitteilungen: Beiheft 18). Mit einer Dokumentation. Stuttgart 1996, S.-13-18. 42 Vgl. Piper, E.: Nacht über Europa. Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs. Berlin 2013, S.-89ff. Rilke wurde 1916 eingezogen und der militärischen Grundausbildung un‐ terzogen. Ähnlich wie Hofmannsthal kam er nach Fürsprache aber nicht an die Front, sondern wurde in die Presse versetzt. Zwei Beispiele für viele - anstatt sich auf die Idealität von leidenschaftsloser Politik und Moral zu besinnen, folgte, was Julien Benda wenig später als den Verrat der Intellektuellen bezeichnen sollte: die Verherrlichung des gesellschafts‐ politischen Strebens nach exklusiver ethnischer Identität, vermittelt durch nationalistische Parolen. 40 Selbst als sich durch erste Nachrichten und Berichte aus den umkämpften Gebieten erschließen ließ, dass veraltete Vorstellungen von heroischen Schlachten der neuen Realität des großen Massensterbens nicht gerecht werden konnten, wurde auf Propaganda zurückgegriffen, die den Krieg stilisieren sollte. So wurde etwa auf deutscher Seite im Oktober 1914 ein von 93 prominenten Vertretern des deutschen Geisteslebens - unter anderem Wilhelm Windelband und Karl Lamprecht - unterzeichneter Aufruf an die Kulturwelt verfasst, um noch neutrale Staaten von der Gerechtigkeit des Vorgehens von Deutschland zu überzeugen. 41 Als im November des gleichen Jahres ein deutsches Reservekorps in der Nähe der belgischen Ortschaft Langemark eine von Briten besetzte Anhöhe erobern wollte, wurden mehr als 2000 vorwiegend junge Soldaten in we‐ nigen Augenblicken von Maschinengewehrschützen niedergestreckt. Dies hinderte die Heeresleitung nicht daran, einen Mythos zu stilisieren, der zum Symbol eines ritterlich-heldenhaften, opferbereiten Regimentes wurde: junge Kriegsfreiwillige, die mit dem Deutschlandlied auf den Lippen in den Tod liefen. 42 In dieser Form konnten Gräueltaten in ihr Gegenteil und Niederlagen zu heroischen Schlachten verkehrt werden. Freud hatte inzwischen auf Basis von Sprache und Subjektivität seiner Patienten sowie durch die Ausarbeitung eines methodischen Konzepts des Unbewussten das Sinnproblem von diffusen Krankheitsbildern in eine Kulturtheorie überführt, die Sexualität, Aggression, Neurose und Traum als c) Kultur zwischen Heuchelei und Kompromiss 163 <?page no="164"?> 43 Vgl. Erdheim, M.: Psychoanalyse und Unbewußtheit in der Kultur. Aufsätze 1980-1987. Frankfurt am Main 2 1991, S.-123-127. 44 Vgl. Gay, P.: Freud. Eine Biographie für unsere Zeit. Aus dem Amerikanischen von Joachim A. Frank. Frankfurt am Main 3 2006, S. 396-399; Dirkopf, F.: Freud und das Vaterland im Ersten Weltkrieg. In: Focke, I./ Salzmann, G. (Hgg.): Psychoanalytische Erkundungen. Beiträge zur Jahrestagung 2016. Berlin 2017, S.-126f. 45 Freud, S.: Zeitgemäßes über Krieg und Tod. In: Ders.: Studienausgabe, Bd. IX: Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion. Herausgegeben von Alexander Mitscherlich et al., Frankfurt am Main 2000, S.-38. zentrale Elemente heraushob. 43 Im März/ April 1915 veröffentlichte er zwei Essays unter dem Titel Zeitgemäßes über Krieg und Tod in der Zeitschrift Imago, die 1912 von Otto Rank und Hanns Sachs gegründet worden war, um die von Freud begründete Psychoanalyse in den Feldern der Geisteswissen‐ schaft anzuwenden. Während Freud in den ersten Wochen und Monaten in teils patriotischer Manier Kommentare zu den neuesten Meldungen von der Front schrieb, 44 kam er ein knappes Jahr nach Kriegsausbruch zu einem nüchternen Ergebnis über das Verhältnis des Menschen zu Krieg und Tod: „Der Krieg, an den wir nicht glauben wollten, brach nun aus, und er brachte die - Enttäuschung“ 45 , schrieb Freud im ersten Essay Die Enttäuschung des Krieges. Es sei eine Enttäuschung, die einstmals bedeutsame Einheit der Kulturweltbürger Europas derart zerfallen zu sehen, dass ein Wieder‐ auferstehen für lange Zeit kaum erwartet werden könne. Freuds Einleitung erfolgte zeitgemäß, indem er sein Entsetzen über die Schrankenlosigkeit der Kriegsgewalt ausdrückte, die selbst vor zivilisierten/ neutralen Nationen keinen Halt macht. Von jener Welt Mitteleuropas, die sich durch technische Fortschritte und künstlerische wie wissenschaftliche Kulturwerte ausge‐ zeichnet hatte, die ihre sittlichen Normen zur Grundlage ihres Bestandes erhob und alle ethische Depravierung dem kritischen Verstand unterzog, hätte man anderes erwarten dürfen. Doch die Überleitung zur vergebenen Chance einer vernunftbegabten Lösung von geopolitischen Interessenkon‐ flikten gab Freud die Möglichkeit, auf seinen zentralen Aussagegehalt mit der Wucht der konstruierten psychoanalytischen Realität hinzuweisen. Die Reaktion des zivilisierten Individuums beruhe in Wahrheit auf einer Illusion, die sich in der Überzeugung spiegle, dass sich einerseits Kulturnationen gegenüber sogenannten primitiven Völkern auf einem höheren moralischen Niveau befänden und andererseits, dass Aggression und Kriegstreiberei durch Kultivierung überwunden werden könnten. 164 VIII Vom Pessimismus zum Kompromiss <?page no="165"?> 46 Ibid., S.-42. 47 Ibid., S.-44f. 48 Sigmund Freud an Lou-Andreas Salomé, 30. Juli 1915. In: Freud, S.: Briefe 1873-1939. Zweite, erweiterte Auflage. Ausgewählt und herausgegeben von Ernst und Lucie Freud. Zürich 1960, S.-323f. Freud verdeutlichte dies anhand der moralischen Strukturen und fremd‐ bestimmten Verhaltensvorstellungen des modernen europäischen Staats‐ wesens, die den Kulturprozess des Menschen zu einer Kompensationser‐ scheinung archaischer Entwicklungsstufen zwängen. Die Gesellschaft der „Weltmitbürger“ erfordere ein gewisses Maß an Kulturheuchelei, die für die Aufrechterhaltung zivilisierter Umgangsformen unerlässlich sei. Kultur ist demgemäß „durch Verzicht auf Triebbefriedigung gewonnen worden und fordert von jedem neu Ankommenden, daß er denselben Triebverzicht leiste.“ 46 In Umkehrung von Herders Hochschätzung der Erziehung als zwei‐ ter Genesis des Menschen fällt Freuds Urteil über die Schrecken des Krieges, zwischen kulturbedingter und kulturbedingender Triebregelung, zwischen Kulturaneignung und Modellierung des Seelenlebens, unzeitgemäß und desillusionierend aus: […] daß unsere Kränkung und schmerzliche Enttäuschung wegen des unkultu‐ rellen Benehmens unserer Weltmitbürger in diesem Kriege unberechtigt waren. […] In Wirklichkeit sind sie nicht so tief gesunken, wie wir fürchten, weil sie gar nicht so hoch gestiegen waren, wie wir’s von ihnen glaubten. […] die primitiven Zustände können immer wiederhergestellt werden; das primitive Seelische ist im vollsten Sinne unvergänglich. 47 Kulturaneignung als Triebumbildung wird zur Bestandsgarantie einer Ge‐ sellschaft, wenngleich sie einen Prozess darstellt, der den Rückfall nicht ausschließt. In einem Brief Freuds vom 30. Juli 1915 an seine langjährige, vertraute Briefpartnerin Lou Andreas-Salomé, die in Wien bei ihm studiert hatte, können wir den Sukkus dieser Überzeugung der Selbstmissdeutung herauslesen: Die Einheit dieser Welt scheint mir etwas Selbstverständliches, was der Hervor‐ hebung nicht wert ist. Was mich interessiert, ist die Scheidung und Gliederung dessen, was sonst in einen Urbrei zusammenfließen würde. […] Ich kann nicht Optimist sein, unterscheide mich von den Pessimisten, glaube ich, nur dadurch, daß mich das Böse, Dumme, Unsinnige nicht aus der Fassung bringt, weil ich’s von vorneherein in die Zusammensetzung der Welt aufgenommen habe. 48 c) Kultur zwischen Heuchelei und Kompromiss 165 <?page no="166"?> 49 Freud, S.: Das Unbehagen in der Kultur. In: Ders.: Studienausgabe, Bd. IX: Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion. Herausgegeben von Alexander Mitscherlich et al., Frankfurt am Main 2000, S.-270. 50 Vgl. Pernet, C.: Twists, Turns and Dead Alleys: The League of Nations and Intellectual Cooperation in Times of War. In: Journal of Modern European History 12/ 3, 2014, S. 343. 51 Einstein, A./ Freud, S.: Warum Krieg? Ein Briefwechsel. Mit einem Essay von Isaac Asimov. Zürich 2011, S.-15. 52 Vgl. Richter, H.-E.: Was den Krieg macht. In: Pichler, C. (Hrsg.): Texte und Protokolle zum Briefwechsel Albert Einstein - Sigmund Freud. Bruno-Kreisky-Forum für Interna‐ tionalen Dialog. Wien 2006, S.-75. Freud hielt an diesem schier unauflösbaren Antagonismus zwischen Kul‐ turfähigkeit und Triebforderung als Signum der menschlichen Psyche fest. Im Zuge der Kriegserfahrung wandte er sich aber zunehmend der Aggressi‐ onsneigung als selbstständigem Todes- oder Destruktionstrieb zu und erkor diesen in seinem kulturpessimistischen Werk Das Unbehagen in der Kultur (1930) zur anthropologischen Schicksalsfrage: ob und in welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernich‐ tungstrieb Herr zu werden. 49 1932 wandte sich das Internationale Institut für geistige Zusammenarbeit - eine 1926 gegründete und an den Völkerbund angeschlossene Organisation, die sich in naiver, aber guter Absicht der Förderung der Friedensbereitschaft der Völker durch kulturelle Maßnahmen verpflichtete 50 - an Albert Einstein mit der Anregung, sich mit einem Partner und einem Thema seiner Wahl brieflich auszutauschen. Einsteins Wahl fiel auf Freud, an den er die Frage richtete, die ihm als die zu dieser Zeit wichtigste der westlichen Zivilisation erschien: „Gibt es einen Weg, die Menschen von dem Verhängnis des Krieges zu befreien? “ 51 Einstein selbst war bekennender Pazifist und zudem einer von insgesamt lediglich drei Wissenschaftlern, die 1914 einen Appell gegen das Manifest Aufruf an die Kulturwelt unterschrieben hatten. 52 Sollte es, so Einstein in dem kurzen Brief, nicht gelingen, eine überstaatliche Organisation zur Kontrolle internationaler Sicherheit zu schaffen, müsste in psychologischer Betrachtung der Frage nachgegangen werden, warum Menschen ein Bedürfnis zu hassen und zu vernichten besäßen, das sie bis zur Raserei und Selbstaufopferung bringe. An dieser Stelle erhoffte er sich von Freud, den er als den großen Kenner der menschlichen Triebe titulierte, 166 VIII Vom Pessimismus zum Kompromiss <?page no="167"?> 53 Vgl. Rother, R.: Die pazifistische Empörung. Zum Einstein-Freud-Briefwechsel. In: Ruhs, A./ Seitter, W. (Hgg.): Unbewusstes Inszenieren: Symptom - Werk - Leben. Wien 2007, S.-226f. 54 Freud, S.: Warum Krieg? In: Ders.: Studienausgabe, Bd. IX: Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion. Frankfurt am Main 2000, S.-277. 55 Vgl.: Gutjahr, O.: Kulturbegriff. In: Lohmann, H.-M./ Pfeiffer, J.: Freud Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart 2013, S.-242f. 56 Freud, Warum Krieg? S.-285. 57 Empfohlen sei dazu der Überblick von Kitchen, M.: Kurze Geschichte des Dritten Reiches. Aus dem Englischen von Dorothea Grünewald. Darmstadt 2006, S.-53-88. eine Klärung. Freuds Antwort erfolgte einen Monat später und stellt seine zweite explizite Stellungnahme zum Thema Krieg dar. 53 Da der Blick auf Konfliktlösungspotenziale in der Menschheitsgeschichte unzählige Kraftproben des Krieges und der Destruktion demonstriere, erscheine eine „Überwindung der Gewalt durch Übertragung der Macht an eine größere Einheit“ 54 ebenso wie eine Gemeinschaft von Menschen, die ihre Aggressionsneigung dem Diktat der Vernunft unterordne, als utopisch. War der Mensch in seinem Naturzustand auf unmittelbare Bedürf‐ nisbefriedigung ausgerichtet, so galt es, durch Kultur als unumgängliche Vergesellschaftungsform verbindliche Regeln und Organisationsformen zu schaffen, um mit konfliktbehafteten Triebansprüchen einen Kompromiss zu schließen, der pathogene Prozesse (neurotische Symptome, Gewalt, …) verhindern und zugleich den Idealforderungen einer Gesellschaft gerecht werden konnte. 55 Die Ambivalenz zwischen egoistischen und altruistischen Strebungen, zwischen unsozialen Trieben und gesellschaftlichen Anforde‐ rungen bleibt jedoch vorhanden, wenn er resümiert: Seit unvordenklichen Zeiten zieht sich über die Menschheit der Prozeß der Kulturentwicklung hin. […] Diesem Prozeß verdanken wir das Beste, was wir geworden sind, und ein gut Teil von dem, woran wir leiden. Seine Anlässe und Anfänge sind dunkel, sein Ausgang ungewiß […] Unterdes dürfen wir uns sagen: Alles, was die Kulturentwicklung fördert, arbeitet auch gegen den Krieg. 56 Als der Briefwechsel im März 1933 erschien, wurde seine Verbreitung in Deutschland verboten. Adolf Hitler war wenige Wochen zuvor zum deutschen Reichskanzler ernannt worden. Dem Einsetzen der nationalsozia‐ listischen Politik in Deutschland 57 (Einschränkung und spätere Aufhebung der Versammlungs- und Pressefreiheit, Ausschaltung aller Oppositionspar‐ teien, Errichtung von Konzentrationslagern zur Internierung sowie späteren Tötung von politischen Gegnern und ethnischen Minderheiten), die in eine c) Kultur zwischen Heuchelei und Kompromiss 167 <?page no="168"?> Diktatur mündete, folgte in Österreich mit der Abkehr von der parlamen‐ tarischen Demokratie die Herausbildung eines austrofaschistischen Herr‐ schaftssystems, die den Weg zum Anschluss Österreichs an Deutschland 1938 ebnete. Während Freud weitere Desillusionierungen durch seinen Tod im September 1939 erspart blieben, musste Einstein ins Exil nach Amerika gehen und zwei der größten Verbrechen gegen die Menschheit extern und passiv, aber als Zeitgenosse miterleben: den Holocaust sowie Little boy und Fat man. 168 VIII Vom Pessimismus zum Kompromiss <?page no="169"?> 1 Vgl. Reckwitz, A.: Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms. Weilerswist 2 2008, S.-16f. 2 Vgl. im Folgenden: Kumoll, K.: Clifford Geertz (* 1926). Von der „dichten Beschreibung“ zur Heterogenität kultureller Systeme. In: Hofmann, M. L. et al. (Hgg.): Culture Club II. Klassiker der Kulturtheorie. Frankfurt am Main 2006, S. 272-275; Gottowik, V.: Clifford Geertz und der Verstehensbegriff der interpretativen Anthropologie. In: Gerlach, H.-M./ Hütig, A./ Immel, O. (Hgg.): Symbol, Existenz, Lebenswelt. Kulturphilosophische Zugänge zur Interkulturalität (= Daedalus, Bd. 16). Frankfurt am Main 2004, S. 161-164. IX Der Weg in die Internationalisierung a) Kulturwissenschaftliche Institutionalisierung In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfolgte innerhalb der etablierten Geschichts-, Sprach- und Literaturwissenschaften eine ansteigende Zuwen‐ dung des Gegenstandsinteresses auf kulturelle Phänomene, die von den Folgeerscheinungen der industriellen Revolution und der aufkommenden Arbeiterbewegung geprägt wurde. Ab den 1950er-Jahren kam es zu meh‐ reren institutionellen Neuausrichtungen, welche kulturwissenschaftliche Fragestellungen und kulturtheoretische Argumentationen in verschiedenen Einzeldisziplinen zur akademischen Tagesordnung machten - so unter anderem an der Harvard University in Nordamerika mit dem Fokus auf kulturelle Differenzen und Fremdheit als methodisches Prinzip, an der Annales-Schule in Paris mit ihrem fächerübergreifenden Zugang zur All‐ tagsgeschichte vergangener Jahrhunderte oder am Centre for contemporary cultural studies an der Universität Birmingham mit dem Blick auf die kulturelle Konstitution sozialer Milieus, Minoritätenpolitik und Migration. 1 In der Ethnologie knüpfte Clifford Geertz an die deutschsprachige Wis‐ senschaftstheorie im Gefolge Webers und Cassirers an, nachdem er in den 1950er- und 60er-Jahren in Indonesien sowie in Marokko Feldforschung zur ökonomischen und politischen Analyse gesellschaftlichen Wandels betrieben hatte. Teile dieser Forschung wurden später in seinem richtung‐ weisenden Sammelband The Interpretation of Cultures (1973) veröffentlicht, der die hermeneutische Grundlegung der Ethnologie zwischen Text und Lebenswelt ansiedelte. 2 Kultur entsteht nach Geertz durch Sinnzuschreibun‐ gen derjenigen, die sie praktizieren - die sozialen Akteure: <?page no="170"?> 3 Geertz, Dichte Beschreibung, S.-9. 4 Vgl. Bachmann-Medick, D.: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissen‐ schaften. Reinbek bei Hamburg 2010, S.-66-72. Ich meine mit Max Weber, dass der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich Kultur als dieses Gewebe ansehe. Ihre Untersuchung ist daher keine experimentelle Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht, sondern eine interpretierende, die nach Bedeutungen sucht. 3 Der Ethnologe schließt die Textbücher, aus denen er lernte und durch die er sozialisiert wurde, und beginnt, durch Mikroanalysen einzelner Fallstu‐ dien einen geschärften Blick auszubilden, um signifikante Praktiken und Verhaltenszusammenhänge wie bei der Auslegung eines schriftlichen Textes im Sinne einer vielschichtigen Les- und Deutbarkeit hin zu betrachten. 4 Die Suche nach diesen Bedeutungen, die sich der Mensch selbst zuschreibt, führt zu einem symbolischen Netz von Ereignissen, Alltagserlebnissen und mündlichen Mitteilungen, das durch den Ethnologen im Zuge einer herme‐ neutischen Rekonstruktion schriftlich festgehalten werden muss. Erfasst der wissenschaftliche Blick Ereignisse wie etwa Hahnenkämpfe auf Bali oder vermeintlich alltägliche Handlungen wie Bewegungen eines menschlichen Augenlides, so ergeben sich zwei Möglichkeiten der Beschreibung, die Geertz von dem britischen Philosophen Gilbert Ryle übernommen hat: • Die dünne Beschreibung konstatiert bei den beiden angeführten Beispie‐ len lediglich einen blutigen, oftmals tödlich endenden Kampf unter männlichen Haushühnern zur Unterhaltung der Zusehenden oder eine rein physische, unbewusste Bewegung der Wimpern als Zucken ohne intentionalen Mitteilungsgehalt. • Die dichte Beschreibung liefert dagegen einen Bedeutungskontext, der ei‐ ner kulturspezifischen Praxis oder einer Gestik bzw. Mimik zugeordnet wird: das Zelebrieren von männlicher Statusrivalität unter Hahnbesit‐ zern, das über Ehre und finanzielle Verhältnisse der Teilnehmenden Auskunft gibt, und die Augenbewegung als Zwinkern mit spezifischer kommunikativer Intention, die einer regelrechten Hierarchie bedeu‐ tungsvoller Strukturen entsprechen kann. Im Bewusstsein der Unmöglichkeit, eine faktische Grenze zwischen Darstel‐ lungsweise und beobachtetem Inhalt, zwischen Analyse und Gegenstand zu ziehen, versetzt sich der Ethnograf hinein in das, was beobachtet wird, und hält seine Beobachtung als Interpretation von Bedeutungen schriftlich fest. 170 IX Der Weg in die Internationalisierung <?page no="171"?> 5 Geertz, C.: Die künstlichen Wilden. Der Anthropologe als Schriftsteller. Aus dem Amerikanischen von Martin Pfeiffer. Frankfurt am Main 1993, 138f. 6 Geertz, Dichte Beschreibung, S.-257ff. 7 Vgl. Hansen, K. P.: Kultur und Kulturwissenschaft. Eine Einführung. 4., vollständig überarbeitete Auflage. Tübingen/ Basel 2011, S.-265f. Als Anspruch an die eigene Wissenschaftlichkeit hält Geertz diesbezüglich 1988 in Die künstlichen Wilden fest: Diese Fähigkeit, Leser […] davon zu überzeugen, daß das, was sie lesen, ein authentischer Bericht von jemandem ist, der persönlich damit vertraut ist, wie das Leben an einem Ort, zu einer Zeit, bei einer Gruppe abläuft, ist die Basis, auf der alles andere, was die Ethnographie zu tun bestrebt ist - zu analysieren, erklären, amüsieren, verwirren, preisen, erbauen, entschuldigen, erstaunen, umstürzen -, letztlich beruht. 5 Die erklärende, analysierende und deutende Perspektive von außen er‐ scheint folglich als zu übersetzender Kontext des kulturell vor Ort Vorge‐ fundenen, das mithilfe einer dichten Beschreibung als textliche Verbindung zwischen Beschreibendem und Beschriebenen verständlich wird. So heißt es schließlich in The Interpretation of Cultures: Streichquartette, Stilleben und Hahnenkämpfe sind nicht einfach Widerschein einer vorweg existierenden Empfindung, die analog wiedergegeben wird; sie sind für die Hervorbringung und Erhaltung solcher Empfindungen konstitutiv. […] Die Kultur eines Volkes besteht aus einem Ensemble von Texten, die ihrerseits wieder Ensembles sind, und der Ethnologe bemüht sich, sie über die Schultern derjenigen, für die sie eigentlich gedacht sind, zu lesen. 6 Kulturelle Gegenstände des Einzelnen oder des Kollektivs wie Handlungen, Alltagsgeräte oder Rituale sind folglich Zeichen, die mit einer Bedeutung ausgestattet werden, welche als kodierte Assoziation und/ oder Konnotation innerhalb einer Gruppe oder Ethnie erkannt wird. 7 Die Kultur des Menschen wird damit zu einem Ensemble von Bedeutungskomponenten, das im Hin‐ tergrund der Kontextabhängigkeit und Erkenntnisfähigkeit des jeweiligen Beobachters als Text übertragen bzw. übersetzt und damit dicht beschreibbar wird. Durch den Blick auf das außereuropäisch Fremde an sich sowie auf die Verschiedenartigkeit fremder Handlungen kann die wertende westliche Einschätzung (Ethnozentrismus), die massiv durch die Bestrebungen der Kolonialpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts beeinflusst wurde, radikal infrage gestellt werden - zugleich wird dieser Blick methodisch an die Spitze a) Kulturwissenschaftliche Institutionalisierung 171 <?page no="172"?> 8 Vgl. Wehler, H.-U.: Die Herausforderung der Kulturgeschichte. München 1998, S. 136ff.; Kumoll, K.: Clifford Geertz: Die Ambivalenz kultureller Formen. In: Moebius, S./ Quad‐ flieg, D. (Hgg.): Kultur. Theorien der Gegenwart. 2., erweiterte und aktualisierte Auflage. Wiesbaden 2011, S.-173ff. 9 Vgl. Schleier, H.: Der Kulturhistoriker Karl Lamprecht, der „Methodenstreit“ und die Folgen. In: Ders. (Hrsg.): Karl Lamprecht. Alternative zu Ranke. Schriften zur Geschichtstheorie. Leipzig 1988, S.-20-28. 10 Vgl. im Folgenden Dinzelbacher, P.: Zu Theorie und Praxis der Mentalitätsgeschichte. In: Dinzelbacher, P. (Hrsg.): Europäische Mentalitätsgeschichte. Hauptthemen in Einzel‐ darstellungen. 2., durchgesehene und ergänzte Auflage. Stuttgart 2008, S. XXII-XXVIII; Spode, H.: Was ist Mentalitätsgeschichte? Struktur und Entwicklung einer Forschungstradition. In: Hahn, H. (Hrsg.): Kulturunterschiede: interdisziplinäre Konzepte zu kol‐ lektiven Identitäten und Mentalitäten (= Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Analyse intellektueller Beziehungen, Bd. 3). Frankfurt am Main 1999, S. 25-31; Honegger, C.: Geschichte im Entstehen. Notizen zum Werdegang der Annales. In: Dies. (Hrsg.): Schrift und Materie der Geschichte: Vorschläge zur systematischen Aneignung historischer Prozesse. Frankfurt am Main 1977, S. 13-16; Röseberg, D.: Französische Wege zur Kulturwissenschaft. Die verkannte Wirkung Émile Durkheims und seiner Schule. In: Gipper, A./ Klengel, S. (Hgg.): Kultur, Übersetzung, Lebenswelten. Beiträge zu aktuellen Paradigmen der Kulturwissenschaften. Würzburg 2008, S.-64-68. der Verstehenshierarchie gestellt und in vertraute Formen übersetzt, die der europäische Leser rezipieren kann, wodurch die Gefahr entsteht, dass Vermutungen über Bedeutungen angestellt werden, die zu einer erneuten Festlegung von eigen und fremd führen. 8 Die spätaufklärerische deutschsprachige Kulturgeschichtsschreibung im Gefolge Herders und Adelungs verlief sich bis auf wenige Ausnahmen wie Karl Lamprecht in der Vielheit der Geschichten nationaler Identitäten des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Lamprechts (zu) groß angelegte, Kultur- und Wirtschaftsgeschichte betonende Deutsche Geschichte (1891-1909) löste einen veritablen Methodenstreit mit anderen deutschen Historikern aus, der für die folgenden Jahrzehnte in der Nachfolge Leopold von Rankes den Primat des Politischen und der Ereignisgeschichte vor der Kultur- und Sozialgeschichte zurückbrachte. 9 Während Lamprecht in Deutschland aka‐ demisch isoliert und nach seinem frühen Ableben (1915) ohne unmittelbare Nachfolge blieb, wurde er im Ausland bereits zu Lebzeiten stark rezipiert - unter anderem von dem belgischen Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler Henri Pirenne. Pirenne wiederum wurde neben Durkheim und dessen quantifizierende Methoden zu einem der Impulsgeber für die französische Mentalitätsforschung. 10 Bei der Histoire des Mentalités handelt es sich um einen Zweig innerhalb der neuen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, bei dem das mentale Rüstzeug 172 IX Der Weg in die Internationalisierung <?page no="173"?> 11 Bloch, M./ Febvre, L.: An unsere Leser. In: Middell, M./ Sammler, S. (Hgg.): Alles Gewor‐ dene hat Geschichte. Die Schule der ANNALES in ihren Texten 1929-1992. Mit einem Essay von Peter Schöttler. Leipzig 1994, S.-62. vergangener Epochen untersucht wird, wie es sich langfristig in den kollek‐ tiven menschlichen Gefühlen sowie ihren zeit- und gruppenspezifischen Ausdrucksweisen in alltäglichen Vorstellungen und verinnerlichten Haltun‐ gen, sozialen Umgangsformen und volkstümlichen Praktiken zeigte. Die Arbeiten stehen in der Tradition der von Lucien Febvre und Marc Bloch gegründeten Zeitschrift Annales d’histoire économique et sociale (1929) und der späteren institutionellen Verankerung der Annales-Schule (1947) in Paris. Zwar konnte von keiner einheitlichen methodischen oder geschichts‐ theoretischen Herangehensweise der einzelnen Vertreter gesprochen wer‐ den, doch vertraten die beiden Herausgeber Febvre und Bloch bereits in den in der ersten Ausgabe unter dem Titel „An unsere Leser“ gerichteten Worten den für die Annales-Schule charakteristischen und für eine heutige Kulturwissenschaft vertrauten Aufruf zur Transdisziplinarität. Es gibt natürlich nichts Besseres, als wenn jeder, während er eine legitime Spezia‐ lisierung verfolgt […], sich dennoch bemüht, das Werk des Nachbarn zu verfolgen. Aber die Mauern sind so hoch, daß sie oft genug den Blick verstellen. Welch wertvolle Anregungen für die Methode und für die Interpretation der Fakten, welcher Gewinn an Kultur, welcher Fortschritt an Intuition erwüchse indes aus häufigerem Gedankenaustausch zwischen diesen verschiedenen Gruppen! 11 Gegen die Universalgeschichten Vicos oder Herders setzten die Vertreter der Annales Instrumente der Quellenkritik ein, die zu den Faktoren und Formen des Fühlens und Denkens einer Epoche hinführen sollten. Aus unzähligen Quellentypen (Testamente, Flugblätter, Gebrauchsgegenstände, …) versuch‐ ten sie, elementare Empfindungen wie Glaube, Angst oder die Einstellung zum Tod herauszulesen, um ein Deutungsmuster für bestimmte Denk- und Handlungsweisen zu entwickeln, das der politischen und der Ereig‐ nisgeschichtsschreibung zur Erschließung der historisch-gesellschaftlichen Gesamtsicht über eine Epoche zur Seite gestellt wurde. Während Bloch etwa den im Mittelalter verbreiteten Volksglauben untersuchte, dass englische und französische Könige durch Heilungsrituale wie Handauflegen Haut- und diverse andere Leiden (Skrofulose) lindern können (Die wundertätigen Könige, 1924), widmete sich Febvre den Glaubens- und Vorstellungswelten herausgehobener Individuen wie etwa François Rabelais (Das Problem des a) Kulturwissenschaftliche Institutionalisierung 173 <?page no="174"?> 12 Febvre, L.: Das Problem des Unglaubens im 16. Jahrhundert. Die Religion des Rabelais. Mit einem Nachwort von Kurt Flasch. Aus dem Französischen von Gerda Kurz und Siglinde Summerer. Stuttgart 2002, S.-26. Unglaubens im 16.-Jahrhundert. Die Religion des Rabelais, 1942) oder Martin Luther. In der methodischen Vorbemerkung zu seiner Rabelais-Studie, die eine Gesamtschau auf Religion und Gesellschaft im 16. Jahrhundert bietet, schrieb Febvre über die Anforderung, zeitgenössische Quellen sorgfältig zu untersuchen, um nicht dem Anachronismus zu verfallen: […] diese in den dreißiger oder vierziger Jahren des 16. Jahrhunderts von Menschen, die nicht wie wir schrieben, verfaßten und von Geistern, die nicht wie wir dachten, ersonnenen Texte mit den Augen von damals zu lesen: Das ist die eigentliche Schwierigkeit, der springende Punkt, auf den es […] ankommt. 12 Der Blick auf das konkrete soziale Agieren sollte die Alltagsdimension von Handlungen und Einstellungen eines Kollektivs anzeigen sowie Rück‐ schlüsse auf Gedachtes und Gefühltes zulassen, das über eine längere Dauer als konstitutiv für die Mentalität angesehen wurde. Dieser Ansatz verweist mithin auf jene Lücke, die entsteht, wenn Dokumente der kulturellen Überlieferung in den intellektuellen Horizont einer Epoche oder eines Jahrhunderts gehoben werden, ohne deren Stellenwert im sozialen Gefüge einer Gemeinschaft zu berücksichtigen. Wenn aber die auf Quellen angewie‐ sene Analyse vergangene Denkmuster und Empfindungswelten inkludiert, kann ungeachtet des perspektivischen Behaftens das Bild vergangener Lebenswelten für heutige Beobachter erhellt werden. International folgten zahlreiche weitere Ansätze sowie Vertiefungen im Zusammenhang mit der Annales-Schule - institutionell etwa durch die deutsche Sozialgeschichte an der Universität Bielefeld (Hans-Ulrich Wehler), personenbezogen beispiels‐ weise durch Carlo Ginzburgs Mikrogeschichte, deren Fokus sich zeitlich und räumlich auf kleinere Ausschnitte bezog (Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600 [1976]), oder auch durch die Arbeiten Robert Darntons, die sich unter anderem mit den komplexen Kommunikationsnetzwerken im vorrevolutionären Frankreich beschäftigten (Poesie und Polizei. Öffentli‐ che Meinung und Kommunikationsnetzwerke im Paris des 18. Jahrhunderts [2000]). Im angelsächsischen Raum stellt das Centre for contemporary cultural studies (CCCS, 1964) an der Universität Birmingham in der gleichnamigen britischen Industriestadt ein weiteres Modell der kulturwissenschaftlichen 174 IX Der Weg in die Internationalisierung <?page no="175"?> 13 Vgl. im Folgenden: Lindner, R.: Die Stunde der Cultural Studies (= Edition Parabasen). Wien 2000, S. 18-22; Kramer, J.: British Cultural Studies. München 1997, S. 42-45; Moebius, S.: Cultural Studies. In: Ders. (Hrsg.): Kultur. Von den Cultural Studies bis zu den Visual Studies. Eine Einführung. Bielefeld 2012, S.-13-23. 14 Vgl. Lindner, R.: „Lived Experience“. Über die kulturale Wende in den Kulturwissen‐ schaften. In: Musner, L./ Wunberg, G./ Lutter, C. (Hgg.): Cultural Turn. Zur Geschichte der Kulturwissenschaften (= Kultur.Wissenschaft, Bd.-3). Wien 2001, S.-13f. 15 Williams, R.: Culture and Society. 1780-1950. New York 1960, S. VI. Institutionalisierung dar, das sich neuen sozialen Kontexten zuwandte. Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatten antikolonialistische Bewe‐ gungen zum einsetzenden Niedergang des British Empire beigetragen. Die damit einhergehenden gesellschaftlichen Umstrukturierungsprozesse beeinflussten die britische Kulturkritik und die Literaturwissenschaft. Die Protagonisten der gezielten Aufwertung einer neuen contemporary culture als Forschungsgegenstand sind Raymond Williams, Richard Hoggart und Stuart Hall. 13 Sie entstammten allesamt der Arbeiterklasse, erhielten durch Stipendien die Möglichkeit eines Studiums und verdienten sich ihre aka‐ demischen Anfänge in der Erwachsenenbildung. Williams‘ grundlegendes Werk Culture and Society. 1780-1950 (1958) verabschiedete den elitären Fo‐ kus der sogenannten Hochkultur auf intellektuelle und ästhetische Werke/ Prozesse oder offizielle (englische) Kulturgüter zugunsten einer Zuwendung zu gelebten Erfahrungen und Handlungen einer Kultur des Alltags 14 - gemäß seiner wohlbekannten Wendung, nach der Kultur allen sozialen Praktiken wie lebensweltlichen Erfahrungen inhärent ist: taking the theory of culture as a theory of relations between elements in a whole way of life. 15 Die Auffassung von Kultur als Ausdruck einer ganzen Lebensweise, die in Relation zu den Prozessen des alltäglichen Lebens steht, verdeutlicht Williams durch die Bezugnahme auf Schlüsselbegriffe der Moderne, die - wie der Kulturbegriff - eine historische Genese von der Mitte des 18. Jahr‐ hunderts bis ins 20. Jahrhundert durchlaufen haben: Industrie, Demokratie, Klasse und Kunst. Im Kapitel „Kunst und Gesellschaft“ erklärt er den relationalen Charakter kultureller Praktiken am Beispiel von Kunst und Kunstepochen: An essential hypothesis in the development of the idea of culture is that the art of a period is closely and necessarily related to the generally prevalent „way of a) Kulturwissenschaftliche Institutionalisierung 175 <?page no="176"?> 16 Ibid., S.-140. 17 „We thus came from a tradition entirely marginal to the centers of English academic life, and our engagement in the questions of cultural change […] were first reckoned within the dirty outside world.“ Hall, S.: The Emergence of Cultural Studies and the Crisis of the Humanities. In: October. The Humanities as Social Technology. 53/ 1990, S.-12. 18 Fiske, J.: Lesarten des Populären (= Cultural Studies, Bd. 1). Aus dem Englischen von Christina Lutter, Markus Reisenleitner und Stefan Erdei. Wien 2000, S.-53. life“, and further that, in consequence, aesthetic, moral and social judgements are closely interrelated. 16 Hoggarts The Uses of Literacy. Aspects of Working Class Life (1957) wandte Liedern oder Fotoromanen und der in ihnen latent enthaltenen politischen Bewusstseinsbildung die gleiche Aufmerksamkeit zu, die bei anderen Lite‐ raturtheoretikern dem Roman vorbehalten war. Unter dem Direktorat von Stuart Hall (1968-1979) kamen Arbeiten zur Medien- und Ideologietheorie, zu jugendlichen Subkulturen und zu feministischen Fragestellungen hinzu. Ähnlich zu ihrer akademischen Sozialisation, die, nach einer Selbstbeschrei‐ bung Halls, von der schmutzigen Welt abseits der englischen Zentren bestimmt wurde, 17 erfolgte die Erforschung der Populär- und Alltagskultur durch den Blick von unten - beispielsweise auf Freizeitbeschäftigungen sozial benachteiligter Schichten oder ethnischer Minderheiten in Beziehung zu den Strukturen patriarchaler oder politischer Herrschaft. 1989 erschien von John Fiske eine Essay-Sammlung (Reading the Popular), die sich den angeführten Themenbereichen widmet und dabei einen guten Einblick in die Fülle an zu erforschenden Gegenstandsfeldern der Cultural Studies gibt. Die von Fiske selbst als Bricolage bezeichneten Beiträge behandeln unter anderem theoretische Annäherungen zum Strandurlaub, zur bekannten Sängerin Madonna, zum populären Faktor von Fernsehnach‐ richten oder zum Shoppen in Einkaufszentren als Freizeitbeschäftigung. Am Beispiel „Lustvoll Shoppen“ verweist er darauf, wie sich das Schaufenster‐ bummeln, das Einnehmen des öffentlichen Raums als Treffpunkt verschie‐ dener Interessengruppen sowie schlussendlich der Kauf diverser Waren und Güter am kapitalistischen Schlüsselelement des Neuen orientieren: Neuheit ist natürlich ein zentraler Punkt der ökonomischen und ideologischen Interessen des Kapitalismus: Das Begehren nach dem Neuen hält den Produkti‐ onsprozeß in Gang und das Geld in Richtung der Produzenten und Händler in Fluß. 18 176 IX Der Weg in die Internationalisierung <?page no="177"?> 19 Ibid., S.-42. Die Modeindustrie etwa schafft durch jährlich/ saisonal neue Trends eine künstliche Neuheit, die ein künstliches Veralten von bereits benutzter Bekleidung impliziert. Zugleich relativiert Fiske die Kritik am Ausspielen ökonomischer Interessen gegen den reinen Gebrauchswert mit dem Hin‐ weis auf den individuell variierenden Bedeutungsgehalt der kulturellen Ressource, die der Konsument durch den Kauf erwirbt: Die Komplexität und Subtilität der Rollen, die Waren in unserer Kultur spielen, werden allzu schnell durch die Vorstellung von einer Konsumgesellschaft abge‐ tan. In gewisser Weise sind alle Gesellschaften Konsumgesellschaften, denn alle Gesellschaften schätzen Güter für kulturelle Bedeutungen, die weit über ihren Gebrauchswert hinausgehen. 19 Dieser methodisch geschulte Blick auf diverse Freizeitaktivitäten bevor‐ zugte als alltagskulturelle Wende die bislang vom wissenschaftlichen Untersuchungsfeld Ausgeschlossenen. Damit einher ging eine deutliche Erweiterung des Kulturbegriffs, der sich nunmehr auf Einkaufszentren ebenso bezieht wie auf Urlaubsgewohnheiten oder auf eine Liedtextzeile von Bob Dylan. Das Birminghamer CCCS wurde zwar 2002 aus universitären Einsparungsgründen geschlossen, konnte sich aber als kritische Form der Kulturanalyse international verbreiten und ging etwa im deutschsprachigen Raum im Wesentlichen in den Medien- und Kommunikationswissenschaf‐ ten auf. Innerhalb der Selbstreflexion der Kulturwissenschaft laden die Ethnologie, die Mentalitätsforschung sowie die Cultural Studies zu einer Entprivilegierung der sogenannten Hochkultur und zu einem spät, aber doch erfolgten Blick auf außereuropäische Ethnien/ Kulturen ein. Die damit erfolgte Ausweitung des Kulturbegriffs wird nicht länger von Malerei, Theater, klassischer Musik und Ähnlichem als vordergründige Elemente gekennzeichnet, sondern vom gelebten Alltag geprägt, wie sich dieser in ritualisierten Handlungen, elementaren Empfindungen oder auch in Freizeitbeschäftigungen manifestieren kann. b) Widerstand zwischen Faschismus und Antisemitismus Die nationalstaatlichen Entwicklungen und das gesamtgesellschaftliche Leben der 1920er- und 1930er-Jahre wurden europaweit durch die Auswir‐ b) Widerstand zwischen Faschismus und Antisemitismus 177 <?page no="178"?> 20 Vgl. Wippermann, W.: Faschismus. Eine Weltgeschichte vom 19. Jahrhundert bis heute. Darmstadt 2009, S.-12f. 21 Vgl. Genschow, K.: Federico García Lorca. Leben, Werk, Wirkung. Berlin 2011, S.-22. kungen von Faschismus und Antisemitismus bestimmt - so auch in Spanien, Deutschland und Österreich. In Bezeichnung, Ideologie und politischem Stil an das italienische Vorbild unter Benito Mussolini und seine Partito Nazionale Fascista angelehnt, zeichnete sich das Handlungsspektrum des Faschismus durch seine hierarchische Gliederung nach dem Führerprinzip, durch uniformierte und bewaffnete paramilitärische Abteilungen sowie durch deren Bekenntnis zur und Ausübung von Gewalt und Gräueltaten gegen politische Gegner aller Couleur und rassistisch stigmatisierte Minder‐ heiten, vor allem Juden, aus. 20 Widerstand gegen diese gesellschaftspoliti‐ schen Einschnitte konnte unterschiedlich ausfallen. In Spanien verdeutlich‐ ten dies Federico García Lorcas künstlerische Ambitionen, seine poetischen Beschäftigungen mit den volkstümlichen Überlieferungen der Vega in Gra‐ nada sowie sein Eintreten für die Verfolgten nach der (Re-)Conquista und die sozial Benachteiligten am Land. In den 1920er-Jahren kam es in Spanien nach dem Erstarken der Arbei‐ terbewegung zu einer Militärdiktatur unter Primo de Rivera, dessen System mit Billigung des Königs auf Repression und Militärpräsenz aufgebaut war. Der in einem Dorf in Granada 1898 geborene Lorca kam zu dieser Zeit, nachdem er sich an der Universidad Complutense in Madrid an der geisteswissenschaftlichen Fakultät eingeschrieben hatte, mit pädagogi‐ schen Erneuerungsbestrebungen der intellektuellen spanischen Linken in Kontakt. 21 Der angestrebte Wandel, um die kulturelle und wirtschaftliche Lage zu verbessern, bekam nach den Kommunalwahlen 1931 eine konkrete Ausrichtung, als die Republikaner einen Sieg errangen. Der unter Primo de Rivera von Militärbehörden und religiösen Orden dominierte Bildungs‐ sektor sollte nunmehr durch Misiones Pedagógicas säkularisiert werden. Dies betraf den Ausbau von Schulen und die Errichtung von Büchereien, Bibliotheken sowie Museen, um die Analphabetenrate zu senken. Kunstaus‐ stellungen sowie Aufführungen kurzer Theaterstücke auch in entlegeneren Gebieten außerhalb der Ballungszentren waren weitere Realisierungen dieses pädagogischen Erneuerungsversuches. Darauf aufbauend, gründete Lorca, der seit der Veröffentlichung seiner Zigeunerromanzen (1928) - einer Gedichtsammlung, die mit suggestiven Momenten und liedhaften Elementen den Zigeunermythos auf den Kopf stellte - ein bekannter Dichter 178 IX Der Weg in die Internationalisierung <?page no="179"?> 22 Vgl. Gelich, J.: La Barraca. Universitätstheater zwischen den politischen Fronten. In: Maske und Kothurn: internationale Beiträge zur Theaterwissenschaft 45/ 3-4, 1999, S.-11f. 23 Lorca, F. G.: Das Publikum. Komödie ohne Titel. Zwei Stücke aus dem Nachlaß. Deutsch von Rudolf Wittkopf. Frankfurt am Main 1986, S.-65f. war, zusammen mit der Studentenorganisation Unión Federal de Estudiantes Hispanos sowie dem baskischen Schriftsteller und Schauspieler Eduardo Ugarte 1931/ 32 das universitäre Wandertheater Barraca. Zunächst auf die Region rund um das Zentrum in Madrid begrenzt, weitete sich die ehrenamtlich tätige Schauspielertruppe nach dem Vorbild des spanischen Dichters Lope de Rueda auf andere Universitätszentren wie Granada, Sevilla oder Barcelona aus, um dort Zusehern in Dörfern und auf Marktplätzen das kulturelle Erbe ihres eigenen Landes zu vermitteln. 22 Theater bedeutete für Lorca soziale Aktion, um sich den entscheidenden Lebensfragen zu stellen. Demgemäß lässt er in seinem avantgardistischen Stück Komödie ohne Titel (1935) den Autor als Bühnenanweisung zwischen Schauspielern und Zuschauern über die Funktion des Theaters sagen: Meine Damen und Herren, ist lasse den Vorhang nicht hochgehen, um das Publikum mit einem Wortspiel zu erheitern […] um zu unterhalten und euch glauben zu machen, das sei das Leben. Nein. Der Dichter wird euch heute abend nicht zu seiner Freude, sondern zu seinem Bedauern einen kleinen Zipfel der Wirklichkeit zeigen. […] Ihr kommt ins Theater mit dem einzigen Bedürfnis, euch zu vergnügen, und ihr habt Autoren, die ihr bezahlt, […] aber heute bringt euch der Dichter in eine Zwangslage, weil er […] die Dinge zeigt, die ihr nicht sehen wollt, und die simpelsten Wahrheiten herausschreit, die ihr nicht hören wollt. […] denn der Autor möchte nicht, daß ihr euch im Theater fühlt, sondern mitten auf der Straße; 23 So reiste Lorcas Barraca-Lastwagen mit transportabler Bühne und häufig wechselnden studentischen Schauspielern bis 1936 durch Spaniens Dörfer, um vor allem die Landbevölkerung mit geringerem Bezug zum Theater mit klassischem Drama bekannt zu machen und um Bildung der theologischen sowie politischen Frontstellung zu entziehen. Da das Zielpublikum die vor allem hart und (hand-)arbeitende Landbevölkerung darstellte, wählte man als Kostüm einen blauen Overall, der die Schauspieler bisweilen wie spie‐ lende Arbeiter auf der Bühne wirken ließ. Kultur als Widerstand zeigte sich dabei im situativen Aufführungsvollzug szenisch und geografisch wechseln‐ der Schauplätze: Wenn man beim Wortspiel Barraca als Eigenbezeichnung b) Widerstand zwischen Faschismus und Antisemitismus 179 <?page no="180"?> 24 Vgl. Gibson, I.: Federico García Lorca. Eine Biographie. Aus dem Englischen von Bernhard Straub. Frankfurt am Main/ Leipzig 1991, S. 445-463; Lorenz, G.: Federico García Lorca. Karlsruhe 1961, S.-120-123. 25 Lorca, F. G.: Zwiegespräche mit einem wilden Karikaturisten. In: Werke in drei Bänden. Dritter Band: Prosa. Ausgewählt und übertragen von Enrique Beck, Frankfurt am Main 1995, S.-393. an eine mit Stroh gedeckte Hütte denkt, so konnte sich die studentische Darbietung de facto wie mitten auf der Straße und nicht wie in einer Theaterloge anfühlen. Während die Republikaner dieses Studenten-Theater begeistert aufnahmen und mit staatlichen Zuschüssen durch das Kultusmi‐ nisterium unterstützten, sahen die faschistische Falange und konservative Rechte darin einen marxistisch-kommunistischen Propagandaapparat, de‐ ren Aufführungen es galt, mit diversen Manipulationen der Theaterkulisse und mit negativer Berichterstattung in Zeitungen zu sabotieren. 24 In einem Interview, das Lorca 1936 mit dem bekannten politischen Karikaturisten Luis Bagaría führte, erklärte er auf die Frage nach der Bedeutung von Grenzen im Zusammenhang mit der abstrakten Idee Vaterland: Ich bin ganz und gar Spanier, und es wäre mir unmöglich, außerhalb meiner geographischen Grenzen zu leben; aber ich hasse den, der Spanier ist, nur um Spanier und sonst nichts zu sein. Ich bin der Bruder aller und verabscheue den Menschen, der für eine abstrakte nationalistische Idee aus dem einzigen Grunde sich opfert, weil er sein Vaterland mit einer Binde um die Augen liebt. […] Ich besinge Spanien und ich fühle es bis ins Mark; doch bin ich vor allem ein Mensch dieser Welt und der Bruder aller. Darum glaube ich nicht an die politische Grenze. 25 Mit dem Putsch Francisco Francos und dem Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs verhärteten sich die ohnedies angespannten Fronten - Lorca wurde festgenommen und kurz darauf im August 1936 bei Alfacar nördlich von Granada in der Nähe einer Landstraße zusammen mit anderen repu‐ blikanischen Anhängern erschossen, anschließend verscharrt. Infolge der militärischen Unterstützung durch Portugal sowie durch die faschistischen Verbündeten aus Italien und Deutschland konnten die Putschisten den Bürgerkrieg für sich entscheiden. In der darauf einsetzenden Franco-Ära wurden der frühe, gewaltsame Tod des Dichters und dessen umfangreiches Gesamtwerk jahrzehntelang tabuisiert sowie dem politisch institutionali‐ 180 IX Der Weg in die Internationalisierung <?page no="181"?> 26 Vgl. Delgado, M.: Memory, Silence, and Democracy in Spain. Federico García Lorca, the Spanish Civil War, and the Law of Historical Memory. In: Theatre Journal 67/ 2, 2015, S.-178ff. 27 Vgl. Dubiel, H.: Kulturtheorie der Frankfurter Schule. In: Brackert, H./ Wefelmeyer, F. (Hgg.): Kultur. Bestimmungen im 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1990, S. 266-271. 28 Vgl. Möll, M.-P.: Ist Aufklärung totalitär? Zur „Dialektik der Aufklärung“ von Horkhei‐ mer und Adorno. In: Aufklärung und Kritik 2/ 2003, S. 19f.; Seidel, H.: Aufklärung und die Gegenwart. Zur Kritik der Dialektik der Aufklärung von Adorno und Horkheimer. In: UTOPIE kreativ, 109/ 110, 1999, S. 101-110; van Reijen, W.: Max Horkheimer (1895- 1973) und Theodor W. Adorno (1903-1969). Was heißt Kultur? Bemerkungen zu ihrer sierten Vergessen ausgesetzt - heute gilt Lorca als der am stärksten rezip‐ ierte spanische Autor. 26 Im Hintergrund des Aufstiegs Mussolinis und des Faschismus in Italien erfolgte 1923 die Gründung des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt am Main. Unter der Leitung von Carl Grünberg verstand sich das Institut als Forschungsstätte für die Geschichte des Sozialismus und der krisenge‐ zeichneten internationalen Arbeiterbewegung. Nach der Übernahme durch Max Horkheimer 1930/ 31 und seinen späteren Kollegen Theodor W. Adorno erweiterte sich der Fokus der Forschungsarbeiten auf Untersuchungen zum Antisemitismus und zu demagogischer Manipulation mithilfe von Medien bis hin zu Studien über autoritäres Denken inmitten von familiärer und beruflicher Sozialisation. Nach Übersiedlung des Instituts ins amerikani‐ sche Exil infolge der Machtergreifung Hitlers widmeten sich Horkheimer und Adorno in ihrem Hauptwerk Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (1944/ 47) der Frage, wie eine Gesellschaft, die das Zeitalter der Aufklärung durchlaufen hatte, den Nationalsozialismus aufkommen und triumphieren lassen konnte. Ihr universalgeschichtlicher Abriss spiegelte die Nachwirkungen der NS-Zeit insofern deutlich, als sie die aufkommende Massenkultur an den faschistischen Propagandaapparat koppelten: Von einem Rückblick auf die mythischen Anfänge der Subjektwerdung des Men‐ schen durch die Instrumentalisierung der Natur zur eigenen Nutzanwen‐ dung bis hin zur Totalität der zeitgenössischen Kulturindustrie, die Kunst zur mechanischen Wiederholung des Konsums degenerierte, skizzierten sie den Prozess der zur Herrschaft missbrauchten Rationalität, der darin gipfelte, dass sich die NS-Ideologie nicht trotz, sondern mithilfe moderner Wissenschaft und Technik durchgesetzt hatte. 27 Diese Position sahen Horkheimer und Adorno insbesondere durch die Beobachtung bestätigt, dass der Terror des Nationalsozialismus mit wissen‐ schaftlich-technischer Organisation und Präzision betrieben worden war. 28 b) Widerstand zwischen Faschismus und Antisemitismus 181 <?page no="182"?> Kritischen Theorie. In: Hofmann, M. L. et al. (Hgg.): Culture Club. Klassiker der Kulturtheorie. Frankfurt am Main 2004, S.-107ff. 29 Horkheimer, M./ Adorno, T. W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt am Main 19 2010, S.-180. 30 Vgl. Hetzel, A.: Max Horkheimer/ Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung (1947). In: Gamm, G./ Hetzel, A./ Lilienthal, M.: Hauptwerke der Sozialphilosophie. Stuttgart 2001, S.-167f. 31 Siehe unter anderem die Antisemitismusforschung als Quelle für die spätere kritische Medienforschung bei Kausch, M.: Kulturindustrie und Populärkultur. Kritische Theorie der Massenmedien. Mit einer Vorbemerkung von Leo Löwenthal. Frankfurt am Main 1988, S.-28-33. Im Kapitel Elemente des Antisemitismus heißt es in Anknüpfung an Freuds Thesen über Krieg und Aggression des Menschen: Erst die Blindheit des Antisemitismus, seine Intentionslosigkeit verleiht der Erklärung, er sei ein Ventil, ihr Maß an Wahrheit. Die Wut entlädt sich auf den, der auffällt ohne Schutz. Und wie die Opfer untereinander auswechselbar sind, je nach der Konstellation: Vagabunden, Juden, Protestanten, Katholiken, kann jedes von ihnen anstelle der Mörder treten, in derselben blinden Lust des Totschlags, sobald es als die Norm sich mächtig fühlt. 29 Die Sanktionierung der Wut durch das herrschende Kollektiv gerät nach Horkheimer/ Adorno zu einem sich wiederholenden Ritual der Zivilisation, das an die Anfälligkeit für massenkulturelle, antidemokratische Propaganda totalitärer Ideologie gemahnt. Darin spiegelte sich die Erfahrungsunfähig‐ keit wider, sich auf anderes, mit der eigenen Identität nicht Übereinstim‐ mendes, das sich in ethnischen und religiösen Minderheiten findet, einzu‐ lassen. 30 Auf die philosophischen Fragmente folgte 1949/ 50 die von Adorno und psychoanalytisch ausgebildeten Kollegen groß angelegte Studie The Authoritarian Personality als Teil der Studies in Prejudice, die von dem American Jewish Committee in Auftrag gegeben worden waren. Wenngleich der Zweite Weltkrieg bereits beendet worden war und der Faschismus seine fatale Kraftprobe verloren hatte, gab es auch in den USA seit den 1930er-Jahren einen grassierenden Antisemitismus, der durch Gruppen wie den Ku-Klux-Klan verbreitet wurde. 31 So widmete sich die Untersuchung mit Interviews, der Kommentierung von Bildgeschichten und Fragebogenerhebungen der Analyse von autoritären, von Vorurteilen geprägten Cha‐ rakterstrukturen. Adorno fasste das methodische Vorgehen, das quantitativ orientierte Fragebögen mit qualitativen Erhebungsmethoden ergänzte, in Das Vorurteil im Interview-Material wie folgt zusammen: 182 IX Der Weg in die Internationalisierung <?page no="183"?> 32 Adorno, T. W.: Das Vorurteil im Interview-Material. In: Adorno, T. W.: Studien zum autoritären Charakter. Übersetzt von Milli Weinbrenner. Frankfurt am Main 11 2018, S.-105. 33 Vgl. Fahrenberg, J./ Steiner, J. M.: Adorno und die autoritäre Persönlichkeit. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. 56/ 2004, S. 133f.; Sutterlüty, F.: Studien zum autoritären Charakter. In: Honneth, A. (Hrsg.): Schlüsseltexte der Kritischen Theorie. Wiesbaden 2006, S.-1. 34 Freud, S.: Tagebuch 1929-1939. Kürzeste Chronik. Herausgegeben und eingeleitet von Michael Molnar. Frankfurt am Main 1996, S.-408. Unsere Arbeit entwickelte sich aus spezifischen Untersuchungen über den An‐ tisemitismus. […] Das führte schließlich dazu, daß wir unsere Hauptaufgabe nicht darin sahen, den Antisemitismus oder irgendein anderes Vorurteil gegen Minderheiten als sozialpsychologisches Phänomen per se zu analysieren, sondern vielmehr darin, die Beziehungen minoritätenfeindlicher Vorurteile zu umfassen‐ deren ideologischen und charakterologischen Konfigurationen zu untersuchen. 32 Die wesentlich auf Vorarbeiten von Erich Fromm aus den späten 1920er-Jah‐ ren zurückgehenden Befragungen von über 2000 Personen, die vorwiegend aus der weißen kalifornischen Mittelschicht stammten, zu Themen wie Politik, Wirtschaft, Religion oder Minderheiten sollten Denkmuster des persönlichen Charakters erfassen, die anfällig für faschistische und totali‐ täre Ideologien wären. Ihren Beitrag zum Widerstand sahen Adorno und Horkheimer in der retrospektiven Bearbeitung des bereits geschehenen Grauens, um die wichtigste Aufgabe der historischen Bewusstseinsbildung in der Nachkriegszeit des 20. Jahrhunderts zu erfüllen: aufzuzeigen, warum bestimmte Individuen für antisemitische, faschistische Tendenzen anfällig sind, aber andere nicht, um damit zu einem demokratischen Prozess des kulturellen Selbstverständnisses beizutragen, der eine Wiederholung des Holocaust ausschließt. 33 c) Kultur als Protest Die spezifisch österreichische Auseinandersetzung mit der NS-Zeit im Zu‐ sammenhang mit historischer Bewusstseinsbildung und kulturellem Selbst‐ verständnis erstreckte sich über Jahrzehnte. Als Sigmund Freud den 11. März 1938 in seinem Tagebuch mit den Worten „Abdankung Schuschnigg Finis Austriae“ 34 kommentierte, hatte sich das Ende Österreichs bereits abgezeichnet: Am 15. März hielt Adolf Hitler vom Altan der Neuen Burg c) Kultur als Protest 183 <?page no="184"?> 35 Vgl. Hanisch, E.: Wien: Heldenplatz. In: Transit. Europäische Revue, 15/ 1998, S.-122. 36 Vgl. Kuttenberg, E.: Austria’s Topography of Memory: Heldenplatz, Albertinaplatz, Judenplatz, and Beyond. In: The German Quarterly, 80/ 4, 2007, S. 69; Uhl, H.: Das „erste Opfer“. Der österreichische Opfermythos und seine Transformationen in der Zweiten Republik. In: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft. 30, 2001/ 1, S. 21f.; Frei, N.: 1945 und wir. Wie aus Tätern Opfer werden. In: Blätter für deutsche und internationale Politik. 3/ 2005, S.-356ff. 37 Als Kontrastprogramm dazu: Corsage. Regie: Marie Kreutzer. AUT 2022. in Wien seine bekannte Rede über den Anschluss Österreichs an das Deut‐ sche Reich. Damit schienen die nationalen Sehnsüchte des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu einem erfolgreichen Abschluss gekommen zu sein. 35 Der sogenannte Anschluss und alle damit verbundenen Folgen wurden vor allem nach 1945 bevorzugt als ein Gewaltakt der Nationalsozialisten gegenüber dem Opfer Österreich dargestellt. In der Unabhängigkeitserklä‐ rung vom 27. April 1945 erfolgte eine einseitige Bezugnahme auf die Moskauer Deklaration (1943), welche diese Opferrolle nahelegte. Während sich die internationale Aufmerksamkeit stärker auf die Bundesrepublik Deutschland als Nachfolgestaat des Dritten Reiches konzentrierte und damit die demokratiepolitisch zwingend nötige Unterscheidung zwischen privaten Erinnerungen und offizieller staatlicher Geschichtsrepräsentation vorantrieb, konnte die Republik Österreich durch die Streichung der Mitver‐ antwortungsklausel den Opfermythos generieren. Mit der Verabschiedung einer Amnestie für kleinere NS-Funktionäre und einfache NS-Parteimit‐ glieder („Minderbelastete“) durch den österreichischen Nationalrat wurde ab 1948/ 49 nationalsozialistische Migration zahlreicher einzelner Akteure zurück in den unbescholtenen Alltag betrieben. Dieses als Ideologie der Nachkriegszeit benutzte Selbstbild glich einer selektierten Erinnerung an das Geschehene und dominierte die öffentliche Wahrnehmung sowie das Vergangenheitsverständnis für die folgenden Jahrzehnte. 36 Ein prominentes Beispiel für ausgeblendete Täterschaft und modulierte Erinnerungsverhältnisse bildet die Trilogie der Sissi-Filme (1955 ff.), wel‐ che Österreich, das wenige Monate zuvor den Staatsvertrag bekommen hatte, als beschauliche Kulisse zwischen Biedermeieridylle, spanischem Hofzeremoniell und Liebesgeschichte der 1850er-Jahre zeigt. 37 Mit diesem kitschigen Heimatfilm über den jungen Kaiser Franz Joseph und die noch jüngere Elisabeth von Bayern konnte die politische Bezugnahme auf die jüngste Vergangenheit übergangen werden. Provokation und Anregung zum Umdenken bot hingegen das 1961 von Carl Merz und Helmut Qual‐ 184 IX Der Weg in die Internationalisierung <?page no="185"?> 38 Der Herr Karl. Regie: Erich Neuberg. AUT 1961: 20: 19-21: 30. tinger verfasste Theaterstück Der Herr Karl, das über Opportunismus und die Anpassungsfähigkeit an politische Grundsätze informiert. Es handelt von dem Magazineur Herr Karl, der im Lager eines Feinkostgeschäftes den Zusehenden seine Lebensgeschichte von den 1930er-Jahren bis zur Unterzeichnung des Staatsvertrages 1955 unterbreitet. Dabei wechselt der Erzähler ebenso zwischen Wienerisch und Standarddeutsch wie zwischen gesellschaftlichen, (partei-)politischen, religiösen oder ethischen Überzeu‐ gungen, die sein klassisches egoistisches Mitläufertum in allen möglichen Situationen des Lebens belegen. Zu den politischen Wechselfällen in diesen Jahrzehnten äußerte er sich wie folgt: I hab oft mein Posten gewechselt, i war ja unbeständig, i war ein Falter. Bis 34 war ich Sozialist […] Später dann bin i demonstrieren gangen […] zu der Heimwehr. […] Dann is eh schon da Hitler kummen. Das war ein Jubel, eine Begeisterung […] 38? Na jo, wir san g’standen am Heldenplatz, am Ring […] Man hat gefühlt, man ist unter sich. […] De Polizistn san g’standen mit de Hakenkreuzbinden - fesch! Furchtbar, furchtbar, ein Verbrechen, wie man diese gutgläubigen Menschen in die Irre geführt hat! Der Führer hat g’führt. […] Eine Persönlichkeit war er, vielleicht ein Dämon, aber man hat eine gewisse Größe gespürt […] Na gfreit hab i mi scho, wie wir ihn endlich bekommen haben, den Staatsvertrag. Da simma zum Belvedere gezogen, lauter Österreicher, unübersehbar, wie wir 38, eine große Familie […]. 38 Das Theaterstück, das mit dem Gesinnungswandel von der Opferauffassung zum Tätereingeständnis kokettierte, wurde 1985/ 86 von der politischen Realität an die Wand gespielt, als Kurt Waldheim zur Wahl für das Amt des österreichischen Bundespräsidenten antrat. Aufgrund seiner Karriere als UN-Generalsekretär (1972-1981) schien Waldheim der ideale Kandidat zu sein. Nach anfänglichen Gerüchten um seine Kriegsvergangenheit, die er in seiner im Frühjahr 1985 veröffentlichten Autobiografie Im Glaspalast der Weltpolitik über die Zeit bei der UNO ausgespart hatte, führten weitere Recherchen zu einer (inter-)nationalen Debatte über seine Mitgliedschaft in NS-Gliederungen und seine Rolle als Soldat der Deutschen Wehrmacht. Während innerösterreichisch der ironische Ausspruch des österreichischen Bundeskanzlers Fred Sinowatz, wonach nicht Waldheim selbst, sondern nur c) Kultur als Protest 185 <?page no="186"?> 39 Im Original: „Wir nehmen zur Kenntnis, dass er nicht bei der SA war, sondern nur sein Pferd bei der SA gewesen ist.“ In: Mittagsjournal, 11.03.1986. Österreichische Mediathek, 30: 50ff. 40 Vgl. Gehler, M.: „…eine grotesk überzogene Dämonisierung eines Mannes…“? Die Waldheim-Affäre 1986-1992. In: Gehler, M./ Sickinger, H. (Hgg.): Politische Affären und Skandale in Österreich. Von Mayerling bis Waldheim. Thaur/ Wien/ München 1996, S.-620f. 41 Vgl. Mittermayer, M.: Thomas Bernhard. Leben - Werk - Wirkung. Frankfurt am Main 2006, S.-59-64. 42 Vgl. Huber, M.: „Die theatralische Bruchbude auf dem Ring.“ Thomas Bernhard und das Burgtheater. In: Mittermayer, M./ Huber, M. (Hgg.): „Österreich selbst ist nichts als eine Bühne.“ Thomas Bernhard und das Theater. Wien 2009, S. 41; Strutz, J.: „Wir, das bin ich.“ Folgerungen zum Autobiographienwerk von Thomas Bernhard. In: Bartsch, sein Pferd bei der SA gewesen wäre, 39 zum bitteren Running Gag in Sachen Geschichtsklitterung wurde, stieg der internationale Druck zur Aufklärung. Dies änderte nichts daran, dass Waldheim im zweiten Durchgang 1986 die Wahl zum Bundespräsidenten gewann. 40 Die politische Auseinandersetzung um die nicht restlos aufgeklärte Rolle des Bundespräsidenten im Zweiten Weltkrieg steigerte sich wenig später zu einem Kulturkampf um die Deutungshoheit über die nationalsozialistische Vergangenheit Österreichs. Claus Peymann, seit 1986 Direktor des Wiener Burgtheaters, kündigte für das Bedenkjahr 1988 zum 50-jährigen Anschluss an Hitler-Deutschland ein Theaterstück an, das sich mit den Geschehnis‐ sen um 1938 befassen werde. Als Autor beauftragte er den in Österreich für seine Streitbarkeit bekannten Schriftsteller Thomas Bernhard, 41 mit dem ihm eine bereits jahrzehntelange ebenso skandalträchtige wie erfolg‐ reiche Zusammenarbeit verband. Bernhard hatte seit seinen literarischen Anfängen zum Teil stilisiert-autobiografisch, zum Teil als überspitzte Ge‐ neralanklage, die ihm beiderseits gesellschaftspolitische Kontroversen und mehrere Gerichtsprozesse einbrachten, auf den nivellierenden Umgang mit der Zeit des Nationalsozialismus in Österreich, aber auch in Deutschland hingewiesen: von der Problematik der jugendlichen Sozialisation in Salz‐ burg unter den Bedingungen der nationalsozialistisch-staatlichen Bildungs- und Erziehungsinstitutionen (Die Ursache. Eine Andeutung, 1975) bis hin zum Leugnen jeglicher Täterschaft oder Mitverantwortung an vergangenen NS-Verbrechen - so unter anderem im Stück Vor dem Ruhestand, das 1979 in Stuttgart von Peymann uraufgeführt wurde und die NS-Vergangenheit des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbinger behan‐ delte. 42 186 IX Der Weg in die Internationalisierung <?page no="187"?> K./ Goltschnigg, D./ Melzer, G. (Hgg.): In Sachen Thomas Bernhard. Königstein 1983, S.-179f. 43 Vgl. Bentz, O.: Thomas Bernhard - Dichtung als Skandal. Würzburg 2000, S.-24. 44 Vgl. Katschnig, G.: Zwischen Protest und Gegenprotest: Thomas Bernhards Helden‐ platz. In: Hamm, M. et al. (Hgg.): Widerständigkeiten des Alltags. Beiträge zu einer empirischen Kulturanalyse. Für Klaus Schönberger zum 60. Geburtstag. Klagenfurt am Wörthersee 2019, S.-127f. Durch Waldheims Rolle als Offizier der Wehrmacht und durch den medialen Umgang in der Öffentlichkeit während der Präsidentenwahl fand Bernhard genügend Zündstoff für sein letztes Theaterstück, das am 4. November 1988 uraufgeführt wurde: Heldenplatz. Das Drama handelt von einer 1938 vertriebenen jüdischen Familie, die nach Jahren der erzwunge‐ nen Emigration 1988 wieder in die Wiener Heimat zurückkehrt und eine Wohnung gegenüber dem Heldenplatz bezieht. Die topografische Nähe zum geschichtsträchtigen Ort führt zur erneuten Konfrontation mit der Vergangenheit, die zum Selbstmord des Familienvaters führt - die eigent‐ liche Handlung setzt nach dem Begräbnis ein, als die Familie inklusive Wirtschafterin und Hausmädchen Aussagen des Verstorbenen in Mono- und Dialogen kommentierend wiedergibt. Nachdem Textfragmente bei den Proben gestohlen und an die Medien weitergegeben worden waren, kam es bereits im Vorfeld der Aufführung zu einem beispiellosen Aufruhr in der Medien- und Politiklandschaft. Medien‐ vertreter wie Politiker - so unter anderem Hans Dichand von der Neuen Kronen Zeitung, Peter Sichrovsky von Der Standard, Jörg Haider von der FPÖ oder auch Bundespräsident Waldheim - ließen sich bis zur aktiven Instrumentalisierung ergreifen und gaben unterschiedlich motivierte Emp‐ fehlungen ab, das Stück ohne eigentliche Kenntnis des Textes, der erst am Aufführungstag an Wiener Buchläden ausgeliefert wurde, abzuqualifi‐ zieren. 43 Die Aufführung selbst ließ Bernhards literarischen Protest auf Widerstand gegen diesen Protest treffen: Hunderte Demonstranten platzier‐ ten sich am Premierentag vor dem Burgtheater, um entweder für oder gegen das Stück zu skandieren - oder schlichtweg der passiven Schaulust zu frönen. Ein vergleichbares Duell bot sich im Theater - Störrufe und heftiger Applaus wechselten einander ab und unterbrachen die Inszenierung mehrmals. 44 Die gereizte Stimmung entzündete sich neben den für Bernhard üblichen Österreich-Beschimpfungen aller Art, die Kritiker wie Befürworter seit Jahrzehnten ablehnten wie schätzten, vor allem an seiner Kritik an der umstrittenen Opferthese, lautete doch die provokative Grundaussage c) Kultur als Protest 187 <?page no="188"?> 45 Vgl. Höller, H.: Thomas Bernhard. Reinbek bei Hamburg 9 2007, S.-7. 46 Bernhard, T.: Heldenplatz. In: Huber, M./ Judex, B. (Hgg.): Thomas Bernhard - Werke. Bd.-20: Dramen VI. Berlin 2012, S.-259f. 47 Vgl. Ruthner, C.: Macht-Spiele. Kulturwissenschaftliche Kategorien als Propädeutik zum Werk Thomas Bernhards. In: Germanistische Mitteilungen 60/ 61, 2005, S.-5f. seines Stückes, dass die Jahre 1938 und 1988 austauschbar seien. 45 Mit dem charakteristischen Stilmittel der Wiederholung und Übertreibung lässt er die Tochter des Verstorbenen im zweiten Akt sagen: ich kann hier nicht mehr existieren | ich wache auf und habe es mit der Angst zu tun | die Zustände sind ja wirklich heute so | wie sie achtunddreißig gewesen sind | es gibt jetzt mehr Nazis in Wien | als achtunddreißig | du wirst sehen | alles wird schlimm enden […] jetzt kommen sie wieder | aus allen Löchern heraus | die über vierzig Jahre zugestopft gewesen sind | du brauchst dich ja nur mit irgend einem unterhalten | schon nach kurzer Zeit stellt sich heraus | es ist ein Nazi | gleich ob du zum Bäcker gehst | oder in die Putzerei in die Apotheke | oder auf den Markt | in der Nationalbibliothek glaube ich | ich bin unter lauter Nazis | sie warten alle nur auf das Signal | um ganz offen gegen uns vorgehen zu können […] In Österreich mußt du entweder katholisch | oder nationalsozialistisch sein | alles andere wird nicht geduldet | alles andere wird vernichtet | und zwar hundertprozentig katholisch | und hundertprozentig nationalsozialistisch 46 Die Verbindung von katholisch und nationalsozialistisch mit Österreich war eine wohlbekannte Formel, die Bernhard seit den 1970er-Jahren ein‐ setzte. So benutzte er seine autobiografischen Erzählungen und das Medium Theater als gesellschaftspolitische Thesenstücke zur eigenen Daseinswie zur kollektiven Vergangenheitsbewältigung, indem er den österreichischen Anteil an den NS-Verbrechen durch die repetitive Struktur seiner monolo‐ gisierenden Invektiven dem kulturellen Gedächtnis der Republik förmlich einbläute. 47 Da er in Heldenplatz eine jüdische Familie über ihr Land zu Gericht sitzen ließ, bekam das Werk 1988 einen doppelten kulturpolitischen Zuschnitt: Zum einen erfüllten die Protagonisten jene Klischees, die sich aus antisemitischen Ressentiments speisten (großbürgerliche Familie mit finanziellem Wohlstand und hohem Bildungsstandard), zum anderen lebten sie in ihrer Familienstruktur nach patriarchalischen Zügen und bedien‐ ten sich einer Sprache, die stellenweise dem deutschnationalen Jargon entsprang. Damit unterlief Bernhard geschickt die kulturelle Konstruktion des anderen in der Gesellschaft und konnte zugleich zur Generalanklage gegen Österreich anheben, um angesichts der erfahrenen Verfolgung der 188 IX Der Weg in die Internationalisierung <?page no="189"?> 48 Vgl. Malkin, J.: In Praise of Resentment. Thomas Bernhard, Jews, Heldenplatz. In: Schumacher, C. (Hrsg.): Staging the Holocaust: The Shoah in Drama and Performance. Cambridge 1998, S.-282. Protagonisten die Bewohner des Landes als notorisch antisemitisch wie katholisch-nationalsozialistisch zu verdammen. 48 Abb. 10: Artikel zur Aufführung von Heldenplatz in der österreichischen Tageszeitung Kleine Zeitung vom 5. November 1988 Da Bernhard wenige Monate später nach langer Krankheit verstarb, verflo‐ gen die kontroversen Diskussionen um seine Kritik an der Nichtaufarbei‐ tung der Opferthese rasch. So sollten noch fünf Jahre vergehen, bis von c) Kultur als Protest 189 <?page no="190"?> 49 Vgl. Österreichischer Bundestheaterverband: Bericht 1992/ 93. Wien 1993, S.-120. politischer Seite eine adäquate öffentliche Stellungnahme auf das von Bern‐ hard skizzierte unaufrichtige Verhältnis zu einem Teil der österreichischen Geschichte gelang: Nachdem Waldheim 1992 auf eine neue Kandidatur verzichtet hatte, hielt Bundeskanzler Franz Vranitzky im Juni 1993 anlässlich seines Israel-Besuchs eine Rede an der Universität Jerusalem, in der er die österreichische Mitverantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialis‐ mus bekannte und die Opfer im Namen der Republik um Verzeihung bat. Diesem politischen Bekenntnis war am Sherover Theatre in Jerusalem eine Theaterinszenierung vorausgegangen: Thomas Bernhards Ritter, Dene, Voss unter der Regie von Claus Peymann. 49 190 IX Der Weg in die Internationalisierung <?page no="191"?> 1 Für den deutschsprachigen Raum siehe: Beer, B./ König, M.: Grenzziehungen im System wissenschaftlicher Disziplinen - der Fall der „Kulturwissenschaft(en)“. In: Sociologia Internationalis 47/ 1, 2009, S.-23-27. 2 Vgl. Fuchs, M.: Der Verlust der Totalität. Die Anthropologie der Kultur. In: Appelsmeyer, H./ Billmann-Mahecha, E. (Hgg.): Kulturwissenschaft. Felder einer prozeßorientierten wissenschaftlichen Praxis. Weilerswist 2001, S.-34ff. 3 Vgl. Warakomska, A.: ‚Die modernen Kulturwissenschaften werden noch viel von der alten Philologie lernen müssen‘ oder die Frage vom Umgang mit den Texten. In: Bonacchi, S. et al. (Hgg.): Mensch - Sprachen - Kulturen. Beiträge und Materialien der internationalen wissenschaftlichen Jahrestagung des Verbandes Polnischer Germanis‐ ten 25.-27. Mai 2012, Warszawa. Warszawa 2012, S. 425f.; Lyu, X.: An Introduction to Ausblick - Kulturwissenschaft heute a) Perspektiven kulturwissenschaftlicher Forschung Seit die Kulturwissenschaft Augenzwinkern, Konsumgewohnheiten und Liedtexte in ihre Analyse aufgenommen hat, ist es zu einer nicht mehr überschaubaren Spezialisierung und Verselbstständigung von kulturwissen‐ schaftlichen Disziplinen und Fachgebieten gekommen. 1 Nicht zuletzt hat das durch Internet und Social Media vergrößerte Angebot an Sinnkonst‐ ruktionen und kollektiven Identitätsbildungen zu Überschneidungen der akademischen Fächer- und Disziplinengrenzen geführt, die sich mit den Erscheinungsformen von Vergesellschaftung im 21. Jahrhundert parallel und vor allem miteinander konkurrierend auseinandersetzen. 2 Innerhalb dieser Vielfalt aktueller Entwürfe kulturwissenschaftlicher Forschungs- und Studienkonzepte werden zwei Richtungen vorgestellt, die aufgrund der westlichen Lingua Franca Englisch mit internationaler Anschlussfä‐ higkeit locken, aber auch eine Klammer zwischen Vergangenheits- und Gegenwartsbezug bilden, wenn eine moderne Kulturwissenschaft ihre his‐ torischen Anteile nicht aussparen will: die an der University of California begründete Kulturpoetik von und mit Stephen Greenblatt sowie Homi Bhabhas Konzept des Schwellenraums. In Anlehnung an Cassirer und Geertz wird zunächst die amerikanische Kulturpoetik (New Historicism) herausgegriffen. Begriffsprägend wurden die Arbeiten von Stephen Greenblatt, 3 der sich infolge einer Abkehr von der formalen Literaturanalyse mit werkimmanenten Ansätzen in Kalifornien <?page no="192"?> New Historicism. In: Advances in Social Science, Education and Humanities Research, 543/ 2021, S.-1075-1078. 4 Vgl. Brook, T.: New Historicism, Kulturpoetik und das Ende der amerikanischen Geschichte. In: Scholtz, G. (Hrsg.): Historismus am Ende des 20. Jahrhunderts. Eine internationale Diskussion. Berlin 1997, S. 14ff.; Haug, W.: Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft? In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 73/ 1, 1999, S.-83ff. 5 Gallagher, C./ Greenblatt, S.: Practicing New Historicism. Chicago/ London 2000, S. 8-16. 6 Vgl. Elaref, A.: The Effect of Social Context on the Formation of Cultural Identity and its Fashioning According to Stephen Greenblatt. In: International Journal of Science and Research 9/ 9, 2020, S.-722f. der historischen Analyse kultureller Artefakte zuwandte. Auf Basis von literarischen Texten vor allem der englischen Renaissance (Shakespearean Negotiations: The Circulation of Social Energy in Renaissance England, 1988) oder auch Mythen (The Rise and Fall of Adam and Eve, 2017) weitet Green‐ blatt deren Analyse als chiastische Relation zwischen Text und umgebende Kultur aus. 4 In Anbetracht einer gelungenen dichten Beschreibung eines literarischen Textes oder einer historischen Situation analysiert die Kultur‐ poetik deren schiere Unerschöpflichkeit, die im Zusammenhang mit ihrem (außer-)literarischen Umfeld hervortritt. So halten Catherine Gallagher und Greenblatt in ihrem Praxishandbuch einleitend sowie mit Bezug auf Vico und Herder richtungsweisend fest: […] we seek something more, something that the authors we study would not have had sufficient distance upon themselves and their own era to grasp. […] There is always something further to pursue, always some extra trace, always some leftover, even in the most satisfyingly tight and coherent argument […] in any culture that has left a complex record of itself - and certainly in any culture that we study […] new historicism invokes the vastness of the textual archive […]. 5 Die Kulturpoetik fungiert dabei als vertraute historische Hermeneutik im neuen Gewand kulturellen Verstehens. Um das kulturelle Bedeutungsfeld innerhalb der angesprochenen Weite des textuellen Archivs zu analysieren, muss eine akribische Lektüre erfolgen, welche zu den Entstehungsbedingun‐ gen und Austauschbeziehungen des untersuchten Materials mit (nicht-)lite‐ rarischen Texten sowie mit sozialen und kulturellen Praktiken hinführt. 6 Greenblatt führte diesbezüglich in seiner Shakespeare-Studie einleitend aus: 192 Ausblick - Kulturwissenschaft heute <?page no="193"?> 7 Greenblatt, S.: Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renais‐ sance. Aus dem Amerikanischen von Robin Cackett. Frankfurt am Main 1993, S.-14ff. Ich habe diese Art von Unternehmen […] als Kulturpoetik bezeichnet. […] Mich interessiert, wie kulturelle Gegenstände, Ausdrucksformen und Praktiken […] sich ihre eigentümliche, bezwingende Kraft aneignen. […] soziale Energie […] läßt sich nur indirekt durch ihre Auswirkungen feststellen: Sie manifestiert sich in der Fähigkeit gewisser sprachlicher, auditiver und visueller Spuren, kollektive physische und mentale Empfindungen hervorzurufen und diese zu gestalten und zu ordnen. […] Mir geht es darum, die Verhandlungen zu verstehen, kraft der die Kunstwerke eine solch wirkungsvolle Energie erhalten und verstärken. 7 Die angesprochene soziale Energie erinnert an die kollektiven Anschauun‐ gen und Erfahrungen aus der französischen Mentalitätsgeschichte, doch greift Greenblatt hier mit Verweis auf ältere Literaturtheoretiker auf die aristotelische Definition von Energie (ἐνέργεια) zurück: die Auswirkung und Verwirklichung von Sprache und Tätigkeit. Auf die Bühne übertragen, bedeutet dies die Erforschung des Kontexts der kulturellen Tauschprozesse sowie der konkurrierenden Darbietungen von künstlerischen Ausdrucksfor‐ men und sozialen Praktiken im Rahmen von vorhandenen Repräsentations‐ ressourcen. Anhand ausgewählter Schlüsselbegriffe wie soziale Energie, An‐ eignung oder Repräsentation sollen Kollektivsubjekte, Meistererzählungen und Verallgemeinerungen wie „in der Renaissance galt …“ oder „der Mensch der frühen Neuzeit war …“ sowie simplifizierende Rückführungen auf einen Zusammenhang zwischen literarischem Text und historischem Kontext vermieden werden. Jedes zu untersuchende Material aus der Vergangenheit - als literarischer Text oder zu einer historischen Situation bzw. einer Person - ist in ein dynamisches Geflecht von soziokulturellen Praktiken eingebettet, das weder Autonomie des Kunstwerks als geschlossene Entität noch Genieschöpfung des Autors ohne Vorbild und Motiv zulässt. Folglich gilt es, alle möglichen (Text-)Spuren offenzulegen, um der komplexen In‐ tertextualität, letztlich der angenommenen Verbundenheit aller kulturellen Zeichen einer Zeit als Gemengelage der gesammelten Zeugnisse über das zu a) Perspektiven kulturwissenschaftlicher Forschung 193 <?page no="194"?> 8 Vgl. Baßler, M.: New Historicism und Textualität der Kultur. In: Musner, L./ Wunberg, G. (Hgg.): Kulturwissenschaften. Forschung - Praxis - Positionen (= Edition Parabasen, Bd. 1). Freiburg im Breisgau 2 2003, S. 335; Volkmann, L.: New Historicism. In: Nünning, A. (Hrsg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze - Personen - Grundbegriffe. Fünfte, aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart 2013, 567-570; Williams, M.: New historicism and Literary Studies. In: Journal of General Studies 27/ 1, 2003, S.-118. 9 Greenblatt, S.: The Touch of the Real. In: Gallagher, C./ Greenblatt, S.: Practicing New Historicism. Chicago/ London 2000, S.-31. 10 Vgl. Becker, S.: Literatur- und Kulturwissenschaften. Ihre Methoden und Theorien. Reinbek bei Hamburg 2007, S.-176. Interpretierende gerecht zu werden. 8 In den Worten Greenblatts in seinem Aufsatz The Touch of the Real: The greatest challenge lay […] in making the literary and the nonliterary seem to be each other’s thick description. That both the literary work and the anthropological (or historical) anecdote are texts, […] that both are shaped by the imagination and by the available resources of narration and description helped make it possible to conjoin them; but their ineradicable differences […] made the conjunction powerful and compelling. 9 Greenblatt und Gallagher haben ihre Forschungspraxis nicht als kohärente Schule oder als homogenes Theorieparadigma deklariert. Man kann jedoch die Kulturpoetik als Empfehlung nehmen, bei der interpretatorischen Arbeit alle zu untersuchenden kulturellen Zeichen, die eine vergleichbare Hand‐ lungs- und Verfahrensweise thematisieren, auf der gleichen Ebene und in ihrer Interaktion - als gegenseitige Abhängigkeit wie Widersprüchlichkeit - zu behandeln. 10 Der zweite Zugang widmet sich dem Begriff Schwellenraum, der in‐ nerhalb der kulturwissenschaftlichen Theoriebildung in den letzten zwei Jahrzehnten zu einem Schlüsselbegriff avancierte. Ausgangspunkt ist das nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzende Ende der Kolonialzeit und die damit verbundene Auflösung der europäischen Kolonialreiche in Afrika, Asien und Südamerika. Die auf die ausgreifenden Pläne der Konquistado‐ ren des ausgehenden 15. Jahrhunderts zurückgehende Expansions- und Ausbeutungsmaschinerie hatte das konventionelle Oppositionspaar von Staatsbürger und Gentlemen auf der einen, Kolonisierter und Sklave auf der anderen Seite entstehen lassen. Dies hatte nicht nur Einfluss auf die britischen Cultural Studies, sondern führte bei den kolonisierten Ethnien im Laufe von Jahrhunderten zu einem entfremdeten Selbstbild, das die 194 Ausblick - Kulturwissenschaft heute <?page no="195"?> 11 Vgl. im Folgenden: do Mar Castro Varela, M./ Dhawan, N.: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. Bielefeld 3 2020, S.-104-112. 12 Vgl. Said, E.: Kultur, Identität und Geschichte. In: Schröder, G./ Breuninger, H. (Hgg.): Kulturtheorien der Gegenwart. Ansätze und Positionen. Frankfurt am Main/ New York 2001, S. 40-43; Stiegler, B.: Theorien der Literatur- und Kulturwissenschaften. Eine Einführung. Paderborn 2015, S.-109-113. 13 Said, E.: Orientalismus. Aus dem Englischen von Hans Günter Holl. Frankfurt am Main 6 2009, S.-13. eigene Lebensweise als minderwertig gegenüber jener der Kolonisatoren erscheinen ließ. Edward Said 11 hatte im Rahmen dieser lang andauernden Unterwerfungsgeschichte in den 1970er-Jahren durch die Analyse von Reiseberichten, journalistischen Texten und literarischen Klassikern des 18./ 19. Jahrhunderts die Frage erörtert, wie sich die Beziehung zwischen Kul‐ tur und Herrschaft am Beispiel des Orients manifestiert. 1978 erschien dazu sein Hauptwerk, das als Gründungsdokument der postkolonialen Studien verstanden werden kann: Orientalism. Durch Belege für Ethnozentrismus als Aspekt der Herstellung und Abgrenzung sozialer Kollektive konnte Said festhalten, dass kulturelle Identitäten nicht per se gegeben, sondern ein kumuliertes Konstrukt sind, das auf der Basis von politischen und kulturel‐ len Praktiken der Herrschaftsausübung geformt wird. 12 Folglich bedeuten die Bezeichnung „Orient“ sowie alle damit verbundenen Vorstellungen und Zuschreibungen keine simple Naturgegebenheit, sondern erfüllen die Funktion von Europas Selbstzuschreibung als überlegener Beobachter und Herrscher gegenüber einem auf seine Andersartigkeit als Minderwertigkeit reduzierten und damit definierten Orient: Wir müssen Vicos große Einsicht, dass der Mensch seine Geschichte selbst macht und als sein eigenes Produkt erkennen kann, ernst nehmen und sie auf die Geographie übertragen. Als gleichermaßen geographische wie kulturelle […] Konstrukte sind auch Gegenden, Regionen, geographische Zonen wie Orient und Okzident bloßes Menschenwerk. 13 Said griff die Frage nach der diskriminierenden und/ oder stereotypisieren‐ den Repräsentation kultureller Andersheit auf und beantwortete sie im Rahmen des postkolonialen Diskurses: Dominante Vorstellungsmuster von kulturellen Hierarchien festigten die Überzeugung von der Überlegenheit Europas gegenüber Gesellschaften und Ethnien des Nahen und Mittleren Ostens. Dieser Fokus auf Identitätskonstruktionen und auf den kritischen Umgang mit Repräsentationen von Andersheit im Spannungsverhältnis a) Perspektiven kulturwissenschaftlicher Forschung 195 <?page no="196"?> 14 Vgl. im Folgenden: Ackermann, A.: Das Eigene und das Fremde: Hybridität, Vielfalt und Kulturtransfers. In: Jaeger, F./ Rüsen, J. (Hgg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 3: Themen und Tendenzen. Stuttgart 2011, S. 147-150; Mecheril, P.: Migrationsge‐ sellschaft. In: Kriwak, A./ Pallaver, G. (Hgg.): Medien und Minderheiten. Innsbruck 2012, S.-26. 15 Bhabha, H.: Die Verortung der Kultur. Mit einem Vorwort von Elisabeth Bronfen (= Stauffenburg Discussion. Studien zur Inter- und Multikultur, Bd. 5). Deutsche Übersetzung von Michael Schiffmann und Jürgen Freudl. Tübingen 2011, S.-5. zwischen eigen und fremd wurde von dem indischen Literaturwissenschaft‐ ler Homi Kharshedji Bhabha weitergeführt. In seinem Hauptwerk The Location of Culture (1994) prägte er die Begriffskomplexe Hybridität/ hy‐ bride Kulturen sowie dritter Raum/ Schwellenraum mit Beispielen aus der britischen Kolonialherrschaft in Indien. Traditionelle, selbst heutzutage noch weitverbreitete Vorstellungen von in sich geschlossenen, homogenen, von Kontinuität einer als ursprünglich gedachten Wesenheit geprägten Kulturen, die es wohl zu keiner Zeit gegeben hat, spornen in einer essen‐ tialisierenden Sichtweise zu Polarisierungen (selbst vs. andere) an, die Identitätszwänge hervorrufen, um sozialen und kulturellen Standards der Zugehörigkeit zu entsprechen. Mit der Metapher des Treppenhauses als Schwellenraum, die Bhabha 1990 der Installation Sites of Genealogy von Renée Green am Institute of Contemporary Art in New York entliehen hat, hebt er dagegen die kulturelle Komplexität im Spannungsfeld zwischen Identitäten und Differenzen hervor, welche die Grenzen der fixierenden, hierarchisierenden, rassistischen Unterscheidung zwischen Hautfarbe, Re‐ ligion, Sprache etc. verwischt. 14 Das Treppenhaus als Schwellenraum zwischen den Identitätsbestimmungen wird zum Prozeß symbolischer Interaktion, zum Verbindungsgefüge […]. Das Hin und Her des Treppenhauses, die Bewegung und der Übergang in der Zeit, die es gestattet, verhindern, daß sich Identitäten an seinem oberen oder unteren Ende zu ursprünglichen Polaritäten festsetzen. Dieser zwischenräumliche Über‐ gang zwischen festen Identifikationen eröffnet die Möglichkeit einer kulturellen Hybridität, in der es einen Platz für Differenz ohne eine übernommene oder verordnete Hierarchie gibt. 15 Kultur besteht demnach in einer kontinuierlichen Ausverhandlung die‐ ses Spannungsfeldes, um auf dem Weg zum methodisch kontrollierten (Fremd-)Verstehen das vermeintlich stete Pendeln zwischen Unterwerfung und Herrschaftsanspruch, zwischen Ursprünglichkeit, Vorgängigkeit und 196 Ausblick - Kulturwissenschaft heute <?page no="197"?> 16 Vgl. Struve, K.: Zur Aktualität von Homi K. Bhabha. Einleitung in sein Werk. Wiesbaden 2013, S.-123f. 17 Vgl. im Folgenden Escher, M. C.: M. C. Escher. 1898-1972. Grafik und Zeichnungen. Köln 2021, S.-20f.; Ernst, B.: Der Zauberspiegel des M. C. Escher. Aus dem Niederländischen von Ilse Wirth. München 2 1983, S. 98ff.; Maor, E.: Dem Unendlichen auf der Spur. Aus dem Englischen von Doris Gerstner. Basel 1989, S.-194-198. Abb. 11: Relativität von Maurits C. Escher (1953) Hierarchisierung zu überwinden. 16 Rekontextualisieren möchte ich diese Ausverhandlung mit dem Bild Relativität (Abb. 11) des niederländischen Künstlers Maurits Cornelis Escher. 17 Escher hatte bis 1922 an der Schule für Architektur und künstlerische Ornamentik im nordholländischen Haarlem studiert, ehe er für zehn Jahre nach Rom zog und zahlreiche Studienreisen unternahm - unter anderem nach Granada, wo ihm in der Alhambra der künstlerische Feinblick auf die für islamische Kunst charakteristische Symmetrie der Fliesenmosaike zu einer Inspirationsquelle für sein späteres Schaffen wurde. Eschers Werk ist gekennzeichnet durch das Spiel mit visuellen Normen, regelmäßigen Flächenaufteilungen und endlos wirken‐ den rhythmischen Wiederholungen von sich verändernden Motiven. Im Gegensatz zur abstrakten Ornamentik in der islamischen Kunst zeigt Escher zumeist für den vertrauten Blick Alltägliches wie menschliche Körperteile, Tiere, geometrische Figuren oder Stiegen und Hausfassaden als unmögliche Zeichnungen/ Konstruktionen, welche den Gedankengang des rezipieren‐ den Betrachters subtil herausfordern. Die 1953 geschaffene Lithogra‐ fie Relativität reiht sich ein in dieses Spiel und zeigt getrennte, der Gravitation trotzende Welten, die inmitten des eingeprägten Pen‐ rose-Dreiecks dennoch und jeweils Teil einer unverbrüchlichen Ein‐ heit sind. Die Wege ins Freie zu den zwei Gärten, deren Szenerie - wie im Gilgamesch-Epos: die Ge‐ meinschaft und der Genuss von Kulturprodukten - eine Metapher für das Paradies bieten kann, wo nach abrahamitischer Normierung alle jüdische, christliche und isla‐ mische Kultur ihren Anfang nahm, a) Perspektiven kulturwissenschaftlicher Forschung 197 <?page no="198"?> 18 Bhabha, H.: Über kulturelle Hybridität. Tradition und Übersetzung. Aus dem Englischen von Kathrina Menke. Wien 2016, S.-63-66. sind nicht für alle abgebildeten Personen gleich erreichbar. Was für die einen eine Tür bedeutet, ist für die anderen eine Luke im Boden. Es gibt keine gemeinsame Auffassung von Fläche und Raum als grundlegende physikalische Ordnungsmodelle, um zu bestimmen, was nach oben oder nach unten führt, was horizontal oder vertikal ist. Als Betrachter - ob als theoretisierende Kulturwissenschaftler oder als Besucher im Escher-Mu‐ seum in Den Haag - sind wir nicht imstande, einen neutralen Standpunkt inmitten dieser geometrischen Kuriosität einzunehmen. Jede willkürlich gewählte Position erfordert eine konstruierte Bedeutungszuschreibung der Figuren in diesem Bild, wenngleich eine Einordnung in absteigend oder aufsteigend im Sinne einer richtungsweisenden, hierarchischen Periodizität von vermeintlich kulturellem Fortschritt oder eines Überlegenheitsmerk‐ mals nicht möglich ist. Es ist gerade das Prozesshafte des Weges, den die Abgebildeten beschreiten, das den Übergang der Abgrenzbarkeit des sich Gegenüber- oder Nebeneinanderstehens vorwegnimmt: Was am Ende des Weges entlang der Stiegen zählt, ist nicht Volk, Nation, Rasse oder Geschlecht, sondern das Zusammenkommen und die Gemeinsamkeit bei Tisch oder einem Spaziergang, welche Vertrautheit und Verbindlichkeit erzeugen. Zum Narrativ Hybridität/ hybride Kulturen ergänzte Bhabha in einem Round-Table-Gespräch nach einem Vortrag an der Universität Wien aus dem Jahr 2007: Dieses Narrativ hatte mit den Bekehrungspraktiken im Indien des 19. Jahrhun‐ derts zu tun […] jedoch ist es für den Nachweis der Hybridität nicht hinreichend zu sagen, dass die Person teils Hindu, teils Christin, teils Parsin, teils Österrei‐ cherin […] ist […]. Mir geht es vielmehr darum, wie die Teile miteinander und mit äußeren Kräften der Gemeinschaftsbildung in Verhandlung treten, wie diese Interaktionen stattfinden. 18 Am Modell der postkolonialen Identitätsprobleme im Zuge von Minderhei‐ ten- und Migrationserfahrungen zeigt sich, dass hybride Kulturen von einem Prozess bestimmt werden, der zwischen identitätsstiftend und bedrohlich durch beständiges Hinterfragen artikuliert und konstituiert wird. Nach all den geopolitisch und militärisch desaströsen Erfahrungen des 20. Jahr‐ 198 Ausblick - Kulturwissenschaft heute <?page no="199"?> 19 Vgl. Schulte, B.: Kulturelle Hybridität. Kulturanthropologische Anmerkungen zu einem Normalzustand. In: Schneider, I./ Thomsen, C. (Hgg.): Hybridkultur. Medien - Netze - Künste. Köln 1997, S. 2; Müller-Funk, W.: Alterität und Hybridität. In: Babka, A./ Malle, J./ Schmidt, M. (Hgg.): Dritte Räume. Homi K. Bhabhas Kulturtheorie. Kritik, Anwendung, Reflexion. Wien/ Berlin 2012, S.-130f. 20 Vgl. Krotz, F.: Leben in mediatisierten Gesellschaften. Kommunikation als anthropolo‐ gische Konstante und ihre Ausdifferenzierung heute. In: Pietraß, M./ Funiok, R. (Hgg.): Mensch und Medien. Philosophische und sozialwissenschaftliche Perspektiven. Wies‐ baden 2010, S. 106f.; Assmann, A.: Die Unverzichtbarkeit der Kulturwissenschaften. In: Hildesheimer Universitätsreden. Neue Folge, 3/ 2003, S.-24f. hunderts scheint das Hybride eine latente Wunschformel 19 darzustellen, um alles Essentialisierende und Unterdrückende gegen eine identitätsstif‐ tende kulturelle Neuverortung einzutauschen, die Befindlichkeiten von Individuen, Gruppen oder auch Staatenbünden zwischen Hin- und Herkunft in beständiger neutraler Schwebe hält. Dennoch kann die Bedeutung dieser Form der Verschränkung von Eigenem und Fremdem seit den Mediatisie‐ rungsschüben von Computer und Internet, in deren Zusammenhang ge‐ wohnte Identitätsmerkmale und kulturelle Zuordnungen durch imaginierte Gemeinschaften und digitale Vernetzungen zunehmend relativiert werden, aktueller nicht sein. 20 Sowohl Greenblatt als auch Said und Bhabha verwei‐ sen eindringlich auf die eigentümliche Dialektik von kultureller Herkunft und Zukunft als prozesshaften Zusammenhang zur steten Erweiterung der kulturwissenschaftlichen Wahrnehmung. b) Was heißt und zu welchem Ende studiert man Kulturwissenschaft? Nachdem Johann Wolfgang von Goethe die Gretchen-Frage bereits ausfor‐ muliert und seinem jungen Kollegen Friedrich Schiller 1789 wohlwollend eine unbesoldete Professur in Jena verschafft hatte, hielt der 29-Jährige am 26. Mai ebendort seine Antrittsvorlesung, in der er sich titelgebend der neuen Ausrichtung vom Gang der Geschichte annahm. Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? bot eine Einführung in das umfangreiche Bestreben, die Geschichte der Menschheit von den bekannten Anfängen bis in die Gegenwart zu rekonstruieren und durch das Erkennen der eigenen Vergangenheit zugleich Bildung für ein gegen‐ wärtiges Weltverständnis zu vermitteln. Wovor heute jeder Historiker, Kultur- oder Sozialwissenschaftler, der ernst genommen und zitiert wer‐ b) Was heißt und zu welchem Ende studiert man Kulturwissenschaft? 199 <?page no="200"?> 21 Vgl. Pilling, C./ Schilling, D./ Springer, M.: Friedrich Schiller. Reinbek bei Hamburg 7 2021, S. 46f.; Rüsen, J.: Kultur macht Sinn. Orientierung zwischen Gestern und Morgen. Köln/ Weimar/ Wien 2006, S.-154f. 22 Friedrich Schiller an Christian Gottfried Körner, 28. Mai 1789. In: Hahn, Schillers Briefe in zwei Bänden: Erster Band, S.-247ff. den möchte, zurückschreckt - eine Universalgeschichte zu schreiben -, stand für Schiller im Zeichen der Kontrastierung zweier Gelehrtentypen: Allgemeinbildung/ universale Bildung des philosophischen Kopfs mit dem Potenzial der Zukunftsgestaltung im Gegensatz zum einseitigen Fachwissen des Brotgelehrten, der sich als bloßer Funktionsträger an ein bestimmtes (Forschungs-)Gebiet anpasst und dieses nicht verlässt. 21 In einem Brief an Christian Gottfried Körner heißt es diesbezüglich: Man wirft Worte und Gedanken hin, ohne zu wissen […], daß sie irgendwo fangen, fast mit der Überzeugung, daß sie von 400 Ohren 400mal, und oft aben‐ teuerlich, mißverstanden werden. […] Meine erste Vorlesung handelte vorzüglich von dem Unterschied des Brotgelehrten und des philosophischen Kopfs. […] In meiner zweiten Vorlesung gab ich die Idee von Universalgeschichte. […] Eben höre ich, daß bei meiner zweiten Vorlesung 480 Zuhörer waren und gegen 50 keinen Platz mehr gefunden haben. 22 Die Briefstelle ist neben der Profilbildung des Gelehrten in zweierlei Hin‐ sicht bemerkenswert: Einerseits gibt Schiller eine nüchterne Selbsteinschät‐ zung seiner Eigenschaft als pädagogischer Vermittler von Lehrinhalten wieder, andererseits trifft seine Kritik eine Zuhörerschaft, deren hermeneu‐ tische Fähigkeit zur auditiven Aufnahme komplexer Lehrinhalte als ausbau‐ fähig eingeschätzt wird, aber deren rein quantitative Anwesenheit, selbst wenn Schiller übertrieben und doppelt gezählt hätte, in heutigen Hörsälen kulturwissenschaftlicher Fächer einer Wunschvorstellung gleichkommt. Was Schillers Antrittsvorlesung zu einem bedeutenden Dokument nicht nur der aufgeklärten Geschichtsphilosophie des späten 18. Jahrhunderts, sondern auch der gegenwärtigen Kulturwissenschaft macht, liegt in der Perspektive, die er dem Studiengang beimaß. Bereits am Beginn seiner Rede benennt er die zu erläuternde Erkenntnisfunktion: Es ist keiner unter Ihnen allen, dem Geschichte nicht etwas wichtiges zu sagen hätte; alle noch so verschiedenen Bahnen Ihrer künftigen Bestimmung verknüp‐ fen sich irgendwo mit derselben; aber Eine Bestimmung theilen Sie alle auf gleiche 200 Ausblick - Kulturwissenschaft heute <?page no="201"?> 23 Schiller, F.: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? Reprint des Erstdrucks der Jenaer akademischen Antrittsrede aus dem Jahre 1789. Herausgegeben von Volker Wahl. Jena 1996, S.-106f. 24 Vgl. Cometa, M.: Von der Mitte aus beginnen. Überlegungen zu Physiognomik des Kulturwissenschaftlers und zur Form der Kulturwissenschaften. In: Allerkamp, A./ Rau‐ let, G. (Hgg.): Kulturwissenschaften in Europa - eine grenzüberschreitende Disziplin? Münster 2010, S.-178. 25 Vgl. Nickel, S.: Zwischen Kritik und Empirie - Wie wirksam ist der Bologna-Prozess? In: Dies. (Hrsg.): Der Bologna-Prozess aus Sicht der Hochschulforschung. Analysen und Impulse für die Praxis. Gütersloh 2011, S. 8-11. Siehe auch die weiteren Beiträge in diesem Tagungsband. Weise mit einander, […] sich als Menschen auszubilden - und zu dem Menschen eben redet die Geschichte. 23 Geschichte als Menschenbildung, die vom philosophischen Kopf verstanden und vermittelt wird, betreffe jeden und ermögliche eine Horizonterweite‐ rung, um in die Vergangenheit und ein wenig in die Zukunft hineinzule‐ sen. 24 Wenn wir über diese Schulbuchinterpretation hinausgehen, lässt sich festhalten, dass Schillers selbstbewusste Worte zur Stellung seiner akade‐ mischen Disziplin mit dem heutigen Status quo der Kulturwissenschaft kaum verglichen werden können. Die Kulturwissenschaft stellt als junges Universitätsfach ein anspruchsvolles Studium dar, das die Vorgänge des menschlichen Lebens - in Anknüpfung an Weber als Gesamtkomplex von kollektiven wie individuellen Sinnkonstruktionen - unter dem Gesichts‐ punkt ihrer kulturellen Bedeutung betrachtet. Doch würden wir prinzipiell dazu neigen, die akademische wie gesellschaftliche Funktion der kultur‐ wissenschaftlichen Ausbildung eingedenk der Methodendiskussionen und Standortbestimmungen ebenso selbstbewusst zu konturieren und damit die Frage Was heißt und zu welchem Ende studiert man Kulturwissenschaft? ebenso überzeugt zu beantworten? Seit Jahren herrscht eine gewisse Skepsis gegenüber der Praxisorientie‐ rung und Berufstauglichkeit der Kulturwissenschaft, da sich die Kehrseite der vielfältigen kulturwissenschaftlichen Ansätze in den mannigfachen Gegenstandsfeldern zeigt, die an verschiedenen Universitäten einen mit Lehramtsstudien vergleichbaren gemeinsamen Fächerkanon vermissen las‐ sen, um gezielt Perspektive und Orientierung zu bieten. Hinzu kommt, dass nicht ausschließlich aufgrund, aber als Begleiterscheinung des von (europa-)politischer Seite eingeleiteten Bologna-Prozesses, 25 der ab 2000 einen empfindlichen Eingriff in die akademische Selbstverwaltung und b) Was heißt und zu welchem Ende studiert man Kulturwissenschaft? 201 <?page no="202"?> 26 Vgl. Wodak, R.: ‚Kritik und Krise‘. Perspektiven der Sozial-, Kultur- und Geisteswissen‐ schaften im 21. Jahrhundert. In: Babka, A./ Finzi, D./ Ruthner, C. (Hgg.): Die Lust an der Kultur/ Theorie. Transdisziplinäre Interventionen. Für Wolfgang Müller-Funk. Wien/ Berlin 2012, S. 110f.; Girmes, R./ Pollmann, K.: Verstehen und Handeln in kulturellen Systemen. Ein curricularer Entwurf. In: Düllo, T. et al. (Hgg.): Kursbuch Kulturwissen‐ schaft (= Forum Kultur, Bd.-1). Münster 2000, S.-151ff. 27 Vgl. Helmstetter, R./ Makropoulos, M.: Kulturwissenschaft und Wissensregime. Fünf Thesen. In: Heidbrink, L./ Welzer, H. (Hgg.): Das Ende der Bescheidenheit. Zur Verbes‐ serung der Geistes- und Kulturwissenschaften. München 2007, S. 48f. Überspitzt etwa auch in der kulturkritischen Essay-Sammlung von Vargas Llosa, M.: Alles Boulevard. Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst. Aus dem Spanischen von Thomas Brovot. Berlin 2014, S.-25-36. in das historisch gewachsene wissenschaftliche Selbstverständnis von Universitäten bedeutete, folgende Anforderung gilt: Gegenüber dem von Aristoteles den Menschen unterstellten natürlichen Wissensdrang, den man mittlerweile als frivolen Mut bezeichnen muss, sich zu ausgesuchten Inhalten der Kulturwelt zu bekennen, die einen Wert an sich darstellen und deren Kenntnis sowie Verständnis jenseits unmittelbarer beruflicher Verwertungsrationalität stehen, müsse ein Studium an einer Universität wie jenes der Kulturwissenschaft bis ins letzte bürokratische Detail durchorgani‐ siert und mit einer Berufsausbildung vergleichbar sein. Es solle sich in erster Linie nicht um Wissenschaft und Bildung an sich, sondern um Kompetenzen und intendierte Lernergebnisse drehen, die Wettbewerbsvorteile lukrieren sowie die Verwertungsinteressen an Ranglisten und Spitzenplätzen in frag‐ würdigen Statistiken bedienen. Wie soll sich jedoch in Zahlen messen sowie in eine Kolonne von Ergebnissen und Prozenten pressen lassen oder wie soll in messbare Effekte übertragen werden, was es bedeutet, kulturwissenschaftliches Basiswissen über kulturelle Komplexität (Identität und Differenz), Migration, Globalisierung oder die Neubestimmung der Ge‐ schlechterverhältnisse zu erwerben? 26 Damit korrespondiert die Relevanz- und Nützlichkeitsfrage, wie sie der seit etwa drei Jahrzehnten zunehmend mediatisierte Komplex von Infotainment und permanenter Konsumstimu‐ lation durch im Alltag omnipräsente Groß- und Kleinbildschirme mit sich bringt. 27 Der spätere Schweizer Kulturhistoriker Jacob Burckhardt etwa beklagte bereits 1842, als er noch als Student bei den Historikern Leopold von Ranke und Johann Gustav Droysen in Berlin Vorlesungen besuchte, gegenüber dem Freiburger Historiker Heinrich Schreiber zum Vordringen der Novellen: 202 Ausblick - Kulturwissenschaft heute <?page no="203"?> 28 Brief von Jacob Burckhardt an Heinrich Schreiber, 02.10.1842. In: Burckhardt, J.: Briefe. Ausgewählt und herausgegeben von Max Burckhardt. Darmstadt o.-J., S.-82. 29 Vgl. Zima, P. V.: Thesen zum Thema „Kulturwissenschaften“. In: Kulturwissenschaften in Klagenfurt (= Kultursoziologie. Aspekte, Analysen, Argumente. 1/ 2002), S.-192. Das Publicum möchte etwa Folgendes: Eine Reihe brillant geschriebener, pikanter Parthien aus der Geschichte, ohne Urkunden und Belege; Dinge von einem mehr novellistischen als wissenschaftlichen Interesse; […] Das verwünschte Novellen-Jahrzehent […] hat unser Publicum gründlich verdorben; 28 Nach Burckhardts zitierter und weiterführender Briefstelle bestand die Krux darin, es sich entweder mit dem eigenen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit oder mit dem erhofften Zielpublikum zu verderben. Ins 21. Jahrhundert übertragen, würde dies zweierlei bedeuten: einerseits die brillant geschrie‐ benen, pikanten Partien den utilitaristischen Desideraten des Marktes an‐ zubiedern, 29 wie die seit Jahren hohe Zahl an Darstellungen und Büchern mit Kultur-Komposita, oder einer Adjektivvariante davon, im Titel letztlich belegen, andererseits eine transdisziplinäre Ausbildung anzubieten sowie eine transkulturelle Bildung im Rahmen kulturwissenschaftlicher Praxis zu vermitteln. Zum einen kann man damit der Komplexität gegenwärtiger Un‐ tersuchungen zu Formen der kulturellen Identität, die das gesamte Spektrum der Geisteswissenschaften beanspruchen, akademisch gerecht werden, zum anderen bekommt man einen Eindruck von der kulturabhängigen Konstru‐ iertheit unserer Vorstellungen und Bedürfnisse. In Anbetracht der aktuellen Erschwernisse von Krieg und Zwangsmigration sowie Klimawandel scheint kein Weg daran vorbeizuführen, regelmäßig neue Schwellenräume der Verständigung zu betreten, um uns und andere daran zu erinnern, dass es keine in sich geschlossenen, nach außen abgegrenzten Kulturen/ Ethnien gibt. Die Bewältigung dieses Eindrucks kann im alltäglichen sozialen Gefüge von Gesellschaften mitunter mühsam wirken, von manchen als bedrohende Unübersichtlichkeit empfunden und in einer Talkshow gewiss nicht zu Ende erzählt bzw. diskutiert werden. Aufgrund der deutlichen Zunahme des wirtschaftlichen, gesellschaftspolitischen und kulturellen Austauschs in den letzten Jahrzehnten sollte diese transkulturelle und transdisziplinäre Ausrichtung aber als Herausforderung angenommen werden, wenn sie über b) Was heißt und zu welchem Ende studiert man Kulturwissenschaft? 203 <?page no="204"?> 30 Vgl. Wulf, C.: Bildung. In: Frietsch, U./ Rogge, J. (Hgg.): Über die Praxis des kulturwis‐ senschaftlichen Arbeitens. Ein Handwörterbuch (= Mainzer historische Kulturwissen‐ schaften). Bielefeld 2013, S. 70ff.; Ryan, M.: Prolegomena zu den Kulturwissenschaften. In: Winter, R. (Hrsg.): Die Zukunft der Cultural Studies. Theorie, Kultur und Gesellschaft im 21. Jahrhundert (= Cultural Studies, Bd. 33). Aus dem Amerikanischen von Henning Thies. Bielefeld 2011, S. 17ff.; Marchart, O.: Der koloniale Signifikant. Kulturelle Hybridität und das Politische, oder: Homi Bhabha wiedergelesen. In: Kröncke, M./ Mey, K./ Spielmann, Y. (Hgg.): Kultureller Umbau: Räume, Identitäten und Re/ Präsentationen. Bielefeld 2007, S.-87f. 31 Vgl. Marschall, W.: Wozu die Kulturwissenschaften da sind. In: Anderegg, J./ Kunz, E. (Hgg.): Kulturwissenschaften. Positionen und Perspektiven. Bielefeld 1999, S.-26-29. 32 Vgl. Liessmann, K. P.: Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung. Eine Streitschrift. Wien 2014, S.-40ff. die Grenzen von Nationalstaaten oder der eigenen Türschwelle hinaus gelingen soll. 30 Die Kulturwissenschaft behauptet dabei ihren Bereich, von dem weiterhin sehr viele profitieren, ohne viel an Fördermitteln zu erhalten. 31 So mag etwa der Umstand, dass die Entwicklung der europäischen Universität - und damit ein nicht unwesentlicher Teil europäischer Kulturgeschichte - undenkbar ohne den arabisch-islamischen Einfluss im späten Mittelalter er‐ folgt wäre, außerhalb von kulturgeschichtlichen Abhandlungen wenig mehr als eine Randnotiz darstellen, in aktuellen gesellschaftspolitisch brisanten Debatten im Rahmen der politisch belasteten Schlagwörter Migration, Ethnizität, Überfremdung oder abendländische Kultur jedoch Erhellendes und Differenzierendes beitragen, das der rassistischen und ethnozentrischen Instrumentalisierung kritisch begegnet. Bei aller Ambivalenz und notwendigen Kritik an den veränderungs‐ würdigen Seiten der Bildungssysteme besteht deren Leistung - von der antiken Rezitationskultur archaischer Erzählungen über die mittelalterli‐ chen Klosterschulen und späteren Universitäten bis zu den modernen Bildungsanstalten - darin, institutionell abgesicherte Orte zu schaffen, die es erlauben, jenseits der Dringlichkeiten des beruflichen wie priva‐ ten Alltages fundierte Kenntnisse über die Kulturwelt zu erwerben. 32 Ein Studium wie jenes der Kulturwissenschaft sollte nicht wie ein rasch zu absolvierender Fortbildungskurs aufgefasst werden, der von Studierenden‐ kennzahlen begleitet wird. Ansonsten würde übersehen werden, dass es eine wichtige Phase in der Biografie eines (jungen) Menschen darstellt, in der neben der Vermittlung von Kulturtheorie als theoretisch-methodologisches Orientierungswissen kritische Einsichten in aktuelle Problemfelder und 204 Ausblick - Kulturwissenschaft heute <?page no="205"?> 33 Siehe dazu die vielfältigen Ansätze des Argumentierens mit Kulturtheorie aus der Perspektive der Empirischen Kulturwissenschaft/ Kulturanthropologie zu Themen wie Denkmälern, Erzähl- und Gedächtnisforschung, Inszenierung im Museum, Briefmar‐ kensprache, Populärkultur im Alltag etc. Heimerdinger, T./ Tauschek, M. (Hgg.): Kul‐ turtheoretisch argumentieren. Ein Arbeitsbuch. Münster/ New York 2020 sowie an Beispielen zur kulturwissenschaftlichen Technikforschung in Verbindung mit Kunst Holfelder, U. et al. (Hgg.): Kunst und Ethnografie - zwischen Kooperation und Ko-Pro‐ duktion? Anziehung - Abstossung - Verwicklung: Epistemische und methodologische Perspektiven (= Kulturwissenschaftliche Technikforschung, Bd. 7). Zürich 2018 oder zu umstrittenem Kulturerbe bei Hamm, M./ Schönberger, K. (Hgg.): Contentious Cultural Heritages and Arts: A Critical Companion. Klagenfurt am Wörthersee 2021. 34 Vgl. Acham, K.: Wozu kulturwissenschaftliche Forschung heute? In: Aleksandrowicz, D./ Weber, K. (Hgg.): Kulturwissenschaften im Blickfeld der Standortbestimmung, Legi‐ timierung und Selbstkritik (= Kulturwissenschaften, Bd. 4). Berlin 2007, S. 41ff; Frietsch, U.: Kulturwissenschaften als Plattform für eine Neukonzeption der Geisteswissenschaf‐ ten. In: Dicke, K. et al. (Hgg.): Geistes- und Sozialwissenschaften an der Universität von morgen. Innenansichten und Außenperspektiven. Wiesbaden 2 2014, S.-32f. 35 Etwa bei Bachmann-Medick, D.: Jenseits der Konsensgemeinschaft - Kulturwissen‐ schaften im socio-political turn? In: ZfK - Zeitschrift für Kulturwissenschaften 2/ 2017, S.-105-111. 36 Vgl. Schönberger, K.: Kultur als Untersuchungsgegenstand und als heuristische Katego‐ rie der Gesellschaftsanalyse. Prolegomena zu einer Kulturanalyse der Alpen-Adria-Re‐ gion. In: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde. LXXII/ 121, 2018, Heft 1, S.-36. Themengebiete 33 gewonnen werden können. Dies betrifft Identitäten und kulturelle Selbstzuschreibungen in digitalen Medien, die Heterogenität und Integrationsleistung von und in globalisierten Gesellschaften, daraus entspringende neue kulturelle Herrschafts- und Machtverhältnisse etc. 34 Ohne die in den vorigen Kapiteln vorgestellte kulturwissenschaftliche Fä‐ chervielfalt zu reduzieren, können selbst vorwiegend zeitgeschichtlich oder gesellschaftspolitisch relevante Themenkomplexe die Rahmenbedingungen von Vergesellschaftung neu ausverhandeln, 35 wenn sie, wie mit Greenblatt und Bhabha hervorgehoben, sowohl auf einer historischen als auch auf einer auf die Gegenwart bezogenen gesellschaftlichen Kontextualisierung beru‐ hen und damit einem essentialisierenden Bezugsrahmen entgegenwirken. 36 Zwar wird unter dem Terminus Kulturwissenschaft eine mitunter schwer übersichtliche Vielfalt von unterschiedlichen Forschungseinrichtungen und Tendenzen in den Geisteswissenschaften subsumiert, doch ergibt sich ein Qualifikationsprofil, das, je nach Schwerpunktsetzung während des Studiums, mehr verspricht als die via regia in (finanziell) prekäre Anstel‐ lungsverhältnisse: für einen offenen und intersowie transdisziplinären Diskussionszusammenhang im Bereich der wissenschaftlichen Forschung und Lehre, im Bereich der (außer-)schulischen sowie betrieblichen Aus- und b) Was heißt und zu welchem Ende studiert man Kulturwissenschaft? 205 <?page no="206"?> 37 Vgl. dazu Beer, B.: Berufsorientierung und Praktika im Studium der Kulturwissenschaf‐ ten. In: Beer, B. et al. (Hgg.): Berufsorientierung für Kulturwissenschaftler. Erfahrungs‐ berichte und Zukunftsperspektiven (= Reimer Kulturwissenschaften). Berlin 2009, S.-19-29 sowie die weiteren Beiträge in diesem Band. Weiterbildung oder in der regionalen/ überregionalen Kulturarbeit (Kultur- und Wissenschaftsjournalismus, Verlagswesen, Museen, Archive, Bibliothe‐ ken etc.). 37 Wenn am Ende aus dem erworbenen Wissen eine praktische Tätigkeit als Beruf erwächst, die den Absolventen ihre persönliche Verwirk‐ lichung ermöglicht, welche eine Frage nach der Höhe des Entgelts für ihre Kulturarbeit oder der Anzahl der geleisteten Wochenstunden obsolet macht, hat ein Studium der Kulturwissenschaft mehr erreicht, als von ihm verlangt werden sollte! 206 Ausblick - Kulturwissenschaft heute <?page no="207"?> Abbildungsnachweis Abb. 1 Computergenerierte Wortwolke Kultur © 2023 Cornelsen Verlag GmbH (Duden), Berlin Abb. 2 Cueva de las manos (ca. 7000 v.-Chr.) © Alex Treadway/ roberthar‐ ding/ picturedesk.com Abb. 3 Doctrina Mahumet © Dresden, Sächsische Landesbibliothek (SLUB), Ms. Dresd. A. 120.b, 24v. Abb. 4/ 5 La Tentazione di Adamo ed Eva von Masolino da Panicale und La Cacciata di Adamo ed Eva dal Paradiso Terrestre von Masaccio (1427) © Raffaello Bencini/ Archivi Alinari, Firenze Abb. 6 Frontispiz zu Giambattista Vicos Scienza Nuova von Domenico Vac‐ caro (1730) Abb. 7 Jean-Jacques Rousseau von Etienne Ficquet nach Maurice-Quentin de la Tour (1764/ 72) © Art Institute Chicago - The Wallace L. DeWolf and Joseph Brooks Fair Collections (1920.2172) Abb. 8 The Transept from the Grand Entrance, Souvenir of the Great Exhibition von William Simpson nach J. Mc Neven (1851) © Victoria and Albert Museum, London (19627) Abb. 9 Café Griensteidl am Michaelerplatz von Reinhold Völkel (1896) © akg-images/ Erich Lessing Abb. 10 Wagner, Othmar: Misthaufen zur Premiere. In: Kleine Zeitung, 5. November 1988. Abb. 11 Relativität von Maurits C. Escher (1953) © picture alliance/ dpa Picture Alliance/ picturedesk.com <?page no="209"?> Literaturverzeichnis Acham, Karl: Wozu kulturwissenschaftliche Forschung heute? In: Aleksandrowicz, Dariusz/ Weber, Karsten (Hgg.): Kulturwissenschaften im Blickfeld der Standort‐ bestimmung, Legitimierung und Selbstkritik (= Kulturwissenschaften, Bd.-4). Frank & Timme, Berlin 2007, S.-23-44. Ackermann, Andreas: Das Eigene und das Fremde: Hybridität, Vielfalt und Kultur‐ transfers. In: Jaeger, Friedrich/ Rüsen, Jörn (Hgg.): Handbuch der Kulturwissen‐ schaften. Bd.-3: Themen und Tendenzen. Stuttgart 2011, S.-139-154. Adam, Charles/ Tannery, Paul (Hgg.): Oeuvres de Descartes. Correspondance, Bd. 1: 1622-1638. Paris 1897. Addison, Joseph: The Spectator, Nr.-10/ 12. März 1711. In: Aitken, George (Hrsg.): The Spectator. In eight Volumes. Vol. 1. London 1898, S.-52-56. Adelung, Johann Christoph: Versuch einer Geschichte der Cultur des menschlichen Geschlechts. 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Literaturverzeichnis 247 <?page no="248"?> Personenregister Abaelard, Peter-51 Addison, Joseph-114, 117 Adelung, Johann Christoph 18, 110, 172 Adorno, Theodor W.-19, 135, 181ff. Agricola, Rudolf-62f. Aischylos-33f., 36 Alexander der Große-98 Alhazen-48 Alkuins-44 Alkuin von York-44 al-Ma'mūn-47 Andreas-Salomé, Lou-165 Andrian, Leopold von-157 Aristoteles-13, 16f., 32, 35, 37f., 43, 45, 47ff., 51, 54, 72, 88, 100, 103, 202 Augustinus von Hippo 38, 41, 46, 56, 66, 95 Averroës (Ibn Ruschd)-49 Avicenna (Ibn Sīnā)-48 Bacon, Francis-17, 81, 84f., 90 Benedikt von Nursia-43f. Bernhard, Thomas-19, 186-189 Bhabha, Homi-19, 191, 196, 198f., 205 Bloch, Marc-19, 173 Boccaccio, Giovanni-57, 59, 61, 74 Bodin, Jean-93, 96f. Boethius-43, 47 Bonagratia von Bergamo-52 Born, Bertran de-55f. Bossuet Jacques, Bénigne-17, 97ff., 104, 106f., 109, 121 Bracciolino, Poggio-61 Brancacci, Felice-70 Bruno, Giordano-88 Burckhardt, Jacob-75, 110, 202f. Calvin, Johannes-67, 88 Campanella, Tommaso-81 Cankar, Ivan-19, 158f. Cassiodor-43 Cassirer, Ernst-18, 140, 149, 153ff., 169, 191 Cavendish, Margaret-81 Celtis, Konrad-62f. Christina von Schweden-93 Chrysoloras, Manuel-61 Cicero, Marcus Tullius-13, 16, 37ff., 46, 54, 59f., 65, 121 Cimabue-74f. Colet, John-68, 80 Comte, Auguste-149 Condorcet, Nicolas de-107 Dante Alighieri-16, 54-57, 61, 71, 74 Darnton, Robert-174 Darwin, Charles-18, 137ff., 142, 146 Delmedigo, Elias-71 Descartes, René-17, 89, 93, 102 Diderot, Denis-108, 114, 118f. Dilthey, Wilhelm-140f. Dini, Piero-87 Dürer, Albrecht-69 Durkheim, Émile-149 Dylan, Bob-177 Einstein, Albert-19, 166, 168 Erasmus von Rotterdam-62, 68f., 80, 96, <?page no="249"?> 120 Escher, Maurits Cornelis-19, 197f. Euklid-48f. Eyck, Jan van-69 Febvre, Lucien-19, 173 Ferdinand II. von Aragón-77 Ferguson, Adam-110 Ficino, Marsilio-72 Filbinger, Hans-186 Fiske, John-176f. Franco, Francisco-180 Franklin, Benjamin-23, 108, 114 Franz Ferdinand von Österreich-Este-161 Freud, Sigmund-19, 155, 157, 163-168, 182f. Friedrich von Augustenburg-126 Fromm, Erich-183 Galen von Pergamon-48 Galilei, Galileo-17, 87ff., 93 Gama, Vasco da-77 Geertz, Clifford-14, 19, 169ff., 191 Ginzburg, Carlo-174 Giotto-75 Goethe, Johann Wolfgang von-107, 199 Green, Renée-196 Greenblatt, Stephen-19, 104, 191-194, 199, 205 Grünberg, Carl-181 Gutenberg, Johannes-64 Hall, Stuart-19, 175f. Hārūn ar-Raschīd-47, 53 Heinrich VIII. von England-80 Helvétius, Anne-Catherine-114 Herder, Johann Gottfried-17, 107-110, 118, 122, 137ff., 153, 165, 172f., 192 Herodot-36 Herzfeld, Marie-157 Hesiod-16, 30-35, 54, 98, 103f. Hieronymus-65, 68, 95 Hippokrates-48 Hitler, Adolf-167, 181, 183, 185f. Hobbes, Thomas-17, 91f., 96, 100, 122f. Hofmannsthal, Hugo von 146, 157, 162f. Hoggart, Richard-19, 175f. Holbach, Paul-Henri d’-114 Homer-16, 30f., 54, 103f. Horkheimer, Max-19, 135, 181ff. Isabella I. von Kastilien-77 Isidor von Sevilla-43, 90 Jesus Christus-41f. Johannes XXII. (Papst)-52 Justinian-51 Kant, Immanuel-107, 120, 126, 128, 140, 153 Karinthia, Hermann von-48f. Karl der Große-44f., 97 Karl der Großen-53 Karl II. (England)-84 Kepler, Johannes-88 Ketton, Robert von-49 Klemm, Gustav-11f., 14, 134, 140 Kolumbus, Christoph-17, 77, 79 Kopernikus, Nikolaus-17, 85, 87f. Körner, Christian Gottfried-38, 126, 200 Lamprecht, Karl-110, 163, 172 Las Casas, Bartolomé de-78f. Lavergne-Peguilhen, Moritz von-10f., 140 Personenregister 249 <?page no="250"?> Linacre, Thomas-68, 80 Lorca, Federico García-19, 178-181 Ludwig IV. der Bayer-52f. Ludwig XIV. (Frankreich)-97 Ludwig XV. (Frankreich)-97, 123 Ludwig XVI. (Frankreich)-126 Lueger, Karl-160 Luther, Martin-67, 80, 88, 174 Marsilius von Padua-52, 55 Masaccio-17, 70f. Masolino da Panicale-17, 70f. Maximilian I. (Kaiser)-63 Medici, Cosimo de’-74f. Melanchthon, Philipp-67, 88 Mendelssohn, Moses-124 Mentelin, Johannes-65 Mersenne, Marin-89 Merz, Carl-184 Michael von Cesena-52 Michelangelo Buonarotti-74f. Mirandola, Pico della-17, 71ff., 80, 109 Mithridates, Flavius-71 Montaigne, Michel de-66 Morus, Thomas-17, 68, 73, 80ff., 91, 98 Muḥammad-49 Muhammad XII.-77 Mussolini, Benito-178, 181 Newton, Isaac-140 Otto von Freising-95 Petrarca, Francesco-16, 59-62, 66f., 69, 74 Peymann, Claus-186 Peyrère, Isaac La-17, 93, 96f., 106 Piccolomini, Enea Silvio-62, 64 Platon-13, 16, 32, 36, 38, 72, 82, 120 Plinius-77 Plutarch-77 Polo, Marco-77 Ptolemaios-47, 49 Pufendorf, Samuel von-110, 122, 124 Qualtinger, Helmut-185 Rabelais, François-173f. Ranke, Leopold von-172, 202 Raynal, Guillaume-Thomas-124 Reimarus, Hermann Samuel-96 Rickert, Heinrich-18, 140-143, 149, 153 Riis, Jacob-159 Rilke, Rainer Maria-157, 162f. Rivera, Primo de-178 Rousseau, Jean-Jacques 18, 39, 118-124, 126f., 137 Ruskin, John-18, 135f., 143, 146 Said, Edward-104, 195, 199 Salten, Felix-157 Salutati, Collucio-61 Savonarola, Girolamo-73 Schedel, Hartmann-95 Schiller, Friedrich 18, 114, 125-128, 146, 199ff. Schimmelmann, Ernst Heinrich von-126 Schnitzler, Arthur-157 Schönerer, Georg Ritter von-160 Semper, Gottfried-18, 133-136, 140, 143 Simmel, Georg-18, 143f., 146-149 Simon, Richard-96, 98, 106 Sinowatz, Fred-185 Sokrates-114 Spies, Johann-86 250 Personenregister <?page no="251"?> Statius, Publius-26, 54 Stiblin, Caspar-81 Terenz-65 Teresa von Ávila-66 Thomas von Aquin-45, 51, 55f. Ugarte, Eduardo-179 Valla, Lorenzo-68, 96 Vasari, Giorgio-17, 74f. Venerabilis, Petrus-49 Vergil-16, 38, 54, 65 Vespasiano da Bisticci-74 Vespucci, Amerigo-78 Vico, Giambattista-14-17, 73, 100-104, 106ff., 118, 121, 128, 140, 147, 151, 153, 173, 192, 195 Voltaire-17, 99, 106f., 114, 118, 121, 124, 134 Vranitzky, Franz-190 Waldheim, Kurt-185, 187, 190 Walpole, Horace-114 Weber, Max-15, 18, 104, 149-154, 169f., 201 Wilhelm von Ockham-52f. Williams, Raymond-19, 175 Windelband, Wilhelm-18, 140ff., 149, 153, 163 Winter, Max-19, 158f. Zweig, Stefan-19, 157, 172 Zwingli, Huldrych-67 Personenregister 251 <?page no="252"?> ISBN 978-3-8252-6096-5 Kultur ist jene ebenso grundlegende wie umfassende anthropologische Konstante, die den Menschen als sich selbst und seine Welt als solche erfahrbar macht. Sie entsteht im historischen wie im tagtäglichen Prozess und ist zugleich Reflexion des Menschen über diesen Prozess - Objektebene und Metaebene in einem. Der methodische Umgang damit markiert die Kernkompetenz der Kulturwissenschaft. Die vorliegende „Geschichte der Kulturwissenschaft“ beschreibt dieses weite Feld kulturwissenschaftlicher Erkenntnisinteressen und Forschungsperspektiven anhand von entscheidenden historischen Semantiken, Untersuchungsfeldern, Kulturrevolutionen, kulturkritischen Zeitdiagnosen und ausgewählten Kulturtheoretikern in einem Überblick vom Gilgamesch-Epos in der Antike bis zur amerikanischen Kulturpoetik in der Gegenwart. Kulturwissenschaft | Kulturgeschichte Dies ist ein utb-Band aus dem Narr Francke Attempto Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehr- und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel