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Balladen

Didaktische Grundlagen und Unterrichtspraxis

0925
2023
978-3-8385-6106-6
978-3-8252-6106-1
UTB 
Juliane Dube
Carolin Führer
10.36198/9783838561066

Die Ballade ist als klassischer Unterrichtsgegenstand fester Bestandteil des Literaturunterrichts. Dieser Band hilft dabei, ihr Potential für die Initiierung literarischer Lernprozesse neu zu entdecken, indem er sowohl kanonische als auch jüngere Balladen im Konzept eines themenorientierten und mediensensiblen Unterrichts präsentiert. Er umfasst fachwissenschaftliche und fachdidaktische Grundlagen sowie konkrete praktische Unterrichtsvorschläge. Damit gibt er Lehramtsstudierenden, Referendar:innen und Lehrenden des Faches Deutsch Einblick in aktuelle fachliche Diskussionen um die Ballade und deren Vermittlung. Über utb+ werden darüber hinaus Materialien zu den im Band präsentierten Unterrichtsangeboten bereitgestellt. Stimmen zum Buch: "Es ist dem Buch also zu wünschen, dass seine Vorschläge im Unterricht häufig angenommen und umgesetzt werden." (Zeitschrift für Germanistik 1/2022)

<?page no="0"?> Juliane Dube Carolin Führer Balladen Didaktische Grundlagen und Unterrichtspraxis 2. Auflage <?page no="1"?> utb 5389 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Brill | Schöningh - Fink · Paderborn Brill | Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen - Böhlau · Wien · Köln Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Narr Francke Attempto Verlag - expert verlag · Tübingen Psychiatrie Verlag · Köln Ernst Reinhardt Verlag · München transcript Verlag · Bielefeld Verlag Eugen Ulmer · Stuttgart UVK Verlag · München Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld Wochenschau Verlag · Frankfurt am Main UTB (M) Impressum_03_22.indd 1 UTB (M) Impressum_03_22.indd 1 23.03.2022 10: 23: 51 23.03.2022 10: 23: 51 <?page no="2"?> Dr. Juliane Dube ist wiss. Mitarbeiterin am Lehr‐ stuhl für Literatur- und Lesedidaktik an der Bergi‐ schen Universität Wuppertal. Neben ihrer Arbeit als Lehrerin lehrte und forschte sie in der Vergangenheit als Vertretungsprofessorin an der Universität Duis‐ burg-Essen sowie als wissenschaftliche Koordinato‐ rin eines Forschungs- und Nachwuchskollegs an der TU Dortmund. Prof. Dr. Carolin Führer lehrt und forscht im Fach‐ bereich Deutsche Philologie/ Didaktik der deutschen Literatur an der Eberhard Karls Universität Tübingen. <?page no="3"?> Juliane Dube, Carolin Führer Balladen Didaktische Grundlagen und Unterrichtspraxis 2., überarbeitete und erweiterte Auflage Narr Francke Attempto Verlag · Tübingen <?page no="4"?> 2., überarbeitete und erweiterte Auflage 2023 1. Auflage 2020 DOI: https: / / www.doi.org/ 10.36198/ 9783838561066 © 2023 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Ver‐ vielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: in‐ nen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: siegel konzeption | gestaltung CPI books GmbH, Leck utb-Nr. 5389 ISBN 978-3-8252-6106-1 (Print) ISBN 978-3-8385-6106-6 (ePDF) ISBN 978-3-8463-6106-1 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 1 9 2 19 2.1 19 2.2 29 3 47 3.1 47 3.2 52 4 65 4.1 65 71 4.2 73 4.3 79 4.4 84 4.5 88 4.6 94 101 4.7 103 4.8 108 4.9 113 117 4.10 119 4.11 124 Inhalt Einführung: Balladen im Deutschunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . Fachwissenschaftliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriff der Ballade und gattungsbezogene Definitionsschwierigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschichte der Ballade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Didaktische Entwicklungen und Theorie(n) . . . . . . . . . . . . . . . . . Didaktische Inszenierungen im Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Stand der aktuellen fachdidaktischen Diskussion . . . Balladendidaktische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Balladen auswählen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lesen - mit Texten und Medien umgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sich über Balladen austauschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Balladen analysieren und interpretieren . . . . . . . . . . . . . . . Balladen werten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Balladentexte in Bild und Ton . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Balladen in neuen medialen Formaten . . . . . . . . . . . . . . . . . Schreiben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Referierendes und argumentatives Schreiben zu Balladen Operatives Schreiben zu Balladen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textproduktives Schreiben zu Balladen . . . . . . . . . . . . . . . . Sprechen und Zuhören . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Balladen vorlesen und vortragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Balladen auswendig lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 127 4.12 129 4.13 133 5 141 5.1 141 5.1.1 141 5.1.2 148 5.1.3 155 5.1.4 163 5.1.5 173 5.2 184 5.2.1 184 5.2.2 192 5.2.3 203 5.2.4 208 5.2.5 216 5.2.6 226 5.3 238 5.3.1 238 5.3.2 245 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Balladen übersetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprache in Balladen reflektieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Themenorientierte Unterrichtsvorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Freundschaft und Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Freundschaft hat viele Gesichter - „Die Freunde“ von Wilhelm Busch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Abhandenkommen der Liebe - „Sachliche Romanze“ von Erich Kästner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschwisterneid, ein tödliches Motiv: „Die zwei Schwestern“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grenzenloser Liebesbeweis - „Der Handschuh“ von Friedrich Schiller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bedingungslose Freundschaft über den Tod hinaus - „Die Bürgschaft“ von Friedrich Schiller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unheimliches und Geisterhaftes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Semantik und Ästhetik des Bösen in der Literatur - „Gespenster“ von Alexander S. Puschkin . . . . . . . . . . . . . . Selbstüberschätzung als Entwicklungsmoment - „Der Zauberlehrling“ von Johann Wolfgang von Goethe . . . . . . Von Leben und Tod - „Der Erlkönig“ von Johann Wolfgang von Goethe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „O, schaurig“ - „Der Knabe im Moor“ von Annette von Droste-Hülshoff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Poetische Wirkkraft rational kalkulierter Dichtung - „Der Rabe“ von Edgar Allan Poe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vergänglichkeit als Bestandteil des Lebens - „Toten-Tanz“ von Johann Wolfgang von Goethe, Rainer Maria Rilke und „Berliner Totentanz 1 + 2“ von Thomas Kling . . . . . . . . . . . Schicksal, Selbstbestimmung und Bewährung . . . . . . . . . . . Gewagte Sprünge in luftiger Höhe - „Die Ballade vom Seiltänzer Felix Fliegenbeil“ von Michael Ende- . . . . . . . . . Ökologische Nachhaltigkeit - „Holger, die Waldfee“ von Lars Ruppel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> 5.3.3 254 5.3.4 263 5.4 274 5.4.1 274 5.4.2 283 5.4.3 290 5.4.4 302 5.4.5 310 5.4.6 318 329 331 Zivilcourage auf hoher See - „Nis Randers“ von Otto Ernst Die übernatürliche Macht der Poesie - „Die Kraniche des Ibykus“ von Friedrich Schiller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschichte, Gesellschafts- und Sozialkritik . . . . . . . . . . . . . Dominium terrae - „Der kleine Vogelfänger“ von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wenn Frauen töten - -„Ein modernes Weib“ von Maria Janitschek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Ohn-)macht gegenüber der Natur - „Die Brück’ am Tay“ von Theodor Fontane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gewalt und Religion - „Die Füße im Feuer“ von Conrad Ferdinand Meyer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nationalsozialismus und Folgen - „Und es war ein Tag“ von Nora Gomringer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gedankenfreiheit bis zum Tod - „Der Flüchtling“ von Fritz von Unruh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtsnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 7 <?page no="9"?> 1 Einführung: Balladen im Deutschunterricht Juliane Dube und Carolin Führer Abb. 1.1: Illustration zu Goethes Ballade „Der Zauberlehrling“ von Ferdinand Barth (1842- 1892). Während Balladen in der gegenwärtigen Unterhaltungskultur eher mit romantischer Pop- und Rockmusik assoziiert werden, sind sie im schuli‐ schen Kontext untrennbar mit einer Reihe von Klassikern wie „Der Zau‐ berlehrling“ (Abb. 1.1), „John Maynard“ oder „Der Handschuh“ und ihren unterschiedlichen künstlerischen Adaptionen verbunden. Balladen gehören zu den wenigen (traditionsreichen) Gegenständen im Deutschunterricht, die auch mit der Kompetenzorientierung z. T. noch explizite Benennung in den aktuellen Bildungsplänen von Klasse fünf bis Klasse 10 finden. Im Literaturunterricht zeigt sich wiederholt, dass ihre Epizität schnell Text‐ zugänge schafft, aber unmarkierte Sprecherwechsel, die Rekonstruktion des Handlungsverlaufs, die Linearität der Handlung sowie die veraltete Sprache in Balladen älteren Datums die Schüler: innen auch immer wieder vor Herausforderungen stellen. Das große Potenzial der Ballade, das angesichts einer vitalen Slamszene und der Gründung junger Verlage (z. B. Voland & Quist, kookbooks, Edi‐ <?page no="10"?> tion Azur) noch gewachsen ist, wird dabei jedoch, ggf. auch durch die mancherorts noch vereinzelt stattfindende „Verselbstständigung formaler Betrachtungen“ (Kammler 2009: 4) im Umgang mit Lyrik verkannt. Dabei sind die vermeintlichen Volksballaden sowie ihre vielseitigen Nachkommen (Romanze, Bänkelsang, Zeitungslied, Politsong etc.) mit Ausnahme der Kunstvariationen aus dem Bestreben heraus entstanden, Ereignisse vorzu‐ tragen, die für das Publikum von besonderem Interesse waren. Aus diesem Grunde sind die in Balladen behandelten Stoffe oft so vielseitig wie das Leben selbst und können es mit ihrem dramatischen Charakter „mühelos mit den bei Kindern so beliebten Grusel- und Abenteuergeschichten“ (Rath‐ mann/ Wildemann 2013: 1) aufnehmen. Insbesondere ihre Epizität (womit hier ein leicht fasslicher Erzählkern gemeint ist) erleichtert den Zugang zur Dichtung. Die Ballade wird also oft „genutzt, um an prägnanten Beispielen den ästhetischen Diskurs der jeweiligen Gegenwart oder Teile desselben problematisierend oder propagierend in die Poesie selbst hineinzuholen (…) Position zu beziehen, Reklamierbarkeit zu bestreiten, eigene Rechte und Möglichkeiten der Kunst im Kunstwerk zu behaupten“ (Laufhütte 2000: 627). Die Vielzahl der Veröffentlichungen im Bilderbuchformat (vgl. hierzu den Balladenband von Kasper 2020 oder die Balladenausgaben des Kin‐ dermann Verlags) verweist darüber hinaus auf die Anschaulichkeit und den Bildreichtum der Balladen, die es leicht machen, „in die Geschichte einzusteigen und der Atmosphäre nachzuspüren“ (Franz 1987: 40). Mit ihrem unverwechselbaren Reim, Klang und Rhythmus schließen sie formal an (früh-)kindliche literarische Erfahrungen an und bieten aufgrund ihrer Leerstellen und damit verbundenen Spannungserzeugung genügend Raum für kindliche Vorstellungsbildung und Identifikation. Mit zunehmender geistiger und literarischer Lernreife eignen sie sich hervorragend als Mit‐ tel der Welterschließung und Ich-Findung (vgl. Spinner 1995). Und nicht zuletzt stellen Balladen durch ihre Symbol- und Konfliktstruktur sowie Kontext- und Epochenspezifiken einen anspruchsvollen Lerngegenstand bis in die Oberstufe dar. Die besonders in den Gattungsgrenzen feststellbare performative und (musikalische) Dimension dieser Texte macht sie in einer medialen Gesellschaft, in der Präsentation und Wirkung(-ssteuerung) zen‐ trale Schlüsselfunktionen darstellen, zu einem interessanten literarischen Genre. Angesichts einer sozial, sprachlich und kulturell heterogen zusammen‐ gesetzten Schülerschaft stellt sich der Band folgenden Aufgaben: 10 1 Einführung: Balladen im Deutschunterricht <?page no="11"?> 1 Vergleiche hierzu die literaturwissenschaftliche Diskussion um die Ballade als „episches Gedicht“ (Fromm 1965: 393), als „Erzählgedicht“ seitens Kurt Bräutigam (1968) und Heinz Piontek (1964) sowie als „erzählendes Gedicht“ bei Woeseler (2009: 35). ▸ Balladen mit Blick auf ihr Potenzial für die Kompetenzvermittlung auszuwählen, ▸ eine Auseinandersetzung mit Balladen in allen Jahrgängen der Sekun‐ darstufe I+II anzuregen, ▸ und dementsprechend didaktisch neu zu konturieren. Damit will der Band das kulturelle Erbe einerseits erhalten und andererseits über die institutionelle Tradition hinausschauen. Dem Anspruch folgend, didaktische Überlegungen auch fachwissenschaft‐ lich verorten und begründen zu können, beschäftigt sich der erste, theore‐ tische Abschnitt mit den Definitionsschwierigkeiten der Ballade. Neben einer Einführung in theoretische (Kap. 2) und didaktische Grund‐ lagen (Kap. 3 und 4) wurden eine Vielzahl von Balladen(-didaktisierungen) entlang der Prinzipien Analogie und Differenz für einen heterogenitätssen‐ siblen und medienintegrativen Deutschunterricht zusammengestellt (Kapi‐ tel 5). Dabei folgen die ausgewählten didaktischen Analysen dem Ziel, Leserbzw. Subjektorientierung in heterogenen Klassengemeinschaften mit der Frage nach der Sinnhaftigkeit des Textes und seiner spezifischen kulturellen und literarischen Verfasstheit zu verbinden. Ausgewählt wurden neben ka‐ nonischen Werken auch Beispiele aus der aktuellen kulturellen Praxis, z. B. in Form von populärer Musik und Performance-Lyrik. Die ausgewählten modernen und zeitgenössischen Balladen zeichnen sich dabei thematisch über die „Zunahme eines reflexiven Moments“ (Bogosavlevic/ Woeseler, 2009: 6), z. T. über die Verhandlung der „Trivialität des Alltags“ (Piontek 1964) und formal über ihren Performance-Charakter und das bewusste Herstellen von Intertextualitäten (vgl. Bogosavlevic/ Woeseler 2009) aus. Die jeweiligen Unterrichtsimpulse für die Praxis wurden um ausgewählte literaturwissenschaftliche Diskurse zum jeweiligen Text ergänzt. Angesichts der Bandbreite der literarischen Gattung stellte sich auch für die Konzeption und Textauswahl dieses Bandes die Frage nach der Gattungszuordnung der Ballade, die von den Autor: innen bisweilen als „Ur-Ei“ (Goethe 1821), aber auch als Erzählgedicht 1 (vgl. Piontek 1964), als Gedicht, das dramatische Geschichten erzählt (Segebrecht 2012), oder als Gedicht, „das zeigt, wie jemand eine Grenze setzt, verteidigt oder über‐ 1 Einführung: Balladen im Deutschunterricht 11 <?page no="12"?> schreitet“ (Gaier 2019: 11), beschrieben wird. Neuere Balladenanthologien verzichten angesichts der Vielfältigkeit der Balladentypen daher teilweise auch komplett auf Ausführungen zur Gattungszuordnung. Vor dem Hintergrund, dass die Beschreibung einer Gattung stets nur als eine „historisch bedingte Kommunikations- und Vermittlungsform“ fungiert und damit als eine historisch-variable bzw. epochenabhängige Größe (vgl. Trappen 2001: 267) verstanden werden muss, haben wir uns in der Erarbei‐ tung dieses Bandes dazu entschieden, eine Sammlung von obligatorischen und fakultativen Merkmalen zur Ballade zusammenzustellen, die uns vor allem auch didaktisch ergiebig erschienen. Balladen sind danach literari‐ sche Texte, die in lyrisch gebundener Form ungewöhnliche, konflikthafte, bis ins Dramatische hinein gestaltete Begebenheiten mit exemplarischem Charakter und tragischem Ausgang aufgreifen, wodurch sie ein starkes emotionales Moment besitzen. Die in einem Akt zu erlesende Erzählung, in deren Zentrum wenige Figuren stehen, besitzt fiktionalen Charakter, wobei das Erzählte dennoch historisch verbürgt sein kann. Wiedergegeben wird es in linearen und einprägsamen Szenen und mit Rückgriff auf rhetorische Stilmittel. Weniger eindeutig scheint hingegen die Funktion des Erzählers, die Abgeschlossenheit der Begebenheit sowie die Verwendung fester Struk‐ turen für Strophen, Reim und Metrum. Gleichfalls unzuverlässig findet sich am Ende der Ballade eine moralische Botschaft, die „uns nicht ‚belehren‘, sondern ‚rühren‘ soll“ (Loock 1964: 229). Ebenso unzuverlässig zeigt sich die Erzählzeit in der Ballade, die mal im Präteritum und mal im Präsens verfasst ist (Kap.-2.1). Ausgehend von diesen mehr oder weniger distinkten Merkmalen zeich‐ nen die ersten Kapitel die Entstehung und Entwicklung der Ballade nach, deren Bedeutung für die Literaturgeschichte nur von wenigen bestritten wird. Thematisiert werden das französische Tanzlied mit Refrain („balada“), sowie die spanische „Romance“ des 14./ 15. Jahrhunderts. Auch die „erzäh‐ lenden Lieder im volkstümlichen Ton“ („walad“, „balad“) aus dem skandina‐ vischen Sprachraum, die später den englischen „ballads“ und damit auch den deutschen „Volks“balladen als Vorlage dienten (vgl. Weißert 1993), werden aufgegriffen. Als besonders reiche Quellen für die zukünftigen Bal‐ ladendichter erwiesen sich die systematischen Sammlungen von Balladen in Ancient English Poetry von Thomas Percy (1765) und The English and Scottish Popular Ballads von F. J. Child (1889) sowie die Sammlung von Volksliedern von Johann Gottfried Herder (1778/ 1779) und die Sammlung Des Knaben Wunderhorn von Achim von Arnim und Clemens Brentano (1806/ 1808). 12 1 Einführung: Balladen im Deutschunterricht <?page no="13"?> Wenngleich von damaligen Kritikern als „ein heilloser Mischmasch von allerlei butzigen, trutzigen, schmutzigen, nichtsnutzigen Gassenhauern, samt einigen abgestandenen Kirchenhauern“ beschrieben, hat insbesondere die letztgenannte Liedersammlung Des Knaben Wunderhorn mit ihren 723 Liedern wesentlichen Anteil an der Verbreitung der Ballade im deutschen Sprachraum. Hier sei jedoch angemerkt, dass jene „Volks“balladen des 18. Jahrhundert, anders als weiterhin vielfach in digitalen und analogen Unterrichtmaterialien behauptet, Volkstümlichkeit verstärkt ästhetisch in‐ szenieren und nicht nachahmen (vgl. Berner 2020: 1). Jene Balladen, so Berner, „bilden Ursprünglichkeit nicht in der klassischen Tradition der ‚imitatio‘ nach, welche die Existenz einer Vorlage voraussetzt“, sondern fingieren, analog zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, jene Ursprünglichkeit lediglich, sodass offen bleibt, „ob etwas vorgefunden und umgestaltet oder neu geschaffen wurde“ (ebd. 2f.). Demzufolge gibt es nur die Kunstballade (vgl. Gaier 2019: 12). Um auf die Idealisierung des Ursprünglichen in vermeintlichen Volksbal‐ laden hinzuweisen, wird an den jeweiligen Stellen auf eine gesonderte Schreibweise („Volks“balladen) zurückgegriffen. Durch vielseitige Einflüsse entstand in den darauffolgenden Jahrzehnten eine Variationsvielfalt balladesker Dichtung. Neben der volkstümlichen Inszenierung der Ballade des Spätmittelalters erweitern die romantische Ballade, die ‚Volkstümlichkeit‘ besonders kunstvoll als poetisches Konstrukt inszeniert (vgl. Berner 2020: 3), die klassische Kunstballade, das Erzählge‐ dicht, das Zeitungslied, der historische und moderne Bänkelsang sowie die Kabarett- und Protest-Ballade des frühen 20. Jahrhunderts die Tradition dieser literarischen Gattung. Diese enorme Wandlungsfähigkeit sichert der Ballade ihr Fortbestehen bis in die heutige Zeit. Der zweite theoretische Teil widmet sich der Ballade als schulischem Lerngegenstand (Kapitel 3). Hier werden aus der langen Tradition der Ballade im Deutschunterricht und ihren didaktischen Inszenierungsmustern und -wendepunkten sowie den gegenwärtigen kompetenzbezogenen Ent‐ wicklungen der Deutschdidaktik mögliche aktuelle Zugänge zum Umgang mit der Ballade diskutiert. Balladen galten im Deutschunterricht lange Zeit als literarischer Gegenstand, an dem generationsübergreifende Verständigung stattfinden kann (vgl. Köster 2001). Im Wilhelminismus dienten sie als Fundus von (auswendig gelernten) Lebensmaximen; auch in der Weimarer Republik und dann erst recht im Nationalsozialismus ist der Umgang mit Balladen von einer affirmativ-ideologisierenden Didaktik geprägt. Mit 1 Einführung: Balladen im Deutschunterricht 13 <?page no="14"?> der ideologiekritischen Wende im Umfeld der 68er-Bewegung plädieren u. a. Heinz Ide und Rudolf Wenzel in der alten BRD für eine veränderte Auswahl und diskursive Verfahren im Umgang mit Balladen. Als Mittel der Verständigung wird die Ballade in der alten BRD erst Mitte der 1980er-Jahre im „Neben- und Gegeneinander verschiedener Texttraditionen und darin sich spiegelnder, ästhetisch modellierter Bewußtseinslagen“ (Merkelbach 1984: 185 zit. n. Köster 2001) wiederentdeckt. In der ehemaligen DDR genießt sie durch die Berufung auf das humanistische Erbe und die damit verbun‐ dene Vermittlung ideologischer und ästhetischer Erziehungsmaximen von Beginn an eine relativ hohe Wertschätzung. Der Blick in die Deutschbücher der 1990er-Jahre zeigt, dass sich nunmehr im Lese- und Literaturunterricht der Sekundarstufen ein „bereinigter Restbestand von im Schnitt vier bis fünf Kunstballaden“ (Köster 2001: 180) findet. Deren didaktische Aufbereitung ist aber durch eine „starke Fixierung auf Formales, Gattungsspezifisches und handwerklich Spielerisches“ charakterisiert und vergibt damit ihr Potenzial zur Positionierung und Wertediskussion (vgl. Köster 2001: 180). Neben der Option, der Ballade auch im Kontext ihrer jeweiligen Rezep‐ tion als Ausdruck von Werten, Normen und Kulturmustern sowie ihren (historischen) Veränderungen unterrichtlich zu begegnen, ist sie auch für jüngere, mehrsprachige und inklusive Lerngruppen ein Gewinn. Ihre viel‐ fältigen medialen Adaptionen und ihr enormes performatives Potential bieten Möglichkeiten, Textzugänge für alle Lernenden zu schaffen. Dabei besteht die besondere Schwierigkeit in der angemessenen Analyse und/ oder dennoch kreativen, individuellen Annäherung: biographische, politische und soziale Umstände der Textentstehung sowie intertextuelle Bezüge des Werkes dürfen weder überfordern noch auf eine (relativ) eindeutige (didak‐ tisch reduzierte) Textaussage verengt werden. Eine Auslotung von (neuen) Bedeutungspotentialen durch die Rezeption aus dem jeweiligen (gegenwär‐ tigen) Kontext des Lesers/ der Leserin heraus darf nicht in ein willkürliches Überschreiten von Bedeutungsspielräumen ausarten (vgl. Kammler 2009: 9). Diese Problematik kann aus unserer Sicht behoben werden, indem es beispielweise zu einer Teilung von Kompetenzanforderungen im Klassen‐ verbund und deren Relationierungen zueinander am konkreten Gegenstand kommt. In solchen Lernprozessen kann die Lehrkraft Balladenunterricht beispielsweise zunehmend so organisieren, dass sie Sequenzen bildet, die nicht einen Gegenstand unsystematisch in den Blick nehmen, sondern in der Sequenz fachliche Kontexte modellhaft zeigen. 14 1 Einführung: Balladen im Deutschunterricht <?page no="15"?> Die zunehmend eigenständige Erarbeitung der Balladen und eine Text‐ erschließung, die auch textinterne Wertungen wahrnimmt und mit eigenen Positionierungen verbindet, ist an die jeweiligen Jahrgangs- und Kompetenz‐ stufen gebunden. Daher plädieren wir für einen systematischen Einbezug der Ballade, der die Verstehensanforderungen des allgemeines Textvers‐ tehens zunehmend um die Besonderheiten literarischen Verstehens und - nicht zuletzt- die wertende Reflexion zur Welt und zu sich selbst aus dem Text heraus erweitert. Anregungen hierzu finden sich in den balladendidaktischen Grundla‐ gen (Kap. 4), die mit Blick auf die Kompetenzbereiche der Bildungsstan‐ dards schulstufenunspezifisch zunächst verschiedene methodisch-didakti‐ sche Anregungen aus der aktuellen fachdidaktischen Forschung erläutern. Die jeweiligen Grundlagentexte erheben im Anbetracht ihres Umfangs keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sodass die Ausführungen um wei‐ terführende bzw. vertiefende Literaturhinweise am Ende der einzelnen Überblicke ergänzt sind. Zielsetzung des sich anschließenden umfangreicheren balladendidakti‐ schen Kapitels zur Unterrichtspraxis (Kap. 5) ist es, themenorientiert und systematisch aufbauend konkrete Textarbeit im Unterricht zu präsentieren. Dabei wird ein Zusammenspiel analytischer Verfahren mit handlungs- und produktionsorientierten Methoden favorisiert. Handlungs- und produkti‐ onsorientierte Verfahren werden demnach nicht nur vor dem Hintergrund motivationaler und subjektiver Erwerbsaspekte berücksichtigt, sondern auch im Wissen um ihr heuristisches Potenzial für die Intensivierung von Verstehensprozessen. So fällt ihnen im Rahmen des ästhetischen Erlebens und Wahrnehmens, z. B. von sprachlichen Verdichtungen in der Ballade, aus unserer Sicht eine besondere Erkenntnisfunktion zu. Die (durch solche Verfahren besonders betonte) Pluralität der Betrach‐ tungsweisen und des Umgangs mit dem Gegenstand wird in den didakti‐ schen Konzeptionen im Hinblick auf in den Bildungsplänen verankerte Kernkompetenzen fokussiert: Sprechen und Zuhören - Schreiben - Lesen - mit Texten und Medien umgehen - Sprache und Sprachgebrauch untersuchen. Ausgehend vom jeweiligen Kompetenzfeld bzw. den für den Umgang mit den ausgewählten Texten relevanten Kompetenzen aus den Bildungsstan‐ dards für die Primarstufe (2022), den Mittleren Schulabschluss (2022) und die Allgemeine Hochschulreife (2012) werden die didaktischen Anregungen vorgestellt. Bei deren Konzeption wurde Wert darauf gelegt, vielfältige literarische und mediale Praktiken aus der Alltagswelt der Kinder und 1 Einführung: Balladen im Deutschunterricht 15 <?page no="16"?> Jugendlichen aufzugreifen, um die bestmöglichen Voraussetzungen für die Partizipation dieser am literarischen Leben zu schaffen. Selbstredend ist dabei, dass es den didaktischen Königsweg dafür nicht gibt, sodass alle Anregungen für die individuelle (von den konkreten Gegebenheiten und Überzeugungen abhängige) Gestaltung des Unterrichts angepasst werden müssen. Die Vorstellung der Unterrichtssequenzen entlang fokussierter Kompe‐ tenzen verfolgt dabei nicht das Ziel, Balladen für diese Kompetenzziele zu instrumentalisieren. Vielmehr sind es textspezifische Angebote, um lesend, schreibend, sprechend sowie sprachreflektierend literarische, sprachliche und poetische Erfahrungsräume zu eröffnen. Der Band basiert damit auf der Idee, dass auch mit Kompetenzorientierung eine auf Ganzheitlichkeit ausgerichtete Deutschdidaktik möglich ist, „die weder den dichterischen Text als bloßes Transportmittel für Inhalte, noch als rein formales Gebilde auffaßt, sondern ihn als Gestaltung und Medium der Auseinandersetzung begreift“ (Spinner 1995: 5). Jedem Textbeispiel sind folglich Gedanken zur Textauswahl und zur di‐ daktischen Schwerpunktsetzung vorangestellt. Dem folgen mögliche Kom‐ petenzzuordnungen hinsichtlich des jeweiligen Angebots zur didaktischen Umsetzung. Vor dem Hintergrund eines kontextorientierten Lernens, das bei fortgeschrittenen Leser: innen durch Sequenzen des vergleichenden literarischen und ästhetischen Lernens abgelöst wird, sind so 21 Unterrichts‐ angebote entstanden. Diese sollen allen Schüler: innen unabhängig von ihren kulturellen, sozialen und sprachlichen Ausgangsbedingungen einen lebendigen und reflektierenden Umgang mit Balladen ermöglichen. Zu vielen der didaktisierten Textvorschläge stehen Unterrichtshilfen in der eLibrary des Verlages zum Download bereit. Die Unterrichtshilfen sind im Buch mit einem eindeutigen Hinweis am Seitenrand und einer Zusatzmaterialien-ID gekennzeichnet. Im eBook genügt ein Klick auf die ID, um auf die Zusatzmaterialien zugreifen zu können. Leser: innen des gedruckten Buchs erhalten mit ihrem Gutscheincode auf der zweiten Umschlagseite kostenfreien Zugriff auf das eBook und die Zusatzmate‐ rialien zum Buch. 16 1 Einführung: Balladen im Deutschunterricht <?page no="17"?> Zur besseren Orientierung im Buch sind manche Abschnitte in Textkästen gefasst und mit Icons versehen, die unterschiedliche Funktionen haben. Es handelt sich dabei um Abschnitte: in denen auf Material im Internet verwiesen wird, das für die Vor‐ bereitung oder Gestaltung des Unterrichts interessant sein könnte (Homepages, YouTube-Videos, Tutorials …); in denen wesentliche Kapitelinhalte zusammengefasst werden; in denen konkrete Unterrichtsvorschläge vorgestellt werden. Die Balladen wurden in Anlehnung an das Prinzip der thematischen Se‐ quenzbildung (vgl. u. a. Spinner 1995, 2019) zusammengestellt. Die thema‐ tische Sequenzbildung beruht auf der Annahme, dass „Literatur für den Menschen ein Medium der Welterschließung und Ich-Findung ist. Die Schüler: innen sollen die Möglichkeit haben zu erfahren, daß die Beschäfti‐ gung mit Texten für ihre Auseinandersetzung mit der Umwelt und mit sich selbst eine klärende Funktion haben kann“ (Spinner 2019: 4). Damit sollen eine möglichst große Vielfalt der in Balladen behandelten Themen sowie entwicklungsspezifische Rezeptionsinteressen und -kompetenzen be‐ rücksichtigt werden. Liebe und Freundschaft, dämonisch-spukhafte Stoffe, Schicksal, menschliche Bewährung und Hybris, historische Begebenheiten sowie Kritik an sozialen und politischen Zuständen sind Themenkreise, die in der Geschichte der Ballade bis heute Modellcharakter haben. Sie sind darüber hinaus institutionell im Literaturunterricht verankert und regen zur Auseinandersetzung mit anthropologischen Grundfragen an (vgl. Spinner 1999). Die starke Berücksichtigung der bisherigen literarischen und schulischen Traditionen in diesem Teil soll deren kulturelle Bedeutsamkeit untermauern und durch intermediale und methodisch vielfältige Lehr-/ Lernarrangements beleben. Die Auswahl und ihre jeweiligen didaktischen Inszenierungen verfolgen zudem das grundlegende Ziel, Schüler: innen für formale und sprachliche Unterschiede zu sensibilisieren und einen differen‐ zierten Blick auf die im jeweiligen Text verhandelten Problemaspekte zu fördern. 1 Einführung: Balladen im Deutschunterricht 17 <?page no="19"?> 2 Fachwissenschaftliche Grundlagen Juliane Dube 2.1 Begriff der Ballade und gattungsbezogene Definitionsschwierigkeiten Als nicht „reinrassiges Geschöpf unter den Musenkindern“ und „merkwür‐ diges poetisches Gebilde“ (vgl. Grimm 2002: 11) wird die Ballade zuweilen als „Grenzgängerin zwischen Lyrik, Epik und Dramatik“ (Pinkerneil 2000: 10) eingeführt. So finden sich in Balladen von Sagen und Mythen sowie ge‐ schichtlichen und alltäglichen Ereignissen geprägte Erzählungen zu vielfäl‐ tigen Themen (u.-a. Schicksal, Liebe, Tod etc.) (vgl. Bogosavljevic/ Woeseler 2009: 35). Inszeniert sind sie unter Verwendung unterschiedlicher Redeformen, teilweise sogar innerhalb einer Ballade (u. a. Erzähler- und Figurenrede), sowie sprachlicher und formaler Mittel. Die Schwierigkeiten, die mit diesem Grenzgängertum einhergehen, werden bereits nach einem kurzen Blick in verschiedene Erläuterungen zur Ballade deutlich. Nur selten finden sich heute noch knappe Formulierungen wie z. B. bei Duden online: Die Ballade ist ein [volkstümliches] Gedicht, in dem ein handlungsreiches, oft tragisch endendes Geschehen [aus Geschichte, Sage oder Mythologie] erzählt wird. oder im Lexikon Deutschdidaktik (Kliewer/ Pohl 2006: 36): Die Ballade ist eine erzählende Gedichtform, Verbreitung seit dem Ende des 18. Jh. als Kunstballade. Vorläufer sind die (meist) gesungene Volksballade und die Morität. Für moderne Formen der Ballade wird z. T. auch die Gattungsbezeich‐ nung Erzählgedicht verwendet. Die Ballade vereinigt in sich lyrische, epische und dramatische Elemente; immer wieder wird J.W. Goethes Zeitschriftenartikel „Ballade. Betrachtung und Auslegung“ von 1821 zitiert, in dem er auf diesen gattungsverbindenden Aspekt hinweist und die Ballade mit einem „lebendigen Ur-Ei“ vergleicht, weil in ihr die poetischen „Elemente“ noch nicht getrennt sind. <?page no="20"?> 2 Kursivsetzungen erfolgten in den Definitionsversuchen durch die Autorin des vorlie‐ genden Beitrags. Die nicht nur hier im Lexikon der Deutschdidaktik angeführte Rekurrenz der Ballade als „lebendiges Ur-Ei“ dient auch in einer Vielzahl von Sprach- und Lesebüchern sowie zahlreichen fachwissenschaftlichen Balladenantho‐ logien als Grundlage. Mit Verweis auf Goethes Ausführungen im Aufsatz „Ballade, Betrachtung Auslegung“ (1821) vereinen Balladen die „drey Grund‐ arten der Poesie“ durch ihre epische Erzählweise mit lyrischer Grundform und dramatischer Gestaltung. So heißt es: Die Ballade hat etwas mysterioses ohne mystisch zu seyn; diese letzte Eigenschaft eines Gedichts liegt im Stoff, jene in der Behandlung. Das Geheimnißvolle der Ballade entspringt aus der Vortragsweise. Der Sänger nämlich hat seinen prägnanten Gegenstand, seine Figuren, deren Thaten und Bewegung, so tief im Sinne daß er nicht weiß wie er ihn ans Tageslicht fordern will. Er bedient sich daher aller drey Grundarten der Poesie, um zunächst auszudrücken was die Einbildungskraft erregen, den Geist beschäftigen soll; er kann lyrisch, episch, dramatisch beginnen, und, nach Belieben die Formen wechselnd, fortfahren, zum Ende hineilen, oder es weit hinausschieben. Der Refrain, das Wiederkehren ebendesselben Schlußklanges, giebt dieser Dichtart den entschiedenen lyrischen Charakter. (Goethe 1821/ 1981, Bd.-1: 400) Obwohl die Metapher des Ur-Eis die Balladenforschung bis heute dominiert (vgl. Bartl 2017: 22), scheint sie allein nicht auszureichen, um die Vielfalt der Ballade zu erfassen. Auch deutlich ausführlichere Definitionsversuche zur Ballade verweisen durch ihre verstärkte Verwendung von Abtönungsparti‐ keln wie meist, oft und manchmal überdeutlich auf die bis heute vorherr‐ schende Schwierigkeit, eine „greifbare Kategorisierung und abschließende - oder zumindest als Arbeitsdefinition funktionale - Definition“ (Bartl 2017: 23) auszugeben. So beschreibt Hartmut Laufhütte (vgl. 1979/ 1992: 25) die Ballade z. B. als „eine episch-fiktionale Gattung. Sie ist immer in Versen, meist gereimt und strophisch, manchmal mit Benutzung refrainartiger Bestandteile und oft mit großer metrisch-rhythmischer Artistik gestaltet“. Auch im Definitionsversuch von Fauser (2000) heißt es: „Innerhalb des Gefüges der Gattungen verschieden eingeordnet, steht die Ballade formal oft der kurzen Verserzählung am nächsten“ (Fauser 2000: 14) 2 . Zu diesen Schwierigkeiten kommt hinzu, dass es keine „spezifisch bal‐ ladischen Themen gibt“ (Laufhütte 1979, Nachwort: 613, Gaier 2019: 12). 20 2 Fachwissenschaftliche Grundlagen <?page no="21"?> Zumbach beschreibt die bisherigen Versuche der Fachwissenschaft, eine konzise Balladendefinition aufzustellen, in Folge dessen als „schwammige Umkreisungen“ (Zumbach 2008: 7). Maren Conrad erklärt sie gar als ge‐ scheitert, weil Goethes Definition zur Ballade bis heute vorherrschend ist (vgl. Conrad 2014: 43). Es verwundert daher nicht, dass jüngste Versuche, eine Antwort auf die Frage: „Was ist eine Ballade? “ zu geben, inzwischen ganze Kapitel füllen (vgl. hierzu aktuell Segebrecht 2012, Nachwort; Bartl 2017: 9−19) oder umkehrt, eine Antwort schlicht verweigert wird. So hält Gaier fest: „Mit Absicht sage ich nicht: ‚Die Ballade ist …‘, denn damit gerät man in die Festsetzung eines Begriffs, dem dann die Dichter unter Strafan‐ drohung vernichtender Kritik oder Nichtachtung gehorchen müssen. […] Um Streit zu vermeiden, biete ich keinen Begriff (‚Ballade ist …‘)“ (2019: 11). Gaier wählt stattdessen eine „handlungstheoretische Anweisung“, indem er beschreibt, dass Balladen zu Bewusstsein bringen, „dass jemand eine Grenze setzt, verteidigt oder überschreitet“ (ebd.). Im Vergleich zu den umfassenderen Ausführungen der jüngsten Zeit macht der erneute Blick auf die Ur-Ei-Metapher deutlich, dass es Goethe damit geradezu charmant gelingt, sich der Frage zu entziehen, zu welcher Gattung die Ballade nun eigentlich gehört (vgl. Weißert 1993: 5). Folglich entstand der Eindruck, die Ur-Ei-Definition und ihre Anhänger: innen wür‐ den als Mittler zwischen den lange Zeit konkurrierenden Sichtweisen zur Gattungszuordnung der Ballade fungieren. Auf der einen Seite wird der Ballade eine „epische Grundstruktur mit Zusatzmerkmalen“ zugeschrieben, die ein „Vorgangskontinuum“ beschreibt (Laufhütte 1979: 350). Dies führt dazu, so Käte Hamburger 1957, „dass wir den Inhalt des Balladengedichts nicht mehr als Aussage eines lyrischen Ichs, sondern als fiktive Existenz fiktiver Subjekte auffassen“ (243). Bezeichnet wird die Ballade daher auch als „Handlungsgedicht mit einem Konfliktpotential“ (Grimm 2002, aber auch Segebrecht 2012). Auf der anderen Seite wird die Ballade aufgrund ihrer lyrischen Erzählweise der Lyrik zugeordnet (vgl. auch Müller-Seidel 1963a, Müller 1980). Bis heute hält der Diskurs um die Ballade als „Gattungshybrid“ (Conrad 2017: 22) weiter an (vgl. die Beiträge im Sammelband Bartl et al. 2017). Wenngleich auch die neueren Publikationen zur Ballade Goethes Ur-Ei-Definition viel Gutes abgewinnen können, da sie sich einer „apo‐ diktischen Einordnung“ verwehrt und damit den Facettenreichtum der Balladendichtung nicht unzulässig reduziert (vgl. Bartl 2017: 15), dominiert der seit den 1960er-Jahren etablierte Terminus der Ballade als Gedicht mit 2.1 Begriff der Ballade und gattungsbezogene Definitionsschwierigkeiten 21 <?page no="22"?> Erzählfunktion den heutigen fachwissenschaftlichen Diskurs (vgl. Knezevic 2017: 288). Deutlich wird jene starke Verankerung des Epischen, die sich deutlich von traditionellen lyrischen und dramatischen Texten abgrenzt, wenn die gebundene Sprache vieler Balladen aufgebrochen wird. Schnell zeigt sich dann, dass mit nur wenigen Eingriffen in den Text das Umschrei‐ ben in eine Erzählung gelingt. Hierzu tragen nicht nur der Einsatz eines heterodiegetischen Erzählers bei, der die ungewöhnlichen konflikthaften bis ins Dramatische hinein gestalteten Begebenheiten und Ereignisse meist im Ur-Tempus des Epischen, dem Präteritum, wiedergibt, sondern auch die lineare und konzise Darstellung der abgeschlossenen Handlung. Allerdings zeigt der Blick auf verschiedene Balladen, dass die Erzählfunk‐ tion ganz unterschiedlich ausgeprägt sein kann. So finden sich einerseits Balladen wie z. B. Ruppels „Holger, die Waldfee“ (vgl. Kap. 5.3.2) oder Hacks „Vom schweren Leben des Ritters Kauz vom Rabensee“, die fast aus‐ schließlich durch einen Erzähler vorgetragen werden. Andererseits ist die Erzählfunktion zum Beispiel in Goethes Ballade vom „Erlkönig“ (Kap. 5.2.3), auf eine die dramatische Wechselrede zwischen Vater, Kind und Erlkönig rahmende Einführungs- und Abschlussstrophe begrenzt. Zu jenen Balladen mit schwach ausgeprägter Erzählfunktion zählt auch Schillers „Die Kraniche des Ibykus“ (Kap. 5.3.4). Nur kurz wird hier die dramatische Wechselrede durch Einschübe unterbrochen, die sich wie Regieanweisungen lesen lassen und zusammen mit dem oftmals musterhaften Freytagschen Schema eines Spannungsbogens aus knapper Exposition, Spannungssteigerung, Peripetie (Höhepunkt), abfallender Handlung (ggf. mit retardierendem Moment) und der Lösung des Konflikts die Nähe zum Drama zeigen (vgl. Bartl 2017: 16). In anderen Balladen wie z. B. Eichendorffs „Waldgespräch“ oder diversen Rollenballaden, u. a. von Julia Engelmann („Die Ballade vom König“, 2016), tritt der Erzähler ganz hinter die Figuren zurück. Einmal mehr zeigt sich die Ballade auch in diesen Beispielen als Grenzgängerin. Folglich verwundert es nicht, dass die Forderungen lauter werden, die fachwissenschaftlichen Diskussionen zur Dominanz des episch-fiktionalen Gehalts der Ballade erneut zu öffnen (vgl. hierzu u.-a. Bartl 2017: 15). Ob die vielseitigen Formen der Balladen mit den veränderten gesellschaft‐ lichen Gegebenheiten zu einem Abschluss gekommen sind oder ob sie sie sich an die neuen Gegebenheiten und Möglichkeiten angepasst haben, ist nach wie vor offen (vgl. Kohl 2011: 94). Kohl verweist hier dezidiert auf die Problematik, dass jeder Definitionsversuch von zeitlichen Abhängigkeiten 22 2 Fachwissenschaftliche Grundlagen <?page no="23"?> geprägt ist. Einerseits von der Zeit, in der die Gattungsbestimmung formu‐ liert wurde und andererseits von der Balladenauswahl. Mit diesem Band möchten wir fachliches Wissen für die didaktische Inszenierung von Lernarrangements zum Thema Balladen vermitteln - insbesondere im Hinblick auf die Thematisierung von gattungsspezifischen Fragen im Unterricht. Insofern müssen auch wir zu jenen definitorischen Schwierigkeiten Stellung beziehen. Die Aufgabe, in einem didaktischen Lehrbuch eine Definition zu Balladen voranzustellen, wird indes jedoch nicht leichter, indem man auf die vielseitigen Schwierigkeiten verweist, die damit einhergehen. Vielmehr blickt man ernüchternd auf die zahlreichen Diskussionen insbesondere dann, wenn man eine allgemeingültige Defini‐ tion zur Ballade formulieren möchte, welche die „Grenzüberschreitung und Veränderung“ als Kern der Ballade (vgl. Bartl 2017: 10) anerkennt. Ausgehend von jener fachwissenschaftlichen Position der neueren ger‐ manistischen Forschung wird die Reduktion der Ballade, z. B. auf eine bestimmte historische Erscheinungsweise, ein Thema oder ein zu vermit‐ telndes Bild (z. B. Heldenideal) dieser Kunstform nicht gerecht (vgl. u. a. Knezevic 2017: 287, Gaier 2019: 12), weil die Übergänge fließend sind. So verweist Gaier als Beispiel auf Bürgers Ballade „Leonore“, einer der Kunstballaden schlechthin, in der sowohl vom Wiedergänger, Geistern, Freunden, vom Hadern mit Gott und dem mangelnden Gehorsam gegenüber der Mutter erzählt wird (vgl. Gaier 2019: 13). Insofern möchten wir keine allgemeingültige Definition der Ballade geben. Auch wenn mit unserem Modell der Verlust „einer überschaubaren Gattungseinheit“ (Grimm 1988: 11) einhergeht, bietet die Zusammenstellung obligatorischer und fakultati‐ ver Merkmale der Ballade (Abb. 2.1) eine Dynamisierung, die nicht nur den gattungsüberschreitenden Impetus der Ballade betont, sondern für textana‐ lytische Aushandlungsprozesse im schulischen Kontext besonders fruchtbar gemacht werden kann. Folglich sind die Merkmale sowohl formaler als auch struktureller Natur so ausgewählt, dass sie einerseits eine epochenübergrei‐ fende Gültigkeit besitzen (diachrone Ebene) und die Bandbreite der durch sie erfassten Texte (synchrone Ebene) nicht künstlich eingrenzen. Durch die Verbildlichung der im Kopf des Modells aufgeführten Großformen der Ballade und ihrer Nachbargattungen an den übrigen Rändern wird zudem der anhaltende Wandlungsreichtum der Ballade, der im oberen Bereich des Modells zusätzlich durch die Pfeile symbolisiert wird, als existenzbejahende Voraussetzung der Gattung betont. 2.1 Begriff der Ballade und gattungsbezogene Definitionsschwierigkeiten 23 <?page no="24"?> Wenngleich sich der hybride Charakter der Ballade und damit Goethes „Ur-Ei“-Definition auch in den obligatorischen Merkmalen wiederfindet, erlaubt die Ergänzung um fakultative Merkmale, deren Zusammenstellung keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, jeden einzelnen Text ergeb‐ nisoffen zu reflektieren. Ob die epische Funktion die lyrischen Bestand‐ teile bestimmt oder die Vorgangsgestaltung einer dominierenden lyrischen Formgestalt untergeordnet ist, gilt es folglich am Einzelbeispiel zu prüfen. Zusammen dient die Merkmalsaufstellung als Grundlage, um mit den Ler‐ nenden im Zuge einer analytischen Lektüre, die „Naturformen“ (Segebrecht 2012: 787), die an der Ballade Anteil haben, in ihrer Mehrdeutigkeit heraus‐ zuarbeiten. Dadurch sollen die Schüler: innen für die Vielfalt von Balladen als Kern dieser Gattung sensibilisiert werden. Konkret soll folglich keine starre Balladendefinition gegeben werden, sondern eher eine Anleitung zur Präzisierung der historischen Gattung Ballade bzw. ihrer Familienähnlich‐ keit. „Volks“ballade klassische Kunstballade moderne Formen der Ballade Balladen sind literarische Texte, die … obligatorisch • in einem Leseakt erlesen werden können. • keinen Anspruch erheben, an der außerliterarischen Wirklichkeit überprü�ar zu sein. • in linear konzise gestalteten einprägsamen Szenen von konfliktha�en bis ins Drama�sche hinein gestalteten Begebenheiten und Ereignissen weniger Figuren erzählen. • in lyrisch gebundener Form verfasst sind und deren emo�onales Moment („Affekterregungskunst“) und exemplarischer/ sinnbildlicher Charakter durch die Verwendung rhetorischer S�lmi�el verstärkt werden. fakulta�v • erzählerisch abgeschlossen sind. • strophisch, metrisch und in Reimform gebunden sind. • refrainar�ge Passagen enthalten. Volkslied Bänkelsang Moritat Popsong Rap Erzählgedicht Chanson (Vers-) Novelle Sage/ Mythos Schwank Zeitungslied Balladenlied Abb. 2.1: Obligatorische und fakultative Merkmale der Ballade Mit Bezug zum Modell verstehen wir Balladen als literarisch-fiktionale Texte, die in lyrisch gebundener Form von „konflikthaften“ (vgl. Wagen‐ knecht 2007: 192), bis ins Dramatische hinein gestaltete Begebenheiten (vgl. Segebrecht 2012: 738) berichten. Ausgelöst wird der weltanschauliche, ethi‐ sche, politische oder psychologische Konflikt, dessen Schilderung zwischen 24 2 Fachwissenschaftliche Grundlagen <?page no="25"?> tragisch-ernst und komisch changiert (vgl. Laufhütte 1979: 372 f.), „weil jemand eine Grenze setzt, verteidigt oder überschreitet“ (vgl. Gaier 2019: 11). Während sich „Nis Randers“ (Kap. 5.3.3.) in der gleichnamigen Ballade von Otto Ernst z. B. über die Bedenken der Mutter hinwegsetzt und der Edelmann Dolorges in Schillers Ballade „Der Handschuh“ (Kap. 5.1.4) mit seiner pro‐ vokanten Geste die Grenzen des gesellschaftlichen Spiels der Hohen Minne bricht, stehen sich im Brechts Ballade „Der Schneider von Ulm“ weltliche und göttliche Anschauungen und in Fontanes „Die Brück’ am Tay“ (Kap. 5.4.3) Natur und Technik gegenüber. Neben hier beispielhaft aufgeführten ethischen, weltanschaulichen und gesellschaftlichen Differenzen überwin‐ den „Der Knabe im Moor“ (Kap. 5.2.4) von Droste-Hülshoff oder „Felix Fliegenbeil“ (Kap. 5.4.1) von Michael Ende auch topografische Grenzen (vgl. Unterrichtsvorschläge zu den genannten Balladen im Band, Kapitel 5). Folglich ist die Ballade nicht nur durch ihren gattungsüberschreitenden Impetus, sondern auch durch Grenzüberschreitungen auf inhaltlicher Ebene charakterisiert. Konsequenterweise können im Unterricht ausgewählte Texte zum Thema Ballade auch einen inneren Vorgang beschreiben, jedoch muss dieser durch äußere Gesten umgesetzt oder von ihnen getragen werden. Die Einsträn‐ gigkeit der Handlung ist dabei nicht maßgebend, sondern vielmehr die räumlich-zeitliche bzw. kausale Verknüpfung der einzelnen Szenen. Ein Textbeispiel, welches „keinen solchen integralen Vorgang entstehen lässt, sondern - eventuell bei verkümmerten Ansätzen zu dessen Bildung - lediglich einen, wenn auch vom ‚lyrischen Ich‘ verselbstständigten, stati‐ schen Zustand entwirft, kann keine Ballade im eigentlichen Sinne sein“ (Bogosavljevic 2009: 42). Die in der Ballade geschilderten Begebenheiten können sowohl exempla‐ risch als auch sinnbildlich gedeutet werden und tragen damit wesentlich zur Popularität der Gattung bei (vgl. ebd.: 14). Zu denken ist in diesem Zusammenhang an Goethes „Der Zauberlehrling“ (Kap. 5.2.2), an Buschs Ballade „Die Freunde“ (Kap. 5.1.1) oder Hoffmanns „Der kleine Vogelfänger“ (Kap. 5.4.1), deren Schicksalsschilderungen mal in Form eines direkt for‐ mulierten Merksatzes mal als exemplarische Begebenheit den Leser: innen in zur Reflexion zumeist anthropologischer Grundfragen anregen sollen. Mit der damit einhergehenden doppelten Ausrichtung der Ballade auf die Horaz’schen Pole delectare (lat. unterhalten) et prodesse (nützen) erweist sich die Ballade erneut als Grenzgängerin. Folglich verwundert es nicht, dass 2.1 Begriff der Ballade und gattungsbezogene Definitionsschwierigkeiten 25 <?page no="26"?> Balladen lange Zeit als „Chronotop“ (Köster 2001: 175) eingesetzt wurden, an dem generationsübergreifende Verständigung stattfand (Kap.-3.1). Wenngleich die Balladen fiktionale Texte sind, besitzen sie jedoch häufig einen „Wirklichkeitsanker“ (Bartl 2017: 10). Folglich werden in Balladen his‐ torische, politische und ethische, mitunter aber auch alltägliche Situationen in einprägsamen Szenen beschrieben. Die dramatische Darstellungsweise jener Situationen ist geprägt durch die gehäuften Verwendung rhetorischer Redemittel wie direkte Ansprache, Anklage und starke Wechselrede, welche zusätzlich „eine imaginierte Kommunikationssituation“ (Wojcik 2017: 17) mit starkem emotionalen Wirkungspotential schaffen, sodass die Ballade als „eine Gattung mit besonders hohem Leser: innenbezug“ bezeichnet werden kann (Bartl 2017: 14). Im Mittelpunkt der linearen zumeist einsträngigen Handlung, die „keine Exkurse, Nebenhandlungen oder Weitschweifigkeiten“ enthält stehen meist wenige Figuren, deren Erlebnisse vershaft bisweilen auch strophisch und/ oder in Reimform angelegt sind. Die Ausbildung einer gattungskritischen Haltung ist nicht zuletzt not‐ wendig, um die hier bereits angedeutete unzureichende Anwendung jener Goethe’schen Definition herauszuarbeiten. So ist z. B. nicht nur eine Verlagerung vom naiven zum reflektierten Erzählen (Woesler 2009: 6), sondern auch eine zunehmende Abwendung von der Linearität der Hand‐ lung zu beobachten. Folglich wäre die Ballade als „Ur-Ei“ nicht primär als Ursprung und Ausgangspunkt lyrischer, epischer und dramatischer Formen zu verstehen, „sondern als Ferment [dieser Gattungen], das sich als ein produktiver Unruhefaktor bemerkbar macht: Die Ballade verstört die Lyrik mit dramatischer Handlung, der Prosa verordnet sie die gebundene Verssprache, das Dramatische erzählt sie“ (Segebrecht 2012: 788). Diese Grenzüberschreitungen sind jedoch nicht dem Zufall geschuldet, sondern bewusste Setzungen, die wiederum in einen Reflexionsprozess zur Gesamt‐ gestalt der Ballade einbezogen werden müssen. Diesen Reflexionsprozess anzuleiten, ist das Ziel der in Abbildung 2.1 aufgeführten Merkmalsübersicht zur Ballade, welche sich im Sinne von Rüdiger Zymners literaturtheoreti‐ scher Gattungstheorie als „ein[en] systematische[n] und auf Prinzipienwis‐ sen ausgerichtete[n] Versuch der theoretischen Reflexion über literarische Gattungen“ (2003: 9) versteht. Dabei sind sich die Autorinnen bewusst, dass Gattungsbeschreibungen in der Literaturwissenschaft kontrovers diskutiert werden (vgl. Schmitz-Emans 2010: 109-111). Dennoch sind sie wichtig, um einer Beliebigkeit an Gattungsdefinitionen vorzubeugen (vgl. ebd.). 26 2 Fachwissenschaftliche Grundlagen <?page no="27"?> Folglich dient auch das hier zusammengestellte Strukturmodell dazu, eine arbeitsfähige Bestimmung der Gattung Ballade vorzunehmen. Thematisiert wird die Ballade im Deutschunterricht seit vielen Jahren je‐ doch nicht nur aufgrund ihres epischen Gehalts, sondern vor allem aufgrund ihrer häufig lyrisch-liedhaften Elemente. So veranlassten ihr oft dominanter Klangcharakter, ihre markante Rhythmik sowie ihre refrainartigen Passa‐ gen, die die Stimmung und Empfindungen des Subjekts widerspiegeln, aber auch ihre metrische Form (Vers, Strophe, Reim) Müller-Seidel (1963b) und Müller (1980) dazu, die Ballade der Großgattung der Lyrik zu zuord‐ nen. Unterrichtshilfen fokussieren heute sogar den lyrischen Charakter ausgewählter Balladen, indem sie fächerverbindende Unterrichtsvorschläge konzipieren, in deren Zentrum nicht nur die Ballade, sondern auch ihre musikalische Inszenierung stehen (vgl. Berghaus 2012). Allein die Reduzie‐ rung der Ballade auf ihre lyrischen Elemente wird der Gattung, wie bereits mehrfach betont, nicht gerecht, gibt es doch Texte, insbesondere unter den modernen Balladen, die reimmetren- und strophenfrei verfasst sind. Als obligatorisches Merkmal der Ballade lässt sich folglich nur ihre lyrisch gebundene Form festhalten. Wenngleich die kritische Sammlung von Definitionsmerkmalen zur Bal‐ lade in Abbildung 2.1 die Schwierigkeit der Bestimmung nur spiegelt, können die zusammengetragenen Merkmale die Reflexionsprozesse zur gattungsspezifischen Einordnung der behandelten balladesken Texte lei‐ ten. Als didaktisches Gerüst stellen sie Hilfen, um die unterschiedlichen Erscheinungsformen der Ballade entlang ihrer historischen Veränderung intersubjektiv zu verhandeln (vgl. hierzu die Ausführungen von Zymner zur Gattungsforschung und -theorie als Sprachspiel 2003: 69-76). Damit verbindet das Strukturmodell neuere Vorschläge, in deren Kern die flexible Zuordnung zwischen „epischen, lyrischen und dramatischen Balladen“ (vgl. Wagenknecht 2007: 195) oder die Einführung hybrider Gattungen bzw. „Brückengattungen“ (vgl. u. a. Pinkerneil 1978: X, Neumann 1980: 25, Bartl 2017: 17 f.) steht. Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden die Gespräche über Balladen entlang fakultativen und obligatorischen Merkmalen zeigen, dass die Ge‐ schichte der deutschen Balladendichtung keinesfalls abgeschlossen (vgl. Müller-Seidel 1963: 83) und die Ballade mitnichten eine „tote Gattung“ ist, wie es Baumgärtner (1979: 65) festhält. Daher ist die Rahmung der zentralen Merkmale der Ballade immer wieder durchbrochen, nicht zuletzt auch um für die Gemeinsamkeiten mit den Nachbargattungen zu sensibilisieren (vgl. 2.1 Begriff der Ballade und gattungsbezogene Definitionsschwierigkeiten 27 <?page no="28"?> 3 Auch das ‚Volkslied‘ „ist keine Gattungsbezeichnung, sondern ein begriffliches Kon‐ strukt, das unterschiedliche Typen und Genres populären Liedguts vereint“ (Schulz 2007: 794). Abb. 2.1). Dabei finden sich an den definitorischen Außengrenzen der Ballade musikalisch inszenierte (Kunst-)Formen wie das Volkslied 3 , der Bän‐ kelsang, das Chanson (der Kabarettsong und der Schlager), Versdichtungen ohne dramatischen Gehalt wie das moderne Erzählgedicht (vgl. Piontek 1964), (Vers-)Erzählungen längeren Umfangs und dramatische Erzählungen ohne Versbindung. Folglich soll das Balladenmodell nicht nur dazu dienen, einen Text als Ballade zu definieren, sondern auch um für die Abgrenzung zu anderen Textgattungen zu sensibilisieren. Vor dem Hintergrund der vorgestellten Merkmale der Ballade, die mit einer Neubelebung gattungsspezifischer Zuordnungsversuche einhergehen kann, finden sich in diesem Band kanonische Beispiele neben nichtkanoni‐ schen Texten bzw. Texten, die ganz bewusst mit vermeintlich gattungsspe‐ zifischen Merkmalen (v.-a. aus der Klassik) spielen. Thematisch besprechen wir in diesem Band Balladen, die spannende, traurige und schaurige Geschichten erzählen, das Gemüt bewegen und uns „das Blut in den Adern gefrieren“ lassen (vgl. Zumbach 2008: 7), aber auch moderne Balladen mit ironischen und komischen Tendenzen. Mit der gesetzten Auswahl ist der Versuch verbunden, der Verengung der literarischen Gattung auf die Kunstballade der deutschen Klassik - wie sie nicht nur im Deutschunterricht, sondern auch in zahlreichen Balladenanthologien dominiert - entgegenzuwirken. Dabei wurde in der hier vorgenommenen Auswahl die lange Tradition der Identitätsstiftung dennoch nicht außer Acht gelassen, wohl wissend, dass diese im Rahmen ideologischer Erziehungspraktiken funktionalisiert wurde und in der Ge‐ genwartsgesellschaft die Herstellung einer kollektiven Identität in dieser Form nicht mehr angemessen ist. Die Grundfunktionen der Ballade, ▸ menschliche Widerfahrnisse zu thematisieren, ▸ kollektive Mythen zu transportieren, ▸ Werte und Normen zu verhandeln, ▸ Handlungsorientierung anzubieten (vgl. Matuschek/ Wiesing 2017), sind jedoch Momente, die auch und gerade in Zeiten fehlenden Zugehö‐ rigkeitsbewusstseins und fehlender demokratischer Verantwortung zur Positionsbestimmung auffordern sollen. Damit scheint naheliegend, dass 28 2 Fachwissenschaftliche Grundlagen <?page no="29"?> die Ballade nicht nur Poesie für das Gefühl, sondern auch für den Verstand ist. Verstärkt wird diese Wirkung zusätzlich durch ihr hohes performatives Potenzial, der sich in unterschiedlichen medialen Kontexten entfalten kann (Rezitation auf Tonträgern, in Musikclips, als Liveauftritt usw.). Auch des‐ halb darf sie im heutigen Deutschunterricht nicht fehlen. Literatur zur Vertiefung B A R T L , Andrea / E R K , Corina / H A N A U S K A , Annika / K R A U S , Martin (2017). Die Ballade. Neue Perspektiven auf eine traditionsreiche Gattung. Würzburg: Königshausen & Neumann. S E G E B R E C H T , Wulf (2012). Deutsche Balladen. Gedichte, die dramatische Geschichten erzählen. München: Hanser. 2.2 Geschichte der Ballade Wenngleich die Wirkung der Ballade in anderen Ländern nicht so ein Ausmaß wie im englischen, skandinavischen und deutschen Sprachraum entfaltete, gab die Ballade in Italien, Frankreich, Spanien und später auch in Russland den volkstümlichen Erzählungen - teilweise abgewandelt - eine literarische Form. Früheste Aufzeichnungen finden sich in Italien. Dort thematisierten bereits im 12./ 13. Jahrhundert Dante und Petrarca in ihren romantischen Texten Leid und Glück der Minne. In ihrer stark lyrischen Erzählweise grenzten sich diese jedoch deutlich von den im Spätmittelalter (15. Jh.) in Frankreich entstandenen lasterhaften Balladen des François Villon (z. B.: „Sommerballade von der armen Louise“) ab. Im 19. Jahrhundert belebte Jean Arthur Rimbaud, einer der wirkungsmächtigsten französischen Dichter, diese Gattung wieder, der durch die Übersetzungen von Paul Zech bald auch über die Grenzen Frankreichs hinweg bekannt wurde. In Spanien entwickelte sich in den Anfängen des Siglo de Oro („goldenes Zeitalter“) im 14./ 15. Jahrhundert die Romanze. Als narrativ-lyrische Gedichtform in beliebiger Länge in Achtsilbern mit Assonanzen bei den Versen der geraden Zahlen wurde sie zunächst singend von Spielleuten vorgetragen, bevor sie sich zu dem bis heute gesungenen Volkslied entwickelte. Die im 16. Jahrhundert entstandenen Kunstromanzen u. a. von Lope de Vega und Luis de Góngora y Argote, die nunmehr in großen Sammelbänden wie z. B. den Romancero general (1600) veröffentlicht wurden, beeinflussten 2.2 Geschichte der Ballade 29 <?page no="30"?> auch die deutsche Balladendichtung (vgl. Simson 2001). Lange Zeit u. a. von Goethe als Synonym für Balladen verwendet, erhielten sie erst später mit ihrem deutlich „komischeren Charakter“ einen eigenen Stellenwert. In der modernen spanischen Literatur wurde die mittelalterliche Gattung der Romanze in verschiedenen Werken (z. B. „Romance de la Guardia Civil espanõla“) von Federico Garcia Lorca wieder aufgegriffen. War schon die Antwort auf die Frage nach einer allgemeingültigen Defini‐ tion der Ballade schwierig, verwundert es nicht, dass auch die Erwartung an eine lineare, einsträngige Entwicklungsgeschichte zur Ballade enttäuscht werden muss. Denn allein schon die etymologische Betrachtung auf die Gattungsbezeichnung Ballade „ist geeignet, irrezuführen“ (Fromm 1982: 383). Hier verweisen die vielseitigen Begriffsdefinitionen stets auf den latei‐ nischen Ursprung von ballare - tanzen. Damit ergeben sich verschiedene Entwicklungsstränge, welche neben dem provenzialischen (ballada) und dem italienischen Tanzlied (ballata) auch das alt-französische balete und das englische ballad, ein volkstümlich-episches Lied, als den Ursprung der Ballade ausweisen. Diese etymologischen Ausführungen betonen die Verbindung der Ballade zu Tanz und Gesang sowie ihre unterschiedlichen europäischen Einflüsse. Inzwischen ist die Auffassung, dass Balladen Tanz‐ lieder seien - obwohl sie sich noch zahlreich in Lehrbüchern finden lässt -, durch verschiedene Arbeiten von Volkskundler: innen und Literaturhistori‐ ker: innen widerlegt. Und so gilt heute: Bei Tänzen wurde selten gesungen, „und wenn doch, dann nie erzählend“ (Gaier 2019: 7). Gaier hält demnach resümierend fest: „Balladische Texte wurden nicht getanzt, hatten individu‐ elle Autoren und wurden vom Volk nachgesungen.“ (ebd. 2019: 7). Aufgrund dessen gibt es für ihn keine Volkssondern nur eine Kunstballade (ebd.: 12f). Im folgenden Kapitel soll der Blick nicht nur auf nationale und inter‐ nationale „Anknüpfungslinien“ (Franz 1987: 38) der Ballade, wie das spät‐ germanische Heldenlied, die in England verbreitete volkstümliche-epische ballad oder das provenzialische Tanzlied gerichtet werden, sondern auch auf verschiedene, sich teilweise parallel herausbildende literarische Nach‐ bargattungen wie das Zeitungslied, den Bänkelsang, die Moritat und die Romanze. Erst dieser umfangreiche Blick ermöglicht es, nicht nur die Kunst‐ ballade, die Ballade „im eigentlichen Sinn“ (ebd.) zu erfassen, sondern auch die Besonderheiten der „modernen Ballade“ (u. a. Piontek 1964, Riha 1965 und 1975, Pratz 1967), die eben jene Nachbargattungen wie den Bänkelsang und die Moritat teilweise erneut aufgreift, zu beschreiben. 30 2 Fachwissenschaftliche Grundlagen <?page no="31"?> Ausgehend von den formalen und inhaltlichen Vorläufern der Ballade führt der Blick zurück bis ins 9. Jahrhundert zum spätgermanischen, episch-dramatischen Heldenlied. Das älteste von diesen bis heute erhaltenen Liedern ist das „Hildebrandslied“ - ein germanisches Stabreimgedicht, welches in althochdeutscher Sprache eine Episode aus dem Sagenkreis um Dietrich von Bern thematisiert. Diese Form balladesker Dichtung, in der vornehmlich heroisch-kämpferische Motive in einer ritterlich-aristokrati‐ schen Kultur von Spielleuten und Sängern an Fürstenhöfen vorgetragen wurden, findet zwar mit Ausnahme einiger Wächter- und Taglieder im christlichen Mittelalter keine Fortsetzung, wird inhaltlich jedoch in den später entstandenen Balladen, u. a. bei den ausschließlich männlichen Vertretern des Literaturkreises Tunnel über der Spree um Moritz Graf von Strachwitz und anderen, immer wieder aufgegriffen. Ein weiterer wichtiger Strang in der Entstehungsgeschichte der Ballade ist die „Volks“ballade, die in Deutschland gegen Ende des 13. Jahrhunderts, in ei‐ ner Zeit tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungen (u. a. Ablösung der höfisch-feudalen Kultur durch städtisch-bürgerliche Lebensverhältnisse), entsteht. Wie ihr Name bereits betont, zählt sie nicht zur höfischen Poe‐ sie, sondern öffnet sich bewusst dem wachsenden bürgerlich-städtischen Publikum. Während im ‚alten‘ „Hildebrandslied“ aus dem 9. Jahrhundert noch das altgermanische, tragisch-heroische Schicksalsdenken dominiert (Hildebrand tötet seine Söhne), versöhnen sich Vater und Sohn in der jüngeren Fassung. Thematisiert werden überwiegend zeitgemäße Themen und Konflikte, mit denen sich die Bürger: innen identifizieren können, insbesondere in der Blütezeit der „Volks“ballade zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert (vgl. Grimm 2002). Hierzu zählen „Kindesmord, Unschuld und Verführung, Treue und Verrat, ständische Herrschaft und Unterwer‐ fung, soziale Not und Erniedrigung, religiöse Gegensätze zwischen Juden und Christen, Recht- und Gesetzlosigkeit sowie soziale Vergehen aller Art“ (Pinkerneil 1978: Vorwort). Dies sind auch die Themen, die in den mit der Ballade verwandten Gattungen des Zeitungsliedes, des Bänkelsangs und der Moritat aufgegriffen werden. Wenngleich in ihrer Dramaturgie leichte Unterschiede liegen, eint sie doch ihr Bericht von spektakulären Tagesereig‐ nissen wie Hexenverbrennungen, Naturkatastrophen, Unglücksfällen und im Fall der Moritat von Mord, Überfall und Hinrichtung. Dabei überzeugen jene literarischen Inszenierungen neuster Nachrichten fahrender Sänger auf öffentlichen Plätzen vor allem durch die in Strophen gefasste und gereimte Vortragskunst und nicht durch literarische Qualität. 2.2 Geschichte der Ballade 31 <?page no="32"?> Abb. 2.2: Bänkelsänger mit Frau und ländlichem Publikum, Cornelius Suter d.-J., Bero‐ münster, Eglomisé auf Glas, 25,5-x-19-cm, Schweizerisches Landesmuseum, Zürich Unterstützt wird der Vortrag des Zeitungsliedes ab dem 18. Jahrhundert, wie in Abb. 2.2 dargestellt, durch die Illustration des gesungenen Textes. Vortrag und Demonstration erfolgen dabei von einem erhöhten Standpunkt (Bank, Bänkel) aus, von dem der Sänger mit einem Stab auf die seinen Bericht illustrierenden Bilder verweist und der jener Form der Inszenierung den Namen Bänkelsang gegeben hat. Als „Übermittler von - gereimten - Sensationsnachrichten“ (Berger/ Püschel 1961: 6) in Form von schauer‐ lich-rührseligen Mordgeschichten, Naturkatastrophen oder Kriegsläufen sind sie bis ins 19. Jahrhundert hinein auf Jahrmärkten und Messen in ganz Europa anzutreffen. Unterstützt wird der Bänkelsänger meist von seiner Frau, die ihn im Gesang oder Zeigen der Bilder ablöst. Kennzeichnend für den Bänkelsang als Textgattung sind Moralappelle auf der einen und Wahr‐ heitsbekundungen wie „zweifelt an der Wahrheit nicht“ (Hinck 1972: 84) auf der anderen Seite. Damit kann er zwar nicht als Ballade im eigentlichen Sinne bezeichnet werden, sein Charakter ist jedoch ein ähnlich dramatischer. 32 2 Fachwissenschaftliche Grundlagen <?page no="33"?> Wiederbelebt wird die Tradition der „Volks“ballade im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, die ‚Volkstümlichkeit‘ erneut als ästhetische Strategie nutzt (vgl. Berner 2020: 1); hier vor allem durch die Veröffentlichung von leicht singbaren englischen und schottischen Gedichten im Reliques of Ancient English Poetry (1765) von Thomas Percy, in Gesänge des Ossians (1762/ 63) von James Macpherson sowie in The English and Scottish Popular Ballads (1889) von F.-J. Child. Die Echtheit der Gesänge aus keltischer Vorzeit, die MacPherson 1762/ 1763 veröffentlicht, ist bereits zur Entstehungszeit angezweifelt wor‐ den - zu Recht, wie sich bereits kurze Zeit später herausstellte. Macpherson gab zu, die Gesänge selbst geschrieben zu haben. Dieser Betrug tat ihrer Verbreitung jedoch keinen Abbruch. In einer Zeit, die sich erneut von der gekünstelten Hofdichtung des Barock abwendet, treffen die Gedichte und Gesänge, in denen kämpferisch und anklagend gestaltete Schicksale vermeintlich aus dem Leben des Volkes bzw. auserwählter edler Helden thematisiert werden, auf fruchtbaren Boden. In Anlehnung an die Gesänge des Ossian und der Reliques of Ancient English Poetry ruft Johann G. Herder 1777 in einem Essay alle Deutschen dazu auf, gleichfalls die deutschen Kunstformen wie Volkslieder, Balladen und Romanzen zusammenzutragen: Deutschland, du hast keinen Shakespeare, hast du keine Gesänge deiner Vorfah‐ ren, deren du dich rühmen könntest? Die Stimme eurer Väter ist verklungen und schweigt im Staube? […] Du hast keine Abdrücke deiner Seele die Zeiten hinunter? Kein Zweifel! Sie sind gewesen, sie sind vielleicht noch da; nur liegen sie unter Schlamm, sind verkannt und verachtet […]. Nun müssen wir Hand anlegen, aufnehmen, suchen! […] Legt also Hand an, meine Brüder, und zeigt unserer Nation, was sie ist und nicht ist, wie sie dachte und fühlte, oder wie sie denkt und fühlt! Herders Aufruf, wie jüngst im Band von Berner (Inszenierte Volkstümlichkeit in Balladen von 1800-1850, 2020) herausgearbeitet, nährt einmal mehr den Mythos einer einfachen und einprägsamen Volkspoesie mit anonymer Autorenschaft, mündlicher Tradierung und kollektiver Verbreitung. Sie steht, so wird es inszeniert, im Gegensatz zu einer ‚Gelehrtendichtung‘ und ‚Kunstpoesie‘, die sich durch einen historisch fassbaren einzelnen Autor bzw. Autorin sowie eine für die Rezeption maßgebliche schriftlich fixierte Hauptfassung auszeichnet (vgl. Berner 2020: 7). Wie jedoch bereits mehrfach betont, handelt es sich bei jener ‚Volkspoesie‘ lediglich um ein Interpretationsmuster bzw. „poetisches 2.2 Geschichte der Ballade 33 <?page no="34"?> Postulat“ (ebd.). Das Ergebnis des Aufrufs ist eine große Volksliedersammlung, die er 1778/ 79 als Stimmen der Völker in Liedern veröffentlicht. Darin enthalten sind jedoch weniger deutschsprachige Originale als vielmehr eine Reihe von Übersetzungen aus dem Englischen, Spanischen, Dänischen, Litauischen, aber auch Nachdichtungen, u. a. aus Percys Sammlung, die durch verschiedene poetische Strategien auf formaler und inhaltlicher Ebene des Textes den Eindruck von ‚Volkstümlichkeit‘ erzeugen (vgl. Berner 2020: 7). Neben Herders Volksliedsammlung tragen aber auch der Band von Carl Friedrich Wairz Romanzen und Balladen der Deutschen (1799/ 1800), die von 1805 bis 1808 in drei Bänden zusammengestellten Volksliedtexte von Clemens Brentano und Achim von Arnim unter dem Titel Des Knaben Wunderhorn herausgegebene Samm‐ lung sowie die Zusammenstellung Alte hoch- und niederdeutsche Volkslieder von Ludwig Uhland (1844) zur Verbreitung balladesker Texte bei, die derzeit zum „Muster für die nun erwachende deutsche Balladendichtung werden“ (Elsner 1955: 14). Die ersten Balladen, die hier genannt werden müssen, sind „Adelstan und Röschen“ (1772) und „Die Nonne“ (1775) von Ludwig Christoph Heinrich Hölty sowie „Leonore“ (1773) von Gottfried August Bürger. Je nach Auswahl der Kriterien gilt mal der eine, mal der andere Literat als Begründer der Kunstballade, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vielerorts in Deutschland entsteht. Beeinflusst wird die deutsche Kunstballade, welche von manchen als die Ballade „im eigentlichen Sinn“ (Franz 1987: 38) bezeichnet wird und damit das Bild der Gattung für lange Zeit prägt, folglich weniger vom germani‐ schen Heldenlied der frühen Feudalzeit oder dem italienischen und franzö‐ sischen Tanzlied, sondern im Wesentlichen durch die zuvor beschriebene wiederbelebte Tradition der „Volks“-Balladen. Besonders deutlich ist dies in Bürgers Ballade „Leonore“ sichtbar, die eine Reihe vertrauter Elemente der „Volks“-Ballade, wie „ihren liedhaften, rezitativen Grundton, Reime, Lautmalereien, refrainartige Wiederholungen, dialogischen Erzählablauf und ihre dramatische Handlungszuspitzung“ (Pinkerneil 1978/ 2000: IX) aufnehmen. In Verbindung mit einer größeren Zeitnähe, Individualisierung und symbolischen Durchdringung der einzelnen Vorgänge schafft Bürger jedoch eine Erneuerung volkstümlicher Poesie, die ihn und jene neue Form der Kunstballade überall bekannt macht (vgl. ebd.). Die Ballade als „Grenzgängerin zwischen Lyrik, Epik und Dramatik“ (Pinkerneil 1978/ 2000: X) eröffnet dem Sänger des Sturm und Drang, so Goethe, nun eine Vielzahl von Möglichkeiten: „Er kann lyrisch, episch, dramatisch beginnen, nach Belieben die Formen wechseln, fortfahren, zum 34 2 Fachwissenschaftliche Grundlagen <?page no="35"?> Ende hineilen oder es weit hinausschieben. Der Refrain, das Wiederkeh‐ ren eben desselben Schlußklanges, gibt dieser Dichtart den entschieden lyrischen Charakter“ (Goethe, zit. n. Trunz 1974: 400). Diese grundsätzliche Dynamik und Offenheit jener erzählenden Gedichte ist auch Merkmal der Balladen von Goethe und Schiller, deren Schaffenskraft im so genannten Balladenjahr (1797) ihren Höhepunkt erreicht. „Aristokratisiert“ (Hinck 1978: 12) werden die Züge des Volksliedes in einer Reihe von Balladen aufgenommen, die bis heute zu den bekanntesten dieser Gattung zählen. Zu nennen sind hier Goethes „Der Zauberlehrling“ (Kap. 5.2.2), „Die Braut von Korinth“ und die Ballade „Der Schatzgräber“ sowie Schillers „Der Taucher“, „Der Handschuh“ (Kap. 5.1.4), „Die Kraniche des Ibykus“ (Kap. 5.3.4) oder der „Ring des Polykrates“. Aber auch in anderen europäischen Nationen entstanden Balladen, die heute zu den Klassikern der jeweiligen Nationalli‐ teraturen zählen. Etwa zeitgleich entwickelt sich in Spanien die Romanze als literarische Übermittlerin bedeutender nationaler Geschehnisse und fröhlicher Ereig‐ nisse aus dem Alltag. Diese neue literarische Form kann sich in jener Zeit nicht nur als eigenständige Dichtform in Deutschland etablieren, sondern gilt neben den englischen ballads ebenfalls als Quelle der deutschen Balla‐ dendichtung. Die Übergänge zwischen beiden Dichtformen sind fließend, bisweilen kaum sichtbar. Lediglich in der thematischen Ausgestaltung sind feine Unterschiede auszumachen. Während sich die Ballade jener Zeit zunächst auf die Darstellung des düster-tragischen und fabelhaften Gesche‐ hens beschränkt, werden in der Romanze heitere Begebenheiten, die - im Gegensatz zur Ballade - zumeist friedlich enden, geschildert. Dabei vermi‐ schen sich die zweizeilig gereimten Strophen im Refrain der Ballade jedoch bald mit den ungereimten vierzeiligen Strophen der spanischen Romanze und lassen neue Vers- und Strophenformen sowie Reimstellungen entstehen (vgl. Berger/ Püschel 1961). Dementsprechend verwundert es nicht, dass auch in den berühmten Briefwechseln zwischen Goethe und Schiller jene Texte, die wir heute als Ballade bezeichnen, von den Briefautoren mal als Romanzen und mal als Balladen bezeichnet werden. Heute getrennt, bezeichneten sie bis zu Fontane ein und dieselbe Gattung (vgl. Hinck 1978): ein erzählendes Gedicht mit einer stark dramatischen Handlung. Beeinflusst durch ihr starkes emotionales Moment, dem die Ballade ihren volkstümlichen Charakter verdankt, ist sie mit Blick auf die große Zahl an Menschen, die des Schreibens und Lesens nicht mächtig sind, vor allem für den lauten Vortrag geschaffen. Folglich haben sich schon früh so genannte 2.2 Geschichte der Ballade 35 <?page no="36"?> Balladenlieder entwickelt. Besondere Berühmtheit erlangte das Balladenlied „Der König von Thule“, welches Gretchen in Goethes Faust singt (V. 2759- 2782). Inzwischen mehr als sechzigmal vertont, entstehen in der Folgezeit nicht nur klassische Inszenierungen von Franz Schubert, Franz Liszt und Robert Schumann, sondern bis heute auch moderne Umsetzungen. Eine besonders interessante musikalische Umsetzung der Ballade „Der König in Thule“ von J .W. v. Goethe veröffentlichte das deutsche A-cappella-Pop-Quartett Maybebop (https: / / www.youtube.com/ watch ? v=gxmEv-6evOk). Entgegen traditionellen Setzungen, welche die Ballade mit dem Ende der Spätromantik, dem Beginn der eigentlichen modernen Dichtung, schon fast am Ende sehen bzw. jene Zeit als eine „Nachblüte, ein letztes Aufflackern über einer fast völlig erloschenen Glut“ (Baumgärtner 1979: 66) bezeich‐ nen, entstehen auch im 19. und 20. Jahrhundert noch weitere Balladen. Dabei haben sich gleich zwei Literaturvereine, der Tunnel über der Spree (Mitte des 19. Jh.) und der Göttinger Kreis (um 1900), intensiv um die „programmatische Pflege oder Wiederbelebung der Ballade“ (Hinck 1978: 87) bemüht. Orientiert an der „,zeitlosen‘ Kunst eines Percy“ (Weißert 1980: 89) werden diese z. B. im Tunnel über der Spree, u. a. von Moritz Graf von Strachwitz, Theodor Fontane, Gottfried Keller, Hoffmann von Fallersleben, Theodor Storm und Gottfried Keller, vorgetragen und von den Zuhörenden bewertet. Vorzugsweise referiert werden Geschichtsballaden, welche sich bewusst von der Auseinandersetzung mit der Gegenwart abgrenzen und sich vielmehr der eigenen vaterländischen, brandenburgisch-preußischen Geschichte widmen (vgl. Weißert 1980). Dadurch wird die Ballade im Laufe des 19. Jahrhunderts „[w]ie keine andere literarische Gattung“, so Riha 1975, „zum ‚Walhall‘ der deutschen Literatur […], zum Ort, an dem Vaterländisches sich verklärt; die Nachfolger im zwanzigsten Jahrhundert drehen sie dann zum dünnen Ende einer betont nationalen und völkischen und schließlich nationalsozialistischen Literatur“ (ebd.: 72). Wenngleich die Texte von Börries von Münchhausen, Agnes Miegel, Lulu von Strauß und Torney von Walter Hinck als „aufgeblähtes Kraftmei‐ ertum in schlechten Versen“ (1978: 87) und von Gunter E. Grimm als „hoffnungslos anachronistisch“ (2002: 19) beschrieben werden, gehören die vielfach vertonten Balladen, u. a. über die „romantische Sehnsucht nach der aristokratischen Zeit des Mittelalters“ (Weißert 1980: 90) wie bei Strachwitz, 36 2 Fachwissenschaftliche Grundlagen <?page no="37"?> zum Kanon der Jugendbewegung der damaligen Zeit. Von Ignaz Hub werden sie gar in seiner Sammlung Deutschlands Balladen und Romanzendichter (1849/ 1850) als beliebteste Dichtart der Deutschen vorgestellt. Die starke identitätsstiftende Funktion der Balladen nutzend, sind jene Texte von einem starken vaterländischen Pathos und antisemitischen Geist sowie einer unkritischen Heldenverehrung geprägt, die sich in der Behand‐ lung historischer Stoffe in traditionellen Formen niederschlägt (vgl. Pinker‐ neil 1978/ 2000). Deutlich wird hieran, dass die Herstellung einer kollektiven Identität durch Balladen auch missbraucht werden kann. Nur marginal sind daher die Ausführungen in literaturwissenschaftlichen Abhandlungen zu der „historisch-heroischen Kostümierung“ (Köpf 1976: 8) jener Zeit, durch welche die Ballade einen „Teil ihrer vielfältigen Möglichkeiten wie ihres Ansehens verloren“ (ebd.) hat. Die Ballade wird zum „Stiefkind der Forschung“ (Müller-Seidel 1980: XII). Nur vereinzelt sind sie folglich in aktuellen Balladenanthologien (u.-a. bei Segebrecht 2012) zu finden. Dieses Kapitel der Entwicklungsgeschichte der Ballade, das vor allem durch die nationalistische und später faschistische Vereinnahmung der Gattung geprägt ist, gestaltet sich daher als besonders schwierig. Auch Hinck schreibt 1972: „Wer sich heute mit der Gattung (Ballade) ernsthaft noch einläßt, meidet den Begriff oder hilft sich aus der Verlegenheit mit dem neutralen ‚Erzählgedicht‘. […] Wo sonst die Ballade noch beibehalten wird, ist es zumeist Signal für Parodie“ (80). Auch Müller-Seidel schreibt: „Wir müssen es vielmehr, um ehrlich zu sein, aussprechen: unser Verhältnis zur Ballade ist gestört. Die deutsche Geschichte ist nicht spurlos an der Geschichte dieser Gattung vorübergegangen“ (1964/ 68: XX). So steht sie in den 1950er-Jahren immer wieder im Brennpunkt literaturwissenschaftlicher und literaturdidaktischer Kritik. Diese richtet sich jedoch nicht gleicherma‐ ßen gegen alle Formen der Ballade, sondern fast ausschließlich gegen die „Heroisierung eines militanten Nationalismus und [das] der idealistischen Geisteswelt des 19. Jahrhunderts verpflichtete […] Bildungsgut […]“ (Köpf 1976: 13) jener historisierenden Ritter- und Heldenballade. Denn im 19. und 20. Jahrhundert finden sich nicht nur Balladen, in denen die mittelalterlichen und heldischen (u. a. Moritz Graf von Strachwitz, Börris von Münchhausen) sowie historischen Stoffe (u. a. Conrad Ferdinand Meyer) wiederbelebt werden, sondern auch Balladen, welche die Verarbeitung des Ausgeliefertseins des Menschen „gegenüber den unheimlichen und übermächtigen Kräften der Natur“ (Grimm 2002: 16 f.; u. a. Anette von Droste-Hülshoff), die Auseinandersetzung mit sozialen und politischen 2.2 Geschichte der Ballade 37 <?page no="38"?> Themen (u. a. Adelbert von Chamisso, Georg Weerth, Heinrich Heine, Theodor Fontane, Arno Holz und Eduard Friedrich Mörike) sowie Fragen zum Fluch und Segen der zunehmenden Industrialisierung (u. a. Theodor Fontane, Heinrich Heine, Detlev von Liliencron) thematisieren. So versucht Fontane, bis in die 1860er-Jahre hinein Mitglied des Tunnels über der Spree, die lauten Töne der historischen Ballade zu meiden und sich, u. a. auch in der im Band besprochenen Ballade „Die Brück’ am Tay“ (Kap. 5.4.3), aktuellen Themen seiner Zeit zu widmen. Auch Heinrich Heine ist die historisierende Tendenz der Ritter- und Heldenballaden fremd. Viel eher widmet auch er sich, u. a. in seiner Ballade „Die schlesischen Weber“, den Stoffen der Gegenwart. „Die grundsätzliche Bereitschaft der Ballade, Gattungsgrenzen zu über‐ schreiten, hat Neuerungen und Erneuerungen zur Folge […]“ (Segebrecht 2012: 789) bzw. „Verästelung, Modifizierung, Feinarbeit“ (Piontek 1964: 5). Auf der einen Seite wird die inhaltliche Variationsbreite der Gattung, die keineswegs allein auf die historisch-heldische Fokussierung beschränkt bleibt, u. a. durch Heinrich Heine um soziale sowie humoristische Themen erweitert, womit bereits Entwicklungen der Ballade des 20. Jahrhunderts durch Wedekind, Brecht und Kästner vorgezeichnet werden (vgl. Weißert 1980). So betonen auch Berger und Püschel 1961 in ihrem Vorwort: „Das Menschenleben in seiner ganzen Vielfalt ist der Ballade zugänglich“ (5). Die Themenvielfalt lässt sich daher wie folgt umreißen: Heldentaten, oft von tragischem Heroismus umwittert, Schlachten und Ereignisse der Weltgeschichte wie lokale Kämpfe und persönliche Fehden, Schuld und Sühne, Verbrechen und Strafe, über einzelne oder Gemeinschaften hereinbre‐ chende Katastrophen, stolze Bewährung oder unabwendbarer Untergang unter dem verhängten Schicksal, Empörung und Hybris des leidenschaftlich über sich hinaus greifenden Menschen, die mit grausiger Selbstvernichtung endet, Liebe und Kampf der Geschlechter, in mancherlei Spielarten, aber auch häufig Zauber und Geisterspuk, Volksglauben, die Holden und Dämonen, Märchenmotive und Überlieferungen der Volks- und Heldensagen. Eingreifen der Naturmächte ins Menschendasein oder Traumgesichte und Ängste der Einsamen erschüttern den Hörer. (Elsner 1955: 9) Andererseits finden sich in den Texten der Expressionist: innen Georg Heym und Else Lasker-Schüler im 20. Jahrhundert auch zunehmend Veränderun‐ gen auf formaler und sprachlicher Ebene. So verzichtet Lasker-Schüler z. B. 38 2 Fachwissenschaftliche Grundlagen <?page no="39"?> in ihrer Ballade „Peter Baum“ auf konventionelle metrische und strophische Bindungen sowie feste Reim- und Versmaße. Peter Baum (Else Lasker-Schüler) Er war des Tannenbaums Urenkel, Unter dem die Herren zu Elberfeld Gericht hielten. Und freute sich an jedes glitzernd Wort Und ließ sich feierlich plündern. Dann leuchteten die beiden Saphire In seinem fürstlichen Gesicht. Immer drängte ich, wenn ich krank lag, „Peter Baum soll kommen! ! “ […] (L A S K E R -S C HÜL E R , Else (1917). Die gesammelten Gedichte. Leipzig: Verlag der Weißen Bücher, 148 f.) Auch Bertolt Brecht, „dritter der großen deutschen Balladendichter“ (Grimm 2002: 21), richtet sich in seinen dem Bänkellied und der Moritat naheste‐ henden Balladen gegen die „förmliche Balladomanie des 19. Jahrhunderts“ (Pinkerneil 1978/ 2000: XI). So fehlt in Brechts berühmter Ballade „Von des Cortez Leuten“ nicht nur der Refrain, den Goethe in seinem Aufsatz „Über die Betrachtung und Auslegung der Ballade“ als wesentlich für den lyrischen Charakter dieser Dichtart bezeichnete (vgl. Goethe 1821: 591), sondern ebenso die strophische Gliederung. Ähnlich wie zuvor schon bei Lasker-Schüler zeigt sich auch hier die Versgestalt ohne markante Einschnitte und Reimstruktur. Von des Cortez Leuten (Bertolt Brecht) Am siebten Tage unter leichten Winden Wurden die Wiesen heller. Da die Sonne gut war Gedachten sie zu rasten. Rollten Brantwein Von den Wägen, machten Ochsen los. Die schlachteten sie gegen Abend. Da es kühl wurd Schlug man vom Holz des nachbarlichen Sumpfes Armdicke Äste, knorrig, gut zu brennen. 2.2 Geschichte der Ballade 39 <?page no="40"?> Dann schlangen sie gewürztes Fleisch hinunter Und fingen singend um die neunte Stunde Mit Trinken an. Die Nacht war kühl und grün. Mit heisrer Kehle, tüchtig vollgesogen Mit einem letzten, kühlen Blick nach großen Sternen Entschliefen sie gen Mitternacht am Feuer. […] (P I O N T E K , Heinz (1964). Neue deutsche Erzählgedichte. Stuttgart: DVA, 26) Je nachdem, ob jene zaghaften Erneuerungen, die in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg in eindrücklicher Weise vor allem von Frank Wedekind und Bertolt Brecht fortgeführt und intensiviert werden, ignoriert oder wertgeschätzt werden, kommt es in der literaturwissenschaftlichen Dis‐ kussion erst zu Todeserklärungen der Ballade, u.-a. zunächst durch Käte Hamburger (1957) und dann durch Müller-Seidel (1963b), und kurze Zeit später zum Ausruf der Zeit der „modernen Ballade“ (Riha 1965/ 1975, Pratz 1967) bzw. des „modernen Erzählgedichts“ (Piontek 1964: XX). Jene letzt‐ genannten „modernen Neuansätze zur Ballade“ (Riha 1975: 8) besitzen gleichfalls ein starkes Erzählmoment, unterscheiden sich auf inhaltlicher und formaler Ebene jedoch stark vom klassischen Balladentyp des 18. und 19. Jahrhunderts. So wenden sie sich bewusst gegen die Heldenin‐ szenierung sowie das Pathos der „alten“ Ballade und öffnen sich einer sachlichen und kühlen, lebensnahen und unpathetischen Darstellung, in der - wie in der modernen Ballade „Heillos“ von Walter Helmut Fritz - mehr ein Nebeneinander als ein Nacheinander der Szenen dominiert (vgl. Bräutigam 1968). Heillos (Walter Helmut Fritz) 1 Eine Tochter verläßt sie, die andere ertränkt sich. Ihr Mann stirbt bei einem Unfall. Sie arbeitet als Putzfrau, wird krank, verliert ihre Wohnung, 40 2 Fachwissenschaftliche Grundlagen <?page no="41"?> schläft in Kellern, Baracken, im Freien. Sie braucht Hilfe, soll ihre Bitte schriftlich begründen auf Formularen, die sie kaum versteht, muß warten auf Überprüfung und die Bestätigung von Behörden. Unbequeme Bittstellerin, für die zuerst keiner zuständig sein will. Der Beamte, mit dem sie spricht, fertigt sie ab, mit dem Blick auf die Uhr. (S E G E B R E C H T , Wulf (2012): Deutsche Balladen: Gedichte, die dramatische Geschich‐ ten erzählen. München: Hanser, 81) Verstanden als Medium unverstellter Zeitkritik und Zeitanalyse sowie geschichtlicher Aktualisierung, thematisieren sie gesellschaftliche Ver‐ brechen, soziales Elend sowie Krankheit und Verfall des „passiven, nega‐ tiven Helden, des Durchschnittsmenschens unserer Tage im Getriebe des Alltags“ (Bräutigam 1968: 7), den „Mann ohne Eigenschaften“ (Piontek 1964: 8). Riha hält hierzu fest: „Protest […] ist der Ursprung der moder‐ nen Ballade, formale und gehaltliche Aktualität ihre Forderung“ (Riha 1965: 15) und auch Piontek beschreibt jene neuen Gedichtformen als „Gedicht mit dem antibürgerlichen Effekt, das Schreck- und Scheuchen‐ gedicht, das direkt provozieren möchte“ (1964: 8). Damit wird die mo‐ derne Ballade weniger vom volkstümlichen Charakter vorangegangener Balladenformen als vielmehr von jenen bereits skizzierten Nebengattun‐ gen, wie der Moritat, dem Chanson und dem Bänkelsang beeinflusst. Die Stilmittel, derer sich die Balladendichtung in jener Zeit gehäuft bedient, sind Ironie, Parodisierung und Sarkasmus. Eine jener jüngeren Balladen, für die wir stellvertretend die Texte „Und es war ein Tag“ (Nora Gomringer, Kap. 5.4.5) und „Berliner Totentanz 1+2“ (Thomas Kling, Kap. 5.2.6) in diesem Band aufgenommen haben, ist auch die Ballade „Freitag“ von Günter Grass. 2.2 Geschichte der Ballade 41 <?page no="42"?> Freitag (Günter Grass) Grüne Heringe, in Zeitung gewickelt, trug ich nach Hause. Sonnig und frostig, war das Wetter. Hausmeister streuten Sand. Im Treppenhaus erst begannen Heringe die Zeitung zu durchnässen. So mußte ich Zeitungspapier von Heringen kratzen, bevor ich Heringe ausnehmen konnte. Schuppen sprangen und lenkten mich ab, weil Sonnenlicht in die Küche fiel. Während ich Heringe ausnahm, las ich in jener Tageszeitung, die feucht und nicht neu war. Sieben Heringe bargen Rogen, voller Milch waren vier; die Zeitung jedoch war an einem Dienstag erschienen. Schlimm sah es in der Welt aus: Kredite wurden verweigert. Ich aber wälzte grüne Heringe in trockenem Mehl. Als aber Heringe in der Pfanne erschraken, wollte auch ich düster und freudlos über die Pfanne hinwegsprechen. Wer aber mag grünen Heringen vom Untergang predigen? 42 2 Fachwissenschaftliche Grundlagen <?page no="43"?> (P I O N T E K , Heinz (1964): Neue Deutsche Erzählgedichte. Eine Anthologie. Stuttgart: DVA, 255) Diese thematisiert ganz im Stil der modernen Ballade im nüchternen Ton sowohl die Erschütterungen an der New Yorker Börse am 25. Oktober 1929 als auch den totalen Zusammenbruch am darauffolgenden „Schwarzen Dienstag“. Entgegen den situativen Erzählgedichten (Müller 1969), in denen Geschehnisse ohne zeitliche und kausale Zusammenhänge skizzenhaft und punktuell umrissen werden, monologisiert der negative Held und „Durch‐ schnittsmensch unserer Tage“ (Bräutigam 1968: 7) in der modernen Ballade von Günter Grass seine persönlichen Erinnerungen (aktional-handlungsbe‐ tontes Erzählgedicht). Weitere Formen bilden das balladeske Erzählgedicht, meist in Form des Protestliedes vorkommend, das in Reihen von Einzelszenen menschliche und gesellschaftliche (Miss-)stände mit dem „moralisierend erhobenen Zei‐ gefinger“ (Müller 1969: 104) anprangert, und das groteske Erzählgedicht, des‐ sen Poetik sich durch ein „sprachliches Spiel mit dem Absurden“ (ebd.: 105), sei es durch das Fehlen eines Sinnzusammenhangs oder das Spiel mit dem Unsinn, auszeichnet. Allen gleich ist ihr offenes Ende, welches als weiteres Merkmal der Weiterentwicklung zu werten ist. Heute als Fortsetzung der Balladentradition anerkannt, findet sich eine Vielzahl jener modernen Balladen, u. a. von Christa Reining, Hans Carl Artmann und Ror Wolf (alias Raoul Tranchirer), aus der erstmals 1965 erschienen essayistischen Anthologie von Karl Riha Moritat, Bänkelsang, Protestballade auch in den jüngeren und jüngsten Anthologien von Pinker‐ neil (1978/ 2000), Grimm (2002), Quasthoff (2007) und Segebrecht (2012) wieder. In der Tradition der Ballade stehend, ist ihre moderne Form auch heute noch durch die Genauigkeit der Berichterstattung und einen Erzähler charakterisiert. Die Themen- und Motivvielfalt jener modernen Balladen bleibt indes groß (vgl. hierzu den Band von Heinz Piontek 1964). So bedienen sich die Autor: innen, allen voran Bertolt Brecht, der Ereignisse „aus dem Alten und Neuen Testament, an den christlichen Legenden, der Geschichte ver‐ gangener Jahrhunderte - wobei Höhepunkte revolutionärer Entwicklungen wie die Französische Revolution häufig aufgegriffen werden - und an den unmittelbaren Zeitgeschehen eines Ersten Weltkrieges“ (Pinkerneil 1978/ 2000: XI-XII). 2.2 Geschichte der Ballade 43 <?page no="44"?> Was wir indes kaum noch finden, sind Stoffe der (Natur-)Magie, Hexerei und Dämonie. Auch Themen wie Schicksal und Verhängnis sowie Sagenhaf‐ tes werden - wenngleich zentral für die klassische Balladendichtung - kaum noch in Balladen verarbeitet. Fontane hat dies auf den Zeitgeist der Ballade zurückgeführt, die sich immer schon mit aktuellen Themen der jeweiligen Zeit befasst hat (vgl. Fontane 1880: 203), und heute ein anderer ist als damals. Als „thematische Konstanten“ (Segebrecht 2012: 784) überdauert haben folglich die Schilderungen von persönlichen Schicksalen, Katastrophen, Liebe und Leid und nicht zuletzt vom Kampf um die Würde und Freiheit des Menschen (vgl. Berger/ Püschel 1961). Bei Bürger einst als Volkspoesie verstanden, kehren diese Themen heute zurück - wenn auch unter „verän‐ derten formalen und sozialen Bedingungen“ (Grimm 2002: 23). Denn, so hält Grimm weiter fest, die „Balladen der Protestsänger und Liedermacher sind ‚Volksdichtung‘, in bewußtem Gegensatz zur hermetischen Elitelyrik, deren ‚Schreibe‘, die erst nach intensiver Interpretation ihren Sinn erschließt, setzen sie gesungenes Wort und ‚Rede‘, die auf Anhieb verstanden werden sollen“, entgegen (ebd.: 23). Demnach sind auch Balladen, die Themen, ironisch, parodistisch oder auf komische Weise aufarbeiten, eingeschlossen. In der historischen Zusammenschau wird schließlich klar, dass es keinen Stoff gegeben zu haben scheint, der nicht in einer Ballade aufgegriffen wurde. So sind es einerseits die hohe Wandlungsfähigkeit bzw. das Spiel der Ballade mit den drei Großgattungen und andererseits eine Themenviel‐ falt mit hohem Identifikationspotenzial, welche die sieben Jahrhunderte währende Entwicklung der Ballade charakterisieren. Diese ist geprägt von einem Wechselspiel zwischen langanhaltenden, teilweise euphorischen Blütezeiten und Phasen literarischer Stagnation (vgl. Pinkerneil 1978/ 2000). Tot hingegen, wie es in einigen Texten der 1960er-Jahre tönt, ist sie nicht. Rechtfertigung finden diese Aussagen nur noch vor dem Hintergrund einer immer enger und fantasieloser werdenden Balladendefinition: Ließ man in der Ära Goethe noch eine Vielzahl von Sujets gelten. So zog man später die Grenzen enger und enger. Schließlich wurde als „reine „Ballade“ kaum mehr als die aufgepulverte Geschichtsanekdote anerkannt. Wie die Historien‐ schinken in der Malerei wurden in den Balladendichtungen die Räuber- und Ritterstücke für höchste Kunst erklärt. So musste es kommen, daß man mit dem faschistischen Ruin dieses Genre die Balladendichtung insgesamt für erledigt hielt. (Piontek 1964: -5) 44 2 Fachwissenschaftliche Grundlagen <?page no="45"?> Wenngleich die Todeserklärungen der Ballade nicht für die Ballade an sich gelten, treffen sie zumindest einen Teil von ihr. So sucht man Nachahmer der historischen Ballade des 19. Jahrhunderts mit ihrem starken völkischen Charakter heute - zum Glück - vergeblich. Lässt man sich also ein auf eine breitere Balladendefinition, wie sie von Riha (1965), Piontek (1964) und jüngst auch Segebrecht (2012) vertreten wird, stellt man fest, dass sich in den letzten Jahrzehnten eine Reihe von Lyriker: innen, u. a. Hans Carl Artmann (Aus meiner Botanisiertrommel: Balladen u. Naturgedichte, 1975), Wolf Biermann (Affenfels und Barrikade. Gedichte, Lieder und Balladen, 1986), Hans Magnus Enzensberger (Mausoleum- Siebenunddreißig Balladen aus der Geschichte des Fortschritts, 1975), Michael Ende (Trödelmarkt der Träume: Mitternachtslieder und leise Balladen, 1986, Neuauflage 2020) erneut dieser Gattung bedient haben. Um Kritik an aktuellen sozialen und politischen Zuständen literarisch zu verarbeiten, greifen in jüngster Zeit aber auch eine Reihe an Slam-Poeten wie Lars Ruppel (Holger die Waldfee, 2016), Alex Simm (Vom einsamen Einhorn Erna, das wie alle sein wollte. Traurige Balladen, 2018), Jean-Philippe Kindler (Ein Stück Quiche in Krefeld-Fischeln, 2018) und Fabian Navarro (Die Chroniken von Naja, 2017) auf die Ballade zurück. Obwohl es, wie diese Übersicht belegt, nicht an neuzeitlichen balla‐ desken Texten fehlt, muss indes eine Lücke im Bereich diesbezüglicher literaturwissenschaftlicher Forschung konstatiert werden. So ist es in der literaturwissenschaftlichen Diskussion seit den 1970er-Jahren (vgl. Riha 1975, Müller-Seidel 1976 und 1980 (Sammelband), Hinck 1978, Freund 1978) lange Zeit still gewesen. Dies erkannten auch Andrea Bartl, Corina Erk, Annika Hanauska und Martin Kraus und riefen unter dem Titel Die Ballade. Neue Perspektiven auf eine traditionsreiche Gattung zur Wiederaufnahme der Diskussion auf. Mit Blick auf die Gegenwartsliteratur werden in diesem sehr lesenswerten Band auf der einen Seite die Definition zur Ballade und ihre Gattungszuordnung noch einmal neu diskutiert. Auf der anderen Seite werden, wie bereits bei Segebrecht (2012) angedacht, ebenso unterschiedli‐ che Variationen balladesker Dichtung, z.-B. auch neue Literaturformen wie Slam Poetry, thematisiert (vgl. u.-a. Hanauska 2017). Literatur zur Vertiefung B A R T L , Andrea / E R K , Corina / H A N A U S K A , Annika / K R A U S , Martin (2017). Die Ballade. Neue Perspektiven auf eine traditionsreiche Gattung. Würzburg: Königshausen & Neumann. 2.2 Geschichte der Ballade 45 <?page no="46"?> G R I M M , Gunter E. (2002). Gedichte und Interpretationen: Deutsche Balladen. Stuttgart: Reclam. H I N C K , Walter (Hrsg.) (1978). Die deutsche Ballade von Bürger bis Brecht. 3. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. P I O N T E K , Heinz (1964). Neue Deutsche Erzählgedichte. Eine Anthologie. Stuttgart: DVA. 46 2 Fachwissenschaftliche Grundlagen <?page no="47"?> 3 Didaktische Entwicklungen und Theorie(n) Carolin Führer 3.1 Didaktische Inszenierungen im Wandel Sind Balladen eine Frage des Alters? Wenn man die aktuellen Lehrpläne der einzelnen Bundesländer zur Hand nimmt, ist offensichtlich, dass die inzwischen historische ‚Theorie der Lesealter‘ in Bezug auf die Ballade nach wie vor Wirkungsmacht besitzt: Fest verankert scheinen die (kanonischen) Balladen in der Klassenstufe 7 und 8 (vgl. inhaltsbezogene Kompetenzen in entsprechender Jahrgangsstufe im Bildungsplan Baden-Württemberg 2016), in anderen Jahrgangsstufen sucht man sie selbst in fakultativen Hinweisen zumeist vergebens. Die Le‐ sealter-Theorie geht vor allem auf die Entwicklungspsychologin Charlotte Bühler zurück. Bereits 1918 veröffentlichte sie eine Schrift „Das Märchen und die Phantasie des Kindes“ (Bühler 1918), in der sie drei Lesealterstufen des Kindes umschrieb: ▸ Struwwelpeteralter (2−4 Jahre): Lektüren, die Normverletzungen und die Frage des normgerechten Verhaltens zum Gegenstand haben ▸ Märchenalter (4−7 Jahre): Märchen als Typus des Phantastischen ▸ Robinsonalter (7−12 Jahre): Abenteuererzählungen Susanne Engelmann erweiterte 1928 in ihrem Werk „Methodik des deut‐ schen Unterrichts“ (Engelmann 1957) dieses Modell um ▸ das Dramen- und Balladenalter (12−15 Jahre) und ▸ das lyrische und Romanalter (15−20 Jahre). Bühler und Engelmann sind bei ihren Stufen weitgehend von der damals gewählten schulischen Lektüre ausgegangen, die jedoch vielfach wiederum vorgegeben war. Sie verknüpfen die Lesealtersstufen mit ganz bestimmten Textsortengattungen und Großgattungen anstelle heutiger Kategorien wie Lesemotivationen, Lesemodi, Lesetempi usw. Sie stellen damit ein Konstrukt vor, das weder historische Entwicklungen noch sozialisatorische Kontexte <?page no="48"?> berücksichtigt, stattdessen wird der Eindruck einer quasi natürlichen Le‐ segenese vermittelt. Lesestoff und Leseentwicklung werden aber sowohl institutionell (Schule) als auch außerinstitutionell (in der Familie, unter den Peers) modelliert. Eine Entsprechung zwischen Inhalt und entwicklungspsychologischem Status ist vor dem Hintergrund der Vielfalt von Lesesozi‐ alisationen heute noch weniger als damals haltbar. Lesesozialisation und -entwicklung begründet sich nicht nur über die bereits genannten Instanzen und die damit verbundenen Bildungsmilieus sowie die sozioökonomischen Hintergründe der Lernenden, sondern auch und nicht zuletzt über kultu‐ relle und sprachliche Hintergründe. Wir vertreten daher zum einen den Grundsatz, dass unter Einbezug medialer Adaptionen ein Umgang mit Balladen bereits im Vorschulalter beginnen kann (man denke beispielweise an Kurzfilme, Lieder und Bilderbücher zu Ribbeck) und bis in das Erwachse‐ nenalter hineinreicht. Gerade die Produktivität und der Variantenreichtum der Gattung (Keller 2017: 9) als auch deren mediale Adaptionsvielfalt und hohe Performativität laden zu einem solchen alters- und zeitlosen Gebrauch ein. Diese Einladung zum Gebrauch in allen Lebensaltern bedeutet jedoch nicht, dass entwicklungsspezifische Unterschiede in der Textverstehens‐ kompetenz und im literarischen Lernen nivelliert werden. Sie werden in Kapitel-5 vielmehr umfassend berücksichtigt: ▸ In ihren Themenzuweisungen stellen die Textbeispiele altersgemäße Angebote von der Orientierungsstufe bis hin zur Oberstufe dar und ▸ in ihren methodischen Aufbereitungen tragen sie Kompetenzentwick‐ lungsprozessen systematisch (anhand der nationalen Bildungsstan‐ dards) Rechnung. Das bedeutet in Bezug auf den Themenbereich Freundschaft und Liebe beispielsweise, dass der Text von Busch in den Klassenstufen 4 bis 6 verortet wird und den thematischen und sprachlichen Herausforderungen entsprechend „Der Handschuh“ von Schiller dann in der Mittelstufe, die „Bürgschaft“ von Schiller aufgrund ihrer hohen Alterität und dem textlichen Anspruch dann in der Oberstufe. Natürlich sind derartige didaktische Ent‐ scheidungen diskutabel und selbstverständlich verstehen wir die Frage der Passung immer als multifaktorielle Herausforderungen, daher sind unsere Zuordnungen nur ein (Vor-)Entlastungsangebot um eigene Erfahrungen zu machen. 48 3 Didaktische Entwicklungen und Theorie(n) <?page no="49"?> Zwischen Ideologisierung und Gegenstandsfixierung Balladen galten lange als Chronotop, an dem generationsübergreifende Ver‐ ständigung stattfinden konnte (Köster 2001: 175). Heute, in einer pluralen und multikulturellen Gesellschaft scheint eine damit verbundene Festlegung von Norm- und Wertvorstellungen nicht mehr denkbar, zumal die bekannten Gestalten dieser identitätsstiftenden Balladenkultur wie „Der Knabe im Moor“, „Der Zauberlehrling“, „John Maynard“ etc. wenig moderne Ideale zu befördern scheinen. Dennoch bildet besonders die Rezeptionsgeschichte dieser Balladenhelden einen Ansatzpunkt, sich mit der gesellschaftlichen Bedeutung von Literatur sowie den Veränderungen von Werten, Normen und Kulturmustern im Laufe der historischen Entwicklung auseinanderzusetzen: Im 19. Jahrhundert konnten Primaner am Ende ihrer Schullaufbahn dutzende Gedichte, darunter auch Balladen, auswendig aufsagen. Die De‐ klamationskultur des höheren Schulwesens ist auch und nicht zuletzt in Literatur von Goethe, Kotzebue, Klingemann, Johanna Schopenhauer, Raabe oder Stinde bezeugt worden und demonstriert dort den schmalen Grat zwi‐ schen deklamatorischem Triumph und gesellschaftlicher Blamage ( Jakob 2017). Im Wilhelminismus dienten die Balladen weitestgehend als Fundus von (auswendig zu erlernenden) Lebensmaximen; auch in der Weimarer Republik und dann erst recht im Nationalsozialismus war der Umgang mit Balladen von einer affirmativ-ideologisierenden Didaktik geprägt, die sich den performativen Charakter von Balladen zunutze machte. So änderte sich die Auswahl der Balladen und die damit verbundene schulische Rezita‐ tionspraxis in Abhängigkeit von den jeweiligen Erziehungszielen: Im Kai‐ serreich waren das gesellschaftliche Integration und Patriotismus, weshalb die eingangs genannten kanonischen Balladen hier durch Titel wie Theodor Fontanes „Der alte Derfflinger“, Friedrich Rückerts „Barbarossa“ oder Fer‐ dinand Freiligraths „Trompete von Vionville“ ersetzt sind. In der Weimarer Republik finden sich die auch in aktuellen Lehrbüchern vertretenen Balladen wie „Die Bürgschaft“, „Der Zauberlehrling“ etc. Im Nationalsozialismus werden insbesondere Schillers „Das Lied von der Glocke“, Ludwig Uhlands „Schwäbische Kunde“ u.-a. für völkische Ideale nutzbar gemacht. Nach 1945 findet hier eine ideologische Bereinigung statt, indem wieder „religiöse Werte im Kontext von Verbrechen und Strafe profiliert werden“ (Köster 2001: 178), etwa Heines „Belsatzar“ oder Meyers „Füße im Feuer“. Robert Ulshöfers seit den 1950er-Jahren besonders einflussreiche Methodik betont zum einen „den besonderen Wirklichkeitsgehalt der jeweiligen Dich‐ 3.1 Didaktische Inszenierungen im Wandel 49 <?page no="50"?> tung auf dem Boden einer gültigen Ordnung“ (Ulshöfer 1961: Vorwort) und zielt zum anderen (in Anlehnung an vorherige Traditionen) pädagogisch auf die Involvierung der Erfahrung der Lerner: innen. Im Umfeld der 68er-Bewegung findet dann eine ideologiekritische Wende im Umgang mit Balladen statt. Heinz Ide und Rudolf Wenzel plädieren in der alten BRD für eine veränderte Auswahl und eher diskursive Verfahren im Umgang mit den Balladen. Texte wie der „Erlkönig“, die vorher auf die konkrete Erfahrung der „Wirklichkeit des Irrationalen“ angelegt waren, werden nun „in einem kritischen, emanzipatorischen Deutschunterricht gegen den Strich gelesen“ (Köster 2001: 179). Diese Entwicklung führt zur intensiven Diskussion um den Gegenstand, insofern die Ballade aufgrund ihrer Wertsetzungen und ihrer ideologischen Instrumentalisierung für den schulischen Lektürekanon sogar disqualifiziert werden sollte (ebd.). Erst Mitte der 1980er-Jahre wird die Ballade in der alten BRD im „Neben- und Gegeneinander verschiedener Texttraditionen und darin sich spiegelnder, ästhetisch modellierter Bewußtseinslagen“ (Merkelbach 1984: 185 zit. n. Köster 2001) unter dem Postulat der Verständigung wiederentdeckt. In der DDR-Methodik erfuhren Balladen hingegen unter Herstellung des Zusammenhangs von politisch-ideologischer und ästhetischer Erziehung von Beginn an hohe Wertschätzung: Kanonische Texte - wie beispielsweise Balladen der Weimarer Klassik, die im Rahmen der Betonung des humanis‐ tischen Erbes in das sozialistische Erbe ebenso integriert werden konnten wie Heines „Die Weber“ oder Fontanes „John Maynard“ - wurden im Unterricht bis weit nach der politischen Wende auswendig rezitiert. Diese Rezitationskultur war in der DDR verbunden mit einem hohen, auch histo‐ risch zu verortenden, interpretatorischen Anspruchsniveau (Brekle 1992: 89) sowie der grundlegenden Zielstellung einer hohen Allgemeinbildung für alle Schulformen. Vor dem Hintergrund dieser deutsch-deutschen Geschichte der Balladen‐ didaktik verwundert es nicht, dass die Lektüre von Deutsch-Lehrmitteln der 1990er-Jahre folgendes Fazit zur Folge hat: Im Lese- und Literaturunter‐ richt der Sekundarstufen findet sich ein „bereinigter Restbestand von im Schnitt vier bis fünf Kunstballaden“. Dieser weise eine „starke Fixierung auf Formales, Gattungsspezifisches und handwerklich Spielerisches“ auf und vergebe damit das ganze Potenzial der Positionierung und Wertdiskussion von Balladen (Köster 2001: 180). Auf den zuletzt genannten Aspekt soll hin‐ sichtlich der Texterschließung noch genauer eingegangen werden. Deutlich ist aber, dass die Rezeptionsgeschichte der Ballade in Schulbüchern Anlässe 50 3 Didaktische Entwicklungen und Theorie(n) <?page no="51"?> schafft, genau diesen Wertewandel im Umgang mit ästhetischen Medien zu diskutieren. Heute werden Balladen in Lehrmaterialien stark im Bereich der Mündlichkeit verankert und als Ausgangspunkt zur Erprobung unter‐ schiedlicher Ausdrucks- und szenischer Darstellungsformen genutzt, die gattungs- und inhaltsbezogene Dimension scheint dabei in den Hintergrund zu treten. Auch scheint generell nach einer exemplarischen Sichtung von Lehrwer‐ ken für die Klassenstufe 7-9 die Bedeutung handlungs- und produktions‐ orientierter Verfahren zugenommen zu haben, die Auswahl der Balladen beschränkt sich hier aber nach wie vor weitestgehend auf die von Köster genannten deutschen Kunstballaden. Zu finden sind hier v. a. „Der Zauber‐ lehrling“, „Der Handschuh“, „Der Knabe im Moor“, „Erlkönig“ und z. T. „Die Bürgschaft“ sowie „John Maynard“. Diese inhaltliche Kontinuität kann möglicherweise mit der Kompetenzorientierung erklärt werden. In Zeiten von Zentralabitur und ‚Standardsicherung‘ besinnt man sich in Lehrmitteln häufig auf (schul-)kanonische Balladen, die einen „traditionellen, mit der Lesebiographie der Lehrenden verbundenen Zuschnitt“ aufweisen (Bluhm 2016: 251). Veränderungen in den Bildungshintergründen der Lehramtsstu‐ dierenden werden hier langfristig möglicherweise Wandlungsprozesse in den Gang setzen. Maiwald skizziert einen Niedergang der literarischen Bildung und des literarischen Leseinteresses bei Lehramtsstudierenden und damit dem Literaturunterricht (vgl. ebd. 2016). Empirische Befunde zur Ganzschriftlektüre deuten jedoch eine Berücksichtigung von literarischer Bildung, Leseverstehen und Lerner: innen-Orientierung seitens der Lehren‐ den an (vgl. Bertschi-Kaufmann et al. 2018), für die Ballade liegen aber bisher noch keine Befunde vor. Es ist eine Orientierung am Lehrmittel anzuneh‐ men, da die Lektüre von Balladen augenscheinlich weniger bedeutsam ist als die Wahl der Ganzschrift und zudem die Neuerscheinungen des Marktes hier weniger intensiv wirken dürften. Die kulturelle, soziale und sprachliche He‐ terogenität der Schüler: innen wird durch die derzeitige Balladenauswahl der Lehrmittel jedoch kaum berücksichtigt, sozialisationsbedingte Unterschiede in den Bildungschancen somit verstärkt. Der textbezogenen Vielseitigkeit und Weiterentwicklung der Gattung selbst wird man damit ebenso wenig gerecht. Mit diesem Band stellen wir daher für den etablierten „heimlichen Kanon“ adaptive Verarbeitungen, methodische Erweiterungen sowie andere, weni‐ ger etablierte Texte zum Vergleich bereit, um innerhalb der heterogenen Er‐ fahrungsräume der Lernenden Wege zum Textverstehen (und literarischen 3.1 Didaktische Inszenierungen im Wandel 51 <?page no="52"?> Lesen) dieser konventionellen Balladen für alle zu eröffnen. Damit sollen diese Texte als Teil des kulturellen Gedächtnisses erhalten und Möglichkei‐ ten generationenübergreifender Verständigungen genutzt werden, ohne die Lesegewohnheiten, -motivationen und den medialen Wandel vollkommen zu vernachlässigen (ausführlicher dazu vgl. Balladen auswählen, Kap. 4.1). Nicht zuletzt soll dabei auch das bereits erwähnte, in Misskredit geratene performative Potential der Ballade wieder didaktisch fruchtbar gemacht werden (vgl. Praxisbeispiele zu Kästners „Sachlicher Romanze“, zu Goethes „Erlkönig“, zu Gomringers „Und es war ein Tag“ uvm.). - Literatur zur Vertiefung J A K O B , Hans-Joachim (2017). Der Diskurs über Deklamation und über die Praktiken auditiver Literaturvermittlung. Der Deutschunterricht des höheren Schulwesens in Preußen (1820-1900) (=-Siegener Schriften zur Kanonforschung, Bd.-13.) Frankfurt a.M.: Peter Lang. M A C K A S A R E , Manuel (2017). Klassik und Didaktik 1871-1914. Zur Konstituierung eines literarischen Kanons im Kontext des deutschen Unterrichts (=-Deutsche Literatur. Studien und Quellen, Bd.-22), Berlin / Boston: de Gruyter. V O R E I N , Christian (2012). „Von der Erziehung durch Literatur zur Erziehung zur Literatur. Literaturtheorie und -methodik der DDR in Beiträgen der Zeitschrift ‚Deutschunterricht‘“. In: Cölln, Jan / Holznagel, Franz-Josef (Hrsg.). Positionen der Germanistik in der DDR. Berlin / Boston: de Gruyter, S.-294-311. 3.2 Zum Stand der aktuellen fachdidaktischen Diskussion Zwischen Gegenstands- und Kompetenzorientierung Aufgrund der bereits mehrfach angesprochenen Kompetenzorientierung in den Bildungsstandards findet man in der aktuellen fachdidaktischen Diskussion keine explizite Auseinandersetzung mit dem Gegenstand Bal‐ lade. Zentral scheint hier vielmehr zu sein, mit welchen Intentionen das Lesen von Balladen verbunden wird. Besonders entscheidend sind hier die Anforderungen, die literarische Texte an die Leser: innen stellen. So müssen die Schüler: innen eine spezifische (ästhetische) Lese- und Verstehenshal‐ tung entwickeln, die sich beispielsweise von der informatorischer Texte unterscheidet. Balladen und ihre vielfältigen medialen Adaptionen können 52 3 Didaktische Entwicklungen und Theorie(n) <?page no="53"?> im Rahmen literarischen Lernens dazu beitragen, literar-ästhetisches und intermediales Verstehen zu schulen. Die literarische Verstehenskompetenz zeichnet sich u. a. durch einen spezifischen Umgang mit (inhaltlicher) Un‐ bestimmtheit oder Mehrdeutigkeit und überstrukturierter Sprache aus. Der Inhalt des Textes generiert sich hier erst vollständig über das Verständnis und die Deutung des Lesers/ der Leserin, auch können Leser: innen ihr Ver‐ stehen bei mehrmaligem Lesen verändern. So positiv das hier formuliert ist, stellt sich doch in der Unterrichtspraxis zuweilen das Gefühl einer starken Beliebigkeit oder Verrätselung solcher Texte ein, die nur von Experten bzw. der Lehrkraft entschlüsselt werden kann. Im Verbund mit den sprachlichen Anforderungen, Metaphern und Symbolen stellen die Balladen die Schü‐ ler: innen sowohl in der kognitiven als auch in der emotionalen Verarbeitung vor Schwierigkeiten, die bis zum Nichtverstehen führen können. Daher ist es zentral, Textbegegnungen mit Balladen besonders in der Einführungsphase so zu gestalten, dass eine Frustration verhindert und Toleranz gegenüber den Besonderheiten der mentalen Inszenierung eines Balladentextes möglich wird. Das heißt auch, dass das Erlebnishafte, also das Ereignis Ballade zunächst in den Mittelpunkt gestellt werden kann oder die Artikulation bzw. Konkretisierung von Nichtverstehen erlernt wird. Dabei sollten eigene Vorstellungen und Verknüpfungen frei gebildet werden bzw. in Form einer miterlebenden oder (immer wieder) neu kontextualisierenden Lektüre voll‐ zogen werden. Denn jedes Detail und die Struktur der Textoberfläche kann von Bedeutung sein, d. h. Sinn erschließt sich nicht nur über die Syntax, sondern auch in der Struktur der Wortbedeutungen und -laute sowie deren Ähnlichkeiten und Gegensätze (Zabka 2016: 157). Beispielsweise können die Anaphern in „Und es war ein Tag“ von Nora Gomringer die Wiederholungen und die Gleichförmigkeiten eines Waggons auf den Gleisen abbilden, auch die Wiederholungen von Wörtern wie „Ruck“, „Stunden“ oder verschiedene Wortfelder eröffnen neben den syntaktischen Informationen einen unter‐ schwelligen semantischen Zusammenhang der Deportation, konstituieren jedoch gleichzeitig symbolische oder parabolische Sinnebenen und damit die literarische Mehrdeutigkeit („Und es war“ als Anspielung auf das Märchen o.-ä.). Die hier beschriebenen Aspekte können grundsätzlich mit jeder Literatur vertieft werden; zu Kompetenzen werden sie jedoch immer erst in der Auseinandersetzung mit einem konkreten Gegenstand - die für die Lektüre literarischer Texte notwendige Vorläufigkeit der Sinnbildung kann nicht abstrakt erlernt werden. Demnach schalten auch wir in diesem Band im 3.2 Zum Stand der aktuellen fachdidaktischen Diskussion 53 <?page no="54"?> Kapitel 5 allen Praxisanregungen eine didaktische Textanalyse vor, die die spezifischen Verstehensanforderungen des jeweiligen Textes genau heraus‐ arbeitet. Das heißt auch, dass es nicht darum geht, alle literaturtheoretischen und -historischen Kategorien für den Text in ihrer Vollständigkeit abzubil‐ den, sondern v. a. jene Aspekte, die aus unserer Sicht verstehensleitend sind und sinnstiftende Lehr-/ Lernprozesse initiieren können. Das birgt in der Praxis zuweilen die Gefahr, den artifiziellen Charakter der jeweiligen Ballade deterministisch zu vereinfachen und themenzentriertes statt ästhetisches und literarisches Lernen anzuleiten. Dennoch: Aus unserer Sicht reicht allein die Konfrontation mit einer aus gegenstandsbezogener Sicht normativ als relevant erachteten Ballade nicht aus, um eine subjektive Relevanz herzuleiten. Dem begegnen wir durch eine Auswahl von Kontexten, die eine Erschließung gegenstandsspezifischer Sachstrukturen durch den Anschluss an die Interessen der Lernenden, deren kognitive Denk- und Handlungsmus‐ ter in der jeweiligen Entwicklungsstufe sowie gesellschaftliche Diskurse er‐ möglichen. Selbstredend müssen diese Gerüste mit zunehmender Lerner: in‐ nenerfahrung abgebaut werden, dennoch glauben wir, dass sie gerade auch in literaturfernen Milieus oder bei Schüler: innen mit anderer Muttersprache Zugänge zur Ballade als Kunstprodukt schaffen können. Damit verbunden ist auch die Abwehr eines verengten Subjekt- und Kompetenzbegriffs, der die ästhetische Auseinandersetzung auf einen subjektivistischen Prozess reduziert. Uns erscheint hier vielmehr die Relationalität konstitutiv: Sie zeigt sich als triadischer Bezug von Selbst, Mitmenschen und Welt. Dementspre‐ chend ist neben der Sachstruktur und der Einbindung der Ballade in ein personales Verständnis auch das Bildungspotenzial gemeinsamer Bezüge und geteilten Verstehens zentral. Im Kapitel-5 finden sich diese Überlegun‐ gen einerseits in der fokussierten Auswahl didaktischer Analysen und darüber hinaus in der didaktischen Umsetzung. Diese ist u. a. darauf aus‐ gerichtet, eine Ballade lernzieldifferent so zu erarbeiten, dass sie durch jeweils unterschiedliche Leistungen in einem heterogenen Klassenverbund erst gemeinsam erschlossen werden kann. Besonders die ‚Teilung von Kompetenzen‘ bzw. das in Beziehung setzen dieser zueinander anhand eines konkreten Gegenstandes im Klassenverbund eröffnet aus unserer Sicht Wege ästhetischer Erfahrung und literarischen Lernens für alle Lernenden. 54 3 Didaktische Entwicklungen und Theorie(n) <?page no="55"?> Wissen und Können im Umgang mit Balladen Die Anforderungen in den Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz - wie die Erschließung zentraler Inhalte literarischer Texte, deren Deutung sowie Wertung (ausführlicher Köster 2016: 96) - sind allgemein und komplex formuliert. Um daraus auf konkrete Gegenstände bezogene und (strategisch) auch einzeln lösbare Aufgaben zu modellieren, bedarf es einer genauen Textanalyse (vgl. Texterschließung und -Interpretation), die v. a. besondere Verstehensherausforderungen der einzelnen Balladen in den Blick nimmt. In der Erarbeitung der Unterrichtsbeispiele sind in Hinblick auf Balladen besonders folgende Untersuchungsdimensionen hilfreich: ▸ Figurenkonstellationen ▸ Erzähltechnik (Perspektiven und Perspektivwechsel, Handlungslogi‐ ken, Zeit-…) ▸ historischer und/ oder poetischer Sprachgebrauch ▸ Formen sprachlicher Indirektheit (Metaphern, Allegorien, Ironie-…) ▸ Versformen ▸ literarisches Wissen bzw. die hohe Referenzialität von Balladen (in Hinblick auf Gattungswissen, literaturgeschichtliches Wissen etc.) Diese Dimensionen stellen regelmäßig besondere Verstehensherausforde‐ rungen der Ballade dar. Diesen je einzelnen Phänomenen kann begegnet werden, indem aus der intensiven didaktischen Textanalyse gekonnt vom Lehrenden moderierte und explizit auf den Text bezogene Aufgabenstel‐ lungen folgen. Diese Aufgaben müssen wiederum geschickt grundlegende Kompetenzen und Wissen (z. B. sprachliches, historisches, poetologisches Wissen usw.) verbinden, um den jeweils stets spezifischen Verstehensanfor‐ derungen der konkreten Ballade gerecht zu werden. Neben der Textauswahl ist hier auch die Organisation des Balladenunterrichts zu bedenken, der sich nicht in einzelnen, unsystematischen Stunden erschöpfen sollte, son‐ dern als Sequenz geplant werden kann, die mehrere Balladen neben- und miteinander anbietet. Als Ordnungsprinzip können sie nach den genannten Schwerpunkten des Bandes sortiert werden, aber auch Motive, Epochen und Strömungen sowie Themenkreise und Poetiken können hier leitend sein. Wichtig ist in dieser Sequenzbildung, dass der Blick immer wieder auf die Gegenstände und deren Vergleich gerichtet wird, wobei die genannten Ordnungsprinzipien in den Hintergrund treten und nicht zum eigentlichen Thema der Balladensequenz werden. 3.2 Zum Stand der aktuellen fachdidaktischen Diskussion 55 <?page no="56"?> Die zentrale Funktion im Zusammenspiel von Wissen und Können jen‐ seits uneingeschränkter Aufträge wie „Interpretiere“, „Deute“, „Erläutere“ und „Bewerte“ ist es Aufgabenfolgen zu entwickeln, die mittels Gattungs- und Textsignalen an die Lösung des Problems heranführen. Im Folgenden soll dies am Beispiel des Gattungswissens, welches eine besondere Stellung im Umgang mit Balladen einnimmt (Kap. 2), genauer ausgeführt werden. Obwohl die Frage nach der Bedeutung von Gattungswissen im literaturdi‐ daktischen Diskurs kontrovers diskutiert wird (u. a. Frickel 2012, Nickel- Bacon 2008, Pfeiffer 2010), stellt dessen Vermittlung im Deutschunterricht traditionell einen zentralen Bestandteil dar. Dabei wird dem Gattungswissen - als Bedingung für die Rekonstruktion der formalen Textorganisation - seitens der kognitionspsychologischen Leseforschung eine verstehenssteu‐ ernde Wirkung (vgl. Miall 2006, Schaffner 2009) zugeschrieben. Für Balladen ist dies besonders relevant, da intertextuelle Bezüge und gattungsspezifische Anknüpfungen als konstitutives Merkmal von Balladen identifiziert werden können (Kellner 2017: 9). In Balladen, die konventionalisierte Textmuster aufbrechen und transformieren, indem sie beispielsweise mit Gattungswis‐ sen spielen, kann sich in Abhängigkeit von deren Kenntnis und den damit verbundenen Leseerwartungen literarisches Verstehen verändern. Ein Beispiel: Thomas Klings „Berliner Totentanz“ könnte als Beschrei‐ bungstext gelesen werden: so wäre es eine Annäherung an das Totentanzfresko in der Berliner Marienkirche. Als Gedicht eröffnet es in seinen lyrischen Annäherungen an den Tod bzw. dessen Personifikation vielfältige literaturgeschichtliche Bezüge: Goethes „Totentanz“ und die Auferstehung der Untoten dort steht dann im Kontrast zum ‚Gespräch‘ zwischen Figur, Tod und Arzt bei Kling. Zum dramatischen Text wird Klings Ballade durch seine Sprecherfiguren, die sich wie Rollenvergaben lesen lassen. Erzählerisch ist der Text insbesondere in seiner medizinischen Narration bzw. einer fragmentarischen Krankheitsgeschichte. Dieses (Zusammen-)Spiel mit konventionalisiertem Gattungswissen kann jedoch nur aufgrund eines vielfältigen Vorwissens abgerufen werden. Der Grad der Flexibilität im Umgang mit diesen Vorwissensbeständen steu‐ ert dann auch den Genuss der Lektüre. Wenn Schüler: innen diese Gattungs‐ reflexion bzw. (metafiktionale) Gattungsdiskussion nicht vollziehen, geben sie sich möglicherweise eher selbstbezogenen (wenn nicht gar subjektivis‐ tischen) und wenig gegenstandsbezogenen Reflexionen eines Textes hin (Frickel/ Nosic 2018). Für den unterrichtlichen Umgang ist es daher ange‐ zeigt, die Relevanzstrukturen des Gattungswissens (gerade auch in ihren 56 3 Didaktische Entwicklungen und Theorie(n) <?page no="57"?> Grenzfällen wie dem o. g. Beispiel) aufzuzeigen und für die Schüler: innen nachvollziehbar zu machen, damit auch eine Rückkopplung an erarbeitetes deklaratives fachliches Vorwissen erfolgt. Ein (vorheriges) Erlernen von Merkmalen anhand von abstrakten Merkkästen erscheint hier demnach eher hinderlich, Köster (2016) empfiehlt den Vergleich von merkmalsähnlichen Texten, mit denen sich die Schüler: innen zunächst intensiv auseinanderset‐ zen, um gemeinsame Merkmale herauszuarbeiten und auf den Begriff zu bringen. Die Klassifizierung eines Texts als Typus darf daher nicht nur Aus‐ sagen über gattungsrelevante Ähnlichkeiten („Das ist ein Gedicht, denn es reimt sich.“) implizieren, sondern muss das konkrete Beispiel mittels Begrif‐ fen (z.-B. aus der Erzähltheorie, vgl. Unterrichtshilfe „Erzählformen in zeit‐ geschichtlichen Balladen“) auf ein abstrahiertes verstehensrelevantes Merk‐ mal zuspitzen. Auch für literaturgeschichtliches Wissen ist die flexible Nutzung wesent‐ lich: Ein Lernen am Modell, bei dem der Lehrer/ die Lehrerin mit lautem Denken die Relevanz und Anwendung von ausgewählten Epochenkennt‐ nissen im Rahmen des Verstehens verdeutlicht, kann zu Beginn hilfreich sein. „Die Brück’ am Tay“ von Fontane eröffnet in einer Balladensequenz z. B. Möglichkeiten der Relevanzsetzung intertextueller literaturgeschichtlicher Bezüge: Sie knüpft an die Irrationalismen und das Bild der beseelten Natur der ‚Sturm und Drang‘-Balladen Bürgers und Goethes an, aber auch an die drei Hexen als personifizierte Naturgewalten in Shakespeares Macbeth. Diese Traditionsbezüge werden durch das reale zeitgeschichtliche Eisen‐ bahnunglück aktualisiert. Der technikkritische Hintergrund der Ballade gibt Ausblicke auf die Gesellschaftskritik in Balladen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Diese gegenstandsbezogenen Kontexte können didaktisch zur Herausbildung literaturgeschichtlichen Bewusstseins genutzt werden. Das bedeutet jedoch nicht, die Kontexte oder Vergleichstexte (mühselig und oft überfordernd) mit den Schüler: innen zu erarbeiten, sondern zuweilen durch starke inhaltliche Vorgaben lediglich die literaturgeschichtliche Flexibilität im einzelnen Text zu bestimmen. Balladen interpretieren Die Ballade sollte trotz ihrer didaktischen Vielschichtigkeit im Unterricht keinem Relativismus der Interpretationen ausgesetzt werden. Aus litera‐ turwissenschaftlicher Sicht sind zunächst 4 Gruppen der Texterschließung 3.2 Zum Stand der aktuellen fachdidaktischen Diskussion 57 <?page no="58"?> als Rahmen zu nennen, die Balladen Bedeutung zusprechen können (in Anlehnung an das Kommunikationsmodell von Kindt/ Köppe 2008): ▸ Unter konventionellen am Autor orientierten Interpretationskonzeptionen können beispielsweise biografische Ansätze subsumiert werden, die ein Werk mit der Lebensgeschichte des Autors in Verbindung bringen oder unter Bedeutung das verstehen, was der Autor mitzuteilen beabsichtigte (Intentionalismus). ▸ Zugänge, die am Text orientiert sind, zeigen sich beispielsweise in Form werkimmanenter Interpretationen, formalistisch-strukturalisti‐ scher Überlegungen, die eine linguistische Methode zur Beschreibung literarischer Texte nutzen oder positivistischer Ansätze, die mittels Edi‐ tionen verlässliche Texte herstellen usw. Allesamt sind diese Zugänge darum bemüht, ahistorische, aus dem Text allgemein beschreibbare Regularitäten zu extrahieren. ▸ Aus Sicht von am Leser/ der Leserin orientierten Theorien ist die Bedeu‐ tung eines Textes wesentlich als Zuschreibungsleistung durch den Rezipienten bzw. die Rezipientin anzusehen. Im Fokus stehen hier die leser: innenseitige Konstruktion von Textbedeutungen und die damit einhergehenden Wirkungen. Welche Bedeutung der Leser/ die Leserin dem Text zuweist, ergibt sich dabei zu einem wesentlichen Teil daraus, wie er den Text verarbeitet, über welche kognitiven Voraussetzungen (z. B. ein bestimmtes Wissen) er verfügt und unter welchen äußeren Bedingungen der Verstehensprozess abläuft. ▸ Ergänzend zu nennen ist schließlich noch viertens die Gruppe, die vor allem auf „symptomatische Interpretationen“ ausgerichtet ist (Descher et al. 2015: 15). Dies kann in Form eines Bezugs zur historischen Wirklich‐ keit sein, z. B. wenn danach gefragt wird, wie sich Herrschaftsstrukturen in Wolf Biermanns Ballade „Briefträger William L. Moore“ spiegeln, oder wie sich „Der Erlkönig“ zur Epoche des Sturm und Drang verhält. Auch das Vorgehen der Intertextualitäts- und Intermedialitätsforschung, die sich auf die gegenseitigen Beziehungen zwischen Texten und Medien konzentriert, kann hierzu gezählt werden. Es handelt sich dabei um eine für die interpretative Praxis ausgesprochen wichtige Norm dessen, was als Bedeutung eines Textes untersucht werden kann. Der „Kontext“ als Interpretationsbezug liegt auf einer anderen Ebene als die drei vorangehend genannten, weil er sich v. a. darauf bezieht, inwiefern der Text Indikator für etwas darüber Hinausgehendes ist. 58 3 Didaktische Entwicklungen und Theorie(n) <?page no="59"?> Wenn man eine Bedeutungskonzeption von Balladen entlang solcher Linien akzeptiert, heißt das nicht, dass man Interpretationen relativieren muss, sondern dass man im Literaturunterricht Interpretationsziele transparent benennen sollte, um klar definierte Argumentationsweisen entwickeln bzw. vorlegen zu können. Hinsichtlich der altersgemäßen Entwicklung und Förderung von Analyse- und Interpretationskompetenzen sollte nicht zu stark und vor allem nicht zu früh der Eindruck vermittelt werden, dass Interpretationen nicht objektiv richtig oder falsch sein können, sondern allenfalls relative Geltung besitzen. Einige einschlägige (für den Unterricht adaptierbare) Interpretationsziele werden daher im Folgenden kurz anhand der jeweiligen o.-g. Interpretationsgruppierungen illustriert. Im Einklang mit ihrer Auffassung von Bedeutung kann es am Autor orientierten Interpretationen darum gehen, die kommunikativen oder auch gestalterischen Absichten des Autors kennenzulernen oder sein Werk in den biografischen Kontext einzuordnen (ausführlicher, auch zu den didaktischen Schwierigkeiten: Führer/ Heins 2018). Strukturalistische und textzentrierte Ansätze verfolgen bei der Interpreta‐ tion das Ziel, die Beschaffenheit des Textes, etwa seine Struktur im Rahmen einer Gattungstheorie oder Narratologie zu beschreiben. In der Schulpraxis spricht man hier häufig von „textimmanenten Interpretationen“, beispielhaft wäre hier die in diesem Band auffindbare didaktische Analyse zu Conrad Ferdinand Meyers „Füße im Feuer“). In der symptomatischen Auffassung von Bedeutung kann der Text Anzeichen sein für sozialgeschichtlich oder auch kulturwissenschaftlich beschreibbare Gegebenheiten der Entstehungszeit, für Geschlechterverhält‐ nisse oder (Post-)Kolonialismus. Das entsprechende Ziel lässt sich allgemein beschreiben als Ermittlung von etwas, das zur Zeit der Entstehung des Tex‐ tes der Fall war. Ausführliche didaktische Überlegungen zur Verwendung von Kontextwissen beim Interpretieren und zum systematischen Aufbau entsprechender Kompetenzen finden sich bei Stark (2016). Er hebt hervor, dass die Beschäftigung mit den Kontexten sowohl in der Qualität der Sekundärtexte als auch in der notwendigen Navigation zunächst nicht dem Anforderungsgrad der Primärtexte entsprechen oder diesen gar übersteigen sollte, um die kognitive Kapazität auf das Primärwerk zu lenken. Ein Literaturunterricht, der der Vielschichtigkeit der Interpretation einen großen Stellenwert beimisst, verfolgt damit hauptsächlich philologische Zielsetzungen. Die literaturwissenschaftlichen Interpretationstheorien sind nur teilweise Ausgangspunkt für Verfahrensweisen der Texterschließung 3.2 Zum Stand der aktuellen fachdidaktischen Diskussion 59 <?page no="60"?> und -interpretation im Literaturunterricht, und dies auch nicht gleicherma‐ ßen umfänglich. So sind für Balladen relevant: ▸ Autor- und werkgeschichtliche Texterschließungen, ▸ werkimmanente Interpretationen (v.-a. zu kanonischen Texten), ▸ Erziehung zu Kritikfähigkeit und Mündigkeit, ▸ handlungs- und produktionsorientierte Analysen, ▸ dekonstruktive und diskursanalytische Methoden der Interpretation, ▸ identitätsorientierte Zugänge, ▸ medienintegrative Verfahren. Diese Ansätze werden im Unterricht selbstverständlich miteinander kombi‐ niert und herrschen kaum in Reinform vor. In ihrer Erschließung von Balladen haben sie unterschiedliche Reichweiten und sollten nicht gegeneinander ausgespielt werden. Kammler (2009) hat für den Lyrikunterricht, in dem die Balladen konventionell verortet werden, eine „Hermeneutik des Erschließens“ und eine „Hermeneutik des Verdachts“ identifiziert, die beide die Gefahr problematischer Lesarten bergen. Erstere, wenn biographische, politische und soziale Umstände der Textentstehung sowie intertextuelle Bezüge zu einer (relativ) eindeutigen Textaussage verengt würden. Letztere, indem durch die Auslotung von (neuen) Bedeutungspotentialen und der Re‐ zeption aus dem jeweiligen (gegenwärtigen) Kontext des Lesers / der Leserin heraus ein „willkürliches Überschreiten des Bedeutungsspielraums“ erfolge (Kammler 2009: 9). Methodisch solle daher laut Kammler ein grundsätzliches Bewusstsein für die Historizität sowie formale und sprachliche Beschaf‐ fenheit des Gegenstandes im Rahmen analytischer Verfahren entwickelt werden, die emotionalen und imaginativen (subjektiven) Zugänge sollten dann über handlungs- und produktionsorientierte Verfahren geschaffen werden. Diese daraus entstehenden unabschließbaren Deutungsoptionen können in dieser Konzeption durch das „unverzichtbare“ Unterrichtsgespräch sowie den Einbezug verschiedener Adaptionen und Rezeptions(kon)texte zusam‐ mengeführt werden. In einem Literaturunterricht, der Lektüremotivation und sprachliche Fähigkeiten von Schüler: innen entwickeln will, hat die strenge Interpretation zu Unrecht einen sehr großen Stellenwert, auch ihr „Missbrauch“ im Sinne eines „Teaching to the test“ (Zentralabitur). Wenn der Umgang mit Balladen dennoch auf die Interpretation fokussiert werden soll, dann lohnt es sich aus unserer Sicht, das Potential zu Wert- und Normdiskussion auf der Grundlage textinterner Signale zu nutzen. Denn 60 3 Didaktische Entwicklungen und Theorie(n) <?page no="61"?> Balladen sind in ihrer langen Tradition als Gegenstand des Schulunterrichts (vgl. Kap. 3.1) in verschiedenem Maße in Anspruch genommen worden zur Vermittlung von Werten, Idealen, Weltbildern - aber auch zu deren kritischer Hinterfragung. Heute wird sie in Unterrichtsmodellen kaum noch als Ausdruck eines jeweiligen (politischen) Zeitgeistes hinterfragt oder in ihrem Wert(ungs)charakter diskutiert. Unterrichtsentwürfe konzentrieren sich weitestgehend auf formale (Gattungs-)Merkmale oder die Nutzung ih‐ rer medialen Vielfalt. Dies verkennt neben dem Potential der Wertdiskussion auch den hohen appellativen Charakter der Ballade, der durch dramatische Elemente teilweise besonders verstärkt wird. Köster betont, dass die Wahl der methodischen Verfahren bei Balladen hier besonders entscheidend sei, da von ihnen die Verstehens- und Deutungstiefe, die die Schüler: innen erreichen, abhängt. Sie schlägt aus diesem Grunde ein Zusammenspiel von „Text, Produktion und (aus-)wertendem Diskurs“ vor (Köster 2001: 183). Den Analyserahmen gibt hier der Lehrer/ die Lehrerin durch eine sinnvolle produktionsorientierte Aufgabe vor; Köster nennt beispielsweise einen Ver‐ gleich zwischen den Knaben im Moor und im Erlkönig, der die Schüler: innen an Schlüsselstellen im Text führt und somit ein Verständnis des Textes her‐ vorbringe. Mit produktionsorientierten Verfahren soll dann die analytische Distanz überwunden und in eine konkrete Vorstellungsbildung überführt werden. Dieses Vorgehen wird dann in einem auswertenden Diskurs zusam‐ mengeführt, um einerseits den Argumentationszusammenhang des Textes analytisch und involviert zu erfassen, aber auch dessen Mehrstimmigkeit nicht vollständig aufzulösen. Dabei ist es wichtig, konträre Perspektiven im gegebenen - auch historisch aufgeladenen Argumentationsrahmen - des Textes zu entwickeln, um die Unterschiede zu heutigen Deutungshorizonten nicht zu nivellieren (Bsp. Bedeutung des Birnenverschenkens in Fontanes „Ribbeck“ heute und zur Zeit der Balladenentstehung). Übergeordnete Ziele wie die Aneignung von Weltwissen, Identitätsfragen oder die Entwicklung von Fremdverstehen können damit gut verbunden werden. Zabka (2012) betont, dass es methodisch betrachtet durchaus verschie‐ dene Operationen gibt, die unterschiedliche Komponenten literarischen Lernens fokussieren können: ▸ Schlussfolgerndes Lesen/ Erkennen von Sachverhalten über die Satz‐ grenze hinaus: fördert und fordert Vorstellungsbildung und Involviertheit, ▸ Verknüpfen von Informationen: ermöglicht das Verstehen von Er‐ zählstrukturen und inhaltlichen Zusammenhängen, 3.2 Zum Stand der aktuellen fachdidaktischen Diskussion 61 <?page no="62"?> ▸ Globales Verstehen: fordert das Fragen nach den Sinnebenen einer Ballade heraus, ▸ Identifikation von Gestaltungselementen und dem Aufbau einer Ballade: sensibilisiert für deren literarische Beschaffenheit und Gat‐ tungsspezifik (vgl. Zabka 2012: 152). Wichtig ist, dass diese Verfahren nicht nacheinander abgearbeitet werden, sondern die Relevanz der Operationen ergibt sich aus der konkreten Ballade. Die vielfältigen handlungs- und produktionsorientierten Methodenbau‐ steine und Unterrichtsbeispiele in diesem Band beziehen sich auf diese Überlegungen. Dem häufig geäußerten Verdacht, dass eine Meta-Ebene der Textreflexion durch die Schüler: innen in diesen Verfahren fehlt, kann und soll begegnet werden, indem die Verfahren so angelegt sind, dass sie sehr stark textinterne Brüche, Handlungszusammenhänge und/ oder Strukturen in ihrer Bearbeitung erfordern. Der Pluralität (nicht Relativität! ) des Um‐ gangs mit dem Gegenstand Ballade versuchen wir gerecht zu werden, indem sich die didaktischen Konzeptionen auf den Erwerb einer im Unterricht zu fokussierenden Kompetenz konzentrieren, die immer aus der textlichen Basis hergeleitet ist. Denn aus unserer Sicht kann es nicht den Königsweg, wie sich einer bestimmten Ballade genähert werden sollte, geben. Zu vermeiden sind jedoch methodische Eintönigkeit, die sich sowohl im „Verharren auf intuitiven Textzugängen“ als auch in der „Verselbstständi‐ gung formaler Betrachtungen“ manifestieren kann (Kammler 2009: 4), oder methodische Arrangements, die zu wenig mit den Gegebenheiten des Textes operieren. Balladen im Kontext ästhetischer Erfahrung Neben der Förderung literarischer Kompetenzen, die auch mit der Einübung unterschiedlicher Verstehensmodi einhergeht, kann mit Balladenrezeption zudem ein ästhetischer Erlebensraum verbunden werden. In Erweiterung des vorher skizzierten literarischen bzw. literarästhetischen Verstehens meint das, dass die Schüler: innen z. B. durch aufmerksames Lesen die Sprache auch sinnlich erfahren und die alltägliche (Zeit-)Erfahrung und Zweckorientierung durchbrechen können, um eine Zeit der Fiktion zu ‚erleben‘. Dies ist insofern wichtig, weil das Spiel mit Sprache nicht von allen Kindern als Teil ihrer Kindheit erlebt und erfahren wird, die damit verbundene 62 3 Didaktische Entwicklungen und Theorie(n) <?page no="63"?> Vorstellungsbildung sollte also in der Schule ebenso gefördert werden wie die Fähigkeit, einen anderen Blick auf das Alltägliche zu gewinnen. Dies wird v. a. durch eine spezielle ästhetische Lesehaltung gefördert, die sich nicht nur auf die sachlichen Sinn- und Kausalzusammenhänge des Textes und die unmittel‐ bar verwertbaren Informationen konzentriert, sondern die Lebendigkeit und Eigenheit des Textes bewusst wahrnimmt. Das heißt beispielsweise, kognitive und emotionale sowie leibliche Aspekte der Lektüre verbinden sich hier zu einem untrennbaren Ganzen. Diese Unteilbarkeit der ästhetischen Erfahrung kann besonders im Umgang mit Balladen und Lyrik, die sich durch eine hohe sprachliche Verdichtung auszeichnet, erzielt werden. Da wir diesem Aspekt aufgrund seiner geringen Bedeutung in zentralen Prüfungsanforderungen und den KMK-Bildungsstandards im praktischen Teil kaum bzw. nicht ausreichend Raum gegeben haben, möchten wir an dieser Stelle einige Hinweise zur Anbahnung derartiger poetischer Erfahrungen im Umgang mit Balladen geben. Der Kern des Ästhetischen ist in der Wirkung der Ballade auf das Individuum und dessen vorgeprägte Wahrnehmung zu suchen, genauer noch in der Kraft, mit der die Ballade die Routinen des Fühlens und Denkens, auf die sie trifft, unterwandern kann. Angeleitet werden kann dies nach Mitterer und Wintersteiner (2015) u. a. durch: ▸ Entselbstverständlichung: Indem die poetische Sprache als eine „Fremdsprache“ erkennbar und wie eine solche befragt wird. Das be‐ deutet auch, dass einzelne Begriffe nicht aus dem Text herausgerissen und unter alltagssprachlichen Oberbegriffen ‚gelistet‘ werden dürfen, sondern dass das Bezugssystem eines jeden Textes seine individuelle Gesamtbedeutung ist. ▸ Passivität: Wesentlich in der Auseinandersetzung mit einem Kunst‐ werk ist hier die Art und Weise, in der sich das rezipierende Subjekt vom Objekt ergreifen und in seinen Gewissheiten beirren lässt. Fraglichkei‐ ten, die der Text hervorruft, müssen erst einmal wirksam werden, weil nur auf dem (Ab-)Grund dieser Ungewissheiten ein authentisches Reden über Literatur stattfinden kann. Eine solche Rede über das Ungewisse ist nicht abprüfbar, zeigt aber deutliche qualitative Unterschiede, deren Beurteilung der Lehrperson obliegt. ▸ Intensiver Blick: Ästhetisches Lesen zeichnet sich nicht durch Brei‐ ten-, sondern durch Tiefenwirkung aus und kann sich in einem Detail verlieren, ohne das Ganze dabei aus dem Blick zu lassen. Eine Schulung 3.2 Zum Stand der aktuellen fachdidaktischen Diskussion 63 <?page no="64"?> dieses intensiven Blicks leitet dazu an, sich auf das vermeintlich unauf‐ fällige Detail, den fast übergangenen Stolperstein im Text zu konzentrie‐ ren. Über die erste spontane Textbegegnung hinaus ist ein Vergleich der ersten Erwartungen mit dem weiteren Textverlauf bzw. der ständigen Anpassung der Erwartungen an die (unerwartete) Entwicklung wichtig. Einige dieser Überlegungen überschneiden sich sicherlich mit dem literarischen Lernen bzw. Verstehen. Wir möchten diese hier nicht streng vonein‐ ander trennen, vielmehr dafür sensibilisieren, dass beim Erschließen einer Ballade nicht nur im Rahmen der Kompetenzbereiche, sondern auch inner‐ halb literarästhetischen Lernens unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt werden können, die auch die Lehr- und Lernkultur wesentlich verändern. Der Aspekt der ästhetischen Erfahrung ist aus unserer Sicht auch deshalb nicht zu vernachlässigen, weil er Literatur als Raum der Selbst-Infragestellung und Möglichkeit eines anderen Denkens zeigt. Zudem kann Motivation, Genuss und Freude am Umgang mit Literatur (außerhalb und über die Schulzeit hinaus) in solchen Unterrichtsphasen wesentlich befördert werden. - Literatur zur Vertiefung Deutschunterricht (5/ 2017): „Balladen“. Braunschweig: Westermann. F R I C K E , Gunnar / H E I S E R , Ines (Hrsg.) (2019). „Balladen erschließen“. Deutsch 5-10 58. Hannover: Friedrich Verlag. Deutschunterricht (3/ 2017): „Balladen und Erzählgedichte“. Braunschweig: Wester‐ mann. 64 3 Didaktische Entwicklungen und Theorie(n) <?page no="65"?> 4 Balladendidaktische Grundlagen 4.1 Balladen auswählen Carolin Führer Seit PISA und der damit einhergehenden empirischen Wende in der wissenschaftlichen Fachdidaktik kann eigentlich vom Ende der Schul‐ kanon-Diskussion gesprochen werden. Die Post-PISA-Rahmenlehr‐ pläne, welche in Anlehnung an die KMK-Bildungsstandards entstan‐ den, verzichten für die Primar- und Sekundarstufe I angesichts einer kompetenzorientierten Didaktik auf konkrete Vorgaben in Form von Titelnennungen. Dies scheint weniger zur Marginalisierung konkreter Werkverbindlichkeiten zu führen, sondern zur Tradierung von im institutionellen Rahmen bereits etablierten Titeln (sogenannter ‚heim‐ licher Kanon‘): Fragt man in Lehrerkollegien nach ihrer Balladenaus‐ wahl, so werden spontan zumeist „Der Handschuh“, „Der Zauberlehrling“, „Knabe im Moor“ u. ä. genannt. Diese Titel suggerieren, dass die schulische Auswahl primär von der literarischen Kanonbildung und einem materialen Kanon geprägt ist (das meint konkrete Werktitel anhand literaturgeschichtlich zentraler Autoren, Werke, Gattungen und Literaturepochen), de facto sind es jedoch eine Vielzahl von Kriterien, die die Auswahl bestimmen. Grundschule: Lesemotivation und literarische Bildung verbinden Für die Grundschule haben Richter und Plath (2012) anhand von Lehrer- und Schüler: innenbefragungen festgestellt, dass die Lehrer: innen zwar an‐ gaben, kindliche Interessen bei der Auswahl der Lektüre zu berücksichtigen, sich jedoch ein starker Widerspruch zwischen Themen und Genres, die die Kinder interessierten, und dem, was die Lehrer: innen behandelten, zeigt (Richter/ Plath 2012: 75 ff.). Ute Andresen (2004) schlägt aus demsel‐ ben Grund für den Umgang mit Lyrik vor, dass die Lehrpersonen die <?page no="66"?> bereitgestellte Auswahl stets durch weitere Texte, die von den Lernenden ausgewählt werden, ergänzen, damit die Schüler: innen eine persönliche Beziehung zu „ihren“ Gedichten aufbauen können. Es kann zudem sinnvoll sein, die Gedichtauswahl zunächst ohne Verfassernamen und Angabe der Entstehungszeit vorzulegen. Dadurch wird vermieden, dass Voreingenom‐ menheit gegenüber bestimmten Autoren oder Epochen den Zugang verstellt (Spinner 1995: 34). Zu den Auswahlkriterien der Lehrkräfte für Grundschulliteratur gehö‐ ren v. a. neben den zu erwartenden inhaltlichen und pädagogischen Erzie‐ hungszielen auch stark technisch-formale Kriterien wie Gliederungen in Abschnitte, kindgerechte Illustrationen etc. Eine Tendenz zur einfachen Geschichte, die selbst erlesen werden kann, ist erkennbar. Die konkrete Titelauswahl lässt trotz des angegebenen Bemühens um literarische Viel‐ falt zum einen eine vordergründig pädagogische Orientierung auf den ‚Nutzen‘ von Literatur erkennen, zum anderen betont sie die Entwicklung von Lesefähigkeiten und -fertigkeiten. Hierdurch ist eine intellektuelle Unterforderung für Grundschüler: innen feststellbar. Das Kriterium Lesemo‐ tivation und der Blick auf die (ästhetische) Besonderheit des Mediums Literatur und seine Wirkungsweise scheint nach Richter und Plath (2012) für die Grundschule unverhältnismäßig unterrepräsentiert. Diese Aspekte sollten demnach bei der Auswahl von Balladen für Grundschüler: innen Berücksichtigung finden. Richter (2013, 2015: 182-214) hat sich damit bereits unterrichtspraktisch beschäftigt und Möglichkeiten gesucht, wie ein anspruchsvoller Literaturunterricht bereits in der Grundschule unter Berücksichtigung des literarischen Reichtums (bei Richter meint dies v. a. auch sog. Klassiker) mit der Berücksichtigung kindlicher Medieninteressen verbunden werden kann. Wir schließen an diese Überlegungen an, indem die Behandlung literarisch bedeutsamer Autoren und Balladen mit handlungs- und produktionsorientierten (vgl. „Erlkönig“, „Und es war ein Tag“), medi‐ enintegrativen Verfahren (vgl. „Der Knabe im Moor“, „Die Bürgschaft“ etc.) sowie bildlichen Adaptionen (vgl. „Füße im Feuer“, „Herr von Ribbeck“) verbunden wird. 66 4 Balladendidaktische Grundlagen <?page no="67"?> 4 Gute Auswahl unter http: / / www.handmann.phantasus.de/ balladen.html (12.02.2012). 5 Anregungen auch unter http: / / www.lyrikline.org/ de/ (12.02.2019). Sekundarstufe I: Textbegriff erweitern und Auswahlkriterien kombinieren Im Folgenden wird versucht, der eingangs beschriebenen Komplexität der Auswahl durch Gliederung einzelner Aspekte gerecht zu werden, hierbei ist deren Einbezug bzw. Gewichtung jedoch immer stark von den jeweiligen Lehrpersonen, deren (berufs-)biografischen Überzeugungen sowie Erfah‐ rungen abhängig: a. Inhaltliche Auswahl ▸ Pädagogische Ziele: Kind- und jugendspezifische Themen (Identi‐ tätsbildung, z. B. Selbstbild, soziale Rollenfindung, Freundschaft, Geschlecht), Diskurs zu anthropologischen Grunderfahrungen wie Leben und Tod (Spinner 2001) oder Denkbildern (Müller-Mi‐ chaels 1999) bezeichnet damit menschliche Schlüsselerfahrungen (z.-B. Liebe, Gewalt, Streben) ▸ Literarische Ziele: Strukturierung der Texte nach Themen (Ge‐ heimnisvolles und Übersinnliches, Liebe und Freundschaft etc.), Motiven (Geschwisterneid, Flucht, Mord etc.), Formen, Autoren innerhalb von Strömungen/ Epochen ▸ Sprachliche Ziele: Sprachliche Komplexität in Relation zum Ni‐ veau der Lerngruppe; Anlässe für sinnvolle Spracharbeit (z. B. Wortfelder, Register); Verhältnis Dialog und Beschreibung; Inter‐ pretierbarkeit i.S.v. Personenkonstellationen, dichte Passagen ▸ Ziele der literarischen Sozialisation bzw. Meinungen zum (zu för‐ dernden) Verlauf der literarischen Sozialisation der Schüler: innen - Tradierung der Hochkultur („kanonische Balladen“ 4 ) - erweiterter Textbegriff unter Einbezug des gesamtgesell‐ schaftlichen kulturellen und medialen Paradigmenwechsels (Beispiele hierfür wären: Subway to Sally: „Grausame Schwestern“, Blumentopf: „Max Mustermann“, Lars Ruppel: „Holger die Waldfee“ etc. 5 ) b. Ästhetische Auswahl ▸ Anschlussleistungen an Balladen anderer Epochen bezüglich Spra‐ che, Gestaltungsmitteln, Motiven, Formen, Strömungen/ Epochen ▸ Literaturgeschichtliche Bedeutsamkeit (literarischer Kanon) 4.1 Balladen auswählen 67 <?page no="68"?> - diachrone Vergleiche („Kurzgefasster Lebenslauf “ von Käst‐ ner, „Max Mustermann“ von Blumentopf oder die Liebe im Wandel der Epochen, Kap.-5) - synchrone Vergleichsmöglichkeiten (Perspektivgestaltung zwischen „Und es war ein Tag“ und „Mörder Ratzek weißer Mond“) ▸ Adaptive Verarbeitungen des Themas (in Bildmedien wie „Herr von Ribbek“ und „Die Füße im Feuer“, Hörmedien wie in „Und es war ein Tag“ oder dem Bänkelsang zu „Der Rabe“, Film [z. B. Film‐ kritik zu „Die Bürgschaft“], Theater zur „Ballade vom Seiltänzer Felix Fliegenbeil“) c. Lern- und lehrprozessorientierte sowie institutionsbedingte Aus‐ wahl ▸ Lesemotivation fördern durch Interesse und/ oder Identifikations‐ möglichkeiten (z. B. in Form einer gendersensiblen Lektüreaus‐ wahl) ▸ finanzielle Erwägungen zur Anschaffung ▸ lektürebegleitende Angebote bzw. Unterrichtsmaterial der Verlage ▸ Passung eines Werkes oder Autors mit den Vorgaben des Rahmen‐ lehrplans ▸ Leistungen des Werkes für Aufbau ästhetischer Rezeptionskom‐ petenzen nach Anforderungen der Bildungsstandards ▸ Absprachen und Empfehlungen innerhalb des Kollegiums etc. Durch die Zusammenstellung wird ersichtlich, dass im Umgang mit Balladen in der Sekundarstufe kleinere Kanonisierungshandlungen stattfinden, die in ihrer Gewichtung auch stets Wertungshandlungen sind (Kap. 4.4 sowie Buss 2008: 158). Daher ist es wichtig, zum einen als Lehrperson die eigene Auswahl zu reflektieren und zum anderen die Schüler: innen auch in eine Auswahl einzubeziehen - dies bietet sich z.-B. für den Vortrag einer Ballade an (vgl. Kap. 4.1.1 Balladen auswendig lernen). Natürlich sollte hier ein Auswahl-Angebot zusammengestellt werden (Anregungen bieten aktuelle Balladenanthologien, z. B. von Segebrecht 2012, Grimm 2002 und Laufhütte 2000), das neben den Kompetenz- und Wissenszielen auch Erfahrungsziele im Sinne eines anthropologischen Bildungsbegriffes mit im Blick hat. Dem‐ entsprechend ist auch die im Band vorgenommene Auswahl zu verstehen, mit der auch sprachliche und inhaltliche Alteritäten erfahren werden sollen. 68 4 Balladendidaktische Grundlagen <?page no="69"?> Sekundarstufe II: Das Zentralabitur als Lektüre-, Steuerungs- und Reflexionsinstrument Durch die Kernlehrpläne im Zentralabitur und die Nennung obligatorisch zu behandelnder Werke in der Sekundarstufe II besteht die Gefahr, dass Balladen in der Oberstufe marginalisiert werden und sich dies auch auf die Sekundarstufe auswirkt. In den verbindlich vorgeschriebenen lyrischen Werken sind seit Jahren jedoch nur die Epochen Romantik, Expressionismus und z. T. Gegenwart vorgegeben, sodass aufgrund der fehlenden Nennung konkreter Titel in der Schulpraxis auch Balladen ihren Platz finden können. Wichtig wäre es zu wissen, auf welcher Entscheidungsbasis welche Werke für den Abiturkanon nominiert werden. Da dies in den meisten Fällen durch eine häufig anonym agierende Kommission ohne Offenlegung der Kriterien geschieht, kann an dieser Stelle nur auf die nach wie vor vorhandenen bildungsbürgerlichen und nationalen Schwerpunkte der Festlegungen ver‐ wiesen werden, wobei in den letzten Jahren gerade auch im Bereich der Lyrik zunehmend Gegenwartsliteratur einbezogen wird. Ein neuer Kanon, der die Vielfalt sprachlicher und kultureller Merkmale vor dem Hintergrund der Migration, der zunehmenden Medialisierung sowie die damit verbun‐ denen neuen Leit- und Subkulturen durch einen erweiterten Textbegriff berücksichtigt, findet sich von administrativer Seite her bisher nicht. Hier ist es auch Aufgabe des Lehrers/ der Lehrerin im Rahmen individueller Gestaltungsmöglichkeiten im Unterricht einer thematischen Einseitigkeit und instrumentalistischen Bildungsorientierung entgegen zu wirken. - Literatur zur Vertiefung G R IM M , Gunter E. (2002). Gedichte und Interpretationen: Deutsche Balladen. Stuttgart: Reclam. N E U H A U S , Stefan / S C H A F F E R S , Uta (Hrsg.) (2016). Was wir lesen sollen. Kanon und literarische Wertung im 21. Jahrhundert. Würzburg: Königshausen & Neumann. S I E B E N HÜN E R , Steffen / D E P N E R , Simone / F Ä S S L E R , Dominik/ K E R N E N , Nora / B E R T S C H I -K A U F M A N N , Andrea / B ÖH M E , Katrin / P I E P E R , Irene (Hrsg.) (2019). „Un‐ terrichtstextauswahl und schülerseitige Leseinteressen in der Sekundarstufe I: Ergebnisse aus der binationalen Studie TAMoLi“. Didaktik Deutsch 47, 44-64. 4.1 Balladen auswählen 69 <?page no="71"?> Lesen - mit Texten und Medien umgehen <?page no="73"?> 4.2 Sich über Balladen austauschen Carolin Führer Sich über Balladen auszutauschen meint v. a., Gespräche über Balladen zu führen. Dieses Gespräch kann eine Erwerbsform von Gesprächs‐ kompetenz oder ein Medium für den Erwerb bestimmter literarischer Kompetenzen darstellen. Als Lernform schult es die Teilhabe am Diskurs über ästhetische Gegenstände ebenso wie die Teilhabe am Diskurs über soziale, moralische und politische Belange. Als Medium literarischen Lernens ist das Gespräch besonders geeignet für die Schulung ästhetischer Urteilskompetenz, verstanden als Interpretati‐ ons- und Wertungskompetenz. Die Ballade eignet sich grundsätzlich für beide Lern-, Bildungs- und Verstehensziele, die Wahl der jeweili‐ gen Gesprächsform sollte v. a. aus der konkreten Ballade bzw. deren Inhalt abgeleitet werden. Die im Folgenden dargestellten Beispiele modellieren den Austausch über Balladen in einem Kontinuum von Gesprächen, die eher die Lernform betonen, hin zu Formen, die als Lernmedium verstanden werden können. In den zuerst beschriebenen Gesprächsformen geht es v. a. darum, eine möglichst offene, Deutungspluralität gewährleistende „Suchbewegung“ zu initiieren (Spinner 2006: 13). Hierfür eignen sich besonders Balladen, die viele Leerstellen oder ambige Strukturen aufweisen. Die andere Form zielt stärker auf einen konkreten Erkenntnisgewinn ab und die Möglichkeit, sich an der Auslegung bestimmter Texte zu beteiligen sowie deren kulturelle und soziale Bedeutung gemeinsam zu erarbeiten. Beide Formen bedingen einander auch. Die Wahl der jeweiligen Form hängt neben dem Text nicht zuletzt auch von den Anschlussaktivitäten ab: Geht es um Verdichtung zur Sicherung einer Unterrichtseinheit, die Eröffnung einer Sequenz usw.? Grundsätzlich müssen Schüler: innen die Fähigkeiten und Handlungsformen beider Hand‐ lungsfelder erwerben: erstere, indem mit bestimmten Gesprächsritualen eine Expression und Wertungen unterstützende Gesprächsform gefördert wird; letztere, indem mit anderen Vorgaben, Regeln, und Lenkungsimpulsen 4.2 Sich über Balladen austauschen 73 <?page no="74"?> ein von Textuntersuchung und Kontextualisierung geprägtes Interpretati‐ onsgespräch gefördert werden kann. Heidelberger literarisches Unterrichtsgespräch Gesprächsleitung ist hier eine bestimmte Haltung, die seitens der Lehr‐ person ein ernstes Interesse daran erfordert, mit Schüler: innen zu dem gewählten Text ins Gespräch zu kommen. Die Lehrkraft spricht den Schü‐ ler: innen grundlegend die Fähigkeit der Partizipation am Gespräch und dem Verstehen des Textes zu. Die Gesprächskultur ist von Respekt und Vertrauen geprägt. Sechs Phasen strukturieren den Ablauf eines solchen Gespräches (nach Steinbrenner/ Wiprächtiger-Geppert 2006): 1. Leitende Person wählt eine Ballade aus, die sie anspricht und bei der Sprache und/ oder Thema möglicherweise anregend für die Schüler: in‐ nen sein könnten. Geeignet sind Balladen, die mehrdeutig, ungewöhn‐ lich in Sprache und Inhalt oder gar rätselhaft oder voller inhaltlicher Leerstellen sind (z. B. „Metonymie, wir“ von Ann Cotten, „Der Knabe im Moor“ von Anette Droste-Hülshoff). 2. Durch einen Sitzkreis soll eine ruhige und konzentrierte Atmosphäre geschaffen werden, in größeren Klassen kann auch ein wechselnder Gesprächs-Innenkreis und ein beobachtender Außenkreis gebildet wer‐ den. 3. Vorlesen der Ballade, im Anschluss Möglichkeit der stillen individuellen Lektüre. 4. Mit einem anregenden Impuls wird allen Teilnehmenden sowie der Leitung ein kurzer Beitrag ermöglicht. 5. Eine offene, freie Gesprächsrunde lädt dazu ein, Irritationen, Nichtver‐ stehen und Beziehungen zwischen eigenen Erfahrungen und Text zu artikulieren. 6. Die leitende Person gestaltet einen Gesprächsabschluss, wichtige Ver‐ stehensaspekte können gespiegelt werden. Ziel dieses literarischen Gespräches ist die gemeinsame Suche nach Sinn‐ möglichkeiten. Unterschiedliche Bedeutungsmöglichkeiten und das Erleben der Ballade stehen dabei im Mittelpunkt. 74 4 Balladendidaktische Grundlagen <?page no="75"?> Vorlesegespräche Kaspar H. Spinner hat ein Konzept des Vorlesens entwickelt, das auf Dia‐ logizität von größeren Gruppen basiert. Die sogenannten Vorlesegespräche sind im Gegensatz zum Heidelberger literarischen Unterrichtsgespräch zwar gelenkt, aber nicht lehrer: innenzentriert, auch wenn es sich bei dem/ der Vorlesenden um eine erwachsene Person handelt. Sie gehen durchaus auf kindliche bzw. jugendliche Gefühle und Meinungen ein. Vorlesende sollten sich mit Meinungen und Deutungen zurückhalten und den Schüler: innen die Möglichkeit geben, sich mit dem Text auseinanderzusetzen. Der/ die Vorlesende sollte eine stimmungsvolle Atmosphäre schaffen und den Text mit Betonungen vorlesen. Er/ sie kann an einer besonderen Stelle eine Pause machen und Lernende mit Aufgaben, die das literarische Gespräch ermög‐ lichen, zum Sprechen einladen. Der/ die Vorlesende leitet das Gespräch, kann auch eigene Eindrücke nennen und sollte den Schüler: innen Zeit lassen, eigene Gedanken zu entwickeln und diese zu formulieren. Die zentrale Frage ist, wann der/ die Vorlesende an welchen Stellen den Lernenden Gelegenheit dazu gibt und mit welchen Impulsen er das Vorlesen unterbricht und das Gespräch aufgreift. Spinner (2004) schlägt hierbei fünf Impulstypen vor: 1. Aktivierung eigener Erfahrungen: Impulse sollen das Vorwissen aktivieren und Anknüpfungspunkte aufgreifen. Eigene Erfahrungen können angesprochen werden, aber auch Gefühle, z. B. durch die Frage „Kennt ihr diese Situation? “. 2. Entwickeln von Antizipation: Das Unterbrechen einer besonders spannenden Textstelle fordert die Zuhörenden heraus, darüber nach‐ zudenken, wie es weitergehen könnte. Anregungen, wie sich die Ge‐ schichte entwickeln könnte, sind wichtige Impulse für ein literarisches Gespräch. 3. Perspektivenübernahme: Geschichten ermöglichen es, Situationen aus der Perspektive einer oder mehrerer Figuren zu sehen. Man kann Ge‐ fühle nachvollziehen und lernt zudem ganz neue Situationen kennen - wie empfinden die Lernenden das Verhalten der Dame im „Handschuh“? Es sollte im Gespräch auch nach der Entwicklung, den Gefühlen und der Darstellung der Figuren gefragt werden - entspricht die Darstellung der Dame ihrem Verhalten? 4. Reflexion von Figurengestaltung: Das Verhalten der Figuren kann unterschiedlich wahrgenommen werden. Durch geeignete Fragen im 4.2 Sich über Balladen austauschen 75 <?page no="76"?> Vorlesegespräch reflektieren die Schüler: innen die Meinungen der Fi‐ guren und vergleichen sie mit der eigenen Situation: „Wie würdet ihr an der Stelle des Ritters im ‚Handschuh‘ reagieren? “ 5. Herstellung von deutenden Bezügen im Text: Hierzu gehören zum Beispiel Fragen nach den Motiven der Figuren: „Warum reagiert der Ritter im „Handschuh“ so? “ usw. Diskursivität von Gesprächen über Balladen fördern Für das Sprechen über Balladen benötigen die Schüler: innen Diskurskom‐ petenzen. Sprachwissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass Kinder und Jugendliche in ihren Familien (Morek 2012, Heller 2012, Isler 2014) und Peergroups (Heller/ Morek 2015) in teils sehr unterschiedlichem Ausmaß mit den schulisch so relevanten Diskurspraktiken in Kontakt kommen und dementsprechend sehr unterschiedliche Diskurserfahrungen mitbringen. Vogt (2009: 25) beobachtete in einer 8. Klasse, dass die Schüler: innenbeiträge im Unterrichtsgespräch oft weniger als 10 Wörter umfassen, mithin also keine eigenen Diskurseinheiten darstellen. Auch im Literaturunterricht findet üblicherweise nur ein „orchestriertes Erklären“ statt, d. h. eine erläuternde Diskurseinheit wird auf mehrere Schüler: innen verteilt, denen die Lehrperson „Erkläreinsätze“ (Morek 2012: 163) gibt. Eine Diskurskompetenz impliziert aber Fähigkeiten zur Kontextualisie‐ rung, zur Vertextung und zur Markierung. Kontextualisierung meint z. B., dass von einem Sprecher ein bestimmter Typ von globalem Gesprächsbei‐ trag als nächster Zug relevant gesetzt und dieser Zugzwang vom Gegenüber erkannt wird. Vertextung bedeutet, dass ein umfassender Zusammenhang kohärent hergestellt wird, dies verlangt argumentative Verknüpfungen, u. a. adversative, Ursache-Wirkungs- oder Mittel-Zweck-Relationen. Mar‐ kierungen müssen angesichts der Flüchtigkeit der Kommunikation mittels sprachlicher, prosodischer und gestischer Mittel vorgenommen werden, um klar anzuzeigen, welcher Typ von Diskurs umgesetzt wird. Das Sprechen generell - in zusammenhängenden Sätzen - stellt keine ausreichende Förderung dar (Becker-Mrotzek, Vogt 2009: 71). Die Ge‐ sprächsdidaktik hat inzwischen Praktiken identifiziert, die Diskurskompe‐ tenzen im Rahmen fachlichen Lernens fördern können (Heller/ Morek 2015): ▸ Problematisieren/ Problemstellung artikulieren ▸ Schüler: innen kommunikativ involvieren 76 4 Balladendidaktische Grundlagen <?page no="77"?> ▸ „Vorladungsfragen“ stellen (Einfordern von Reaktionen) ▸ Wiedereinsetzen von Zugzwängen (z.-B. Was erscheint dir sinnvoll? ) ▸ Reformulierung von Beiträgen (z. B. Modelle metareflexiv [nicht persön‐ lich] herausstellen und mit einer geringen sprachlichen, syntaktischen und lexikalischen Komplexität reformulieren sowie dessen Strukurbe‐ standteile für Lerner: innen sichtbar machen [Pausen, Konjunktionen]) Besonders hervorzuheben ist also, dass der institutionelle Erwerb von Dis‐ kursfähigkeit an alltägliche außerschulische Interaktionen anknüpfen sollte, z. B. in der Eltern-Kind/ Jugendlicher-Relation, in denen Erwachsene die Rolle des Zuhörers/ der Zuhörerin anbieten um die Kinder/ Jugendlichen bei der Hervorbringung der Diskurseinheiten zu unterstützen und fortlaufend die wechselseitige Verständigung zu sichern. Im institutionellen Kontext geht die Lehrkraft über dieses „intime Modell“ hinaus, indem nicht der Erwachsene, also der Lehrer/ die Lehrerin, die Durchführung der Diskurs‐ einheit übernimmt, sondern eine modellhafte Erklärung an einem schü‐ ler: innenseitigen Beitrag entfaltet werden sollte. Eine zusammenfassende Wiederholung von Schüler: innenaussagen ist hier also durchaus sprach- und lernförderlich, auch wenn häufig gefordert wird, sog. „Lehrerechos“ zu vermeiden. Es soll dabei kein Diskurs-Ideal vom Profi vorgegeben, sondern die kommunikative Funktionalität an schüler: innenseitigen Praktiken vor Augen geführt werden - dies erhöht die Chance, bildungssprachliche Praktiken nicht nur als fremde Normen zu erfahren. Interpretationsfördernde Gesprächsimpulse Zabka (2015) weist darauf hin, dass die Ausbildung der Gesprächs- und Interpretationsfähigkeit durch Impulse gestützt werden kann bis Schüler: in‐ nen selbst in der Lage sind, Interpretationsgespräche eigenständig zu führen. Er verweist jedoch auf die Problematik, dass die Lerner: innen durch zu stark unterstützende Impulse behindert werden können. Schüler: innen könnten andererseits jedoch angesichts eines allzu offenen Impulses hilflos bleiben, wenn sie das Problem nicht erkennen und keinen Ansatzpunkt des Nachdenkens finden. Er nennt daher eine Reihe wichtiger Impulse, die der Lehrer/ die Lehrerin flexibel und situationsangemessen einsetzen kann (Abb.-4.1). 4.2 Sich über Balladen austauschen 77 <?page no="78"?> Impuls Beispiel Wiederholen lassen* Wie hat A diese Textstelle verstanden? Akzentuieren lassen* Was ist neu an dieser Überlegung? Zusammenfassen lassen* Was sprach jetzt insgesamt alles für diese Deutung? Problematisieren lassen* Spricht etwas gegen diese Deutung? Bewerten lassen Wie überzeugend findet ihr diese Deutung? Weiterführen lassen* Was folgt daraus für die anderen Textstellen? Bezüge herstellen lassen* Lassen sich die Aussagen von A u. B verbinden? Fundieren lassen Auf welche Textstelle / eigene Erfahrung beziehst du dich? Erklären lassen Was wird durch deine Deutung besser verständlich? Begründen lassen Kannst du das am Text / mit einer Erfahrung begründen? Abb. 4.1: Gesprächsimpulse (zitiert n. Zabka 2015: 184) - Literatur zur Vertiefung H E L L E R , Vivien / M O R E K , Miriam (2015). „Unterrichtsgespräche als Erwerbskontext: Kommunikative Gelegenheiten für bildungssprachliche Praktiken erkennen und nutzen“. Literalität im Schnittfeld von Familie, Frühbereich und Schule. Lesefo‐ rum.ch 3, 1-23. Online unter: http: / / www.leseforum.ch/ fokusartikel1_2015_3.cf m (12.02.2019). S T E I N B R E N N E R , Marcus / W I P R ÄC H T I G E R -G E P P E R T , Maja (2006). „Verstehen und Nicht-Verstehen im Gespräch. Das Heidelberger Modell des Literarischen Un‐ terrichtsgesprächs“. Literatur im Unterricht 7: 3, 227-241. Online unter: http: / / www.leseforum.ch/ myUploadData/ files/ 2010_3_steinbrenner_wipraechtiger.pdf (08.02.2019). S P I N N E R , Kaspar (2004). „Gesprächseinlagen beim Vorlesen“. In: Härle, Gerhard / Steinbrenner, Marcus (Hrsg.). Kein endgültiges Wort. Die Wiederentdeckung des Gesprächs im Literaturunterricht. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, 291- 307. Z A B K A , Thomas (2015). „Konversation oder Interpretation? Überlegungen zum Gespräch im Literaturunterricht“. Leseräume 2, 169-187. Online unter: http: / / Les eräume.de/ wp-content/ uploads/ 2015/ 10/ lr-2015-1-zabka.pdf (12.02.2019). 78 4 Balladendidaktische Grundlagen <?page no="79"?> 4.3 Balladen analysieren und interpretieren Carolin Führer Dieses Kapitel thematisiert die Analyse und Interpretation von Balla‐ den, indem exemplarische Einblicke in die aktuelle fachdidaktische Diskussion zur Funktion und Umsetzung von Analyse- und Interpretationsaufgaben gegeben werden. Hervorgehoben wird v. a. der Zusammenhang von Aufgabenkonstruktion und Textverstehensprozessen sowie möglichen Alternativen zur „globalen Interpretationsaufgabe“ und der konventionellen Form-Inhalts-Interpretation. Ein zentrales Problem der Operatoren „analysieren“ und „interpretieren“ ist nach wie vor deren Komplexität und ihr Abstraktionsgrad, da sie un‐ terschiedliche geistige Tätigkeiten miteinander kombinieren und in ihrer Offenheit für einen Großteil der Schüler: innen kaum oder nur teilweise bewältigbar sind. Köster (2016) plädiert daher für eine stärkere Verständlich‐ keit von Operatoren bzw. geforderten Operationen, indem hochkomplexe Definitionen aus den Bildungsstandards geschärft werden. Dadurch soll eine „wilde Komplexitätsreduktion“ durch Lerner: innen in Form einer Beschränkung auf bekannte Operationen oder den Rückgriff auf vertraute Routinen verhindert werden. Grundlegend ist bereits zu Beginn zu definieren, worauf Interpretations- oder Analyseaufgaben im Schwerpunkt zielen. Das heißt z. B. bei einem Text wie Klings „Totentanz“ kann mit den Aufgaben auf folgende Verstehensan‐ forderungen gezielt werden: ▸ allgemeines Textverstehen und Vertiefung einzelner Teilkomponenten des Verstehens, ▸ Besonderheiten literarischen Verstehens (z. B. Intertextualität oder Umgang mit den Leerstellen von „Totentanz“), ▸ über sich selbst und die eigene Vergänglichkeit nachdenken und sich dabei auf den „Totentanz“ Klings beziehen. Diese unterschiedlichen Verstehensanforderungen können auch zur Bin‐ nendifferenzierung im Klassenzimmer eingesetzt werden, wobei die beiden 4.3 Balladen analysieren und interpretieren 79 <?page no="80"?> letztgenannten Punkte den ersten bereits voraussetzen und daher bei den leistungsstärkeren Leser: innen zum Einsatz kommen sollten. Mithilfe einer mehrstufigen Analyse im Vorfeld ist es möglich, als Lehr‐ kraft die konkreten Verstehensanforderungen einer Ballade zu den oben genannten Kategorien besser zu identifizieren. Zabka (2012) schlägt bei‐ spielsweise eine Analyse auf der Basis folgender kognitionspsychologischer und literarischer Lernkategorien vor: a. Manifeste Informationen und Informationsverknüpfungen verstehen (z. B.: Welche Wörter könnten unbekannt oder schwierig sein? Welche Satzstrukturen sind unverständlich/ komplex? etc.) b. Implizite Informationen und lokale Informationszusammenhänge er‐ schließen (z. B. Welche Sinnzusammenhänge sind über den Text verteilt und müssen erst gebündelt identifiziert werden? Welche Metaphern und Allegorien enthält der Text? etc.) c. Globale Zusammenhänge im Text verstehen (z. B. Welches [kohärente] Mindestverstehen des Textinhalts ist notwendig? ) d. Textinhalte konzeptuell bündeln (z. B. Welche übergeordneten Kon‐ zepte, Begriffe, Vorstellungen verhandelt der Text? ) e. Sprach- und Textgestaltung interpretieren (z. B. Welche Strukturen, Sprachbesonderheiten usw. müssen für die Interpretation erkannt und aufgegriffen werden? ) Das „Analysieren“ im unterrichtlichen Zusammenhang meint häufig die Ableitung von Form- und Strukturelementen. Die unter 1. bis 3. aufge‐ führten Kategorien werden im Unterricht der Sekundarstufen oft unter das grundlegende Leseverstehen subsumiert, stellen im Einzelfall jedoch häufig ein enormes Anforderungspotential dar. Analysieren kann und sollte daher auch als ein Verständnisgewinn konzipiert werden, z. B. durch textnahes Lesen, erzähltechnische oder sprachliche Analysen. Für „Die Füße im Feuer“ bietet es sich beispielsweise an, mittels der Analyse der Kommunikationsstruktur tieferliegende Bedeutungszuweisungen zur Konstellation Gast-Gastgeber herauszuarbeiten - so ist die Analyse nicht nur eine bloße inhaltliche Ableitung aus der Form (Negativ-Gegenbeispiel dafür wären Überlegungen wie die Folgende: Die dunklen Vokale schaffen eine düstere Stimmung etc.). Lösener (2009) hat sich mit dem hörenden Lesen bemüht, Alternativen zur Form-Inhalt-Interpretation zu entwickeln, die auch im Deutschunterricht Anwendung finden könnten und über zeichenkodierte Annahmen der In‐ 80 4 Balladendidaktische Grundlagen <?page no="81"?> terpretation hinausgehen sollen. Sein Prinzip eines hörenden Lesens beruht auf der sprachtheoretischen Prämisse, dass es sich bei Texten um schriftlich gestaltete Äußerungsakte handelt und dieses Wie des Sprechens, also der Sprechduktus, der das Gesagte modelliert, erfahrbar werden muss. Er modelliert sechs Fragen zur Lektüre eines Gedichtes, die sich einerseits auf die Erfahrung der Wirkung bei der Rezeption und anderseits auf die Wirkungsweise des Textes selbst beziehen: 1. Wie wirkt das Gedicht auf mich beim ersten Lesen? 2. Wie wirkt es beim lauten Lesen? 3. Welche Sprechgestaltungen, d. h. insbesondere Sprechformen, Sprech‐ stimmungen, Sprechhaltungen, kann ich aus dem Text heraushören? Auf welche Art und Weise suggeriert der Text sie? 4. Gibt es durchgehende rhythmische Gestaltungen, die den Text durch‐ ziehen? 5. Welche Perspektivität (Sichtweise) ist in dem Text wirksam? 6. Was wird in den Wahrnehmungen thematisiert? Welche Motive bilden thematische Felder? (Lösener 2009: 15 f.) Lösener schlägt vor, diese Annäherung besonders bei Gedichten zu wählen, die durch starke Metaphorisierungen eigentlich zu einer entschlüsselnden Auslegung anregen. Damit könne der Gefahr entgegengewirkt werden, dass die poetischen Bilder durch die gefundenen Bedeutungen ersetzt werden und das im Gedicht Gesagte auf ein Gemeintes reduziert wird, das erst die Interpretation formuliert (Lösener 2009: 21). In Zeiten des Zentralabiturs sind Wege zur interpretativen Annäherung wie die Löseners im Klassen‐ zimmerdiskurs zu kultivierende Lernformen um die Unabschließbarkeit des Verstehensprozesses deutlich zu machen. Die 6 Fragen können auch gemeinsam durch ein kollaboratives Schreiben in Kleingruppen beantwortet werden; die Beiträge der einzelnen Teilnehmer können gleichzeitig (in Echtzeit) erfolgen (etwa im Etherpad oder bei Google Docs). Die o. g. Unabschließbarkeit des Verstehens kann durch die Möglichkeit, die früheren Antwortversionen sichtbar zu machen, schriftlich dokumentiert und (im Nachgang) diskutiert werden. Zudem kann es nicht das Ziel sein, dass Analysen nur als Vorspiel auf das Finden von Deutungen hinauslaufen. Vielmehr kann die Analyse als Hauptaufgabe dazu genutzt werden, Deutungshypothesen zu prüfen. In Analogie zu Köster (2016: 54) ein Beispiel dafür: Der Totentanz ist ein Motiv, dass seit dem Mittelalter zum Gruseln bringen soll. Überprüfe anhand 4.3 Balladen analysieren und interpretieren 81 <?page no="82"?> der Ballade „Der Totentanz“ von Goethe, inwiefern es sich hier um eine Geisterballade handelt. Es soll mit derartigen Aufgabenstellungen vermieden werden, dass die Schüler: innen versuchen, dem Text allgemeines Kontextwissen (z. B. zur Gattung) zuzuschreiben, das zwar grob zum Text passt, aber nicht dessen individuellen Besonderheiten gerecht wird. Es greift zudem das Problem auf, dass Analyse und Interpretation entweder zu stark auseinanderdividiert werden, sodass nur Teilaussagen getroffen werden können ohne ein schlüs‐ siges Konzept herzustellen; oder ein zu enger Zusammenhang zwischen Form und Inhalt hergestellt wird, der in dieser Form im Einzelfall wiederum nicht vorliegt (was z.-B. bei modernen Balladen sehr häufig der Fall ist). Interpretationshypothesen lassen sich demnach weniger aus der Analyse (die v. a. nachträglich-prüfende Funktionen übernehmen kann) gewinnen. Vielmehr kann aus Formulierung von Leseeindrücken, Assoziationen im Rekurs auf Gattungswissen und Aktivierung weiteren Kontextwissen eine individuelle Sinnhypothese gewonnen werden. Um Lernenden diese Opera‐ tionen zu erleichtern, wird sich im literaturdidaktischen Diskurs dafür stark gemacht, eine oder mehrere Sinnaussagen oder Kontextualisierungen zur Prüfung von Interpretationsleistungen vorzugeben (vgl. das obige Beispiel zum Totentanz), da so ein kommunikativer Rahmen vorgegeben ist. Für Interpretationen oft zur Kontextualisierung herangezogenes Wissen (z. B. weitere Materialien), was nicht aus dem Verstehenskontext erschlossen werden kann, ist dabei nur sparsam einzusetzen, da es zunächst ebenfalls verstanden und integriert und dann noch mit diesem verbunden werden muss (Zabka 2010: 84). Im Fall der in Kapitel 5 vorgestellten Beispiele ist z. B. fragwürdig, inwieweit der von Thomas Kling explizit in der Ballade artikulierte Kontext des Berliner Totentanzes zu St. Marien zum Verstehen des Textes beiträgt bzw. dieser Bezug mit zusätzlichen Informationen vertieft werden sollte. Förderlich in Hinblick auf die Fokussierung erscheinen jedoch Interpre‐ tationsaufgaben, ▸ die von einer Textstelle bzw. einem gedanklichen Kern ausgehen, ▸ Textaspekte auf den gesamten Text beziehen, ▸ inner- oder intertextuell vergleichen, ▸ Adaptionen in anderen Medienformaten vergleichen, ▸ Figurencharakteristiken oder Werthaltungen thematisieren, ▸ literarische Erörterungen (Entscheidungen und Entwicklungen werten etc.) darstellen. 82 4 Balladendidaktische Grundlagen <?page no="83"?> Für den interpretatorischen Textvergleich kann neben immer wieder auch zu problematisierenden Gattungs- und Epochen-Bezügen auch ein inhaltli‐ ches Konzept vorgegeben werden. So kann im Vergleich von „Max Muster‐ mann“ von Blumentopf mit „Kurzgefasster Lebenslauf “ von Erich Kästner geprüft werden, ob und auf welche Weise Kritik an einem geradlinigen Le‐ bensweg, Optimierung von Biografien bzw. bürgerlichen Lebensentwürfen geübt wird. Im Hinblick auf die Bewertung schriftlicher Interpretationsleistungen sollte trotz aller vereinfachten Formulierungen inhaltlicher Erwartungen in den Erwartungshorizonten nicht der Inhalt des Interpretationsresultats sondern das Niveau der schriftlichen Erprobung bzw. Überprüfung ange‐ messener Interpretationsmöglichkeit(en) ausschlaggebend sein (vgl. Zabka 2010: 86). Kammler (2012) betont, dass in den derzeitigen zentralen Leis‐ tungsüberprüfungen v. a. inhaltsreproduzierende Lösungen, jedoch nicht das Textganze oder deutungsoffene Symbolinterpretationen in den Blick genommen werden. Er schlägt mit Berger vor, in nichtzentralisierten Leistungssituationen v. a. gestufte Aufgabenformate zu erproben, die (in‐ haltsreproduzierende) Testformate und (wertende) Interpretationsanteile voneinander trennen und überprüfen. Literatur zur Vertiefung A B R A H A M , Ulf (1994). Lesarten - Schreibarten. Wiedergabe und Besprechung literari‐ scher Texte. Stuttgart: Klett. P H I L I P P , Maik (2015). Schreibkompetenz. Komponenten, Sozialisation und Förderung. Tübingen: Francke. R O E D E L , Michael (2016). Interpretationsaufsätze schreiben: Ein Handbuch. Baltmanns‐ weiler: Schneider Hohengehren. L Ö S E N E R , Hans (2009). „Gedichtanalyse als didaktisches Problem. Gibt es eine Alter‐ native zur Form-Inhalt-Interpretation? “ In: Haueis, Eduard / Klotz, Peter (Hrsg.). Ästhetik der Sprache - Sprache der Ästhetik (=-OBST, Bd.-76), 85-105. Online unter: http: / / sprachtheorie.de/ wp-content/ uploads/ 2014/ 06/ obst7607loesener.pd f (12.01.2019). 4.3 Balladen analysieren und interpretieren 83 <?page no="84"?> 4.4 Balladen werten Carolin Führer In den Bildungsstandards der allgemeinen Hochschulreife ist festgelegt, dass literarische Texte auf der Basis von nachvollziehbaren, sachlich fundierten Kriterien zu bewerten und dabei auch textexterne Bezüge wie Produktions-, Rezeptions- und Wirkungsbedingungen zu berücksichtigen sind (KMK 2012: 19). Die Wertung von Balladen ist dabei nicht nur gezielt zu fokussieren, sondern erklärt sich aus ihrer Rezeptionsgeschichte und Struktur: Balladen haben in der Geschichte des Literaturunterrichtes eine lange Tradition und sind aufgrund ihrer inhärenten Wertkonzepte z. T. didaktisch instrumentalisiert worden. Daher eignen sie sich in besonderer Weise, Wertungskompetenz zu schulen. Wertungen im Umgang mit Texten werden nur selten bewusst wahrgenom‐ men, obwohl die Wertung als eine starke Komponente der Rezeption, des literarischen Lernens und der literarischen Sozialisation bezeichnet werden kann. Das Ziel im Umgang mit Balladen besteht somit in der Schärfung der Wahrnehmung von Wertungen und deren Differenzierung. Dass Balladen starke Gefühle hervorrufen können, liegt an den emotio‐ nalen Beteiligungsmöglichkeiten, die Inhalte und Darstellungsweisen über Atmosphären, Gefühle und Motivationen erzeugen. Begibt man sich in den literarischen Raum, so nimmt man diesen nicht als objektive Gegebenheit wahr, sondern erfährt ihn stimmungsmäßig getönt - beispielhaft sind hier besonders die Balladen im Kapitel 5, die im Themenbereich Geheimnisvolles und Übersinnliches aufgeführt werden. Die hier entstehende unheimliche Atmosphäre ist ein diffuses Erlebnis, das auf den ersten Blick oftmals keinen unmittelbaren Auslöser zu haben scheint und sich quasi automatisch zwischen Leser: in und Text einstellt. Es gilt, im didaktischen Kontext dafür zu sensibilisieren, wie diese Atmosphären bei der Lektüre entstehen, wovon sie abhängen und welche Funktionen ihnen innerhalb der jeweiligen Ballade zukommen. Eine Sensibilisierung beginnt beispielsweise damit, dass Schüler: innen im Normalfall nicht zögern, Figuren Gefühle zuzuschreiben, als wären sie Personen mit einer komplexen Psychologie in einer sozia‐ 84 4 Balladendidaktische Grundlagen <?page no="85"?> len Situation. Dass diese Gefühle des Balladenpersonals allerdings nicht ohne die des Lesers/ der Leserin denkbar sind, kann durch eine Analyse der Ausformung der erlesenen Gefühle erarbeitet werden, ebenso ihre (z. T.) unterschiedlich (wahrgenommenen) Intensitäten und Qualitäten. Dazu können Schüler: innen ihre Wertungen zum Ersteindruck notieren und mit denen nach der intensiven Lektüre vergleichen, Ersteindrücke können in Kleingruppen-Lesegesprächen untereinander verglichen werden usw. Hierbei können Schüler: innen Wertungen anderer nachvollziehen lernen und erfahren, dass die Ebene des in einem Text Dargestellten (lnhalt) von der Ebene der literarischen Darstellung (Gestaltung) zu unterscheiden ist. Auch ist es möglich, über Antizipationsimpulse dem Leser/ der Leserin ihre Abhängigkeit von Atmosphären- und Gefühlserlebnissen deutlich zu machen, z. B. durch Ausformulierung von Wünschen zum möglichen Fortgang der Handlung oder die Entwicklung des Protagonisten (Balladen bieten sich mit ihrer Dramatik und z. T. strukturellen Wendepunkten in besonderer Weise an: Was soll mit dem Kind im „Erlkönig“ geschehen? Was wünschst du Felix Fliegenbeil, wenn er ohne Seil bzw. Draht balanciert? ). Hier kann Schüler: innen deutlich werden, dass sie sich nach einem glimpf‐ lichen Ausgang sehnen, ein glückliches Ereignis für die Hauptfigur oder die Bestrafung des Bösewichts herbeiwünschen und ihre Wertungen sie einer bestimmten ‚sozialen Gruppe‘ zuordnen, indem ähnliche Wünsche auf gemeinsame Wertnormen verweisen. Wichtig ist hier auch, dass Schü‐ ler: innen zunehmend dazu befähigt werden, diese Werturteile sprachlich zu differenzieren und nicht nur - wie in der medialen Alltagswelt der Lerner: innen üblich - positiv oder negativ zu werten. Abb. 4.2: ‚gefällt mir‘-Icons von Facebook Dies kann durch einen Vergleich inhaltlich ähnlicher Balladen erfolgen („Kurzgefasster Lebenslauf “ und „Max Mustermann“), zu denen die Wer‐ tungsstufen identifiziert und benannt werden sollen. Aber auch ein Aus‐ 4.4 Balladen werten 85 <?page no="86"?> tausch zu Wertungsveränderungen über sprachliche Änderungen in einer Ballade (z.-B. „Sachliche Romanze“; „Metonymie, wir“) im Rahmen operati‐ ven Schreibens kann hier explizite und implizite Wertungen zu Tage fördern. Wenn beispielweise eine Ballade als spannend o. ä. wahrgenommen wird, so können diese Wertausdrücke Wirkungen beschreiben, die auf bestimmten Wertmaßstäben beruhen. Diese sichtbar und explizierbar zu machen, kann auch durch das Schreiben wertender Texte angeregt werden (Rezension, Empfehlung, Kritik etc.). Damit im Zusammenhang steht auch das Wechselverhältnis zwischen Werten und Verstehen: Das Verstehen steuert die Wertung, die Wertung steuert das Verstehen (Zabka 2013). Im Fall von Balladen kann dies beson‐ ders gravierend sein, denn ihre Sprache und Dramatik evozieren starke Wertungen und Gefühle, die Themen und Motive sind jedoch oft zeitbezogen verhandelt, sodass ein Ausgehen von individueller Moral den Lern- und Rezeptionsprozess verhindern kann. Wenn Schüler: innen aufgrund der ei‐ genen positiven Besetzung von ‚Zuhause‘ und ‚Heimat‘ nicht wahrnehmen können, warum der „Knabe im Moor“ nicht sofort weiter zum heimischen Licht eilt, sondern sich umdreht und verweilt, hilft es, für die spezifischen Zeitbezüge sensibel zu machen, indem beispielweise Kontexte zur Kind‐ heit im 19. Jahrhundert thematisiert werden. Es ist jedoch auch denkbar, dass Schüler: innen sich aufgrund der starken Alterität der Texte (sei es sprachlich und/ oder lebensweltlich) diesen verwehren, das heißt, bereits negativ „bewerten“, bevor ein Verstehen beginnen kann. Das in diesem Band anvisierte kontextorientierte Lernen kann hier Wege des Verstehens anbahnen: Möglicherweise haben Lerner: innen eines 8. Jahrgangs bezogen auf das o. g. Beispiel nicht grundlegend Lust, sich mit dem Verhältnis von Mensch und Natur in anderen Zeiten auseinanderzusetzen. Ein Bezug zu sinnstiftenden Inhalten ihrer Umgebung - ohne Differenzen zu nivellieren - kann hier jedoch ein anderes Bewusstsein und damit Problemlösebzw. Leseverhalten anbahnen. Auch können Schüler: innen dafür sensibilisiert werden, wie einzelne Balladen in unterschiedlichen Zeiten rezipiert wurden - dies bietet sich für einige kanonische Balladen an, indem instrumentali‐ sierende Interpretationen vorgelegt, oder Werturteile diskutiert werden. Schließlich kann zu unterschiedlichen Balladen ein stärker oder geringer ausgeprägtes Lektüreinteresse begründet werden. Hinweis: Die Wertung von Balladen scheint fast noch bedeutsamer als für andere literarische Texte. Balladen sind Texte, die durch Struktur und Inhalt Leser: innen in besonderer Weise zu einer Positionsbestimmung „zwingen“. 86 4 Balladendidaktische Grundlagen <?page no="87"?> Die darin beschriebenen Konflikte können Moral- und Wertdiskussionen herausfordern, die einerseits eine emotionale Parteinahme evozieren, ande‐ rerseits durch die starke historische Gebundenheit der jeweiligen Themen und Motive zugleich auch wieder relativieren. Ziel ist eine Kultur des Wertens, in der die Texte in ihrer Vielfältigkeit entdeckt und differenziert wahrgenommen sowie fremde Wertungen toleriert werden. Literatur zur Vertiefung B R E N D E L -P E R P I N A , Ina (2019). Literarische Wertung als kulturelle Praxis. Kritik, Ur‐ teilsbildung und die digitalen Medien im Deutschunterricht. Bamberg: Bamberg University Press. B R ÜG G E N , Niels (2017). Medienaneignung und ästhetische Werturteile. Zur Bedeutung des Urteils „Gefällt mir! “ in Theorie, Forschung und Praxis der Medienpädagogik. München: kopaed. Z A B K A , Thomas (2013). „Literarische Texte werten. Basisartikel“. Praxis Deutsch 241, 4-12. H E I N S , Jochen (2017). „Wertungen wahrnehmen. Mit Wertungen bewusst umgehen - Zugänge zur Literatur ermöglichen.“ Die Grundschulzeitschrift 31 (301), 6-12. 4.4 Balladen werten 87 <?page no="88"?> 4.5 Balladentexte in Bild und Ton Carolin Führer Im Rahmen eines medienintegrativen Unterrichts werden in Folge exemplarisch Herausforderungen und Besonderheiten grafisch und auditiv erzählter Balladen beschrieben. Zunächst bieten derartige Adaptionen in einer heterogenen Klassensituation einen inklusiven Einstieg bezüglich Inhalt und Struktur einer Ballade, mit Blick auf ein vertieftes literarisches Verstehen darf die Komplexität der medialen Verstehensangebote jedoch nicht unterschätzt werden. Die spezifische mediale Verfasstheit ist daher nicht nur im Nachgang der Erarbeitung zu reflektieren, sondern von Beginn an intensiv in die Aneignung der Ballade einbeziehen. Balladen grafisch erleben Bilderbücher, Comics und Graphic Novels gelten im Lese- und Literaturunterricht nach wie vor als „Brückenmedium“ - als Leseförderinstrument um zum Lesen „richtiger“ Literatur (mit viel schriftsprachlichem Text) zu kommen oder zur geschlechtsspezifischen Motivation. Dahinter stehen Vorstellungen schneller und leichter Unterhaltung, die speziell den jüngsten Publikationen grafischer Balladenliteratur nicht gerecht werden. Vielmehr könnte man diese auch als eine printbasierte Vorbereitung auf die nichtlinearen Texte des Internets betrachten, denn sie sind ähnlich wie Hyper‐ texte mit ihrer Text-Bild-Botschaft komplex aufgebaut und fordern die Antizipation von Bild und Text heraus. Darüber hinaus müssen in sogenannter grafischer Literatur Text und Bild so miteinander integriert werden, dass z. T. auch widersprüchliche und/ oder unbestimmte Informationen sowie aufeinanderfolgende (auch inkohärente) Informationen und Offenheiten miteinander in Verbindung gebracht wer‐ den müssen. Widersprüche und Leerstellen entstehen in diesem Rezeptionszusammenhang auch dann, wenn für die Bilder keine Referenzen im ikonischen Gedächtnis vorhanden sind (Unbestimmtheiten des Bildes) oder die Leerstellen zwischen und innerhalb der Bildfolgen weit sind und daher neben dem Sichtbaren eines pictures auch das Nichtsichtbare des images 88 4 Balladendidaktische Grundlagen <?page no="89"?> (z.-B. durch Imagination, Kenntnis kultureller Konventionen) entscheidend zur Rezeption beiträgt (vgl. Dehn 2008). Bezüge müssen dann durch eigene Erfahrungen, Imagination, Affektivität usw. hergestellt werden. Speziell in postmodernen Bilderbüchern, Comics und Graphic Novels sind häufig nicht nur dem Text, sondern auch dem Bild und einer gesamten Sequenz polyvalente Lese- und Sehangebote eingeschrieben; so kann das Verstehen der Bilder oder der Text-Bild-Beziehungen dann einen ebenso komplexen wie anspruchsvollen Prozess wie das Textverstehen darstellen. Im Fall von Thieles Collagen der Ballade „Die Füße im Feuer“ ist das beispielsweise hinsichtlich der Gefühlsregungen der dargestellten Figuren der Fall - durch das Zusammensetzen verschiedener Schnipsel entsteht eine Physiognomie, die für den Betrachter oft nicht eindeutig entzifferbar ist und damit die Perspektivübernahme zu Gast und Gastgeber möglicherweise erschwert. Eine bloße Begegnung dieser Unbestimmtheiten mit kreativen Aufgaben führt dazu, dass die Erschließung zu einer rein subjektiven Leistung wird. Wichtig ist jedoch, darüber hinaus im Unterricht ein Spannungsverhältnis zwischen diesen individuellen Rezeptionsvorgängen und den literarischen und künstlerischen Konventionen aufzubauen. Comics haben hier den Vorteil, dass sie Lektüre (vor-)strukturieren: Pik‐ togramme, Typographien, Konturlinien von Denk- und Sprechblasen sowie die Anordnung und Umrandung der einzelnen Panels sind kulturell enko‐ dierbar und können eingeübt werden (vgl. Unterrichtshilfe „Bildsprache in Comics und Graphic Novels erkunden“) um Verstehen zu befördern. Mögliche Interdependenzen zwischen Text und Bild können durch ko‐ gnitiv schlussfolgernde Operationen im Unterricht bewusst angesteuert werden, z. B. indem eine Abfolge von Ereignissen durch wiederkehrende Elemente wie Figuren, Gegenstände oder Räume rekonstruiert werden. Speziell die comicspezifische Zeichensprache (dazu gehören u. a. auch Soundwörter usw.) leitet und lenkt Gefühle bereits während der Rezeption und evoziert damit eine Wertung (vgl. Führer 2016). Diese rezeptionsimma‐ nenten Wertungen kann man in einem gesprächsförmigen Lernarrangement anregen: z. B. durch Vorlese/ Seh-Gespräche unter Leitung wie im Fall von „Herr von Ribbeck“ in der Primarstufe, oder mittels Lesegesprächen mit Gleichaltrigen in der Sekundarstufe (vgl. Unterrichtsbeispiel „Füße im Feuer“, Kap. 5). Kreative Aneignungen/ Produktionen, die vor allem weg von rein schriftbasierten Annäherungen hin zu schreibend-(zeich‐ nenden-)digitalgestaltenden Formaten gehen, und analytische Anteile des Verstehens enthalten (z. B. über die Erstellung von Strukturbildern über 4.5 Balladentexte in Bild und Ton 89 <?page no="90"?> Figurenentwicklungen, zeitliche Abfolgen etc.), schaffen eine Balance aus Gegenstandsorientierung und individueller Anverwandlung. Grafisch erzählende Balladenadaptionen erfordern unterschiedliche so‐ ziale Formen des ‚Schmökerns‘, sodass gemeinsam an der Entwicklung einer basalen Bild- und Lesekompetenz auf der Prozessebene als auch individuell am literarischen Verstehen auf unterschiedlichsten Lernniveaus gearbeitet werden kann (vgl. Unterrichtsvorschläge zu „Herr Ribbeck im Havelland“, „Die Füße im Feuer“, „Felix Fliegenbeil“ uvm.) Erweitert werden sollte das didaktische Spektrum dann um performative bzw. theatrale Auseinan‐ dersetzungen zu intermedialen Formaten, z. B. in Form von szenischen Lesungen zu grafischer Literatur. Denn auch wenn eine Bilderbuch-/ Comic- Lesung oder Aufführung eine Leichtigkeit zu sein scheint - die oben beschriebenen inter- und innermodalen Inkongruenzen lassen genügend imaginativen Raum für eine durch den Rezipienten bzw. die Rezipientin geschaffene eigene Lesemodalität (ausführlicher dazu Führer 2017) und tragen auch zu einem intensiven Bewusstsein für Intermedialitäten bei. Balladen auditiv erleben Lyrische Texte werden heutzutage auf der Bühne gesprochen und aufgeführt - in Lesungen und Spoken-Word-Events -, sie werden von den Dichter: in‐ nen oder von professionellen Sprecher: innen im Tonstudio eingesprochen, manchmal werden sie auch mit Musik oder Sounds unterlegt. Neben der klassischen Publikation in Buchform werden Balladen auch auf CDs und DVDs distribuiert, als popkulturelle ‚Poetry Clips‘ oder künstlerische ‚Video Poems‘ inszeniert. Gegenwartslyrik findet sich darüber hinaus auch als digitale Poesie, die Schrift- und Soundelemente experimentell einsetzt. So kann es im Unterricht nicht allein um die Frage des Übersetzens schriftlicher Parameter wie Verse, Strophen und Interpunktion in körperlich-stimmliche Präsenzen gehen, sondern um das grundlegende Wechselverhältnis von schriftlicher und mündlicher Modalität. Denn eine Ballade wie die von Lars Ruppel (Kapitel 5.3., „Holger die Waldfee“) wird bei einem Live-Auftritt innerhalb eines Poetry Slams durch das Veranstaltungsformat (mehrere Slammer: innen, Wettbewerbscharakter, Publikumsbewertung etc.) situatio‐ nal gerahmt. Die online gestellten Video-Aufzeichnungen und deren Kom‐ mentierungen auf YouTube zeugen hiervon; eine Aneignung von Balladen, z. B. auch auf modularen Plattformen wie www.lyrikline.org, muss in diesem Sinne auch als performativer Akt verstanden werden. 90 4 Balladendidaktische Grundlagen <?page no="91"?> 6 Zum Beispiel unter https: / / www.vorleser.net/ , www.lyrikline.org (12.02.2019). Der Begriff des „Hörbuches” bleibt durch die Buchmetapher der print‐ medialen Perspektive verpflichtet und erfasst den Eigenwert auditiver Medientexte begrifflich nicht wirklich. Der Begriff des Hörtextes meint in der Regel nur die gespeicherten und mithilfe technischer Reproduktionsgeräte (Schallplatte, Kassette, CD, MP3-Player etc.) rezipierbaren Formen auditiver Texte. Mit Jutta Wermke (vgl. 2007) sind zwei Grundtypen von Hörtexten zu unterscheiden: Lesung und Hörspiel. Bei der Lesung wird eine printmediale literarische Vorlage zumeist nur mit der Stimme erschlossen. Die Lesung bezieht ihren Reiz aus der Stimme des Sprechers, der mit ihr dem Text und den Figuren Leben verleiht. Die wichtigsten Gestaltungsmittel sind Artikulation, Sprechmelodie, Lautstärkewechsel, Tempo und Pausen. Das literarische Hörverstehen - wie der Leseprozess - ist ein Rekonstruk‐ tionsprozess, ein Dialog zwischen Hörer: in und Gehörtem, an dessen Ende ein mentales Modell des Gehörten steht, eine plausible Interpretation. Im Internet findet man eine Vielzahl verschiedener Lesungen 6 , aber auch Verlage vertreiben derartiges (z. B. Hörtexte von Lutz Görner, aber auch Sylvia Schopf: Wer reitet so spät durch Nacht und Wind - Balladen für Kinder erzählt im Igel-Records-Verlag). Diesen Hör-Lesungen kann man sich selbstverständlich aus einer vergleichenden ästhetischen Perspektive zu Fragen der Atmosphäre, Interpretation usw. annähern. Im Hinblick auf einen differenzsensiblen Unterricht sei aber darauf verwiesen, dass bereits das Verfügen über Sprachmuster zur Beschreibung der o. g. Phänomene und die Wahrnehmung dieser ästhetischen Unterschiede nicht allen möglich ist. Das Potential von Hörlesungen liegt also auch darin, besonders schwachen Lesern oder Leserinnen ein literarisches Verstehen und ästhetisches Erleben von Balladen zu ermöglichen, das textbezogene Zugänge alleine verwehren. Gailberger (2011, 2013) hat beispielweise gezeigt, dass ein simultanes Lesen und Hören von Buch und Hörtext die Leseflüssigkeit, Imaginationsfähigkeit und damit einhergehend die Lesemotivation der Schüler: innen fördert. Beim Mit-Lesen von Hörtexten (nicht Hörspielen! ) kann während des Unterrichts ein Hörtext in angenehmer Zimmerlautstärke abgespielt wer‐ den, sodass die Schüler: innen leise ihre eigenen Balladentexte mitlesen können. Durch regelmäßige stille Lesezeiten mit den Hörtexten (z. B. im Rahmen von Balladenwerkstätten oder häuslichem Hören) kann das Kind auf der Ebene kognitiver Lesefähigkeiten die Fähigkeit zum Dekodieren verbessern, Automatisierungen des Leseprozesses vorantreiben und ein 4.5 Balladentexte in Bild und Ton 91 <?page no="92"?> Bewusstsein für angemessene Lesegeschwindigkeit und -intonation entwi‐ ckeln. Das Mit-Lesen eines Hörtextes mit verschiedenfarbigen Stiften, mit denen lokale (Absatzebene) ebenso wie globale Kohärenzen (über Absätze hinaus) markiert werden, hilft, die roten Fäden eines Textes nachzuverfolgen. Bei der Hörlektüre einzelner Balladen ist der Nutzen v. a. im Bereich des literarischen Lernens zu sehen, z. B. indem die kognitive Entlastung vom Leseverstehensprozess Ressourcen für das inhaltliche Verstehen der Balladen schafft, sodass eine Imagination der dargestellten Inhalte möglich wird, die Schüler: innen sich in Figuren einfühlen können usw. Durch die auditive Inszenierung des Balladentextes ist es zudem möglich, z. B. auch Schüler: innen mit einem nichtmuttersprachlichen Hintergrund Zugänge zur Ballade zu verschaffen: Stimmungen können auch mit geringer Sprach‐ kenntnis erfasst werden. Zudem kann man bei allen Schüler: innen eine emotionale Involvierung und sinnliches Erleben zum Gegenstand befördern, wenn ein stimmlich ansprechender und adäquater Hörtext ausgewählt wurde. Besonders bei Gegenwartslyrik, die stark mit dem Klang der Sprache arbeitet (vgl. Gomringers „Und es war ein Tag“, Kap. 5.4). So kann hier eine Rezitation der Autorin bzw. der Hörtext die Konzentration auf die Klang- und Sprachwahrnehmung befördern. Während sich die Hörtext-Lesung am Buch orientiert, ist das Hörspiel durch eine Dramatisierung der Vorlage gekennzeichnet - sofern eine Vorlage vor‐ handen ist. Gegenüber der Lesung kommt beim Hörspiel als weiteres Element der ästhetischen Gestaltung die Vielzahl an Stimmen und Figuren hinzu, die miteinander interagieren. Geräusche, Klänge, akustische Effekte und Musik werden benutzt, um die Spielhandlung zu veranschaulichen. Hier bietet v.-a. der intermediale Vergleich von literaler Vorlage und Hörfassung wichtige Erkenntnismöglichkeiten. Untersucht werden kann mit Schüler: innen, ob die Textvorlage im Hörtext verändert wurde, ob es Kürzungen, Ergänzungen oder Wiederholungen von Textpassagen gibt, wie viele Vorlesende beteiligt sind, ob Erzählerkommentare eingefügt sind oder musikalische oder andere auditive Rahmungen oder Untermalungen gewählt wurden etc. Wenn es mehrere Hörfassungen zu einer printmedialen Vorlage gibt, lassen sich die unterschiedlichen auditiven Interpretationen natürlich gut miteinander vergleichen (vgl. z.-B. zum „Zauberlehrling“ Schilcher 2004: 27 ff.) Zu denken ist auch an Unterbrechungen einer Hörbuch- oder Hörspiel‐ rezeption, um Schüler: innen produktiv-kreative Anschlusshandlungen zu ermöglichen - durch das Schreiben einer Fortsetzung, das Nach- oder 92 4 Balladendidaktische Grundlagen <?page no="93"?> Weiterspielen des gehörten Textauszuges etc. Die Schüler: innen könnten auch selbst auditive Formate erstellen, indem sie ▸ eine Hörfassung zu einer literalen Textvorlage gestalten, beispielsweise, indem sie den Text stimmlich erschließen, ▸ einen Balladen-Audioguide erstellen (vgl. Anders/ Löhden 2014) oder ▸ eine literarische Vorlage szenisch gestalten und enstsprechend in ein Hörspiel verwandeln (vgl. Ausführungen zum „Totentanz“ von Goethe, Rilke und Kling, Kap.-5.2.). Außerdem ergeben sich nach der Beschäftigung mit Hörtexten vielfältige Anschlussmöglichkeiten, die auch andere Kompetenzen fördern: Schreibim‐ pulse (z. B. Rollenbiographien, Rezensionen, „Schreibgespräche“), szenische Umsetzungen von Schlüsselpassagen (szenisches Spiel), kleine Video-Pro‐ duktionen, und schließlich auch Vergleiche der eigenen Arbeit mit profes‐ sionellen Medialisierungen. - Literatur zur Vertiefung A N D E R S , P E T R A / L ÖH D E N , M AI K E (2014). Barocklyrik mit Audioguides erschließen. Praxis Deutsch 245, 48-55. A B R A H A M , Ulf / S O WA , Hubert (2016). Bild und Text im Unterricht. Seelze: Klett/ Kallmeyer. H O F F M A N N , Jeanette (2015). „Graphic Novels als Einladung zum Lesen, Sehen und Imaginieren“. In: Dehn, Mechthild / Merklinger, Daniela (Hrsg.). Erzählen - vorlesen - zum Schmökern anregen (=-Beiträge zur Reform der Grundschule, Bd.-139). Frankfurt a.M.: Grundschulverband, 209-222. K R U S E , Iris (2010). „Das Vorlesen lernförderlich gestalten. Astrid Lindgrens Märchen ‚Sonnenau‘ - Ein Unterrichtsbeispiel zum ‚Höreraktivierenden Vorlesen‘“. Grund‐ schulunterricht Deutsch 1, 18-22. M ÜL L E R , Karla (2012). Hörtexte im Deutschunterricht. Poetische Texte hören und sprechen. Seelze: Klett/ Kallmeyer. 4.5 Balladentexte in Bild und Ton 93 <?page no="94"?> 4.6 Balladen in neuen medialen Formaten Juliane Dube Überwiegend dem Bereich Lesen und Schreiben bzw. Rechtschreiben zugeordnet, besitzen multimediale Texte in den Bildungsstandards der KMK und den Lehrplänen der Länder inzwischen einen festen Platz. Damit berücksichtigt die Bildungspolitik die sich zunehmend verändernde (Medien-)Sozialisation heutiger Heranwachsender auch in den schulischen Curricula. Auf dieses veränderte Nutzungsverhal‐ ten haben inzwischen auch die Verlage reagiert und bieten neben dem klassischen Printmedium viele weitere Medienformate an. So gibt es beispielsweise zu beliebten Kinderbüchern inzwischen Comics, diverse Tonträger, (Comic-)Filme, Computerspiele, Literatur-Apps und vieles mehr, deren Einbindung in den Deutschunterricht systema‐ tischer Überlegungen bedarf, um qualitativ hochwertige und gegen‐ standsangemessene medienintegrative Lernarrangements zu konstru‐ ieren. Gleiches gilt für Balladen, die insbesondere in ihren klassischen Formen vielfach medial verarbeitet, adaptiert oder erweitert wurden bzw. werden. Angesichts des multimedialen Alltags von Heranwachsenden haben sich auch die Ziele des Deutschunterrichts im Umgang mit neuen Medien ver‐ ändert. Wurden Schüler: innen anfänglich noch als passive Opfer betrachtet, die vor den neuen Medien bewahrt werden sollten (vgl. Wildemann/ Vach 2015), ist es nun das Ziel, sie zu kompetenten Medien-Nutzer: innen zu erziehen und sie in der selbstbestimmten Wahrnehmung kultureller, sprach‐ licher, literarischer sowie medialer Vielfalt zu unterstützen (vgl. KMK 2004). Entsprechend Dieter Baackes Konzept von Medienkompetenz, auf das sich letzlich alle nachfolgenden Modelle zurückführen lassen ( Jarren / Wassmer 2009, 48), bedeutet dies, bei den Lernenden die Fähigkeit auszubilden, „Medien und die dadurch vermittelten Inhalte den eigenen Zielen und Bedürfnissen entsprechend effektiv nutzen zu können“ (Baacke 1997: 1). Später ausdifferenziert umfasst Medienkompetenz nach Baacke (1999: 34) zwei Dimensionen und vier Fähigkeiten: 94 4 Balladendidaktische Grundlagen <?page no="95"?> ▸ Dimension der Vermittlung - die Fähigkeit, Medien kritisch zu untersuchen und kritisch zu nutzen (Medienkritik). - das Wissen über heutige Medien und Mediensysteme sowie deren Bedienung (Medienkunde). ▸ Dimension der Zielorientierung - die Fähigkeit, Medien zu rezipieren und anzubieten (Mediennut‐ zung). - Medien innovativ, aber auch kreativ weiterzuentwickeln (Medi‐ engestaltung). Auf den Versuch von Baacke Medienkompetenz zu konzeptionalisieren, folgten Adaptionen für die Nutzung des Internets im Allgemeinen (Kuz‐ minykh 2009) und für spezifische digitale Textformate wie das Computer‐ spiel (Kepser 2012) im Besonderen. Ausdifferenzierungen aus dem Bereich der Deutschdidaktik sind das Medienkompetenzmodell von Norbert Groe‐ ben (2006) mit sieben Dimensionen und das Modell zur „digitalen Text‐ kompetenz“ (Frederking/ Krommer 2019), welches zehn Teilkompetenzen beschreibt, die zum Rezipieren und Produzieren digitaler Texte in ihrer multimodalen, symmedialen, hypermedialen, interaktiven und diskursiven Strukturiertheit und zur Erfassung ihrer spezifischen Intentionalität, Funk‐ tionalität und Rekursivität benötigt werden (Frederking/ Krommer 2019, 2). Für die Grundschule sei an dieser Stelle zusätzlich auf das didaktische Stufenmodell von Karin Vach (2005) verwiesen, das kognitive, emotionale, ästhetische sowie sozial-integrative Dimensionen und auch technische Fer‐ tigkeiten berücksichtigt. Um jedoch die in den unterschiedlichen Modellen beschriebenen Kompetenzen zu vermitteln, muss sich der Deutschunterricht von seiner oftmals noch vorzufindenden „monomedialen“ Unterrichtspraxis lösen (Frederking 2004: 46). Sein Leitprinzip sollte vielmehr ein symmedialer Einsatz von ‚neuen‘ und ‚alten‘ Medien als „innovative Lese-, Schreib-, Präsentations-, Wissens- und Kommunikationswerkzeuge“ sein, der im stärkeren Maße auf Komplementarität, Integration und Synergie von Kon‐ zepten, Methoden und Materialien zu multimedialen Texten setzt, anstelle eines beliebigen Nebeneinanders (vgl. Frederking/ Krommer/ Maiwald 2012). Hierdurch reagiert der Deutschunterricht nicht nur auf den inzwischen in einer Vielzahl von Studien belegten positiven Einfluss multimedialer Angebote auf die Lernmotivation, sondern erweitert auch das bestehende Angebot an Lerngegenständen und Lernformen. 4.6 Balladen in neuen medialen Formaten 95 <?page no="96"?> Balladen im Medienverbund In diesem Band knüpfen wir nicht nur an die Rezeptionsgewohnheiten der Heranwachsenden an, sondern zeigen Möglichkeiten auf, sich den thematisierten Balladen über vielfältige mediale Darstellungen zu nähern. Das Repertoire hierfür wächst zunehmend. ▸ Hörfassungen (vgl. hierzu 12 schauerliche Balladen der Klassik und Romantik gelesen von Frank Suchland, 2002 [guanako audio] oder Balladen gelesen von Lutz Görner [naxos]). ▸ Bilderbücher (vgl. die Reihe Poesie für Kinder im Kindermann-Verlag oder die Reihe Kerle im Herder Verlag) ▸ Comics und Graphic Novels (alternativ zu kostenintensiven Printver‐ sionen bieten sich auch diverse Online-Comics an, u. a. http: / / www.my comics.de/ comic/ 4443-erlkoenig.html) ▸ Rapsongs, u. a. durch Dopple-U (Rap trifft Klassiker. Balladen einmal ganz anders, 2 CDs erschienen im Schroedel-Verlag) ▸ Kurzfilme (z.-B. www.diebuergschaft.com/ ) ▸ … Multimediale Texte zur Analyse von Balladen Multimediale Texte können eingesetzt werden, um die Analyse balladesker Texte vorzubereiten oder zu vertiefen. Hier kann beispielsweise auf das Schreiben von Hypertexten oder das Erstellen von Poesiefilmen zurückge‐ griffen werden. Beide Lernformen erfordern eine intensive Analyse des literarischen Textes, die durch den Umgang mit neuen Medien noch ver‐ tieft wird. So müssen sich die Lernenden einerseits eine netzwerkartige Textstruktur für das Umschreiben der Ballade in einen Hypertext überlegen und andererseits die Verknüpfung des Textes mit bewegten Bildern, Tönen, Animationen und Grafiken im Rahmen der Erstellung eines Poesiefilms intensiv reflektieren. Hinzu kommt, dass die Fragen geklärt werden müssen, ob Bild- und Tonmaterial der textlichen Illustration dienen oder substitutiv eingesetzt werden sollen und welche Wissensvoraussetzungen, Interessen und Lesegewohnheiten bei den Rezipienten: innen vorausgesetzt werden können (vgl. Baurmann/ Weingarten 1999). Eine weitere Möglichkeit, multimediale und multimodale Texte für einen vertieften Umgang mit Balladen zu nutzen, bietet ihr Einsatz im Rahmen der Vorbereitung von Gedichtvorträgen. Hierbei kann über Lernvideos 96 4 Balladendidaktische Grundlagen <?page no="97"?> einerseits das Auswendiglernen unterstützt werden. Andererseits können Schüler: innen-Beiträge mithilfe einfachster Videotechnik konserviert wer‐ den. Die Aufnahmen bilden dann den Ausgangspunkt für individuelle und gemeinsame Reflexionsgespräche im Hinblick auf Stimmigkeit, Ausdrucks‐ kraft, Tempo, Lautstärke etc. (Kap.-4.11). In den letzten Jahren hat zudem der Einsatz von Webquests besondere Aufmerksamkeit erfahren. Dabei erhalten die Lernenden genau definierte Arbeitsaufträge der Lehrkraft auf einer gesonderten Internetseite und stel‐ len ihre Ergebnisse dann mithilfe von Präsentationsmedien vor. Durch die direkte Anbindung an das Internet werden Zugriffsmöglichkeiten erhöht und das Auffinden von Textstellen erleichtert. Zudem können für die Analyse zusätzliche Informationen zum Autor/ zur Autorin sowie entspre‐ chenden Primärtexte (vgl. hierzu das Projekt Gutenberg-DE) genutzt und damit Deutungsversuche erweitert werden. Multimediale Texte zur Anschlusskommunikation Eine weitere gewinnbringende Form des symmedialen Deutschunterrichts bietet der Einsatz von digitalen und sozialen Medien im Rahmen der Anschlusskommunikation. Abb. 4.3: ZUM-Wiki-Eintrag zum Begriff ‚Ballade‘. Hier können die Lernenden gemeinsam an einer Definition arbeiten. https: / / wiki.zum.de/ wiki/ Ballade (12.02.2019). 4.6 Balladen in neuen medialen Formaten 97 <?page no="98"?> Hierfür werden gegenwärtig vielerorts Wikis eingesetzt (Abb. 4.3), die als virtuelle Kommunikationsräume in Blended-Learning-Szenarien eine weitere Möglichkeit bieten, z. B. selbstverfasste oder umgeschriebene Bal‐ laden im Rahmen kooperativer Schreibsettings intensiv zu thematisieren. So können im Wiki z. B. Textänderungen, Hinzufügungen und Löschungen grafisch und farblich dargestellt werden und es ist genau nachvollziehbar, welche Veränderungen am Text vorgenommen wurden. Das Nebeneinander von document mode, welcher das eigentliche Doku‐ ment bzw. den Text enthält und thread mode, in dem der Text diskutiert wird, ermöglicht zudem ein Wechselspiel von Produkt und Prozess. Die auf diesem Wege entstehenden Diskussionsbeiträge in Form von Ideen, Anmer‐ kungen und Verbesserungsvorschlägen bilden anschließend die Grundlage für Schreibkonferenzen. Zusätzlich bieten aber auch Chaträume und Perso‐ nenseiten Möglichkeiten zur Anschlusskommunikation, manchmal sogar mit dem Dichter persönlich (vgl. die Homepages von Lars Ruppel und Nora Gomringer). Eine mögliche Plattform für die Arbeit mit jüngeren Schüler: innen bie‐ tet die Seite www.mymoment.ch, auf der Kinder und Jugendliche nicht nur eigene Texte verfassen, bearbeiten und im Internet veröffentlichen, sondern auch von anderen Kindern bewerten lassen können. Multimediale Texte zur Differenzierung im Deutschunterricht Der Einsatz von multimedialen Texten empfiehlt sich jedoch auch als Unterstützungsroutine für die individuelle Balladenrezeption im Kontext eines differenzierenden Deutschunterrichts (Kap. 4.7). So lässt sich dem Balladenvortrag nicht nur leichter folgen, wenn der Text printmedial oder digital mitgelesen werden kann, sondern auch wenn die Texte z. B. von der Lehrperson in Hörfassungen umgewandelt und auf unterschiedlichen End‐ geräten, z. B. auf dem Computer oder Smartphone, zur Verfügung gestellt werden (Kap. 4.10 und Kap. 4.11). Zudem können die bereits angesprochenen Kurzfilme, wie sie zu den klassischen Balladen teilweise in Internetportalen zu finden sind oder die Vielzahl von Bilderbüchern einen anderen Zugang zum literarischen Gegenstand bieten. 98 4 Balladendidaktische Grundlagen <?page no="99"?> Ein Kurzfilm zur Ballade „Erlkönig“ findet sich unter: http: / / www.bing .com/ videos/ search? q=erlk%c3%b6nig&&view=detail&mid=73D36F3B 9A59C1FFB77E73D36F3B9A59C1FFB77E&FORM=VRDGAR Formen der Differenzierung können durch den Einsatz digitaler Medien jedoch auch am Text selbst vorgenommen werden. Ein Beispiel hierfür ist die Gestaltung der bereits erwähnten Hypertexte sowohl durch die Lehrperson als auch durch die Lernenden, in denen heute kaum noch verwendete Worte und Redewendungen gleich mit einem entsprechenden Beitrag in einem Wörterbuch oder Kontextinformationen zum Autor oder literaturgeschichtlichen Hintergrund verlinkt sind (Kap.-5.3.3). Zahlreich sind die Anregungen, die sich in Praxiszeitschriften und -hand‐ büchern (vgl. u. a. Anders 2013) und Internetforen zur multimedialen Um‐ setzung von Texten finden. In den wenigsten Fällen sind dafür umfangreiche technische Fertigkeiten auf Seiten der Lehrenden oder teuer gestaltete Medienumgebungen vorausgesetzt. Meist reichen schon die klassischen Funktionen der Kamera und des Diktiergerätes auf dem Smartphone oder Tablet. Apps wie MadPad und iMaschine unterstützen hier die Aufnahme und das Abspielen von ausgewählten Klängen. Software zur Erstellung von Videosequenzen auf dem Computer gibt es inklusive niedrigschwelliger Einführungen zur Nutzung z. B. auf YouTube (Filme erstellen mit Windows Live Movie Maker. Dauer: 14 Minuten, https: / / www.youtube.com/ watch? v=_nR97ROMG8s) oder als kostenlose Downloadangebote, z. B. Windows Live Moviemaker oder iMovie. Auch beim Wiki-Schreiben ist der technische Aufwand eher gering gehalten. So sind die meisten Wiki-Dienste frei zugänglich, lassen sich ohne Codekenntnis editieren und können sogar kostenlos angelegt werden (vgl. Zentrale für Unterrichtsmedien im Internet, ZUM-e.-V.). Unabhängig davon, wie multimediale Texte in ein Lernarrangement zu Balladen eingebunden werden, erweitern sie in jedem Fall die im Deutsch‐ unterricht herkömmlich eingesetzten Texte um auditive, audiovisuelle und multimediale Textformate und bieten damit eine Chance, Kinder und Ju‐ gendliche für das Lesen von Balladen zu begeistern und ihre Medienkompe‐ tenz und -reflexion zu intensivieren. Die wachsenden Anforderungen an die Lernenden, die mit einem multimedialen Lernarrangement verbunden sind, 4.6 Balladen in neuen medialen Formaten 99 <?page no="100"?> werden bisher jedoch kaum thematisiert. Dies ist umso bemerkenswerter, weil die neuen Textformate in Verbindung mit Fix- und Bewegtbildern sowie mit Grafiken und Schaubildern, aber auch der Aufhebung des modu‐ laren Aufbaus zur kognitiven Überlastung führen können (vgl. Ballstaedt 2005,). Folglich empfiehlt es sich, die Ballade zunächst nur monomedial (z. B. ohne Printtext) zu präsentieren und anschließend Schritt für Schritt weitere Medienformate sowohl zur Initiierung von Rezeptionsals auch Produktionsprozessen hinzuzuziehen (vgl. Anders 2013). Der Mangel an jenen Beiträgen ist ggf. auf die Tatsache zurückzuführen, dass die an die Arbeit mit multimedialen Texten gebundenen Chancen vielfach nicht genutzt werden konnten (vgl. Kerres 2003). Der Einsatz von multimedialen Texten erhöht demzufolge zwar die Wahrscheinlichkeit, intensivere Lernprozesse zu gestalten, jedoch existiert „keine zwangsläufige Beziehung zwischen dem Besitzen eines Computers, dessen Nutzung und den Lern-Outcomes“ (Hattie 2013: 261). Für den Einsatz von multimedialen Texten ist es daher umso wichtiger, die bisherigen Erkenntnisse bei der Unterrichtsgestaltung zu berücksichtigen. So zeigt die von Hattie durchge‐ führte Meta-Analyse zum Einsatz von neuen Medien (vgl. ebd.), dass diese zu einem besseren Lernen führen, wenn ▸ es eine Vielfalt an Lernstrategien gibt (z. B. ein Angebot an printmedia‐ len und digitalen Texten), ▸ ein Vortraining zur Nutzung von Computern als Lehr- und Lernwerk‐ zeug absolviert wurde, ▸ multiple Lerngelegenheiten existieren (z. B. Lernen an und mit neuen Medien). - Literatur zur Vertiefung B E IẞW E N G E R , Michael (2012). „Kompetenzen für das Schreiben mit webbasierten Schreibtechnologien“. In: Feilke, Helmuth / Köster, Juliane / Steinmetz, Michael (Hrsg.) Textkompetenzen in der Sekundarstufe II. Freiburg: Fillibach, 233-267. G AI L B E R G E R , Steffen / W I E T Z K E , Frauke (Hrsg.) (2018). Deutschunterricht in einer digitalisierten Gesellschaft. Unterrichtsanregungen für die Sekundarstufen. Wein‐ heim/ Basel: Beltz. F R E D E R K I N G , Volker / K R O M M E R , Axel / M ÖB I U S , Thomas (2014). Neue Medien im Deutschunterricht (=-Deutschunterricht in Theorie und Praxis, Bd. VII). Balt‐ mannsweiler: Schneider Hohengehren. 100 4 Balladendidaktische Grundlagen <?page no="101"?> Schreiben <?page no="103"?> 4.7 Referierendes und argumentatives Schreiben zu Balladen Carolin Führer Im Folgenden ist eine Auswahl jener Schreibformen zusammenge‐ fasst, die einen analytisch erschließenden Zugang zu Balladen wählen. In der schulischen Praxis sind diese Formen stark in Bewertungskontexte eingebunden, die v. a. das Produkt fokussieren. Um die dafür notwendigen methodisch-strategische Kompetenzen zu vermitteln, sollten diese als solche kontinuierlich in den Unterricht integriert werden: Schreibkonferenzen, Rückmeldungen durch Erwachsene und Schreibpaten, Schreibgespräche mit der Lehrkraft und sprachreflexive Übungen sollten hier im Rahmen einer prozessorientierten Schreib‐ entwicklung fest etabliert werden. Balladeninhalte referieren Das Wiedergeben bzw. Zusammenfassen der Inhalte einer Ballade ist eine durchaus anspruchsvolle Aufgabe. Aufgrund der Leerstellen, die Balladen bereithalten, fließt in die sachliche Darstellung dessen, was der literarische Text ästhetisch darstellt, immer auch eine Interpretation ein. Vieldeutige Textelemente sollten von Schüler: innen in der Inhaltsangabe daher als solche markiert werden, z. B. durch modale Strukturierungen wie ‚offenbar‘, ‚vielleicht‘ oder durch Formulierungen wie „Die Ballade lässt offen, ob …“ (Leubner/ Saupe/ Richter 2016: 228). Zunächst ist die Erschließung des inhaltlichen Zusammenhangs (‚Ma‐ krostruktur‘) notwendig, d. h. es muss die Abfolge von Ursache und Wirkung bzw. Motiv und Handlung herausgearbeitet werden, die von einer Ausgangssituation (Herausforderung, Konflikt) zu einem Resultat oder einem offenen Ende führt. Besonders bei (Gegenwarts-)Balladen, die in hohem Maße intertextuell und sprachlich experimentierfreudig sind, kann das für Schwierigkeiten sorgen. Im Umgang mit älteren Texten treten häufig zunächst sprachliche Schwierigkeiten auf, wenn es darum geht, den Inhalt der Ballade in eigenen Worten wiederzugeben. Hilfestellungen 4.7 Referierendes und argumentatives Schreiben zu Balladen 103 <?page no="104"?> für Texterarbeitung und -(re)konstruktion können Schreibstrategien sein. Becker-Mrotzek und Böttcher (2015) unterteilen hier in: 1. Reduzieren, 2. Zusammenfügen, 3. Verknüpfen, 4. ggf. Kommentieren. Leubner, Saupe und Richter (2016: 227 f.) schlagen Folgendes vor: 1. Reflektierte Nutzung von W-Fragen: Schüler: innen muss klar werden, dass die Reihenfolge des Textes nicht der von W-Fragen entspricht und zudem Ort und Zeit oft vage bleiben. 2. Bilden zusammenfassender Aussagen: Die Formulierung von Zwischen‐ überschriften zu Abschnitten ist für die Schüler: innen irreführend, da Überschriften Appellstrukturen haben; besser ist ein Notieren von Handlungsstichworten. Für schriftliche Inhaltszusammenfassungen ist eine vermeintlich objektive Bewertung besonders schwierig, denn es ist nicht klar, was in der Ballade explizit und was nur implizit, z. B. auf einer metaphorischen Ebene, gesagt wird. Eine schriftliche Inhaltszusammenfassung kann daher vor allem zur Diagnose des grundlegenden Textverständnisses (das oft vorschnell als gesichert eingeschätzt wird) oder der Erarbeitung von (verschiedenen) Interpretationsansätzen dienen. Die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen bzw. das Vorwissen der Schüler: innen sind für das Verstehen wesentlich, weshalb es wichtig ist, zur Erstellung der Zusammenfassung Fragen und Methoden an die Hand zu geben, die den Blick für den größeren Textzusammenhang weiten und Raum für Imagination lassen (Bsp.: „Erklärt, worum es in der Ballade ‚Der Erlkönig‘ geht. Versucht euch dabei die Handlung bildlich vorzustellen! “). Engmaschige Fragestellungen, wie die in vielen Arbeits- und Lehrmateria‐ lien zu findende pauschale Aneinanderreihung der W-Fragen, verstellen oft den Blick auf die Gesamtaussage des Textes und zielen auf Einzelaspekte ab, die der Komplexität des Textes und Aspekten der Sinnlichkeit im Umgang mit Balladen (Wirkung des Klangs etc.) nicht gerecht werden. Sinnvoll sind hier Fragen, die ausgehend von einer konkreten Textstelle den Blick auf die Gesamtheit des Textes richten. Ein Beispiel hierfür zur Ballade „Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland“, in der es in der letzten Strophe heißt: 104 4 Balladendidaktische Grundlagen <?page no="105"?> So spendet Segen noch immer die Hand Des von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland. Die Frage Worin besteht der Segen des von Ribbeck? zielt auf die zentralen Aussagen der Ballade und bietet dennoch Spielraum in der Beantwortung, was zum einen in Hinblick auf die literarische Vielschichtigkeit wichtig ist, zum anderen kann eine Konzentration auf Einzelaspekte umgangen werden. Zabka plädiert (mit steigender Jahrgangsstufe) daher zudem für flankierende Übungen zur reinen Inhaltsangabe wie der Beschreibung ästhetischer Darstellungsweisen oder Übungen zum Stil (Zabka 2015: 71). Balladen diskursiv erschließen In der Mittel- und Oberstufe tritt neben dem Schreiben als Erschließungs- und Aneignungsform von Balladen ein „Wissen schaffendes Schreiben“ in den Vordergrund. Es ist zum einen eng an das vorher dargestellte inhaltliche Verstehen geknüpft, zum anderen verlangt es eine permanente Distanz zum Text als Gegenstand des Verstehens. Aus diesem Grunde bedarf es vielfältiger Übungsaufgaben, um diese Distanz zu erwerben und aufrecht zu erhalten (Köster 2016: 82). Hilfreich für ein derartiges Schreiben zu Balladen ist sicher, den Balladen ein allgemeines Gattungs- und Epochenwissen zuzuschreiben sowie den Inhalt mit Form und Sprache in Verbindung zu bringen. Diese Orientie‐ rungshilfe darf jedoch nicht dazu führen, grob über individuelle Besonder‐ heiten des Textes hinwegzugehen. Lösener (2009) betont, dass besonders die Form-Inhalt-Analyse in den höheren Klassen der weiterführenden Schulen nach wie vor als einzig mögliche und durchaus problematische Form der Gedichtanalyse gehandelt wird. Er schlägt mit dem hörenden Lesen eine mögliche Alternative vor. Es geht dabei vor allem darum, zunächst die Erfahrung der Wirkung zu machen und dann die Wirkungsweise zu reflek‐ tieren (vgl. auch Kap. 4.3). In dieser Form sollen Anreize geschaffen werden, Deutungsmöglichkeiten zu entdecken und nicht nur die Durchführung vorgegebener Muster abzuarbeiten. An dieser Stelle sollen nur einige Schreibanregungen genannt werden, die eine Interpretationshypothese (im weitesten Sinne) zum Ausgangspunkt haben, in der der Sinn des Textes nicht auf eine Aussage (z. B. die des Autors) reduziert wird, sondern eine (ideologiedistanzierende) Rezeption (vgl. Kap.-3.2) möglich wird: 4.7 Referierendes und argumentatives Schreiben zu Balladen 105 <?page no="106"?> 7 Ausführlicher Unterrichtsentwurf in Führer 2019. ▸ „Der Knabe im Moor“ von Annette von Droste-Hülshoff: Warum hält der Knabe inne, bevor er am (heimatlichen) Ziel ist? Erörtere dies vor dem Hintergrund dessen, was den Knaben daheim erwarten könnte. ▸ „Der Erlkönig“ von Johann Wolfgang von Goethe: Wovor „grauset’s“ dem Vater? Diskutiere dies vor dem Hintergrund möglicher Gedanken und Gefühle des Vaters. ▸ „Holger, die Waldfee“ von Lars Ruppel: Worin besteht die in den letzten beiden Strophen der Ballade genannte „Lehre“? Erörtere dies unter Einbezug des Handlungsverlaufs aus Sicht von Holger und aus Sicht des Forstamts! ▸ „Stein“ von Christoph Meckel: In der letzten Strophe heißt es: „Kann sein.“ Was spricht für bzw. gegen die Reaktion der Frau? Begründe, welche alternativen Reaktionen denkbar gewesen wären! 7 Diese Schreibanregungen entsprechen unserem eingangs formulierten An‐ spruch, die in den Balladen formulierten Konflikte auf der Grundlage von Erfahrungen und Kontexten zu reflektieren, die bei den Schüler: innen bereits vorhanden sind. Nicht zuletzt verfolgt dies auch den Zweck, in diesen anspruchsvollen Schreibformen die Schreibmotivation zu erhalten. Zudem ist über die geforderten Identifikationen (mit dem Knaben, mit dem Vater) und Perspektiveinnahmen (Holger, das Forstamt) zunächst eine Nähe zum Text herzustellen, diese Position muss jedoch aufgegeben werden - sowohl auf der Basis der Textkenntnis als auch aufgrund der lebensweltlichen Erfahrung. Damit kann die für den Umgang mit Balladen wichtige Distanz zu ideologisch-moralischen (textnahen) und ideologiekritischen (textfernen) Lektüren) gewonnen werden um (neue) Positionen zu diskutieren (vgl. ideologiedistanzierende Rezeption bei Köster 2001: 182 sowie Wertungen im Umgang mit Balladen, Kap.-4.4). 106 4 Balladendidaktische Grundlagen <?page no="107"?> Literatur zur Vertiefung B E C K E R -M R O T Z E K , Michael / B ÖT T C H E R , Ingrid (2015). Scriptor Praxis: Schreibkompe‐ tenz entwickeln und beurteilen. Berlin: Cornelsen. F E I L K E , Helmuth / P O H L , Thorsten (Hrsg.) (2014). Schriftlicher Sprachgebrauch. Texte verfassen (=-Deutschunterricht in Theorie und Praxis, Bd.-4). Hohengehren: Schneider. P H I L I P P , Maik (2014): Selbstreguliertes Schreiben: Schreibstrategien erfolgreich vermit‐ teln. Weinheim: Beltz. 4.7 Referierendes und argumentatives Schreiben zu Balladen 107 <?page no="108"?> 4.8 Operatives Schreiben zu Balladen Carolin Führer In operativen Verfahren des Schreibens werden ähnlich wie im Grammatikunterricht, durch einfache Umstellungen, Erweiterungen u. ä. mit und aus dem Text Erkenntnisse gewonnen. Das bedeutet im Rahmen literarischen Lernens, dass mit einer konkreten Ballade sprachlich und/ oder inhaltlich experimentiert wird. Auf diese Weise können Schüler: innen tiefere Einblicke in Form, Wortschatzbesonder‐ heiten, Rhythmus und Inhalt des Originals gewinnen und im Vergleich der Wirkungen und Wirkungsweisen gewahr werden. Operative Verfahren können konzeptuell im Bereich des handlungs- und produktionsorientierten Unterrichts verortet werden. Den theoretischen Hintergrund bilden hier Formalismus und Strukturalismus, auch kann der Einsatz operationaler Verfahren als „Vorschule der Dekonstruktion“ (Spinner 2000: 235) betrachtet werden, da die inhaltliche und formale Ge‐ schlossenheit des Textes aufgebrochen wird. Es gibt in der Literaturdidaktik hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen Textanalyse und der eigenakti‐ ven Umformung unterschiedliche Schwerpunktsetzungen. Haas betonte in seinem grundlegenden Werk 1984 v. a. die Möglichkeit, allen Schüler: innen einen (Text-)Zugang zu ermöglichen und eigenaktiv zu werden. Rupp (1987) betont, dass die produktiven Antworten der Schüler: innen dem Originaltext zugunsten einer kulturellen Handlungsfähigkeit gegenübergestellt werden sollten. Fingerhut hat bereits früh „strenge und disziplinierte Auseinander‐ setzungen mit dem Ausgangstext“ (Fingerhut 1982: 6) gefordert. Waldmann (2007) betont v. a., dass und wie das Verstehen literarischer Texte strukturell durch schüler: innenseitige Eigenproduktion bestimmt werden sollte. Konsens scheint dennoch, dass Text und operative Verfahren so auf‐ einander abgestimmt werden, dass sie Verstehensprozesse befördern und vertiefen sowie funktional und nachvollziehbar zum Gegenstand gewählt sind. Gerade bei operationalen Verfahren darf nicht der kognitive Anspruch unterschätzt werden, besonders „schwächere Schüler: innen“ scheinen durch eine strukturierte Analyse von Texten z. T. besser gefördert zu werden 108 4 Balladendidaktische Grundlagen <?page no="109"?> (Heins 2017). Mit dem Umschreiben von (literarischen) Vorlagen wird dem Analysieren und Interpretieren eine Methode des produktiven Schreibens zur Seite gestellt, das eine kreative Verarbeitung des zuvor erworbenen de‐ klarativen Textsortenbzw. Textmusterwissen in prozedurales Handlungs‐ wissen ermöglicht (vgl. Fix 2008: 11). In Folge werden an einzelnen Balladen (v. a. aus dem Kapitel 5) exempla‐ risch einfache Operationen demonstriert, die die formale und inhaltliche Gestaltung der gesamten Ballade in den Blick nehmen: ▸ Änderung der Perspektivgestaltung: Indem die Lernenden beispiels‐ weise in Ann Cottens „Metonymie, wir“ (vgl. https: / / www.lyrikline.org / de/ gedichte/ metonymie-wir-4404) die Ballade vom Ich in die Sicht des Du umschreiben, wird der sprachliche Stil ebenso wie die emotionale Beziehung der beiden reflektiert. Anhand der vom Ich abgegebenen Beschreibungen des Dus muss eine eigenständige Imagination und ein Schreibstil des Anderen entwickelt werden. ▸ Entflechtungen von ineinander geschobenen Texten: - Variante 1: ältere und neuere Balladen/ Liedtexte mit ähnlichem Inhalt anhand ihres Stils voneinander unterscheiden: z. B. „Toten‐ tanz“ von Johann Wolfgang von Goethe kombiniert mit Deutsch‐ rock „Totentanz“ von Max Kretzenbacher oder „Kurzgefasster Lebenslauf “ von Erich Kästner/ „Max Mustermann“ von Blumen‐ topf - Variante 2: Rekonstruktion von Texten über den Inhalt, z. B. indem verschiedene Gedächtnisperspektiven zum Nationalsozialismus erkannt werden müssen: „Und es war ein Tag“ von Nora Gomrin‐ ger/ „Mörder Ratzek weißer Mond“ von Thomas Brasch (vgl. 5.4. sowie Unterrichtshilfe „Erzählformen in zeitgeschichtlichen Bal‐ laden analysieren“) ▸ Reflexionen bzw. Begründungen der Rekonstruktionsarbeiten hy‐ brider Balladen, z. B. durch Fragen nach den Kriterien der Entflechtung. Entscheidend ist hier also weniger die korrekte Entflechtung als viel‐ mehr die dadurch geschaffene Möglichkeit der Charakterisierung der beiden Balladen verbunden mit ersten Deutungen. ▸ Präsentation einer Ballade oder ggf. ihrer Teile in Originalsprache oder Übersetzung: Die Übertragung von „The Raven“ ins Deutsche, aber auch die Präsentation verschiedener englischer Übersetzungen Goethes „Der Erlkönig“ sensibilisiert Schüler: innen durch die jeweilige 4.8 Operatives Schreiben zu Balladen 109 <?page no="110"?> individuelle Übertragung oder Übersetzungsdiskussion für Sprache, Stimmen und Stimmung. ▸ (Re-)Integration herausgenommener Original-Verse: bietet sich an, wo Wiederholungen in Balladen die Wirkung beeinflussen: z. B. kann man „nichts weiter mehr“ und „Nimmermehr“ in Edgar Alan Poes „Der Rabe“ wieder einsetzen lassen. ▸ Reihenfolgen wiederherstellen: z. B. bei Lars Ruppels „Holger, die Waldfee“ oder Erich Kästners „Sachliche Romanze“ ist es reizvoll zu diskutieren, wie sich unterschiedliche Anordnungen des Inhalts auf die Gesamtaussage des Gedichtes auswirken. Die Aufgabe kann aber (ohne größere Metareflexionen) nur gestellt werden, um den Blick auf die Textstruktur und die inhaltlichen Zusammenhänge zu lenken, so stellt diese Aufgabe für längere, klassische Balladen wie Friedrich Schiller: „Die Bürgschaft“ oder Johann Wolfgang von Goethe: „Der Zauberlehr‐ ling“ bereits hohe Verstehensanforderungen an die Schüler: innen. Um den Blick auf die lokale bzw. Wort-Ebene einer Ballade zu lenken, bieten sich folgende Operationen an: ▸ Formulierungsangebote auswählen: In Gomringers „Und es war ein Tag“ könnte man reflektieren, wie Wirkung und Aussage sich beim Aus‐ tauschen der Anapher „Und es war“ durch „Und es ist“ ändern. Hier wäre es besonders interessant, im Vorfeld zu eruieren, welche der beiden Varianten bei den Schüler: innen mehr Stimmen erhält und aus welchen Gründen. In Christoph Meckels „Stein“ (vgl. Führer 2019) können unterschiedliche Titelvarianten in Hinblick auf ihre klangliche und inhaltliche Wirkung diskutiert werden. Zur Reflexion von Dingwelten in der Literatur empfiehlt sich für fortgeschrittene Lerner: innen anstelle des Steins Blümlein (Goethe), (blaue) Blume (Novalis), Aster (Benn) zu variieren. So können literaturgeschichtliche Aspekte in einen historischen Kontext des Wandels von Paarbeziehungen eingebettet werden. ▸ Wörter einsetzen: Hans Magnus Enzensbergers „Das Treppenhaus“ (u. a. in Segebrecht 2012: 69) könnte den Schüler: innen als Lückentext mit verschiedenen Multiple-Choice-Variationen vorgelegt werden, um sowohl klangliche als auch semantische Reflexionen notwendig zu machen, die wiederum die Gesamtsicht auf den Text und die Struktur des Textes beeinflussen. In Hugo von Hofmannsthals „Die Beiden“ (vgl. https: / / www.deutsch elyrik.de/ die-beiden.html) führt die Aufgabe, fehlende Reimwörter zu 110 4 Balladendidaktische Grundlagen <?page no="111"?> ergänzen, zu einer genaueren Wahrnehmung der formal-inhaltlichen Konstruktion des Textes. Zur Sensibilisierung der Schüler: innen für die Form der Balladen kann konzentriert an rhythmischen Veränderungen, am Satzbau oder den Versanordnungen gearbeitet werden: ▸ In Verse umbrechen: Balladen werden als fortlaufend geschriebene Texte ausgegeben, Schüler: innen müssen selbst eine mögliche Ver‐ sstruktur herstellen. In H.M. Enzensbergers „Das Treppenhaus“ kann dies ein einfacher Einstieg sein, da hier nur die Wiederholung des „wer ich bin“ entdeckt werden muss. ▸ Entnommene Sätze/ Interpunktionen diskutieren: Die Lernenden reflektieren die Interpunktion von „Die Füße im Feuer“ und realisieren in den vielen Frage- und Ausrufesätze in Conrad Ferdinand Meyers Ballade den dramatischen Charakter der Ballade. Durch eine eigene Einsetzung für das Weglassen von „Und es war“ in Gomringers Ballade können Wortwiederholungen und das Präteritum auf ihre Wirkung und Wirkungsweisen im Vergleich mit der eigenen Variante gezielt in Blick genommen werden. Durch medienbasierte operationale Verfahren können die oben be‐ schriebenen Verfahren vereinfacht bzw. gestützt werden. Zur tieferen Er‐ schließung oder Erweiterung von Assoziationsräumen bieten sich darüber hinaus eigenständige, medienspezifische Möglichkeiten der Arbeit an und mit Balladen an, hier v.a.: ▸ Einfügen von Kommentaren in den Text, z. B. Verstehensfragen, Ver‐ linkungen zu unbekannten Wörtern, Vergleichstexten, zu Vertonungen etc. ▸ Recherche zum Autor, zu Sekundärliteratur, zu motivähnlichen Balla‐ den etc. ▸ Schlüsselbegriffe mit Thesaurus-Funktion thematisieren, durch vorge‐ schlagene Bedeutungsfelder kann Deutung der Ballade geschärft werden ▸ Visualisierung des Textes über Präsentationsprogramme (passende Bilder einfügen, Experimentieren mit Typographie, Farbgebung zum Text etc.) ▸ Weiterschreiben oder Verändern von im Internet in Foren, Chats usw. auffindbaren Interpretationen, Zitaten … 4.8 Operatives Schreiben zu Balladen 111 <?page no="112"?> Wichtig ist, dass operationale Verfahren stark prozessorientiert genutzt werden, d. h. sie tragen nur zur Textanalyse und -interpretation bei, wenn die von den Schüler: innen selbst geschaffenen Produktionsanteile reflexiv und präzise an den Text zurückgebunden werden. Dies ist ein Aspekt, der auch in der Bewertung derartiger Schreibprozesse Berücksichtigung finden sollte (Kap. 4.9). Die Freude am Spiel mit der Sprache und an der Entdeckung der Sinnaktivtität des Textes sollte hierbei jedoch mit Blick auf die Lese- und Schreibmotivation, besonders in Erarbeitungsphasen, selbstverständlich nicht in den Hintergrund treten. Literatur zur Vertiefung M E R Z -G RÖT S C H , Jasmin (2010). Texte schreiben lernen. Grundlagen, Methoden, Unter‐ richtsvorschläge. Seelze: Klett/ Kallmeyer. L Ö S E N E R , Hans / S I E B A U E R , Ulrike (2014). hochform@lyrik. Konzepte und Ideen für einen erfahrungsorientierten Lyrikunterricht. Regensburg: edition vulpes. 112 4 Balladendidaktische Grundlagen <?page no="113"?> 4.9 Textproduktives Schreiben zu Balladen Carolin Führer Nach Spinner (1993) sollte textproduktives Schreiben nach den Prin‐ zipien Irritation, Imagination und Expression organisiert werden. In Folge werden daher speziell für Balladen in Frage kommende Mög‐ lichkeiten der Umsetzung dieser Prinzipien vorgestellt. Textproduktive Verfahren umschließen mehr als andere Schreibzugänge kognitive, emotionale und imaginative Schreibprozesse. Nach dem Prinzip der Irritation (Spinner 1993) sollten Gelegenheiten für divergentes Denken geschaffen werden, hierfür bieten sich u.-a. folgende Möglichkeiten an: ▸ Eine Fortsetzung schreiben: Eine Ballade wird nur bis zu einer be‐ stimmten Stelle vorgelegt oder als Hörbuch gehört, die Schüler: innen antizipieren dann mögliche Fortsetzungen. Um sich auf die Handlungs‐ struktur zu fokussieren, könnte man z. B. den Text zu Schillers „Der Handschuh“ nach der Aufforderung der Dame weiterschreiben lassen oder einen alternativen Schluss ab der Zeile „Kann sein“ in Meckels „Stein“ formulieren lassen. ▸ Stilistisch verändern: Die Übertragung älterer Balladen in Leichte Sprache kann je nach Vorgaben bezüglich der Nähe zum Original auch ein operatives Verfahren sein (vgl. Balladen in leichter Sprache, Kap. 5.4). ▸ Nach dem Muster einer Ballade einen neuen Text schreiben: z. B. kann mit Balladenelementen aus Kästners „Kurzgefaßter Lebenslauf “ und Blumentopfs „Max Mustermann“ gespielt und eine eigene Balla‐ denvariation verfasst werden. Ein inhaltliches Neuverfassen kann hier meinen, die Gesamtaussage vom (spieß-)bürgerlichen Lebenslauf auf‐ zugreifen. Eine stilistisch andere Variante (z. B. den lakonischen Stil Kästners abändern oder imitieren) kann die Lernenden für sprachliche und strukturelle Besonderheiten sensibilisieren. ▸ In andere Textsorte umschreiben: Es bietet sich v. a. bei Balladen aus der Themeneinheit Gesellschafts- und Sozialkritik an, diese in eine/ n Zeitungsreportage oder einen -bericht umzuwandeln. ▸ In andere Zeit setzen: „Die Füße im Feuer“ könnte in eine heutige Situation übertragen werden oder zunächst nur daraufhin umgedeutet 4.9 Textproduktives Schreiben zu Balladen 113 <?page no="114"?> werden, wie die Schüler: innen selbst in der Situation des Gastgebers handeln würden. Der „Herr von Ribbeck“ bzw. die Bedeutung des Birnbaums soll übertragen werden in heutige Umstände usw., indem ein anderes Symbol gewählt wird etc. Solche Umschreibungen von Balladen sind v. a. sinnvoll, um Schüler: innen für den Kontrast zwischen Ballade und ihrer eigenen Erfahrungswelt zu sensiblisieren und die (historische) Alterität zu überbrücken. Es geht in diesen o. g. kreativen Verfahren v. a. um die Vermittlung zwischen Kreativität und bekannten Textmustern. Unerheblich ist hierbei, ob hier ein analoges oder digitales Schreiben erfolgt. Hinsichtlich der Überprüfung der Referenzialität (Bezug zum Originaltext) ist die Nutzung von Schreib‐ programmen wie word sicher sogar schreibförderlich, da Varianten leichter überarbeitet/ ausprobiert werden können und zudem u. a. Rechtschreib- und Formulierungshilfen (Thesaurus etc.) in das Repertoire der Schreibstra‐ tegien integriert werden. Darüber hinaus kann mit operativen Verfahren das Prinzip der Expression als Ausdruck des individuellen Selbst oder als Teilkompetenz im Rahmen literarischer Geselligkeit gestärkt werden: ▸ Figuren in Ich-Form vorstellen: Schüler: innen erstellen eine Rollen‐ biografie (vgl. Unterrichtshilfe „Rollenbiographie schreiben“) zu Haupt‐ figuren in „Holger, die Waldfee“, „John Maynard“ oder Bruder/ Schwes‐ terfigur aus „Mörder Ratzek weißer Mond“. ▸ Zu einem oder mehreren (selbstgewählten) Schlüsselwörtern/ Ding‐ symbolen aus einer Ballade einen eigenen Text schreiben: Bietet sich für die Titel aus den Themensequenzen Schicksal und Selbstbestimmung (Kap.-5.3) besonders an, ebenso für Freundschaft und Liebe (Kap.-5.1). Als drittes Prinzip kreativen Schreibens nennt Spinner die Imagination, diese kann durch folgende Aufgabenformate besonders gefördert werden: ▸ Interviews mit Figuren verfassen, z. B. Interview mit der Dame aus „Der Handschuh“, „Mörder Ratzek“ usw. ▸ Tagebucheinträge sowie Briefe von und an Figuren schreiben: Mit dem identifizierenden Schreiben zu „Felix Fliegenbeil“, „Der Handschuh“, „Die Bürgschaft“ etc. können Handlungen aus (verschiedenen) Figuren‐ perspektiven reflektiert werden (im Hinblick auf die genannten Balladen mit aufsteigendem Anspruch). 114 4 Balladendidaktische Grundlagen <?page no="115"?> ▸ Träume von Figuren erfinden: Was träumt der Knecht des Königs aus „Die Füße im Feuer“ in der Nacht seiner Beherbergung? Wichtig ist es hier, Figuren auszuwählen, deren Gefühlswelt im Text implizit oder explizit literarisch gestaltet werden, bei der Auswahl geeigneter Fragen sind die Lernenden im Idealfall einzubeziehen. Der Austausch über die verfassten Träume kann unterschiedliche Interpretationsaspekte zur Sprache bringen sowie ggf. einen Beitrag zum symbolischen oder metaphorischen Verstehen leisten. ▸ Textstellen (oder Ballade) in die Perspektive einer Figur oder eines Gegenstandes umschreiben: In der Grundschule ist es für Kinder mitunter spannend, die Perspektive eines Gegenstandes einzunehmen. So kann beispielsweise die Ballade vom „Zauberlehrling“ auch als kurze Erzählung, Haiku o. ä. aus Sicht des Besens gestaltet werden, weil dann Gefühle zunächst ausgespart werden können. Perspektivenwechsel bzw. perspektivisches Erzählen ist an sich jedoch sehr anspruchsvoll, geeig‐ net sind dafür u. a. Liebesballaden wie „Metonymie, wir“ und „Die Beiden“. ▸ In der Ballade nur angedeutete Handlungen erweitern: Die Ballade „Das Treppenhaus“ von Enzensberger lädt zur Ausweitung ein, da sie in der Handlungslogik viele Leerstellen hat. Neben den ausgewählten Beispielen können im Rahmen textproduktiver Verfahren nicht nur „literarische“ Textformen, sondern auch pragmatische Texte zu Balladen gestaltet werden: Ein Lexikon-/ Wikipedia-Eintrag oder Essay zu Motiven, Handlungen und Figuren einer Ballade, eine Rezension, ein Informationsplakat/ Website zur Rezeption des Textes oder zur litera‐ turgeschichtlichen Einbettung (vgl. Kap. 4.6 Balladen in neuen medialen Formaten). Mit den Techniken der kreativen Gestaltung literarischer Texte ist immer auch eine schreibende Aneignung von Gattungen und Formen, Genres und Stilen verbunden (vgl. Abraham 1994): Schreiben „nach“ einem oder wie ein Autor, die Verkürzung einer Ballade unter Beibehaltung von Form und Stil sowie Erprobung verschiedener Erzählhaltungen und -formen etc. Wichtig ist es hier, schreibdidaktisch auch die Planung und Überarbeitung eines solchen Textes ausreichend einzubeziehen und genau zu reflektieren, sonst kommt es schnell zur Situation, dass die kreativen Spontanäußerungen der Schüler: innen als nicht mehr verbesserungswürdig erscheinen. Ein Zuwachs 4.9 Textproduktives Schreiben zu Balladen 115 <?page no="116"?> an produktiver Schreibkompetenz ergibt sich aber v. a. im Erproben und Durchdenken von Varianten. Hat man sich dazu entschieden, kreatives Schreiben auch in Bewertungs- und Benotungsprozesse einzubeziehen, so kann man hier in drei Dimensio‐ nen denken: Prozess, Produkt und Funktion. Berücksichtigen könnte man in Hinblick auf das kreative Schreiben zu Balladen die folgenden Aspekte: ▸ Adäquatheit: Bezug zum Ausgangstext (je nach Schreibaufgabe oder Entscheidung des Schreibers inhaltlich, stilistisch, formal) ▸ Kohärenz ▸ Ideenreichtum ▸ Sprachrichtigkeit ▸ Inhaltliches und stilistisches Wagnis (denen in kreativen Texten eine größere Bedeutung zukommt) ▸ Form-Inhalt-Relation Alle weiteren Aspekte sind produkt-, prozess- oder funktionsbzw. kon‐ textspezifisch. Ein Beispiel für einen konkreten Bewertungsbogen findet sich in den Unterrichtshilfen (vgl. Methodenhilfe „Kriterien zur Beurtei‐ lung“), ohne den Gang des vorherigen Unterrichts zu berücksichtigen ist die Funktionalität dieser Kriterien jedoch nicht voll gewährleistet. Literatur zur Vertiefung B ÖT T C H E R , Ingrid (Hrsg.) (2010). Kreatives Schreiben: Grundlagen und Methoden - Beispiele für alle Fächer und Projekte - Ab Jahrgangsstufe 2 (=-Lehrerbücherei Grundschule). Berlin: Cornelsen. G A N S , Michael / P FÄF F L I N , Sabine / S C H M I D T , Thomas (2018). Lyrik verstehen - verfas‐ sen - vermitteln. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren. R I T T E R , Michael / K O H L , Eva-Maria (2010). Schreibszenarien. Wege zum kreativen Schreiben in der Grundschule. Seelze: Klett/ Kallmeyer. S P I N N E R , Kaspar H. (2001). Kreativer Deutschunterricht: Identität - Imagination - Kognition (Sprechen und Zuhören). Seelze: Klett/ Kallmeyer. 116 4 Balladendidaktische Grundlagen <?page no="117"?> Sprechen und Zuhören <?page no="119"?> 4.10 Balladen vorlesen und vortragen Juliane Dube In Anlehnung an Kliewer und Kliewer (2002) sind Balladen wie Partituren in der Musik, die gespielt werden wollen. Demnach gilt: Balladen müssen gesprochen werden, denn erst das gestaltende Vor‐ lesen für andere, aber auch ganz allein, erzeugt die Sinneserfahrung und verleiht ihr jenen unverwechselbaren Charakter (vgl. Lösener 2016). Ausgelöst durch die Abwendung von werkimmanenten Sprech‐ fassungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts hin zu einem mehrdeutigen Vortragsstil sowie nicht zuletzt durch die wachsenden empirischen Forschungstätigkeiten in diesem Bereich gilt das Vorlesen inzwischen in unterschiedlichen Kooperationsformen stufenübergreifend wieder als besonders wirksames Instrument zur Förderung lesebezogener und literarischer Lernprozesse. Balladen eignen sich aufgrund ihrer Erzählstruktur sowie der Ver‐ wendung von klanglichen und rhythmischen Stilmitteln besonders gut zum gestalteten Vorlesen. Methodische Settings im Bereich des lauten Vorlesens, des deutenden Vorlesens bis hin zum szenischen Vortragen (vgl. Baurmann/ Menzel 2006) können Aspekte des Verste‐ hensprozesses im Kontext eines „dialogischen Modells Ästhetischer Kommunikation“ (Lämke 2004: 183), in dem sowohl die Sprecherals auch Hörerrolle bei der Reproduktion literarischer Texte berücksich‐ tigt wird, in vielfältiger Weise unterstützen. Inszeniert volkstümliche und klassische Balladen waren ebenso wie Zei‐ tungslieder, Moritaten und die story poems des 21. Jahrhunderts für den mündlichen Vortrag bestimmt. Sie sind damit Gegenstand einer eigenständigen ästhetischen Vortrags‐ kunst. Dem ästhetischen und heuristischen Potenzial der Kulturtechnik des lauten Vortragens im Sinne eines „reproduzierenden Sprechdenkens“ (Geissner 1986) wird jedoch oftmals zu wenig Beachtung geschenkt. In Anlehnung an Baurmann und Menzel (2006) sind drei Schwerpunkte nach Form und Funktion beim Vortragen von Texten beschreibbar: Das 4.10 Balladen vorlesen und vortragen 119 <?page no="120"?> laute Lesen, das deutende Vorlesen und das szenische Vortragen. Für alle drei gelten dabei folgende Grundannahmen: ▸ Es gibt nicht die richtige Sprechfassung. Jede Reproduktion ist auch wieder produktiv. ▸ Die Vortragstexte müssen verstanden sein, damit werkgerechte Sprech‐ fassungen entstehen können (vgl. Lämke 2004). ▸ Das Vortragen ist ein „dialogischer Prozess“ (Ockel 2004: 85), in dem sich der Sprecher bzw. die Sprecherin mit dem Hörer bzw. die Hörerin über den Text verständigen will. Folglich gilt es, die Wirkung des Vortrags auf die Hörenden bereits bei der Erarbeitung einer Sprechfassung zu berücksichtigen. ▸ Aufgabenformate zur Textdeutung sollten stets an die Erfahrungswelt der Lernenden anschließen. ▸ Die Textvorlagen sind stets im literarischen Gespräch zu erschließen bzw. in Gespräche einzubinden. ▸ Das Vortragen von Lyrik benötigt besondere Räume zum Vorlesen sowie Wertschätzung für die Vortragenden. Lautes Lesen Wie eine Vielzahl von nationalen Untersuchungen inzwischen belegt, benö‐ tigt eine Reihe von Schüler: innen beim lauten Lesen intensive Unterstützung über die Grundschulzeit hinaus. Zur Förderung der Fähigkeit, einen Text gut artikuliert und in einem angemessenen Lesetempo vorzulesen, stellen Ockel (2000), aber auch Rosebrock und Nix (2011) eine Reihe von (empirisch) reflektierten Förderverfahren vor. Neben der Schulung basaler technischer Lesefertigkeiten mit Lautleseverfahren sollten die Lernenden auch vielsei‐ tige Möglichkeiten erhalten, Lese- und Hörkompetenzen zu verbinden, z. B. indem sie das gestaltete Vorlesen einüben und die Wirkung der eigenen Sprechgestaltung reflektieren (vgl. Lösener 2015). Zu diesem Bereich sollen im folgenden verschiedene Methoden vorgestellt werden. Beginnend beim Flüsterlesen (vgl. Lösener/ Rathmer 2012) einzelner Text‐ stellen zur Intensivierung des Leseaktes könnten einfache Vorlesetechniken anschließend anhand literarischer Klein(st)formen oder anhand von Sach‐ texten mit einem möglichst wenig redundanten Sprachstil, ggf. auch unter Verwendung von fachsprachlichen Elementen, eingeübt werden. Aufgrund ihrer narrativen Struktur sind Balladen deutlich leichter vorzutragen als 120 4 Balladendidaktische Grundlagen <?page no="121"?> klassische Gedichte. Die Arbeit mit ihnen eignet sich daher in besonderem Maße dazu, die Lernenden für die Prosodie zu sensibilisieren, also für die Gestaltung und Gliederung des Vortrages nach sprachlich-artikulatorischen Erscheinungen wie Betonung, Lautstärke, Sprechtempo und Pausen. Deutendes Vorlesen Jene Sprechfassungen, die im Rahmen von Lesenächten und Flurlese-Aktio‐ nen erprobt werden können, bedürfen zumeist mehr als eines distanzierten Vortrags. Vielmehr geht ihnen eine intensive Beschäftigung mit dem Text voraus, die nach Neuber (2011) u.-a. folgendes berücksichtigen sollte: ▸ die situativen Gegebenheiten, ▸ die Kontextbedingungen des Textes, ▸ die Hauptaussagen, ▸ die sprachliche Ausgestaltung des Textes (insbesondere der sprachlichen Leerstellen), ▸ die emotionalen und motivationalen Gehalte beim „Ersprechen“ des Textes. All jene Beobachtungen tragen dazu bei, dass der Sprecher/ die Sprecherin eine Haltung gegenüber dem Text entwickelt, der „rhythmische, dynamische und methodische Aspekte“ verbindet (Ockel 2000: 19 ff.). Vortragsfassun‐ gen sind daher sowohl auf Seiten der Sprechenden als auch auf Seiten der Hörenden nie objektiv, sondern stets individuelle Interpretationen („Ästhetische Kommunikation“). Textuelle Grundlagen für deutendes Vorlesen können vor allem polyvalente Texte bilden, zu denen in Partner- oder Kleingruppenarbeit eigene Lesepartituren angelegt und anhand von Life-Performances und Audioaufnahmen kritisch reflektiert werden (vgl. Lösener/ Siebauer 2014). Unterstützung bei der Erarbeitung einer Sprechfassung bietet die Kon‐ frontation mit besonders gelungenen Realisierungsvariationen. Diese soll‐ ten jedoch, um die Kreativität der Lernenden nicht einzuschränken, entwe‐ der nur in Auszügen vorgespielt, oder für Texte präsentiert werden, für welche die Lernenden keine Sprechfassung erstellen sollen. Im Kontext eines inklusiven Balladenunterrichts können das deutende Vorlesen, aber auch das szenische Vortragen sowohl über die Auswahl der Texte (Länge, sprachliche Komplexität, Sprechweisen etc.), zusätzliche Hilfsmittel (vergrößertes Schriftbild, zusätzliche Bilder) und die Methoden 4.10 Balladen vorlesen und vortragen 121 <?page no="122"?> der Darstellung variiert werden. Diese reichen von einer stummen, körper‐ sprachlichen Darstellung der Pantomime bis hin zum Einsatz neuer Medien (vgl. hierzu die Unterrichtsvorschläge in Kap.-5.2) Szenisches Vortragen Texte mit dramatischen Elementen in Form von Balladen eignen sich ebenfalls gut, um über das deutende Vorlesen hinaus einen szenischen Vortrag vorzubereiten (vgl. hierzu die Unterrichtsvorschläge in Kap. 5.2). Wenn die Lernenden noch wenig Erfahrung mit dem szenischen Vortragen von Texten haben, kann es hilfreich sein, sich zunächst mit ihnen ein paar Beispiele anzusehen bzw. anzuhören. Mögliche Leitfragen zur Vorbereitung einer szenischen Lesung könnten sein: ▸ Wie setzt sich mein Publikum zusammen? (wer - wem? ) ▸ Welche Ballade möchte ich vortragen? (was? ) ▸ Welche spezifischen Ziele (z. B. Originalität, Kontrastbildung, Verfrem‐ dung etc.) möchte ich mit meiner Interpretation der Ballade bei den Hörenden erreichen? (warum? ) ▸ In welchem künstlerischen Kontext steht meine Balladen-Präsentation und wie wird sich die zeitliche und räumliche Situation auf die Rezeption auswirken? (wo & wann? ) ▸ An welchen Stellen kann ich meinen Balladen-Vortrag durch Gestik, Mimik oder weitere Requisiten sowie weitere Medien (Geräusche, Mu‐ sik, Bilder etc.) unterstützen? (wie? ) Der Rezitator Lutz Görner führt in seinem bei YouTube abrufbaren Vortrag zur Ballade „Der Zauberlehrling“ durch den Einsatz des Ru‐ fes eines Nachtvogels, von Glockenschlägen, Windgeräuschen und Türenquietschen in die unheimliche Atmosphäre der Hexenküche ein (https: / / www.youtube.com/ watch? v=fN9NRF9T4VY). Darüber hinaus wird auch die Sprechweise der Figuren durch Effekte unterstützt. So wird z. B. das gebieterische Sprechen des Zaubermeisters mit einem leichten Echo unterlegt. 122 4 Balladendidaktische Grundlagen <?page no="123"?> Vorlesen und Vortragen in unterschiedlichen Sozialformen Für das Ziel, möglichst vielen Schüler: innen den Sinn, die Freude und den Genuss am Vorlesen und Vortragen von Balladen zu vermitteln, für das der Lehrende im besten Falle Vorbild ist, sollten sozial vielfältig gestaltbare Lehr-/ Lernsituationen umgesetzt werden. Im Erwerbskontext bietet sich in vielen Fällen zunächst ein Modelllernen an (der Lehrer/ die Lehrerin im Vorlesegespräch, das Hörmedium, der lesestarke Partner/ die lautstarke Partnerin im Lautlesetandem etc.), dessen Vorgehen auch metareflexiv besprochen werden kann. Mit zunehmender Lese- und Sprechgestaltungs‐ kompetenz sowie Reflexionsfähigkeit kann anschließend über Partner- (Lesegespräche führen) und Gruppenarbeiten (szenische Gestaltungen, in verteilten Rollen lesen etc.) auch der Einzelvortrag eingeübt werden. - Literatur zur Vertiefung D E H N , Mechthild / M E R K L I N G E R , Daniela (2015). Erzählen - vorlesen - zum Schmökern anregen (=-Beiträge zur Reform der Grundschule, Bd.-139). Frankfurt a.M.: Grundschulverband. L Ö S E N E R , Hans / S I E B A U E R , Ulrike (2014). hochform@lyrik. Konzepte und Ideen für einen erfahrungsorientierten Lyrikunterricht. Regensburg: vulpes. O C K E L , Eberhard (2000). Vorlesen als Aufgabe und Gegenstand des Deutschunterrichts. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren. P A U L E , Gabriela (Hrsg.) (2015). „Vorlesen - Vortragen“, Deutschunterricht 6. B A U R M A N N , Jürgen / M E N Z E L , Wolfgang (2006). „Vorlesen - Vortragen“. Basisartikel. Praxis Deutsch 199, 6-13. R O S E B R O C K , Cornelia / N I X , Daniel / R I E C K MA N N , Carola / G O L D , Andreas (2011). Le‐ seflüssigkeit fördern. Lautleseverfahren für die Primar- und Sekundarstufe. Seelze: Klett/ Kallmeyer. S P I N N E R , Kaspar H. (2000). Szenisches Vortragen von Gedichten. In: Ensberg, Claus et al. (Hrsg.) Deutschunterricht: Zugang zu den Lernenden finden. Braunschweig: Westermann, 101-111. 4.10 Balladen vorlesen und vortragen 123 <?page no="124"?> 4.11 Balladen auswendig lernen Juliane Dube Mit der Verankerung der freien ästhetischen Vortragskunst in den Bildungsstandards kehrt das einstige Interesse an dieser Lernform zu‐ rück in den Deutschunterricht. Jedoch stellt das Auswendiglernen von Gedichten, an dessen Ende nach anstrengender Arbeit der gekonnte und freie Vortrag steht, die Lernenden, unabhängig vom Alter, immer wieder vor Herausforderungen. Die zumeist negativen Erfahrungen mit dem Gedichtvortrag prägen die Einstellung zu Lyrik maßgeblich, sodass ein sinngebender Lyrikunterricht angestrebt werden sollte, in dem sich die Lernenden einen individuellen Zugang zu fremden Texten erarbeiten, sich diese durch eine wertschätzende Vorlesepraxis aneignen und deren Wirkungen auf eine Zuhörerschaft erproben. „An viele Gedichte, die ich aus der Schule kenne, erinnere ich mich gerne, doch nicht an den ‚Herrn Ribbeck‘: auswendig gelernt, Note fünf dafür bekommen.“ Um solche Schüler: innenaussagen wie in der Befragung von Beisbart (1993) zu vermeiden, bildet die freie Wahl aus einem Angebot an verschiedenen Texten den Ausgangspunkt für das Auswendiglernen einer Ballade (Kap. 4.1). Im fortführenden Umgang mit dieser löst sich der bzw. die Lernende durch den freien Vortrag von der schriftlichen Vorlage. Dabei befindet er sich in einem dauerhaften Reflexionsprozess, in dem die drei Größen: Sprechende/ er, Hörende/ er und Text in ein stimmiges Verhältnis gebracht werden müssen, um sich den Text zu Eigen zu machen. Damit die erarbeitete Ballade Gegenstand eines vertiefenden Wiederholens sein kann und nicht nur kurzfristig aufgrund der sinnlich körperlichen Erfahrung des freien Vortrags eine Bedeutung für die Lernenden erhält, empfiehlt Lösener (2007) das Erarbeiten eines kleinen individuellen Gedichtkanons. Dieser kann in verschiedenen Projektkontexten wieder hervorgeholt werden und so den Lernenden verdeutlichen, dass es nicht nur um das Auswendiglernen, sondern auch um das Auswendigkönnen geht. Damit der freie Vortrag aus‐ gewählter Texte in den entsprechenden Situationen auch gelingt, formuliert Lösener (2007) zehn Bausteine für eine Didaktik des Auswendigsprechens, in deren Rahmen positive Erfahrungen der Lernenden mit dem Auswendig‐ 124 4 Balladendidaktische Grundlagen <?page no="125"?> lernen von Texten gesammelt werden sollen. Die gesammelten Ideen lassen sich mit einer Reihe von Methoden verbinden, die sowohl vor, während als auch nach dem Lernprozess angewendet werden können. Vor dem Auswendiglernen Vor jedem Gedichtvortrag gilt es, die Situation des Vorsprechens zu antizi‐ pieren und gemeinsam Rahmenbedingungen zu gestalten. Hierfür müssen Zielsetzung(en) besprochen, Bewertungskriterien, die weniger zum perfekten Vortrag als vielmehr zum „In-Besitz-Nehmen und Gestalten der Textpartitur“ (ebd.: 169) ein Feedback geben, abgestimmt und Verhaltens‐ regeln ggf. auch Rituale für die Vortragspraxis erarbeitet werden. Ziel ist die Schaffung eines geschützten Rahmens, in dem die Heranwachsenden die Herausforderung des freien Vortragens freiwillig annehmen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, dass die Schüler: innen erfahren, dass das mündliche Vortragen des Textes wichtiger als das bloße Auswendiglernen ist. Üben und Wiederholen des Textes können lediglich Etappen auf dem Weg zum freien Sprechen darstellen (vgl. Lösener/ Lösener 2008). Sobald die schriftsprachlichen Fähigkeiten dies zulassen, sollte der zu lernende Text, der aus einer Vielzahl ästhetischer Texte selbst ausgewählt wird, abgeschrieben und anschließend gestaltet werden. Die Praxis in der Primarstufe zeigt, dass nach diesem Schritt viele Lernende ihren Text bereits gut beherrschen. Für stärker polyvalente Texte in der Sekundarstufe bietet es sich an, den Gedichtvortrag mit Sprechnotationen zu versehen. Während des Auswendiglernens Die wohl schwerste Arbeit folgt nach der Erarbeitung der Sprechfassung, das eigentliche Auswendiglernen. Hierzu bietet es sich an, auf kind- und jugendgerechte musikalische Umsetzungen von Balladen zurückzugreifen. Neben dem Projekt Rap macht Schule bietet auch das Programm von Junge Dichter und Denker eine Auswahl klassischer Balladen, welche die Lernen‐ den durch die rhythmische Gestaltung der Texte beim Auswendiglernen unterstützen. Fehlen musikalische Umsetzungen der Texte, können diese in fächerübergreifenden Projekten mit dem Musikunterricht erarbeiten werden. Stehen hierfür keine Ressourcen zur Verfügung, kann auf sprach‐ liche Fassungen oder den eigenen Vortrag zurückgegriffen werden, dessen abschnittsweise Erarbeitung ebenfalls medial unterstützt erfolgen kann. 4.11 Balladen auswendig lernen 125 <?page no="126"?> Hier wird der Text erst möglichst neutral vorgesprochen, anschließend soll er mithilfe des Textes allein in verschiedenen Versionen rezitiert werden, bevor in der dritten Phase ein gemeinsames Sprechen folgt. Im Internetportal Wortwuchs findet sich ein Lernvideo zum Auswen‐ diglernen von Balladen (http: / / wortwuchs.net/ zusammenfassungen/ d er-erlkoenig-inhaltsangabe/ ). Nach dem Auswendiglernen Aufgrund der fehlenden Rückmeldungen durch die Hörenden beim Aus‐ wendiglernen mit Lernvideos empfiehlt es sich, den eigenen Vortrag an‐ schließend mit einem Partner/ einer Partnerin oder einem heute in allen Smartphones verfügbaren Diktiergerät aufzunehmen und anhand von Be‐ wertungskriterien (vgl. Unterrichtshilfe „Einen Balladenvortrag kriterien‐ orientiert reflektieren“) selbst zu überprüfen. Hierbei ist stets darauf zu ach‐ ten, dass die Lernenden ein Bewusstsein für den formativen Charakter eigener Sprechfassungen entwickeln, in denen Pausen-, Melodie- und Be‐ tonungszeichen immer wieder neu gesetzt werden können. Zudem ist zu überlegen, ob der Vortrag von besonders schwierigen Textstellen durch die Verwendung von Stichwortzetteln unterstützt werden darf oder ob ein vom Vortragenden bestimmter Mitschüler bzw. Mitschülerinnen die Rolle des Souffleurs bzw. der Souffleuse übernehmen kann. - Literatur zur Vertiefung F R A N Z , Kurt (2006). „Warum man Gedichte auswendig lernen soll“. In: Franz, Kurt / Hochholzer, Ruppert (Hrsg.) Lyrik im Deutschunterricht. Grundlagen - Methoden - Beispiele. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren. G E IẞN E R , Hellmut (1982). Sprecherziehung. Didaktik und Methodik der mündlichen Kommunikation. Königstein: Scriptor. H AH N , Ulla (2001). Gedichte fürs Gedächtnis zum Inwendig-Lernen und Auswendig-Sa‐ gen. 11. Aufl. Stuttgart: DVA. L Ö S E N E R , Annegret (2007). Gedichte sprechen. Ein didaktisches Konzept für alle Stufen. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren. 126 4 Balladendidaktische Grundlagen <?page no="127"?> Sprache und Sprachgebrauch untersuchen <?page no="129"?> 4.12 Balladen übersetzen Juliane Dube „Die gegenwärtige Lesewirklichkeit“, so konstatieren Abraham und Kepser (2008), „ist also dominiert von übersetzter Literatur - nicht, wie das der traditionelle Deutschunterricht immer noch fokussiert, von „einheimischer“ (ebd.: 6). Diese einsprachige Fokussierung ist nicht nur vor dem Hintergrund der zunehmenden kulturellen und sprach‐ lichen Heterogenität in den Klassenzimmern bedauerlich. Vielmehr verschenkt man auch das Potenzial, welches das Lesen und Schreiben von Übersetzungen für die Vermittlung literarischer Kompetenzen besitzt. Zunächst ist festzuhalten, dass sich das Übersetzen von Texten als sehr schwierige Aufgabe gestaltet. Nicht selten gelingt sie nur, wenn sie von den Autor: innen selbst vorgenommen wird, denn „der sie übernimmt, muss nicht nur verfügen über die Sprache aus der, sondern auch über die Sprache, in die er übersetzen will“ (Enzensberger 2002: 781). Abraham und Kepser (2008) zitieren zu dieser Problemstellung den Übersetzer Holger Fock (2006): „Um einem Wort treu zu sein, bedarf es wenig, um einem Werk treu zu sein, muss der Übersetzer tausenderlei Dinge beachten: Grammatik, Stil, Ton, musikalische Eigenschaften der Sprache, Rhythmus (sowohl des Lautklangs wie der Bilder), Redewendungen, Sprichwörter, Metaphern, rhetorische Figuren“ (Fock 2006: o.S.). Sie verweisen damit zugleich auf die Bedeutung der Übersetzung als eigenständige literarische Leistung. Unabhängig davon, welche Übersetzungsvariante vorliegt, unterscheiden Abraham und Kepser (2008) folgende Übersetzungen voneinander: 4.12 Balladen übersetzen 129 <?page no="130"?> ▸ interlinguale Übersetzungen zwischen Sprachen (z. B. deutsch - eng‐ lisch) ▸ interlinguale historische Übersetzungen innerhalb einer Sprache (z. B. Althochdeutsch - Neuhochdeutsch) ▸ intralinguale varietätenspezifische Übersetzungen (alte Sprache - Ju‐ gendsprache) ▸ intersemiotische Übersetzungen (etwa die Adaption eines Textes in einen Comic) Die größte Schwierigkeit bei Übersetzungen besteht darin, die sinnkonsti‐ tuierenden sprachlichen Stilmittel und ihre Wirkung auch im übersetzten Text zu berücksichtigen. Nicht selten geht dabei, insbesondere bei reim- und rhythmusgebundenen Texten in Übersetzungen ein Teil ihrer Wirkung verloren. Deshalb haben sich vor allem philologische Übersetzungen eta‐ bliert, in denen der übertragene Sinn den Kern der Übersetzung bildet. Übersetzungen wie von Paul Zech, die sich der Aufgabe verschreiben, den lautmalerischen und rhythmischen Gehalt der Texte aufrechtzuerhalten, verstehen sich eher als Nachdichtungen mit eigenem Wert. Die Beschäfti‐ gung mit mehr und weniger gelungenen Übersetzungen stellt einen Teilas‐ pekt literarischer Bildung und Sprachreflexion dar, auch wenn diese nicht wortgetreu und nicht selten mit kulturellen und historischen Anpassungen versehen sind (vgl. Abraham/ Kepser 2008). Potenziale und Grenzen sollen deshalb im Folgenden für interlinguale und intralinguale Übersetzungen vorgestellt werden. Interlinguale Übersetzungen zwischen zwei Sprachen Welche große Herausforderung in der Übersetzung von derartigen lyrischen Texten liegt, zeigt einmal mehr die 2002 von Fritz Rudolf Fries verfasste Rezension zur deutschen Ausgabe der Werksausgabe von „Romance de la Guardia Civil espanola“ von Ferderico Garcia Lorca, in dessen Notiz es heißt: „Denn der Übersetzer habe das Original so sehr ‚entschlackt‘, dass es beinahe schon ‚als komische Reprise‘ vor einem Supermarkt angeboten werden könne. So man des Spanischen und des Originals kundig sei, habe man in vielen Passagen den Eindruck, dass hier ein Lektor durch Abwesenheit geglänzt habe […] und rät dem/ der Leser: in, sich aus dem Original und 130 4 Balladendidaktische Grundlagen <?page no="131"?> 8 Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 09.10.2002, online unter: https: / / www.perl entaucher.de/ buch/ federico-garcia-lorca/ zigeunerromanzen.html (27.07.2016). verschiedenen Übersetzungen selbst einen ‚Lorca für den Hausgebrauch‘ zu schneidern.“ 8 Beeinflusst von der deutschen Dichtung des Sturm und Drang, der Klassik und der Romantik sind mit der Zeit auch im russischen Sprachraum bedeu‐ tende Balladen, z. B. von Wassili Andrejewitsch Schukowski (1783-1852) oder Alexander Sergejewitsch Puschkin (1799-1837) entstanden. Aus Russ‐ land stammt zudem der wohl berühmteste Streit zu Balladenübersetzungen, der als „Leonorenstreit“ (Aden 2000: 159) in die Literaturgeschichte einge‐ gangen ist. Streitpunkt dieser Auseinandersetzung zwischen klassizistisch und romantisch orientierten russischen Literaten war die Übersetzung zu Bürgers „Leonore“, die 1808 von Schukowski unter dem Namen „Ludmilla“ ins Russische übertragen wurde und dessen erhabene und stark poetische Sprache jüngeren Dichtern wie P. A. Kantenin (1792-1853) missfiel. Kante‐ nin legt daraufhin ebenfalls eine Übersetzung unter dem Namen „Olga“ vor, die mit einer einfachen poetischen Sprache auskam (vgl. ebd.) und damit die russische Balladendichtung der anschließenden Zeit stark prägte. Bisher spielen im Deutschunterricht jedoch sowohl die Öffnung gegen‐ über mehrsprachigen Lyrikvorträgen als auch der Vergleich verschiedener Übersetzungen eines Gedichtes kaum eine Rolle (z. T. übertragbare Anre‐ gungen für die Primar- und Sekundarstufe im Bereich Kinder- und Jugend‐ literatur bieten Weinkauff/ Josting 2013). Obwohl die Balladendichtung in Europa zahlreiche Dichter: innen zur Nachahmung und Weiterentwicklung angeregt hat, gibt es derzeit kaum gute Übersetzungen, die, beim Ausbleiben entsprechender Fremdsprachenkenntnisse, neben dem Original im Deutsch‐ unterricht zum Einsatz kommen könnten. Als geeignet erscheinen die französischen Balladen des Villon, die vor allem durch die Sprechplatten von Klaus Kinski im deutschen Sprachraum Berühmtheit erlangt haben. Ebenfalls zu nennen sind hier die Übersetzungen von Enrique Beck zu den Werken des Spaniers Federico G. Lorca sowie die Übersetzungen zu den Texten des Franzosen Rimbaud durch Paul Zech, dessen dichterische Übersetzungen jedoch eher einer Nachdichtung entsprechen. Neben der si‐ multanen Arbeit mit Original und Übersetzung bietet es sich jedoch auch an, fremdsprachig verfasste Balladen zum Gegenstand eigener Übersetzungs‐ versuche seitens der Lernenden zu machen (vgl. didaktische Anregungen von Abraham/ Kepser 2008). Hierbei sollte sich eine „natürliche Art des 4.12 Balladen übersetzen 131 <?page no="132"?> textnahen Lesens“ (Paefgen 1998: 14) einstellen, etwa wenn Textstellen zur Rechtfertigung der Übersetzungsleistung herangezogen werden. Interlinguale Übersetzungen innerhalb einer Sprache Aufgrund ihrer in knapper und konzentrierter Form dargestellten Handlung sowie ihrer vergleichsweise geringeren sprachlichen Komplexität bieten Balladen gute Anknüpfungspunkte für das gemeinsame Lernen in sprach‐ lich heterogenen Klassengemeinschaften. Im Zuge interlingualer Überset‐ zungsversuche von Balladen innerhalb einer Sprache, z. B. von Bildungs‐ sprache in Leichte Sprache (vgl. Unterrichtsvorschlag zu Fontanes „Brückʼ am Tay“ in Kap. 5.4.3) ist eine intensive Auseinandersetzung mit dem Text erforderlich: Während des Übersetzungsprozesses stehen hier vor allem die Fragen zur Art (wie? ) und zur Begründung der Übersetzung (warum? ) im Mittelpunkt der Unterrichtssituation. Während sich die Übersetzung von Texten in Leichte Sprache durch den Einsatz von Synonym-Wörterbüchern und praktischen Orientierungshilfen (vgl. Maaß 2015, Bredel/ Maß 2016) (vgl. Unterrichtshilfe „Checkliste Leichte Sprache“) zunehmend einfacher gestal‐ tet, bekommt die Frage nach den Formen einer passenden Textbearbeitung, insbesondere im Umgang mit polyvalenten Texten bzw. Texten mit vielen Leerstellen, einen besonderen Stellenwert. Um in Diskussionen bestehen zu können, muss eine intensive Reflexion der inhaltlichen und sprachlichen Gestaltung des Textes - stets gerichtet auf die adressierte Zielgruppe - er‐ folgen. Erfahrungen im Zuge der Arbeit mit Studierenden an der Techni‐ schen Universität Dortmund, der Ruhr-Universität-Bochum sowie der Uni‐ versität zu Köln zeigen, dass Textverstehensprozesse sowohl in der anfänglichen Einzelarbeit als auch in der vergleichenden Gruppenarbeit durch das Übersetzen der Texte in Leichte Sprache deutlich intensiviert werden. Übersetzungen, unabhängig von ihrer Ausgestaltung, führen also nicht vom literarischen Gegenstand weg, sondern sind wertvolle Hilfen, um Interpretationshypothesen zu finden und vom behauptenden zum erklären‐ den und erörternden Interpretieren zu gelangen (vgl. Anders 2013). - Literatur zur Vertiefung A B R A H A M , Ulf / K E P S E R , Matthis (2008). „Übersetzungen lesen und schreiben“. Basis‐ artikel. Praxis Deutsch 212, 6-13. 132 4 Balladendidaktische Grundlagen <?page no="133"?> D U B E , Juliane / P R I E B E , Claudia (2020). „Balladen in Leichter Sprache als Gemeinsa‐ mer Gegenstand im inklusiven Literaturunterricht? “ In: Tagungsband der Deut‐ schen Gesellschaft für Lesen und Schreiben 2017: Inklusion im Deutschunterricht. Freiburg: DGLS. H ÄU P T L E -B A R C E LÓ , Marianne / W I L L E R I C H -T O C H A , Margarete (2008). „‚Love That Dog‘ oder ‚Der beste Hund der Welt‘? Möglichkeiten und Grenzen von Überset‐ zungen ausloten“. Praxis Deutsch 212, 20-28. W E I N K A U F F , Gina / J O S T I N G , Petra (2013). Literatur aus zweiter Hand: Anregungen zum Umgang mit Übersetzungen im Deutschunterricht. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren. 4.13 Sprache in Balladen reflektieren Carolin Führer Balladen zum Ausgangspunkt eines Nachdenkens über Sprache zu machen, stellt nicht nur im Hinblick auf historische Balladen eine herausfordernde Lernaufgabe dar, sondern auch mit Blick auf einen sprachaufmerksamen Unterricht in einer heterogenen Klassensitu‐ ation. In der Perspektive des mehrsprachigen Literaturunterrichts können Schüler: innen für die Nutzung verschiedener Varietäten sowie Merkmale und Funktionen konzeptioneller Schriftlichkeit und Münd‐ lichkeit sensibilisiert werden. Angesichts der Lernpotentiale - z. B. auch eines Vergleichs von Wortschatz, sprachlichen Strukturen und Gebrauchskontexten - sollte eine Instrumentalisierung für Sprach‐ lernzwecke dennoch vermieden werden. Historischer Sprachwandel in Balladen Sprachen unterliegen einem Wandel, der von den Sprechern und Spreche‐ rinnen initiiert und beobachtet wird - z. T. ergeben sich durch die Sprecher und Schreiber Innovationen, die sich dann in der sozialen und medialen Praxis erweisen müssen. Im Umgang mit historischen Balladen ist festzu‐ stellen, dass die Lerner: innen mit der „veralteten Sprache“ häufig Schwie‐ rigkeiten haben; diese bestehen jedoch nicht zwangsläufig in den für Lite‐ 4.13 Sprache in Balladen reflektieren 133 <?page no="134"?> raturunterricht konstitutiven Problemen eines mangelnden Umgangs mit poetischer Sprache oder der ausgebauten konzeptionellen Schriftsprach‐ lichkeit. Denn im Gegensatz zu Lyrik zeichnen sich Balladen oft durch eine starke Dialogizität aus, die einen Zugang erleichtert, wenn auf vertraute Strukturen aus der konzeptionellen Mündlichkeit zurückgegriffen wird. Im „Totentanz“ und „Erlkönig“ von Goethe finden sich beispielsweise (im Ver‐ gleich zu seinen epischen Texten) einfache Satzstrukturen, Verknüpfungs‐ mittel und Wortbildungsmuster. Sprachliche Herausforderungen ergeben sich hier oft auf der semantischen Ebene. Lerner: innen stolpern über lexi‐ kalische Wendungen, die einen historischen Wandel durchlaufen haben: „gebeut“ in Goethes Totentanz (vgl. Unterrichtshilfe „Historischen Sprach‐ gebrauch übertragen“) als ältere Verb-(Kurz-)Form zu nhd. ‚geboten‘, ‚ge‐ beten‘, ‚gebieten‘ kann möglicherweise nicht mehr aus dem Kontext er‐ schlossen werden: Und weil nun die Scham hier nun nicht weiter gebeut, Sie schütteln sich alle: da liegen zerstreut Die Hemdlein über den Hügeln. Die Toten legen alle Scham ab und tragen keine Totenhemden mehr. In diesem Falle erfordert das Verstehen im Sinne einer Herleitung des Wandels strenggenommen Kenntnisse über die Entwicklung von Flexionsformen vom Althochdeutschen über das Mittelhochdeutsche bis ins Neuhochdeut‐ sche, was sicherlich den Rahmen des Unterrichts sprengen muss. Das mhd. ‚bieten‘ wird im Neuhochdeutschen normalerweise zu / i / monophtongiert, die Nebenform / eu/ ist von Goethe möglicherweise als bewusster Archais‐ mus eingesetzt worden. Diese Form erinnert an lutherische Formen wie kreucht und fleucht (nhd. ‚kriechen‘, ‚fliegen‘). „Ergetzen“ (Strophe 2, Vers 1) wird den Lernenden als ‚sich erfreuen‘, ‚genießen‘ ebenfalls nicht sofort geläufig sein, auch hier kann der Griff zum Wörterbuch ggf. in die Irre führen - denn selbst wenn die Rundung zum ö seitens der Lernenden erfolgt, sind lexikalische Engführungen mit dem Götzen (falscher Gott) hier irreführend. Weitere Beispiele des „Totentanz“ zeigen darüber hinaus, dass die fehlende Vertrautheit mit den pragmatischen (historischen) Verwendungskontexten, genauer das (fehlende) kulturelle Wissen hier oftmals sprachliches und literarisches (Un-)Verstehen zusammenfallen lässt: Welche Aufgaben hatte ein Türmer? Wie sah sein Arbeitsumfeld aus? Welche soziale Stellung hatte er, welche gesellschaftliche Funktion kam ihm zu? Wörter transportieren auch Vorstellungen der Kulturgeschichte: 134 4 Balladendidaktische Grundlagen <?page no="135"?> Das Hemd muß er haben, da rastet er nicht, Da gilt auch kein langes Besinnen, Den gotischen Zierat ergreift nun der Wicht Und klettert von Zinnen zu Zinnen. Nun ist’s um den armen, den Türmer getan! Es ruckt sich von Schnörkel zu Schnörkel hinan, Langbeinigen Spinnen vergleichbar. Eine einfache „Übersetzung“ oder eine Wortannotation von „Zierat, Zinnen, Schnörkel“ in der Textpräsentation als Sprachentlastung griffe hier zu kurz, um die umfassenden Wissensbestände zur gotischen Architektur, die in der Ballade zum Türmer weiterhin wirksam werden, zu fassen. Diese inhaltliche Alterität wird im „Türmer“ noch zusätzlich durch Lautmalereien, Metapho‐ rik und Goethes Spiel mit älteren Sprachstufen verstärkt. Auch im „Erlkönig“ finden sich Verstehensherausforderungen aufgrund von Veränderungen in der Gebrauchssemantik: Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn? Meine Töchter sollen dich warten schön; Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn Und wiegen und tanzen und singen dich ein. In der Strophe wird dem Knaben versprochen, dass die Töchter sich um ihn kümmern und mit ihm tanzen. Dass die Schüler: innen dies nicht gleich verstehen, liegt mitunter in der Unkenntnis der (zunehmend) historischen Semantik von „warten“ und „nächtlichen Reihn“ begründet. Dieser internen Sprachreflexion kann eine Metareflexion zu Sprach‐ wandlungsprozessen zur Seite gestellt werden, die öffentlichen Polemiken eines Sprachverfalls aus der konkreten historischen Sprachreflexion begeg‐ net. Das Thema ist in den Bildungsplänen von der Primarstufe bis zur Sekundarstufe vorgesehen. In vielen Kernlehrplänen ist es auch in der Oberstufe fest verankert, im Umgang mit Literatur und Medien bildet oft die Sprachkrise um 1900 den Ausgangspunkt (Hugo von Hofmannsthals „Chan‐ dos-Brief “). Zudem ist Sprachwandel immer wieder in den Abiturklausuren bzw. der Standardüberprüfung Thema gewesen, in NRW rekurrierten seit 2010 beispielsweise 6 von 32 Aufgaben darauf. Tophinke betont im Praxis Deutsch-Heft „Sprachwandel“, dass Schüler: innen erkennen sollen, dass ein Wandel der Sprache nicht mit deren Verfall einhergeht, sondern dass auch kodifizierte Normen sich wandeln. So ist es hier besonders wichtig, 4.13 Sprache in Balladen reflektieren 135 <?page no="136"?> zu erarbeiten, dass in unterschiedlichen sprachlich-sozialen Situationen unterschiedliche Normen existieren. Im Sinne des entdeckenden Lernens könnte man die Autorennamen (und damit die zeitliche Verortung) zu den im Band präsentierten Totentanzballaden zunächst weglassen und den Schüler: innen folgende Aufgabe stellen: Die vorliegenden Balladen stammen aus verschiedenen Zeiten. Markieren Sie, welche Merkmale bezüglich der Verwendung der deutschen Sprache Ihnen auffallen, auch im Vergleich zueinander. Die Besonderheiten können dabei den folgenden Kategorien zugeordnet sein: ▸ Orthographie ▸ Bedeutung von Wörtern ▸ Satzbau / Wortstellung ▸ Fremdwörter ▸ Umgangssprache Legen Sie eine Reihenfolge gestuft nach dem Alter der Texte fest und begründen Sie diese anhand der Kategorien. Die unvoreingenommene Erkundung der Wandelprozesse im Totentanz von Goethe, Rilke und Kling könnte bereits vor der interpretatorischen Erschließung verdeutlichen, dass vereinfachte Aussagen zu einem Verfall der Sprache der Vielschichtigkeit sprachlicher Entwicklungen und der Be‐ deutung von Varietäten zur Markierung gesellschaftlicher Zusammenhänge nicht gerecht werden und der Bezug der darin enthaltenen Wertung völlig unklar ist. Nicht nur der Sprachvergleich auch die einzelne Betrachtung moderner Balladen lädt zur Reflexion über Sprache ein, besonders geeignet sind hier u. a. die Slams über Redensarten von Lars Ruppel. Die im Band präsentierte Ballade „Holger, die Waldfee“ ist dabei sowohl auf der inhaltlichen Ebene (Welche Funktionen haben Redensarten im Sprachgebrauch? usw.) als auch hinsichtlich der sprachlichen Realisierung (Vielzahl an Neologismen u. a. im Bereich der Komposita, Metaphorisierungen im Text) didaktisch ergiebig. Produktiver und reflexiver Sprachvergleich zu Balladen Das operative Schreiben zu Balladen (vgl. Kap. 4.4) sollte immer auch mit einer sprachlichen Reflexion einhergehen, dabei können Vergleiche 136 4 Balladendidaktische Grundlagen <?page no="137"?> in Hinblick auf historische, mediale und pragmatische Verwendungszusam‐ menhänge angestellt werden. Häufig sind kreative Unterrichtsvorschläge im Umgang mit Balladen zu‐ nächst darauf ausgerichtet, historische Texte medial und/ oder sprachlich zu modernisieren, sei es durch Umwandlung in ein modernes, zeitgemäßeres Genre (Rocklied, Rap …) oder eine Adaption in ein anderes Medium (vgl. Unterrichtshilfe „Ein Hörspielskript erstellen“, „Einen Balladentrailer er‐ stellen“). Diese produktiven Aneignungen sollten unbedingt auch genutzt werden um Sprach- und Medienreflexionen zu ermöglichen, d. h. die Pro‐ duktion sollte zum Ausgangstext ins Verhältnis gesetzt werden. Schüler: in‐ nen können im Rahmen dessen ihre eigene Transformation begründen. Die Funktionen der Sprache könnten zunächst zu einzelnen Teilaspekten in den Blick genommen werden, um undifferenzierte Aussagen („so ist es ver‐ ständlicher, einfacher“ etc.) zu vermeiden: ▸ An welchen Stellen wurden Wörter bzw. Wortgruppen gestrichen oder deren Bedeutung veändert? ▸ Weshalb wurden zusätzliche Wörter eingefügt? ▸ Wie verändern sich Wortgruppen und Satzgefüge? ▸ Wie verändern sich damit die Aussagen des Textes? Die produktive Adaption und Reflexion kann sich neben der historischen und medialen Perspektive aber auch auf regionale oder soziale Sprachver‐ wendungszusammenhänge beziehen. Ein schönes Beispiel hierfür ist Tho‐ mas Braschs „Mörder Ratzek weißer Mond“, zu der man den Schüler: innen folgende Aufgaben zur Sprachreflexion stellen könnte: 1. Markieren Sie zur Ballade „Mörder Ratzek weißer Mond“ sprachliche Auffälligkeiten/ Besonderheiten, die nicht dem ‚Standarddeutsch‘ ent‐ sprechen. 2. Ordnen Sie Ihre Beobachtungen den Kategorien „Umgangssprache“ „Mündlichkeit“ und „Regiolekt“ (Regionalsprache) und „Soziolekt“ zu und erläutern sie ggf. auch Mehrfachbesetzungen. 3. Definieren Sie anhand ihrer Zuordnungen, was sie darunter verstehen würden und welche Aufgaben diesen unterschiedlichen „Sprachen“ im Alltag zukommen. 4. Setzen Sie anstelle der Auffälligkeiten andere Beispiele in den Balladen‐ text ein und überlegen Sie, wie sich der Sinn der Ballade dadurch verändert. 4.13 Sprache in Balladen reflektieren 137 <?page no="138"?> Es ist darüber hinaus auch möglich, bereits vorliegende mediale Adap‐ tionen (Kurzfilme, Hörspiele, Lieder, Bilderbücher, Comics etc.) in den Blick zu nehmen und auf ihre jeweils spezifischen sprachlichen Leistungen und Potentiale hin zu untersuchen. Besonders vielversprechend sind hier Höradaptionen: Welche Wirkungen erzeugen die sprachlichen Verände‐ rungen in einer musikalischen Umsetzung? Dies kann mit umfassenden Neuinterpretationen (z. B. in „Rap trifft Klassiker. Balladen einmal ganz anders“ im Schroedel-Verlag), oder aber auch in gering veränderten Tex‐ ten untersucht werden, z. B. zu Balladen im klassischen Liedgut (Franz Schuberts „Erlkönig“). Die bild-textliche Adaption einer Ballade kann zur Reflexion von Sprache Anregen. Hier lohnt sich der Blick in Comics, weil der Ursprungstext dort durch die Sequenzierung in Panels und die damit einhergehende Zeit- und Narrationsstruktur meist verändert werden muss, was in Bilderbuchadaptionen nicht immer der Fall ist (vgl. „Herr von Ribbeck“ etc.). Unter Berücksichtigung sozialer und kultureller Sprachvielfalt (Varietä‐ ten, Mehrsprachigkeit) kann zum einen mit Texten in der Herkunftssprache (vgl. Balladen übersetzen) gearbeitet werden, wobei beachtet werden muss, dass Migrationssprachen aufgrund des Sprachkontakts z. T. einen spezifi‐ schen Wandel erfahren und Lerner: innen aus unterschiedlichen Gründen (vgl. Dirim 2017: 332) nicht unbedingt über schriftsprachliche Kompetenzen in ihrer Erstsprache verfügen. Es muss jedoch vorher geprüft werden, inwieweit Vergleiche unterschiedlicher Sprachen hier nicht nur auf einer oberflächlichen Ebene bleiben, dies ist im Wesentlichen von den bereits vorhandenen metasprachlichen Kompetenzen der Lerner: innen sowie der Sprachkompetenz der Lehrkräfte abhängig. Generell muss zwischen sprachlicher Reflexion (in funktionalen Kontex‐ ten, in Beobachtung und Reflexion des Sprachgebrauchs) und Sprachrefle‐ xion unterschieden werden. Letzteres, welches mit dem Ausbau fachlicher Terminologien verbunden ist, sollte erst in den Sekundarstufen und mit deutlichem Kompetenzzuwachs/ -erwerb im erstgenannten Bereich eine Rolle spielen (vgl. Müller 2017: 298). 138 4 Balladendidaktische Grundlagen <?page no="139"?> Literatur zur Vertiefung T O P H I N K E , Doris (2002). „Sprachwandel“. Praxis Deutsch 215, 4-13. M ÜL L E R , Astrid (2017). „Sprache und Sprachgebrauch untersuchen“. In: Baurmann, Jürgen / Kammler, Clemens / Müller, Astrid (Hrsg.) Handbuch Deutschunterricht. Seelze: Klett/ Kallmeyer, 201-205, 296-302. W I M M E R , Rainer (2009). „Sprachkultur, Sprachkritik, Sprachverfall - eine Positions‐ bestimmung“. Der Deutschunterricht 5, 5-12. 4.13 Sprache in Balladen reflektieren 139 <?page no="141"?> 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge 5.1 Freundschaft und Liebe 5.1.1 Freundschaft hat viele Gesichter - „Die Freunde“ von Wilhelm Busch Juliane Dube Thema: Wie eine Reihe von Befragungen zeigen, rücken Freundschaf‐ ten immer mehr und mehr ins Zentrum des gesellschaftlichen Miteinanders. Auch für heutige Kinder und Jugendliche besitzt Freund‐ schaft eine größere Bedeutung als noch für ihre Großelterngeneration (vgl. Mietzel 2002). Damit die Heranwachsenden jedoch im sozialen Kontext angemessen handeln können, gilt es, die Vielschichtigkeit von freundschaftlichen Beziehungen sowie die feinen Nuancen und Abstu‐ fungen kennenzulernen (vgl. Jütte 2016). Hierfür kann einmal mehr auf das Potenzial von Literatur für Sozialisations- und Enkulturationsprozesse, aber auch für die damit verbundene individuelle Entwicklung zurückgegriffen werden. Im Rahmen der thematischen Sequenzbildung „Freundschaft hat viele Gesichter“ bietet es sich an, eine Vielzahl unterschiedlicher Texte zum Thema Freundschaft zusammenzustellen. Auswahlprinzipen können je nach Schwerpunktsetzung berühmte Freundschaftsbeziehungen in der Literatur (literarisches Wissen), das Freundschaftsmotiv und seine literarische Verarbeitung (literarischhistorischer Fokus) oder der Austausch zu jenen in den Texten darge‐ stellten Freundschaftsbeziehungen sein (Imagination und Perspektiv‐ übernahme). Auch in Balladen taucht das Motiv der Freundschaft immer wieder auf. Dabei sind die dort verhandelten Freundschaftsbeziehungen, wie es die dramatische Handlungsstruktur der Texte nicht anders erwarten lässt, oftmals mit Untreue, Verrat und Täuschung verbunden. Folglich fungieren sie nicht nur als Texte, an denen beispielhaft Kompetenzen zur Figuren- und Handlungsanalyse erworben werden können, sondern <?page no="142"?> bieten gleichfalls anregende Gesprächsimpulse über den Text hinaus. Anders als in klassischen Kinder- und Jugendbuchtexten, in denen das Freundschaftsmotiv häufig im Zusammenhang mit Treue und Zu‐ verlässigkeit thematisiert wird, ist in der modernen Literatur u. a. in den Texten der Autoren Bertolt Brecht und Alfred Döblin auf Freunde oftmals kaum Verlass. Auch die Ballade „Die Freunde“ von Wilhelm Busch bricht mit gesellschaftlichen Konventionen und irritiert damit die Leser: innen. Intention: Ziel der Unterrichtsreihe ist es, den Schüler: innen die Möglichkeit zu geben, sich erfahrungs- und textorientiert über die Freundschaften auszutauschen. Unterricht in der Orientierungsstufe (4. bis 6. Schuljahr): Hierzu erstellt jeder Lernende zunächst ein Lapbook zur Ballade, in dem sowohl textals auch themenbezogene Pflicht- und Wahlaufgaben kreativ und selbstständig bearbeitet werden sollen. Anschließend kommen die Schüler: innen zusammen, um sich über Formen und Bedeutung von Freundschaft auszutauschen. - Ausgewählte didaktische Analyse Seit der Antike in zahlreichen Werken der Philosophie, Religion und Sozio‐ logie, aber auch der Bildhauerei, Malerei und Literatur thematisiert, findet sich das Motiv der Freundschaft bis heute bundeslandübergreifend auch in den Rahmenrichtlinien und Kerncurricula des Deutschunterrichts wieder. Entsprechend breit sind die literarischen Vorschläge, auf die bei der Arbeit im Rahmen der thematischen Sequenzbildung zurückgegriffen wer‐ den kann. Die hier zusammengestellte Auswahl an Kurzgeschichten und Kinderbüchern bietet für die Orientierungsstufe einige Anregungen: ▸ Sinan und Felix von Aygen-Sibel Çelik und Barbara Korthues ▸ Dicke Freundinnen von Cornelia Funke ▸ Freunde der Nacht von Matthias Morgenroth ▸ Reihe: Die Muskeltiere von Ute Kraus ▸ Reihe: Krümel und Pfefferminz - Allerbeste Freunde von Delphine Bour‐ nay (aus dem Französischen) ▸ … 142 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="143"?> Weil Freundschaft aber keineswegs immer gleich ist und uns in den ver‐ schiedensten Facetten begegnen kann, können Geschichten und Freund‐ schaftsmotive immer wieder auch neu entdeckt werden. Während viele Kinderbücher sich an einem Freundschaftsideal orientieren, in dem auf Streit immer auch die Versöhnung folgt und Proben der Freundschaft stets bestanden werden, bieten gerade die Texte der modernen Literatur neue Blickwinkel. Einer dieser Texte ist die Ballade „Die Freunde“ von Wilhelm Busch. Die Freunde (Wilhelm Busch) Zwei Knaben, Fritz und Ferdinand, Die gingen immer Hand in Hand, Und selbst in einer Herzensfrage Trat ihre Einigkeit zutage. Sie liebten beide Nachbars Käthchen, Ein blondgelocktes, kleines Mädchen. Einst sagte die verschmitzte Dirne: Wer holt mir eine Sommerbirne? Recht saftig, aber nicht zu klein? Hernach soll er der Beste sein. Der Fritz nahm seinen Freund beiseit Und sprach: Das machen wir zu zweit; Da drüben wohnt der alte Schramm, Der hat den schönsten Birnenstamm. Du steigst hinauf und schüttelst sacht, Ich lese auf und gebe acht. Gesagt, getan. Sie sind am Ziel: Schon als die erste Birne fiel, Macht Fritz damit sich aus dem Staube, Denn eben schlich aus dunkler Laube, In fester Faust ein spanisch Rohr, Der aufmerksame Schramm hervor. Auch Ferdinand sah ihn beizeiten Und tät am Stamm heruntergleiten In Ängstlichkeit und großer Hast. 5.1 Freundschaft und Liebe 143 <?page no="144"?> Doch eh er unten Fuß gefaßt, Begrüßt ihn Schramm bereits mit Streichen, Als wollt er einen Stein erweichen. Der Ferdinand, voll Schmerz und Hitze, Entfloh und suchte seinen Fritze. Wie angewurzelt blieb er stehn. Ach, hätt’ er es doch nie gesehn: Die Käthe hat den Fritz geküßt, Worauf sie eine Birne ißt. Seit dies geschah, ist Ferdinand Mit Fritz nicht mehr so gut bekannt. (B O H N E , Friedrich (Hrsg.) (1960). Wilhelm Busch. Historisch-kritische Gesamtaus‐ gabe. Bd.-4, Wiesbaden: Vollmer, 294) Ähnlich wie in den Erzählungen zu Max und Moritz beginnt der hetereo‐ diegetische Erzähler in der hier ausgewählten Ballade, die über alle sechs Strophen im Paarreim verfasst ist, mit der Vorstellung der beiden Figuren Fritz und Ferdinand. Die Leser: innen erfahren in einer Art Einleitung von der innigen Freundschaft, die beide verbindet („gingen immer Hand in Hand“) und ihren ähnlichen Vorlieben, auch im Hinblick auf das Mädchen Käthchen. Um diese zu erobern, gilt es jedoch, in einem Wettstreit zwischen den beiden Freunden, eine saftige Birne zu ernten und Käthchen zu bringen. Dass sich beide auf diesen Wettstreit einlassen, zeugt jedoch bereits von der minderen Qualität ihrer Freundschaft. Wenngleich Fritz vorschlägt, den Wunsch von Käthchen mit vereinten Kräften zu erfüllen - so wie es sich für echte Freunde gehört - trennen sich beide nach kurzer Zeit. Denn bereits „als die erste Birne fiel“, macht sich Fritz von dannen, als er den Nachbarn Schramm erblickt. Seinem Freund Ferdinand schickt er weder Warnungen auf den Baum, noch versucht er, den Nachbarn aufzuhalten bzw. abzulenken. Ferdinand, von seinem vermeintlich besten Freund im Stich gelassen, wird nun allein vom Bauern hart bestraft („Als wollt er einen Stein erweichen“). Glaubt man bis zum Ende der fünften Strophe noch, dass Fritz sich nur selbst vor der Bestrafung des Herrn Schramm bewahren wollte, verwirft man diesen Gedanken schnell wieder, als man erfährt, dass Fritz anstatt seinem Freund zu helfen, die gelbe Birne lieber Käthchen bringt. Erneut bricht er damit die Erwartungen, die an einen Freund gestellt werden, sodass Ferdinand nichts übrigbleibt, als mit dem Freund zu brechen. 144 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="145"?> Vorschlag zur didaktischen Umsetzung Folgende Bezüge zu den Kompetenzen werden besonders berücksichtigt: Die Schüler: innen-… ▸ arbeiten die zentralen Inhalte der Ballade „Die Freunde“ von Wilhelm Busch selbstständig mithilfe eines Lapbooks heraus (vgl. Unterrichts‐ hilfe „Balladen nacherzählen - ein Balladen-Lapbook gestalten I.pdf “). Dabei wenden sie einfache Verfahren der Textuntersuchung und -be‐ schreibung an (z. B. Texte inhaltlich zusammenfassen, Gliederung und grafische Darstellungen zur narrativen Handlungslogik erstellen, zen‐ trale Figurenmerkmale herausarbeiten etc.); ▸ präsentieren die erstellten Lapbooks der Klasse; ▸ setzen sich vor dem Hintergrund literarischer und eigener Erfahrungen mit dem Motiv der Freundschaft auseinander. Abb. 5.1: Beispiel für ein Lapbook (Starchildmom, English Wikibooks) Essentiell für Gespräche über literarische Texte ist ein grundlegendes Ver‐ ständnis. Schwierigkeiten bereiten hier oftmals unmarkierte Schauplatz- und Sprecherwechsel oder die Rekonstruktion chronologischer Ereignisfolgen wie sie in der ausgesuchten Ballade vorkommen. Als Alternative zur gemeinsamen Texterschließung im Lehrer: innen und Schüler: innen-Gespräch hat sich in den letzten Jahren zunehmend die Gestaltung von so genannten Lapbooks (auch Schoßbücher) etabliert (Abb.-5.1). Ursprünglich aus den USA kommend, 5.1 Freundschaft und Liebe 145 <?page no="146"?> kombinieren jene kleinen oder größeren Faltbüchlein (Leporellos, Stufenbü‐ cher, Kreisbücher usw.) kurze Texte und kreative Gestaltungselemente (z. B. Taschen, Klappkarten, Pop-ups, Umschlägen mit Kärtchen). Damit bilden sie in einem differenzierten Deutschunterricht die Möglichkeit, Leseeindrücke und Arbeitsergebnisse ganz individuell zu dokumentieren. Den Einstieg in die Unterrichtssequenz bildet ein Vortrag der Ballade durch die Lehrperson. Je nach Klassenzusammensetzung kann dieser ggf. durch Bilder der Protagonisten und Symbole erweitert werden, deren Stel‐ lung an der Tafel während des Balladenvortrags verändert wird. Anschlie‐ ßend erhalten die Lernenden die Ballade als Textfassung zusammen mit dem Auftrag, zur Ballade ein Lapbook zu gestalten. In diesem setzen sie sich mithilfe von Wahl- und Pflichtaufgaben sowohl mit dem Text als auch mit dem dort verhandelten Motiv der Freundschaft auseinander. Fragen können im Vorfeld gemeinsam im Plenum gesammelt oder von der Lehrperson vorgegeben werden, sodass sichergestellt ist, dass auch alle für die Ballade relevanten Informationen von den Lernenden herausgearbeitet werden. Mögliche Anregungen finden Sie hier: ▸ Pflichtaufgaben - Wer hat die Ballade geschrieben? Suche Informationen zum Autor. - Wie heißt die Ballade? Findest du die Überschrift passend? Wie hätte die Überschrift noch lauten können? - Beschreibe in einem Satz, wovon die Ballade erzählt. - Zeichne mit kleinen Bildern das Geschehen nach. - Wie wird die Freundschaft zwischen Fritz und Ferdinand zu Beginn der Ballade beschrieben? Schreibe die Textstelle ab. - Gestalte in deinem Lapbook ein Bild zur Ballade. - … ▸ Wahlaufgaben - Freundschaft ist für mich-… - Von einem Freund würde ich mich trennen, wenn-… - Kannst du verstehen, dass Ferdinand nicht mehr mit Fritz befreun‐ det sein will? Wie hättest du anstelle von Ferdinand gehandelt? - Die Ballade „Die Freunde“ von Wilhelm Busch finde ich-… - Suche im Internet und Poesiebüchern nach einem Spruch über Freundschaft. Schreibe ihn auf. - Mein schönstes Erlebnis mit meiner Freundin/ meinem Freund war-… 146 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="147"?> Sollten die Kinder zuvor noch kein Lapbook erstellt haben, muss dessen Erstellung vorher besprochen werden. Zur Einführung in die Arbeit mit den Lapbooks eignet sich nicht nur das Vorstellen von unterschiedlichen Beispielen aus vergangenen Bearbeitungen (ggf. auch mit Hilfe des Inter‐ nets), sondern auch die Bereitstellung unterschiedlicher Lapbook-Vorlagen. Je häufiger die Heranwachsenden anschließend mit dem Lapbook arbeiten, desto größer kann ihr Gestaltungsfreiraum abgesteckt werden. Sind die Lapbooks erstellt, können sie anschließend an einer Leine im Klassenzimmer aufgehängt oder auch im Rahmen einer Vernissage präsen‐ tiert werden. Ausgestattet mit drei farbigen Klebezetteln hat jeder Besucher anschließend die Möglichkeit, zu Inhalt und Gestaltung einzelner Lapbooks ein kurzes schriftliches Feedback zu geben. Beispielsweise: ▸ Deine alternative Überschrift finde ich sehr passend. ▸ Mir gefällt dein ausgewählter Spruch zum Thema Freundschaft. ▸ Bei der Gestaltung des Lapbooks hast du dir viel Mühe gegeben. In größeren Klassen bietet es sich an, die Gruppe zu teilen. Während eine Gruppe leise die Lapbooks erkundet, können sich die Teilnehmer: innen der anderen Gruppe zur Leitfrage: Feste Freundschaften heute: notwendig oder austauschbar? bereits Notizen für die anschließende Gruppendiskussion machen. In Sozialen Netzwerken werden Freunde katalogisiert, abonniert oder der Freundeskreis nach verschiedenen Kriterien systematisiert, Freundschaften mit fremden Menschen durch einen Klick geschlossen oder langjährige Freundschaften ebenso schnell beendet. Insbesondere vor dem Hintergrund dieser Aushöhlung des Freundschaftsbegriffs sollen die Kinder zum Aus‐ tausch über Freundschaften und ihre Bedeutung innerhalb und außerhalb der digitalen Welt zusammenkommen. Zur Beantwortung der Leitfrage, wie sie oben formuliert wurde, können die Schüler: innen sowohl auf ihre Aufzeichnungen aus den Lapbooks zurückgreifen als auch eigene Erfahrun‐ gen einbringen. Auf die Fragen: „Wann ist Freundschaft auch wirklich Freundschaft bzw. was sind echte und was unechte Freunde? “ oder „Was hält eine Freundschaft zusammen und was bricht sie? “, wird es vermutlich keine eindeutigen Antworten geben. Jedoch kann die Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Texten dazu beitragen, das eigene Gefühl für Freundschaft zu stärken und zu bereichern. 5.1 Freundschaft und Liebe 147 <?page no="148"?> 5.1.2 Vom Abhandenkommen der Liebe - „Sachliche Romanze“ von Erich Kästner Juliane Dube Thema: Reportage- und Reiseliteratur sowie Gebrauchslyrik und Dra‐ men sind die zentralen literarischen Genres der Neuen Sachlichkeit, um Alltagsfragen, die Beziehungen zwischen den Geschlechtern innerhalb der Anonymität der Großstadt, Fragen der Moral und des Umgangs des Staates mit seinen Bürger: innen zu thematisieren. Neben zentralen Vertretern wie Kurt Tucholsky, Bertolt Brecht und Erich Weinert prägen auch die Schriften des Lyrikers, Romanisten, Essayisten und Kinder‐ buchautoren Erich Kästner jene literarische Phase nachhaltig. Von der Literaturkritik als Schlüsselautor der deutschen Zwischenkriegszeit und als „typischer Volksschriftsteller“ (Marcel Reich-Ranicki 1974) bezeich‐ net, verstand sich Kästner nicht als Sprachartist wie so viele seiner zeitgenössischen Kolleg: innen. So schreibt Kästner in seiner „Prosai‐ schen Zwischenbemerkung“: „Verse, die von den Zeitgenossen nicht in irgendeiner Weise zu brauchen sind, sind Reimspielereien, nichts weiter“ (Kästner 1929: 55). Vielmehr wollte er mit seinen klar formulier‐ ten Beschreibungen der Realität und der Alltagssorgen die Menschen wachrütteln und motivieren, ihre Gesellschaft selbst zu formen. „Nie wollte er aufhören zu glauben, dass die Menschen besser werden könnten, wenn man sie oft genug beschimpft, bittet, beleidigt und auslacht“, so Reich-Ranicki im Vorwort zu Kästners Montagsgedichten (2012: 11). Eines seiner besonderen Werke jener Zeit ist die Ballade „Sachliche Romanze“, die nicht nur bereits im Titel, sondern in der gesamten Ballade die vermutlich alltägliche Distanz zweier sich einst Liebender thematisiert. Intention: Als Abweichung von der klassischen Balladenform u. a. durch die Einbindung eines reflektierenden Erzählstils ist Kästners Ballade ein Beispiel für die Vielseitigkeit jener literarischen Gattung. So erscheint die Ballade wenig polternd und emotional, ja nahezu fern von Dramatik. Durch die angeleitete Szenische Interpretation von Ballade und Bild durch den Einsatz eines Hilfs-Ich erfahren die Lernenden jedoch im aufgezeigten Unterrichtsvorschlag, dass auch hier ein emo‐ tional konflikthaftes Thema behandelt wird, das sich bis ins Dramatische 148 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="149"?> hineinsteigert, ohne dass diese Emotionalität auf sprachlicher Ebene wiederzufinden ist. In der abschließenden Reflexion einer filmischen Umsetzung der Ballade können die Lernenden ihre Erfahrungen zum Füllen der Leerstellen in der Ballade erneut reflektieren. Unterricht im 7. und 8. Schuljahr: Nach dem ersten Lesen der Ballade sind die Lernenden aufgefordert, ein Standbild zu einer selbstgewählten Szene zu erstellen und den Einsatz eines Hilfs-Ich zu erproben. - Ausgewählte didaktische Analyse Als Erich Kästner die Ballade „Sachliche Romanze“ 1928 veröffentlichte, beträgt die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland fast fünf Millionen. Nur die Hälfte von ihnen war durch die Arbeitslosenversicherung abgesichert. Die wirtschaftlichen und psychologischen Folgen der Weltwirtschafts‐ krise sowie des Ersten Weltkriegs bestimmten den Alltag eines Großteils der deutschen Bevölkerung. Anders als die vorherrschende Kunstrichtung des Expressionismus und ihrem radikalen Ausdruck von Subjektivität bzw. der Darstellung des Unsagbaren war das literarische Schaffen geprägt von Romanen in der hybriden Gattung der literarischen Reportagen (Reportage‐ literatur) und Gedichten mit distanzierenden Beschreibungen sowie einem ironischen oder satirischen Blick auf: ▸ Alltagsprobleme (z.-B. Arbeitslosigkeit, Arbeitsdruck, Krankheit), ▸ Beziehungen zwischen den Geschlechtern innerhalb der Anonymität der Großstadt, ▸ Fragen der Moral bzw. den Einstellungen zum Krieg, ▸ den Umgang des Staates mit seinen Bürgern. Verbunden mit der Idee, über die einfache und leicht verständliche Be‐ schreibung der Tatsachen, den Leser bzw. die Leserin wachzurütteln, ihm die Augen für beobachtete Missstände im Alltag, aber auch im Arbeitsleben zu öffnen und ihn zur Initiative aufzurufen (Gebrauchslyrik), schrieben Autor: innen wie Erich Kästner, Kurt Tucholsky, Bertolt Brecht oder Irmgard Keun und Marieluise Fleißer. Zu jenen wachrüttelnden Texten zählt auch Kästners Ballade „Kurt Schmidt, statt einer Ballade“ (1930), in der er die sozialen Lebensumstände sowie den alles beendenden Selbstmord des gewöhnlichen Glasfabrikarbeiters Kurt Schmidt nach Ar‐ 5.1 Freundschaft und Liebe 149 <?page no="150"?> beitsschluss thematisiert. Beendet wird die literarische Phase der Neuen Sachlichkeit mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933, in der man zu einem pathetischen, volkstümlichen Literaturstil zurückkehrte. Auch Erich Kästner erhielt 1942 totales Schreibverbot. Vor dem Hintergrund der geschilderten Lebensumstände der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts thematisiert Kästner in seiner modernen Ballade, wie das Oxymoron im Titel bereits vermuten lässt, anstatt einer Romanze die Trennung eines unbekannten Paares. Entgegen der üblichen literarischen und gesellschaftlichen Konventionen einer Romanze beschreibt er mit nüchternem Blick, wie einem Paar die Liebe - gleich einem Gegenstand - abhanden kommt (Strophe 1), das sich bemüht, dies zu überspielen (Strophe 2 & 3), aber schlussendlich scheitert (Strophe 4). „Sachlichkeit entzaubert die ‚Romanze‘“ (Pietzcker 1991: 172). Dabei zeigt sich die Distanz zwischen den namenlosen Figuren in der vierstrophigen Ballade jedoch nicht nur zwischen ihnen, sondern auch zwischen ihnen und der Außenwelt, die weiterhin ihren Alltäglichkeiten nachgeht. Ähnlich wie bei der Ballade Kurt Schmidt liegt die Dramatik folglich nicht in der Erzählhaltung, sondern in den gegebenen Lebensumständen. Sachliche Romanze (Erich Kästner) Als sie einander acht Jahre kannten (und man darf sagen: sie kannten sich gut) kam ihre Liebe plötzlich abhanden. Wie andern Leuten ein Stock oder Hut. Sie waren traurig, betrugen sich heiter, versuchten Küsse, als ob nichts sei, und sahen sich an und wussten nicht weiter. Da weinte sie schliesslich. Und er stand dabei. Vom Fenster aus konnte man Schiffen winken. Er sagte, es wäre schon Viertel nach vier und Zeit, irgendwo Kaffee zu trinken. Nebenan übte ein Mensch Klavier. Sie gingen ins kleinste Café am Ort und rührten in ihren Tassen. Am Abend sassen sie immer noch dort. 150 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="151"?> Sie sassen allein, und sie sprachen kein Wort und konnten es einfach nicht fassen. (K Ä S T N E R , Erich (1929): Lärm im Spiegel. Zürich: Atrium. Trotz jener für Kästner und die Zeit der Neuen Sachlichkeit typischen leicht zugänglichen Sprache der Texte verhandelt die Ballade eine komplexe Thematik, die sich auch auf formaler Ebene widerspiegelt. Während Kästner in den ersten drei Strophen noch mit vierzeiligen Kreuzreimen (abab) arbeitet, wird der Lesefluss in der vierten Strophe durch einen zusätzlichen Vers und der damit einhergehenden Erweiterung a-b-a-(a)-b irritiert. Durch die strukturell herbeigeführte Zäsur ist die Distanz zwischen beiden namen‐ losen Figuren fast greifbar. Auf sprachlicher Ebene wird die Wirkung durch das eingefügte „und“ sowie das verabsolutierende „kein“ verstärkt: „Sie sassen allein, und sie sprachen kein Wort“. Entsprechend der emotionslosen Sprache zur Zeit der Neuen Sachlichkeit schließt die moderne Ballade mit der nüchternen Feststellung, dass nicht nur das Gespräch miteinander verstummt, sondern auch ihre Liebe. Durch den Wechsel auf eine weibliche Kadenz und die Einfügung einer zusätzlichen Silbe im Vers „und konnten es einfach nicht fassen“ wirkt das Ende jedoch offen. - Vorschlag zur didaktischen Umsetzung Folgende Bezüge zu den Kompetenzen werden besonders berücksichtigt: Die Schüler: innen … ▸ untersuchen die ausgewählte Ballade und weitere (audio-)visuelle Um‐ setzungsformate im Hinblick auf die Konstellation der Figuren bzw. ihrer Beziehung zueinander. ▸ entwickeln durch den Vergleich mit bildlichen und szenischen Begleit‐ materialien ein intensives und differenziertes Textverständnis zur Bal‐ lade. ▸ inszenieren kurze Szenen im Standbild und erproben den Einsatz eines Hilfs-Ichs. Um die konträr zur sprachlichen Darstellung liegende angedeutete Dramatik der Ballade zu erfahren, sollen sich die Lernenden die Textvorlage über das produktionsorientierte Verfahren der Szenischen Interpretation erschließen (vgl. Scheller 2014). Fachdidaktisch vor allem in den zahlreichen seit den 1980er-Jahren veröffentlichten Arbeiten von Ingo Scheller, Albrecht Schau 5.1 Freundschaft und Liebe 151 <?page no="152"?> und Marcel Kunz aufgearbeitet, haben sich Szenische Interpretations‐ verfahren nicht nur durch die Konjunktur handlungsorientierter Unter‐ richtsmethoden etabliert, sondern auch, weil sie sowohl den Lehrenden als auch den Lernenden einen anderen Umgang mit Literatur ermöglichen. Eingangs vor allem für offene, später geschlossene Dramentexte gedacht, liegen Ausführungen zur Szenischen Interpretation inzwischen auch zu Romanen, Kurzgeschichten, Filmen, Bildern und journalistischen Texten vor. Die Ausführungen adressieren dabei neben Deutsch auch alle stärker künstlerisch orientierten Fächer, aber auch den Fremdsprachen-, Politik-, Geschichts- und Religionsunterricht aller Schulformen und -stufen (vgl. die Literaturübersicht in Scheller 2014: 17 f.). Szenen, so Scheller, stehen stets in einem Handlungszusammenhang, der jedoch von epischen und dramatischen Texten auf Dialoge und/ oder erzählende Abschnitte eingegrenzt ist (ebd.: 24). Folglich geht es beim Szenischen Spiel nicht darum, Textszenen nachzuspielen, sondern sich z. B. durch den Einsatz von Stimme, Gestik und Mimik sowie dem eigenen Körper, systematisch in die Rolle und die Szenen einzufühlen. Einen Überblick zur Vielfältigkeit szenischer Interpretationsverfahren bietet die Zusammenstellung im Sonderheft von Praxis Deutsch zu „Drama-Theater-Szenisches Spiel“ von Abraham und Kammler (2005). Mit dem Ziel, sich zu Beginn der Unterrichtsreihe im szenischen Spiel der eigenen Haltung zum Text bewusst zu werden und sich in intensiven Inter‐ pretationsgesprächen z. B. über inhaltliche Zusammenhänge und Perspek‐ tiven von Figuren auszutauschen, bietet es sich an, die Klasse nach dem ersten Lesen der Ballade zunächst in Kleingruppen einzuteilen. Versehen mit dem Auftrag, die Beziehung zwischen den beiden Hauptfiguren der Ballade herauszuarbeiten, sollen die Lernenden ein Standbild entwickeln. Dabei sol‐ len sie den Einsatz eines Hilfs-Ichs erproben. Hierzu tritt ein Schüler bzw. eine Schülerin hinter eine der beiden Figuren im Standbild und spricht deren Gedanken aus (vgl. Unterrichtshilfe „Balladen szenisch interpretieren“). Un‐ abhängig von der Form der szenischen Umsetzung können auch mehrere Hilfs-Ichs eingebunden werden (vgl. Spinner 2016: 102), die am Ende der Doppelstunde zusammen mit dem Standbild der Klasse präsentiert werden. Wichtig für die szenische Erarbeitung von Medien ist deren anschließende Reflexion. Schellers Ausführungen zur Reflexion orientieren sich hierfür an dem Muster, das Brecht in der „Straßenszene“ als Grundsituation des 152 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="153"?> epischen Theaters beschreibt. Beobachter: innen und Spieler: innen tauschen sich folglich nicht nur darüber aus, was sie wahrgenommen haben, sondern demonstrieren dies auch. „Sie deuten und verfremden das Wahrgenommene so, dass Voraussetzungen und Wirkungen, eventuell auch Alternativen er‐ kennbar werden. Das zwingt zur Konkretisierung, zum Sichtbarmachen von Verhaltensnuancen, zur Diskussion unterschiedlicher Wahrnehmungswei‐ sen“ (Scheller 2014: 56). Spinner begrenzt seine Ausführungen zur Reflexion szenischer Verfahren hingegen auf den mündlichen Austausch zum Dar‐ gestellten z.-B. anhand von folgenden Leitfragen (vgl. Spinner 2016: 102): ▸ Wie hast du dich in deiner Figurenrolle gefühlt? ▸ Welche Teilaspekte kamen in der Darstellung zum Tragen? ▸ Wie haben die Zuschauer: innen die Darstellung empfunden? Stimmen Intention der Gruppen und Darstellung überein? Alternativ zur Arbeit mit den Methoden der Szenischen Interpretation ist auch der vergleichende Einsatz von Bildern denkbar, um ein intensives und differenziertes Textverständnis zur Ballade aufzubauen. Ungeachtet der alltäglichen Omnipräsenz und schulischen Funktionali‐ sierung sind Bilder, so Abraham, ein „weithin missachtetes Basismedium (…), das Schriftlichkeit oft auf ideale Weise ergänzt“ (2017: 224). Folglich sind Methoden zur Transformation von Texten in Bilder oder die Ergänzung von Texten durch Bilder eine beliebte Methode im handlungs- und produk‐ tionsorientierten Unterricht. Den Ausführungen des Bandes Bild und Text im Unterricht von Abraham und Sowa (2016) folgend können: ▸ Bilder zu Texten gemalt werden z. B. in Form von Illustrationen und Strukturbildern ▸ Texte zu Bildern geschrieben werden z.-B. in Form von kleinen Gedichten ▸ Texte und Bilder im Wechselspiel aufgegriffen werden z. B. bei der Gestaltung eines eigenen Bilderbuchs Unabhängig von der Wahl der Methode sollte jedoch darauf geachtet werden, die unangemessene Verzweckung eines ästhetischen Gegenstands anzubahnen, indem einem Gespräch über das Bild ebenfalls Raum gegeben wird (vgl. Abraham/ Sowa 2016: 75). Damit erfolgt ein Wechsel vom Bild als Methode zum Bild als Unterrichtsgegenstand. Zu diesem können die Lernenden im Proberaum des Literarischen Gesprächs nicht nur ihre ästhe‐ tischen Wahrnehmungs- und Äußerungsfähigkeiten einüben, sondern auch die ,Gemachtheit‘ des Kunstwerks reflektieren. 5.1 Freundschaft und Liebe 153 <?page no="154"?> Abb. 5.2: Room in New York, Edward Hopper (1932) Im Rahmen der Unterrichtssequenz zu Kästners Ballade bietet sich der Einsatz des Bildes Room in New York von Edward Hopper (1932) an (Abb. 5.2). Wenngleich sich Hoppers Bild nicht auf Kästners Ballade bezieht, thematisiert dieses ebenfalls, wie der Titel Room in New York bereits deutlich macht, eine jener alltäglichen Situationen einer Ehe, die in Routine gefallen ist. Auch hier findet sich die sprachliche Nüchternheit und Bescheidenheit, jene Ökonomie der erzählerischen Mittel der von Kästner beschriebenen Szenerie wieder. Hopper gelingt es dadurch auf visueller Ebene, viel über die Beziehung zwischen beiden Figuren zu erzählen, ohne dass scheinbar etwas passiert. Fragen, die nach dem Lesen und Besprechen der Ballade ein Bildgespräch in Kleingruppen anleiten können, konzentrieren sich auf die Darstellung der Personen, die Raumgestaltung und den Einsatz der technischen Mittel (vgl. Unterrichtshilfe „Ein Bildgespräch führen“). Unabhängig davon, ob Interpretationsprozesse zur Ballade über die Szeni‐ sche Interpretation oder über Sehgespräche zu Hoppers Bild angeregt wer‐ den, sollen die Schüler: innen in beiden Fällen den Einsatz eines Hilfs-Ichs erproben. In Anerkennung der Interpretation als intersubjektives und dynamisches Ereignis des Bestimmens von Bedeutung sollte auch hier der Reflexion des Hilfs-Ichs ausreichend Raum gegeben werden. Dabei sollte weder die eine objektive Sinnzuschreibung noch allein der rein affektive Zugang der Ler‐ nenden überbetont werden, sondern vielmehr das gemeinsame Aushandeln 154 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="155"?> von Bedeutungen als eine unserer Kultur immanente Basiserfahrung im Mittelpunkt stehen. Während Hoppers Bild eine Vielzahl von Leerstellen bietet, die von den Lernenden mit einem Hilfs-Ich gefüllt werden können, ist der 13-minütige Kurzfilm zur Ballade der Fachhochschule Dortmund und kreatiFilm (2007) bereits stark interpretierend angelegt. So wird die Szenerie der Ballade einerseits um die wiederkehrende Präsenz des Autors, der in einem Café sitzt und seine Beobachtung eines Paares scheinbar als Anregung für die Ballade nimmt, ergänzt. Andererseits sind die Leerstellen der Ballade durch Rückblenden in Momente der intimen Zweisamkeit, aber auch in Situationen heftigen, auch körperlich geführten Streits ersetzt. Den Kurzfilm zur Ballade „Sachliche Romanze“ von kreatiFilm (2015) finden Sie unter: https: / / www.youtube.com/ watch? v=kX6pFjBvi7g. Als Abschluss der Unterrichtssequenz bietet es sich folglich an, den Kurzfilm gemeinsam mit der gesamten Klasse zu reflektieren. Jener abschließende Vergleich der unterschiedlichen medialen Umsetzungsformen verlangt einen intensiven Rezeptionsprozess sowohl auf textlicher als auch auf visueller Ebene. Folglich sollte der Fokus nicht nur auf den ergänzten Szenen liegen, sondern ebenso auf der Wirkung, die durch den Montagestil sowie den Einsatz unterschiedlicher Perspektiven und Einstellungsgrößen entsteht. Folgende Fragen bieten sich als Beobachtungsaufträge an: ▸ Worum geht es in dem Kurzfilm? ▸ Welche Szenen wurden im Vergleich zu Kästners Ballade ergänzt? ▸ Welche filmischen Mittel (z.-B. Musik, Farbgestaltung, Kameraeinstellun‐ gen) wurden an welchen Stellen zur Verstärkung der Wirkung eingesetzt? 5.1.3 Geschwisterneid, ein tödliches Motiv: „Die zwei Schwestern“ Juliane Dube Thema: Während Neid in der römisch-katholischen Lehre als Todsünde gilt, wird er in der Soziologie als grundsätzlicher sozialer Antrieb („Urkraft“) zur Befriedigung individueller Bedürfnisse verstanden (vgl. 5.1 Freundschaft und Liebe 155 <?page no="156"?> Schoeck 1968). Die wohl berühmteste Neid-Erzählung, die auch in einer Vielzahl europäischer „Volks“-Balladen verarbeitet wurde, findet sich in der biblischen Geschichte von Kain und Abel. Stellvertretend für diese wurde im Unterrichtsvorschlag die „Volks“-Ballade „Die zwei Schwestern“ ausgewählt. Intention: Ziel der Unterrichtsreihe ist es, den Schüler: innen einerseits Raum zur Auseinandersetzung mit den grundlegenden Emotionen Neid und Eifersucht zu geben und andererseits die gattungsspezifischen Besonderheiten der Ballade herauszuarbeiten. Unterricht im 7. und 8. Schuljahr: Hierzu werden zwei motivglei‐ che Texte für die Arbeit in Kleingruppen ausgeteilt, in denen sowohl die thematischen, sprachlichen als auch formalen Besonderheiten der jeweiligen Textgattung erarbeitet werden sollen. Im Anschluss an die gemeinsame Sammlung und Systematisierung der Ergebnisse, die hier noch einmal die Besonderheiten der Ballade verdeutlicht, vertiefen die Lernenden ihr Wissen zu den textsortenspezifischen Merkmalen, indem sie die Ballade in ein Märchen und das Märchen in eine Ballade umschreiben. - Ausgewählte didaktische Analyse In der „Volks“ballade, wie sie vor allem in Nord- und Westeuropa im 15. und 16. Jahrhundert verbreitet war, berichtet ein heterogetische Erzählinstanz über Ereignisse meist heldenhafter oder abenteuerlicher Art. Dabei sind es jedoch nicht mehr die Abenteuer historischer Sagengestalten, sondern die Erlebnisse der Gegenwart, manchmal sogar aus der nächsten Umgebung. Wiederkehrende Motive sind der Abschied, das Wiedersehen, der Tod des Geliebten bzw. der Geliebten, Treue und Untreue, aber auch Verbrechen und Rache wie in der skandinavischen „Volks“-Ballade „Die zwei Schwestern“, die im volkstümlichen Ton von der Missgunst unter Schwestern erzählt. Verschiedene Varianten der Ballade „Die zwei Schwestern“ finden Sie in englischer Sprache unter dem Titel „The Twa Sisters“ in The English and Scottish Popular Ballads von Francis James Child unter: http: / / ww w.sacred-texts.com/ neu/ eng/ child/ ch010.htm. 156 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="157"?> Wie so häufig entstanden zu dieser hier vorgestellten Balladenfassung durch mündliche Überlieferungen verschiedene weitere Versionen (vgl. hierzu die verschiedenen Varianten in The English and Scottish Popular Ballads von Francis James Child), oder auch Märchen, Sagen und Lieder. So wird die Geschichte der zwei Schwestern bis heute besungen, beispielsweise von der Mittelalter-Rock-Band Subway to Sally. Die mit ihrem typisch lyrischen Stil bekannt gewordene Band gewann 2008 den Vorausscheid beim Bundesvision Song Contest in Brandenburg. Die Liedversion der Mittelalter-Rock-Band Subway to Sally aus dem Jahr 2014 mit dem Titel „Grausame Schwestern“ finden Sie unter: http s: / / www.youtube.com/ watch? v=sUtA5w44ZCU. Die zwei Schwestern (Unbekannt) Es wohnt ein König in Engeland, - Hört ich ein Vöglein singen - Zwei jungfräuliche Töchter sein Eigen er nannt’. - Denn nun steht der Wald in Blüte. Und die eine Schwester sprach zu der anderen: „Komm lass hinab zum Strande uns wandern.“ Die Jüngste glänzte wie Sonnenschein, die Älteste war schwarz wie der Erde Gestein. Voran ging die Jüngst mit wellendem Haar, die Älteste voll böser Gedanken war. Und als sie am grünen Meeresrand ruhten, stieß sie ihre Schwester in die wilden Fluten. Und die Schwester streckte die schneeweiße Hand: „Lieb Schwesterlein, hilf mir wieder an Land. Ach liebe Schwester, hilf mir an Land, und ich gebe dir mein goldenes Band.“ „Auch so wird dein rotes Goldband mein, doch auf Gottes Erden sollst nie mehr du sein.“ 5.1 Freundschaft und Liebe 157 <?page no="158"?> „Ach liebe Schwester, hilf mir an Land, ich gebe dir auch meines Bräutigams Hand.“ „Und ich helfe dir nicht wieder an Land, bekomme auch so deines Bräutigams Hand.“ In die dunkle Nacht die Fischer zogen, sie fanden die Jungfrau in den Wogen. Als sie den traurigen Fund gemacht, auf den Strand legten Sie den Fund gar sacht. Und des Weges kam ein Spielmann daher, eine Harfe aus ihrem Leib schuf er. Der Jungfrau schneeweiße Brust er nahm, der Harfe gab er so lieblichen Klang. Er nahm die Fingerlein so klein, fügte der Harfe als Wirbel sie ein. Und aus der Jungfrau goldenem Haar, macht er die Saiten wunderbar. Mit seinem Arm er die Harfe umfing, und zu dem Hochzeitshause er ging. Vor des Königs Hof ihr Spiel erklingt: Hör, junge Braut, was die Harfe singt. Beim ersten Schlag der Harfe es klang: Die Braut trägt heute mein goldenes Band. Und der zweite Klang von der Harfe kam: Verlobt war mir einst der Bräutigam. Und als zum dritten die Harfe schlug: In die Wogen stieß mich die Schwester voll Trug. Am Sonntag trug die Schwester die Goldkrone rot, - Hört ich ein Vöglein singen - Am Montag starb sie den Flammentod. - Denn nun steht der Wald in Blüte. 158 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="159"?> (Q U A S T H O F F , Thomas (2007): Ach, hört mit Furcht und Grauen. Mein Brevier der schönsten Balladen. Berlin: Ullstein, 61-63) In der Tradition dieser strophischen Erzähltexte des Spätmittelalters steht der Mensch mit seinen martialischen Sehnsüchten und Konfliktmustern im Zentrum, die in der ausgewählten „Volks“-Ballade sogar zum Mord an der eigenen Schwester führen. Die gefundenen Überreste dieser werden jedoch, inspiriert durch den heidnischen Glauben, dass sich in Blut, Speichel, Haar und Knochen die Seele und Lebenskraft des Menschen konzentriere, von einem Spielmann zum Bau einer Harfe verwendet. Ihr Lied ist es, das am Hochzeitstag die grausame Tat der älteren Schwester aufdeckt und am Ende zu ihrem Tod führt. Geschwisterneid sowie der Bau eines Instrumentes aus den Überresten der Toten, das am Ende die Wahrheit der Geschichte offenbart, sind auch die zentralen Motive des Volksmärchens „Der singende Knochen“ der Brüder Grimm, das die zweite Textgrundlage für das Lernarrangement zur Gat‐ tungsspezifik der Ballade bildet (vgl. Unterrichtshilfe „Der singende Kno‐ chen“). Anders als in der zuvor thematisierten Ballade stehen sich im Grimmschen Märchen zwei Brüder gegenüber, die das Reich von dem zer‐ störerischen Wüten eines Ebers befreien wollen, um des Königs einzige Tochter zur Gemahlin zu erhalten. Die bereits in der Ballade verarbeitete märchentypische Gegenüberstellung von Gut und Böse findet sich auch in der Beziehung zwischen den Brüdern wieder. Weil das Herz des jüngeren gut und unschuldig ist, gelingt es ihm mithilfe eines kleinen Männleins, den Keiler zu erstechen. Auf dem Rückweg zum König trifft er auf seinen älteren Bruder, der ihm den Gewinn neidet und ihn von einer Brücke ins Wasser stürzt, um sich selbst als Sieger der Keilerjagd auszugeben. Heraus kommt der Schwindel erst als ein Schäfer beim Gang über die Brücke einen Knochen des Opfers im Wasser findet und sich daraus ein Mundstück für sein Horn schnitzt, das beim ersten Blasen die Wahrheit verkündet: Ach, du liebes Hirtelein, du bläst auf meinem Knöchelein, mein Bruder hat mich erschlagen, unter der Brücke begraben, um das wilde Schwein, für des Königs Töchterlein. 5.1 Freundschaft und Liebe 159 <?page no="160"?> Aufgrund der ausgeprägten narrativen Struktur der Ballade im Allgemeinen gibt es fortwährende Diskussionen zu ihrer gattungsspezifischen Zuord‐ nung, die sich auch bei Schiller offenbart, wenn er 1797 seinem Werk „Der Handschuh“ nicht den Untertitel „Ballade“, sondern „Erzählung“ zuweist. Folglich richtet sich der Vorschlag zur didaktischen Umsetzung auf die systematische Abgrenzung beider Textgattungen. - Vorschlag zur didaktischen Umsetzung Folgende Bezüge zu den Kompetenzen werden besonders berücksichtigt: Die Schüler: innen … ▸ wissen um die ästhetische Inszenierung von Volkstümlichkeit in „Volks“balladen und „Volks“märchen. ▸ untersuchen die epische Kleinform des Märchens und der „Volks“-Bal‐ lade und erarbeiten deren Merkmale und Funktion. ▸ experimentieren mit Texten und ihren Merkmalen, indem sie diese in eine andere Textgattung umschreiben. Neid, als grundlegende Emotion gegenüber einer Person, die mehr (nicht)materielle Güter besitzt als man selbst, haben viele Schüler: innen vermutlich schon einmal erfahren. In manchen Fällen schlug der Neid vielleicht sogar in Missgunst um, indem der Wunsch entstand, die beneidete Person würde die Güter verlieren bzw. selbst Schaden erleiden. Aufgrund des hohen Identifikationsgehaltes der gewählten Thematik bietet es sich an, den Lernenden zunächst Raum zu geben, sich offen zum Thema Neid im Allgemeinen und im Besonderen unter Geschwistern und Freunden auszu‐ tauschen. Aufgrund der sensiblen Thematik sollten die Erfahrungen jedoch nicht im Plenum, sondern anhand von Leitfragen zunächst in Kleingruppen thematisiert werden: ▸ Was ist Neid? ▸ In welchen Situationen kommt es unter Geschwistern/ Freunden zu solchen Gefühlsausdrücken? ▸ In welchen Situationen hat Neid positive bzw. negative Folgen? ▸ Welche Einflüsse verstärken den Neid zwischen Geschwistern/ Freunden? Die in den Kleingruppen erarbeiteten Antworten können zentral in der Klasse gesammelt und systematisiert werden. Für den konzeptuellen Aufbau von Neid wäre es einerseits wichtig, die Abgrenzung zur Eifer‐ 160 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="161"?> sucht und andererseits den positiven und negativen Charakter sowie verstärkende Einflüsse von Neid herauszuarbeiten. Eine vertiefende Aus‐ einandersetzung mit dieser Thematik kann durch den Verweis auf die Geschichte von Kain und Abel im Koran (Sûra 5: 27-28, 30) auch mit in‐ terkultureller Perspektive im Fach Religion oder im Rahmen der ethischen Grundbildung auch im Fach Ethik vorgenommen werden. So wird im Islam Neid beispielsweise als üble Krankheit des Herzens beschrieben, die zu Fehlverhalten und schlechtem Benehmen führt. Anders als im katholi‐ schen Glauben wird dieses Wetteifern jedoch als lobenswert angesehen, solange es auf Rechtschaffenheit basiert. Durch die Auseinandersetzung mit dem psychologischen Phänomen von Neid und Eifersucht sind die Lernenden anschließend gut vorbe‐ reitet, um sich auf Analyse zwei motivgleicher Texte einzulassen und die speziellen inhaltlichen, sprachlichen und formalen Besonderheiten dieser herauszuarbeiten. Denn mit der Verarbeitung unterschiedlicher Elemente anderer Gattungen in der Ballade ist seit jeher die Schwierigkeit verbunden, sie einer der literarischen Großgattungen zuzuordnen (Kap.-2.1). Zur Vorbereitung der Diskussion werden die zwei vorgestellten Texte auf Kleingruppen mit der Aufgabe verteilt, den Inhalt sowie die sprachlichen und formalen Besonderheiten herauszuarbeiten. Die gewonnenen Erkennt‐ nisse sollen anschließend in den Gruppen auf größere Karteikarten notiert und mithilfe der Lehrperson unter den Gattungsbegriffen Ballade und Märchen systematisch an der Tafel gesammelt werden. Mögliche Leitfragen und Kategorien, die je nach Leistungsstand der Klasse auch bereits im Vorfeld vorgegeben werden können, sind z.-B.: ▸ Worum geht es im Text und wie ist die dort beschriebene Handlung aufgebaut (Handlungsverlauf, Handlungsstränge, Ort und Zeit der Handlung-…)? ▸ Was erfährst du über die Figuren (Figurenanzahl und -konstellation, explizite und implizite Figurenbeschreibungen-…)? ▸ Wer spricht und wer sieht? ▸ Welche formalen Besonderheiten fallen dir auf (Textumfang, strophisch vs. in Sätzen, gereimt vs. ungereimt-…)? ▸ Welche sprachlichen Besonderheiten fallen dir auf (sprachliche Stilmit‐ tel: Wiederholungen, bildreiche Sprache, formelhafte Wendungen-…)? 5.1 Freundschaft und Liebe 161 <?page no="162"?> ▸ Was fällt dir bei der zeitlichen Struktur auf (chronologische Ord‐ nung/ achronologische Ordnung: Rückwendung, Vorausdeutung; Er‐ zählgeschwindigkeit: Zeitraffung/ Aussparung, Zeitdeckung-…)? ▸ Wie wirkt der Text auf dich und warum? Mit dieser Strukturierungsmethode werden die Merkmale und Funktionen beider Textgattungen visuell noch einmal deutlich. In der anschließenden vergleichenden Analyse sollte herausgearbeitet werden, dass beide Texte aufgrund ihrer behandelten Thematik ein starkes emotionales Wirkungspotential besitzen und sich in ihrer Auffassung einer beseelten Natur bzw. beseelter Gegenstände gleichen. Zudem enden beide Erzählungen tragisch mit dem Tod der guten Schwester bzw. des guten Bruders, die anders als sonst üblich üblich im „Volks“-Märchen auch am Ende nicht wieder zum Leben erweckt werden. Das emotionale Wirkungspotenzial der Erzählung verstärkt sich in der Ballade jedoch durch die lyrisch gebundene Form. Zudem besitzt die szenen‐ hafte, lineare Darstellung der Erzählung in der „Volks“-Ballade als erzählen‐ des Gedicht im Vergleich zum Märchen einen deutlich kürzeren Umfang. Mit dem Verweis auf das Spiralcurriculum sollte jedoch an dieser Stelle bereits darauf verwiesen werden, dass sich die Ballade weiterentwickelt hat, sodass inzwischen ganz verschiedene Umsetzungen der Gattung existieren, die in den kommenden Schuljahren in ihrer unterschiedlichen Form immer wieder thematisiert werden. Mit dem Ziel, das zunächst analytisch erarbeitete Gattungswissen zu den zwei Textgattungen zu vertiefen, bietet es sich an, die Textvorgabe entspre‐ chend der erarbeiteten Merkmale der anderen Gruppe umzuschreiben. Dies bedeutet, dass die Gruppe, welche sich zunächst mit der „Volks“-Ballade „Die zwei Schwestern“ beschäftigt hat, nun versucht, diese - möglichst zu zweit - in die Gattung des Märchens umzuschreiben. Die andere Gruppe setzt sich mit den Merkmalen der Ballade genauer auseinander, indem sie versucht, das ihr vorliegende Märchen entlang der erarbeiteten Merkmale in jene Textgattung umzuwandeln. Dem Analysieren von Texten wird mit dem Umschreiben von literarischen Vorlagen am Ende der Reihe eine klassische Methode des produktiven Schreibens zur Seite gestellt, durch deren kreative Textarbeit das zuvor erworbene deklarative Gattungswissen bzw. Textmusterwissen nun in prozedurales Handlungswissen umgewan‐ delt werden kann (vgl. Fix 2008: 11). 162 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="163"?> 5.1.4 Grenzenloser Liebesbeweis - „Der Handschuh“ von Friedrich Schiller Juliane Dube Thema: Die Ballade „Der Handschuh“ erschien 1798 im Musen-Alma‐ nach, einer von Schiller herausgegebenen Literaturzeitschrift. Darin verarbeitet der unbesoldete Professor für Geschichte und Philosophie an der Universität Jena wie bereits in seinem ihm zum Durchbruch verhelfenden Drama Die Räuber erneut einen historischen Stoff. Diesmal dient die Anekdote des Edelmanns Delorges als Vorlage, welcher am Hofe des französischen Königs Franz I. einer Dame den Handschuh ins Gesicht geworfen haben soll, nachdem er ihrer Bitte nachkam, diesen als Liebesbeweis aus der Mitte einer Löwengruppe zu bergen. Delorges muss sich damit, ähnlich wie der Knappe in der drei Tage früher fertiggestellten Ballade „Der Taucher“, bewegt durch die Liebe zu einer jungen Frau, einer scheinbar unmöglichen Situation stellen. Während sich der Knappe in Schillers Ballade vom Taucher den wie‐ derholten Aufforderungen des Königs beugt und dafür mit dem Leben zahlen muss, zeigt Delorges entgegen aller höfischen Etikette offen seine Missbilligung gegenüber den Wünschen seiner Angebeteten. Vielleicht ist genau dieses Verhalten des „Superritters“ (Herbst 1996: 246) der Grund, warum Ferdinand Piedmont die Ballade „Der Handschuh“ als „eines der beliebtesten und unvergesslichsten Gedichte Schillers“ bezeichnet (vgl. 1966: 105). Intention: Ziel der Unterrichtsreihe ist es einerseits, die Lernenden anzuleiten, den historischen Kontext als Interpretationshilfe zu nutzen und andererseits die Beziehung zwischen den beiden Hauptfiguren pro‐ duktionsorientiert herauszuarbeiten. Die hierfür geplante Erstellung eines Balladentrailers soll nicht nur zu einer produktionsorientierten audiovi‐ suellen Verdichtung des Leseeindrucks führen, der über ein vertieftes Textverstehen hinausreicht, sondern auch Schüler: innen z. B. aus der Nachbarklasse zum Lesen der Ballade motivieren. Eine abschließende Reflexion über die Wirkung der eingesetzten filmischen Mittel soll zudem zur Ausbildung einer reflektierten Medienkompetenz beitragen. Unterricht im 9. und 10. Schuljahr: Zunächst erschließen sich die Lernenden die Ballade und das unerwartete Verhalten der Haupt- 5.1 Freundschaft und Liebe 163 <?page no="164"?> figuren im literarischen Gespräch. Anschließend werden sie in das Videoverarbeitungsprogramm iMovie eingeführt. Unter der Nutzung vorgegebener Trailervorlagen und Screendesigns erstellen sie individu‐ elle Textfelder für die audiovisuelle Darbietung der Ballade. - Ausgewählte didaktische Analyse Um die Tragweite der Handlung des Edelmanns Delorges im Schlussteil von Schillers Ballade zu erfassen, gilt es, sich das literarische Konzept der Hohen Minne des 12. und 13. Jahrhunderts zu vergegenwärtigen. Kennzeichnend für die Kunstform des Minnesangs ist das Sprechen über die Liebe und der Gestus der Betroffenheit des Sprechers durch die Minne. Dabei wird das lyrische Ich nicht müde, „die Authentizität seiner Liebe zu behaupten und gegen Angriffe von Kritikern zu verteidigen“ (Kellner et al. 2021: 6). Als eines der zentralen Themen im Minnesang gilt die Hohe Minne, die höfische Liebe. Die beschriebene Handlung dieser Liebeslyrik folgt dabei stets einem wiederkehrenden Muster, in dem sich das lyrische Ich vergeblich in eine Frau, meist adlig, zuweilen sogar verheiratet, verliebt. Demnach erhofft der Sänger, der gleichzeitig mit dem Liebenden zur Figur „des Ich als Minnender-Singender“ verschmilzt, die Erfüllung seiner Liebe zu einer Dame, „die er sich gleichzeitig nicht wünschen darf, denn gäbe die Dame seinem Drangen nach, wäre sie nicht das ethische Ideal, die Beste und Vollkommene, als die er sie verehrt“ (ebd.) (Minneparadox). Folglich setzt auch Ritter Delorges als notwendige und wohlkalkulierte Konsequenz sein Leben auf Spiel, um seine reine Liebe keinem Verdacht auszusetzen (vgl. Oellers 1976: 398). Den Liebesverzicht annehmend, ,dient‘ der Mann der verehrten Frau fortan z. B. als Sänger treu und ergeben. Diese Beziehung bringt ihm innere Erfüllung, das Glück der unglücklichen Liebe, aber auch gesellschaftliche Anerkennung. Von der Frau wird hingegen erwartet, dass sie ihren Verehrer immer wieder zurückweist. Folglich ist auch der Wurf des Handschuhs in die Mitte der Löwengruppe, wenn er denn beabsichtigt war, und die Aufforderung diesen zurückzuholen, nicht zwingend als cha‐ rakterloses Handeln zu verstehen, sondern Teil eines (übertriebenen) Spiels zwischen den Geschlechtern in dem der Ritter seine Ehre, aber unter allen Umständen vor allem die Ehre der Frau, bewahren sollte. 164 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="165"?> Der Handschuh (Friedrich Schiller) Vor seinem Löwengarten, Das Kampfspiel zu erwarten, Saß König Franz, Und um ihn die Großen der Krone, Und rings auf hohem Balkone Die Damen in schönem Kranz. Und wie er winkt mit dem Finger, Auf tut sich der weite Zwinger, Und hinein mit bedächtigem Schritt Ein Löwe tritt, Und sieht sich stumm Rings um, Mit langem Gähnen, Und schüttelt die Mähnen, Und streckt die Glieder, Und legt sich nieder. Und der König winkt wieder, Da öffnet sich behend Ein zweites Tor, Daraus rennt Mit wildem Sprunge Ein Tiger hervor, Wie der den Löwen erschaut, Brüllt er laut, Schlägt mit dem Schweif Einen furchtbaren Reif, Und recket die Zunge, Und im Kreise scheu Umgeht er den Leu Grimmig schnurrend; Drauf streckt er sich murrend Zur Seite nieder. Und der König winkt wieder, Da speit das doppelt geöffnete Haus 5.1 Freundschaft und Liebe 165 <?page no="166"?> Zwei Leoparden auf einmal aus, Die stürzen mit mutiger Kampfbegier Auf das Tigertier, Das packt sie mit seinen grimmigen Tatzen, Und der Leu mit Gebrüll Richtet sich auf, da wird’s still, Und herum im Kreis, Von Mordsucht heiß, Lagern die greulichen Katzen. Da fällt von des Altans Rand Ein Handschuh von schöner Hand Zwischen den Tiger und den Leun Mitten hinein. Und zu Ritter Delorges spottenderweis Wendet sich Fräulein Kunigund: »Herr Ritter, ist Eure Lieb so heiß, Wie Ihr mir’s schwört zu jeder Stund, Ei, so hebt mir den Handschuh auf.« Und der Ritter in schnellem Lauf Steigt hinab in den furchtbarn Zwinger Mit festem Schritte, Und aus der Ungeheuer Mitte Nimmt er den Handschuh mit keckem Finger. Und mit Erstaunen und mit Grauen Sehen’s die Ritter und Edelfrauen, Und gelassen bringt er den Handschuh zurück. Da schallt ihm sein Lob aus jedem Munde, Aber mit zärtlichem Liebesblick - Er verheißt ihm sein nahes Glück - Empfängt ihn Fräulein Kunigunde. Und er wirft ihr den Handschuh ins Gesicht: »Den Dank, Dame, begehr ich nicht«, Und verläßt sie zur selben Stunde. (B O X B E R G E R , Robert (Hrsg.) (1888). Schillers Werke 2. Gedichte. Berlin, 75) 166 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="167"?> Unterteilt in fünf Abschnitte bietet die Ballade verschiedene Ansatzpunkte zur Interpretation (vgl. Herbst 1996: 244; Laufhütte 1979: 124): ▸ 1. Strophe: Exposition: wer? was? wo? = Der König und sein Hofstaat (die Großen der Krone und ihre Damen) warten auf dem hohen Balkon vor dem Löwengarten in erwartungsvoller und entspannter Atmosphäre auf ein Kampfspiel. Das Wort „Kampfspiel“ verweist auf den „dialekti‐ schen Wechsel [zwischen] Ernst und Spaß, Wirklichkeit und Fiktion“ (Seeba 1970: 311), der für die ganze Ballade bestimmend ist. Was für die eine Seite ein „Spiel“ ist, ist für die andere Seite ein „Kampf “. ▸ 2.-4. Strophe: erster Hauptteil: wer? was? = der König eröffnet mit einer Fingerbewegung das Schauspiel und es erscheinen nacheinander ein Löwe (gelassen), ein Tiger (aggressiv, erkennt Stellung des Löwen an) und zwei Leoparden (sehr aggressiv, erkennen ebenfalls die Überle‐ genheit des Löwen an) in der Arena. Das Gebrüll des Löwen verhindert den Tierkampf. ▸ 5. Strophe: Wendepunkt: Zwischenfall mit dem Handschuh (fällt er oder wird er fallen gelassen? ) ▸ 6.-8. Strophe: zweiter Hauptteil: wer? was? = Fräulein Kunigunde bittet den Ritter zum Liebesbeweis, den Handschuh aus der Mitte aufzuheben; alle beobachten Delorges, der den Erwartungen gerecht wird. Er bleibt unverletzt, der Hof bewundert ihn und Kunigunde blickt ihn zärtlich an. ▸ 8. Strohe, ab Vers 65: Pointe: Delorges wirft der Dame den Handschuh ins Gesicht und bricht damit alle gesellschaftlichen Regeln. In der obligatorischen Strukturanalyse sollten zunächst die Besonderheiten der einzelnen Szenen und in der Sprachanalyse die Unregelmäßigkeiten in Strophe (min. 4 bis max. 16 Zeilen), Vers und Reim sowie die sprachlichen Besonderheiten der Ballade (u. a. geschickte Lautmalerei, Stilmittel wie Alliterationen) herausgearbeitet werden. Anschließend bietet es sich an, den symbolischen Gehalt der Fingerbewegungen des selbstherrlichen Königs, mit denen er zwar das Öffnen des Zwingers (V. 7, V. 17, V. 33) befehlen kann, aber nicht den Beginn des Kampfes, und den Wurf des Handschuhs sowie Delorges’ Affront zu thematisieren. Besonders jener letztere sym‐ bolische Akt bietet interessante Diskussionspunkte zur Darstellung der Geschlechter. Dabei kann die Diskussion auf das umgekehrte soziale Gefälle zwischen Verehrer und Angebeteter erweitert werden, wenn die Lernenden erfahren, dass Kunigunde laut Sage, trotz des Affronts, noch mehrfach um ein Wiedersehen gebeten hatte, welches der Edelmann jedoch immer 5.1 Freundschaft und Liebe 167 <?page no="168"?> wieder ausschlug. Denkbar ist zudem, sich mit den Schüler: innen über Situationen auszutauschen, in denen die Rollenkonformität zugunsten der Selbstachtung aufgegeben werden sollte (z. B. in Mutproben, toxischen Beziehungen). Die Ballade „Der Handschuh“ entsteht als Nachbzw. Gegenstück zur Ballade „Der Taucher“ nur wenige Tage später. Aufgrund der zeitlichen Nähe und der thematischen Gemeinsamkeiten beider Balladen, aber des un‐ terschiedlichen Ausgangs und der unterschiedlichen lyrischen Gestaltung lohnt sich anstelle des noch folgenden Unterrichtsvorschlags auch ein Ver‐ gleich der beiden Balladen, wenngleich „Der Taucher“ „die längste von allen klassischen ist“ (Thalheim 1981: 427). Denn anders als in der Ballade „Der Handschuh“ arbeitet Schiller in „Der Taucher“ mit regelmäßigen Strophen sowie wiederkehrendem Reimschema (ababcc) und erwirkt damit einen lebendig bewegten Sprechstil, der durch die lautmalerische „Versinnlichung menschlicher Stimmungen und machtvoller Naturgewalten“ (ebd.) noch einmal verstärkt wird. Auch auf Handlungsebene lassen sich beide Texte gut vergleichen. Denn in Schillers Ballade „Der Taucher“ steht der König ebenfalls zusammen mit seiner Tochter im Kreise seines Hofstaates erhöht auf einem Felsen, unter sich die donnernde Meeresenge der Charybdis, als er einen goldenen Becher in den Strudel wirft. Mit seinem Versprechen, dass der Becher demjenigen gehört, der ihn wieder aus der Tiefe hervorholt, wird er als poetische Gestalt zum Nachbarn von Fräulein Kunigunde (ebd.: 429) und der goldene Becher zum sachlichen Pendant des Handschuhs. Doch keiner der Anwesenden möchte, anders als in der Ballade „Der Handschuh“, dieses „Spiel“ mitmachen, um das Sensationsbedürfnis des Königs, der hier noch einmal sehr viel stärker für die Selbstherrlichkeit eines Mächtigen steht, zu befriedigen. Nach wiederholter Aufforderung findet sich aber dann doch ein junger Knappe, der sich damit in die unmittelbare Nachbarschaft des Ritter Delorges stellt und den Becher erfolgreich aus der Tiefe holt. Allerdings unterliegt er den Verlockungen des Königs ein zweites Mal, als ihm zum goldenen Becher auch noch ein Ring, der gesellschaftliche Aufstieg zum Ritter und die Hand der Königstochter versprochen werden. Diesen erneuten Sprung in die Tiefe bezahlt er mit dem Tod. Im Anschluss an einen Struktur- und Sprachvergleich bietet es sich an, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem namenlosen Knappen. Während dem Knappen in der Taucher-Ballade die Kraft zur Selbstständigkeit fehlt, tritt Delorges selbstbewusst aus der ihm zugedachten 168 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="169"?> Rolle des Opfers heraus (vgl. Laufhütte 1979: 122) und vermittelt damit die Botschaft von Entscheidungsfreiheit und Selbstachtung (Herbst 1996: 247). - Vorschlag zur didaktischen Umsetzung Folgende Bezüge zu den Kompetenzen werden besonders berücksichtigt: Die Schüler: innen-… ▸ lernen eigene Leseerfahrungen und Verstehensansätze zu artikulieren, anderen Lesarten zuzuhören und sich darüber zu verständigen, sowie Erfahrungen des Nicht-Verstehens und der Fremdheit als Teil des Ver‐ stehensprozesses zu betrachten; ▸ erschließen sich die Ballade „Der Handschuh“ von Friedrich Schiller auch unter Einbeziehung historischer und gesellschaftlicher Fragestel‐ lungen im literarischen Gespräch; ▸ bringen ihr Textverstehen zur zentralen Beziehung zwischen Delorges und Kunigunde mit bewegten Bildern, Text und Musik im Format eines Balladentrailers zum Ausdruck; ▸ vertiefen ihr Verständnis von filmischen Elementen und reflektieren ihren Einsatz mithilfe eines Beurteilungsbogens. In Anlehnung an die Phasen des literarischen Gesprächs im Heidelber‐ ger Modell wird die Ballade zu Beginn der Unterrichtsreihe durch die Lehrperson vorgetragen, bevor diese an die Schüler: innen mit dem Auftrag des nochmaligen leisen Lesens ausgeteilt wird. Anregt durch die Frage zu Delorges Handlungsmotiv wird das Gespräch eröffnet und jeder, der möchte, bekommt die Möglichkeit, sich mit Bezug zum Text und zu eigenen Erfahrungen zur Frage zu äußern. Gemeinsam können im Anschluss an die Eingangsfrage jedoch auch noch weitere Fragen ergründet werden (vgl. u.-a. Herbst 1996: 247): ▸ Worauf gründet sich der Mut des Ritters? Inwieweit ist er mitverant‐ wortlich? Hätte er das Verhängnis, in das er geriet, abwenden können? ▸ Warum verweigern die Tiere den Kampf ? Liegt darin eine verdeckte Kritik am König? ▸ Welches ist die eigentliche, tiefe Tragik dieser Ballade? ▸ Ist Delorges’ Akt als „revolutionär“ zu bezeichnen? ▸ Legt uns die Ballade aktuelle Bezüge nahe? Was bedeuten Entschei‐ dungsfreiheit und Selbstachtung heute? 5.1 Freundschaft und Liebe 169 <?page no="170"?> Zum Abschluss des Gesprächs werden die wichtig gewordenen Verstehens‐ aspekte noch einmal gesammelt und reflektiert. Um den Lernenden einen breiteren Interpretationsrahmen zu eröffnen, führt die Lehrperson die Schüler: innen anschließend in das Konzept der Hohen Minne ein. Im Anschluss an die einführende Doppelstunde zur Ballade sollen die Lernenden durch die produktionsorientierte Auseinandersetzung mit dem Text in Form eines Balladentrailers nicht nur das eigene Textverstehen hinterfragen und diskutieren, sondern darüber hinaus auch bereits vorhan‐ dene Kenntnisse zu filmischen Mitteln vertiefen (Abb.-5.3). Abb. 5.3: Übersicht zu zentralen Filmelementen (vgl. Frederking/ Krommer/ Maiwald 2012: 177-185). Eigentlich als Marketinginstrument von Filmverlagen etabliert, finden sich seit geraumer Zeit sogenannte Buchtrailer im Internet. Nicht- und Wenigle‐ ser: innen sollen durch die szenische Inszenierung des Stoffes angesprochen und für das Lesen der Lektüre motiviert werden. Überlegungen, wie die Gestaltung von Trailern klassenübergreifend auch zum Lesen von Balladen eingesetzt werden können, sollen folgend vorgestellt werden. Unabdingbar 170 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="171"?> für eine gelingende Umsetzung ist jedoch die Einführung bzw. Wiederho‐ lung filmischer Elemente, wie sie u. a. von Frederking, Krommer und Maiwald (2012) vorgestellt werden. (Abb.-5.3) Sind Endgeräte mit Internetzugang an der Schule vorhanden, kann zur Einführung und Wiederholung auch die App Top Shot der FILM‐ SCHULE NRW im Unterricht eingesetzt werden, die kostenlos für alle iOS- und Android-Geräte verfügbar ist (https: / / www.filmundschule. nrw.de/ de/ digital/ topshot/ ). Mithilfe der App erhalten die Lernenden Informationen zu den wichtigsten Elementen des Films wie Einstel‐ lungsgrößen, Kameraperspektiven, Look, Musik sowie Filmschnitt und können diese in ihrer Wirkung interaktiv selbst erfahren. Für die Gestaltung der Balladentrailer sollten die Computer oder Tablets an der Schule mit leicht zugänglichen Videoschnittprogrammen wie Windows Live Moviemaker oder iMovie ausgestattet sein. Beide sind kostenlos aus dem Internet herunterzuladen. Zur Erstellung der Balladentrailer kön‐ nen die Lernenden zudem auf reichhaltige webbasierte Bild-, Geräusch- und Musikdatenbanken wie soundgator oder pixelio zurückgreifen, wel‐ che zahlreiche Dateien ebenfalls kostenlos für den nichtkommerziellen Gebrauch anbieten. Wenngleich im vorgestellten Beispiel so genannte iMovie-Trailer favorisiert werden, da sie sich bereits mit niedrigem techni‐ schen und gestalterischen Aufwand umsetzen lassen, sollen in Anlehnung an Maurer (2013: 3 ff.) auch noch zwei weitere Varianten vorgestellt werden, die alle in Gruppenprozessen umgesetzt werden können. Unab‐ hängig von der Umsetzungsform gilt stets, dass die Produktion des Trailers unterschiedliche Aufgaben wie z. B. schauspielern, technische Umsetzung, Filmgestaltung, Regie etc. umfasst und damit vielseitige Formen der Differenzierung bietet. Jeder Lernende kann sich folglich entsprechend seiner Stärken in die Gestaltung einbringen. Der iMovie-Trailer Die iPad-App iMovie eignet sich vor allem für Gruppen mit wenig Vorerfah‐ rung in der Filmarbeit, da die App bereits eine Auswahl an vorgefertigten Trailervorlagen zur Verfügung stellt. Diese geben nicht nur die Anzahl und die Längen der zu filmenden Einstellungen vor, sondern sind in ihrer Wirkung auch verschiedenen Genres (Horror, Abenteuer, Romantik etc.) 5.1 Freundschaft und Liebe 171 <?page no="172"?> zugeordnet. Diese bestehen aus vorgegebenen Screendesigns, welche durch individuell beschreibbare Textfelder mit Versen aus der Ballade ergänzt werden können. Zur Gestaltung der iMovie-Trailer in Kleingruppen im Anschluss an das literarische Gespräch zur Ballade bieten sich folgende Arbeitsschritte an. Für die Umsetzung sollten ca. sechs Unterrichtsstunden eingeplant wer‐ den (vgl. Unterrichtshilfe „Einen Balladentrailer erstellen“): ▸ Ideenfindung: Die Lernenden lesen die Ballade und machen sich währenddessen erste Notizen zu möglichen geeigneten Requisiten, passender Musik oder Szenen für die Verfilmung. ▸ Materialsammlung: Die Lernenden recherchieren passende Bilder in analogen und digitalen Medien, ggf. werden auch eigene Zeichnungen angefertigt bzw. eigene Szenendarstellungen abfotografiert. ▸ Balladentrailer schreiben: Die Lernenden wählen eine für sie pas‐ sende Trailervorlage bei iMovie und erstellen ergänzende Text- und Bildelemente. ▸ Balladentrailer erstellen: Die Lernenden fügen ihre Ideen zum Trailer in das iMovie-Storyboard ein. Sind die Trailer erstellt, sollen diese natürlich auch im Klassenverband prä‐ sentiert werden. Äußere Anreize bieten dabei die Präsentation der Trailer in den Nachbarklassen, die sich ggf. ebenfalls mit Balladen beschäftigt haben oder die Vergabe eines Trailerpreises. Einen Vorschlag zur Gestaltung eines Juryzettels, der die Lernenden ebenfalls zur Reflexion der Wirkungsweisen der eingesetzten filmischen Mittel anregen soll, finden Sie als Arbeitsblatt im digitalen Anhang (vgl. Unterrichtshilfe „Einen Balladentrailer bewerten“). Weitere Trailer-Varianten Der Plansequenz-Trailer: Der Plansequenztrailer verbindet zeichneri‐ sches Schaffen mit literarischem Erzählen unter Einbezug von Textele‐ menten, Geräuschen und einer Erzählerstimme aus dem Off. Die Planse‐ quenz erzählt eine Geschichte oder Szene in einer einzigen Einstellung, daher kommt sie ohne Schnitt und Montage aus. Vor der Produktion wird geplant, wie der Bildausschnitt gestaltet wird und welche Kameraund/ oder Objektbewegungen sinnvoll sind. Produziert wird der Trailer live mit Stimme, Geräuschen, Hintergrundarrangement und Textelementen. 172 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="173"?> Der szenische Trailer: Beim szenischen Trailer wählen die Lernenden in Gruppenprozessen eine oder mehrere Szene(n) aus der Ballade aus, die in einem Drehbuch gestaltet und filmisch umgesetzt werden sollen (vgl. hierzu auch das Kapitel 4.2. Textproduktives Schreiben und 4.12 Balladen in neuen medialen Formaten). Um das Bewusstsein für filmisches Denken zu fördern, können die bis zu fünf ausgewählten Einstellungen zunächst auch erst zeichnerisch umgesetzt werden, bevor sie abgefilmt werden. 5.1.5 Bedingungslose Freundschaft über den Tod hinaus - „Die Bürgschaft“ von Friedrich Schiller Juliane Dube Thema: Basierend auf der Erzählung über die Freundschaft zwischen Möros und Selinuntius aus dem mythographischen Handbuch Fabulae des Hyginus (2. Jahrhundert n. Chr.) verfasste Schiller 1798 mit der Ballade „Die Bürgschaft“ eines seiner berühmtesten Werke. Der ästheti‐ schen Erziehung des Menschen verpflichtet, erleben die Leser: innen die Konfliktlösung eines Helden, der sich weder magischer noch natürlicher Kräfte bedient, sondern allein mit seinem edlen Wesen ‚das Böse‘ in Person des Tyrannen Dionys bezwingt. Mit dem damit thematisierten Humanitätsideal zählt die Ballade „Die Bürgschaft“ zu den Ideenballa‐ den, die vor allem durch die Zusammenarbeit zwischen Goethe und Schiller im berühmt gewordenen Balladenjahr (1797) entstanden sind. Intention: Im aktuellen Poesiefilm der Regisseurin Kerstin Höckel wird aus der antiken Geschichte um die Freundschaft zwischen Damon und Phintias ein aktuelles Abschiebungsdrama. Durch die filmische Neubearbeitung nehmen die Schüler: innen einen Perspektivwechsel vor, der ihnen die Relevanz des in der Ballade behandelten Freund‐ schaftsbeweises intensiv verdeutlicht. Als finales Lernergebnis dient das Schreiben einer Filmkritik dazu, die Eindrücke aus den Lese- und Sehgesprächen ggf. auch unter Hinzuziehung weiterer Informationen vertieft zu bearbeiten, eigene Urteile zu verdichten und damit ihre Selektions- und Beurteilungskompetenz weiterzuentwickeln. 5.1 Freundschaft und Liebe 173 <?page no="174"?> Unterricht in der Sekundarstufe II: Zunächst werden Eindrücke, Assoziationen und Deutungshypothesen zur Ballade im Plenum ausge‐ tauscht. Anschließend arbeiten die Lernenden in Kleingruppen Textbelege für die Beweggründe von Damons Handelns heraus und diskutie‐ ren, wodurch die Rachlust des Tyrannen Dionys schließlich überwun‐ den wird. Im zweiten Teil der Themenreihe schauen die Lernenden den Kurzfilm „Die Bürgschaft“ der Regisseurin Kerstin Höckel. An ausgewählten Szenen vergleichen sie die narrative Struktur des Films mit dem Originaltext und besprechen die Figurendarstellung sowie die gestalterische Umsetzung. Ihre Ergebnisse und Wertungen führen die Lernenden in einer Filmkritik zusammen. - Ausgewählte didaktische Analyse Nach Schillers Auffassung sollte die Kunst den Menschen dazu erziehen, einer künftigen humanistischen Gesellschaft anzugehören, und so wirft er in seiner Ballade „Die Bürgschaft“ die Frage auf: Was hält eine Freundschaft aus, wenn die Bürgschaft für diese das eigene Leben ist, und was kann diese innige menschliche Verbindung bewirken? Statt wie in der üblichen Form der Bürgschaft aus dem Finanz- und Wirtschaftsbereich, in der sich der Bürgende gegenüber dem Gläubiger verpflichtet, finanziell für die Erfüllung der Verbindlichkeiten des Dritten einzustehen, falls dieser nicht in der Lage ist, sie rechtzeitig zu entrichten, hinterlässt der nach einem vereitelten Mordanschlag auf den Tyrannen Dionys, je nach nationaler und internationaler Geschichtsschreibung als „Widerstands- oder Terrorismusakt“ bezeichnet (vgl. Kronauer 2014), ver‐ urteilte Damon seinen Freund als Pfand. Dieser soll an seiner Stelle sterben, wenn er es nicht schafft, rechtzeitig von der Hochzeit seiner Schwester zurückzukehren. Im Anschluss an die dramatische Hinführung zum Kon‐ flikt nach dem Vorbild des klassischen Dramas in vier Strophen schildert Schiller mit hoher dramatischer Dichte in zehn weiteren Strophen Damons quälenden Heimweg nach der Hochzeit seiner Schwester. „45 mal verwendet Schiller in dieser Ballade das verbindende ‚Und‘“ (Gacov 1971: 388). Die Hindernisse, die sich ihm während der Rückkehr zu seinem treuen Freund in den Weg stellen - sintflutartiger Regen, starke Sturmböen, unendlicher Durst und mörderische Räuber -, die Goethe in einem Briefwechsel mit 174 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="175"?> Schiller als übertrieben beschreibt („physiologisch nicht ganz zu passieren sein“ (Gräf & Leitzmann 1912: 139), können Damon jedoch nicht aufhalten. Selbst als ihm kurz vor seiner Ankunft Philostratus, Diener des Königs, rät umzudrehen, um sein eigenes Leben noch zu schützen: „Zurück! du rettest den Freund nicht mehr, / So rette das eigene Leben! “ lässt Damon kein Zweifeln zu. Nach Gacov kommt es Schiller folglich nicht „auf die realistische Wirklichkeitstreue an, sondern er will zeigen, wie ein Mensch das Äußerste tun muß, um sich zu retten, damit der bürgende Freund nicht statt seiner zugrunde geht“ (ebd.: 389). So erreicht er kurz vor der Hinrichtung seines Freundes die Szenerie und ruft: „Mich, Henker“, ruft er, „erwürget! Da bin ich, für den er gebürget! “ und bietet sich zum Vollzug seiner Strafe an. Der angesichts des anstehenden Todes erfolgende innige Abschied der beiden Freunde berührt jedoch nicht nur die Menge, sondern auch den König, der nun nicht mehr wie ein Tyrann agitiert. Mit der Bitte, Teil dieser tiefen Freundschaftsverbindung zu sein, lässt er folglich ab von seinem Todesurteil gegen Damon und schenkt ihm die Freiheit. Die Bürgschaft (Friedrich Schiller) Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich Damon, den Dolch im Gewande: Ihn schlugen die Häscher in Bande, „Was wolltest du mit dem Dolche? sprich! “ Entgegnet ihm finster der Wüterich. „Die Stadt vom Tyrannen befreien! “ „Das sollst du am Kreuze bereuen.“ „Ich bin“, spricht jener, „zu sterben bereit Und bitte nicht um mein Leben: Doch willst du Gnade mir geben, Ich flehe dich um drei Tage Zeit, Bis ich die Schwester dem Gatten gefreit; Ich lasse den Freund dir als Bürgen, Ihn magst du, entrinn’ ich, erwürgen.“ Da lächelt der König mit arger List Und spricht nach kurzem Bedenken: „Drei Tage will ich dir schenken; Doch wisse, wenn sie verstrichen, die Frist, 5.1 Freundschaft und Liebe 175 <?page no="176"?> Eh’ du zurück mir gegeben bist, So muß er statt deiner erblassen, Doch dir ist die Strafe erlassen.“ Und er kommt zum Freunde: „Der König gebeut, Daß ich am Kreuz mit dem Leben Bezahle das frevelnde Streben. Doch will er mir gönnen drei Tage Zeit, Bis ich die Schwester dem Gatten gefreit; So bleib du dem König zum Pfande, Bis ich komme zu lösen die Bande.“ Und schweigend umarmt ihn der treue Freund Und liefert sich aus dem Tyrannen; Der andere ziehet von dannen. Und ehe das dritte Morgenrot scheint, Hat er schnell mit dem Gatten die Schwester vereint, Eilt heim mit sorgender Seele, Damit er die Frist nicht verfehle. Da gießt unendlicher Regen herab, Von den Bergen stürzen die Quellen, Und die Bäche, die Ströme schwellen. Und er kommt ans Ufer mit wanderndem Stab, Da reißet die Brücke der Strudel herab, Und donnernd sprengen die Wogen Des Gewölbes krachenden Bogen. Und trostlos irrt er an Ufers Rand: Wie weit er auch spähet und blicket Und die Stimme, die rufende, schicket. Da stößet kein Nachen vom sichern Strand, Der ihn setze an das gewünschte Land, Kein Schiffer lenket die Fähre, Und der wilde Strom wird zum Meere. Da sinkt er ans Ufer und weint und fleht, Die Hände zum Zeus erhoben: „O hemme des Stromes Toben! Es eilen die Stunden, im Mittag steht Die Sonne, und wenn sie niedergeht 176 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="177"?> Und ich kann die Stadt nicht erreichen, So muß der Freund mir erbleichen.“ Doch wachsend erneut sich des Stromes Wut, Und Welle auf Welle zerrinnet, Und Stunde an Stunde ertrinnet. Da treibt ihn die Angst, da faßt er sich Mut Und wirft sich hinein in die brausende Flut Und teilt mit gewaltigen Armen Den Strom, und ein Gott hat Erbarmen. Und gewinnt das Ufer und eilet fort Und danket dem rettenden Gotte; Da stürzet die raubende Rotte Hervor aus des Waldes nächtlichem Ort, Den Pfad ihm sperrend, und schnaubert Mord Und hemmet des Wanderers Eile Mit drohend geschwungener Keule. „Was wollt ihr? “ ruft er vor Schrecken bleich, „Ich habe nichts als mein Leben, Das muß ich dem Könige geben! “ Und entreißt die Keule dem nächsten gleich: „Um des Freundes willen erbarmet euch! “ Und drei mit gewaltigen Streichen Erlegt er, die andern entweichen. Und die Sonne versendet glühenden Brand, Und von der unendlichen Mühe Ermattet sinken die Kniee. „O hast du mich gnädig aus Räubershand, Aus dem Strom mich gerettet ans heilige Land, Und soll hier verschmachtend verderben, Und der Freund mir, der liebende, sterben! “ Und horch! da sprudelt es silberhell, Ganz nahe, wie rieselndes Rauschen, Und stille hält er, zu lauschen; Und sieh, aus dem Felsen, geschwätzig, schnell, Springt murmelnd hervor ein lebendiger Quell, 5.1 Freundschaft und Liebe 177 <?page no="178"?> Und freudig bückt er sich nieder Und erfrischet die brennenden Glieder. Und die Sonne blickt durch der Zweige Grün Und malt auf den glänzenden Matten Der Bäume gigantische Schatten; Und zwei Wanderer sieht er die Straße ziehn, Will eilenden Laufes vorüber fliehn, Da hört er die Worte sie sagen: „Jetzt wird er ans Kreuz geschlagen.“ Und die Angst beflügelt den eilenden Fuß, Ihn jagen der Sorge Qualen; Da schimmern in Abendrots Strahlen Von ferne die Zinnen von Syrakus, Und entgegen kommt ihm Philostratus, Des Hauses redlicher Hüter, Der erkennet entsetzt den Gebieter: „Zurück! du rettest den Freund nicht mehr, So rette das eigene Leben! Den Tod erleidet er eben. Von Stunde zu Stunde gewartet’ er Mit hoffender Seele der Wiederkehr, Ihm konnte den mutigen Glauben Der Hohn des Tyrannen nicht rauben.“ „Und ist es zu spät, und kann ich ihm nicht, Ein Retter, willkommen erscheinen, So soll mich der Tod ihm vereinen. Des rühme der blut’ge Tyrann sich nicht, Daß der Freund dem Freunde gebrochen die Pflicht, Er schlachte der Opfer zweie Und glaube an Liebe und Treue! “ Und die Sonne geht unter, da steht er am Tor, Und sieht das Kreuz schon erhöhet, Das die Menge gaffend umstehet; An dem Seile schon zieht man den Freund empor, Da zertrennt er gewaltig den dichten Chor: 178 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="179"?> „Mich, Henker“, ruft er, „erwürget! Da bin ich, für den er gebürget! “ Und Erstaunen ergreifet das Volk umher, In den Armen liegen sich beide Und weinen vor Schmerzen und Freude. Da sieht man kein Augen tränenleer, Und zum Könige bringt man die Wundermär’; Der fühlt ein menschliches Rühren, Läßt schnell vor den Thron sie führen, Und blicket sie lange verwundert an. Drauf spricht er: „Es ist euch gelungen, Ihr habt das Herz mir bezwungen; Und die Treue, sie ist doch kein leerer Wahn - So nehmet auch mich zum Genossen an: Ich sei, gewährt mir die Bitte, In eurem Bunde der dritte! “ (Aus: S C H I L L E R , Friedrich (Hrsg.) (1799). Musen-Almanach für das Jahr 1799. Tübingen: J.G. Cotta, 176-182) Damons Handlungen, so glaubt man vornehmlich, zielen darauf, den Freund auszulösen und ihn vor dem unverschuldeten Tode zu bewahren. Dass es neben dem individuellen Schicksal jedoch um mehr geht, nämlich um Schillers Menschenbild, der das Individuum als autarken Handlungsträger sieht, weshalb Safranski (2004) ihn als einen der ersten Vertreter des deutschen Idealismus bezeichnet, offenbart sich, als Damon den Rat des Philostratus mit den Worten „[…] und glaube an Liebe und Treue“ ausschlägt und seinen Weg zum König fortsetzt. Damon steht mit seinem Verhalten damit, ähnlich wie Delorges in der Ballade „Der Handschuh“ (Kap. 5.1.4), für Schillers Idealbild einer „schönen Seele“, die fast gänzlich als zivilisatorische Errungenschaft durch Kunst (Theater oder Dichtkunst) befördert werden kann. - Vorschlag zur didaktischen Umsetzung Folgende Bezüge zu den Kompetenzen werden besonders berücksichtigt: Die Schüler: innen-… 5.1 Freundschaft und Liebe 179 <?page no="180"?> ▸ analysieren die filmische Umsetzung der literarischen Vorlage „Die Bürgschaft“ in ihrer narrativen Struktur und ästhetischen Gestaltung; ▸ setzen sich mit den Perspektiven und Handlungsmustern von Akteur: in‐ nen und Figuren in Film und literarischer Vorlage auseinander. ▸ diskutieren die Bedeutung historisch-gesellschaftlicher Bezüge der Ballade „Die Bürgschaft“ kritisch am aktuellen Beispiel der Flüchtlingsthematik. ▸ führen ihre Ergebnisse zu einer in sich schlüssigen Deutung (Sinnkon‐ struktion) des Films in Form einer Filmkritik zusammen. Diskussionen zum Menschenbild und zu Wertvorstellungen, vor allem zu frei‐ heitlichen und moralischen, haben in den turbulenten Zeiten der beginnenden 2010er-Jahre Hochkonjunktur. Sei es in Form von Diskussionen zum Umgang mit der Krise liberaler Gesellschaften durch den Aufstieg autoritärer Kräfte oder den Umgang mit vor Krieg und Hunger flüchtenden Menschengruppen aus unterschiedlichen Kulturkreisen. Stets geht es um die Frage: (Wie) wollen wir zusammenleben und welche Werte sollen unser Zusammenleben prägen? Diese Diskussionen sind nicht neu. Vielmehr sind sie der stetige Beglei‐ ter von kriegerischen und gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen. So auch zu Schillers Lebzeiten, welche geprägt sind durch die Französische Revolution, den Aufstieg Napoleons und die Auswirkungen der Frühindust‐ rialisierung. Ebenfalls nicht neu ist, dass zentrale gesellschaftliche und politische Umbrüche in Kunst und Kultur thematisiert und verarbeitet werden. Folglich dienen auch literarische Texte, nicht zuletzt aufgrund ihres starken emotionalen Moments, immer wieder zur Beschreibung aktueller Zeitumstände. Das Repertoire umfasst dabei neue, aber auch immer wieder ältere Texte, die im Medienzeitalter nicht nur printmedial, sondern auch auditiv und audiovisuell aufgearbeitet sind. Ein Beispiel für die filmische Inszenierung einer literarischen Vorlage ist der Kurzfilm von Kerstin Hö‐ ckel (2015) zu Schillers Ballade „Die Bürgschaft“. Überwiegend unterlegt mit der Rezitation der klassischen Originalverse, erzählt die filmische Adaption die dramatische Geschichte der beiden befreundeten Berliner Flüchtlinge Mihriban (Mateja Meded) und Ashana (Deleila Piasko). Anders als Schillers Ballade, die mit einem Mordversuch auf den Tyrannen Dionys II. beginnt, wird Höckels Film mit einem Brief an Mihriban eingeleitet, der sie über ihre bevorstehende Abschiebung informiert. Um ihrer Freundin ein letztes Zusammensein mit ihrem ‚Freund‘ zu ermöglichen, tauscht Ashana kurzerhand mit Mihriban ihre Identität (Treuebeweis, Abb. 5.4). Der durch den Tausch ermöglichte Zeitaufschub wird damit nicht von einer europäischen 180 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="181"?> Institution zur Regulierung der Zuwanderung gewährt, die im Film analog zum Tyrannen fungiert, sondern durch die Freundin selbst. Abb. 5.4: Screenshot: Mihriban und Ashana tauschen ihre Identität Als Ashana, statt Mihriban, am Tag der Abschiebung von den Behörden abgeholt wird, beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit. Dabei kämpft Mihri‐ ban in der modernen Inszenierung nicht wie in Schillers Original gegen sintflutartigen Regen, starke Sturmböen, unendlichen Durst und mörderi‐ sche Räuber, sondern gegen akribisch arbeitende Fahrkartenkontrolleure, betrunkene Männer und rote Ampeln. Nur mit Hilfe von ‚Philostratus‘, in Person einer deutschen Grenzpolizistin, schafft sie es noch, das Flugzeug, welches bereits auf die Startbahn gerollt ist, einzuholen und ihren Platz anstelle ihrer Freundin einzunehmen. Wie in Schillers Ballade sind auch die mitreisenden Fluggäste von der Szenerie der Wiedersehensfreude und Abschiedstrauer der beiden treuen Gefährtinnen so bewegt, dass sie aufste‐ hen und damit einen Weiterflug der Maschine verhindern. Ob durch diese von Höckel (2015) inszenierte bunte Initiative der Willkommenskultur, die sich im Frühjahr 2016 in der realen Berliner-Kampagne „#Aufstehen gegen Rassismus“ weiterorganisiert, Mihribans Abschiebung jedoch langfristig verhindert wird, bleibt unbeantwortet. Der Film lässt - anders als die Ballade - das Schicksal der zentralen Figur offen. Eingebettet in einen medienintegrativen Deutschunterricht kann, wie im vorzustellenden Unterrichtsbeispiel, die Analyse und Bewertung auditiver und audiovisueller Umsetzungen literarischer Texte thematisiert werden. Im Zentrum steht dabei stets - ganz unabhängig von den behandelten Texten - die Förderung multimodaler Kompetenz(en). Spiralcurricular werden 5.1 Freundschaft und Liebe 181 <?page no="182"?> diese in den unteren Klassen zunächst durch die Analyse, den Vergleich und die Bewertung bzw. Eigenproduktion einzelner Szenen aufgebaut, bevor die auditive und audiovisuelle Umsetzung in ihrer Ganzheit thematisiert wird. Im Sinne einer sich zunehmend durchsetzenden funktionalen Perspektive auf Textprodukte bietet sich hierzu für die Oberstufe die Präsentation der Analyseergebnisse aus dem Lese-Sehgespräch im Rahmen einer Filmkritik an (vgl. Unterrichtshilfe: „Eine Filmkritik schreiben“). Als finales Ergebnis der Lerner: innen dient das Schreiben einer Filmkritik dazu, die Eindrücke aus den Lese- und Sehgesprächen, ggf. auch unter Hinzuziehung weiterer Informationen, vertieft zu bearbeiten, eigene Urteile zu verdichten und damit Selektions- und Beurteilungskompetenz weiterzu‐ entwickeln. Dazu bedarf es im Vorfeld einer Analyse unterschiedlicher Aspekte (Handlung, Figuren und schauspielerische Leistung, gestalterische Umset‐ zung), die entsprechend einer für Komplexität sensiblen Aufgabendidak‐ tik im Deutschunterricht kleinschrittig angebahnt und ggf. auch in Klein‐ gruppen bearbeitet werden sollte. Voraussetzung für die Umsetzung der folgenden Unterrichtsidee ist, dass bereits zentrale Aspekte der Ballade bekannt sind. Folglich sollte sie zu Beginn der Reihe einmal gemeinsam mit den Schüler: innen gehört werden. Anschließend können im Plenum erste Eindrücke, Assoziationen und Deutungshypothesen gesammelt und an der Tafel festgehalten werden, bevor die Lernenden in Kleingruppen einerseits Textbelege für die Beweggründe von Damons Handeln herausarbeiten (1. versuchter Tyrannenmord; 2. Sorge um die Schwester; 3. Ablösung des Freundes) und andererseits begründen, wodurch die Rachlust des Tyrannen Dionys schließlich überwunden wird. Ist die Kleingruppenarbeit am Text beendet und besprochen, kommen die Lernenden zusammen, um gemeinsam den Kurzfilm „Die Bürgschaft“ von Kerstin Höckel (2015) zu schauen. Einen möglichen Ausgangspunkt für das Schreiben einer Filmkritik bildet im Anschluss die Analyse der narrativen Struktur des Films an ausgewählten Szenen mit dem Originaltext z. B. mit der folgenden Aufgabenstellung: Ergänzen Sie zum jeweiligen Filmausschnitt den/ die im Kurzfilm formulierten Verse (vgl. Unterrichtshilfe „Narrative Strukturen vergleichen - Eine Filmkritik vorbereiten“). Zur Vorbereitung der Filmkritik können die Schüler: innen bereits an dieser Stelle in den Aus‐ tausch darüber kommen, wie die teilweise fehlende inhaltliche Überein‐ stimmung sowie die Auslassungen zwischen den Filmszenen und der Ballade bewertet werden müssen (vgl. Unterrichtshilfe: „Narrative Strukturen ver‐ 182 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="183"?> gleichen - Eine Filmkritik vorbereiten“). In der darauffolgenden Stunde sol‐ len sich die Lernenden beim erneuten Sehen des Kurzfilms auf die Filmfi‐ guren konzentrieren. Hierzu kann die Klasse in zwei Gruppen aufgeteilt werden. Während sich Gruppe 1 mit der Beschreibung der äußerlichen Merkmale der Hauptcharaktere in Film und Ballade beschäftigt, sammelt Gruppe 2 Erklärungen für das Figurenhandeln bzw. Informationen zu den sozialen und persönlichen Hintergründen der Charaktere. Mithilfe der Lehr‐ person werden die Ergebnisse an der Tafel gesammelt und systematisiert. In einem dritten Schritt bietet es sich an, den Film erneut anzuschauen und dabei gemeinsam mit den Schüler: innen darauf zu achten, wie die zuvor besprochenen Szenen gestalterisch umgesetzt wurden. Mithilfe von Be‐ obachtungsaufgaben zu Musikeinsatz, Geräuschen, Kameraperspektive so‐ wie zur Farbgebung (vgl. Unterrichtshilfe „Gestalterische Umsetzung re‐ flektieren - Eine Filmkritik vorbereiten“) bauen die Lernenden ihre visual literacy, d. h. ihre Fähigkeit, „Bilder zu lesen […][,] ihnen verstehend Sinn und Bedeutung zu geben“ (Abraham 2009: 27) weiter aus. Das inhaltliche Grundmotiv eines Films ist bisweilen durch die Ausein‐ andersetzung (des Autors/ der Autorin) mit einer gesellschaftlichen Proble‐ matik geprägt. Auch im vorliegenden Beispiel motivierte die Regisseurin ihre eigene Arbeit mit Flüchtlingen zur Filmproduktion und prägte damit nachhaltig die Auswahl der Figuren und die Darstellung der sie betreffenden Ereignisse. Hintergründe zur Idee zum Film finden Sie unter dem Punkt Regieno‐ tizen auf der Homepage zum Kurzfilm: http: / / www.diebuergschaft.co m/ ? page_id=17. Dies kritisch zu reflektieren, bildet den abschließenden Teil der zu schrei‐ benden Filmkritik. Folglich sollten die Schüler: innen in ihren Filmkritiken nicht nur ihre Ergebnisse der narrativen Analyse sowie die Ergebnisse zur Figurendarstellung und gestalterischen Umsetzung im Film fokussiert zu‐ sammentragen, sondern am Ende auch zu folgenden Fragen Stellung bezie‐ hen (vgl. Unterrichtshilfe „Eine Filmkritik schreiben“): ▸ Inwieweit ist die Übertragung der Figur eines Königsmörders auf eine Geflüchtete gelungen? ▸ Inwieweit ist eine tyrannische Handlung mit gesetzlicher Pflichterfül‐ lung gleichzusetzen? 5.1 Freundschaft und Liebe 183 <?page no="184"?> ▸ Inwieweit sind die drohende Hinrichtung im Original und eine Abschie‐ bung im Film übereinzubringen? ▸ Wie ist das von der Ballade abweichende offene Ende im Film zu bewerten? ▸ … Aus den eigenständig erstellten Filmkritiken können anschließend von einer Schüler: innen-Jury die drei besten Kritiken ausgewählt und im Weblog der Schule bzw. auf der Schulhomepage veröffentlicht werden. 5.2 Unheimliches und Geisterhaftes 5.2.1 Die Semantik und Ästhetik des Bösen in der Literatur - „Gespenster“ von Alexander S. Puschkin Juliane Dube Thema: Viele Kinder werden bereits in jungen Jahren mit dem Bösen, welches sich gemeinhin als Abwesenheit jedes moralisch gebotenen Tuns versteht (vgl. Bohrer 2004), in der Literatur konfrontiert. Klassi‐ sches Beispiel sind hierfür die Märchen der Brüder Grimm. Das Böse offenbart sich in verschiedenen Tierfiguren (z. B. Wolf), Men‐ schen (Stiefmutter/ -schwester, Räuber) oder Zauberwesen (z. B. Hexe). Zwar ist das Böse stets kultur- und zeitspezifisch definiert, steht jedoch überwiegend in der Spannung zum Guten. Dieses dualistische Verhältnis gilt auch als ein wesentliches Charakteristikum märchenhafter Texte. Intention: Leitend für die Auseinandersetzung mit individuellen Kon‐ zepten des Bösen in der Literatur können in der Orientierungsstufe zwei unterschiedliche Sichtweisen sein: Einerseits die vorrangig moralische, vor allem im Märchen zu findende personifizierte Darstellung des Bösen, welche mit der Frage: Wer wirkt hier böse und warum? thematisiert werden kann. Andererseits kann auch schon mit den Jüngsten unter der Frage: Wie wird ‚das Böse‘ dargestellt? die ästhetische Seite reflektiert werden und damit die enge Verbindung von Inhalt, Sprache und Form aufgearbeitet werden. 184 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="185"?> Unterricht in der Orientierungsstufe (4. bis 6. Schuljahr): Eingeführt in eine literarische Verarbeitung des Bösen am Beispiel des slawischen Märchens „Hexe Baba Jaga“ erweitern die Lernenden ihre Leseeindrücke anschließend durch die Arbeit an der russischen Ballade „Geister“ von A. S. Puschkin. Durch die produktionsorientierte Methode des Erstellens eines Echotextes experimentieren die Schüler: innen ab‐ schließend mit verschiedenen sprachlichen Mitteln zur ästhetischen Konzeptionalisierung des Bösen und reflektieren deren Wirkung. - Ausgewählte didaktische Analyse Gegen Ende des 18. Jahrhunderts zeigt sich im Zuge der „aufklärerischen Kritik des Aberglaubens“ ein übergreifender Effekt der modernden Ästhetik. Die Kategorie des Bösen, lange Zeit in der Figur des Teufels personifiziert, wird nun nach der „Entzauberung der Satansfigur“ wesentlich über neue poetische Erfindungen und Strategien abgebildet (vgl. Alt 2011: 13). Als „Schauplatz erhabener bzw. hässlicher Züge der (menschlichen) Natur, als Medium moralischer Unabhängigkeit und Forum für Tabuverletzungen“ (ebd.: 12) präsentiert sich eine ästhetische Vergegenwärtigung des ‚Bösen‘ folglich nicht mehr wie noch im Märchen in einer Figur, sondern zunehmend über die Einbildungskraft (vgl. ebd.: 14). „An den Platz begriffs- und kultur‐ historischer Setzungen rückt damit die eigene Sprache der Fiktion mit ihren phantastischen Zuspitzungen und Übertreibungen, in denen die dunkle Seite der Schöpfung hervortreten darf “ (ebd.: 13). In vielen balladesken Texten finden sich nun Beschreibungen der menschlichen Umwelt, die „mit einer bis dahin unbekannten Qualität des Bösen“ aufgeladen sind, „die rationalistisch nicht abgearbeitet werden kann“ (ebd.: 18). Folglich lohnt es sich, den Strukturen und Typen der literarischen Dar‐ stellungen des ‚Bösen‘ im Kontext der thematischen Sequenzbildung mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Hierzu bietet sich ein Vergleich an, der einerseits die Personifizierung des Bösen z. B. im Märchen reflektiert und andererseits die ästhetische Darstellung des Bösen über die Figurenebene hinaus thematisiert. Egal ob Stiefmutter, Räuber, Dieb oder Hexe - die Liste hartherziger und skrupelloser Figuren in der Literatur ist lang und ihre Taten lassen einen erschaudern. Ausgestattet mit List, Zauberkräften oder Säbeln und 5.2 Unheimliches und Geisterhaftes 185 <?page no="186"?> Räuberpistolen schrecken sie nicht, dies belegt auch ihre Namenlosigkeit, vor Mord und Totschlag zurück. Sprachlich besonders intensiv, aber rational schwerer fassbar, tritt das Böse in Puschkins Ballade „Gespenster“ (1832) zu Tage. In dieser inszeniert Puschkin, dessen Werke für die Russen einen ähnlichen Stellenwert besitzen wie die von Goethe und Schiller für die Deutschen oder die von Shakespeare und Byron für die Engländer (vgl. Kluge 2000), das Konzept des Bösen in einer Vielzahl ästhetischer Formen. Gespenster (Alexander S. Puschkin) Wolken türmen, Wolken schieben, schneeverhangen ohne Macht glimmt der Mond, die Flocken stieben, fahl der Himmel, schwarz die Nacht. Und ich fahre frei ins Weite, Schlittenglöckchen ding, ding, ding. Ring’s verklärt sich’s, ich entgleite, fremd das Feld, fremd jedes Ding. „Kutscher, ho! “ Ach Herr, die Pferde mühen sich, so gut es geht, ich selber sehe kaum die Erde, die Wege sind im Schnee verweht. Nun verliert sich noch die Spur. Himmel hilf, wir sind verwirrt. Ein böser Spuk beherrscht die Flur, ich seh’s, wie er im Kreis uns führt. Schaut nur Herr, dort, wie es rackert, wie es pfeift und sprotzt und weht, jetzt wie wildes Feuer flackert, bald züngelnd um den Schluchtrand steht. Dort auf jener Teufelswerst hat der Spuk begonnen. Da, seht doch, blitzt es - eben erst-… und schon ist’s in nichts zerronnen.“ 186 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="187"?> Wolken türmen, Wolken schieben, schneeverhangen ohne Macht glimmt der Mond, die Flocken stieben, fahl der Himmel, schwarz die Nacht. Die Kraft versiegt. Wir sind am Ende, nun auch das Schlittenglöckchen stumm. Die Pferde starr. Dort im Gelände - Ein Wolf vielleicht? ein alter Trumm? Der Schneesturm gellt. Das Wetter schreit. Die Pferde schnauben aufgeregt. Glutaugen aus der Dunkelheit! Dort, wieder hat es sich bewegt. Die Pferde reißen, und wir fahren, Schlittenglöckchen ding, ding, ding-… Ja, ich seh die weißen Scharen der Gespenster weit im Ring. Spielhaft und gestaltlos wallen in des Monds verschneitem Licht wie Blätter im November fallen Gespenster, Spuk und Spukgesicht. Wie viele nur! Wohin sie jagen, welchen Sing Sang singen? Sind es ihre Totenklagen, ob sie Hochzeitsständchen? Wolken türmen, Wolken schieben, schneeverhangen ohne Macht glimmt der Mond, die Flocken stieben, fahl der Himmel, schwarz die Nacht. Geisterschwärme taumeln, jagen endlos fallend erdenwärts, und ihr schmerzerfülltes Klagen gräbt sich langsam in mein Herz. (Aus dem Russischen von: A D E N , Menno (2019). Puschkin. Russland und sein erster Dichter. Darmstadt: wbg, 165-166) 5.2 Unheimliches und Geisterhaftes 187 <?page no="188"?> Die gewählte Meisterballade, die u. a. auch unter den Titeln „Die bösen Geis‐ ter“, „Die Dämonen“ oder „Gespenster“ (russ. besy) bekannt geworden ist, beschreibt in sieben achtversigen Strophen im Kreuzreim die als bedrohlich empfundenen Naturerscheinungen während einer einsamen Fahrt durch das nächtliche Schneetreiben in der russischen Steppe. Mit der Dauer der Fahrt nimmt die Hilflosigkeit der beiden Figuren (Kutscher und Herr) sowie die Angst vor unbekannten übermenschlichen Kräften („Ein böser Spuk beherrscht die Flur“) mit Fortschreiten der Ballade immer weiter zu. Auf dem Höhepunkt der Erzählung verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Fantasie vollends, das Glöckchen verstummt („Ja, ich seh die weißen Scharen der Gespenster weit im Ring“). Kurze Zeit später begleiten die Gespenster wieder hektisch die Weiterfahrt der Figuren, die nun vollends im intensiven fantastischen Erleben der Naturkräfte gefangen sind, die sich als Gespenster, Wölfe und Geisterschwärme ins Herz eingraben. - Vorschlag zur didaktischen Umsetzung Folgende Bezüge zu den Kompetenzen werden besonders berücksichtigt: Die Schüler: innen … ▸ tauschen sich über die konzeptionellen Darstellungen des Bösen im Märchen aus und erweitern ihre Leseeindrücke, indem sie sich auch mit ihrer ästhetischen Gestaltung auseinandersetzen. ▸ entwickeln fremde Texte durch das Einfügen von Worten, Kommentaren oder Gegentexten weiter. ▸ sprechen gestaltend in vorgegebenen Situationen. Viele der jungen Schüler: innen kennen bereits unterschiedliche Konzepte des Bösen in der Literatur. Zu Beginn der Unterrichtseinheit soll den Lernenden daher zunächst Raum gegeben werden, sich über ihre subjekt‐ bezogenen Eindrücke zu den Darstellungen des Bösen in Literatur und Medien auszutauschen. Als Gesprächsimpuls bietet sich die Arbeit mit einem Bild wie z. B. dem Gemälde „Die Hexe“ von Hans Thoma als weibliche Personifikation des Bösen bzw. des Teufels als männliche an (Abb. 5.5) oder die Arbeit mit mehreren Bildern in Form eines Galerieganges. Sind die Lernenden für die Thematik der nächsten Stunden sensibilisiert, wird ihnen - im Rahmen eines Deutschunterrichts, der seinen Blick auf die Vielfalt der Sprachen und Kulturen richtet - das slawische Märchen von der Hexe Baba Jaga präsentiert. 188 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="189"?> Den Text zum Märchen „Hexe Baba Jaga“ finden Sie u. a. online auf der Seite Märchenbasar (http: / / maerchenbasar.de/ klassische-maerchen/ os teuropa/ russland/ 4164-baba-jaga.html). Inzwischen umfasst der Medi‐ enverbund zum Märchen neben der klassischen literarischen Vorlage u. a. auch einen Kurzfilm mit Carolin Kebekus als Erzählerin. Sie finden diesen unter: Die Sendung mit der Maus (WDR, 09.05.2015, http: / / www1.wdr.de/ mediathek/ video/ sendungen/ die-sendung-mit-der-mau s/ video-baba-jaga-100.html, 12.02.2019). Zudem gibt es im Internet einen Zeichentrickfilm, der im Rahmen der Reihe Sagenhaft - Märchen aus aller Welt entstanden ist. Erzählt und vertont wird dieser von Bastian Pastewka: (http: / / bastianpastewka.de/ pastewkarium/ synchro n/ sagenhaft-maerchen-aus-aller-welt.html). Abb. 5.5: Rückwärts reitende Hexe auf einem Ziegenbock, Albrecht Dürer, Kupferstich ca. 1500 als mögliches Einstiegsmedium in das Thema ‚Das Böse in Kunst und Literatur‘ 5.2 Unheimliches und Geisterhaftes 189 <?page no="190"?> Wenngleich verschiedene Deutungen zur Figur der Hexe Baba Jaga existie‐ ren, taucht sie in vielen Märchen als unberechenbare und bösartige Gestalt auf, die in einer kleinen Hütte, welche auf riesigen (Hühner-)Beinen steht, mitten im Wald wohnt. Dorthin schickt die Schwester Baba Jagas ihre Stieftochter, gegen die sie einen großen Groll hegt („Von Anfang an hasste sie die Tochter des Mannes, schimpfte und schlug sie sogar“), wohlwissend, dass sie diese Reise nicht überleben wird. Doch dank des familiären Rates gelingt dem Mädchen die Flucht vorbei an verschiedenen mit der Hexe verbündeten Figuren, die sich ihm eigentlich in den Weg stellen sollten. Dabei erfahren die Leser: innen weitere Details zur Boshaftigkeit Baba Jagas: Da sprach der Kater: ‚Ich diene Dir schon viele Jahre, doch niemals erhielt ich von Dir auch nur einen Knochen! Aber das Mädchen hat mir sofort ein gutes Stück Fleisch geschenkt! ‘ Da öffnete Baba Jaga die Tür, rannte hinaus und sah ihre beiden Hunde das Brot essen. Wütend sagte sie zu ihnen: ‚Warum habt Ihr das Mädchen nicht in Stücke gerissen? Warum habt Ihr sie laufen lassen? ‘ Da meinten die Hunde: ‚Wir stehen in Deinen Diensten schon viele Jahre, doch niemals erhielten wir von Dir auch nur eine alte Brotrinde! Aber das Mädchen hat uns sofort ein ganzes frisches Brot geschenkt! ‘ Da lief Baba Jaga zum Tor und rief ihm zu ‚Warum bliebst Du nicht geschlossen? Warum hast Du das Mädchen durch gelassen? ‘ Da seufzte das Tor: ‚Ich bin Dir zu Diensten schon viele Jahre und quietschte bereits jämmerlich. Doch niemals hast Du auch nur Wasser auf meine Angeln gegossen. Das Mädchen hat mich mit Öl geschmiert! ‘ Da rannte Baba Jaga durch das Tor und kam an der Birke vorbei. Sie sprach zu ihr: ‚Warum hast Du das Mädchen mit Deinen Ästen nicht aufgehalten? Warum hast Du ihr nicht in die Augen gestochen? ‘ Der Baum antwortete: ‚Ich diene Dir schon viele Jahre. Du hast mich nicht einmal mit einem Faden zusammen gebunden. Das Mädchen hat mir ein schönes Band geschenkt! ‘ Da sah Baba Jaga die Magd und schimpfte sie: ‚Du dumme Göre! Warum hast Du sie nicht aufgehalten? ‘ Die Magd antwortete: ‚So viele Jahre diene ich Dir. Doch nie warst Du freundlich zu mir. Das Mädchen aber hat mir ein feines Tuch geschenkt und war sehr höflich und nett.‘ Im Märchen Baba Jaga besitzt die Personifizierung des Bösen in den Figuren der Stiefmutter und der Hexe in allen medialen Inszenierungen einen zentralen Stellenwert. Die amoralischen Eigenschaften der beiden Figuren können folglich bereits von Lernenden der Orientierungsstufe gut herausgearbeitet werden. Hinweise im Primärtext (z. B. markierte Abschnitte, Zeilenangaben etc.) oder Aufgaben mit einem klar umrisse‐ 190 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="191"?> nen Suchraum (z.-B. Warum wenden sich die Tiere gegen das Interesse von Hexe Baba Jaga? ) können die Verstehensprozesse in einem differen‐ zierenden Deutschunterricht zusätzlich unterstützen und den Vergleich der Ergebnisse erleichtern. Aufgabe eines gendersensiblen Literaturun‐ terrichts ist es gleichfalls darauf hinzuweisen, dass Märchen häufig mit geschlechtsbezogenen Stereotypen arbeiten, die in Anschlussgesprächen kritisch reflektiert werden müssen. Im Anschluss an die Auseinandersetzung mit der semantischen Darstel‐ lung des Bösen im ausgewählten Märchen bietet es sich weiterführend an, der Frage nachzugehen, wie Konzepte des Bösen in der Literatur dargestellt werden können. Hierzu hören und lesen die Schüler: innen die Ballade „Gespenster“ von A.S. Puschkin zunächst gemeinsam im Plenum. In Partner- oder Kleingruppenarbeit tauschen sich die Lernenden anschließend fragen‐ geleitet zu ihren Hör- und Leseeindrücken aus. Mögliche Fragen könnten hierzu sein: ▸ Was passiert in der Geister-Ballade von Alexander S. Puschkin? ▸ Wie wirkt die Ballade auf euch? ▸ Überlegt gemeinsam, warum die Ballade so wirkt. Notiert eure Ideen auf dem Arbeitsblatt. ▸ Schaut euch die Adjektive und Verben in der Ballade an. Welche Stimmung vermitteln sie? ▸ In Strophe 4 und 5 nehmen die bösen Kräfte der Natur zum ersten Mal Gestalt an. Wie wird das Böse in diesen beiden Strophen beschrieben? Zur Beantwortung der letzten Frage müssen metaphorische Beschreibungen wie „Glutaugen“ als äußere Attribute oder Ausdrücke wie „weiße Scharen der Gespenster“ als Gestaltbild erkannt und Vergleiche wie „wie Blätter im Wind“ als Verbildlichung von Bewegung gedeutet werden. Gleichfalls gilt es, die scheinbare Unsichtbarkeit der Gestalten „dort wieder hat es sich bewegt“ durch Inferieren zu rekonstruieren. Zur Unterstützung der Textanalyse bietet es sich an, den Lernenden Kategorien (Eigenschaften, Aussehen, Fortbewegung) zur Beschreibung des Bösen vorzugeben. Den Abschluss der Unterrichtsreihe zu Darstellungen des Bösen in der Literatur bildet der handlungs- und produktionsorientierte Umgang mit der ästhetischen Gestaltung der ausgewählten Ballade. Grundlage dieser dem Aufbau von literarischer Kompetenz dienlichen Aufgabe bildet die Erstellung so genannter Echotexte. Hierzu sollen die Lernenden in Kleingruppen zunächst Stellen im Text markieren, die besonders gruse‐ 5.2 Unheimliches und Geisterhaftes 191 <?page no="192"?> lig wirken. Anschließend diskutieren die Lernenden, wie diese Wirkung entsteht und sammeln Ideen, wie sie die Wirkung des Textes durch die Ergänzung von Worten, Kommentaren, Geräuschen, Musik etc. noch weiter verstärken können. Dadurch entsteht nicht nur eine neue Schreib-, sondern auch Sprechgestalt, die von den Lernenden zunächst in ihrer Kleingruppe erfahren und ggf. durch den Einsatz unterschied‐ licher Sprecher: innen weiter ausgestaltet werden kann (vgl. Unterrichts‐ hilfe „Echotexte gestalten“). In der letzten Stunde der Reihe sollten die erstellen Echotexte in einem abschließenden Vortrag Würdigung und kriteriengeleitetes Feedback z. B. unter dem Gesichtspunkt, welche Text‐ veränderungen die Wirkung des Textes besonders verstärkt haben, er‐ halten (vgl. Unterrichtshilfe „Echotexte vortragen“). Zuletzt sei an dieser Stelle auf das hohe Potenzial des Themas für den fächerübergreifenden Unterricht verwiesen. Anknüpfungspunkte erge‐ ben sich auf der einen Seite an die Farbenlehre und Buchillustrationen zu Darstellungen des Bösen in den Märchen der Brüder Grimm (Kunst), des‐ sen Ergebnisse z.-B. auch für die Gestaltung von eigenen Illustrationen, etwa zu Puschkins Geisterballade genutzt werden könnten, und auf der anderen Seite an die Doppelstruktur des Bösen anhand der Frage: Gibt es auch Situationen, in denen Böses Gutes bewirkt? (vgl. z. B. Evas Sündenfall als Aufbruch in die Selbstständigkeit) im Religions- und Ethikunterricht. 5.2.2 Selbstüberschätzung als Entwicklungsmoment - „Der Zauberlehrling“ von Johann Wolfgang von Goethe Juliane Dube Thema: Eine ähnliche Bekanntheit wie Merlin, Krabat oder Harry Potter besitzt auch der Zauberlehrling aus Goethes gleichnamiger Bal‐ lade von 1798. Obwohl die Figur des Lernenden weniger aus dem Originaltext „Der Lügenfreund oder der Ungläubige“ von Lucian von Samosata (griech. Schriftsteller) oder der Balladenfassung von Goethe bekannt sein dürfte, hat der stetig wachsende Medienverbund dazu beigetragen, dass sich die Lernenden an die Figur bzw. ihre Geschichte erinnern. Im größeren Medienformat wurde die Geschichte des jungen Zauberlehrlings erstmals durch die Musical-Zeichentrickverfilmung mit Micky Maus (1937) bekannt. Inzwischen ist der Medienverbund um 192 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="193"?> ein Musical von Michael Wempner (2009), einen Kurzfilm von ‚Kultur Kubik‘ (2013) und zahlreiche Vertonungen, u. a. von der Gruppe ‚Junge Dichter und Denker‘ gewachsen. Intention: Die für die Ballade typische leicht zugängliche semantische Struktur, die hohe dramatische Dichte sowie die liedhaften Elemente ermöglichen es, dass bereits in der Orientierungsstufe gewinnbringende Auseinandersetzungen auch mit klassischen Kunstballaden wie z. B. den „Zauberlehrling“ stattfinden können. Aufgrund ihres erzählerischen Spannungsreichtums, ihrer sprachlichen Farbigkeit und der hohen Er‐ fahrungshaftigkeit (vgl. Dehn 2014), bietet sie jedoch auch besondere Anknüpfungspunkte, wenn die Förderung einer strukturierten mündli‐ chen Erzählfähigkeit im Zentrum des Deutschunterrichts steht. Unterricht in der Orientierungsstufe (4. bis 6. Schuljahr): Im Unterrichtsvorschlag wird die gemeinsame Erarbeitung einer Erzähl‐ kurve zur ausgewählten Ballade vorgestellt, welche die Bedeutung der Handlungsstruktur für das mündliche und schriftliche Erzählen verdeutlichen soll. Der kreative Einsatz japanischer Erzähltheater, so ge‐ nannter Kamishibais, soll die Lernenden am Ende der Unterrichtsreihe beim Nacherzählen der Ballade visuell unterstützen. - Ausgewählte didaktische Analyse Die Ballade gilt nicht nur bei Schiller lange Zeit als eine Form der Überliefe‐ rung von historischen und sagenhaften Stoffen, sondern ist nicht selten auch Anstoß für den Leser/ die Leserin bzw. den Hörer/ die Hörerin, „das Handeln der Balladenfiguren und deren Motivation mit eigenen Vorstellungen zu vergleichen“ (Giehrl/ Müller 1994: 128). Die in „Der Zauberlehrling“ thematisierte Problematik, in scheinbar unbeobachteten Momenten Tätigkeiten nachzugehen, die kompetenten Erwachsenen vorbehalten sind und bei fehlender Ausführungsroutine in manchen Fällen unkontrollierte Folgen nach sich ziehen, dürfte den jungen Lerner: innen dabei nicht gänzlich fremd sein. Schließlich werden über das Nachahmen von Tätigkeiten bereits in jungen Jahren wichtige Erfahrungen gesammelt. Folglich empfiehlt Karin Richter in ihrer didaktischen Einfüh‐ rung Vom Sockel geholt (2013) zu Schiller und Goethe, die kanonischen Klassiker auch schon in den unteren Klassen zu lesen. 5.2 Unheimliches und Geisterhaftes 193 <?page no="194"?> Der Zauberlehrling ( Johann Wolfgang von Goethe) Hat der alte Hexenmeister Sich doch einmal wegbegeben! Und nun sollen seine Geister Auch nach meinem Willen leben. Seine Wort und Werke Merkt ich und den Brauch, Und mit Geistesstärke Tu ich Wunder auch. Walle! Walle Manche Strecke, Daß, zum Zwecke, Wasser fließe, Und mit reichem vollem Schwalle Zu dem Bade sich ergieße. Und nun komm, du alter Besen! Nimm die schlechten Lumpenhüllen; Bist schon lange Knecht gewesen: Nun erfülle meinen Willen! Auf zwei Beinen stehe, Oben sei ein Kopf, Eile nun und gehe Mit dem Wassertopf! Walle! Walle Manche Strecke, Daß, zum Zwecke, Wasser fließe, Und mit reichem, vollem Schwalle Zu dem Bade sich ergieße. Seht, er läuft zum Ufer nieder; Wahrlich! ist schon an dem Flusse, Und mit Blitzesschnelle wieder Ist er hier mit raschem Gusse. Schon zum zweiten Male! 194 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="195"?> Wie das Becken schwillt! Wie sich jede Schale Voll mit Wasser füllt! Stehe! stehe! Denn wir haben Deiner Gaben Vollgemessen! - Ach, ich merk es! Wehe! wehe! Hab ich doch das Wort vergessen! Ach, das Wort, worauf am Ende Er das wird, was er gewesen. Ach, er läuft und bringt behende! Wärst du doch der alte Besen! Immer neue Güsse Bringt er schnell herein, Ach! und hundert Flüsse Stürzen auf mich ein. Nein, nicht länger Kann ichs lassen; Will ihn fassen. Das ist Tücke! Ach, nun wird mir immer bänger! Welche Miene! welche Blicke! O, du Ausgeburt der Hölle! Soll das ganze Haus ersaufen? Seh ich über jede Schwelle Doch schon Wasserströme laufen. Ein verruchter Besen, Der nicht hören will! Stock, der du gewesen, Steh doch wieder still! Willst am Ende Gar nicht lassen? Will dich fassen, Will dich halten 5.2 Unheimliches und Geisterhaftes 195 <?page no="196"?> Und das alte Holz behende Mit dem scharfen Beile spalten. Seht, da kommt er schleppend wieder! Wie ich mich nur auf dich werfe, Gleich, o Kobold, liegst du nieder; Krachend trifft die glatte Schärfe. Wahrlich! brav getroffen! Seht, er ist entzwei! Und nun kann ich hoffen, Und ich atme frei! Wehe! wehe! Beide Teile Stehn in Eile Schon als Knechte Völlig fertig in die Höhe! Helft mir, ach! ihr hohen Mächte! Und sie laufen! Naß und nässer Wirds im Saal und auf den Stufen: Welch entsetzliches Gewässer! Herr und Meister, hör mich rufen! - Ach, da kommt der Meister! Herr, die Not ist groß! Die ich rief, die Geister, Werd ich nun nicht los. „In die Ecke, Besen! Besen! Seids gewesen! Denn als Geister Ruft euch nur, zu seinem Zwecke, Erst hervor der alte Meister.“ (G O E T H E , Johann Wolfgang von (1798). „Der Zauberlehrling“. In: Schiller, Friedrich (Hrsg.) Musen-Almanach für das Jahr 1798. Tübingen: J.G. Cotta, 32-37) Weit bekannt ist die wiederkehrende Beschwörungsformel „Walle! Walle! “ im berühmten Refrain von Goethes Ballade „Der Zauberlehrling“ mit ihrer pathetisch wirkenden Alliteration und dem ungewöhnlich anmutenden Reimschema a-b-b-c-a-c. Die im Trochäus verfassten 14 Strophen sind 196 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="197"?> schnell wieder in Erinnerung, welche die Wut und Verzweiflung eines jungen, unerfahrenen Zauberlehrlings thematisieren, der sich einen Besen zum wasserholenden Knecht macht und wegen eines vergessenen Zauber‐ spruchs an der von ihm herbeigeführten Situation scheitert. Obwohl die Ballade „Der Zauberlehrling“ zum Balladenkanon der siebten und achten Jahrgangsstufe gehört, bietet insbesondere die Darstellung des Geschehens aus der Perspektive des Zauberlehrlings (autodiegetischer Erzähler), die nahezu die gesamte Ballade beherrscht, bereits für jüngere Ler‐ nende ein hohes Identifikationspotenzial. Trotz des ungewohnten Sprach‐ stils bietet die Ballade damit einen niedrigschwelligen Einstieg in die sprachlichen und nicht-sprachlichen Versuche des Lehrlings, sich das Leben durch Zauberei zu erleichtern und anschließend die entfesselten Kräfte wieder einzufangen. Erst in der vorletzten Strophe folgt die Anrede an den im letzten Moment hinzukommenden Meister, dem es gelingt, dem verzauberten Besen souverän Einhalt zu gebieten. - Vorschlag zur didaktischen Umsetzung Folgende Bezüge zu den Kompetenzen werden besonders berücksichtigt: Die Schüler: innen-… ▸ halten Hör- und Leseeindrücke in kurzen schriftlichen Kommentaren und/ oder in Bildern fest. ▸ erfassen die narrative Struktur der vorgestellten Ballade mithilfe einer Erzählkurve. ▸ erzählen literarische Texte anschaulich und lebendig mit Unterstützung eines Kamishibai nach. ▸ sammeln Erzählerfahrung und reflektieren diese. Eine weitere HipHop-Adaption zur Ballade „Der Zauberlehrling“ ent‐ stand im Rahmen des Projektes „Rap macht Schule“ mit dem Rapper Doppel-U (https: / / www.rap-macht-schule.de/ ). Mit einer Kombination aus modernen Gedichtvertonungen und Rap-Workshop zu klassichen Gedichten ist er bereits seit 2005 weltweit an Schulen, Universitäten, Bibliotheken und Goethe-Instituten unterwegs. Zur Einführung der Ballade bietet es sich an, auf die kindgerechte musikalische Inszenierung der Ballade durch die Gruppe ‚Junge Dichter 5.2 Unheimliches und Geisterhaftes 197 <?page no="198"?> und Denker‘ zurückzugreifen. Der zum Vortrag verwendete Hip-Hop-Stil kann dabei in einem ersten Schritt helfen, einen Zugang zur besonderen Sprache der Ballade zu finden. Dennoch sollten die Lernenden nach dem Hören und Lesen der Ballade Raum bekommen, um sich verständniser‐ schwerende Wörter zu erschließen. Als Gegengewicht zu jener im Haupt‐ teil der Unterrichtsreihe geplanten analytischen Arbeit ist es wichtig, den Schüler: innen nach dem Balladenvortrag auch ausreichend Raum für die Artikulation des Eigenen im Fremden und damit für das Formulieren erster Lese- und Höreindrücke zur Verfügung zu stellen. Hierzu sollen die Lernenden nach dem Anhören und stillen Lesen der Ballade besondere Hör- und Leseeindrücke in einem Text und/ oder in einem Bild festhalten. Dies können z. B. schriftliche und visuelle Anmerkungen zu besonders interessanten und spannenden Textstellen sein. Zu Beginn der Unterrichtssequenz soll folglich zunächst ein Möglich‐ keitsraum geschaffen werden, persönlich bedeutsame Vorstellungen zur Ballade zu äußern und Szenen zu extrahieren, die als besonders erzähl‐ würdig empfunden werden, sodass sich bei der gemeinsamen Vorstellung der Bilder und/ oder Texte die Vielseitigkeit des Erzählwürdigen der Ballade offenbart. In Bezug auf den Kern der Ballade ist in der Literatur vielfach darauf verwiesen worden, „dass die Ballade ‚Der Zauberlehrling‘ falsch verstanden ist, wenn sie dazu dient, ‚die ‚Autorität‘ des Meisters als eine unveränderli‐ che Größe zu bestimmen“ (Giehrl/ Müller 1994: 131). Statt einer am Ende der Ballade formulierten Moral sollte die Lehrperson die Lernenden im Gespräch anregen, sich mit der Frage zu beschäftigen, wofür das Handeln des Lehrlings und des Meisters steht. Der Fokus dieser Gespräche würde damit auf der Fähigkeit zur Einschätzung eigener Fähigkeiten als Teil eines natürlichen Lern- und Entwicklungsprozesses liegen und der in diesem Zu‐ sammenhang bedeutenden Rolle fehlertoleranter übergeordneter Personen. Besonders interessant ist demnach der Blick auf den Meister, der auf die Darstellung des Schadens und eine Bestrafung des Lehrlings vollkommen verzichtet. Die im Anschluss an die Balladenrezeption geführten Gespräche set‐ zen damit auf individuelle Lesarten der berühmten Ballade des Zauber‐ lehrlings, die den jungen Lernenden verdeutlichen sollen, dass die in der Ballade beschriebene Erfahrung eng mit ihrer eigenen Lebenswelt ver‐ bunden ist. Die Erweiterung der Bedeutungsebene auf die gesellschaft‐ liche Handlungsebene kann im Sinne eines Spiralcurriculums hingegen 198 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="199"?> stärker in den höheren Klassen mit ergänzenden wissenschaftlichen Texten z. B. zum ‚Zauberlehrling-Effekt‘ vorgenommen werden (u. a. Henke 2016). In der Auseinandersetzung mit aktuellen Themen wie der Erfindung der Atomspaltung, den derzeitigen Möglichkeiten der gen‐ technischen Manipulation oder Entwicklungen im Bereich der künstli‐ chen Intelligenz abstrahieren die älteren Schüler: innen von individuellen Lernprozessen auf das menschliche Eingreifen in natürliche Prozesse und deren unkontrollierte Folgen. Im Anschluss an das literarische Gespräch zur Ballade konzentrieren sich die weiteren Stunden auf die Erarbeitung und Reflexion der Erzählstruktur als einer der ersten didaktischen Bezugspunkte des Erzählens. Denn „[gut] erzählen und gern zuhören sind zwei Seiten einer Medaille“ (Claussen 2006: 13). Claussen verweist damit einerseits auf die Bedeutung der Zuhör‐ motivation in Erzählsituationen, in denen das eigene Leben mit fremdem Blick reflektiert werden kann (vgl. ebd.) und andererseits auf die hohen Ansprüche, die mit gutem Erzählen verbunden sind. Wenngleich in einem am Lernenden orientierten Deutschunterricht darauf geachtet werden sollte, dass die Lernenden immer wieder eigene Erzählinteressen einbringen können, darf nicht vergessen werden, dass das strukturierte Erzählen, z. B. in Form des Nacherzählens, als zentraler Gegenstand des Deutschunterrichts auch planmäßig eingeübt werden muss (vgl. Werani 2009). So haben unterschiedliche Untersuchungen zu Erzähl‐ fertigkeiten bei Kindern immer wieder gezeigt, dass diese überwiegend bereits in jungen Jahren implizit auf literale Erfahrungen beim Erzählen von Geschichten sowohl hinsichtlich der Akteure, der Handlung, aber auch des Geschichtenaufbaus zurückgreifen (vgl. u. a. Andresen 2004), ohne diese jedoch explizit nennen zu können. In den Untersuchungen zeigte sich darüber hinaus, dass neben dem Aus‐ denken fiktiver Geschehnisse auch deren zusammenhängende und chrono‐ logische Darstellung (Serialität) immer wieder zu Schwierigkeiten beim Er‐ zählen führt. Insbesondere wenn eine ,Ungewöhnlichkeit‘ oder eine ,Komplikation‘ in dramatisierter Form den Kern der Erzählung bildet, wird häufig auf das Strukturmuster der Höhepunkterzählung zurückgegriffen. Zu deren erfolgreichen Umsetzung bedürfen Kinder jedoch nicht nur eines ausreichenden Wortschatzes, sondern insbesondere einer „Strukturierungs‐ fähigkeit“ (Werani 2009: 51). In den nächsten zwei Stunden der Unterrichtsreihe steht folglich die Arbeit mit einer Erzählkurve zur Ballade im Zentrum, um mit den Lernenden 5.2 Unheimliches und Geisterhaftes 199 <?page no="200"?> den rezeptiven Aufbau von Erzählschemata einzuüben. Dabei geht es jedoch weniger um die detailgetreue Wiedergabe der Erzählung als vielmehr um die Verständlichkeit der Geschichte im umfassenden Sinne. Abb. 5.6: Tafelbild: Erzählkurve zum „Zauberlehrling“ von Johann W. v. Goethe Hierzu werden die Lernenden zunächst eingeladen, die Ballade gemeinsam mithilfe einer unbeschrifteten Erzählkurve nachzuerzählen. Im Idealfall können hierzu auch die Bilder und Textstellen der Lernenden aus der Einstiegsphase genutzt werden. Zur Unterstützung der Nacherzählung erhalten die Lernenden im An‐ schluss an die zunächst grob zusammengetragene Nacherzählung zwei Ar‐ beitsblätter, auf denen sie die Erzählkurve noch einmal eigenständig mithilfe von Textstellen und Aktionen rekonstruieren können (vgl. Unterrichtshilfe „Erzählkurven zum ‚Zauberlehrling‘ gestalten“). Die eigenständige Zuord‐ nung der zentralen Handlungselemente auf dem Arbeitsblatt hilft nicht nur, den Verlauf der in der Ballade erzählten Geschichte zu verinnerlichen und die Bedeutung der Kohärenz für eine (spannende) Erzählung zu erfahren, sondern kann in mündlichen Erzählsituationen auch als Stichpunktzettel dienen. Der Vergleich der beschrifteten Erzählkurve mit einem Partner/ einer Partnerin sowie die gemeinsame Rekonstruktion der Ballade an der Tafel (vgl. Abb.-5.6) sichert abschließend die Ergebnisse der Arbeitsphase. Die Höhepunkterzählung in vielen literarischen Texten, insbesondere in Balladen, muss von den Lernenden immer wieder herausgearbeitet werden. 200 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="201"?> Trotzdem sollte von der Lehrperson explizit darauf verwiesen werden, dass sie nur eine von vielen möglichen Handlungsschemata darstellt, um einen Automatismus dramatischer Höhepunkte und sprachlicher Banalitäten in Schülertexten zu vermeiden,. In weiteren Unterrichtssequenzen, in denen Erzählstrukturen thematisiert werden, sollte folglich auf eine breite Varianz dieser geachtet werden. Zum Erwerb mündlicher Erzählkompetenzen gehört jedoch nicht nur das fachliche Verständnis des Aufbaus von Erzählungen, sondern gleich‐ falls die eigenproduktive Umsetzung. Die hier ausgewählte Ballade eignet sich dafür in besonderem Maße, da ihre festen sprachlichen Wendungen und formelhaften Wiederholungen, wie „Walle, walle“ oder „Stehe, stehe“, zahlreiche Ankerstellen bieten, die sich beim wiederholten Erzählen der Ballade besonders gut einprägen und damit dem Erzähler/ der Erzählerin einen „Ruhepunkt“ bei der Improvisation der Nacherzählung ermöglichen (Klein/ Merkel 2009: 14). Im Sinne eines differenzierenden Deutschunterrichts werden in der dar‐ auffolgenden Stunde je nach Leistungsstand auch noch einmal die Merkmale einer Nacherzählung wiederholt und den Lernenden im Anschluss drei verschiedene Möglichkeiten des mündlichen Nacherzählens angeboten. Während die einen Lerner: innen mit der erstellten Erzählkurve arbeiten, können andere auf die Möglichkeit einer dialogischen „Geflecht-Erzählung“ (Wagner 1986) zurückgreifen, in der sich die Kinder gegenseitig unterstützen oder ein selbstgestaltetes Kamishibais als visuelle Hilfe der Nacherzählung nutzen. Aufgrund des hohen Motivationspotenzials wird im Folgenden ins‐ besondere auf die dritte der hier aufgeführten Möglichkeiten eingegangen. Das didaktische Medium des japanischen Erzähltheaters („Kamishibai“ - jap. 紙芝居 von jap. Kami = Papier; shibai = Drama) ist eine traditionelle japanische Erzählform. Jenes zu Papier gebrachte Drama war besonders in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts in Japan stark verbreitet. Mit Unterstützung eines kleinen bühnenähnlichen Rahmens, für den inzwischen auch in Deutschland Bausätze zu erwerben sind, u. a. von Don Bosco, können die Schüler: innen in Kleingruppen (max. 4 Personen) eigene Bilder zu ihrer Nacherzählung gestalten (Abb.-5.7). Je nach Leistungsstand und Medienausstattung der Schule können die Kleingruppen bei der Bildauswahl auf Screenshots (Stills) aus der Verfilmung von Walt Disney aus dem Jahr 1937 (https: / / www.youtube.c om/ watch? v=nb7qd2zJMKc) oder der 2014 entstandenen kostenpflich‐ 5.2 Unheimliches und Geisterhaftes 201 <?page no="202"?> Abb. 5.7: Kamishibai von Don Bosco zur kreativen Auseinandersetzung mit erzählenden Texten tigen filmischen Umsetzung von Kerstin Höckel http: / / www.filmsortim ent.de/ der-zauberlehrling/ dvd/ unterrichtsfilm-lehrfilm-schulfilm/ 835 51) zurückgreifen. Für eine gute Strukturierung der Gruppenarbeitsphase empfiehlt es sich, die Lernenden anzuregen, zunächst Anzahl und Auswahl der Szenen festzule‐ gen. Anschließend sollten die Szenen zur Gestaltung arbeitsteilig verteilt werden, bevor die Lernenden überlegen, wer in welcher Form die Nacher‐ zählung übernimmt. Auch an dieser Stelle bietet es sich an, differenziert zu arbeiten und die Schüler: innen wählen zu lassen, ob sie sich das Nach‐ erzählen der Ballade und/ oder deren Darbietung aufteilen und wie sie die Lebendigkeit und Spannung der Ballade in ihrer Nacherzählung gestalten wollen. Die Ergebnisse der Diskussion sollten in die intermediale Verschriftlichung der Nacherzählung einfließen, d. h. den entstandenen Bildern werden eigene Textteile der Nacherzählung geordnet. Hierfür sollten die Vierergruppen zugunsten von Partnerarbeit aufgelöst werden, um das gemeinsame Schreiben des Textes zu erleichtern. Nach vier bis fünf Stunden der Gruppen-/ Partnerarbeit sollten die Nach‐ erzählungen präsentiert und entlang gemeinsam besprochener Kriterien reflektiert werden. Folgende Kriterien sollten dabei zwingend Berücksich‐ tigung finden: Vollständigkeit der Erzählung, chronologische Reihenfolge, Nähe zur Lebendigkeit und Spannung des Originals, Erzählzeit und szeni‐ sche Darbietung. Weitere Kriterien können darüber hinaus noch bei Bedarf ergänzt werden. 202 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="203"?> 5.2.3 Von Leben und Tod - „Der Erlkönig“ von Johann Wolfgang von Goethe Carolin Führer Thema: Die Erschließung der berühmten Ballade „Der Erlkönig“ kann im Rahmen der Beschäftigung mit dem Thema „Mensch - Natur“, aber auch „Unheimliches und Vernunft“ u.-ä. erfolgen. Intention: Mit der Aufführung und Analyse von ‚Lesetheatern‘ der Schüler: innen sollen alle Lernenden zu gemeinsam erarbeiteten Inter‐ pretationsansätzen kommen, die der ambivalenten Struktur der Ballade gerecht werden können, ohne vorschnell (analytisch nicht oder wenig gestützte) Deutungen des „Erlkönigs“ vorzunehmen. Unterricht im 7. und 8. Schuljahr: Für den hier gemachten Unter‐ richtsvorschlag sollten die Schüler: innen bereits mit Grundlagen der Textsorte Ballade vertraut sein (epische, lyrische, dramatische Aspekte). Denn die Schüler: innen müssen sich mit der Ballade eigenständig aus‐ einandersetzen, indem sie ein ‚Lesetheater‘ (vgl. Unterrichtshilfe „Lese‐ theater“) zum Balladentext vorbereiten und einstudieren. Die Auffüh‐ rungen des ‚Lesetheaters‘ werden als stimmliche Interpretationen unter verschiedenen analytischen Schwerpunkten von den zuhörenden Schü‐ ler: innen ausgewertet: a) Figuren und Sprecherzuweisungen identifi‐ zieren bzw. überprüfen; b) (stimmliche) Charakterisierungen von Vater, Sohn und Erlkönig einschätzen und bewerten; und c) Beziehungsge‐ flecht der Figuren untereinander beschreiben. - Ausgewählte didaktische Analyse In thematischer Hinsicht steht die zu behandelnde Ballade in Analogie zu der Ballade „Der Knabe im Moor“, die das Bild einer bedrohlichen Natur zeichnet, die dem Menschen feindlich gegenübersteht und Angstzustände bzw. Angstphantasien bei den Protagonisten (und Leser: innen) auslöst. Demgegenüber stellen andere kanonische Balladen wie „Die Brück’ am Tay“ und „John Maynard“ von Theodor Fontane Versuche des Menschen dar, sich durch Technisierung vor diesen Bedrohungen zu schützen und sich Naturräume gefügig zu machen. Während in Goethes und Droste-Hülshoffs 5.2 Unheimliches und Geisterhaftes 203 <?page no="204"?> Balladen ‚unheimliche‘ Zustände ästhetisch greifbar werden, hinterlässt das letztendliche Scheitern dieser anmaßenden menschlichen Versuche der Naturbeherrschung in den letzten beiden Balladen beim Rezipienten/ der Rezipientin ein beunruhigendes Gefühl. In einer Unterrichtsreihe zu Balla‐ den oder einer Balladenwerkstatt können diese Motive bzw. Stoffe einander kontrastierend gegenübergestellt werden (so können neben den bereits genannten beispielsweise auch Balladen mit Geistern einbezogen werden - Zauberlehrling, Heinzelmännchen [ebenfalls im Band enthalten]). Die Ballade „Der Erlkönig“ wurde erstmals 1782 veröffentlicht und ob‐ wohl sie integraler Bestandteil des Singspiels Die Fischerin ist, das Goethe für den Tiefurter Kreis der Herzogin-Mutter Anna Amalia geschrieben hat, wird das Werk seit jeher als aus dem ursprünglichen Kontext isolierte Ballade gelesen (vgl. Ueding 1988). Der Erlkönig ( Johann Wolfgang von Goethe) Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Es ist der Vater mit seinem Kind; Er hat den Knaben wohl in dem Arm, Er faßt ihn sicher, er hält ihn warm. Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? - Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht? Den Erlenkönig mit Kron’ und Schweif ? - Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif. - „Du liebes Kind, komm, geh mit mir! Gar schöne Spiele spiel’ ich mit dir; Manch bunte Blumen sind an dem Strand, Meine Mutter hat manch gülden Gewand.“ Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht, Was Erlenkönig mir leise verspricht? - Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind; In dürren Blättern säuselt der Wind. - „Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn? Meine Töchter sollen dich warten schön; Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn Und wiegen und tanzen und singen dich ein.“ 204 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="205"?> Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort Erlkönigs Töchter am düstern Ort? - Mein Sohn, mein Sohn, ich seh es genau: Es scheinen die alten Weiden so grau. - „Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt; Und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt.“ Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an! Erlkönig hat mir ein Leids getan! - Dem Vater grauset’s, er reitet geschwind, Er hält in Armen das ächzende Kind, Erreicht den Hof mit Mühe und Not; In seinen Armen das Kind war tot. (G O E T H E , Johann Wolfgang von (1987). „Erlkönig“. In: Eibl, Karl (Hrsg.) Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Berlin: Deutscher Klassiker Verlag, 107-108) In der ersten und letzten Strophe tritt ein lyrisches Subjekt auf, das in die Balladenhandlung einführt und deren Ausgang darlegt. Die eigentli‐ chen Geschehnisse der Handlung werden hingegen in szenischer Form durch die Dialoge der Figuren (Vater, Sohn, Erlkönig) entfaltet, wobei die unterschiedlichen Sprechakte auch auf formaler Ebene voneinander getrennt sind: Strophen zwei, vier und sechs geben das Gespräch zwischen Vater und Sohn wieder, das in der dritten und fünften Strophe durch die „Lockmonologe“ des Erlkönigs unterbrochen wird. In der siebten Strophe dringt die Erlkönig-Welt schließlich in das bisher vertraute Dialogschema ein: Zum ersten Mal sind Sohn und Erlkönig in einer Strophe (zwangs‐ weise) vereint, was als formale Vorausdeutung auf das inhaltliche Ende der Ballade verstanden werden kann: Der Vater hat den Sohn im Verlauf des nächtlichen Ritts (an den ‚Erlkönig‘? ) verloren - als er den rettenden Hof erreicht, ist sein Kind bereits tot. Durch den dialogisch organisierten Gesprächsinhalt der Protagonisten wird eine semantische Unschlüssigkeit im Sinne von Tzvetan Todorovs (1972) Literaturtheorie erzeugt, da in Rede- und Gegenrede des Vaters und des Sohnes die Monologe des Erlkönigs unterschiedlich perspektiviert werden. Der Vater verbürgt sich für eine ‚realistische Weltsicht‘, in der die vom Sohn wahrgenommenen Erscheinungen und Geräusche als dessen kindliche Angst vor dem nächtlichen Nebel, dem stürmischen Wind und 5.2 Unheimliches und Geisterhaftes 205 <?page no="206"?> den bewegten Baumwipfeln rationalisiert werden. Die Perspektive des Sohnes eröffnet hingegen eine wunderbare Welt, in die der Erlkönig und dessen Töchter den Knaben locken bzw. gewaltsam entführen möchten. Im Text halten sich wunderbare (Sohn) und realistische (Vater) Weltsicht (in struktureller Perspektive) die Waage, so dass der Tod des Knaben am Ende der Ballade in zweifacher Hinsicht gedeutet werden kann: Nach der ‚rationalistischen Erklärung‘ versucht der Vater, den (vermutlich kranken) Jungen zu einem anderen Hofgut zu transportieren, wobei der Junge (vermutlich im Fieberwahn) phantasiert und den nächtlichen Ritt nicht überlebt; nach der ‚wunderbaren Erklärung‘ wird der Sohn vom Erlkönig tatsächlich überwältigt. Als kanonischer Text des Deutschunterrichtes hat diese ambivalente Struktur des Textes immer wieder für verschiedenste Interpretationsansätze gesorgt (Erlkönig als Wiedergänger, als Repräsentation der erwachenden männlichen Natur des Knaben [Pubertät des Knaben], Albtraum eines Vergewaltigungsopfers etc.), zentral hierfür war und ist die semantische Leerstelle des Textes, wie der „Erlkönig“ zu deuten ist. - Vorschlag zur didaktischen Umsetzung Folgende Bezüge zu den Kompetenzen werden besonders berücksichtigt: Die Schüler: innen … ▸ analysieren die semantische Unschlüssigkeit im Gesprächsverlauf der Ballade „Der Erlkönig“. ▸ bereiten selbstständig Sprechfassungen zu den Dialogen und Monolo‐ gen vor. ▸ präsentieren die Ballade „Der Erlkönig“ in Form eines Lesetheaters (vgl. Nix 2006). ▸ unterstützen sich gegenseitig anhand von gemeinsam erarbeiteten Feed‐ back-Kriterien in der Reflexion ihrer Präsentation. Die genaue Vorbereitung eines Lesetheaters (vgl. Unterrichtshilfe „Lesethe‐ ater“) in Kleingruppen kann helfen, die Leerstelle des Textes zu füllen, indem der Aufbau (wer spricht? ) und der grobe Handlungsablauf der Ballade (was passiert? ) am Text erarbeitet werden, folgende Aufgabenstellungen können hierfür hilfreich sein: 206 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="207"?> ▸ Erklärt, worum es in der Ballade geht. Versucht euch dabei die Handlung bildlich vorzustellen! ▸ Bestimmt gemeinsam für jede Strophe, welche Figuren sprechen, notiert die entsprechende Figurenbezeichnung links vor die Verse! ▸ Verteilt die Figurenrollen untereinander und übt, die entsprechenden Verse ausdrucksstark vorzulesen. ▸ Erarbeitet gemeinsam ein Lesetheater, in dem die Figuren durch die sprecherische Gestaltung des Textvortrags charakterisiert werden! Aus didaktischer Sicht ist es unerlässlich, vorschnelle Interpretationen der Schüler: innen, die direkt auf eine Deutung des Erlkönigs abzielen, als Ausdruck einer ersten subjektiven Auseinandersetzung mit der Ballade kenntlich zu machen und zu sammeln. Mit der hier vorgestellten Aufgaben‐ stellung sollen im ersten Schritt die Textbasis und ein genaues mentales Modell von dem Ablauf und dem dialogischen Aufbau der Balladenhandlung erarbeitet werden. In der sich anschließenden ersten Präsentation des Lesetheaters gilt es für die Zuhörenden, darauf zu achten, ob sie die gleiche Zuordnung der Rollen vorgenommen haben. Dies kann unterstützend von der Lehrperson am Text (z.-B. auf einer OHP-Folie) im Nachgang fixiert werden. Im Rahmen einer zweiten Lesetheatervorführung erhalten die hörenden Schüler: innen den Auftrag, sich während des Vortrags Adjektive zu notieren, die die stimmliche Charakterisierung von a) Vater, b) Sohn und c) Erlkönig durch die Gruppe beschreiben. Über Moderationskarten kann man sich in der Auswertung im Plenum auf die Personenmerkmale einigen, die dann genutzt werden, um in der dritten Aufführung des Lesetheaters die Verhältnisse bzw. Beziehungen von a) Vater und Sohn, b) Vater und Erlkönig sowie c) Erlkönig und Sohn zu erarbeiten. Es können für die einzelnen Aufgabenstellungen auch mehrere Lese‐ theateraufführungen miteinander kontrastiert werden, sodass ggf. auch alle Versionen zur Aufführung gebracht werden könnten (hier muss gut erwogen werden, inwieweit dies dann sachdienlich und motivierend ist). Die Schwierigkeit besteht v. a. darin, im Rahmen der ambivalenten Struktur der Ballade die Zentralfigur des Erlkönigs metaphorisch aufzu‐ lösen. Je nach Interpretationsansatz ist der Erlkönig Ausdruck von Tod, Krankheit, Natur, Emotionalität, einem romantischen Gedankengut usw. während die Figur des Vaters im Gegensatz zum Erlkönig als Verkörperung von Leben, Gesundheit, Kultur, Vernunft, usw. verstanden werden kann 5.2 Unheimliches und Geisterhaftes 207 <?page no="208"?> (vgl. Ueding 1988, Stockhammer 1998). In einem Unterrichtsgespräch, in dem Höreindrücke mit dem Text abgeglichen werden, kann anhand der bereits vorhandenen Moderationskarten und der Figurenbeziehungen der Dualismus zwischen ‚rationaler‘ und ‚phantastischer‘ Weltsicht gemeinsam in einem Tafelbild erarbeitet werden. Alternativ könnten die letzten beiden Analyseaufträge aber auch auf Gruppen verteilt werden und der Vergleich der Rollenaufteilung in der Ballade gemeinsam vor der Präsentation erfolgen. Dies ist v. a. dann sinnvoll, wenn in der Erarbeitung Zeit gespart werden soll und/ oder die Lernenden in der Gruppenphase sichtbare Probleme beim Erkennen der Sprecherfiguren haben. 5.2.4 „O, schaurig“ - „Der Knabe im Moor“ von Annette von Droste-Hülshoff Juliane Dube Thema: Neben der Novelle Die Judenbuche (1842) zählt die Ballade „Der Knabe im Moor“ von Annette von Droste-Hülshoff heute zu den bedeutendsten Werken der deutschen Literatur. In diesem zunächst 1844 in der Sammlung ‚Gedichte‘ im Abschnitt „Haidebilder“ veröffentlichten Werk wendet sich Droste-Hülshoff vom ‚romantisch Phantastischen‘, ‚Märchenhaften‘ und ‚Wunderbaren‘ der Romantik ab, um sich den einfachen und volksliedhaften Elementen der biedermeierlichen Lyrik sowohl in der Formals auch Inhaltsgestaltung zu öffnen. Die in manchen Balladen thematisierte emotionale Gefangen‐ schaft in den dunklen Kräften der Natur bändigt Droste-Hülshoffs Figur in der ausgewählten Ballade mit religiöser Überzeugung. Intention: Mit der verwendeten bildreichen Sprache sowie der dadurch erzeugten unheimlichen Stimmung und mit der Beschreibung einer feindlich gesinnten Gegenwelt knüpft die Ballade auf der einen Seite an die bei Kindern und Jugendlichen beliebten Grusel- und Schauerge‐ schichten an. Auf der anderen Seite ergeben sich zahlreiche Möglich‐ keiten, die Wirkung von sprachlichen Mitteln z. B. beim Erstellen eines Poesiefilms zu analysieren. Damit steht sowohl die Förderung ästhetischen Lesens als auch der Erwerb von Medienkompetenz im Zentrum der Unterrichtsreihe. 208 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="209"?> Unterricht im 7.-9. Schuljahr: Die Lernenden erarbeiten sich zu‐ nächst mit Unterstützung die inhaltliche und sprachliche Gestaltung der Ballade und vertiefen anschließend ihr Textverständnis sowie ihr Wissen um die Wirkung sprachlicher, akustischer und visueller Mittel beim Erstellen von Poesiefilmsequenzen. - Ausgewählte didaktische Analyse Kinder- und Jugendliteratur wird im schulischen Kontext mit unterschied‐ lichen Zielsetzungen verbunden. So dient sie im Rahmen der Leseförderung einerseits dem Aufbau und der Weiterentwicklung von Lesekompetenz und -motivation, andererseits bietet sie vielseitige thematische Zugänge für die in Kindheit und Jugend gesammelten Erfahrungen und ist zuletzt auch Gegenstand von literarästhetischen Lernprozessen, die sich speziell auf den Umgang mit fiktionalen und sprachkünstlerischen Texten beziehen. Hierzu zählt der Erwerb eines genauen und vertieften Verstehens von literarischen Ausdrucksweisen, indem die Lernenden z. B. literarästheti‐ sche Gestaltungsmittel und ihre Wirkung kennen und anwenden lernen. Zur Vermittlung jener Kompetenzen eignet sich der Einsatz von Grusel- und Schauergeschichten, die im Rahmen des didaktischen Konzepts der thematischen Sequenzbildung auch genreübergreifende Texte wie die hier vorgestellte Ballade von Annette von Droste-Hülshoff umfassen können. Der Knabe im Moor (Annette von Droste-Hülshoff) O, schaurig ist’s, übers Moor zu gehn, Wenn es wimmelt vom Haiderauche, Sich wie Phantome die Dünste drehn Und die Ranke häkelt am Strauche, Unter jedem Tritte ein Quellchen springt, Wenn aus der Spalte es zischt und singt - O, schaurig ist’s, übers Moor zu gehn, Wenn das Röhricht knistert im Hauche! Fest hält die Fibel das zitternde Kind Und rennt, als ob man es jage; 5.2 Unheimliches und Geisterhaftes 209 <?page no="210"?> Hohl über die Fläche sauset der Wind - Was raschelt drüben am Hage? Das ist der gespenstige Gräberknecht, Der dem Meister die besten Torfe verzecht; Hu, hu, es bricht wie ein irres Rind! Hinducket das Knäblein zage. Vom Ufer starret Gestumpf hervor, Unheimlich nicket die Föhre, Der Knabe rennt, gespannt das Ohr, Durch Riesenhalme wie Speere; Und wie es rieselt und knittert darin! Das ist die unselige Spinnerin, Das ist die gebannte Spinnlenor’, Die den Haspel dreht im Geröhre! Voran, voran, nur immer im Lauf, Voran, als woll’ es ihn holen; Vor seinem Fuße brodelt es auf, Es pfeift ihm unter den Sohlen Wie eine gespenstige Melodei; Das ist der Geigenmann ungetreu, Das ist der diebische Fiedler Knauf, Der den Hochzeitheller gestohlen! Da birst das Moor, ein Seufzer geht Hervor aus der klaffenden Höhle; Weh, weh, da ruft die verdammte Margret: „Ho, ho, meine arme Seele! “ Der Knabe springt wie ein wundes Reh, Wär’ nicht Schutzengel in seiner Näh’, Seine bleichenden Knöchelchen fände spät Ein Gräber im Moorgeschwehle. Da mählich gründet der Boden sich, Und drüben, neben der Weide, Die Lampe flimmert so heimathlich, Der Knabe steht an der Scheide. Tief athmet er auf, zum Moor zurück Noch immer wirft er den scheuen Blick: 210 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="211"?> Ja, im Geröhre war’s fürchterlich, O, schaurig war’s in der Haide! (S C HÜK I N G , Levin (Hrsg.) (1879). Gesammelte Schriften von Annette Freiin von Droste-Hülshoff. Bd.-1: Lyrische Gedichte. Stuttgart: J.G. Cotta, 115-116) In der zur Behandlung vorgeschlagenen Ballade wird der seit Jahrhunderten weitergetragene Aberglaube über das Moor als Ort, an dem die Seelen der unerlösten Toten umherwandeln, thematisiert. Neben dem Friedhof, verfallenen Häusern sowie alten Schlössern und Burgen zählen Moore zu jenen Orten, die in der ästhetischen Überformung der Landschaft Gegen‐ stand zahlreicher Gedichte sind. Die durch sie seit Jahrhunderten ausgelöste Faszination changiert während der Flucht des Kindes vor der knisternden und zischenden Natur im Moor zwischen unheimlich und anziehend. Stellvertretend für eine Reihe an Balladen zeigt sich die Erzählung vom Knaben im Moor als regelmäßig und geschlossen. Während der erste Vers der ersten Strophe „O, schaurig ist’s, übers Moor zu gehn,“ das Geschehen einleitet, schließt die sechste Strophe mit der Rettung des Knaben durch den Schutzengel und dem Ausruf: „O, schaurig war’s in der Haide! “ die unheimliche Schilderung ab. Dadurch sind Anfang und Schluss auch noch einmal sprachlich verbunden. Bis es jedoch dazu kommt, erfährt der Le‐ ser/ die Leserin durch eine sehr bildhafte Sprache, vielfältige Klangfiguren und lautmalerische Verben von unerlösten Moorgeistern (Strophe 2−5), die den Knaben auf dem Weg durchs Moor begleiten. Dabei überwiegen Höreindrücke (u. a. knistert, zischt und singt) und Bewegungsvorstellungen (u. a. rennen, jagen, „bricht wie ein irres Rind“). Beschreibungen visueller Eindrücke hingegen fehlen, sodass „von vornherein ein Gefühl eines Un‐ übersehbaren, Unentrinnbaren vor sich gehenden Geschicks“ (Kunisch 1964: 324) erzeugt wird. „Je weniger gesehen werden kann, um so mehr besitzt das Gehörte Macht über das fliehende Kind“ (ebd.). Ihren Höhepunkt erreicht die Ballade in Strophe fünf, als das Moor birst und ein Seufzer aus der klaffenden Höhle hervorgeht. Damit steht die Schilderung der Natur in der Ballade im Gegensatz zum romantischen Ideal der Natur als Ort der Geborgenheit und als Rückzugsmöglichkeit für Bedrohlichkeit und Gefahr, die zuweilen auf die Figuren eine maligne-angsteinflößende, aber auch eine verführerisch-lockende Wirkung ausüben kann. Die damit einhergehende Polyvalenz der Texte lädt dabei zu unterschiedlichen Deutungsaushandlun‐ gen ein. 5.2 Unheimliches und Geisterhaftes 211 <?page no="212"?> Neben dem Wechsel zwischen hetero- und homodiegetischer Erzählin‐ stanz sowie dem durchgängigen Reimschema a-b-a-b-c-c-a-b treibt vor allem die fast durchgehende Schilderung der Begebenheit im Präsens, das nur im 8. Vers der 6. Strophe ins Präteritum wechselt, die Flucht des Jungen an. Aufgrund der bereits erwähnten Vielfalt sprachlicher Mittel, auf die im Folgenden noch näher eingegangen wird, bietet sich die Ballade nicht nur thematisch, sondern auch sprachanalytisch für eine vertiefte experimentie‐ rende Auseinandersetzung im Kontext handlungs- und produktionsorientierter Verfahren an. - Vorschlag zur didaktischen Umsetzung Folgende Bezüge zu den Kompetenzen werden besonders berücksichtigt: Die Schüler: innen … ▸ untersuchen die in der naturmagischen Ballade „Der Knabe im Moor“ verwendeten sprachlichen Mittel auf ihre Wirkung sowie unterschied‐ lichen kommunikativen Absichten. ▸ erweitern ihr Wissen zur Wirkung von sprachlichen Mitteln beim Erstellen von aktuellen Literaturformaten wie dem Poesiefilm um Er‐ fahrungen zur Wirkung von visuellen und akustischen Elementen. ▸ sammeln grundlegende Erfahrungen bei der Medienarbeit mit Compu‐ tern/ Tablets sowie entsprechenden Videoschnittprogrammen. ▸ lesen Texte wirkungsvoll vor. In der Ballade von Droste-Hülshoff dominieren die regionstypischen Moor‐ geister wie der „gespenstische Gräberknecht“, die „unselige Spinnerin“, der „diebische Fiedler Knauf “, der „ungetreue Geigenmann“ sowie die „ver‐ dammte Margret“, die zunächst erklärend eingeführt werden sollten (vgl. Unterrichtshilfe „Die Ballade: ‚Der Knabe im Moor‘ mit Worterklärungen“), bevor Ideen zu Deutungen dieser gesammelt werden. So können sie einer‐ seits auf den Volksglauben an unerlöste Seelen (Darstellung z. B. durch die Einbindung eines lyrischen Subjekts), aber auch auf die Angstvorstellungen des Jungen (Darstellung z. B. durch verschiedene verzerrte Bilder) und letzt‐ lich auch auf Geräusche der Natur zurückgeführt werden (akustische Un‐ termalung). Neben den Moorgeistern sollte zudem über die Verwendung der Vielzahl an Stilmitteln gesprochen werden, die zur unheimlichen Stimmung der Ballade beitragen. So fordern 212 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="213"?> ▸ Klangfiguren: „wenn aus der Spalte es zischt und singt“, ▸ lautmalerische Verben: „knistert“, „brodelt“, ▸ Deiktika: „Da ist“, ▸ Interjektionen: „Hu, hu“, ▸ Wiederholung des Eingangsverses, ▸ Begriffssteigerungen: „Riesenhalme“, ▸ Vergleiche: „wie ein wundes Reh“, „wie Phantome die Dünste drehn“ etc. die Lesenden geradezu heraus, ihre Eindrücke zu den phantasmatischen Überblendungen des Knaben in Beziehung zu setzen und sich über die verwendeten rhetorischen Mittel und ihre Funktion Gedanken zu machen. Ebenso lohnt natürlich auch ein Blick auf die verwendeten Zeiten (Präsens - Präteritum) und Erzählperspektiven (Perspektivwechsel von der durch die Erzählstimme geschilderten Szenerie hin zu der Perspektive des Knaben). Auch der Schluss der Ballade, an dem Droste-Hülshoff jene Moorgeis‐ ter durch christliche Motive wie den Schutzengel und das (ewige) Licht verdrängt und der Knabe topographisch vom Dunkel (Moor) ins Licht (heimatlichen Boden) tritt, sollte eingehender besprochen werden, bevor den Schüler: innen anschließend Raum gegeben wird, sich über ihre Erfahrungen mit Geräuschen an unheimlichen Orten auszutauschen. Im Anschluss an die Textanalyse erhalten die Lernenden den Auftrag, die Ballade visuell und akustisch in Form eines Poesiefilms (Gedichtverfil‐ mung) zu gestalten. Hierbei werden die Lernenden zum textnahen Lesen jener Stellen angeregt, in denen die den Knaben umstellende Welt vor allem über das Gehör vermittelt wird, auf das er mit wachsender Dynamik in sei‐ nen Bewegungen reagiert, wodurch sich ihr Textverständnis erweitert. Die kurzweilige Form der Textinszenierung in Form eines Poesiefilms kommt nicht nur den TV-geprägten Rezeptionsgewohnheiten der Jugendlichen entgegen, sondern soll sie auch motivieren, sich mit Literatur und Sprache produktiv auseinanderzusetzen (vgl. Anders 2013), wenn sie sich über die Inszenierung der Bewegungsmodi und der Geräusche Gedanken machen. So können die Lernenden ihr Wissen über die Wirkung von sprachlichen Gestaltungsmitteln durch die Auseinandersetzung mit der Textvorlage vertiefen und um Erfahrungen mit visuellen und akustischen Mitteln im Poesiefilm ergänzen. Gemeinsam reflektieren sie ihre verstärkenden, aber auch abschwächenden oder ironisierenden Wirkungsmöglichkeiten. Vor‐ aussetzung dafür ist jedoch, dass die Lernenden ihre Gefühle und Eindrücke 5.2 Unheimliches und Geisterhaftes 213 <?page no="214"?> artikulieren können. Ihnen sollte folglich immer wieder die Gelegenheit zum Sprechen, Zuhören, Rückmeldung geben und zum erneuten Erproben der eingesetzten sprachlichen, visuellen und akustischen Mittel gegeben werden. Bei der Gestaltung von kurzen Poesiefilmen sind der Gestaltungskreati‐ vität der Heranwachsenden keine Grenzen gesetzt. Unter Berücksichtigung der Klassenstufe bietet es sich jedoch an, die einzelnen Strophen der Ballade auf drei bis sechs Kleingruppen zu verteilen, um die Lernenden nicht nur kognitiv, sondern auch zeitlich zu entlasten. Aufgrund der sprachlichen Komplexität empfiehlt sich auch hier, auf die Version mit den Worterklä‐ rungen zurückzugreifen (vgl. Unterrichtshilfe „Die Ballade: ‚Der Knabe im Moor‘ mit Worterklärungen“). Die Zusammenführung der einzelnen Film‐ teile sollte abschließend von der Lehrperson übernommen werden. Für die Erstellung von „mehrsträngigen Medientexten“ (Langermann 2010) markieren die Kleingruppen zunächst in ihrer ihnen zugteilten Stro‐ phe Wörter oder Szenen, die verklanglicht oder verbildlicht werden sollen. Durch das Setzen der Markierungen entstehen weitere Imaginationen zum Balladeninhalt sowie erste Ideen zur Klang- und Bilderzeugung. Ihre Ideen kann die Gruppe dabei auf einem (digitalen) Planungspapier festhalten (vgl. Unterrichtshilfe „Einen Poesiefilm erstellen“). Im nächsten Schritt erhalten die Lernenden Zugang zum Internet bzw. zu ihren Smartphones, um Bilder und Geräusche im Internet zu suchen bzw. selbst zu erstellen, welche die Stimmung der Ballade untermalen. Alle Ergebnisse werden anschließend in der Gruppe gesichtet und hinsichtlich ihrer Wirkung reflektiert, bevor die Ton- und Bildergebnisse in einem Kurz‐ film zusammengeführt werden. Zur Unterstützung bei der Filmerstellung bietet sich die Arbeit mit leicht zugänglichen Videoschnittprogrammen wie Windows Live Moviemaker oder i-Movie an. Beide sind kostenlos aus dem Internet herunterzuladen. Je nach Kompetenzstand der Klasse sollte hier jedoch eine angeleitete Einführung durch den Lehrer/ die Lehrerin ggf. auch unter Rückgriff auf frei zugängliche Einführungsvideos z. B. auf YouTube (14 Min.) vorgeschaltet werden. In einem letzten Schritt sollen sich die Lernenden zum wirkungsvollen Vortrag der Ballade aus dem Off (Kap. 4.10) austauschen und diese im Film ergänzen (vgl. Unterrichtshilfe „Einen Poesiefilm erstellen“). 214 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="215"?> Ein niedrigschwelliges Einführungsvideo zum Erstellen von Filmen mit Windows Live Movie Maker finden Sie unter https: / / www.youtube.co m/ watch? v=_nR97ROMG8s. Zum Anschluss der Reihe wird der von der Lehrperson zusammengeschnit‐ tene Poesiefilm über den Beamer präsentiert. Leitfragen für ein Feedback‐ gespräch sollten u. a. den wirkungsvollen Einsatz der sprachlichen und nonverbalen Stilmittel reflektieren. Abb. 5.8: Die berühmteste Ballade „Der Knabe im Moor“ von Annette von Droste-Hülshoff ist auch Teil der Reihe Poesie für Kinder. Sind die technischen Voraussetzungen eines Computers und Softwarepro‐ grammes zum Videoschnitt nicht an der Schule vorhanden, kann die Erstellung von Poetry-Clips eine Alternative darstellen. Hierfür wird die Ballade speziell für die Kamera, die heute in jedem Smartphone integriert ist, live vorgetragen. Apps wie MadPad und iMaschine unterstützen hier die Aufnahme und das Abspielen von ausgewählten Klängen. Anders als bei der Unterlegung der Ballade mit fertigen Bildern und Geräuschen müssen sich die Lernenden in 5.2 Unheimliches und Geisterhaftes 215 <?page no="216"?> diesem Fall jedoch noch zur Performance (Gestik, Mimik etc.), Requisiten, filmischen Mitteln, Drehort usw. austauschen. Zudem gilt das Prinzip: „Ein Text - ein Autor - ein Ort“ (vgl. Anders/ Abraham 2008: 8), sodass verschiedene Aufgabenbereiche bei der Erstellung und Umsetzung entstehen. Bei fehlenden technischen Voraussetzungen und noch unzureichend ausgebildeten technischen Fertigkeiten bietet die Erstellung von multime‐ dialen Sprechpartituren in einem differenzierenden Deutschunterricht eine weitere Option. Hierzu soll die in einem klassischen Balladenvortrag hervorgerufene Stimmung ebenfalls durch den Einsatz einer Vielzahl neuer und alter Medien verstärkt werden. So bieten sich die Einbindung der von Reinhard Michl eindrücklich illustrierten Bilder im Bilderbuch Der Knabe im Moor aus der Reihe Poesie für Kinder (2010) (Abb. 5.8) oder eigene Zeichnungen zu Gespensterbäumen an (z. B. Gräberknecht und Geigenmann). Auch die digitalen Geräusch- und Musiksequenzen können durch den Einsatz von Orff-Instrumenten, die für Schüler: innen leicht zugänglich sind und zum rhythmisch-perkussiven Tun anregen, ersetzt werden (vgl. San‐ der-Steinert 2016). Unabhängig davon, welche Variante für die eigene Klasse gewählt wird, gilt stets, den Produktionsprozess kleinschrittig entlang des Textes zu planen (vgl. Unterrichtshilfe „Einen Poesiefilm erstellen“) und den Lernenden ausreichend Raum für Austausch und Reflexion zu geben. 5.2.5 Poetische Wirkkraft rational kalkulierter Dichtung - „Der Rabe“ von Edgar Allan Poe Juliane Dube Thema: In einer Zusammenstellung von balladesken Werken, welche Düsteres, Schauriges, Abgründiges, ggf. auch Übernatürliches themati‐ sieren, dürfen die Texte von Edgar Allan Poe nicht fehlen. Als einer der Väter des heutigen Kriminalromans ist neben seinen Kurzgeschichten, z. B. „The Tell-Tale-Heart“, vor allem seine Ballade „The Raven“ in Erinnerung geblieben. 1845 in unterschiedlichen Zeitungen veröffent‐ licht, gehört die Ballade um einen mitternächtlichen Besuch eines sprechenden Raben bei einem Trauernden, dessen Geliebte verstorben ist, heute zu den bekanntesten US-amerikanischen Werken. 216 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="217"?> Edgar Allan Poe gilt als „Dichter zwischen Romantik und Moderne“ (Link 1968). Bekannt geworden ist er u. a. für sein „Manifest“ zur „These des bewußt konstruierten Gedichts“ (ebd.: 145) in The Philosophy of Composition (1846). Dort beschreibt er den Entstehungsprozess (modus operandi) seines Gedichtes „The Raven“ (1845) und die für ihn wichtigs‐ ten Kompositionsprinzipien u. a. in Bezug auf die Länge des Gedichts (etwa 100 Zeilen), die Wahl des Effekts und schließlich die des Tons. Dass sich literarisches und mathematisches Kalkül wunderbar ergänzen, belegt die breite Rezeptionsgeschichte seiner Ballade „The Raven“, mit der er 1845 berühmt wird und die er im Laufe der Zeit 15 mal überarbeitet (ebd: 80). Heute existieren zur Ballade verschiedene Illustrationen z. B. von Gustav Doré, szenische Umsetzungen wie in der Simpsons-Episode „Treehouse of Horror“ und der Fantasy-Komödie „Der Rabe - Duell der Zauberer“ von Roger Corman, aber auch zahlreiche Übersetzungen, z. B. ins Französische von Charles Baudelaire oder ins Deutsche von Hans Wollschläger. Intention: Durch die Vielfalt an Rezeptionen bietet die Ballade großes Potenzial, sich ihrer poetischen Wirkkraft über die kontrastierende Arbeit mit Übersetzungen bewusst zu machen und damit eine Lernum‐ gebung zu schaffen, in der Sprachreflexion und Literarisches Lernen eng miteinander verbunden sind. Die dabei gewonnenen Erfahrungen können im Rahmen eines Deutschunterrichts, der nicht nur die ana‐ lytisch-rezeptive, sondern auch die produktionsästhetische Seite des Umgangs mit Literatur betont, in das Erstellen von interlingualen Vers- Collagen einfließen. Unterricht im 9. und 10. Schuljahr: Eingeführt wird die Original- Ballade im Rahmen einer Projektwoche durch die Hörfassung z. B. von James Earl Jones. Nachdem die Lernenden den Inhalt der Ballade verstanden und die sprachlichen, formalen und symbolischen Beson‐ derheiten herausgearbeitet haben, erhalten sie unterschiedliche Über‐ setzungen zu den zentralen Strophen des Textes. Diese sollen sie in Kleingruppen lesen und hinsichtlich ihrer inhaltlichen, sprachlichen und formalen Umsetzung reflektieren. Nicht zu kurz kommen soll dabei auch ein Blick auf die Besonderheiten der Übersetzung als eigenstän‐ dige literarische Leistung. Zum Abschluss des Projekts erstellen die Lernenden aus eigenen Translationen und bestehenden Übersetzungen 5.2 Unheimliches und Geisterhaftes 217 <?page no="218"?> interlinguale Textcollagen der Ballade, die sie am Ende der Projektwoche den anderen Klassen präsentieren. - Ausgewählte didaktische Analyse „Ich meine in der üblichen Art eine Erzählung aufzubauen, steckt ein grund‐ sätzlicher Fehler“, kritisiert Poe 1846 in seinem berühmt gewordenen Auf‐ satz The Philosophy of Composition die von vielen Schriftstellern verfolgte Intention, eine Erzählung auf dem Inhalt statt auf dem Effekt aufzubauen (Poe 1846, in der Übersetzung von Schumann/ Müller 1976: 531f.). Wie Poe weiter ausführt, kann dieser Effekt ganz unterschiedlicher Natur sein. Die entsprechende Wahl ist dabei jedoch keinesfalls zufällig, sondern Ergebnis einer strengen Folgerichtigkeit; ähnlich dem eines mathematischen Lö‐ sungsprozesses (vgl. ebd.). In Anbetracht der vielseitigen Überlegungen, u. a. zu Umfang, Gebiet, Tonart, Refrain, Gegenständen etc., die dem 10jährigen Entstehungsprozess eines der berühmtesten US-amerikanischen Gedichte vorangehen, verwundert es nicht, dass sich die bewusst inszenierte Melan‐ cholie „als Angelpunkt, um den sich das ganze Gedicht dreht“ (ebd.: 537), bis heute in unterschiedlichen Abwandlungen und intertextuellen Bezügen wiederfindet. Poe’s Ballade „The Raven“ erzählt von einem Gelehrten, der durch sein Bücherstudium Erlösung von seiner Trauer um den Tod seiner Geliebten Leonore erhofft. Dabei geht es Poe jedoch nicht um eine philosophische Auseinandersetzung mit der Frage zum Leben nach dem Tod, sondern ganz im Sinne seines Hangs zum Düsteren und Übernatürlichen um die Darstellung der Szenerie, die sich nun nach und nach um die von Leid geplagte und von Trauer erschöpfte Hauptfigur aufbaut. Beginnend mit einem leisen Klopfen an der Tür wird sich der Trauernde seiner Umgebung gewahr, die nun entweder durch die Lektüre oder den Erschöpfungszustand in einem ganz anderen Licht erscheint. Denn nun schafft das Verglimmen der Kohlen ein Geisterlicht, die Bewegungen der Vorhänge bedrängen ihn und die Frage, wer zur späten Stunde noch zu ihm kommt, lässt ihn erschaudern. Nach dem ergebnislosen Blick vor die Tür öffnet er das Fenster und ein schwarzer Rabe flattert ins Zimmer. Auf das krächzende Wort „nevermore“ des Rabens, wechselt die zunächst durch den nächtlichen Besuch des Raben ausgelöste Heiterkeit des Gelehrten schnell 218 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="219"?> wieder in selbstquälerische, melancholische Gedanken, die ihn am Ende der Ballade im Schatten des Raben seine Seele wiedererkennen lassen, die nimmermehr aufsteigen wird. Damit steht der Rabe nicht nur symbolisch für Unheil, sondern ist auch zum Sinnbild für eine trauervolle und nie endende Erinnerung (vgl. ebd.) geworden. The Raven (Edgar Allan Poe) Once upon a midnight dreary, while I pondered, weak and weary, Over many a quaint and curious volume of forgotten lore— While I nodded, nearly napping, suddenly there came a tapping, As of some one gently rapping, rapping at my chamber door. “‘Tis some visitor,” I muttered, “tapping at my chamber door— Only this and nothing more.” Ah, distinctly I remember it was in the bleak December, And each separate dying ember wrought its ghost upon the floor. Eagerly I wished the morrow; —vainly I had sought to borrow From my books surcease of sorrow—sorrow for the lost Lenore— For the rare and radiant maiden whom the angels name Lenore— Nameless here for evermore. And the silken sad uncertain rustling of each purple curtain Thrilled me—filled me with fantastic terrors never felt before; So that now, to still the beating of my heart, I stood repeating “‘Tis some visiter entreating entrance at my chamber door— Some late visiter entreating entrance at my chamber door; This it is and nothing more.” Presently my soul grew stronger; hesitating then no longer, “Sir,” said I, “or Madam, truly your forgiveness I implore; But the fact is I was napping, and so gently you came rapping, And so faintly you came tapping, tapping at my chamber door, That I scarce was sure I heard you”—here I opened wide the door— Darkness there and nothing more. Deep into that darkness peering, long I stood there wondering, fearing, Doubting, dreaming dreams no mortals ever dared to dream before; But the silence was unbroken, and the stillness gave no token, And the only word there spoken was the whispered word, “Lenore? ” 5.2 Unheimliches und Geisterhaftes 219 <?page no="220"?> This I whispered, and an echo murmured back the word, “Lenore! ”— Merely this and nothing more. Back into the chamber turning, all my soul within me burning, Soon again I heard a tapping something louder than before. “Surely,” said I, “surely that is something at my window lattice; Let me see, then, what thereat is and this mystery explore— Let my heart be still a moment and this mystery explore; — ‘Tis the wind and nothing more.” Open here I flung the shutter, when, with many a flirt and flutter, In there stepped a stately Raven of the saintly days of yore. Not the least obeisance made he; not a minute stopped or stayed he, But, with mien of lord or lady, perched above my chamber door— Perched upon a bust of Pallas just above my chamber door— Perched, and sat, and nothing more. Then the ebony bird beguiling my sad fancy into smiling, By the grave and stern decorum of the countenance it wore, “Though thy crest be shorn and shaven, thou,” I said, “art sure no craven, Ghastly grim and ancient Raven wandering from the Nightly shore— Tell me what thy lordly name is on the Night’s Plutonian shore! ” Quoth the Raven, “Nevermore.” Much I marvelled this ungainly fowl to hear discourse so plainly, Though its answer little meaning—little relevancy bore; For we cannot help agreeing that no living human being Ever yet was blessed with seeing bird above his chamber door— Bird or beast upon the sculptured bust above his chamber door, With such name as “Nevermore.” But the Raven, sitting lonely on that placid bust, spoke only That one word, as if its soul in that one word he did outpour Nothing farther then he uttered; not a feather then he fluttered— Till I scarcely more than muttered: “Other friends have flown before— On the morrow-he-will leave me, as my Hopes have flown before.” Then the bird said “Nevermore.” Startled at the stillness broken by reply so aptly spoken, “Doubtless,” said I, “what it utters is its only stock and store, Caught from some unhappy master whom unmerciful Disaster 220 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="221"?> Followed fast and followed faster till his songs one burden bore— Till the dirges of his Hope that melancholy burden bore Of ‘Never—nevermore.’” But the Raven still beguiling all my sad soul into smiling, Straight I wheeled a cushioned seat in front of bird and bust and door; Then, upon the velvet sinking, I betook myself to linking Fancy unto fancy, thinking what this ominous bird of yore— What this grim, ungainly, ghastly, gaunt, and ominous bird of yore Meant in croaking “Nevermore.” This I sat engaged in guessing, but no syllable expressing To the fowl whose fiery eyes now burned into my bosom’s core; This and more I sat divining, with my head at ease reclining On the cushion’s velvet lining that the lamp-light gloated o’er, But whose velvet violet lining with the lamp-light gloating o’er She-shall press, ah, nevermore! Then, methought, the air grew denser, perfumed from an unseen censer Swung by Seraphim whose foot-falls tinkled on the tufted floor. “Wretch,” I cried, “thy God hath lent thee—by these angels he hath sent thee Respite—respite and nepenthe from thy memories of Lenore! Quaff, oh quaff this kind nepenthe and forget this lost Lenore! ” Quoth the Raven, “Nevermore.” “Prophet! ” said I, “thing of evil! —prophet still, if bird or devil! — Whether Tempter sent, or whether tempest tossed thee here ashore, Desolate, yet all undaunted, on this desert land enchanted— On this home by Horror haunted—tell me truly, I implore— Is there—is-there balm in Gilead? —tell me—tell me, I implore! ” Quoth the Raven, “Nevermore.” “Prophet! ” said I, “thing of evil! —prophet still, if bird or devil! By that Heaven that bends above us—by that God we both adore— Tell this soul with sorrow laden if, within the distant Aidenn, It shall clasp a sainted maiden whom the angels name Lenore— Clasp a rare and radiant maiden whom the angels name Lenore.” Quoth the Raven, “Nevermore.” “Be that our sign of parting, bird or fiend! ” I shrieked, upstarting— “Get thee back into the tempest and the Night’s Plutonian shore! 5.2 Unheimliches und Geisterhaftes 221 <?page no="222"?> Leave no black plume as a token of that lie thy soul has spoken! Leave my loneliness unbroken! —quit the bust above my door! Take thy beak from out my heart, and take thy form from off my door! ” Quoth the Raven, “Nevermore.” And the Raven, never flitting, still is sitting, still is sitting On the pallid bust of Pallas just above my chamber door; And his eyes have all the seeming of a demon’s that is dreaming And the lamp-light o’er him streaming throws his shadows on the floor; And my soul from out that shadow that lies floating on the floor Shall be lifted—nevermore. (S C H U M A N N , Kuno/ Müller, Hans Dieter (1976). Edgar Allan Poe. Das gesamte Werk in zehn Bänden. Olten/ Freiburg i.P.: Walter) In der Rezeptiongsgeschichte der Ballade wird ihr musikalischer Rhythmus vielfach betont. Hierzu trägt insbesondere die Verwendung des Trochäus (betont-unbetont) und die ungewöhnliche Reimstruktur bei. Darüber hinaus wirken sich vor allem die zahlreichen Binnenreime (z. B. “While I nodded, nearly napping, suddenly there came a tapping, / As of some one gently rapping, rapping at my chamber door”) und die mehrmalige Wiederholung des Wortes „more“ bzw. „nevermore“ sowie die gehäufte Verwendung von Worten mit ,o‘ (z. B. door, explore, shore etc.) auf den melodischen Klang aus. Insbesondere jenen Gestaltungselementen gilt es folglich in vergleichender Arbeit mit Original und Übersetzung Beachtung zu schenken. - Vorschlag zur didaktischen Umsetzung Folgende Bezüge zu den Kompetenzen werden besonders berücksichtigt: Die Schüler: innen-… ▸ verstehen komplexere balladeske Texte und schätzen deren Wirkungs‐ weise ein. ▸ erwerben ein Verständnis von der Übersetzung als eigenständige, krea‐ tiv-künstlerische Leistung, welche die Wahrnehmung von Werken we‐ sentlich beeinflusst. ▸ erwerben ein vertieftes Textverständnis sowie ein intensives Verständ‐ nis für den Einsatz von sprachlichen Stilmitteln und ihrer Wirkung, indem sie verschiedene Übersetzungen der Ballade „The Raven“ / „Der Rabe“ von Edgar Allan Poe rezipieren und vergleichend diskutieren. 222 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="223"?> ▸ erarbeiten gestaltend im Rahmen eines auf Produktionsästhetik aus‐ gerichteten Deutschunterrichts unter Zuhilfenahme unterschiedlicher Übersetzungen eigene Texte, die sie in Form von interlingualen Vers-Collagen vorstellen. Obwohl ein Großteil der Ganzschriften in der Grundschule und Sekundar‐ stufe I auf Übersetzungen basiert - man denke hier an die Geschichten von Pettersson und Findus des Autoren Sven Nordqvist, den Grüffelo von Julia Donaldson oder Astrid Lindgrens Geschichten von Pippi Langstrumpf, William Goldings Herr der Fliegen oder Morton Rhues Die Welle - spielt die differenzierte Wahrnehmung von Übersetzungen im Deutschunterricht kaum eine Rolle. Dies betrifft, so Abraham und Kepser (2008), sowohl die kritische Reflexion der wörtlichen als auch der ästhetischen Umsetzung. Für die kritische Rezeption literarischer Texte ist ein Verständnis der Her‐ ausforderungen beim Übersetzen und der damit eingehenden veränderten Wirkung des jeweiligen Textes jedoch zentral. Übersetzungen sind stets eigenständige literarische Leistungen, da es für gute Übersetzungen mehr bedarf als einer wörtlichen Übertragung. Vielmehr, so Holger Fock (2006), „muss der Übersetzer tausenderlei Dinge beachten: Grammatik, Stil, Ton, musikalische Eigenschaften der Sprache, Rhythmus (sowohl des Lautklangs wie der Bilder), Redewendungen, Sprichwörter, Metaphern, rhetorische Figuren.“ Beim Übersetzen begibt sich der Schriftsteller/ die Schriftstellerin damit in einen stetigen Balance-Akt, der sich insbesondere an Texten der gebundenen Rede intensiv nachempfinden lässt, wenn es um die Frage geht, ob Eigenar‐ ten des Ursprungstextes bezüglich Metrik und Reim beibehalten werden, auch wenn dies bedeutet, dass eine sinngetreue Übersetzung nur schwer umzusetzen ist. Haben die Lernenden dies verstanden, ist der Weg zum textnahen Lesen nicht mehr weit, etwa wenn Textstellen zur Rechtfertigung der eigenen oder fremden Translationsleistungen herangezogen werden müssen. Als idealer Kontext für das Arbeiten mit Originalen und ihren Über‐ setzungen bietet sich die Thematisierung im Fächerverbund an. Leider lassen die alltäglichen Rahmenbedingungen jene Form des Unterrichtens nur selten zu. Wenngleich Fördersituationen zur Sprachreflexion und zum Literarischen Lernen durch die Übersetzung von kürzeren ungebundenen Texten bereits in kleinen Sequenzen des Deutschunterrichts angebahnt werden können (Beispiele hierfür finden sich z. B. in der Ausgabe von Praxis 5.2 Unheimliches und Geisterhaftes 223 <?page no="224"?> Deutsch „Übersetzungen lesen und schreiben“), bieten sich insbesondere die regelmäßig stattfindenden Projektwochen zur fächerintegrativen Arbeit an längeren lyrisch gebundenen Texten an. Die hier ausgewählte Ballade eignet sich aufgrund ihrer Vielzahl an Übersetzungen im Besonderen für das kooperative Arbeiten über die Grenzen der Fächer Deutsch und Englisch hinaus. Hierzu präsentiert die Lehrperson den Schüler: innen die Ballade „The Raven“ von Edgar Allan Poe zunächst im englischen Original. Medial unterstützt eignet sich dafür die besonders intensive Rezitation des US-ame‐ rikanischen Schauspielers James Earl Jones, der mit seiner tief tönenden Stimme bereits zahlreiche Figuren in Film- und Fernsehen synchronisierte. 2011 wurde er mit einem Ehrenoscar für seine Verdienste um den Film geehrt. Sie finden die Rezitation unter: https: / / www.youtube.com/ watch? v=s XU3RfB7308. In einem zweiten Hördurchgang erhalten die Lernenden die englische Bal‐ lade dann als Textvorlage. Im anschließenden Unterrichtsgespräch, in dem die Lehrperson als partizipierender Leiter/ partizipierende Leiterin fungiert, sollen die Schüler: innen deutlich machen, was sie verstanden haben, was ihnen aufgefallen und was ihnen unklar geblieben ist. Impulsfragen der Lehrperson, zum geschilderten Geschehen, zur empfundenen Stimmung, der Bedeutung des Raben etc., regen die Heranwachsenden an, erste vorläu‐ fige Deutungshypothesen zu formulieren. Ihre Ideen, Anmerkungen und Fragen notieren die Lernenden dabei entlang des Textes. Kleinere Überset‐ zungsversuche zu den berühmt gewordenen ersten und letzten Strophen sollen die Schüler: innen in Folge dessen für den Umgang mit Übersetzungen sensibilisieren. Im Anschluss an die Arbeit am Original, im Rahmen von zwei Doppel‐ stunden, erhalten die Lernenden vier unterschiedliche Übersetzungen (z. B. von Hedwig Lachmann, Carl Theodor Eben, Alexander Neidhardt und Hans Wollschläger). Diese sollen sie gemeinsam in der Kleingruppe lesen und an‐ schließend diskutieren, welche dieser Übersetzungen die äußere Form, den Inhalt und die vermittelte Stimmung des Originaltextes am besten wieder‐ gibt (vgl. Unterrichtshilfe „Übersetzungen vergleichen“). Hierbei sollen sie insbesondere auf den Umgang mit den im Original verwendeten sprachli‐ chen Stilmitteln achten. Zugleich sollen die Lernenden aber auch ins Ge‐ 224 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="225"?> spräch über die Eigenheiten der Übersetzungen kommen wie z. B. die un‐ aufgeregte Stimmungsbeschreibung des Lyrischen Subjekts in der Übersetzung von Hedwig Lachmann oder die veränderte rhythmische Gestaltung in der Übersetzung von Alexander Neidhardt. Durch den Vergleich der Übersetzungen erhalten die Schüler: innen einen Einblick in das kreative Spiel der Autor: innen mit dem Originaltext, das sich einige der Lernenden bei der eigenen Übersetzungsarbeit vermutlich gewünscht, aber in Achtung vor dem Original nicht durchzuführen getraut haben. Sensibilisiert und motiviert für den kreativen Umgang mit literarischen Übersetzungen erhalten die Schüler: innen anschließend den Auftrag, unter der Verwendung bestehender Übersetzungen oder eigener Translationen interlinguale Vers-Collagen zu erstellen. Hierzu kann auf einen breiten Fundus an frei zugänglichen Übersetzungen zurückgegriffen werden: ▸ Carl Theodor Eben (1869) ▸ Hewig Lachmann (1891) ▸ Elise von Hohenhausen (1853) ▸ Alexander Neidhardt (1856) ▸ Luise von Ploennies (1857) ▸ Adolf Strodtmann (1862) ▸ Eduard Mautner (1874) ▸ Anna Vivanti-Lindau (1878) ▸ Betty Jacobson (1880) ▸ Bertha Rombauer (1889) ▸ Alexander Baumgartner (1892) ▸ Ernst Schmidt (1903) ▸ Theodor Etzel (1908) ▸ Hans Wollschläger (1974) Verschiedenen Übersetzungen, die teilweise auch um Audiodateien ergänzt sind, finden Sie u. a. bei wikisource (https: / / de.wikisource.org/ wiki/ Der_Rabe_(%C3%9Cbersetzung_Eben). Dabei zwingt gerade die Vielfalt dieser zum genauen Lesen und Analysieren des Originals und seiner Übersetzung. Denn je mehr Möglichkeiten den Rezipient: innen für diesen Produktionsprozess angeboten werden, desto bewusster müssen sie sich mit der Adäquatheit der Texte auseinandersetzen. 5.2 Unheimliches und Geisterhaftes 225 <?page no="226"?> Die Arbeit am Text wird dadurch jedoch umso spannender und kreativer. So kann das „Aufheben von historischen, autorenbedingten Gegebenheiten und das Schaffen eigener Koordinatensysteme, in denen die individuelle, wiederum zeitlich bedingte Annäherung“ an die Ballade möglich wird, „einen fruchtbaren Zugang zu literarischen Texten ermöglichen“ (Breddin 2004: 28). In einem differenzierenden Deutschunterricht können die so entstan‐ denen Vers-Collagen zusätzlich durch die Verwendung unterschiedlicher Schriftarten und -größen visuell die Zweisprachigkeit der Werke betonen. Am Ende der Projektwoche werden alle interlingualen Verscollagen im Kursraum/ Klassenraum präsentiert. 5.2.6 Vergänglichkeit als Bestandteil des Lebens - „Toten-Tanz“ von Johann Wolfgang von Goethe, Rainer Maria Rilke und „Berliner Totentanz 1 + 2“ von Thomas Kling Carolin Führer Thema: Der Totentanz ist eine im 14. Jahrhundert aufkommende (zunächst bildliche) Darstellung des Einflusses und der Macht des Todes auf bzw. über das Leben der Menschen. Damals wüteten in Europa Pest, Krankheit und Krieg. In der Gegenwart wird Krankheit, Verfall und Tod hingegen verdrängt oder als zu beherrschende Dimension rationalisiert. Der Mensch muss immer jung, dynamisch und leistungsfähig sein. Die umfängliche literarische Tradition zum Totentanz, hier im Praxisbeispiel repräsentiert anhand von Balladen Goethes, Rilkes und Klings, betrach‐ tet Tod und Leben, Krankheit und Gesundheit nicht als Gegensätze, sondern als ein zusammenhängendes Ganzes. Intention: Über die schriftliche Erarbeitung eines Balladenhörspiel‐ scripts müssen die Schüler: innen sich einerseits mit den historisch be‐ dingten Unterschieden in Darstellung und Ästhetik des Totentanz-Mo‐ tivs analytisch auseinandersetzen, andererseits mündet diese auch in einen künstlerischen, eigenen Umgang mit Vergänglichkeit. Unterricht in der Sekundarstufe II: Die Erstellung eines Hörspiels‐ kripts, welches nahe an den literarischen Vorlagen bleibt, bietet den Vorteil, das szenische Schreiben (weiter-)zuentwickeln sowie die Mög‐ lichkeit, den Tod - anders als in Alltagskontexten - auch als vitales 226 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="227"?> Element zu perspektiveren. Alternativ wäre auch die Entwicklung eines Audioguides möglich, um stärker einen historischen Vergleich im Produkt anzustreben. - Ausgewählte didaktische Analyse Im 14. Jahrhundert wütete in Europa die Pest. Dazu grassierten Typhus und Ruhr, es tobte der Hundertjährige Krieg. Der Priesterstand brach zu‐ sammen und konnte nicht mehr das Personal aufbieten, um jedem Opfer die Absolution oder letzte Ölung zu erteilen. Darum häufte sich der Eindruck, dass das Jüngste Gericht Gottes nicht irgendwann im Jenseits zu erwarten sei, sondern schon auf der Erde. Der Totentanz war ein Ausdruck dessen, den Tod bewusst zu halten, und damit leichter und gelassener zu leben. Er stellt den Tod als Skelett dar, der die Vertreter aller Stände mit ihren sehr unterschiedlichen Lebenswerken und -werten in denselben Reigen zieht. Die Idee einer Auferstehung taucht hier nicht mehr auf - das Streben nach irdischem Glück ist in diesem Zeitdenken noch nicht möglich, dieses entsteht erst mit der Aufklärung. Mit Blick auf die Gegenwartskultur finden sich dem Totentanz ähnliche Brauchtümer nur am Día de los Muertos in Mexiko, ein farbenprächtiges Volksfest zu Ehren der Toten. Nach dem Volks‐ glauben kehren die Seelen der Verstorbenen an diesen Tagen zu den Familien zurück, um sie zu besuchen. Wenn im Totentanz die eigene Vergänglich‐ keit bewusst gemacht wird, tritt auch die Beschaffenheit des Menschen klarer in den Vordergrund: Er neigt zu Fehlern, Irrtümern und Lastern. Dieses Bewusstsein des Todes steht dem Lebensgefühl einer Gegenwart entgegen, das Leistungsfähigkeit, Jugend, Gesundheit als erstrebenswerte Ziele definiert. Die Einsicht in die Kurzlebigkeit und Bedeutsamkeit solcher Ziele kann durch den bewussten Umgang mit der Endlichkeit menschlichen Lebens nicht nur ersichtlich, sondern über den betont heiteren Charakter der Totenballaden auch zugespitzt werden. Die Ballade „Der Totentanz“ von Goethe (vgl. Unterrichtshilfe „Histori‐ schen Sprachgebrauch übertragen“) ist für derartige Reflexionen insofern besonders geeignet, weil sie eine enge Verbindung von Ernst (des Todes) und Komik eingeht. 5.2 Unheimliches und Geisterhaftes 227 <?page no="228"?> Totentanz ( Johann Wolfgang von Goethe) Der Türmer, der schaut zu mitten der Nacht Hinab auf die Gräber in Lage; Der Mond, der hat alles ins Helle gebracht: Der Kirchhof, er liegt wie am Tage. Da regt sich ein Grab und ein anderes dann: Sie kommen hervor, ein Weib da, ein Mann, in weißen und schleppenden Hemden. Das reckt nun, es will sich ergötzen sogleich, Die Knöchel zur Runde, zum Kranze, So arm und so jung und so alt und so reich; Doch hindern die Schleppen am Tanze. Und weil nun die Scham hier nun nicht weiter gebeut, Sie schütteln sich alle: da liegen zerstreut Die Hemdlein über den Hügeln. Nun hebt sich der Schenkel, nun wackelt das Bein, Gebärden da gibt es, vertrackte; Dann klippert‘s und klappert‘s mitunter hinein, Als schlüg‘ man die Hölzlein zum Takte. Das kommt nun dem Türmer so lächerlich vor; Da raunt ihm der Schalk, der Versucher, ins Ohr: Geh! hole dir einen der Laken. Getan wie gedacht! und er flüchtet sich schnell Nun hinter geheiligte Türen. Der Mond, und noch immer er scheinet so hell Zum Tanz, den sie schauderlich führen. Doch endlich verlieret sich dieser und der, Schleicht eins nach dem andern gekleidet einher, Und husch! ist es unter dem Rasen. Nur einer, der trippelt und stolpert zuletzt Und tappet und grapst an den Grüften; Doch hat kein Geselle so schwer ihn verletzt, Er wittert das Tuch in den Lüften. Er rüttelt die Turmtür, sie schlägt ihn zurück, 228 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="229"?> Geziert und gesegnet, dem Türmer zum Glück: Sie blinkt von metallenen Kreuzen. Das Hemd muß er haben, da rastet er nicht, Da gilt auch kein langes Besinnen, Den gotischen Zierat ergreift nun der Wicht Und klettert von Zinnen zu Zinnen. Nun ist‘s um den armen, den Türmer getan! Es ruckt sich von Schnörkel zu Schnörkel hinan, Langbeinigen Spinnen vergleichbar. Der Türmer erbleichet, der Türmer erbebt, Gern gäb‘ er ihn wieder, den Laken. Da häkelt - jetzt hat er am längsten gelebt - Den Zipfel ein eiserner Zacken. Schon trübet der Mond sich verschwindenden Scheins, Die Glocke, sie donnert ein mächtiges Eins, Und unten zerschellt das Gerippe. (Aus: G O E T H E , Johann Wolfgang von: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1- 16], Band-1, Berlin & Weimar 1960 ff., 145-147) Das Motiv des geraubten Totenhemdes und des Totentanzes war seit dem Mittelalter weit verbreitet, ist der Schüler: innenschaft jedoch nicht bekannt, weshalb zuerst die Ausgangssituation erschlossen werden muss. Zur Geis‐ terstunde spielt sich ein makabrer Tanz im Mondschein vor den Augen des Turmwärters ab, der die irdischen Regeln von Stand, Alter usw. deutlich überschreitet. Der Türmer klaut eines der Totenhemden und wird zum Ende des Tanzes vom Besitzer gejagt. Der Türmer wirft ihm das Laken zu, dennoch zerschellt der Tote an der Kirchenmauer, da die Stunde ein Uhr schlägt und das Hemd am Dach hängen bleibt. Goethe bricht mit den Erwartungen der kundigen Leser: innenschaft numinoser Balladen, denn der „Vorwitz“ bzw. „Übermut“ des Türmers bleibt ungestraft (Laufhütte 1979: 67, 69). Der ironische, spaßhafte Unterton lässt den Text neben seiner Sprachdiktion aber auch zur besonderen Herausforderung werden (Hochholzer 2001: 102). Der Text entstand in einer Phase, als Goethe über eine Fortsetzung von Faust I nachdachte (Mahlmann-Bauer 2014: 130) und nach Teplitz reiste. Goethe befand sich auf der Flucht aus Weimar, um den Unruhen, dem Chaos und der Gewalt des Krieges gegen Napoleon zu entkommen. Es war zu diesem Zeitpunkt noch in keinster Weise absehbar, dass man sich von der 5.2 Unheimliches und Geisterhaftes 229 <?page no="230"?> französischen Fremdherrschaft werde befreien können. Die Ballade wurde mittlerweile mehrfach vertont, u. a. von Carl Friedrich Zelter und Carl Loewe. Sie ist ein Beispiel dafür, dass Goethe in dieser Gattung eine archaische Ausdrucksform für die Auseinandersetzung des Menschen mit den ihn be‐ drohenden unfaßbaren Naturmächten, die er sich als Gespenster, Fabelwei‐ sen usw. veranschaulichte, sah (Mahlmann-Bauer 2014: 129). Die Inszenie‐ rung dieses Totentanzes wirkt jedoch nicht fürchterlich, sondern komisch, grotesk und makaber. Dies liegt v. a. daran, dass die Daktylen durch den Reim besonders verbunden werden: die ersten vier Verse bilden mit Hilfe des Kreuzreims zwei Paare, die aus sieben Daktylen bestehen. Der siebte Vers ist metrisch gleichgebaut wie der zweite und vierte. Onomatopoetische Wörter und Assonanzen evozieren zudem Geräusche des Knochengeklap‐ pers: „[…] Dann klippert’s und klappert’s mitunter hinein […] der trippelt und stolpert zuletzt / Und tappet und grapst an den Grüften“. Für diese in‐ haltliche und formale Erschließung der Ballade ist auch eine intensive Be‐ schäftigung mit der sprachlichen Ausgestaltung hilfreich (vgl. Unterrichts‐ hilfe „Historischen Sprachgebrauch übertragen“). Rilkes „Toten-Tanz“ ist demgegenüber aufgrund der Länge und weni‐ ger lexikalischer Herausforderungen (betreßt, Stunden-Buch etc.) zunächst scheinbar einfacher zugänglich: TOTEN-TANZ (Rainer Maria Rilke) Sie brauchen kein Tanz-Orchester; sie hören in sich ein Geheule, als wären sie Eulennester. Ihr Ängsten näßt wie eine Beule und der Vorgeruch ihrer Fäule ist noch ihr bester Geruch. Sie fassen den Tänzer fester, den rippenbetreßten Tänzer, den Galan, den echten Ergänzer zu einem ganzen Paar. Und er lockert der Ordensschwester über dem Haar das Tuch; sie tanzen ja unter Gleichen. 230 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="231"?> Und er zieht der wachslichtbleichen leise die Lesezeichen aus ihrem Stunden-Buch. Bald wird ihnen allen zu heiß, sie sind zu reich gekleidet; beißender Schweiß verleidet ihnen Stirne und Steiß und Schauben und Hauben und Steine; sie wünschen, sie wären nackt wie ein Kind, ein Verrückter und Eine: die tanzen noch immer im Takt. (R I L K E , Rainer Maria (1919). Toten-Tanz. In: Der neuen Gedichte anderer Teil. Leipzig: Insel-Verlag, 25) Dieses Beispiel changiert jedoch deutlich an den Gattungsgrenzen der Bal‐ lade, wenn nicht gar außerhalb dieser: dominant ist die lyrische Dimension, auch ist der Text relativ handlungsarm und verfügt kaum über dramatische Elemente. Dies kann im Sinne der in Kapitel 3.2 angemahnten Flexibili‐ sierung von Gattungstypiken und -wissen eine unterrichtliche Chance darstellen, setzt aber gattungsbezogene Kenntnisse seitens der Schüler: in‐ nen voraus. Rilke bezieht sich klar auf den mittelalterlichen Ursprung des Totentanzes und seine Nivellierung von Ständeunterschieden, wenn er den „Galan“ und die „Ordensschwester“ als Repräsentanten des geistlichen und des weltlichen Standes aufführt. In seiner mittleren Schaffensphase zwischen 1902 und 1910 fällt neben die Neuen Gedichte, aus denen der Text stammt, auch der Roman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. In Rilkes Briefwechsel findet sich die Feststellung, dass das Totenreich „ein einziges unerhörtes Dasein darstelle“, demgegenüber die Lebensfrist „nur eine kleine Ausnahme“ darstellt (Engel/ Lauterbach 2013: 36). Rilke entfaltet im Totentanz eine Welt menschlicher Grunderfahrungen wie Hässlichkeit, Trieb, Tod usw., in einer das Subjekt zurückdrängenden symbolischen Spie‐ gelung dieses Innen im Erleben. „Sie hören in sich ein Geheule […]“, es wird also eine innere Welt der Figuren erkennbar, wenn „sie wünschen, sie wären nackt wie ein Kind, wie ein Verrückter […]“ Diese Wunschpoetik fungiert quasi als Fiktion innerhalb der Fiktion des Totentanzes, und gibt uns Einblick in die Abgründe menschlicher Innenwelt. Dass Sinneseindrücke den Auftakt 5.2 Unheimliches und Geisterhaftes 231 <?page no="232"?> und das Ende des Stückes dominieren, verweist auf den Symbolismus Rilkes, der diese im Reim auch durch ihren Klang in neue Kontexte stellt. Thomas Klings Werk ist wie die gesamte Gegenwartslyrik in didaktischer Hinsicht bisher noch wenig erschlossen (Ausnahme: Paefgen 2011) und unterrichtspraktisch kaum bekannt, obwohl er für die deutschsprachige Lyrik nach 1990 als stilbildend eingeschätzt werden kann. Thomas Kling hat sich mit den Werken Rilkes und Celans (Trilcke 2012: 61) intensiv beschäftigt und darüber hinaus auch grundlegend mit dem Tod und den Totentänzen im Wandel der Geschichte: Die Totentänze ab dem 14./ 15. Jahrhundert - ich habe jetzt gerade eine Kompila‐ tion aus den Berliner und den Lübecker Totentänzen gemacht und einige Sachen für mich übersetzt - sind ja lebensgroße Monumentalgemälde der Gewalt des Endlichen. Die gaben durchaus ausgezeichnete Bühnenbilder ab für die DJs des Spätmittelalters, also die Spitzenwanderprediger, die ja mit einem ganzen Staff unterwegs gewesen sind, Ort für Ort ihre tränengesättigten Raves abgefahren haben und den Leuten in ihren Bußpredigten so an die Nerven gegangen sind, daß zwischen Veitstanz und Massendepression alles abgearbeitet werden konnte. (Kling 2001: 2227-28) Kling charakterisierte das Dichterhandwerk sogar als „Ausübung des Patho‐ logenberufs am Körper Geschichte“ (Trilcke 2012: 444). In den Balladen zum Totentanz von Kling verhält sich Sprache und Kunst entgegengesetzt zu den anderen intermedialen Beispielen in diesem Band (Bilderbuch zu Fontanes „Herr von Ribbeck“, Graphic Novel zu Meyers „Füße im Feuer“): Das Bild gibt hier den Anlass zur sprachlichen Vergegenwärtigung von Bildinhalten. Das mittelalterliche Wandgemälde des Totentanzes in der Turmhalle der St. Marienkirche gehört zu den berühmtesten und ältesten Denkmälern Berlins. Als einem der letzten am ursprünglichen Ort erhaltenen Vertreter der monumentalen Totentänze des Mittelalters nördlich der Alpen kommt ihm eine Bedeutung zu, die weit über Berlin hinausreicht. Das Wandbild zeigt einen Reigen aus geistlichen und weltlichen Ständevertretern, die sich in einem Schreittanz mit jeweils einer Todesgestalt befinden. Die geistlichen und weltlichen Ständevertreter werden durch eine Kreu‐ zigungsszene, welche das Zentrum der Darstellung bildet, getrennt. Die dazugehörigen Textverse stellen die älteste Berliner Dichtung dar. In den Versen des kirchlichen Freskos beklagen die Ständevertreter ihr Leid und bitten den Tod um einen Aufschub. 232 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="233"?> Berliner Totentanz 1 zu St. Marien (Thomas Kling) fig.1: ›Ich habe die edlen herren wert Als ein herzog regieret - mit dem schwert! ‹ ›In knochenkleid steh ich nu im glanz: Kein entkommen hier beim totntanz‹ fig.2: tod: Berliner Totentanz 2 herr doktor - meister der arznei ich habs euch dreimal schon gesagt: meint wohl ihr könnt noch länger leben und wollt euch nicht zu Gott begeben stellt ab die probe - verabschiedet euch man und seht wie gut ich euch vortanzen kann arzt: ach gott hier gibts kaum einen rat der urin sieht schlecht aus in der tat - die farbe ist schwarz und grün und rot: ich sehe darin den bitteren tod in der apotheke gibts nicht ein kraut womit man gegen den tod was ausrichten kann (Aus: K L I N G , Thomas (1999). Fernhandel. Köln: DuMont Literatur und Kunst Verlag) 5.2 Unheimliches und Geisterhaftes 233 <?page no="234"?> Abb. 5.9: Ausschnitt aus dem Berliner Totentanzfresko in St. Marien Kling greift die Bitten aus dem Berliner Totentanzfresko auf (Abb. 5.9), indem er Verse aus dem Totentanz im ersten Teil zitiert und fokussiert auf den Ausschnitt, in dem auch der hohe weltliche Fürst, der vormals mit dem Schwert über Leben und Tod bestimmte, nun dem Tod nicht entkommt. Im „Berliner Totentanz 2“ setzt Kling dieser historischen Perspektive nun eine gegenwärtige aktuelle Perspektive entgegen - der „höchste Fürst […]“ über Leben und Tod in der modernen Welt - der Arzt wird scheinbar vom Tod direkt angesprochen, der ihn daran erinnert, wie gut er ihm vortanzen könne. Kling spielt hier mit der Redewendung „auf der Nase tanzen“, indem der Tod dem Bestreben des Arztes „ein kraut […]“ gegen den Tod zu finden, eine Absage erteilt. So räumt auch der Arzt ein, dass der „bittere Tod“ letztlich unausweichlich ist. Kling greift in seinem Totentanz eindrucksvoll die Tradition der Gattung auf, die Macht des Todes über das Leben aller Menschen zu demonstrieren, darüber hinaus schafft er es, die Allegorien des Totentanzes, besonders die Personifikation des Todes, mit einem Zeitensprung vom Mittelalter in die Moderne fortzuschreiben: Während im historischen Zitat der Herzog sein weltliches Kleid gegen das Gerippe des Todes wechselt, findet der Tanz im „Berliner Totentanz 2“ in die andere Richtung statt: der Tod tanzt dem Arzt vor, der sich nicht zu Gott begeben will. Bezogen auf die Tanzmetapher ergibt sich so ein Reigen, der immer wieder leitmotivisch vom Tod durchbrochen wird - mit wechselnden weltlichen Akteuren. Diesbezüglich fällt auf, das Gott losgelöst vom Tod auftritt und gegenüber diesem nicht die Erzählinstanz ist, sondern der Tod über Gott spricht, als er dem Doktor, der diesen ebenfalls anruft, darauf hinweist, dass der Tod zu Gott führt. Das dahinterstehende Gottesbild muss für die Annäherung an den Text nicht zwangsläufig differenziert erschlossen 234 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="235"?> werden, auch wenn sich z. B. zu Goethes Totentanz historische Vergleiche ergeben können. Denn auch Goethes Totentanz enthält implizit religiöse Bezüge: Wer „versucht“ bei Goethe den Türmer, das Hemd des Toten zu stehlen (mögliche Anspielung auf das Böse)? Warum wird der Türmer (von Gott) nicht für sein Verhalten bestraft usw.? - Vorschlag zur didaktischen Umsetzung Folgende Bezüge zu den Kompetenzen werden besonders berücksichtigt: Die Schüler: innen-… ▸ lernen die bildliche und literarische Bedeutung des Totentanzmotivs in der europäischen Kulturgeschichte kennen; ▸ vergleichen literarische Totentanz-Texte im Hinblick auf die unter‐ schiedlichen Verarbeitungen des Motivs; ▸ Schreiben in produktiver Verarbeitung der literarischen Vorlagen ein eigenes Hörspiel, dass Inhalte oder Zitate aus den Texten von Kling, Goethe und/ oder Rilke u.-a. verarbeitet; ▸ übertragen hörakustische Merkmale auf die Textvorlagen; ▸ reflektieren Wirkungen von unterschiedlichen Versionen des Hörspiels‐ kripts als Ausdruck einer individuellen Auseinandersetzung mit Ver‐ gänglichkeit. Aufgrund der Bedeutung des Totentanzes in der bildlichen, musikalischen und literarischen Kulturgeschichte ist es lohnenswert und für den fächer‐ verbindenden Unterricht vielversprechend, ein Hörspielprojekt als Unter‐ richtsprojekt anzulegen: Von der Entwicklung eines Hörspielskripts aus den literarischen Vorlagen, über Schauspiel, Aufnahmetechnik und Schnitt mittels Computer und Mikrofon, bis hin zu Musik und Covergestaltung. An dieser Stelle konzentrieren wir uns nur auf die Skripterstellung im Deutsch‐ unterricht. Im Fach Kunst wäre eine Coverentwicklung vorstellbar, die sich sowohl mit der kunstgeschichtlichen Entwicklung und den Elementes des Totentanzes als auch dem Cover auseinandersetzt, im Fach Musik könnten Tonaufnahmen stattfinden und mit einer Analyse von Totentanzwerken in der Musikgeschichte (Liszts Totentanz, Hector Berliozs Symphonie fantas‐ tique, Modest Mussorgskis Lieder und Tänze des Todes etc.) einhergehen. Im Fach Informatik kann an einer digitalen Bearbeitung und Ausgestaltung des Hörspiels gearbeitet werden. 5.2 Unheimliches und Geisterhaftes 235 <?page no="236"?> Um hier einen möglichst kreativen Umgang zu initieren, sollte nicht davor zurückgescheut werden, zur Einführung in das Thema auch popkulturelle und mediale Kontexte zu nutzen (Musik-Videos von Robbie Williams [„Rock DJ“], Daft Punk [„Around the World“]; Filme wie Rendezvous mit Joe Black, Monty Pythons Der Sinn des Lebens, Nosferatu, Die letzte Nacht des Boris Gruschenko). Im Rahmen eines Literaturunterrichts, der Interkulturalität einbezieht, können und könnten hier aber auch ganz andere, religiöse und kulturelle Artefakte eine Rolle spielen. Für die spätere Erstellung des Hörspielskripts ist es sicher ein Gewinn, kulturell geprägte Besonderheiten im Umgang mit Vergänglichkeit (in Form von Geräuschen, Klängen, Musik, Texten anderer Kulturen) zu Beginn abzurufen, um einerseits einen Zugang zu den deutschen Texten zu schaffen und andererseits im Vergleich dann auch Kategorien des „Anders-gemacht-werdens“ (in anderen Kulturen) zu perspektivieren. Lerner: innen können so möglicherweise zu einer be‐ wussten Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen kulturellen und historischen Mustern des literarischen Gegenstands motiviert werden. Diese Vorkenntnisse können für Plenumsdiskussionen darüber genutzt werden, welchen Text man als Hörspielskript umsetzen will und welcher sich besonders eignet. Es empfiehlt sich für die Erstellung eines Hörspielskripts, das literarische Verstehen eines konkreten Textes abzusichern, indem zuerst ein Exposé in Großgruppen angefertigt wird, in dem sich die Gruppe auf einen Handlungsbzw. Sprecherverlauf und künstlerische Umsetzungsfragen einigt. Das Exposé sollte folgende grundlegende Informationen klären: ▸ Welche Textausschnitte, welche Themen/ Motive, welche narrativen Elemente der literarischen Vorlage eignen sich, um in ein Hörspiel umgewandelt zu werden? ▸ Was aus den Balladenbeispielen soll aufgegriffen werden und wie muss diese Textvorlage verändert werden? ▸ Wie viele Szenen soll es geben? ▸ Was geschieht in den einzelnen Szenen? ▸ Wie viele Sprechrollen werden benötigt? Welcher Protagonist handelt wo und warum? ▸ Welche Stimmung sollte die einzelnen Textpassagen beim Lesen/ Spre‐ chen beherrschen? Aus dem Exposé könnten dann in Kleingruppen festgelegte einzelne Szenen erarbeitet werden, die zu einem Skript aus den Großgruppen zusammenge‐ fügt werden. Es stellt bereits eine erhebliche Leistung dar, aus einzelnen 236 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="237"?> 9 Herunterzuladen unter https: / / www.chip.de/ downloads/ Celtx_24383242.html (16.08.2023). Gruppenbeiträgen die Transformation/ Übersetzung einer Ballade in ein Hörspielskript unter Beibehaltung des Inhalts, der Figuren, des Stils usw. zu leisten. Der Dialog aus Klings Totentanz ist ein guter Ausgangspunkt für Schüler: innen, die mit einem solchen (szenischen) Schreiben noch nicht vertraut sind. Alternativ könnte auch ein Dialog zwischen dem Türmer und dem bestohlenen Toten aus Goethes Ballade entwickelt werden, mit einem Erzähler, der die Rahmenbedingungen einspricht. Sicher ist dies im Hinblick auf die geringe Handlungsdichte und Figurenanzahl der Balladen nicht einfach - es bietet jedoch die Möglichkeit, die Texte nicht nur auf einer inhaltlich-oberflächlichen Ebene zu adaptieren, sondern eine genaue Wahrnehmung für Tonlagen und Atmosphären zu entwickeln und diese in einer kreativen Anverwandlung (Tonexperimente mit Klang, Musik) umzusetzen. Arbeiten kann man zur Erstellung des Hörspielskripts (vgl. Unterrichts‐ hilfe „Ein Hörspielskript erstellen“) grundsätzlich mit jedem Schreibpro‐ gramm, es gibt aber auch für Drehbücher ausgelegte Programme wie Celtx. 9 Im Abfassen der konkreten Hörspielszene müssen dann neben der forma‐ len Strukturierung des Skripts folgende Aspekte berücksichtigt werden: ▸ Ausarbeitung von Figurencharakteren: Möglicherweise kann bereits im Vorfeld eine Entwicklung von Rollenbiografien (vgl. Unterrichtshilfe „Rollenbiografie schreiben“) notwendig werden, um vielschichtige Cha‐ raktere und nicht Stereotype zu reproduzieren und jedem Charakter eine eigene Sprache/ eigenes Vokabular zu geben. ▸ Wortwahl, die nicht unbestimmt ist oder in die subjektive Wahrneh‐ mungssphäre gehört, um die Imagination der Situation zu ermöglichen; Vermeidung von Wortwiederholungen. ▸ Hörbares nicht in Beschreibungen aufnehmen. ▸ Erzählperspektive für Erzähler (falls einer eingesetzt wird) festlegen und durchhalten. ▸ ‚Natürliche‘ Dialoge, mit der richtigen Dosierung an Beschreibung und Aktion entwickeln. ▸ Regieanweisungen und Klangsowie Musikelemente einarbeiten (vgl. Unterrichtshilfe „Ein Hörspielskript erstellen“): 5.2 Unheimliches und Geisterhaftes 237 <?page no="238"?> - Welche Geräusche ergeben sich aus dem Text und wie bzw. an welchen Stellen könnte der Text musikalisch unterlegt werden oder lässt er dies offen? ▸ Alles immer wieder auf Logik überprüfen. ▸ Gestaltung eines Spannungsbogens/ Endes. Am Ende der Erarbeitung des Skripts kann es durchaus einen „Wettbewerb“ geben, in dem die Schüler: innen ihr Skript vorstellen (Kopien oder Vortrag) und ihre Darstellung erläutern. Ein mehrstufiges Auswahlverfahren zu Wir‐ kungsweisen und den Intentionen des Skripts könnte das gelungenste Skript zur weiteren Arbeit bzw. Aufnahme auswählen. Als Lehrperson sollten sie die Lernenden darauf aufmerksam machen, dass in der Beurteilung der künstleri‐ schen Adaption die literarische Vorlage eine zentrale Rolle spielen muss: ▸ Totentanz-Thematik muss in seiner spezifischen Ausformung aufgegrif‐ fen werden (bei Goethe die Versuchung des Türmers, bei Rilke die Spiegelung des Innenlebens, bei Kling in Form des Zwischspiels von Arzt und Tod) ▸ Atmosphäre der jeweiligen Totentanzballaden ▸ Totentanz als spielerisches Element 5.3 Schicksal, Selbstbestimmung und Bewährung 5.3.1 Gewagte Sprünge in luftiger Höhe - „Die Ballade vom Seiltänzer Felix Fliegenbeil“ von Michael Ende- Juliane Dube Thema: Eng verknüpft mit dem Namen Michael Ende sind die mit dem Deutschen Jugendbuchpreis ausgezeichneten Abenteuer um Jim Knopf und Lukas den Lokomotivführer (1960), aber auch die Erinnerungen an Bastian und seine Erlebnisse in der Parallelwelt Phantásien im Roman Die unendliche Geschichte (1979) oder an Momo (1973), dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte. Weniger bekannt sind hingegen Endes balladeske Texte wie Die Ballade vom Seiltänzer Felix Fliegenbeil, die von einem ehrgeizigen jungen 238 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="239"?> Seiltänzer berichtet. Jener wächst mit dem Setzen und Überwinden immer neuer Herausforderungen über sich hinaus und wird damit selbst zum Kunstwerk. Während er sein Talent zunächst dafür nutzt, Ruhm und Geld zu erhalten, findet er zum Ende der Ballade den Sinn im Tun selbst. Intention: 1986 erstmals in seinem Gedichtband Trödelmarkt der Träume veröffentlicht, besitzt Endes Ballade nicht nur durch ihre sprachliche Einfachheit und das leicht zugängliche Reimschema (Kreuz- und Paarreime) sowie ihre spannende Erzählgestaltung, sondern vor allem durch ihre Mehrdeutigkeit ein hohes Potenzial, um literarische Lernprozesse in der Orientierungsstufe anzuregen. Unterricht im 4. bis 6. Schuljahr: Mit der Veröffentlichung der Ballade als Bilderbuch im Rahmen der Reihe Poesie für Kinder im Berliner Kindermann-Verlag eröffnet sich unter der Zielstellung der Ausbildung von visual literacy (Bildverstehen) zudem die Möglichkeit, die Kinder für die illustrative Gestaltung der Ballade zu sensibilisieren. Dafür werden sie zur Bild-Text-Betrachtung aufgefordert und erfahren die Wirkung visueller Gestaltungsmittel durch die eigenständige Illustration des Textes. - Ausgewählte didaktische Analyse Michael Andreas Helmuth Ende zählt zu den erfolgreichsten deutschen Kinder- und Jugendbuchautoren des 20. Jahrhunderts. Seine Bücher sind in über vierzig Sprachen übersetzt und wiederholt szenisch und akustisch ad‐ aptiert worden. Neben seinen großen Werken Momo und Jim Knopf befinden sich auch viele andere seiner Kinderbücher wie z. B. Norbert Nackendick oder Das nackte Nashorn (1984), Das Traumfresserchen (1978) oder Tranquilla Trampeltreu, die beharrliche Schildkröte (1972) in Grundschulbibliotheken. In seinem Band Trödelmarkt der Träume: Mitternachtslieder und leise Balladen veröffentlichte Ende 1986 hingegen das erste und einzige Mal eine Samm‐ lung an lyrischen Texten, aus der auch die folgende Ballade stammt. In neun achtversigen Strophen erzählt „Die Ballade vom Seiltänzer Felix Fliegenbeil“ vom Leben des größten Seiltänzers aller Zeiten (V. 3) auf seiner stetigen Suche nach neuen Herausforderungen. Felix Fliegenbei versteht seine Tätigkeit als Kunst. Doch egal, wie gewagt seine Sprünge ohne Netz 5.3 Schicksal, Selbstbestimmung und Bewährung 239 <?page no="240"?> auch werden, er fällt niemals. Da ihn jedoch weniger die Bewunderung der Zuschauer als die Kunst selbst begeistert, setzt er sich selbst immer wieder neue Ziele, indem er beginnt, die Dicke des Seiles zu verändern: Erst tanzt er auf einem Draht, dann auf einem Haar und schließlich stellt er sich dem Balanceakt ohne Seil. Dabei wird er jedoch vom Wind weggetrieben. Statt vom Tod des Künstlers erfahren die Zuhörenden, dass dieser von nun an im Himmelsraum von Stern zu Stern seine Kunststücke präsentiert. Die Ballade beginnt in einer sehr eingängigen Sprache im ersten Vers „Es war ein Tänzer auf dem Seil“ mit einer elliptischen Anspielung, die an die formelhafte Wendung zu Beginn vieler Märchen erinnert. Sie charakterisiert die nun folgende Beschreibung der Entwicklung von Felix Fliegenbei nicht nur als fiktional, sondern unterstreicht auch den epischen Charakter der Ballade. Anfangs- und Endpunkt der Entwicklung, die überwiegend von einer heterodiegetischen Erzählinstanz berichtet wird, bilden dabei die erste und letzte Strophe, die nahezu wortgleich gestaltet sind. Zwischen diesen beiden Strophen wird beschrieben, wie aus einem Tänzer (V. 1), dessen Lehrer ihm nichts mehr beibringen konnte und ihn daher wegschickt der Tänzer wird (V. 65), dessen Bedeutsamkeit man in V. 4 zunächst noch bestreiten konnte, in Vers 68 jedoch als unumstößliche Wahrheit anerkennen muss: „Das wird man nicht bestreiten“. Doch während er zumindest zu Beginn für ein wenig „Gut und Geld“ (V. 5) auf dem Seil tanzt, haben Gunst, Geld und Ruhm zum Ende jegliche Bedeutung verloren. Nun geht es ihm nur noch um „die Kunst.“ (V. 8), die er nun „von Stern zu Stern im Himmelsraum“ (V. 63) vollzieht. Damit wird die akrobatische Luftnummer ergebnislos, zu wahrer Kunst eben. Ästhetisch unterstrichen wird die Darstellung durch eine regelmäßige Reimstruktur (wiederholter Paar- & Kreuzreim) und ein festes Metrum. Dabei untermalt die eingängige Sprache die Leichtigkeit der Handlung. Die Ballade vom Seiltänzer Felix Fliegenbeil (Michael Ende) Es war ein Tänzer auf dem Seil mit Namen Felix Fliegenbeil, der größte aller Zeiten, das kann man nicht bestreiten. Ihm lag nicht viel an Gut und Geld, nichts an der Menge Gunst, 240 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="241"?> ihm ging’s nicht um den Ruhm der Welt, ihm ging es um die Kunst. Schon in der Seiltanzschule war er bald der Beste in der Schar, und als ein Jahr vorüber, war er dem Lehrer über. Da sagte der in mildem Ton: „Du Wunderkind, ade! Ich kann dich nichts mehr lehren, Sohn, drum geh mit Gott - doch geh! “ So zog er in die Welt hinaus, wohin er kam, erscholl Applaus. Die ganze Welt bereist’ er Und suchte seinen Meister. Doch keiner tanzte so genial die Sprünge des Balletts hoch droben auf dem Seil aus Stahl und immer ohne Netz! Da er den Meister nirgends fand, beschloß er endlich kurzerhand, statt andre zu begeistern, sich selber zu bemeistern. „Mein Tanz“, sprach Felix Fliegenbeil, „ist noch kein Meisterstück. Zwar kann ich alles auf dem Seil, doch ist das Seil zu dick! “ Drum spannte er von Haus zu Haus nun einen Draht anstatt des Taus und übte, drauf zu springen. Das sollte bald gelingen. Dann nahm er einen dünnern Draht und einen dünnsten noch - es dauerte zwei Jahr grad, dann konnte er’s jedoch. 5.3 Schicksal, Selbstbestimmung und Bewährung 241 <?page no="242"?> Und schließlich kam das siebte Jahr, da tanzte er auf einem Haar, gespannt von Turm zu Turme, dort schritt er hin im Sturme. Das Publikum sah schweigend zu Und hielt die Hüte fest. dann aber kam der letzte Clou, der sich kaum glauben läßt: Denn eines Tages um acht Uhr früh, da spannt er nichts mehr zwischen sie: Er tanzte auf der Leere, als ob dort etwas wäre! Hoch überm Abgrund ging er zwar Mit leichtem Tänzerschritt, doch weil er ohne Halt nun war, nahm ihn ein Windstoß mit. Wer weiß, wohin der Wind ihn trieb? Ein Astronom allein beschrieb, was er im Fernrohr schaute, im Sternbild Argonaute: Es sei, sprach er, gewiß kein Traum. Er habe ihn gesehn, von Stern zu Stern im Himmelsraum wie ein Tänzer gehn! Es war der Tänzer ohne Seil mit Namen Felix Fliegenbeil, der größte aller Zeiten, das wird man nicht bestreiten. Ihm lag nichts mehr an Gut und Geld, nichts an der Menge Gunst, ihm ging’s nicht um den Ruhm der Welt, ihm ging es um die Kunst! (E N D E , Michael (2011). Die Ballade vom Seiltänzer Felix Fliegenbeil. Berlin: Kinder‐ mann) 242 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="243"?> Vorschlag zur didaktischen Umsetzung Folgende Bezüge zu den Kompetenzen werden besonders berücksichtigt: Die Schüler: innen-… ▸ beteiligen sich aktiv an der Gestaltung von Vorlese-Seh-Gesprächen. ▸ setzen für Deutungsversuche Text und Bild miteinander in Verbindung. ▸ reflektieren die Wirkung der Text-Bild-Verbünde. ▸ entwickeln mit Hilfestellung eigene Ideen zur illustrativen Gestaltung der Ballade. Mithilfe digitaler Unterstützung wird das Cover des Bilderbuchs zur Bal‐ lade von Felix Fliegenbeil aus dem Kindermann Verlag (2011) präsentiert (Abb. 5.10). Zu sehen ist dort in einem gelben Trikot und gelben Ballettschu‐ hen Felix Fliegenbeil. Neben einem kleinen Vogel auf einem gespannten Seil mit leicht lächelnden Zügen sitzend, schaut er die Leser: innen direkt an. Neben ihm fliegen zwei weiße Schmetterlinge. Sowohl die Farbgebung des gelben Trikots als auch die ihn begleitenden Tiere symbolisieren Leichtig‐ keit und Freiheit. Doch noch bewegt er sich nicht auf dem Seil. Vielmehr verstärkt sein aufrechter Sitz auf diesem die Wirkung der Bildmitte. Abb. 5.10: Die Ballade vom Seiltänzer Felix Fliegenbeil von Michael Ende. Mit Bildern von Henrike Robert. Berlin: Kindermann 2011. 5.3 Schicksal, Selbstbestimmung und Bewährung 243 <?page no="244"?> Nachdem sich die Lerngruppe zum Cover und dem Titel der Ballade ausge‐ tauscht hat, liest die Lehrperson, begleitet durch die digitalisierten Illustra‐ tionen des Bilderbuchs mit Smartboard, Beamer oder Dokumentenkamera, die ersten Strophen der Ballade laut vor. Im Rahmen dieses Literarischen Sehgesprächs (vgl. Möbius 2008) werden unbekannte Wörter geklärt, aber auch immer wieder bewusst Pausen gesetzt, um sich in der Lerngruppe über den Fortgang der Handlung auszutauschen. Geeignete Stellen für jene Haltepunkte sind u. a.: „Drum spannte er von Haus zu Haus“ oder „dann aber kam der letzte Clou, der sich kaum glauben läßt“. Neben dem Austausch zur inhaltlichen und textlichen Gestaltung im traditionellen Vorlesegespräch soll der Blick der Lernenden auch immer wieder auf die Illustrationen von Henrike Robert gelenkt werden. Den Bildern wird damit ein Erzählraum zugestanden und den Lernenden die Möglichkeit gegeben, die Bedeutung im Beziehungsgeflecht zwischen Bild und Text beim gemeinsamen Betrachten und Vorlesen auszuhandeln. Impulsfragen könnten etwa die Gestaltung der Figuren oder die Farbwahl von Felix‚ seiner Kleidung oder den sparsam gestalteten Hintergrund betreffen. Je nach Kompetenzstand können auch Deutungsaushandlungen zur Symbolhaftigkeit der visuellen Darstellungen, z. B. der Schmetterlinge, der Vögel oder des Balls durch die Lehrperson angeregt werden. Sensibilisiert für die Illustration der Ballade durch Henrike Robert, kön‐ nen sich die Schüler: innen im Anschluss an das Literarische Sehgespräch selbst an der illustrativen Gestaltung der Ballade versuchen. Damit wird der Forderung Rechnung getragen das im Deutschunterricht so lange vernachlässigte Bild, das in der medial geprägten Sozialisation heutiger Kinder und Jugendlicher eine immer größere Rolle spielt, stärker in den Deu‐ tungsprozess miteinzubeziehen. In seiner Komplexität lange unterschätzt, ist mit den heutigen Ergebnissen aus der Kognitionspsychologie und der Hirnforschung, aber auch dank neuerer Arbeiten aus der Literaturdidaktik klar (vgl. Abraham 2009, Dehn 2014), dass sich Prozesse des Bildverstehens (visual literacy) ähnlich komplex gestalten wie jene des Leseverstehens (Kap. 4.5). Besondere Bedeutung erfährt das Sehen jedoch nicht nur im Zuge der Digitalisierung, sondern auch durch die zunehmend komplexer gestalteten Text-Bild-Verbünde. Komplexe Text-Bild-Verbünde finden sich u. a. in den Bilderbüchern zu den Märchen Schneewittchen von Benjamin Lacombe (2011) oder Hänsel und Gretel von Lorenzo Mattotti (2014). 244 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="245"?> Damit diese Komplexität jedoch auch von den kindlichen Leser: innen erfasst werden kann, bedarf es, analog zum Leseverstehen, eines kumulativen Aufbaus des Bildverstehens. Neben der angeleiteten Rezeption gilt es auch hier, analytische Textbzw. Bildzugänge immer wieder durch produktions‐ orientierte zu erweitern. Während die Illustrationen von Henrike Robert in klaren Farben überwie‐ gend die Hauptfigur der Ballade fokussieren, bietet es sich an, die Kinder zur Gestaltung der Ballade aus unterschiedlichen Perspektiven anzuregen und ihnen damit einen ersten Zugang zu basissemiotischen Gestaltungsmitteln anzubieten. Im Kontext eines auf Differenzierung bedachten Deutschun‐ terrichts werden die Lernenden angeregt, den Blick des Seiltänzers in den Darstellungen wiederzugeben, z. B. auf ein immer dünner werdendes Seil (Vogelperspektive), und hierbei die Höhe durch die Gestaltung der Umgebung noch stärker zu betonen, als es im Bilderbuch geschieht. Ebenso denkbar sind jedoch auch der von unten gerichtete Blick des Publikums auf den besten Seiltänzer aller Zeiten (Froschperspektive) oder die Gestaltung unterschiedlicher Nahaufnahmen, z. B. des Gesichtes, welches allein durch die Mimik den Handlungsverlauf der Ballade wiederspiegelt. Im abschließenden Galeriegang können die angefertigten Bilder von den Lernenden begutachtet werden. An ausgewählten Beispielen fasst die Lehrperson die unterschiedlichen Möglichkeiten der Perspektivgestaltung noch einmal zusammen und reflektiert mit der gesamten Gruppe deren Wirkung. 5.3.2 Ökologische Nachhaltigkeit - „Holger, die Waldfee“ von Lars Ruppel Carolin Führer Thema: Einer der bekanntesten deutschsprachigen Slam-Poeten ist der 2014 zum „Deutschen Meister“ gekürte Lars Ruppel. Er reflektiert in seinen Slams bekannte Redensarten, die gemeinhin gedankenlos geäußert werden: „Alter Schwede“, „Heidewitzka“, „Mein lieber Herr Gesangsverein“ - Ruppel behandelt die so Titulierten als eigenständige Figuren und fragt, welche (Lebens-)Geschichten und Schicksale sich hin‐ ter den jeweiligen Aussprüchen verbergen: Wer ist der „Alte Schwede“? 5.3 Schicksal, Selbstbestimmung und Bewährung 245 <?page no="246"?> Was treibt den „Herrn Gesangsverein“ um? Was ist „Heide Witzka“ für ein Mensch? Intention: Die so entstandenen Texte sind moderne Balladen, die in der dramatisch-szenischen Gesamtanlage des Slam-Formats eine unge‐ wöhnliche und daher interessante Geschichte in ‚junger‘, aber rheto‐ risch ausgefeilter lyrischer Sprache darbieten. Ihre Figurenzentriertheit bietet didaktisch vielfältige Möglichkeiten der Entwicklung von Figu‐ renverstehen, Perspektivübernahme und Empathie. Unterricht im 7. und 8. Schuljahr: Der Unterrichtsvorschlag bahnt dies in der Kombination von analytischen sowie handlungs- und produktionsorientierten Aufgaben an, u. a. mit Hilfe der Gestaltung einer Rollenbiografie. - Ausgewählte didaktische Analyse Fragt man nach der (Weiter-)Entwicklung der Gattung Ballade im 21.-Jahrhundert, so stößt man schnell auf Poetry Slams. Hier verschwim‐ men die Grenzen zwischen lyrischen, dramatischen und erzählerischen Elementen; große Stilvielfalt, programmatische Offenheit gegenüber al‐ len Genres sowie spielerischen Züge dominieren die Präsentationsfor‐ men. Die Ballade „Holger, die Waldfee“ des Slampoeten Lars Ruppel zeigt eine Tendenz zur Mündlichkeit bzw. zur Auslegung auf den öffentlichen Vortrag hin, sodass sie ihr volles Potential auch erst durch diesen entfaltet (Hanauska 2017: 418). Zu beachten ist hierbei jedoch, dass trotz der Ten‐ denz zur Unterhaltung der Text nicht durch einmaliges Hören erschlossen werden kann, vielmehr ist er geprägt von Leerstellen und Anspielungen, die auf die Konzeption in der Schriftlichkeit verweisen. Daraus ergeben sich weitere Merkmale des Textes, die ihn mit der Ballade verbinden: relative Kürze und Konzentration auf spannungsbildendende Elemente, Zuspitzung auf einen Schluss - hier sogar in Form einer „Moral“ - Drastik und Anschaulichkeit des Geschehens sowie „Zugänglichkeit“ (Hanauska 2017: 420). Schnittmengen zwischen Slamkultur und Ballade ergeben sich aus den kritischen Betrachtungen (bürgerlichen) Lebens und der hohen Intertextualität, wobei im Slam auch die Populärkultur eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt (IKEA, RTL 2). 246 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="247"?> Die Ballade „Holger, die Waldfee“ ist der titelgebende Text des 2014 erschienenen Slambandes, in dem der Autor seine bisherigen Slams über Re‐ densarten gesammelt hat. Nach Ruppels eigener Aussage ist das Gedicht aus einem Verhören des bekannten Ausspruches „Holla die Waldfee“ entstan‐ den. Gemäß des bereits beschriebenen Erzählprinzips wird in der Ballade die Lebensgeschichte der Waldfee Holger - und mit ihr die spannungsreiche Entwicklung des Verhältnisses von Mensch, Natur und Wirtschaft - in fünf Handlungsteilen entwickelt. Holger, die Waldfee (Lars Ruppel) Jeden Morgen, wenn tief fliegende Sonnenstrahlen am Waldrand erst die Wurzeln kitzeln, federfein mit hellen Farben Graffiti in die Rinde kritzeln, zerbrechen und als Scherbenregen den Waldboden mit Glanz bedecken, mit einem Streicheln die Insekten unter Humusdecken wecken; wenn die Stille, die im Wald zur Nacht noch eben jeden Ton verbot, vertrieben durch den Klang der Welt, leicht angespielt vom Morgenrot, verschämt ein Stück zur Seite geht und Platz schafft für Konzerte; Akkorde, die das Leben greift, vom Hörer höchst verehrte Klänge, wie das Amselzwitschern, das, wenn man sich konzentriert, klingt, als singe eine Orgel, die im Regen explodiert. Der Strauch, der müde Knospen streckt, das Weidenkätzchenschnurren, Humus, der leis‘ Faulgas furzt, ein Wühlmausmagenknurren, 5.3 Schicksal, Selbstbestimmung und Bewährung 247 <?page no="248"?> Asseln, die mit lautem Groll nach Kellerschlüsseln suchen, und von oben raschelt sacht das Umblättern der Buchen. Welch Wohlklang, welch Balsam! Oh, Waldlebens Lied! Der Tag hat am Morgen den ersten Zenit. Der Schöpfung zu Ehren erhebet die Ohren: Euch wurde der Tag von der Sonne geboren! Kommt alle zum Reigen, heut wollen wir tanzen zum Lobe des Kleinen im Großen und Ganzen. Zum Ärger des einen: Der, der nicht gerne tanzt, der, dessen Wohnung bepilzt und verranzt, der öffnet die verdreckten Fenster, holt tief Luft, und dann kawmmst er: „Halt die Fresse, du! “, und droht der ganzen Welt mit Hausverbot. Der Herr, der sich so echauffiert, ist großflächig und unrasiert und doch des Waldes treuester Geist: Es ist die Fee, die Holger heißt. Einst war der Holger die Fee aller Wälder, Herrscher der endlosen Baumkronenfelder, Patron aller Wesen, Vertreter des Lebens, Ausgleich im Kreislauf des Gebens und Nehmens, der Ruhepol des Pendels, das hinter den Dingen im rhythmischen Tanz aus harmonischen Schwingen 248 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="249"?> die Teile des Puzzles, das einstmals entzweit, vereint‚ zu Gemälden in Rahmen aus Zeit. Nur Holger, die Welt und ein Beutel voll Samen Und Jahre, die gingen, genau wie sie kamen. So wurde aus Boden, der leblos und kalt, ein Kind dieser Erde in Kleidern aus Wald. Später, als Menschen in Baumwipfeln lebten, an Haaren und Händen die Harztropfen klebten, da wusste man noch seine Arbeit zu schätzen und lebte gar gerne nach seinen Gesetzen. Und heut? Hat er Wohnrecht im eigenen Heim, ist nicht mehr vonnöten und meistens allein - ein lebendes Denkmal aus schöneren Tagen. Im Wald hat seit Jahren das Forstamt das Sagen. Wie jeden Tag schaut bald sein Alltag vorbei, voll von Seufzern des Saufens und RTL 2. Die Waldfee von einst ist nun kaum mehr ein Schatten, geworfen von Tagen, die Sonnenschein hatten. Im Forstamt am Tisch bei Kaffee und Tee sitzen in Graustufen aufgereiht Männer mit Schlipsen; zu allem entschlossen, den Rotstift gezückt, den Arsch bis zur Ritze ins Leder gedrückt. Über dem Schlips ist kein Platz für Gefühle, IKEA braucht Rohstoff zum Bau neuer Stühle. „Die brauchen Stühle, und wir brauchen Geld.“ Alle gewinnen, so leicht ist die Welt. Einen Wildschweinfurz später schon flattern geschwind Im Rausch der Geschwindigkeit Schlipse im Wind. „Hü! “, rufen sie, und sie peitschen die Trucks, der Forstamtschef johlt und schwingt stolz seine Axt, bis schließlich am Waldrand die Rodhorde hält und einer ins amtseig’ne Megafon bellt: „Hier spricht der Sprecher der Forstamtsinsassen. Wir bitten die Tiere, den Wald zu verlassen! 5.3 Schicksal, Selbstbestimmung und Bewährung 249 <?page no="250"?> Die Baumfällarbeiten beginnen alsbald! Noch fünfzehn Minuten, dann wird dieser Wald kraft uns’rer Äxte zu Kleinholz gemacht und dann zur Verstuhlung nach Schweden gebracht.“ Die Tiere erstarren, nur Lider, die fallen, den Stahl ist viel härter als Schnäbel und Krallen. Das Leben sieht manchmal so hoffnungslos aus Wie Omas beim Ausflug ins Leichenschauhaus. Doch grad als man Abschied vom Walde genommen, hören sie Schreie vom Waldrand her kommen. Schon rennt ein Mann mit erhobenen Armen In Panik vorbei, und er fleht um Erbarmen. Dahinter kommt Holger, die Waldfee, gerannt, mit Wut in den Augen und Axt in der Hand. Von Weitem sind Rauchwolken gut zu erkennen: die Seelen der Trucks, die am Waldrand verbrennen. Holger, verzeiht nicht, er tut lieber weh - Ein echter Chuck Norris im Kleid einer Fee. So erhielt Holger den alten Respekt, nach so vielen Jahren erfolgreich comebackt. Was lehrt dieses Märchen? Oder ist das Klischee? Sind wir nicht alle für irgendwen Fee? Unbemerkt wachend und gleichsam bewacht, geben wir gut auf den anderen acht. Denn steht einer mal mit dem Rücken zur Wand, steht dahinter ’ne Fee mit ’ner Axt in der Hand. (R U P P E L , Lars (2014). Holger, die Waldfee: 10 Gedichte über Redensarten, in: ders., Holger, die Waldfee. Zehn Gedichte über Redensarten. Berlin: Satyr Verlag, 9-14 In den ersten zehn Strophen wird zunächst ein idyllisches Bild der Natur gezeichnet, wobei der Autor auf ironische Weise mit Versatzstücken der romantischen Naturlyrik (z. B. Eichendorffs „Abschied vom Walde“) spielt. Sprachgewaltig, aber mit Augenzwinkern, werden die Synästhesie des Walderlebens und die Allharmonie der Natur durch den Einsatz kreativer Metaphern, Vergleiche und Personifikationen heraufbeschworen. 250 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="251"?> Mit einem plötzlichen Schnitt wechselt die Perspektive von dem ganz‐ heitlichen Sosein der Natur zum individuellen Schicksal der „Fee, die Holger heißt“ (V. 52), von deren existentiellen Niedergang der Leser/ die Leserin in den Strophen 11-19 erfährt: Fungierte Holger in prähistorischen Zeiten gemäß der Naturgeisttradition als „Patron aller Wesen“ (V. 55) und hatte er die Besiedlung des Waldes durch die Menschen vermittelnd begleitet („Ausgleich im Kreislauf des Gebens und Nehmens“; V. 56), wird er in der erzählten Zeit der Balladenhandlung als gescheiterte Existenz vorgeführt, die körperlich verwahrlost, dem Alkohol und dem Massen-TV verfallen in einer vergammelten Wohnung haust. Wie es zu diesem Existenzverfall kam, wird nach einem weiteren Sze‐ nenwechsel im dritten Balladenabschnitt (Strophen 21-26) geschildert: Das „Forstamt“, bestehend aus grauen „Männern mit Schlipsen“ (V. 78), die in waldfernen Büros residieren, hat die Kontrolle über den Wald übernommen. Während sich unter Holgers sanfter Führung das Waldleben harmonisch und ganzheitlich vollzog, wird es nun durch die Herrschaft der Verwal‐ tungsbehörde fragmentiert und mit der kalten Logik eines entfesselten Kapitalismus konfrontiert, der mit seiner Maxime der Profitmaximierung auch vor dem Raubbau an der Natur nicht haltmacht: Um Geld in die Kassen zu spülen, soll das gerodete Holz an einen bekannten schwedischen Billigmöbelhersteller verkauft werden. Die Rechnung wurde jedoch ohne die Waldfee gemacht, die angesichts der drohenden Vernichtung aus ihrem lethargisch-depressiven Zustand erwacht, sich auf ihre ursprüngliche regulative Aufgabe als Naturgeist besinnt und im Namen der Waldbewohner schließlich die Eindringlinge im vierten Handlungsteil (Strophen 26-28) gewaltsam zur Flucht zwingt. Holgers Rückkehr zum aktiven (politischen? ) Handeln schreit förmlich nach einer Deutung, die der Autor gleichsam „metakognitiv“ in den letzten beiden Strophen in Form einer verallgemeinerten „Lehre“ liefert: So wie Holger sich letztlich aufrafft, um sich für die Gemeinschaft einzusetzen, so seien auch wir alle „für irgendwen Fee“ (V. 114) und sollten gegenseitig aufeinander achtgeben. - Vorschlag zur didaktischen Umsetzung Folgende Bezüge zu den Kompetenzen werden besonders berücksichtigt: Die Schüler: innen-… 5.3 Schicksal, Selbstbestimmung und Bewährung 251 <?page no="252"?> ▸ reflektieren sprachliche Mittel in der Darstellung des Waldes funktional hinsichtlich ihrer Wirkung nach dem ersten (emotionalen) Hörerlebnis; ▸ fühlen sich in die Figur Holger die Waldfee ein, indem sie in einer Rollenbiografie Charakteristiken von ihm imaginieren; ▸ beurteilen die Darstellung des Forstamtes mittels handlungs- und pro‐ duktionsorientierter Verfahren; ▸ diskutieren die Morallehre in der Ballade. In der Einstiegsphase sollte in jedem Fall eine gemeinsame Lesung der Bal‐ lade stattfinden. Durch einen vorab eingeübten Vortrag der Lehrkraft oder Mitschnitte von Lars Ruppels Auftritten im Internet wird der heitere Erstein‐ druck der Ballade erfahrungsgemäß eingeholt. Die vertiefte Textbegegnung kann dann durch die untenstehenden Impulse eingeleitet werden. Neben der traditionellen (arbeitsteiligen) Einzelarbeit mit anschließenden Auswertungs‐ gesprächen sind vor allem Gruppenarbeiten oder kleinere Projekte sinnvoll, bei denen die Lernenden ihre Einzelergebnisse zusammentragen, vergleichen, diskutieren, ggf. in einem gemeinsamen Produkt zusammenführen und dann der gesamten Lerngruppe abschließend präsentieren. Wie in der didaktischen Analyse ausgeführt wurde, erschließt sich die Ballade kognitiv über den Nachvollzug der dargestellten Handlungsab‐ schnitte, deren Kohärenz vom Rezipienten zunächst für sich in der Abfolge als „roter Faden“ und dann in ihrem Bezug aufeinander in globaler Hinsicht hergestellt werden muss. Denn der Aufbau der Ballade ist strukturell durchkomponiert: Der Waldidylle im ersten Teil wird die verwaltete und entfremdete (post-)moderne Arbeitswelt im dritten Teil antithetisch gegen‐ übergestellt. Die Beschreibung von Holgers Lebensgeschichte im zweiten Teil verbindet die beiden Teile handlungslogisch miteinander und motiviert Holgers „Comeback“ im vierten Balladenabschnitt. Am Fallbeispiel der Waldfee werden so gesellschaftliche Probleme gespiegelt und in humoris‐ tischer Weise (politische) Diskussionsfragen aufgeworfen: Welchen Wert stellt die Natur heute für uns dar? Wie verändern sich Lebensbereiche, wenn sie unter rationalen Kriterien kalkuliert, bewertet und unter wirtschaftli‐ chen „Sachzwängen“ verwaltet werden? Was bedeutet es für Subjekte, wenn ihr Arbeitsplatz „wegrationalisiert“ wird und sie einer Lebensaufgabe beraubt werden? Wie geht der Einzelne mit der Bürde um, gesellschaftliche Risiken internalisieren zu müssen? Welche (politischen) Handlungsmög‐ lichkeiten bleiben in einer bürokratisch verordneten „Wirklichkeit“, die als „alternativlos“ dargestellt wird? Wie können Zivilcourage und das Einsetzen 252 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="253"?> für das Gemeinwohl heute gedacht und gelebt werden? Welche Formen des Engagements und des Protestes sind angemessen? Wie sind wir als Konsumenten an der beschriebenen Entwicklung beteiligt? Um die Schüler: innen an diese Fragen heranzuführen, sollte zunächst die Textbasis sorgfältig erschlossen werden, so kann in einem ersten Schritt die Darstellung des Waldlebens im ersten Teil der Ballade (Strophen 1-10) untersucht werden: a. Lies dir die Beschreibung des Waldlebens (Strophen 1-10) genau durch und notiere deine spontanen Assoziationen und Gedanken dazu! b. Trage anschließend in einer Tabelle Beispiele für Personifikationen, Metaphern und Vergleiche ein und beschreibe deren Wirkung! c. Welche der Spontaneindrücke deiner Erstlektüre haben sich bestätigt, welche Ideen sind nach der genaueren Betrachtung noch hinzugekommen? In einem zweiten Schritt kann die Entwicklung der Figur Holgers in den Blick genommen werden. Mit der Entwicklung einer Rollenbiografie (vgl. Unterrichtshilfe „Rollenbiographie schreiben“), wird auf spielerische Weise hermeneutisch gearbeitet, um einerseits ein Einfühlen im Wechselspiel zwi‐ schen Identifikation und Alterität zur zentralen Figur der Ballade anzuregen und andererseits die Imagination (im Kontext der Gesamthandlung) zu be‐ fördern. Handlungs- und produktionsorientiert könnte dann die Auseinan‐ dersetzung mit der Darstellung des Forstamtes gestaltet werden, um über die Reflexion des holzschnittartigen Figurenverhaltens subjektive Stellung‐ nahme und genaue Textwahrnehmung miteinander ins Spiel zu bringen (vgl. Spinner 2006): a. Lies die Beschreibung des „Forstamtes“ (Strophen 20-25) genau durch! b. Stelle die Mitarbeiter des Forstamtes und den Chef in Form eines Bildes, einer Zeichnung oder einer geklebten Collage dar! c. Füge Sprechblasen hinzu, in denen die Gedanken der Forstamtsmitar‐ beiter (in „Ich-Form“) in Form eines‚Slogans‘ deutlich werden! Überlege dazu, welche Werte und Prinzipien für sie wichtig sind und wonach sie ihr Handeln ausrichten! Eine Aufgabe zu der im Gedicht angelegten „Lehre“ (Strophe 29-39) könnte ein abschließendes Gespräch vorbereiten, bei dem die Lernenden ihr im Verlauf der Lektüre entstandenes mentales Modell der Ballade austauschen und (kontrovers) diskutieren können: In den letzten beiden Strophen der 5.3 Schicksal, Selbstbestimmung und Bewährung 253 <?page no="254"?> Ballade ist von einer „Lehre“ die Rede. Worin besteht diese Lehre aus deiner Sicht? Formuliere dazu einen kurzen Text! Durch den abschließenden Impuls sind auch spezifische Charakteristika der Slam-Poetry berücksichtigt, entgegen den „üblichen“ Tendenzen in der Gegenwartslyrik gesellschaftskritische Momente in Form einer (Mo‐ ral-)Lehre zu formulieren (vgl. Hanauska 2017: 419). 5.3.3 Zivilcourage auf hoher See - „Nis Randers“ von Otto Ernst Juliane Dube Thema: Im Jahre 1901 schrieb Otto Ernst die Ballade „Nis Randers“. Sie erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, der trotz eines gefährlichen Sturmes und gegen den Willen seiner besorgten Mutter aufs Meer hinausfährt, um einen in Not geratenen Seemann zu retten, der sich am Ende als der vermisste Bruder der Hauptfigur herausstellt. Bereits mehrfach literarisch in Balladen verarbeitet, beeindruckt das klare Plädoyer der Ballade für Zivilcourage bis heute. Intention: Das in der Ballade geschilderte Dilemma von Nis, sich zwischen dem Flehen der Mutter und dem in Not geratenen Seemann entscheiden zu müssen, bietet eine Reihe emotionaler Identifikations‐ momente, die in der Klasse kontrovers diskutiert werden können. Die Ballade eignet sich jedoch nicht nur, um die literarische Kompetenz der Schüler: innen zu erweitern, indem sie lernen zu moralischen Dilem‐ mata in literarischen Texten Stellung zu beziehen, sondern auch um den zentralen Konflikt unter Einbeziehung aktueller gesellschaftlicher Fragestellungen zu diskutieren, z. B. zur aktuell kontroversen privaten Seenotrettung im Mittelmeer. Unterricht im 9. und 10. Schuljahr: Im vorgestellten Unterrichtsvorschlag bildet die Ballade „Nis Randers“ den Kern einer Lernumgebung zum Kreativen Schreiben, in der die Lernenden einerseits Nis’ Dilemma herausarbeiten und andererseits vor dem Hintergrund der Originalballade einen Paralleltext mit Aktualitätsbezug verfassen. Dabei kann das Schreiben des Paralleltextes nur gelingen, wenn sich die Lernenden intensiv mit der inhaltlichen, sprachlichen und formalen Ebene des Ausgangstextes sowie mit den bereitgestellten Materialien 254 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="255"?> auseinandersetzen. Hierfür gibt es im Unterrichtsvorschlag unterschied‐ liche Anregungen. - Ausgewählte didaktische Analyse Eine zentrale Aufgabe des Deutschunterrichts und über diesen hinaus ist die Wertebildung, die ihren Fokus vor allem auf den Lernenden richtet, der mit Hilfe von Erziehung selbst Werte erwirbt (vgl. Schubarth 2010). Neben den Lehrenden fungieren Eltern, Freunde und weitere Bezugsper‐ sonen sowie die Literatur als Interaktionspartner der Wertebildung. Schön verweist in diesem Zusammenhang auf die soziale Bedeutung, die das erfahrungsorientierte oder intermediäre Lesen für Kinder und Jugendliche haben kann (vgl. Schön 1995). Dementsprechend ist davon auszugehen, dass „die Perspektivenüber‐ nahme und die Entwicklung eines komplexen Perspektivenverständnisses nicht ausschließlich, aber auch über das Lesen von literarischen Texten gefördert werden können, insofern dieses Lesen und Verstehen durch Praktiken unterstützt wird, in denen die unterschiedlichen Perspektiven für die Schüler: innen relevant werden können“ (Gölitzer 2008: 27). Ein Text, der in der Literaturgeschichte ganz zentral für Wertebildung steht, ist „Nis Randers“ von Otto Ernst. Es ist ein Text über Opferbereitschaft und großen Mut und damit über Eigenschaften, denen Menschen zu allen Zeiten Respekt zollten, der jedoch auch aufgrund seines propagierten Heldentums zu eben jenen Balladen gehört, welche die Gattung so in Verruf gebracht haben. Doch wie die Rezeptionsgeschichte zeigt, lässt sich diese Ballade nicht durch nationalistische Strömungen einnehmen. Vielmehr überdauert das allgemeine gesellschaftliche Streben nach Menschlichkeit und Zivilcourage jene Zeit. Folglich lassen sich Kinder und Erwachsene auch heute noch gefangen nehmen von den sprachlichen Bildern der dra‐ matischen Szenerie der Ballade, die nicht nur in zahlreichen Begleitheften zur Gattung, sondern 2015 auch in einem Bilderbuch aus dem Kindermann Verlag mit dunklen, kontrastreichen Illustrationen von Tobias Krejtschi eindrucksvoll in Szene gesetzt wurde. In der Ballade sehen die gleichnamige Hauptfigur und seine Mutter ein Schiff im unruhigen und wilden Meer unmittelbar vor der Küste auflaufen. Das Schiff droht zu zerschellen. Nis Randers erkennt die Gefahr und möchte den verbleibenden Matrosen des 5.3 Schicksal, Selbstbestimmung und Bewährung 255 <?page no="256"?> havarierten Schiffes zur Hilfe eilen. Seine Mutter ist jedoch entschieden dagegen, da sie befürchtet, dass er dabei ähnlich wie ihr verstorbener Mann und ihr Sohn Momme Randers dem Meer zum Opfer fallen wird. Sie erinnert Nis auch an den seit Jahren verschollenen Sohn Uwe Randers. Ungeachtet der Befürchtungen seiner Mutter hält Nis jedoch an seinem Rettungsvorhaben fest. Voller Angst um das Leben ihres Sohnes ist die Mutter zum Warten an der Küste gezwungen, kann jedoch nach dem glücklichen Ausgang der Rettung nicht nur ihren Sohn Nis, sondern auch ihren verloren geglaubten Sohn Uwe empfangen. Nis Randers (Otto Ernst) Krachen und Heulen und berstende Nacht, Dunkel und Flammen in rasender Jagd-- Ein Schrei durch die Brandung! Und brennt der Himmel, so sieht mans gut. Ein Wrack auf der Sandbank! Noch wiegt es die Flut; Gleich holt sichs der Abgrund. Nis Randers lugt-- und ohne Hast Spricht er: „Da hängt noch ein Mann im Mast; Wir müssen ihn holen.“ Da faßt ihn die Mutter: „Du steigst mir nicht ein: Dich will ich behalten, du bliebst mir allein, Ich wills, deine Mutter! Dein Vater ging unter und Momme, mein Sohn; Drei Jahre verschollen ist Uwe schon, Mein Uwe, mein Uwe! “ Nis tritt auf die Brücke. Die Mutter ihm nach! Er weist nach dem Wrack und spricht gemach: „Und seine Mutter? “ Nun springt er ins Boot und mit ihm noch sechs: Hohes, hartes Friesengewächs; Schon sausen die Ruder. 256 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="257"?> Boot oben, Boot unten, ein Höllentanz! Nun muß es zerschmettern-…! Nein, es blieb ganz-…! Wie lange? Wie lange? Mit feurigen Geißeln peitscht das Meer Die menschenfressenden Rosse daher; Sie schnauben und schäumen. Wie hechelnde Hast sie zusammenzwingt! Eins auf den Nacken des andern springt Mit stampfenden Hufen! Drei Wetter zusammen! Nun brennt die Welt! Was da? -- Ein Boot, das landwärts hält-- Sie sind es! Sie kommen! ---- Und Auge und Ohr ins Dunkel gespannt-… Still-- ruft da nicht einer? -- Er schreits durch die Hand: „Sagt Mutter, ’s ist Uwe! “ (E R N S T , Otto (1907). Siebzig Gedichte. Leipzig: L. Staakmann, 118-119) Die Ballade besteht aus zwölf Strophen zu je drei Versen und entspricht sowohl in der Länge als auch hinsichtlich der sprachlichen Zugänglichkeit dem Anforderungsniveau in der Sekundarstufe I. Der Autor greift darin einen Stoff auf, der in ähnlicher Form schon von anderen Literat: innen verarbeitet wurde - beispielweise von Julius Wolff 1904. Fassungen, die außerhalb eines völkisch-nationalen Schriftstellertums entstanden sind, können insbesondere auch im Hinblick auf die Gestaltung von Paralleltex‐ ten, einen auf Differenzierung ausgelegten Deutschunterricht bereichern. Dreimal wirft sie die Brandung zurück, dann sind sie hinüber; bald hoch und steil saust auf den Kamm, bald wie ein Pfeil schießt tief ins Wellental der Bug des tapfern Boots auf seinem Zug, (W O L F F , Julius (1904). In Sturmes Not. In: Die zehnte Muse. Dichtungen vom Brettl und fürs Brettl. Hrsg. von Maximilian Bern, Berlin: Otto Eisner, 311-313) 5.3 Schicksal, Selbstbestimmung und Bewährung 257 <?page no="258"?> Vorschlag zur didaktischen Umsetzung Folgende Bezüge zu den Kompetenzen werden besonders berücksichtigt: Die Schüler: innen-… ▸ erschließen und interpretieren inhaltliche sowie sprachliche und for‐ male Besonderheiten literarischer Texte am Beispiel der Ballade „Nis Randers“ auch unter Einbeziehung aktueller gesellschaftlicher Frage‐ stellungen. ▸ sichten und bewerten hierzu bereitgestellte Informationen, u. a. Zei‐ tungsartikel und Diagramme zur aktuellen Flüchtlingsbewegung über das Mittelmeer. ▸ verfassen in Anlehnung an die literarische Vorlage von „Nis Randers“ einen literarischen Paralleltext. ▸ nutzen die Umgestaltung des Textes als Mittel zu einem vertieften Verständnis thematischer Zusammenhänge. ▸ präsentieren ihre Paralleltexte in einer Ausstellung zum Thema Zivil‐ courage auf hoher See. Im Zentrum der Ballade steht Nis als Sohn einer Mutter, die bereits ihren Mann und ihren Sohn Momme ans Meer verloren hat. Ihr zweiter Sohn, Uwe, ist seit drei Jahren auf dem Meer verschollen. Im Wissen darum, welchen Schmerz der Verlust eines Menschen verursacht, weist Nis seine Mutter darauf hin, dass auch der in Not geratene Mann eine Mutter hat, die nun um ihn bangt und stürzt sich in die Fluten. Wie der Einsatz der Ballade in Schule und Universität zeigt, bereitet das Erfassen des Grundkonfliktes sowie das Beziehungsgeflecht der Haupt- und Nebenfiguren bei einzelnen Lernenden immer wieder Schwierigkeiten, sodass die Lernenden in den ersten beiden Stunden der Unterrichtsreihe zur gemeinsamen inhaltlichen Erschließung des Textes angehalten werden sollten. Hierzu bietet es sich an, den Text zunächst selbstständig strophenweise zusammenzufassen (vgl. Unterrichts‐ hilfe „Eine Inhaltsangabe schreiben“). Nach einem Abgleich der Ergebnisse über den OHP oder das Smartboard erhalten die Lernenden Informationen zum Schreiben einer Inhaltsangabe, die sich nach Fritzsche besonders zu „literarischen Texten anbieten, die handlungs- und ereignisreich sind und deren Geschehnisse nach einer Erklärung verlangen“ (1994: 158) (vgl. Un‐ terrichtshilfe „Eine Inhaltsangabe schreiben“). Denn wie Unterrichtsanalysen zeigen, sind die Aufgaben und Erwar‐ tungen im Hinblick auf das Verfassen von Inhaltsangaben funktional oft 258 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="259"?> unbestimmt (vgl. Reinert 2012: IX). Vor dem Hintergrund dessen, dass das Verfassen von Inhaltsangaben zu den anspruchsvollen Textformen im Deutschunterricht gehört (vgl. ebd.), ist es folglich unabdinglich, im Vorfeld mit den Lernenden die wichtigsten Punkte noch einmal zu besprechen. Beim Schreiben der Inhaltsangabe ist darauf zu achten, dass-… ▸ folgende Daten enthalten sind: Name des Autors, Titel des Ausgangs‐ textes, Entstehungsjahr, Bezeichnung der Gattung; ▸ alle inhaltlichen Gegebenheiten aufgenommen werden, d. h. worum geht es und wie kommt es dazu, was sind die wichtigsten Orte der Handlung, wer sind die Haupt- und Nebenfiguren, wie stehen sie zueinander, welche Handlungsmotive besitzen sie; ▸ der Balladentext sachlich und reduziert im Präsens zusammengefasst ist; ▸ darüber berichtet wird, wer in welcher Situation und auf welche Weise das Geschehen wiedergibt (z. B. Abstraktionen von Erzählelementen, Anschaulichkeit, Dramatik etc.). Um zu verhindern, dass die Lernenden die Ballade nacherzählen, kann die Lehrperson den zusätzlichen Hinweis geben, die Erzählung vom Ende und nicht vom Anfang - wie bei der Nacherzählung - in den Blick zu nehmen (vgl. Zabka 2004). Eine weitere Differenzierungsmöglichkeit bietet die Arbeit mit fehlerhaften Inhaltsangaben, die schwächere Lernende sprachlich und strukturell entlasten, sodass sie sich auf das genaue Lesen bzw. die Ergänzung fehlender inhaltlicher Angaben konzentrieren können. Aufgrund des hohen Anspruchgehalts von Inhaltsangaben bietet es sich an, dass die Lernenden ihre Texte zunächst im Lerntempoduett unterein‐ ander austauschen, bevor einzelne diese korrigiert im Plenum vorstellen. Dabei sollte die Lehrperson weniger auf die sprachliche Bearbeitung der Textvorlage achten, als vielmehr auf die Erarbeitung eines korrekten Text‐ verständnisses (vgl. Reinert 2012: IX), auf das sie im Plenum ggf. noch einmal korrigierend eingreifen kann. Da allein die Rekonstruktion des Balladeninhalts der moralischen Wirk‐ macht des Textes nicht gerecht wird, sollten die Lernenden anschließend die Möglichkeit bekommen, sich zum Grundkonflikt der Ballade auszutau‐ schen, der ambivalente Deutungen ermöglicht bzw. herausfordert. Indem die Lernenden angeregt werden, sich in die Situation von Nis und seiner Mutter hineinzuversetzen, werden nicht nur die Erfahrungen der Figuren simuliert, sondern auch ihre Handlungen vor dem eigenen Erfahrungs- und Wertehorizont beurteilt (vgl. Demmerling/ Ferran 2014: 20). Durch die 5.3 Schicksal, Selbstbestimmung und Bewährung 259 <?page no="260"?> intensive Auseinandersetzung mit den Einstellungen und Reaktionen der Charaktere gewinnen die Lernenden moralisches Wissen und entwickeln ihre Werte und moralischen Ideale weiter (vgl. ebd.: 21). Durch den Transfer der Problematik auf die aktuell sehr kontrovers diskutierte private Seenotrettung gewinnt die Diskussion in den folgenden fünf Stunden an weiterer Intensität. Zur Einführung in die aktuelle Situation bietet sich der Fall des im Juni 2018 angeklagten deutschen Lifeline-Kapitäns Reisch an. Dieser hatte 234 Flüchtlinge vor der libyschen Küste gerettet. Aufgrund einer wachsenden restriktiven Politik der europäischen Seenot‐ rettung war das Schiff danach tagelang über das Mittelmeer geirrt, bevor es in Malta anlegen durfte, wo es aber sofort beschlagnahmt wurde. Kurz darauf titelte eine große deutsche Zeitschrift „Oder soll man es lassen? “ und brachte damit eine bereits seit vielen Monaten kontrovers geführte Diskussion durch die Gegenüberstellung von Pro und Contra-Argumenten zur privaten Seenotrettung erneut ins Rollen (vgl. ZEIT 29, 12. Juli 2018). Der Artikel wurde vor allem aufgrund des Titels heftig kritisiert, dagegen verteidigte sich das Herausgeberteam, mit dem Dilemma um die private Seenotrettung ein wichtiges Thema angesprochen zu haben. Der Artikel „Seenotrettung - Oder soll man es lassen? Private Helfer retten Flüchtlinge und Migranten im Mittelmeer aus Seenot. Ist das legitim? Ein Pro und Contra“ (ZEIT 29, 12. Juli 2018) können Sie unter: h ttps: / / www.zeit.de/ 2018/ 29/ seenotrettung-fluechtlinge-privat-mittelm eer-pro-contra (08.02.2019) lesen. Während die Schüler: innen im Deutschunterricht über einen Zeitungsar‐ tikel in die Thematik eingeführt werden, bietet es sich gleichfalls an, das Thema im Politik und Gesellschaftslehre-Unterricht zu vertiefen. Das Themenfeld „Konflikt und Frieden“ bietet hierzu zahlreiche Anknüpfungs‐ punkte. Die Lernenden erhalten hierzu zunächst die Aufgabe in einer Tabelle die Pro- und Contra-Argumente des Zeitungsartikels in Kleingruppen her‐ auszuarbeiten, die ggf. um weitere ergänzt werden können. Anschließend kommen sie in der darauffolgenden Stunde zu einer Fish-Bowl-Diskussion zusammen. Unter der Verwendung der gesammelten Aspekte setzen sich hierzu ein bis zwei Sprecher: innen der Pro- und Contra-Gruppen in die Mitte eines Stuhlkreises und tragen die gesammelten Argumente vor. Anschließend eröffnet der Moderator (Lehrperson oder Schüler: in) die Diskussion zum Thema: Private Seenotrettung im Mittelmeer. Die übrigen 260 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="261"?> Schüler: innen können jederzeit an der Diskussion teilnehmen, indem sie den Platz mit den zentralen Sprechern tauschen. Schüler: innen, die zu einem anderen Thema als dem ihrer eigenen Gruppe etwas sagen möchten, haben die Möglichkeit, sich auf einen freien Stuhl in der Mitte zu setzen. Durch die hohe Variabilität der Diskutant: innen ergibt sich so ein hoher und breit angelegter Aktivierungsgrad für alle Schüler: innen. In einer abschließen‐ den Reflexionsphase werden die von den einzelnen Gruppen genannten Argumente erneut betrachtet, die in eine mögliche Entscheidungsfindung einfließen können, aber nicht müssen. Nach den zwei Stunden der intensiven inhaltlichen Arbeit kehren die Schüler: innen in der darauffolgenden Stunde mit dem Auftrag, einen Paral‐ leltext zu schreiben, zurück zum Ausgangstext. Bei der Texttransformation soll der Schreiber/ die Schreiberin an die Thematik der Randers-Ballade anknüpfen und auf diese Art einen textuellen Neuanfang ermöglichen, der „durch Distanzierung und Annäherung“ intertextuelle Bezüge für das Schreiben nutzt (vgl. Portmann 1996: 167 f.)- Indem sie dabei Wirkungsweisen von Gestaltungsmitteln erproben und reflektieren, setzen sich die Lernenden noch einmal ganz intensiv mit Form und Sprache der ausgewählten Ballade auseinander und erfahren, inwieweit Original und Paralleltext durch ihre inhaltliche, sprachliche und formale Gestaltung Spannung erzeugen, Dramatik inszenieren oder subjektive In‐ volviertheit anregen. Dadurch, dass die Lernenden selbst einen Text unter Bezugnahme auf eine literarische Textvorlage sowie auf Materialien zu einer aktuellen gesell‐ schaftlichen Problemlage (private Seenotrettung im Mittelmeer) verfassen, werden sie für die Möglichkeiten und Hürden intertextuellen Schreibens sensibilisiert. In diesem Sinne können für das vorgestellte Unterrichtsvor‐ haben teilweise dieselben Zielformulierungen gelten wie für das Material‐ gestützte Schreiben, so beispielsweise die „zielgerichtete […] Nutzung verschiedener Informationsquellen“ durch die Lernenden und die kreative, d. h. vom Ursprungstext gelöste Weiterverarbeitung der bereitgestellten Informationen für das eigene Schreibprodukt (vgl. Schütte 2017). Ergänzende Materialien für das Verfassen eines Paralleltextes bieten verschiedene Texte aus digitalen und analogen Medien (z. B. Themenhefte zu Flucht und Asyl von der Bundeszentrale für politische Bildung, Texte zu Ehrungen für Seenotretter und zivile Hilfsorganisationen, Grafiken zu aktuellen Zahlen zu Fluchtbewegungen über das Mittelmeer). Auch die deutsche Rock-Band Die Toten Hosen thematisiert in ihrem Lied „Europa“ 5.3 Schicksal, Selbstbestimmung und Bewährung 261 <?page no="262"?> (2012) die gefährliche Überfahrt über das Mittelmeer im Rahmen von Flucht‐ bewegungen nach Europa. Ähnlich wie die ausgewählte Ballade arbeitet auch der Songtext der Toten Hosen mit verschiedenen sprachlichen Bildern (z. B. „im Massengrab vom Mittelmeer“) und intertextuellen Bezügen („Und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie noch heute“), durch deren lexika‐ lische Veränderung am Ende des Liedes („Und wenn sie nicht gestorben sind, sterben sie noch heute“), die Tragik der aktuellen Flüchtlingssituation unterstrichen wird. Den Liedtext zum Song „Europa“ können Sie kostenlos unter: https: / / genius.com/ Die-toten-hosen-europa-lyrics abrufen. Das Transformieren von Textvorlagen ist ein wichtiges textproduktives Verfahren (Kap. 4.9), das in den letzten Jahren unter der Bezeichnung Krea‐ tives Schreiben in verschiedenen Abschlussprüfungen im Fach Deutsch Eingang gefunden war (vgl. Aufgabentyp: Gestaltendes Erschließen oder Gestaltende Interpretation literarischer Texte). Trotzdem ist das Verfassen für die Schüler: innen mit einigen Herausforderungen verbunden. Um den Aktualitätsbezug im Paralleltext herzustellen, müssen die Schüler: innen, ähnlich wie beim Materialgestützten Schreiben, in der Phase der Rezeption verschiedene Materialien zueinander in Beziehung setzen und die kohä‐ rente Einbindung der neuen Inhalte in die vorgegebene Textstruktur stetig reflektieren. Sie müssen zudem Entscheidungen über den Austausch der Handlungsträger (z. B. Nis vs. Kapitän einer zivilen Seenotrettung; Mutter vs. ‚Festung Europa‘), über die Einleitung von Ortswechseln (Nordsee vs. Mittelmeer) über die Zahl der zu Rettenden (einer vs. viele) usw. treffen. Vorgeschaltete Planungsgespräche zu diesen Fragen können in Klein‐ gruppen den Produktionsprozess im Vorfeld entlasten. Zusätzliche Entlas‐ tung bietet die Freiheit der Lernenden über die Entscheidung, wie eng sie sich an die äußere Form des Ausgangstextes halten wollen. Mit dem Ziel, die produktionsorientierten Arbeiten der Lernenden in ihrer Kreativität und Diversität zu würdigen und den Schreibenden einen klaren Kontext und Adressatenkreis vorzugeben, bietet es sich an, die ent‐ standenen Paralleltexte am Ende der Unterrichtsreihe in einer schuloffenen Ausstellung zum Thema Zivilcourage auf hoher See zu präsentieren. 262 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="263"?> 5.3.4 Die übernatürliche Macht der Poesie - „Die Kraniche des Ibykus“ von Friedrich Schiller Juliane Dube Thema: Vom einflussreichsten deutschsprachigen Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki 2009 zur schönsten Ballade sowie vom Schiller-Experten Norbert Oellers (2005) zur besten Ballade erkoren, zählt das 1797 verfasste Werk von Friedrich Schiller um Ibykus, den Götterfreund, heute zu den bekanntesten Texten. Obwohl zu Beginn noch Goethe die Fabel um den griechischen Dichter Ibykos (deutsch auch Ibykus), der auf seinem Weg zu den Isthmischen Spielen (antike Wettkämpfe) vor Korinth im 6. Jh. v. Chr. hinterrücks ermordet wurde, literarisch verarbeiten wollte, ist es letztlich Schiller, der nach mehrfachen Überarbeitungen in Folge des Briefwechsels mit seinem Freund Goethe die Ballade unter dem Titel „Die Kraniche des Ibykus“ vollendet. Dabei, so Segebrecht, hat vermutlich insbesondere die Aufklärung eines Mordes ausgerechnet in einem Theater Schiller für die Erzählung begeistert (vgl. 1983: 198). Denn hier, so Segebrecht weiter, „bot sich die einzigartige Gelegenheit, das Theater nicht nur als Spielort einer höheren Gerechtigkeit, sondern zugleich auch als Handlungsort der irdischen Gerichtsbarkeit darzustellen“ (ebd.). 1798 erscheint sie im Musenalmanach. Auch hier fesselt wieder die Dramaturgie der Ballade die Zuhörenden. Dabei sind es vor allem die Einbindung des Chors der Eumeniden sowie die Einfügung der Bühne als Richtplatz der Mörder, die vergegenwär‐ tigen, was in Schillers Vortrag „Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet“ (1784) immer nur als Idee vorhanden gewesen war (vgl. Segebrecht 1983: 200). Damit werden, ähnlich wie bereits in der Ballade „Der Handschuh“ (Kap. 5.1.4) oder „Die Bürgschaft“ (Kap. 5.1.5), Schillers Menschenbild und die Rolle deutlich, die er dem Theater bei der ästhetischen Erziehung des Menschen zugedacht hat. Intention: Ziel der Unterrichtsreihe ist es, die Lernenden für den historisch-philosophischen sowie literaturgeschichtlichen Kontext der Ballade zu sensibilisieren. 5.3 Schicksal, Selbstbestimmung und Bewährung 263 <?page no="264"?> Unterricht in der Sekundarstufe II: Hierzu erstellen die Lernenden mithilfe digitaler Medien so genannte Hypertexte. Durch diese Form der medialen Aufbereitung der literarischen Vorlage werden sie nicht nur zum textnahen Lesen angeregt, sondern auch dazu animiert, wei‐ terführende Informationen zur Ballade und zum Autor herauszusuchen. Dadurch soll ihnen die Bedeutung des ausgewählten Werkes auch unter historischer und philosophischer Perspektive deutlich werden. - Ausgewählte didaktische Analyse Vorgetragen von einer heterodiegetischen Erzählinstanz mit Nullfokalisie‐ rung erfahren die Hörer: innen in 23 regelmäßigen Strophen, die aus jeweils acht Versen mit regelmäßigen vierhebigen Jamben und bruchlos wieder‐ kehrendem Paar- und Kreuzreim (a-a-b-b-c-d-c-d) bestehen, in Schillers Ballade von der Ermordung des Sängers auf seiner Reise von Rhegium zum Isthmus von Korinth. In dem Moment, als Ibykus nach vergeblichen Mühen, die Angreifer abzuwehren, zu Boden sinkt, überfliegt jedoch ein Schwarm Kraniche die Szenerie. Diese bittet er mit dem letzten Atemzug, dafür zu sorgen, dass seine Mörder verraten werden. Als das Volk kurze Zeit später von der Ermordung des beliebten Sängers erfährt, fordert es Rache: Als Zufall soll es gelesen werden, so Schiller, dass die Mörder kurze Zeit später als Zuschauer des schaurigen Chors der Erinnyen, den Rachegöttinnen, bei‐ wohnen. Gekleidet in riesengroße, lange, schwarze Mäntel, mit knochigen Händen, blutleeren Wangen und Schlangen auf dem Kopf singen sie als „handelnde Götter“ (Segebrecht 1983: 196) von ihrer Aufgabe, Frevler bis in den Tod zu verfolgen. Gleichfalls zufällig erscheint über dieser Szenerie ein Schwarm Kraniche, der einen der noch vom Drohgesang der Erinnyen tief ergriffenen Mörder an seine letzte Tat, die Ermordung des Ibykus, erinnert. Die übernatürliche Macht der Poesie veranlasst ihn, seinem Mordgenossen Ibykus’ Namen zuzurufen, wodurch er die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zieht. Dieses glaubt nun, dass sich die vom Chor verkündete Rache des Verbre‐ chens bewahrheitet und vollzieht die Bestrafung noch auf dem Festplatz. Mit diesem Schluss ereignet sich die Theodizee vor allen Zuschauer: innen. „Das eigentliche Anliegens Schillers ist damit offenkundig: Der Chor - und pars pro toto - das Theater sollte auch in diesem Ibykus-Stoff seine 264 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="265"?> Sinngebung für die Erziehung des Menschengeschlechts erhalten“ (Loock 1963: 223). Die Poesie wird somit zur Übermacht, die das Verbrechen am Dichter Ibykus benennt und deren Bestrafung erzwingt (vgl. Oellers 2005: 375). Schillers Ballade eignet sich daher besonders für den fächerintegrativen Deutschunterricht. Die Kraniche des Ibykus (Friedrich Schiller) Zum Kampf der Wagen und Gesänge, Der auf Korinthus’ Landesenge Der Griechen Stämme froh vereint, Zog Ibykus, der Götterfreund. Ihm schenkte des Gesanges Gabe, Der Lieder süßen Mund Apoll, So wandert’ er, an leichtem Stabe, Aus Rhegium, des Gottes voll. Schon winkt auf hohem Bergesrücken Akrokorinth des Wandrers Blicken, Und in Poseidons Fichtenhain Tritt er mit frommem Schauder ein. Nichts regt sich um ihn her, nur Schwärme Von Kranichen begleiten ihn, Die fernhin nach des Südens Wärme In graulichtem Geschwader ziehn. „Seid mir gegrüßt, befreundte Scharen! Die mir zur See Begleiter waren, Zum guten Zeichen nehm ich euch, Mein Los, es ist dem euren gleich. Von fernher kommen wir gezogen Und flehen um ein wirtlich Dach. Sei uns der Gastliche gewogen, Der von dem Fremdling wehrt die Schmach! “ Und munter fördert er die Schritte Und sieht sich in des Waldes Mitte, Da sperren, auf gedrangem Steg, Zwei Mörder plötzlich seinen Weg. 5.3 Schicksal, Selbstbestimmung und Bewährung 265 <?page no="266"?> Zum Kampfe muß er sich bereiten, Doch bald ermattet sinkt die Hand, Sie hat der Leier zarte Saiten, Doch nie des Bogens Kraft gespannt. Er ruft die Menschen an, die Götter, Sein Flehen dringt zu keinem Retter, Wie weit er auch die Stimme schickt, Nicht Lebendes wird hier erblickt. „So muß ich hier verlassen sterben, Auf fremdem Boden, unbeweint, Durch böser Buben Hand verderben, Wo auch kein Rächer mir erscheint! “ Und schwer getroffen sinkt er nieder, Da rauscht der Kraniche Gefieder, Er hört, schon kann er nichts mehr sehn, Die nahen Stimmen furchtbar krähn. „Von euch, ihr Kraniche dort oben, Wenn keine andre Stimme spricht, Sei meines Mordes Klag erhoben! “ Er ruft es, und sein Auge bricht. Der nackte Leichnam wird gefunden, Und bald, obgleich entstellt von Wunden, Erkennt der Gastfreund in Korinth Die Züge, die ihm teuer sind. „Und muß ich dich so wiederfinden, Und hoffte mit der Fichte Kranz Des Sängers Schläfe zu umwinden, Bestrahlt von seines Ruhmes Glanz! “ Und jammernd hören’s alle Gäste, Versammelt bei Poseidons Feste, Ganz Griechenland ergreift der Schmerz, Verloren hat ihn jedes Herz. Und stürmend drängt sich zum Prytanen Das Volk, es fordert seine Wut, Zu rächen des Erschlagnen Manen, Zu sühnen mit des Mörders Blut. 266 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="267"?> Doch wo die Spur, die aus der Menge, Der Völker flutendem Gedränge, Gelocket von der Spiele Pracht, Den schwarzen Täter kenntlich macht? Sind’s Räuber, die ihn feig erschlagen? Tat’s neidisch ein verborgner Feind? Nur Helios vermag’s zu sagen, Der alles Irdische bescheint. Er geht vielleicht mit frechem Schritte Jetzt eben durch der Griechen Mitte, Und während ihn die Rache sucht, Genießt er seines Frevels Frucht. Auf ihres eignen Tempels Schwelle Trotzt er vielleicht den Göttern, mengt Sich dreist in jene Menschenwelle, Die dort sich zum Theater drängt. Denn Bank an Bank gedränget sitzen, Es brechen fast der Bühne Stützen, Herbeigeströmt von fern und nah, Der Griechen Völker wartend da, Dumpfbrausend wie des Meeres Wogen; Von Menschen wimmelnd, wächst der Bau In weiter stets geschweiftem Bogen Hinauf bis in des Himmels Blau. Wer zählt die Völker, nennt die Namen, Die gastlich hier zusammenkamen? Von Theseus’ Stadt, von Aulis’ Strand, Von Phokis, vom Spartanerland, Von Asiens entlegener Küste, Von allen Inseln kamen sie Und horchen von dem Schaugerüste Des Chores grauser Melodie, Der streng und ernst, nach alter Sitte, Mit langsam abgemeßnem Schritte, Hervortritt aus dem Hintergrund, Umwandelnd des Theaters Rund. 5.3 Schicksal, Selbstbestimmung und Bewährung 267 <?page no="268"?> So schreiten keine irdschen Weiber, Die zeugete kein sterblich Haus! Es steigt das Riesenmaß der Leiber Hoch über menschliches hinaus. Ein schwarzer Mantel schlägt die Lenden, Sie schwingen in entfleischten Händen Der Fackel düsterrote Glut, In ihren Wangen fließt kein Blut. Und wo die Haare lieblich flattern, Um Menschenstirnen freundlich wehn, Da sieht man Schlangen hier und Nattern Die giftgeschwollenen Bäuche blähn. Und schauerlich gedreht im Kreise Beginnen sie des Hymnus Weise, Der durch das Herz zerreißend dringt, Die Bande um den Sünder schlingt. Besinnungsraubend, herzbetörend Schallt der Errinyen Gesang, Er schallt, des Hörers Mark verzehrend, Und duldet nicht der Leier Klang: Wohl dem, der frei von Schuld und Fehle Bewahrt die kindlich reine Seele! Ihm dürfen wir nicht rächend nahn, Er wandelt frei des Lebens Bahn. Doch wehe, wehe, wer verstohlen Des Mordes schwere Tat vollbracht, Wir heften uns an seine Sohlen, Das furchtbare Geschlecht der Nacht! Und glaubt er fliehend zu entspringen, Geflügelt sind wir da, die Schlingen Ihm werfend um den flüchtgen Fuß, Daß er zu Boden fallen muß. So jagen wir ihn, ohn Ermatten, Versöhnen kann uns keine Reu, Ihn fort und fort bis zu den Schatten Und geben ihn auch dort nicht frei. 268 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="269"?> So singend, tanzen sie den Reigen, Und Stille wie des Todes Schweigen Liegt überm ganzen Hause schwer, Als ob die Gottheit nahe wär. Und feierlich, nach alter Sitte Umwandelnd des Theaters Rund Mit langsam abgemeßnem Schritte, Verschwinden sie im Hintergrund. Und zwischen Trug und Wahrheit schwebet Noch zweifelnd jede Brust und bebet Und huldigt der furchtbarn Macht, Die richtend im Verborgnen wacht, Die unerforschlich, unergründet Des Schicksals dunklen Knäuel flicht, Dem tiefen Herzen sich verkündet, Doch fliehet vor dem Sonnenlicht. Da hört man auf den höchsten Stufen Auf einmal eine Stimme rufen: „Sieh da! Sieh da, Timotheus, Die Kraniche des Ibykus! “ - Und finster plötzlich wird der Himmel, Und über dem Theater hin Sieht man in schwärzlichtem Gewimmel Ein Kranichheer vorüberziehn. „Des Ibykus! “ - Der teure Name Rührt jede Brust mit neuem Grame, Und, wie im Meere Well auf Well, So läuft’s von Mund zu Munde schnell: „Des Ibykus, den wir beweinen, Den eine Mörderhand erschlug! Was ist’s mit dem? Was kann er meinen? Was ist’s mit diesem Kranichzug? “ - Und lauter immer wird die Frage, Und ahnend fliegt’s mit Blitzesschlage Durch alle Herzen. „Gebet acht! Das ist der Eumeniden Macht! 5.3 Schicksal, Selbstbestimmung und Bewährung 269 <?page no="270"?> Der fromme Dichter wird gerochen, Der Mörder bietet selbst sich dar! Ergreift ihn, der das Wort gesprochen, Und ihn, an den’s gerichtet war.“ Doch dem war kaum das Wort entfahren, Möcht er’s im Busen gern bewahren; Umsonst, der schreckenbleiche Mund Macht schnell die Schuldbewußten kund. Man reißt und schleppt sie vor den Richter, Die Szene wird zum Tribunal, Und es gestehn die Bösewichter, Getroffen von der Rache Strahl. (S C H I L L E R , Friedrich (Hrsg.) (1798). Musen-Almanach für das Jahr 1798. Tübingen: J. G. Cotta, 267-277) - Vorschlag zur didaktischen Umsetzung Folgende Bezüge zu den Kompetenzen werden besonders berücksichtigt: Die Schüler: innen-… ▸ entnehmen unterschiedlichen Textquellen zielgerichtet Informationen zur Ballade „Die Kraniche des Ibykus“. ▸ ordnen, vergleichen, prüfen und ergänzen diese während sie die Ballade in einen Hypertext umschreiben. ▸ nutzen digitale Medien zur Präsentation ihrer Texte. ▸ diskutieren und reflektieren die Wirkungsweisen ihrer im Hypertext verwendeten medialen Strukturen und Gestaltungsmittel. Die Präsenz neuer Medien auf der einen und ihre rasante Entwicklung auf der anderen Seite stellen große Herausforderungen an alle Lernen‐ den und Lehrenden. Ihre Potenziale für die Kompetenzvermittlung im Deutschunterricht, aber auch ihre Hürden, gilt es daher stetig gemeinsam zu diskutieren. Als Gegenstand eines solch reflektierten Lernarrangements mit neuen Medien bieten sich literarische Texte an, die sich - wie im vorliegenden Beispiel - durch eine hohe sprachliche Komplexität sowie eine starke historische Kontextualisierung auszeichnen. Im Rahmen der eigenständigen 270 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="271"?> 10 „Friedrich Schiller ‚Die Kraniche des Ibykus‘ - Text, Inhaltsangabe, Interpreta‐ tion“. Friedrich Schiller Archiv (online). Online unter: https: / / www.friedrich-schiller -archiv.de/ inhaltsangaben/ kraniche-des-ibykus-text-zusammenfassung-interpretation / (11.02.2019) Erstellung von so genannten Hypertexten können auf die Kompetenz der Lerngruppe abgestimmte, verstehensunterstützende Worterklärungen 10 , aber auch verstehensstützende kontextuelle historische und gesellschaftli‐ che Informationen im zu behandelnden Text ergänzt werden. Auf der Internetseite zum Schillerarchiv finden sich zahlreiche Infor‐ mationen zur Ballade: https: / / www.friedrich-schiller-archiv.de/ inhalts angaben/ kraniche-des-ibykus-text-zusammenfassung-interpretation/ . Hypertexte bestehen aus einzelnen Textfragmenten und Bildern, die durch Knotenpunkte (Links) zu einem netzartigen Gebilde verknüpft sind. Die einzelnen Dokumente sind so gestaltet, dass sie für sich alleine stehen können. Die Leser: innen können dadurch die Abfolge und Anordnung der gewünschten Textteile selbst wählen. Hypertexte wurden entwickelt, um umfangreiche Informationen zu organisieren, zum Beispiel im Internet. Abb. 5.11: Hypertextstrukturen Analog zu zahlreichen Videotools zum Erstellen eigener Filme finden sich auch Lernvideos und Programme zum Erstellen von Hypertexten im Inter‐ net. Wildemann und Vach (2015) betonen, dass schon Grundschüler: innen nach einer gemeinsamen Einführung Baumstrukturen mit drei hierarchi‐ schen Ebenen anlegen könnten (vgl. Wildemann/ Vach 2015). 5.3 Schicksal, Selbstbestimmung und Bewährung 271 <?page no="272"?> Zur Erstellung von Hypertexten bietet sich das Programm MindView an, zu dem auch Schullizenzen erworben werden können. Als umfang‐ reiches, visuelles Lernwerkzeug bietet es eine Vielzahl von Möglich‐ keiten, komplexe Sachverhalte verständlich darzustellen. Die erstellten Projekte können nach der Bearbeitung in verschiedene Formate expor‐ tiert werden (Word, PowerPoint, Excel, etc.). Als kostenlose Alternative wird im Unterrichtsbeispiel auf die MS-Software Publisher und das Mac-Programm TextEdit verwiesen. Im vorgestellten Unterrichtsarrangement setzen sich die Schüler: innen folglich nicht nur analytisch mit der Ballade auseinander, sondern erweitern auch ihre bereits vorhandenen medialen Kompetenzen. Diese umfassen nach den Ausführungen von Baacke (1997) nicht nur medienkundliches und medienkri‐ tisches Wissen sowie die reflektierte Nutzung medialer Angebote, sondern auch die Eigenproduktion derselben, um die Wirkungsweisen medialer Struk‐ turen und Gestaltungsmittel besonders intensiv zu erfahren. Schüler: innen erwerben somit ein Verständnis dafür, wie Medienangebote aufgebaut sind, und auch, wie Informationen in Hypertexten dargeboten werden. Bevor die Schüler: innen jedoch mit dem Erstellen von Hypertexten zur Ballade beginnen, empfiehlt es sich, die Ballade mit der Lerngruppe zunächst anzuhören. Aufgrund ihrer Popularität finden sich inzwischen zahlreiche Hörfassungen im Netz. Neben der kostenfrei abrufbaren Vertonung von Wolfgang Gerber unter: https: / / www.vorleser.net/ schiller_ibykus/ hoerbuch.html empfiehlt sich auch die kostenpflichtige Version von Karl Heinz Gabor (2017), die z. B. bei gängigen Streamingdiensten leicht und schnell zu erwerben ist. Nach dem ersten Hören sollen die Lernenden anschließend den Text noch einmal leise für sich lesen, Unverstandenes markieren und gemeinsam im Plenum den Aufbau der Ballade beschreiben und ein erstes Textverständnis zur Ballade entwickeln. Mögliche Leitfragen der Lehrperson zur Steuerung des Gesprächs lauten: ▸ Wohin war Ibykus unterwegs und was passierte ihm auf dem Weg? ▸ Welche Bedeutung besitzen die Kraniche in der Ballade? ▸ Was ist der Chor der Eumeniden und welche Aufgabe hat er? 272 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="273"?> ▸ Welches Verständnis von Gerechtigkeit und Sühne wird in der Ballade deutlich? Und welche Rolle spielt die Poesie? ▸ … Insbesondere die beiden letzten Fragen können vermutlich in einem ersten Gespräch zur Ballade nur unzureichend beantwortet werden. Folglich bilden sie den Übergang zum Umschreiben der Ballade in einen Hypertext, indem mithilfe unterschiedlicher Medienquellen weitere Informationen zur Ballade zusammengetragen werden sollen. Hierzu wird die Klasse in Kleingruppen eingeteilt (max. 6 SuS). Ausgestattet mit einem Großdruck der Ballade (möglichst A2) werden die Lerngruppen angewiesen, gemeinsam zu überlegen, welche Textstellen schwierig zu er‐ schließen sind, sodass sie der Verlinkung mit zusätzlichen Informationen be‐ dürfen. Anschließend werden diese Stellen markiert und mithilfe des Internets weiterführende Informationen gesammelt. Die mediale Vielfalt nutzend, kann hierfür bewusst auch die textuellen Ebene geöffnet werden, indem z.-B. Bilder gesammelt werden, welche die Vorstellungsbildung zur Gestalt der Furien mit ihren Schlangenhaaren unterstützen. Die recherchierten Texte bzw. Textstellen und Bilder können in einem Miro-Board digital gesammelt (www.miro.com) oder jeweils im A6-Format ausgedruckt und mit farbigen Schnüren am Haupttext befestigt werden, um die Netzstruktur eines möglichen Hypertextes zur ausgewählten Ballade zu visualisieren (vgl. Unterrichtshilfe „Hypertexte planen“). In einem reflek‐ tierenden Zwischenschritt sollten die Lernenden vor dem Übertrag ins On‐ line-Format die Möglichkeit erhalten, ihre Netzstrukturen den anderen Gruppen vorzustellen. Im Austausch können noch offene Fragen und Un‐ verständlichkeiten geklärt werden. Sind alle Fragen und Schwierigkeiten zum Erstellen der Netzstruktur ge‐ klärt, erhalten die Lernenden Zugang z. B. zum Microsoftprogramm Publis‐ her oder zum Mac-Programm TextEdit, um die Ballade und ihre ergänzende Netzstruktur Schritt für Schritt in einen Hypertext zu übertragen (vgl. hierzu die Schritte in der Unterrichtshilfe „Einen Hypertext erstellen“). Sind die Offline-Texte in Online-Texte übertragen, können insbesondere im Rahmen eines fächerintegrativen Unterrichts auch weitere Ebenen einge‐ fügt werden, denen in den nächsten Schritten noch Bedienungsfunktionen zuzuordnen sind. In Gruppenarbeitsphasen könnten folglich Themenbe‐ reiche auf der Startseite zu Schillers literarischem und philosophischem Wirken ergänzt werden, die sowohl mit entsprechenden Sachtexten als 5.3 Schicksal, Selbstbestimmung und Bewährung 273 <?page no="274"?> auch Primärtexten verlinkt sind. Hierdurch können die Lernenden nicht nur leichter intertextuelle Bezüge herstellen, sondern auch die enge Verbindung im literarisch-philosophischen Wirken Schillers besser nachvollziehen. Haben alle Gruppen die Erstellung ihrer Hypertexte erfolgreich beendet, erhalten die Gruppen jeweils zwei Minuten, um ihre Seite den anderen vorzustellen. Anschließend können die Zuhörenden die Hypertexte selbst entdecken (ca. 5-10 Min. pro Gruppe). Die Gruppenmitglieder des präsen‐ tierten Hypertextes stehen währenddessen als Ansprechpartner: innen zur Verfügung. Am Ende der Unterrichtsreihe wird die Ballade noch einmal als A2-Blatt in die Mitte des Raumes gelegt. Anschließend werden die Lernenden gebeten, sich in dem Abstand zum „Thema“ aufzustellen, der ihre Haltung bzw. ihre Einstellung oder ihr Textverständnis zu Beginn der Unterrichtsreihe sichtbar werden lässt. Je nach Größe der Gruppe können auch kurze Erklärungen von den Schüler: innen zu ihrer Position eingefordert werden. In einem zweiten Schritt sollen die Lernenden ihre Position so verändern, dass sie ihre Haltung/ ihre Einstellung oder ihr Textverständnis zum Ende der Unterrichtsreihe wiederspiegelt. Veränderungen der Positionen werden von der Lehrperson z.-B. mit folgenden Fragen aufgegriffen: ▸ Wie hat sich durch die mediale Umsetzung der Ballade Ihre Haltung/ Ihre Einstellung oder Ihr Textverständnis verändert? ▸ Was hat Ihrer Meinung nach dazu beigetragen? 5.4 Geschichte, Gesellschafts- und Sozialkritik 5.4.1 Dominium terrae - „Der kleine Vogelfänger“ von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben Juliane Dube Thema: Die Lieder von August Heinrich von Fallersleben sind sowohl vielen Kindern als auch Erwachsenen bekannt. Lernt doch fast jeder Heranwachsende eines seiner zahlreichen Kinderlieder wie z. B. „Ein Männlein steht im Walde“, „Alle Vögel sind schon da“, „Der Frühling hat sich eingestellt“, „Der Kuckuck und der Esel“, „Morgen kommt der 274 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="275"?> Weihnachtsmann“. Später ist es dann vor allem die dritte Strophe des 1841 geschriebenen Werkes „Lied der Deutschen“, welche heute als deutsche Nationalhymne gesungen wird, die uns das Leben und Wirken des Ger‐ manisten und Schriftstellers von Fallersleben wieder in Erinnerung ruft. Das Leben Fallerslebens ist vor allem geprägt durch seine öffentliche Kritik an den politischen und gesellschaftlichen Zuständen seiner Zeit, in deren Folge er 1843 des Landes verwiesen wird. Seine kritischen Äußerungen finden sich jedoch nicht nur in Beiträgen für erwachsene Leser: innen wieder, sondern auch in einigen Kindergedichten wie z. B. im Werk „Der kleine Vogelfänger“. Intention: Fallersleben gesellschaftskritische Ballade aus dem Jahre 1843 spricht mit dem Machtverhältnis zwischen Mensch und Tier eine Thematik an, die bis heute nicht an Aktualität verloren hat. Durch die Kombination von analytisch-deutenden und produktionsorientierten Verfahren arbeiten die Lernenden die Stellung zwischen Mensch und Tier in der Ballade heraus und setzen sich anschließend vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen kritisch mit dieser auseinander. Unterricht in der Orientierungsstufe (4.-6. Schuljahr): Im Rahmen eines Vorlesegesprächs äußern die Lernenden zunächst erste Eindrücke zum Titel und zum möglichen Verlauf der Ballade, nehmen wechselnde Figurenpositionen ein und reflektieren diese. Nachdem erste Deutungen zum Text ausgetauscht sind, erhalten die Schüler: innen den Auftrag, den Text typografisch zu interpretieren. Im Rahmen eines binnendiffe‐ renzierenden Deutschunterrichts werden zudem digitale Inszenierungs‐ möglichkeiten besprochen, die ebenfalls in eine abschließende Präsen‐ tationsrunde einfließen können. - Ausgewählte didaktische Analyse Während wohl viele bewusst oder unbewusst zumindest eines von Fallers‐ lebens 550 Kinderliedern schon einmal gesungen hat, wissen die wenigsten etwas über das Leben des Verfassers, der 1798 im kleinen Ort Fallersleben bei Wolfsburg geboren wurde und bereits im jugendlichen Alter erste Gedichte schrieb. Wesentlich beeinflusst durch ein Zusammentreffen mit Jacob Grimm, widmet sich von Fallersleben mit großem Interesse der Sprache und Literatur, u. a. auch in seinem Studium. Spätere universitäre 5.4 Geschichte, Gesellschafts- und Sozialkritik 275 <?page no="276"?> Arbeiten tragen nicht nur wesentlich zur Etablierung einer deutschen Philologie, sondern auch der niederländischen bei, als deren Begründer er gilt. Schlagartig ist es jedoch mit seiner universitären Karriere vorbei, als der „Wolf Biermann des 19. Jahrhunderts“ (www.von-fallersleben.de, S. 169) 1840 seine Gedichtsammlung Unpolitische Lieder veröffentlicht, in der er Kritik an den politischen und gesellschaftlichen Zuständen in Deutschland übt. Die preußische Regierung verbietet den Gedichtband des Vormärzlyri‐ kers, enthebt ihn pensionslos seiner Professur und entzieht ihm 1843 sogar die preußische Staatsbürgerschaft. Was folgt, sind Jahre voller Unruhe in verschiedenen Kleinstaaten, die ihn immer wieder ausweisen. Dank guter Freundschaften findet er jedoch stets irgendwo Unterschlupf und damit Zeit, um sich schreibend mit den politischen und gesellschaftlichen Umständen seiner Zeit zu beschäftigen. Fast zehn Jahre verbringt von Fallersleben im Exil, bis ihn der preußi‐ sche Staat wiederaufnimmt. Statt sich den Aktivitäten im Zusammenhang mit der Märzrevolution von 1848 anzuschließen, widmet er sich jedoch in den folgenden Jahren seinen Sprachstudien und seiner Autobiografie, die, als sie fertig gestellt ist, sechs Bände umfasst. Heute erinnern ne‐ ben zahlreichen Kinderliedern auch Schulen und Straßen an einen der berühmtesten deutschen Dichter, der sich - und dies soll hier nicht vergessen werden - in seinen Texten teilweise auch stark nationalistisch und antisemitisch äußerte. Die vorliegende Ballade „Der kleine Vogelfänger“, die 1857 von Karl Gottfried Wilhelm Taubert vertont wird, entsteht in jenen zuvor beschrie‐ benen unruhigen Zeiten. Im Mittelpunkt der fünfstrophigen, überwiegend im heterogenen Kreuzreim (a-b-a-c) verfassten Ballade steht ein Junge, der sich eigens zu seiner Unterhaltung einen Vogel fängt. Der Vogel, der sich diesem ihm zugedachten Schicksal nicht fügen möchte, versucht, den Jungen zu überreden, ihn wieder freizulassen. Der Junge lässt sich von dem Verweis des Vogels auf seine Unschuld jedoch nicht beeindrucken. Vielmehr stellt er in einer gottgleichen Position klar, dass der Vogel als Tier ihm als Menschen grundsätzlich untergeben ist. Die Widerrede und der Protest des Vogels werden mit dem Verweis: „Schweig’ still, schweig’ still! sonst brat’ ich dich / Und werde dich verspeisen! “ abgewürgt. Als der Junge jedoch kurze Zeit später in Eile aus dem Zimmer rennt, stürzt er die Treppe hinunter. Anstatt Hilfe zu holen, fliegt der Vogel allerdings still davon und stellt damit die Frage nach dem Machtverhältnis zwischen Mensch und Tier noch einmal neu. Formal wird dieser Wendepunkt der Ballade durch einen Wechsel 276 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="277"?> der Strophen- und Reimstruktur, vierstatt fünfversig und klassischem statt heterogenem Kreuzreim unterstützt. Die damit hergestellte Symmetrie unterstreicht die Wiederherstellung der eigentlichen Ordnung. Der kleine Vogelfänger (August Heinrich Hoffmann von Fallersleben) Wart’, Vöglein, wart’! Jetzt bist du mein, Jetzt hab’ ich dich gefangen, In einem Käfig sollst du jetzt An meinem Fenster hangen! „Ach, lieber Bube, sag’ mir doch, Was hab’ ich denn begangen, Daß du mich armes Vögelein, Daß du mich hast gefangen? “ - Ich bin der Herr, du bist der Knecht: Die Thiere, die da leben, Die sind dem Menschen allzumal Und mir auch untergeben. „Das, lieber Bube, glaub’ ich nicht, Das sollst du mir beweisen! “ - Schweig’ still, schweig’ still! sonst brat’ ich dich Und werde dich verspeisen! - Der Knabe rannte schnell nach Haus, Da fiel er von der Stiegen. Das Vöglein flog zum Haus hinaus Und ließ das Büblein liegen. ( V O N F A L L E R S L E B E N , August H. H. (Hrsg.) (1843). Fünfzig Kinderlieder. Leipzig: Mayer und Wigand, 311) - Vorschlag zur didaktischen Umsetzung Folgende Bezüge zu den Kompetenzen werden besonders berücksichtigt: Die Schüler: innen-… 5.4 Geschichte, Gesellschafts- und Sozialkritik 277 <?page no="278"?> ▸ sammeln Eindrücke und erste Ideen zum Titel und zum Inhalt der Ballade. ▸ setzen sich auf inhaltlicher und sprachlicher Ebene mit dem in der Ballade thematisierten Herrschaftsverhältnis zwischen Mensch und Tier intensiv auseinander, indem sie den Balladentext typografisch interpretieren. ▸ präsentieren ihre typografischen bzw. multimedialen Interpretationen. ▸ diskutieren das Verhältnis zwischen Menschen und Tier vor dem Hin‐ tergrund aktueller Entwicklungen. Zum Einstieg in die Unterrichtsreihe präsentiert die Lehrperson die Ballade im Rahmen eines Vorlesegesprächs (Kap. 4.2). Ausgerichtet auf die Dia‐ logizität von größeren Gruppen regt die Lehrperson die Lernenden dabei mit Impulsfragen immer wieder an, während des Balladenvortrags Gefühle und Eindrücke zu äußern. Weitere gesellschaftskritische Balladen für ältere Lernende finden sich im Balladenband des Slam-Poeten und Lehrers Alex Simm. Im Band Vom einsamen Emoeinhorn Erna, das wie alle sein wollte, der 2018 im Satyr-Verlag erschienen ist, thematisiert er gesellschaftli‐ che Fehlentwicklungen wie Fremdenhass, Schönheitsideale, Ernäh‐ rungsverhalten und Medienkonsum. Balladen zur Tierethik haben ebenfalls Eingang in den Band gefunden. Videos und Audioaufnah‐ men der Balladen finden sich auf der Homepage des Künstlers (http s: / / www.alexsimm.de/ balladen/ ). Hierzu wird die Präsentation der Ballade bereits nach der Titelnennung unterbrochen. Den Schüler: innen wird dadurch die Möglichkeit gegeben, sich sowohl zu Erwartungen an den Text als auch zu ähnlichen Situationen - Das Fangen von Tieren - auszutauschen (Impulstyp: Aktivierung eigener Erfahrungen). ▸ Welche Vögel werden häufig gefangen und wozu sollen sie dem Men‐ schen dienen? ▸ Wie werden die Vögel gehalten? Was bedeutet dies für sie? ▸ Warum heißt es im Titel der ,kleine‘ Vogelfänger? ▸ Hast du auch schon einmal ein Tier gefangen, wenn ja warum? 278 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="279"?> Im Anschluss an dieses erste freie Gespräch trägt die Lehrperson die Ballade nur bis zur zweiten Strophe laut vor, bevor sie die Lernenden einlädt, Vermutungen über den Fortgang der Ballade zu äußern (Impulstyp: Entwickeln von Antizipation). Anschließend werden auch die übrigen Strophen vorgetragen. Auf der Suche nach Zufällen im literarischen Text (vgl. Gailberger 2022) sollen die Lernenden danach im Wechselspiel mit der Lehrperson die Thematik der Ballade erarbeiten. (Impulstyp: Perspekti‐ venübernahme und Reflexion von Figurengestaltung und Symbolik sowie Herstellung von deutenden Bezügen im Text). ▸ Warum fängt sich der Junge einen Vogel? ▸ Warum hält er ihn in einem Käfig? ▸ Warum widerspricht der Vogel dem Jungen so selbstbewusst? ▸ Wo und warum stürzt der Junge am Ende der Ballade? ▸ Warum fliegt der Vogel weg, anstatt Hilfe zu holen? ▸ Wie steht ihr dazu, dass der Junge meint, die Tiere seien den Menschen untergeben? Da analytische und produktionsorientierte Methoden nicht unversöhnlich nebeneinanderstehen sollen, sondern stets in Verbindung miteinander, er‐ halten die Lernenden anschließend die Aufgabe, den Text typografisch zu gestalten. Ziel dieser Aufgabe ist es, dass die Lernenden einerseits die Dramatik der Situation und andererseits die Umkehr des geschilderten Machtverhältnisses besser begreifen. Zur erfolgreichen Bewältigung dieses produktionsorientierten Auftrags müssen die Schüler: innen die Ballade intensiv lesen. Wenngleich die Explizitheit der Bezüge zwischen den Sätzen den Text leicht zugänglich erscheinen lässt, unterstützt die typografische Bearbeitung des Textes die Herausarbeitung des Herrschaftsverhältnisses zwischen Mensch und Tier. In Vorbereitung auf die typografische Gestaltung des Textes sollte im Vorlesegespräch sowohl ein Austausch zu den vielen besitzanzeigenden Possesivpronomen als auch zu den herrschaftsdefinierenden Verben („ge‐ fangen“, „untergeben“) und Nomen („Knecht“, und „Herr“) stattfinden. Im Anschluss an das Vorlesegespräch zur Ballade erhalten die Lernenden eine Einführung in die Vielfalt typografischer Gestaltungsmöglichkeiten (Abb. 5.11). Diese können mithilfe des Smartboards und einfacher Textver‐ arbeitungsprogramme wie word oder pages zum Beispiel anhand der ersten Strophen besprochen werden. 5.4 Geschichte, Gesellschafts- und Sozialkritik 279 <?page no="280"?> Abb. 5.12: Beispiel für typographische Gestaltung der erste Strophe aus „Der kleine Vogelfänger“ Durch die Arbeit mit dem Smartboard können die Lernenden die Änderun‐ gen der typografischen Gestalt unmittelbar nachvollziehen und über die Wirkung unterschiedlicher Schriftarten, Größen und Farben diskutieren. Ergänzend kann auch auf die typografische Anordnung der Verse und Strophen eingegangen werden, indem der Wort- und Zeilenabstand verän‐ dert, Absätze einfügt oder die Position des Textes variiert wird. Ist die technische Ausstattung zur typografischen Gestaltung der Bal‐ lade nicht gegeben, kann auch auf verschiedene Malutensilien z. B. Buntstifte, Tusche etc. zurückgegriffen werden. Anschließend kann die Lerngruppe je nach Klasse und technischer Ausstat‐ tung in unterschiedliche Sozialformen eingeteilt werden. Mindestens sollten jedoch zwei Kinder zusammenarbeiten, um sich sowohl zu den inhaltlichen als auch sprachlichen Besonderheiten des Textes sowie ihrer typografischen Überarbeitung austauschen zu können. Analog zum gestaltenden Gedichtvortrag oder der musikalischen Unter‐ malung eines Textes führt auch die typografische und visuelle Gestaltung zur Einschränkung der Mehrdeutigkeit eines Textes. Folglich gibt es insbe‐ sondere im Zusammenhang mit dem Einsatz von handlungs- und produk‐ tionsorientierten Methoden den Vorwurf, dass literarische Texte bei einer „Übermethodisierung“ (Kreft 2004: 131) nicht mehr für sich sprechen und das Entstehen von eigenen Vorstellungsbildern beim Leser bzw. bei der Leserin eingeschränken). Inzwischen ist jedoch klar, dass Visualisierungen, egal in welcher Form, den Deutungsspielraum nicht zwingend einengen müssen, sondern gerade in der kreativen Textarbeit ein „wunderbares Spielfeld mit 280 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="281"?> unerschöpflichen Möglichkeiten“ bieten, dessen strenge Regeln jedoch „im Bedeutungsgehalt der lyrischen und der bildlichen Form festgeschrieben sind“ (ebd.: 38). Unabdingbar erscheint es folglich, die Lernenden dazu anzuleiten, die Schritte der Visualisierungen bewusst zu hinterfragen bzw. die Auswahl der Darstellungsformen von ihnen erläutern und begründen zu lassen. Im Rahmen eines binnendifferenzierenden Deutschunterrichts können sich einzelne Lerngruppen ergänzend mit der Inszenierung ihrer typografisch und visuell aufgearbeiteten Ballade mithilfe von Präsentationsprogrammen wie powerpoint oder keynote auseinandersetzen. Durch das zeitversetzte Einflie‐ gen, Einschweben oder Eindrehen von Textteilen aus unterschiedlichen Ecken der Folien kann die Dramatik der Ballade noch einmal verstärkt werden. Den Abschluss der analytisch-produktionsorientierten Textarbeit bildet die Präsentation der Texte, in der die Lernenden ihre Überlegungen entlang der typografischen Veränderungen und damit auch ihren Interpre‐ tationsprozess im Sinne eines Metatextes offenlegen. Als Ende der Reihe bietet es sich an, mit den Lernenden über das von Fallers‐ leben angesprochene Verhältnis zwischen Mensch und Natur zu diskutieren. Abb. 5.13: Ego vs. Eco (unbekannte Quelle) Hierzu kann das nebenstehende Bild als stummer Impuls eingeführt werden, auf dem sich ein ökologisches Weltbild, in dem alle Lebewesen gleicherma‐ ßen moralisch berücksichtigt werden, einem egoistischen Weltbild gegen‐ übersteht, bei dem der Mensch moralisch über allem steht. In der Diskussion sollten sowohl unterschiedliche Begründungen als auch die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Mensch und Tier thematisiert werden. So begründet sich die Herrschaftsstellung des Menschen nicht 5.4 Geschichte, Gesellschafts- und Sozialkritik 281 <?page no="282"?> nur im ersten Buch Moses: „Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehrt euch und füllt die Erde und macht sie euch untertan und herrscht über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht“, sondern auch mit der Sesshaftigkeit des Menschen, die vor ca. 11.000 Jahren dazu führt, dass Tiere domestiziert wurden. Inzwischen ist klar, dass die Domestizierung der Tiere zu weitgreifenden Veränderungen bei diesen führt. Durch die fehlende natürliche Selektion in der Obhut des Menschen verändern sich ihre Organe, ihr Knochenbau, und ihr Sozialverhalten. Gefleckte Tiere, die in freier Wildbahn sofort auffallen und von Raubtieren gefressen würden, leben nun weiter. Hunde müssen in der Obhut des Menschen nicht mehr so gut hören, sehen und riechen. Damit werden auch ihre Schädel kleiner. Über Tausende von Jahren hin gelingt es dem Menschen durch die Haltung der Tiere neue Arten - die Haustiere - zu schaffen. Etwa seit dem 19. Jahrhundert wächst die Einsicht, dass Tiere leiden kön‐ nen und man wendet sich zunehmend ab, von tierschädigenden Haltungen. Die bei Fallersleben beschriebene unangefochtene Machtposition: „Mensch oben, Tier unten“ beginnt zu verflachen. Dem Tier werden nun immer mehr Eigenschaften zugeschrieben, die auch der Mensch hat. Gleichzeitig gibt es weitere gesellschaftliche Veränderungen, die insbesondere in der Nachkriegszeit ab Mitte des 20. Jahrhunderts dazu führen, dass sich Massen‐ tierhaltungssysteme wie Legebatterien für Hühner und Intensivhaltungen für Schweine entwickeln, um den wachsenden Fleischbedarf zu stillen. Der Blick auf diese Entwicklung und die unterschiedlichen Bereiche, in denen wir heute auf Tiere treffen, zeigt, dass wir inzwischen ein ambivalen‐ tes Verhältnis zu Tieren aufgebaut haben. Auf der einen Seite werden Tiere, die in Lebensgemeinschaften mit Menschen leben, als Wesen mit eigener Persönlichkeit und Gefühlen anerkannt. Sie erhalten einen Namen, gutes Essen, einen eigenen Schlafplatz und eine gute Gesundheitsvorsorge. Vereinzelt liest man zudem von Hundefriseuren, Tiermassagen, Tierbeklei‐ dungsgeschäften, Tierhotels und Tierfriedhöfen. Käfigvögel werden kaum noch nachgefragt. Viel eher geht es darum, den Haustieren möglichst viel Selbstbestimmung zu überlassen. Auf der anderen Seite werden Tiere in der Landwirtschaft und naturwissenschaftlichen Forschung in ihrer Bewe‐ gungsfreiheit eingeschränkt, die Brutpflege unterbrochen, der Tag-Nacht- Rhythmus gestört, Körperteile wie Schnäbel und Schwänze teilweise ohne Betäubung entfernt. Diese Nutztiere sind organischer Rohstoff. 282 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="283"?> 5.4.2 Wenn Frauen töten - „Ein modernes Weib“ von Maria Janitschek Juliane Dube Thema: Heute wird jede vierte Frau in Deutschland in ihrem Leben mindestens einmal Opfer von körperlicher oder sexualisierter Gewalt, meist durch ihren aktuellen oder früheren Partner. Bei Mädchen und Frauen mit Behinderung liegt die Zahl sogar doppelt so hoch. Täglich gibt es einen polizeilich registrierten Tötungsversuch an einer Frau in Deutschland. Allein im Jahr 2021 haben 109 Frauen mit und ohne Behinderung diese Angriffe, so genannte Femizide, in Deutschland nicht überlebt (vgl. Bundeskrimnalamt 2021: 5). 45.000 Frauen waren es laut United Nations Office on Drugs and Crime (UNODC) im Jahr 2021 weltweit (vgl. UNODC 2022: 3). Dass die Dunkelzimmer deutlich über den bekannten Zahlen liegt, darüber sind sich alle Expert: innen einig. Wendet man den Blick zeigt sich, dass 2021 auch 12 Männer in Folge partnerschaftlicher Gewalt gestorben sind (vgl. Bundeskrimnalamt 2021: 5). Trotz der inzwischen gestiegenen gesellschaftlichen und medialen Präsenz dieser erschreckenden Zahlen sowie einer Reihe gesetzlicher Änderungen, die u. a. auch dazu führten, dass seit 1997 Vergewaltigung in der Ehe als Verbrechen einstuft wird, haben sich die Zahlen zu Tötungsdelikten in der Partnerschaft seit ihrer erstmaligen Erfassung 2015 kaum verändert. Eng verbunden mit diesen Zahlen, unabhängig vom Geschlecht, ist stets die Frage, was einen Menschen antreibt, wenn er oder sie sich entschließt, jemanden zu töten. Einen literarisch inszenierten Einblick in einen solchen Gewaltakt einer Täterin beschreibt Maria Janitschek in ihrer Ballade „Ein modernes Weib“. Die Ballade sorgte bereits zu ihrer Entstehungszeit für intensive Diskussionen. Intention: Mit Blick auf Janitscheks Person und Gesamtwerk eignet sich die exemplarische Thematisierung der Ballade einerseits dazu, um über Schriftstellerinnen und die Rahmenbedingungen ihrer Publikati‐ onspraxis ins Gespräch zu kommen und dabei ggf. auch eine Antwort auf die Frage zu finden, warum Literatur von Frauen in Anthologien und Schulbüchern so selten vorkommt. Andererseits bietet der Text auch eine Vielzahl sprachlich-literarischer Besonderheiten. Diese sollen im 5.4 Geschichte, Gesellschafts- und Sozialkritik 283 <?page no="284"?> Zuge der Erstellung einer Video-Collage zur Ballade in einem medien‐ integrativen Deutschunterricht herausgearbeitet werden (vgl. Unter‐ richtshilfe „Eine Video-Collage zur Ballade vorbereiten“), bevor eine Diskussion zur Legitimation bzw. dem Verbot von Selbstjustiz geführt werden kann. Unterricht im 7. und 8. Schuljahr: Im Unterrichtsvorschlag geht es darum, die Schüler: innen am Beispiel von Maria Janitschek, die ihre journalistischen Texte zunächst unter dem Pseudonym Marius Stein veröffentlichte, für die Bedingungen zu sensibilisieren, unter denen Frauen vor ca. 150 Jahren publiziert haben. Anschließend befassen sich die Lernenden in Kleingruppen mit der ausgewählten Ballade, indem sie Video-Collagen zu dieser erstellen. Im Aushandlungsprozess der Gestaltung des Skripts und des Videos müssen Verstehensprodukte expliziert und am Text begründet werden, sodass die Lernenden über das produktionsorientierte Setting zur textnahen Lektüre angeregt werden. - Ausgewählte didaktische Analyse Bis in die 1970er-Jahre hinein war die Geschichte schreibender Frauen kaum erforscht, sodass von einer geschlechtsneutralen Literaturgeschichte, -kritik und -wissenschaft kaum gesprochen werden kann (vgl. Brinker-Gabler 2007: 16). Auswirkungen der männerdominierten Literaturgeschichtsschreibung und Literaturkritik zeigen sich besonders deutlich in der Repräsentation von Texten schreibender Frauen. „Ich zählte im Grundwissen zum ,Deutsch‐ buch‘ […], wie viele Frauen unter den wichtigen Autor: innen unterschied‐ licher Epochen genannt werden. Es sind: 17. Und 125 Männer - dargestellt werden alle Epochen von der Antike bis zur Gegenwart“ (Herrmann 2020). Eine jener Schriftstellerinnen, die zwar (noch) nicht im ,Deutschbuch‘ genannt werden, aber zu ihren Lebzeiten viel Aufmerksamkeit mit ihren Texten erfahren haben, ist Maria Janitschek. Maria Janitschek (geb. Tölk) wurde als uneheliches Kind einer Offiziers‐ witwe und Näherin 1859 bei Wien geboren und wuchs in einfachen Verhält‐ nissen in Ungarn auf. Zeitweise besuchte sie eine Klosterschule. Mit 19 Jahren zog sie zusammen mit ihrer Mutter nach Graz (Österreich). Dort veröffentlichte sie, um ihren literarischen Möglichkeitsraum zu erweitern, unter dem Pseudonym Marius Stein zunächst journalistische Texte. 1882 hei‐ 284 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="285"?> ratete sie Hubertus Janitschek, einen Professor für Archäologie und Kunst‐ geschichte. Durch die Ehe erhielt sie erstmals eine angesehene Stellung. Bis zu ihrem Tod 1927 widmete sie sich unter ihrem richtigen Namen dem Schreiben von Erzählungen, Novellen, Romanen und Gedichten, in denen sie immer wieder auch Fragen der Erziehung von Mädchen, Emanzipation, weiblicher Sexualität und Homosexualität thematisierte. Oftmals führten diese Themen zu heftigen Reaktionen der patriarchalischen Gesellschaft des Kaiserreiches (vgl. Callsen 2010: 73). 1909 gipfelte dieser Unmut gar in der Zensur der Novellensammlung Die neue Eva (1902). Als Maria Janitschek 1927 verstirbt, ist sie mit ihren Texten bereits seit längerer Zeit aus der Tagespresse verschwunden (vgl. Callsen 2010: 83). Einer ihrer Texte, der ebenfalls zu Lebenszeiten sehr intensiv besprochen und kritisiert wurde, ist die fünfstrophige Ballade „Eine moderne Frau“, in der eine namenlose Frau in Folge einer an ihr verübten Unrechtstat keine andere Möglichkeit sieht, als das Verbrechen selbst zu strafen. Der weiblichen Hauptfigur wird damit Satisfaktionsfähigkeit zugesprochen. Dies war zur damaligen Zeit ein Skandal, da dieses Recht nur Männern in gehobenen Schichten zustand. Wie in einer Reihe anderer Balladen beginnt auch diese mit einer kurzen Einführung in die Szenerie bzw. Vorgeschichte. Hier erfährt die Leserschaft, dass einer Frau großes Leid durch einen Mann zugeführt wurde. Was genau passiert ist, bleibt ungesagt, jedoch wird von der heterodiegetischen Erzählinstanz betont, dass es eine von jenen „schnöden Thaten“ ist, „die kein Weib vergessen und vergeben kann“ (V. 2-3). Die folgenden Verse berichten anschließend, wie das Opfer ihrem Peiniger gegenübertritt. Der hohe Anteil an Figurenrede schafft eine eindringliche Atmosphäre. Starke Enjambements unterbrechen immer wieder den Lesefluss, bringen ihn teilweise regelrecht ins Stocken. Stolz (V. 9) und ruhig (V. 13) wird die ,moderne‘ Frau zunächst im Modus der Nullfokalisierung beschrieben, als sie zum Haus des Täters kommt. Sowohl in Erinnerung an die ,schnöden‘ Taten als vermutlich auch bereits in Voraussicht ihrer geplanten Tat, trägt sie Trauerkleider (V. 7), als sie ihren Peiniger zum Duell herausfordert. Der Angeschuldigte verlacht sie jedoch für diese Idee. Er fühlt sich sicher in seiner Position gegenüber dem ,lieben Kind‘ (V. 51), sodass er auch in der Situation der Bedrohung nicht zur Waffe greift bzw. Schutz sucht. Damit wird den Leser: innen einmal mehr die Stabilität des vorhandenen Machtgefälles zwischen beiden Figuren vor Augen geführt, das nicht einmal durch die Hinzunahme einer tödlichen Waffe überwunden werden kann. Anstatt sich zu 5.4 Geschichte, Gesellschafts- und Sozialkritik 285 <?page no="286"?> entschuldigen, rät er dem Opfer folglich, die Tat einfach zu vergessen, denn „Das Weib ist da zum Dulden und Vergeben“ (V. 59). Dies hinzunehmen, ist die weibliche Hauptfigur jedoch nicht mehr bereit. Und so erschießt sie ihren Peiniger lachend, nachdem angesichts dieser Arroganz kurz Wut (V. 39) und Zorn (V. 51) in ihr aufflammen. Mit dieser Tat will sie sowohl ihre eigene Ehre wiederherstellen als auch die Ehre aller Frauen des 19. Jh., die sich nicht mehr unterdrücken lassen wollen. Die Tat wirkt wohl überlegt, ohne jedes Anzeichen von Hysterie. Janitschek lässt offen, ob die Frau für ihre Handlung sanktioniert wird, und fordert die Leser: innen zu einer Positionierung heraus. Damit wirft der Text im Schonraum der Literatur die Frage auf, inwieweit Mord als legitimer politischer bzw. gesellschaftlicher Widerstand zu werten ist, wenn die Opfer ebenfalls jenseits der Gesetze handeln. Ein modernes Weib (Maria Janitschek) Ein Mann beleidigte ein Weib. Es war Von jenen schnöden Thaten eine, die Kein Weib vergessen und vergeben kann. Geraume Zeit verstrich. Da eines Abends Ward an die Thür des Frevlers laut gepocht. Er rief: „Herein“, und sah voll tiefen Staunens, In Trauerkleidern eine Frau vor sich. Sie schlug den Schleier bald zurück. Er blickte In ihre großen stolzerstarrten Augen, In diese großen schmerzversengten Augen-… Er lächelte verlegen, denn ein Schauer Erfaßte ihn-… Er bot ihr höflich Platz, Sie aber dankte, und mit ruhiger Stimme Sprach sie zu ihm: „Du hast mich schwer beleidigt, Es war nur Gott dabei-… vor diesem Gott, Vor dir, und mir allein, will ich den Flecken Den Makel meiner Ehre, zugefügt Von deiner Hand, verlöschen. Höre nun! Um dies zu thun, bleibt mir ein Mittel nur: Ich kann nicht gehn, um einem fremden Menschen Das was ich selbst mir kaum zu sagen wage, 286 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="287"?> Zu offenbaren. Für mich herrscht kein Richter, Er wär’ denn blind und taub und stumm, deshalb (Ein Schildern des Vergangenen glich’ aufs Haar Der neuen That, hieß’ selber mich entehren), Deshalb gibt’s eins nur: hier sind Waffen, wähle! “ Sie stellte auf den Tisch ein Kästchen hin Und öffnete den Deckel.---- Lange standen Die beiden Menschen stumm. Er sah sie an, Sie hielt das glänzend große Aug’ gerichtet Fest auf die Waffen. Plötzlich brach er aus In lautes Lachen. Da durchglühte feurig Ein tiefes Rot die farbenlosen Wangen Der jungen Frau. Wie, wenn die ganze Antwort Dies Lachen wär’? Sie hätte schreien mögen Vor Wut und Elend. Aber sie bezwang sich, Und sagte mild: „Wenn dir ein Unvorsichtiger Zufällig auf den Fuß getreten wäre, Du würdest ohne lange Ueberlegung Ihm deine Karte in das Antlitz schleudern, Nichts Lächerliches fändest du dabei. Nun denk’: nicht auf den Fuß trat mir ein Mensch, Mein Herz trat er in Stücke, meine Ehre! Verlang’ ich mehr, als du verlangen würdest Für einen unvorsichtigen Schritt, sag’ selbst, Ist das nicht billig? “ Lächelnd sah er ihr Ins zornerglühte Antlitz. „Liebes Kind, Du scheinst es zu vergessen, daß ein Weib Sich nimmer schlagen kann mit einem Manne. Entweder geh zum Richter, liebes Kind, Gesteh ihm alles, gerne unterwerfe Ich seinem Urteil mich. Nicht? Nun dann bleibt Dir nur das eine noch: vergesse, was du Beleidigung und Schmach nennst. Siehst du, Liebe, Das Weib ist da zum Dulden und Vergeben-…“ 5.4 Geschichte, Gesellschafts- und Sozialkritik 287 <?page no="288"?> Jetzt lachte sie. „Entweder Selbstentehrung Wenn nicht, ein ruhiges Tragen seiner Schmach, Und das, das ist die Antwort, die ein Mann In unserer hellen Zeit zu geben wagt Der Frau, die er beleidigt.“ „Eine andere Wär′ gegen den Brauch.“ „So wisse, daß das Weib Gewachsen ist im neunzehnten Jahrhundert,“ Sprach sie mit großem Aug’, und schoß ihn nieder. (J ANIT S CH E K , Maria (1889). Irdische und unirdische Träume. Gedichte. Berlin, Stuttgart. Spemann, 19-21.) - Vorschlag zur didaktischen Umsetzung Folgende Bezüge zu den Kompetenzen werden besonders berücksichtigt: Die Schüler: innen-… ▸ zeichnen die narrative Handlungslogik und Perspektiven literarischer Figuren nach. ▸ reflektieren Inhalt, Form und Wirkung der ausgewählten Balladen. ▸ planen, gestalten und überarbeiten eigener Medienprodukte (Video-Col‐ lagen). Da Literaturlisten und auch Deutschbücher nach wie vor selten Texte von Frauen aufnehmen (vgl. Dube & Kutzner 2023), sollen die Lernenden in der ersten Stunde der Unterrichtsreihe, ausgehend vom Zitat Herrmanns, mögliche Ursachen für dieses Ungleichgewicht sammeln. Dabei soll her‐ ausgearbeitet werden, dass die geringe Anzahl an Schriftstellerinnen in Anthologien und Kanons sich weniger in literarischer Zurückhaltung bzw. ihrem mangelnden Können begründet als vielmehr in vielseitigen restriktiven gesellschaftlichen Bedingungen. Einschränkend erwiesen sich einerseits die zahlreichen Pflichten in Haushalt, Familie und Ehe sowie andererseits die fehlende gesellschaftliche und verlegerische Anerkennung. Auch der Zugang zu Universitäten und Fachgesellschaften, der mit dem Knüpfen von Kontakten zu Gönnern und Freunden sowie Reisen zur Weiterbildung verbunden war, blieb Frauen verwehrt. Darüber hinaus fehlte es ebenfalls häufig an finanzi‐ 288 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="289"?> 11 Die Erstpublikation der Unterrrichtshilfen erfolgte in Dube, Juliane (2021). „Wenn Frauen töten. Zwei Balladen im Vergleich“. Praxis Deutschunterricht 6, 19-25. ellen Mitteln. Folglich sind es überwiegend Frauen adliger Abstammung, die sich der Literatur im größeren Stil hingeben können und auch die nötigen finanziellen Mittel zur Veröffentlichung ihrer Werke besaßen bzw. diese zur Verfügung gestellt bekamen. Den übrigen bleibt nur die Gelegenheitsdichtung zu Geburtstagen, Jubiläen, Hochzeiten und Begräbnissen, mit der sie sich jedoch allenfalls ein Taschengeld verdienen können. Im Anschluss an die gemeinsame Diskussion zur Frage, warum Schrift‐ stellerinnen in der Literatur unterrepräsentiert sind, erhalten die Lernen‐ den Arbeitsmaterialien zur Biografie Janitscheks sowie in einem nächsten Schritt auch die ausgewählte Ballade (vgl. Unterrichtshilfen „Eine Ballade kooperativ erarbeiten“ und „Eine Video-Collage zur Ballade vorbereiten“). 11 Hierzu kann u. a. auch die Audiobzw. Video-Version der Ballade von Pedro Hafermann eingespielt werden, die bei YouTube veröffentlicht wurde (https: / / www.youtube.com/ watch? v=G5591w12wEw). Entlang textanalytischer Fragen, wie z.-B.: ▸ Worum geht es in der Ballade? Welche Positionen stehen sich gegen‐ über? Warum kommt es zum Konflikt? ▸ Wie werden die Figuren charakterisiert? ▸ Wer berichtet wie vom Geschehen bzw. wie steht die Erzählinstanz zum Geschehen? ▸ Welche Wirkung erzielen Strophenbau und Versstruktur? erarbeiten sich die Lernenden die Ballade nun je nach Leistungsstand im Ple‐ num oder auch in Kleingruppen (vgl. Unterrichtshilfe: „Eine Ballade koope‐ rativ erarbeiten“). Ist ein erster Textzugang erfolgreich geschaffen, steht die kooperative Erarbeitung einer Video-Collage zur bearbeiteten Ballade im Rahmen eines produktionsorientierten Deutschunterrichts im Mittelpunkt der darauffolgenden Stunden (vgl. Unterrichtshilfe „Eine Video-Collage zur Ballade vorbereiten“). Hierzu kann z. B. das kostenfreie Programm Adobe Ex‐ press (https: / / www.adobe.com/ de/ express/ ) genutzt werden, das bereits eine Auswahl an Video-Vorlagen bereitstellt, mit denen die Lernenden auch ohne große Vorkenntnisse ihre Medienprodukte erstellen können. Grundlage der Video-Collagen bilden sieben frei von der Kleingruppe auszuwählende Text‐ 5.4 Geschichte, Gesellschafts- und Sozialkritik 289 <?page no="290"?> stellen ihrer Ballade, die durch entsprechendes Bild- und Tonmaterial ange‐ reichert werden sollen. Das stark begrenzte Raumangebot für die mediale Gestaltung fordert demnach zu einem textintensiven Leseprozess bzw. zu kontroversen Aushandlungsprozessen heraus, die den Blick auf den Inhalt und die Sprache intensivieren sollen. Unterstützung im Erstellungsprozess bietet das Verfassen eines Videoskripts, in dem Textstellen, Musik, Einstellungen und Bildauswahl festgehalten werden sollen (vgl. Unterrichtshilfe: „Eine Vi‐ deo-Collage zur Ballade vorbereiten“). Bei der abschließenden Präsentation der Video-Collagen können inhaltliche und ästhetische Interpretationen ge‐ meinsam reflektiert und bewertet werden. Abschließend kann der Frage nachgegangen werden, wie mit der offengebliebenen Sanktionierung der Mörderin umzugehen ist, die stellvertretend für die Frage steht, ob über‐ haupt und wenn ja, in welchen Fällen Selbstjustiz als legitimer politischer bzw. gesellschaftlicher Widerstand gerechtfertigt ist. 5.4.3 (Ohn-)macht gegenüber der Natur - „Die Brück’ am Tay“ von Theodor Fontane Juliane Dube Thema: Die Rückmeldungen auf Fontanes balladeske Behandlung des furchtbaren Eisenbahnunglücks bei Dundee am 28. Dezember 1879 sind unerwartet groß. An seine Freundin Mathilde von Rohr bezeichnet Fontane jenen Erfolg sogar als „eine Art Sensation“, und seine Ballade „Die Brück’ am Tay“ „vielleicht mehr als irgend was, was ich geschrieben habe“ (Fontane 1880). Für den inzwischen 61-jährigen Fontane war die Ballade ein großer literarischer Erfolg, in die er die Formen des Dramas und des Liedes, beides von ihm erstrebte, aber versagte Gattungen (Martini 1963: 379), einbringen konnte. Damit gelang dem gelernten Apothekergehilfen, der sich seit 1849 ausschließlich dem Schreiben widmete, der Durchbruch als Balladendichter. Durch die Mitgliedschaft in der literarischen Vereinigung „Tunnel über der Spree“ war er der breiteren literarischen Öffentlichkeit bis dahin vor allem durch seine Kriegstagebücher, politische Schriften, Reise‐ berichte und Gedichte bekannt. Erst im späteren Alter entstanden Fontanes Romanwerke, mit denen er auch internationale Bekanntheit erlangte. Zu seinen erfolgreichen Erzählwerken zählen Irrungen, Wirrungen (1888), Frau Jenny Treibel (1893), Effi Briest (1896) und Der Stechlin (1899), in denen 290 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="291"?> er Kritik am deutschen Kaiserreich mit seinen überkommenen Konventio‐ nen und seiner leeren Geschwätzigkeit übt. Der Erfolg der Ballade „Die Brück’ am Tay“ ist vermutlich in Fontanes Reaktualisierung der Gattung Ballade begründet. Diese war eine „historische Form“ geworden, „die einen geschichtlichen Stoff, einen geschichtlichen Stimmungshintergrund und eine geschichtliche Sprachtönung voraussetzte. Sie war im Thematischen wie im Formalen den ‚modernen‘ zeitgenössischen Lebensbewegungen entrückt und mit romantischen Inhalten und Tönungen selbst als Form in eine ‚romantisch‘ erscheinende Geschichtlichkeit geraten“ (Martini 1963: 378). Für die Ballade „Die Brück’am Tay“, die „an der Spitze seiner ,moder‐ nen‘ Balladen“ steht (ebd.: 381), wendet sich Fontane von den bevorzugten Stoffen aus der nordischen und schottisch-englischen Balladendichtung ab, wohl auch weil das Publikum nach jüngsten Geschehnissen verlangt. So schreibt Fontane: „Ich persönlich liebe auch die dustersten Stoffe, das Publikum aber - und zwar mit Recht, denn die alten Balladenstoffe waren auch mal Tagesereignis, - verlangt jüngste Geschehnisse, und wir können aus der alten Zeit nur den Ton, aber diesen auch nur mo‐ deriert, herübernehmen“ (vgl. Fontane 1880: 203). In der Ballade „Die Brück’ am Tay“ gelingt es Fontane im Stil des poetischen Realismus beide Ansprüche zu vereinen. Hierzu setzt er auf die Gestaltung einer naturmagischen Rahmenhandlung mit Shakespeares Hexen aus Macbeth, welche das aktuelle Tagessgeschehen des Zugunglücks bei Dundee in die für Balladen häufig anzutreffende düstere Stimmung versetzen. Im Mittelpunkt steht jedoch nicht das Zug- oder Brückenunglück, „sondern die Preisgabe des Menschen an eine Übermacht des Schicksals, dessen unfaßbare Irrationales und Übermenschliches sich in den Stimmen aus dem Bereich des Magisch-Außermenschlichen manifestiert“ (Martini 1983: 391). Der Mensch bleibt demnach, entgegen optimistischer Glorifizierung technischer Entwicklungen, den Kräften der Elemente ausgeliefert. Intention: Sowohl die Rahmenhandlung als auch die zeitlich-inhaltliche Rekonstruktion des Geschehens bereitet Schüler: innen immer wie‐ der Schwierigkeiten. Insbesondere mit der gewachsenen Heterogenität in den Schulklassen der letzten Jahre gilt es, verschiedene Medien und Methoden differenziert einzusetzen, damit die Sicherung des Text‐ verständnisses bei allen Schüler: innen gelingt. Eine von zahlreichen Möglichkeiten zur Gestaltung eines inklusiven Unterrichts bietet die Bereitstellung von Übersetzungen der Originaltexte in Leichte Sprache. 5.4 Geschichte, Gesellschafts- und Sozialkritik 291 <?page no="292"?> Unterricht im 7. und 8. Schuljahr: Im Unterrichtsvorschlag steht die textanalytische Arbeit mit Original und Übersetzung in Leichte Sprache im Mittelpunkt der inklusiven Kleingruppenarbeit, in der sich die Ler‐ nenden gemeinsam ein kohärentes Textverständnis erarbeiten sollen, bevor sie sich anschließend kritisch mit der sprachlichen Inszenierung beider Texte auseinandersetzen. - Ausgewählte didaktische Analyse Die Vorlage zur Ballade „Die Brück’ am Tay“ lieferte der Einsturz der Tay-Rail-Bridge in Schottland. Mit dem Ziel, die Effektivität der Handelswege zu erhöhen, war diese sieben Jahre lang unter enormem Aufwand erbaut wurden. Mit einer Länge von ca. 3,2 km ist die Brücke damals Weltrekord. Sie wurde als technische Meisterleistung in ganz Großbritannien und als Erfolg des menschlichen Geistes gefeiert. Der Einsturz erfolgte knapp eineinhalb Jahre nach ihrer Eröffnung in der Nacht vom 28. auf den 29. Dezember 1879. Der aus Süden kommende Postzug mit sechs Waggons befand sich zum Unglückszeitpunkt in der Mitte der Brücke. Augenzeugen aus dem Brücken‐ haus berichteten, dass der Zug wie ein Feuerstrahl von der Brücke ins Meer stürzte. 75 Menschen, die mit dem Zug auf dem Weg von Edinburgh über Wormit nach Dundee waren, kamen dabei ums Leben. Die Zahl der Unglücksursachen ist lang. So führte der eingesetzte Untersuchungsausschuss sowohl Konstruktionsfehler, die minderwertige Qualität der Eisenteile, ein den Erfordernissen nicht standhaltender Untergrund, ein Übertreten der Höchstgeschwindigkeit sowie die zum Unglückszeitpunkt vorherrschenden Winde der Stärke 11 bis 12 an. Im Internet finden sich eine Reihe von Archiven, deren Original-Zeitungsartikel ausführlich vom Unfall berichten (u. a. Edinburgh Courant, 29 December von 1879) und zur Gestaltung eines (fächerübergreifenden) Unterrichts hinzugezogen werden können. Möchten Sie den Original-Zeitungsbericht mit in Ihren Unterricht einbauen, finden Sie diesen unter: „The Tay Bridge Disaster“. National Library of Schottland (https: / / digital.nls.uk/ scotlandspages/ timeline/ 18 79.html). Oder: „Tay Bridge Disaster: Report […]“ Railways Archive (ht tp: / / www.railwaysarchive.co.uk/ docsummary.php? docID=107). 292 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="293"?> Zudem hat die Größe des Unglücks auch andere Dichter, wie den schotti‐ schen Dichter William McGonagall tief bewegt. Seine Ballade „The Tay Bridge Disaster“ kann ebenfalls zur Gestaltung eines differenzierenden und fächerübergreifenden Deutschunterrichts eingesetzt werden. Ähnlich wie Fontane finden sich auch bei McGonagall naturmystische Elemente („Demon of the air“) zur Erklärung des Unglücks: ’Twas about seven o’clock at night, And the wind it blew with all its might, And the rain came pouring down, And the dark clouds seem’d to frown, And the Demon of the air seem’d to say— “I’ll blow down the Bridge of Tay.” So ist es dann auch der personifizierte Nordwind Boreas, der verärgert einen schrecklichen Sturm entfacht und damit die Brücke zum Einsturz bringt. Anders als Fontane relativiert McGonagall in seiner letzten Strophe je‐ doch den Einfluss der Natur auf das Zugunglück, indem er auf die baulichen Mängel der Brücke hinweist. By telling the world fearlessly without the least dismay, That your central girders would not have given way, At least many sensible men do say, Had they been supported on each side with buttresses. (M C G O N A G A L L , William (2006). Collected Poems. Walker, Colin (Hrsg.). Edinburgh: Birlinn, 602) Der Bezug zum tatsächlichen Ereignis sollte jedoch nicht nur zur Kontex‐ tualisierung von Fontanes Ballade genutzt werden, sondern auch, um in die künstlerische Gesamtbewegung zwischen Tradition und Moderne am Ende des 19. Jahrhunderts und damit auch in die Veränderungen der Ballade einzuführen. Während die Ballade lange Zeit vor allem auf traditionell formal und sprachlich verpackte historische Begebenheiten oder Themen aus der nordischen Welt zurückgreift, in denen mal das Elegische, mal das Heldische dominiert, erweitert Fontane durch die balladeske Bearbeitung eines aktuellen Ereignisses das als starr empfundene Korsett der Ballade. Wenngleich Johnie „mit einer gewissen heroischen Hybris“ (Martini 1963: 388) den Kampf gegen den Sturm aufnimmt und seinen Zug weiterlenkt, gibt es „keine Helden, kein Heldenkostüm mehr, sondern nur ein anonymes, 5.4 Geschichte, Gesellschafts- und Sozialkritik 293 <?page no="294"?> kollektives Geschehen“ (ebd.: 382). Die drei Naturgewalten Nord-, Süd- und Ostwind treten in Gestalt der drei Hexen aus W. Shakespeares Tragödie Macbeth in Einleitung und Abgesang auf. Dieser Auftritt spannt den Bogen um das im Mittelteil der Ballade in festgefügten und regelmäßigen Strophen mit schlichtem Paarreim geschilderte Zugunglück und die damit einherge‐ henden Ängste. Hierdurch gelingt es Fontane, Tradition und Moderne zu verbinden. Durch das archaisch Magische, das in unsteten Versen geschil‐ dert wird, wirkt das vermeintlich zufällige Zugunglück wie ein „durchtriebe‐ ner Plan dämonischer, personalisierter Naturmächte, die das Feuer, biblische Strafaktionen nachahmend, vom Himmel fallen lassen“ (Kronauer 2014: 214). Gleichzeitig werden dem Numinosen der Rahmenhandlung Denk- und Gefühlszusammenhänge vom alten Brückner, dem Vater und Johnie im Mittelteil entgegengesetzt. „Neben die Geisterwelt tritt die psychologische Menschenwelt, […] deren Triumphe der Bau der Brücke und die Kraft der Maschinen sind“ (Martini 1963: 387). Darüber hinaus stellt Fontane die gesteigerte technische Kraft trotz ihrer Gegensätzlichkeit mit dem Verweis auf Weihnachten und die heimliche Idylle in einen gemeinsamen Zusammenhang (ebd.: 388f). Die Brück’ am Tay 28. Dezember 1879 (Theodor Fontane) When shall we three meet again Macbeth „Wann treffen wir drei wieder zusamm’? “ „Um die siebente Stund', am Brückendamm.“ „Am Mittelpfeiler.“ „Ich lösche die Flamm’.“ „Ich mit.“ „Ich komme vom Norden her.“ „Und ich von Süden.“ „Und ich vom Meer.“ „Hei, das gibt ein Ringelreihn, Und die Brücke muß in den Grund hinein.“ „Und der Zug, der in die Brücke tritt Um die siebente Stund’? “ „Ei der muß mit.“ 294 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="295"?> „Muß mit.“ „Tand, Tand, Ist das Gebilde von Menschenhand.“ Auf der Norderseite, das Brückenhaus - Alle Fenster sehen nach Süden aus, Und die Brücknersleut’, ohne Rast und Ruh Und in Bangen sehen nach Süden zu, Sehen und warten, ob nicht ein Licht Übers Wasser hin „ich komme“ spricht, „Ich komme, trotz Nacht und Sturmesflug, Ich, der Edinburger Zug.“ Und der Brückner jetzt: „Ich seh einen Schein Am anderen Ufer. Das muß er sein. Nun Mutter, weg mit dem bangen Traum, Unser Johnie kommt und will seinen Baum, Und was noch am Baume von Lichtern ist, Zünd’ alles an wie zum heiligen Christ, Der will heuer zweimal mit uns sein, - Und in elf Minuten ist er herein.“ Und es war der Zug. Am Süderturm Keucht er vorbei jetzt gegen den Sturm, Und Johnie spricht: „Die Brücke noch! Aber was tut es, wir zwingen es doch. Ein fester Kessel, ein doppelter Dampf, Die bleiben Sieger in solchem Kampf, Und wie’s auch rast und ringt und rennt, Wir kriegen es unter: das Element.“ „Und unser Stolz ist unsre Brück’; Ich lache, denk ich an früher zurück, An all den Jammer und all die Not Mit dem elend alten Schifferboot; Wie manche liebe Christfestnacht Hab ich im Fährhaus zugebracht, Und sah unsrer Fenster lichten Schein, Und zählte, und konnte nicht drüben sein.“ 5.4 Geschichte, Gesellschafts- und Sozialkritik 295 <?page no="296"?> Auf der Norderseite, das Brückenhaus - Alle Fenster sehen nach Süden aus, Und die Brücknersleut’ ohne Rast und Ruh Und in Bangen sehen nach Süden zu; Denn wütender wurde der Winde Spiel, Und jetzt, als ob Feuer vom Himmel fiel’, Erglüht es in niederschießender Pracht Überm Wasser unten-… Und wieder ist Nacht. „Wann treffen wir drei wieder zusamm’? “ „Um Mitternacht, am Bergeskamm.“ „Auf dem hohen Moor, am Erlenstamm.“ „Ich komme.“ „Ich mit.“ „Ich nenn euch die Zahl.“ „Und ich die Namen.“ „Und ich die Qual.“ „Hei! Wie Splitter brach das Gebälk entzwei.“ „Tand, Tand, Ist das Gebilde von Menschenhand.“ (S E G E B R E C H T , Wulf (Hrsg.) (2012). Deutsche Balladen. München: Hanser, 349 ff.) - Vorschlag zur didaktischen Umsetzung Folgende Bezüge zu den Kompetenzen werden besonders berücksichtigt: Die Schüler: innen-… ▸ lesen sinnerfassend komplexere Texte bzw. Texte in Leichter Sprache, entnehmen Informationen und entwickeln ein allgemeines Verständnis des Textes, sodass sie in der Lage sind, Schlussfolgerungen zu ziehen. ▸ reflektieren die inhaltlichen und sprachlichen Veränderungen sowie ihre Wirkung beim Vergleich des Originals und seiner Übersetzung in Leichte Sprache. Die Erfahrungen zum Einsatz jener Ballade in der Mittelstufe zeigen, dass sowohl die sprachliche als auch narratologische Ebene immer wieder Ver‐ ständnisschwierigkeiten bei den Schüler: innen hervorruft. So gibt es im Text 296 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="297"?> eine Reihe von Wörtern, die vielen Lernenden heute so nicht mehr geläufig sind. Schwierigkeiten bereiten z. B. Wörter wie Ringelreihn (Z. 9), Tand (Z. 15), Brücknersleut’ (Z. 19), Bangen (Z. 20) usw. Für das Verstehen und die Wertung der Ballade sind dies jedoch zentrale Begrifflichkeiten. So drückt sich im Ringelreihn die Freude der Hexen über das vollbrachte Unglück aus oder in Tand die Geringschätzung für die menschliche Baukunst. Darüber hinaus erschwert vor allem die fehlende oder versteckte Spre‐ cherzuweisung den Aufbau des Textverständnisses. Besonders markant ist dies in der ersten Strophe, in der nur die Leserin bzw. der Leser mit Wissen um die Zeilen aus Macbeth: „When shall we meet again“ erschließen kann, dass hier drei Hexen zusammentreffen. In den anderen Strophen, z. B. in der zweiten, ist der Sprecherwechsel zum Zug darüber hinaus weder explizit noch implizit markiert. Und die Brücknersleut’, ohne Rast und Ruh Und in Bangen sehen nach Süden zu, Sehen und warten, ob nicht ein Licht Übers Wasser hin „ich komme“ spricht, „Ich komme, trotz Nacht und Sturmesflug, Ich, der Edinburger Zug.“ Während jene Texterschließungsprozesse für einen Teil der Schüler: innen einen besonderen Reiz bieten, sind manche Lernende auch nach intensiver Textarbeit aufgrund ihres unzureichenden Textverständnisses von anschlie‐ ßenden Gruppenprozessen häufig ausgeschlossen. Mit dem Ziel einen Lite‐ raturunterricht zu gestalten, an dem alle Heranwachsenden teilnehmen können und der jedem Lernenden entsprechend seiner ‚Zone der nächsten Entwicklung‘ Anreize bietet, finden Sie im digitalen Anhang des Bandes eine Balladenversion in Leichter Sprache ( Unterrichtshilfe „Balladen in Leichter Sprache ‚Die Brück’ am Tay‘“). Analog zur Gebärden- und Blindensprache gilt sie als eine weitere Sprach‐ varietät des Deutschen, deren primäres Ziel es ist, die Be-Hinderungen bei der Teilnahme am gesellschaftlichen, politischen aber auch kulturellen Leben von Menschen mit einer kognitiven oder sensorischen Beeinträchti‐ gung (d. h. geistiger Behinderung oder Wahrnehmungseinschränkung) ab‐ zubauen. Neben ihrer systematischen Veränderung des in standard- und fachsprachlichen Texten verwendeten Satzbaus und Wortschatzes werden Texthürden vor allem durch eine besondere visuelle Gestaltung abgebaut 5.4 Geschichte, Gesellschafts- und Sozialkritik 297 <?page no="298"?> (vgl. Maaß 2015) (vgl. Unterrichtshilfe „Checkliste Leichte Sprache“). Ver‐ stärkt durch die Inklusionsdebatte und das gewachsene Interesse, das Po‐ tenzial von Literatur für alle Lernenden offenzulegen (vgl. Hering/ Reiske 2013), in dem Texte so umgeschrieben bzw. vereinfacht werden, dass Zu‐ gänge für alle geschaffen werden, gibt es auch in der Deutschdidaktik eine intensive Diskussion. Mit Neuerungen und Veränderungen geht stets eine intensive Debatte einher, die jedoch in Bezug auf Leichte Sprache statt auf wissenschaftlichen Ergebnissen vielerorts auf Vermutungen, Einschätzungen und fehlender bildungsbürgerlicher Sensibilität für die Bedürfnisse und Schwierigkeiten von Menschen mit kognitiven und sensorischen Beeinträchtigungen basiert. Die aktuellen Kontroversen und die Herausforderungen, die sich beim Übersetzen von literarischen Texten in Leichte Sprache ohne Frage ebenso ergeben wie beim Übersetzen von literarischen Texten (Kap. 4.12) in eine andere Sprache, können hier nicht nachgezeichnet werden. Verwiesen sei an dieser Stelle daher auf den Aufsatz von Dube und Priebe (2020), welcher die Herausforderungen, die beim Übersetzen von Balladen in Leichte Sprache entstehen, ausführlich bespricht. In diesem argumentieren Dube und Priebe, dass sich viele lyrische Texte aufgrund ihrer hohen poetischen Dichte zwar nicht für die Übersetzung in Leichte Sprache eignen, dies für Versdichtungen mit erzählendem Grundcharakter aber nicht unbedingt gilt. Zunächst ge‐ nießt der/ die Leser: in in Balladen die Berichte von „dramatischen Vorfällen, von Liebesglück und Lebensleid, Heldentum und Misere, Schuld und Sühne, Mord und Totschlag“ (Segebrecht 2012: XX). Nur dem erfahrenen Leser/ der erfahrenen Leserin erschließt sich dabei aber über die sprachliche und stilistische Ausgestaltung ein zusätzliches ästhetisches (Lese-)Erlebnis. So erinnert sich vermutlich ein jeder eindrücklich an die durch eine Vielzahl unheimlicher Beschreibungen erzeugte beklommene Stimmung in der Bal‐ lade „Der Knabe im Moor“ und nicht an das Reimschema a-b-a-b-c-c-a-b. Die ungewöhnlichen konflikthaften bis ins Dramatische hinein gestal‐ teten Begebenheiten und Ereignisse, die in konzisen Szenen beschrieben werden, können jedoch häufig nicht von allen Schüler: innen erfasst werden. Damit gelingt es ihnen nicht, die für diese Gattung so zentrale Erzähl‐ funktion zu fassen. Schlussfolgernd kann weder die dramatische noch lyrische Gestalt der Ballade erschlossen werden. Ziel der Übersetzungen von Balladen in Leichte Sprache ist es folglich, auch jenen Schüler: innen einen Zugang zum zentralen Moment dieser Gattung zu schaffen, die sonst 298 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="299"?> von der Lektüre und den anschließenden Gesprächen ausgeschlossen wären („Brückenfunktion“; Maaß 2015: 7). Sie bilden folglich die Grundlage für Lernsituationen, in denen sowohl das inhaltliche (vgl. Feuser 1995) als auch das soziale Lernen (vgl. Wocken 1998) im gemeinsamen Unterricht im Vordergrund steht. Damit kann ein Unterricht gestaltet werden, in dem „alle Kinder in Kooperation miteinander auf ihrem jeweiligen Entwick‐ lungsniveau nach Maßgabe ihrer momentanen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungskompetenzen in Orientierung auf die ‚nächste Zone der Entwicklung‘ an und mit einem ‚Gemeinsamen Gegenstand‘ spielen, lernen und arbeiten“ (Feuser 1995: 168). Kann wie im vorliegenden Fall auf eine fundierte Übersetzung des litera‐ rischen Textes in Leichter Sprache zurückgegriffen werden (vgl. Unter‐ richtshilfe „Balladen in Leichter Sprache ‚Die Brück’ am Tay‘“), ist im einem nächsten Schritt zu überlegen, wie die unterschiedlichen Textfassungen in der Klasse präsentiert werden. Das heißt, werden beide Texte der Idee von Inklusion folgend, allen Lernenden zur Verfügung gestellt oder separate Ar‐ beitsgruppen gebildet. Um einerseits allen Lernenden einen ersten Zugang zum Original zu ermöglichen und andererseits zu verhindern, dass Lernende durch die Zuweisung zur Ballade in Leichter Sprache negativ herausgehoben werden (vgl. Zurstrassen 2017), wird an dieser Stelle die Umsetzung des Universal Design for Learning (UDL) favorisiert. Dieses Konzept einer inklusiven Unterrichtsgestaltung ist vor allem im Bostoner Center for Ap‐ plied Special Technology (CAST) konzeptionell differenziert worden (vgl. Meyer/ Rose/ Gordon 2014: 51) und basiert auf der Idee, die spezifischen An‐ passungen für Schüler: innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf allen Lernenden anzubieten. Folglich kommen in Lernumgebungen des UDL nicht nur unterschiedliche Textvarianten und Informationsdarstellungen zum Einsatz, sondern auch z. B. Übersetzungen und assistive Lesehilfen. Ziel von UDL-Designs ist es, ein möglichst hohes Maß an kooperativen Unterrichts‐ situationen zu gestalten. Für die Erschließung der Ballade sollen die Lernenden in den nächsten Stunden in kooperativen Kleingruppen zusammenarbeiten. Als kooperative Unterrichtssituation bezeichnet Hans Wocken eine Lernsituation, in der „Aufgaben und Ziele aufeinander bezogen [sind], die Tätigkeiten und Arbeitsprozesse koordiniert und wechselseitig abgestimmt [sind], es einen Fundus an gemeinsamen Erfahrungen und Erlebnissen [gibt]“ (Wocken 1998: 23). Die Bedingungen für eine kooperative Unterrichtssituation sind im vorliegenden Fall erfüllt, wenn-… 5.4 Geschichte, Gesellschafts- und Sozialkritik 299 <?page no="300"?> ▸ alle Schüler: innen dazu in der Lage sind, substantielle Aussagen über den Text zu treffen; ▸ die Beiträge mehrerer Schüler: innen zu Erstellung des Endproduktes beitragen; ▸ von verschiedenen Schüler: innen unterschiedliche Aspekte des Textes genannt werden; ▸ die Schüler: innen inhaltlich aufeinander Bezug nehmen. Nach einer ersten Präsentation der Ballade durch den Vortrag der Lehrper‐ son oder eine Hörfassung wählen die Schüler: innen einen der bereitgestell‐ ten Texte für kooperative Kleingruppenarbeit aus (max. 4 Personen). Im Anschluss an die erneute Lektüre des Originals bzw. der Übersetzung in Leichte Sprache sollen sich die Gruppen gemeinsam um ein kohärentes Textverständnis bemühen. Hierzu bieten sich folgende Aufgaben an, die zu‐ sätzlich ebenfalls in Leichter-Sprache formuliert sein sollten (vgl. Unter‐ richtshilfe „Checkliste Leichte Sprache“): ▸ Was ist passiert? Notiert in einer Tabelle, was ihr über das Zugunglück erfahrt (Wer? Wann? Was? Wo? Wie? Warum? -…) ▸ Fertigt eine Skizze zum Unfallgeschehen an. ▸ Fasst das Geschehen der Ballade zusammen. Schreibt hierzu einen kurzen Text. Denkbar sind jedoch auch Aufgaben zu sprachlichen Besonderheiten wie dem fehlenden oder versteckten Sprechwechseln sowie zu den un‐ terschiedlichen Perspektiven des Erzählens auf die Fontane in den fünf Mittelstrophen zurückgreift, wenn er von Norderseite, Süderturm und wieder der Norderseite berichtet, von wo aus die Katastrophe beobachtet wird. z.-B.: ▸ Wer spricht in der ersten und der letzten Strophe? Stellt Vermutungen an. ▸ Wer berichtet vom Geschehen? Notiert neben dem Text bzw. unter‐ streicht die Sprecher mit unterschiedlichen Farben. Insbesondere in diesem Aufgabenteil können sich die schwächeren Schü‐ ler: innen in die Gruppenarbeit einbringen, da die sprachlichen Schwierig‐ keiten, z. B. durch die explizite Markierung der wörtlichen Rede in der Leichte-Sprache-Fassung, größtenteils getilgt wurden. In einer anschließen‐ 300 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="301"?> den gemeinsamen Sicherungsphase können einzelne Ergebnisse vorgestellt und unter Anleitung der Lehrperson besprochen werden. Zur Vertiefung des Textverständnisses bietet es sich an, in einem nächsten Schritt die sprachliche und inhaltliche Gestaltung beider Fassungen noch einmal explizit in den inklusiven Gruppen zu kontrastieren und gemeinsam kritisch zu reflektieren: ▸ Unterstreicht im Leichte Sprache-Text diejenigen Stellen farbig, die ihr als nicht gelungen erachtet. Begründet eure Auswahl und formuliert ggf. Alternativen. ▸ Lest die ersten Strophen des Originals und der Übersetzung laut vor. Tauscht euch anschließend dazu aus, welche der beiden Fassungen euch eher anspricht. Begründet eure Wahl. Anschließend werden die Ergebnisse im Plenum vorgestellt und diskutiert. Hierbei zeigt sich, dass inhaltliche Leerstellen oder sprachliche Nuancen zur Beschreibung der inneren Verfasstheit der Figuren des Originals in der Übersetzung getilgt wurden. Auch konnten - wie häufig in Übersetzungen - die Reim- und Rhythmusstruktur des Originals nicht übernommen werden. Die Ästhetik der Ballade ist damit in der Übersetzung zwangsläufig stark reduziert. Dies führt im Wesentlichen dazu, dass das Original für weitere Aufgaben, z. B. für den Balladenvortrag (Kap. 4.10), von den meisten Lernenden favorisiert wird. Durch die Gegenüberstellung beider Fassungen werden, wie die empirische Unterrichtsstudie von Dube und Priebe (2020) zeigt, folglich nicht nur noch offene Fragen und Missverständnisse geklärt, sondern auch ein Bewusstsein für die Bedeutung von Sprache und Form bei allen Lernenden geschaffen. In der letzten Stunde der Unterrichtseihe bietet es sich an, Fragen zur Wertung der Ballade in Bezug auf den dargestellten Urkampf der Elemente gegen das Menschenwerk in inklusiven Kleingruppen zu diskutieren, z.-B.: ▸ Welche Bedeutung haben Anfang und Ende der Ballade? ▸ Vergleiche Fontanes Ballade mit den Berichten über das tatsächliche Zugunglück. Was ist Realität und was Fiktion? 5.4 Geschichte, Gesellschafts- und Sozialkritik 301 <?page no="302"?> 5.4.4 Gewalt und Religion - „Die Füße im Feuer“ von Conrad Ferdinand Meyer Carolin Führer Thema: Das dramatische Handlungsgedicht Conrad Ferdinand Mey‐ ers ist hochaktuell, denn es geht neben der vordergründigen Frage nach Rache u. a. auch um das Gast- und Anderssein in der Fremde. Die Ballade aus dem Jahre 1882 bietet die Möglichkeit, derzeitige Diskus‐ sionen um Zusammenleben und -halt in einer pluralen Gesellschaft aus einer fernen, jedoch das Zeitgeschehen durchleuchtenden Position zu initiieren. Intention: Die Erschließung der Graphic Novel zu „Die Füße im Feuer“ kann zur Vertiefung formal-inhaltlicher Analysekompetenzen im Umgang mit Literatur und deren Transformation in Text und Bild genutzt werden. Unterricht im 9. und 10. Schuljahr: Für den folgenden Unterrichts‐ vorschlag sollten die Schüler: innen bereits mit Grundlagen der Erzähl‐ gestaltung vertraut sein. Die Schüler: innen müssen sich zunächst in sog. Lesegesprächen mit der anspruchsvollen Sprache Meyers und der ästhetisch eigenständigen grafischen Umsetzung Thieles in Partnerarbeit auseinandersetzen, die dann durch kooperative Arbeitsaufträge und ein anschließendes (lehrer-)geleitetes Plenum vertieft werden. Die Arbeitsaufträge werden hierbei unter folgenden analytischen Schwer‐ punkten ausgewertet: a) Kommunikationsgeflecht reflektieren; b) Bild‐ lichkeit und Naturdarstellung analysieren; c) innere und äußere Hand‐ lungsstruktur rekonstruieren; d) Rezeptionslenkung in Bild und Text untersuchen. - Ausgewählte didaktische Analyse In thematischer Hinsicht geht es in der Ballade um Folter, Rache und Glaube; dies scheint zunächst eine rein historische Problemstellung zu sein. Moderner Terrorismus und der damit verbundene Glaubenskrieg können sicher nicht vereinfacht enggeführt werden, zeigen jedoch, dass scheinbar alltagsfremde historische Fragen durchaus ins Zeitgeschehen hineinstrahlen. 302 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="303"?> Die 1882 von Meyer veröffentlichte Ballade ist in ihrer inhaltlichen Dichte kaum zu übertreffen - eine Nacherzählung ist dem Umfang der Ballade zumeist ähnlich. Ein Kurier des Königs verlangt während eines Unwetters Unterkunft, nach der Aufnahme erkennt er sukzessive, dass er die Frau des Hausherrn vor Jahren im Krieg zu Tode gefoltert hatte. Aus Angst vor der Rache des Hausherrn, verriegelt er sein Zimmer und träumt vom eigenen Verbrennen. Der Hausherr identifiziert den Gast zwar, geleitet ihn dennoch am nächsten Morgen unversehrt seiner Wege und verweist stattdessen auf die Rache Gottes. Die Ballade gilt damit als Paradebeispiel realistischer Poetik: Das rein Erlebnishafte, die subjektive Erfahrung, wird zunächst ausführlich erzählt, der sich dem Edelmann eröffnende Gewissens‐ konflikt bleibt jedoch der Imagination des/ der Leser: in überlassen. Die damit verbundene Reflexion über menschliche und religiöse Werte verweist auf die Ideenballaden der Klassik, die symbolische Objektivierung (u. a. die Naturdarstellung) subjektiver Erfahrungen deutet bereits des Symbolismus des 20. Jahrhunderts an (vgl. Kellner 2017: 38). Die Füße im Feuer (Conrad Ferdinand Meyer) Wild zuckt der Blitz. In fahlem Lichte steht ein Turm. Der Donner rollt. Ein Reiter kämpft mit seinem Roß, Springt ab und pocht ans Tor und lärmt. Sein Mantel saust Im Wind. Er hält den scheuen Fuchs am Zügel fest. Ein schmales Gitterfenster schimmert goldenhell Und knarrend öffnet jetzt das Tor ein Edelmann-… - „Ich bin ein Knecht des Königs, als Kurier geschickt Nach Nîmes. Herbergt mich! Ihr kennt des Königs Rock! “ - „Es stürmt. Mein Gast bist du. Dein Kleid, was kümmert’s mich? Tritt ein und wärme dich! Ich sorge für dein Tier! “ Der Reiter tritt in einen dunkeln Ahnensaal, Von eines weiten Herdes Feuer schwach erhellt, Und je nach seines Flackerns launenhaftem Licht Droht hier ein Hugenott im Harnisch, dort ein Weib, Ein stolzes Edelweib aus braunem Ahnenbild-… Der Reiter wirft sich in den Sessel vor dem Herd Und starrt in den lebend’gen Brand. Er brütet, gafft-… 5.4 Geschichte, Gesellschafts- und Sozialkritik 303 <?page no="304"?> Leis sträubt sich ihm das Haar. Er kennt den Herd, den Saal-… Die Flamme zischt. Zwei Füße zucken in der Glut. Den Abendtisch bestellt die greise Schaffnerin Mit Linnen blendend weiß. Das Edelmägdlein hilft. Ein Knabe trug den Krug mit Wein. Der Kinder Blick Hangt schreckensstarr am Gast und hangt am Herd entsetzt-… Die Flamme zischt. Zwei Füße zucken in der Glut. - „Verdammt! Dasselbe Wappen! Dieser selbe Saal! Drei Jahre sind’s-… Auf einer Hugenottenjagd-… Ein fein, halsstarrig Weib-… „Wo steckt der Junker? Sprich! “ Sie schweigt. „Bekenn! “ Sie schweigt. „Gib ihn heraus! “ Sie schweigt Ich werde wild. Der Stolz! Ich zerre das Geschöpf-… Die nackten Füße pack ich ihr und strecke sie Tief mitten in die Glut. „Gib ihn heraus! “-… Sie schweigt-… Sie windet sich-… Sahst du das Wappen nicht am Tor? Wer hieß dich hier zu Gaste gehen, dummer Narr? Hat er nur einen Tropfen Bluts, erwürgt er dich.“ Eintritt der Edelmann. „Du träumst! Zu Tische, Gast-…“ Da sitzen sie. Die drei in ihrer schwarzen Tracht Und er. Doch keins der Kinder spricht das Tischgebet. Ihn starren sie mit aufgerißnen Augen an - Den Becher füllt und übergießt er, stürzt den Trunk, Springt auf: „Herr, gebet jetzt mir meine Lagerstatt! Müd bin ich wie ein Hund! “ Ein Diener leuchtet ihm, Doch auf der Schwelle wirft er einen Blick zurück Und sieht den Knaben flüstern in des Vaters Ohr-… Dem Diener folgt er taumelnd in das Turmgemach. Fest riegelt er die Tür. Er prüft Pistol und Schwert. Gell pfeift der Sturm. Die Diele bebt. Die Decke stöhnt. Die Treppe kracht-… Dröhnt hier ein Tritt? -… Schleicht dort ein Schritt? -… Ihn täuscht das Ohr. Vorüberwandelt Mitternacht. Auf seinen Lidern lastet Blei und schlummernd sinkt Er auf das Lager. Draußen plätschert Regenflut. Er träumt. „Gesteh! “ Sie schweigt. „Gib ihn heraus! “ Sie schweigt. Er zerrt das Weib. Zwei Füße zucken in der Glut. Aufsprüht und zischt ein Feuermeer, das ihn verschlingt-… 304 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="305"?> - „Erwach! Du solltest längst von hinnen sein! Es tagt! “ Durch die Tapetentür in das Gemach gelangt, Vor seinem Lager steht des Schlosses Herr - ergraut, Dem gestern dunkelbraun sich noch gekraust das Haar. Sie reiten durch den Wald. Kein Lüftchen regt sich heut. Zersplittert liegen Ästetrümmer quer im Pfad. Die frühsten Vöglein zwitschern, halb im Traume noch. Friedsel’ge Wolken schwimmen durch die klare Luft, Als kehrten Engel heim von einer nächt’gen Wacht. Die dunkeln Schollen atmen kräft’gen Erdgeruch. Die Ebne öffnet sich. Im Felde geht ein Pflug. Der Reiter lauert aus den Augenwinkeln: „Herr, Ihr seid ein kluger Mann und voll Besonnenheit Und wißt, daß ich dem größten König eigen bin. Lebt wohl. Auf Nimmerwiedersehn! “ Der andre spricht: „Du sagst’s! Dem größten König eigen! Heute ward Sein Dienst mir schwer. Gemordet hast du teuflisch mir Mein Weib! Und lebst! -… Mein ist die Rache, redet Gott.“ (M E Y E R , Conrad Ferdinand (2013). Die Füße im Feuer. Illustrationen: Jens Thiele. Berlin: Jacoby & Stuart.) Die Ballade wurde von Reich-Ranicki in Der Kanon aufgenommen: sie bringt durch eine anspruchsvolle Erzählweise inhaltliche Ambivalenzen besonders stark zur Geltung und ist gekennzeichnet durch Interdependenzen zwischen (Natur-)Darstellung und inhaltlicher Spannung. Die Kommunikationsstruktur ermöglicht ein tieferes Verständnis der Ballade: Nur in der Anfangs- und der Schlussszene finden tatsächlich Dialoge zwischen den Protagonisten statt, in denen der Gast sein Handeln aus seinem Status als Diener des Königs begründet. Demgegenüber stehen die Wertvorstellungen des Gastgebers, die ohne Ansicht der Person bzw. gerade dem vom Gegenüber herausgestellten Status gelten. Eingangs ist es der Wert der Gastfreundschaft, am Ende der Wert eines durchlebten Glaubens; kommunikativ äußert sich dies, indem der antwortende Gast‐ geber Kommentare bzw. Wertungen zu den Aussagen bzw. Fragen des Dialogpartners vornimmt. Die beiden Dialoge haben rahmende Funktion, wobei hier die beson‐ dere Rolle des Schlossherrn als eigentlichem (jedoch kaum erzählten) 5.4 Geschichte, Gesellschafts- und Sozialkritik 305 <?page no="306"?> Handlungsträger deutlich wird. Auch andere kurze Einschübe des Gast‐ gebers „Du träumst! Zu Tische“, und „Erwach! Es tagt! “ treiben die Handlung voran und symbolisieren die Autorität des Schlossherrn, die demnach eine kommunikative als auch moralische ist (Kellner 2017: 37). Die Glaubwürdigkeit des Kuriers hingegen wird im Rahmen der Kommunikationsstruktur in Frage gestellt, auch wenn dessen Erlebnis‐ perspektive den Text bestimmt. So heißt es im Erzählerkommentar zu den Angstvorstellungen des Boten: „Ihn täuscht das Ohr! “. Der eigentliche dramatische Konflikt des Edelmannes wird nur angedeutet in seinem nächtlichen Ergrauen und muss in der Konstruktion des/ der Leser: in entfaltet werden. Diese „Kunst des Indirekten“ (Laufhütte 2002: 320) ist in besonderer Weise auch in der Naturdarstellung hinterlegt, indem diese zunächst im Gegensatz zu den naturmagischen Balladen nicht als Spiegel, sondern in Differenz zum Seelenleben des Protagonisten gestaltet zu sein scheint. So steht der Turm im „fahlen Licht“, als der Diener eine Herberge beansprucht, und während er am Schluss noch die Rache des Schlossherrn erwartet, zwitschern schon die „frühsten Vöglein“ und es herrscht „klare Luft“. Identifiziert man jedoch den Edelmann als eigentlichen Helden, so korrelliert die Darstellung am Schluß mit dem Protagonisten-Innenleben: im Gewissenkampf der „nächt’ge[n] Wacht“ steht am klaren Morgen das geläuterte Selbst. In dieser Lesart ist auch der Anfang logisch, der Blitz deutet den Konflikt an, das schimmernde Gitterfenster steht für die bedin‐ gungslose Hilfsbereitschaft des Schlossherrn. „Zersplittert liegen Ästet‐ rümmer quer im Pfad“ - ein Indiz für den inneren Kampf des Schlossherrn und seinen Wunsch nach Rache, der jedoch nicht obsiegt: „Friedsel’ge Wolken schwimmen durch die klare Luft“. Diese Bildlichkeit verweist den Leser/ die Leserin darauf, dass die Ballade durch eine innere und äußere Handlung strukturiert wird. Auf der Ebene der äußeren Handlung wird die aufsteigende Erkenntnis und Erinnerung des Gastes detailreich entfaltet, während auf der Reflexionsebene bei ihm keinerlei moralische Entwicklung stattzufinden scheint. Seine Ängste werden in Erlebnisperspektive ausführlich entfaltet, während seine Schuld zu keinem Zeit‐ punkt in sein Bewusstsein gelangt, vielmehr scheint ihm sein Status bis zum Ende maßgeblich zu sein. Demgegenüber steht die umfassende Cha‐ rakterentwicklung des Schlossherrn, dessen damit verbundener innerer Kampf auf der Textoberfläche jedoch nicht verhandelt wird. Er nimmt die göttliche Rache nicht vorweg, sondern verzichtet aufgrund seines damit verbundenen Glaubens an den „größten König“. Die Existenzialität dieses 306 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="307"?> Glaubenskampfs wird in der Ballade in der Darstellung dadurch noch zuge‐ spitzt, dass die Frau getötet wurde, weil sie den Aufenthaltsort ihres Mannes nicht verraten wollte. Auch wenn die damit verbundenen Konflikte und die Rechtfertigung einer Rache durch den Schlossherrn in der Ballade nicht ausgestaltet werden, bietet diese Andeutung für den Leser bzw. die Leserin Möglichkeiten einer Wertreflexion ohne deren explizite Verhandlung - eine besonders kunstvolle Form der Ideenballade. - Vorschlag zur didaktischen Umsetzung Folgende Bezüge zu den Kompetenzen werden besonders berücksichtigt: Die Schüler: innen-… ▸ erarbeiten sich interaktiv im Gespräch Bilder und Texte der Graphic Novel Die Füße im Feuer; ▸ erschließen sich über die narrativen Besonderheiten die Symbolkraft und Komposition der Ballade; ▸ reflektieren die Kommunikation der Dialogpartner in der Ballade; ▸ analysieren die Naturdarstellung; ▸ rekonstruieren die Rezeptionslenkung in der Ballade im Vergleich zur Text-Bild-Adaption Jens Thieles; ▸ unterstützen sich gegenseitig anhand von gemeinsam erarbeiteten Feed‐ back-Kriterien in der Reflexion ihrer Präsentation. Jens Thieles grafische Adaption des literarischen Werkes stellt eine eigenständige Auseinandersetzung damit dar, die bereits eine Deutung des Balladengeschehens enthält. Die Collagetechnik Thieles liegt sicher‐ lich jenseits der ästhetischen Alltagserfahrungen der Schüler: innen, gerade deshalb bietet sie aber (zusätzliche) Gesprächsanlässe und die Möglichkeit, die kompositorische Raffinesse der Ballade zu erkennen. Für die Einstiegsphase wären daher zwei Möglichkeiten denkbar: Einerseits könnte über ein Bilder-Kino (meint z.-B. das Aufblenden der gesamten Bilderzählung ohne Text über den Beamer) im Plenum ein Gespräch über den möglichen Inhalt der Ballade initiiert werden oder als Variante, nach einem ersten Durchgang zu jedem Bild, mögliche Gedankenblasen von Schüler: innen formuliert werden, die beim nächsten Bild die Hand‐ lungselemente der vorherigen Schüler: innen aufnehmen müssen. Dies fördert nicht nur die bewusste Auseinandersetzung mit den Bildern, sondern es verhilft auch zu einem Antizipieren der Handlungslogik, dem 5.4 Geschichte, Gesellschafts- und Sozialkritik 307 <?page no="308"?> Einfühlen in die Atmosphäre und die (anschließende) Wahrnehmung der Differenz der Bilder zum Balladentext. Denkbar wäre aber auch eine Positionierung von einzelnen Bildern an zusammengestellten Tischen, zu denen Schreibgespräche initiiert werden. Hierbei sollte darauf geachtet werden, dass nur Bilder präsentiert werden, die die beiden Weltsichten im Text spiegeln können: z.-B. die Szenen „Er auf das Lager“, „Erwach! “, „Der Reiter lauert aus den Augenwinkeln“ u.ä. Für die intensive Text(-Bild)-Erschließung bietet sich ein Lesegespräch in Kleingruppen an. Um die Lernenden für eine bewusste Bildwahrnehmung zu sensibilisieren, können die Schüler: innen durch ein Beispiel (z. B. durch lautes Denken) im Vorfeld dazu animiert werden, zu Bildern zu „erzählen“ (meint: keine Bildbeschreibung, sondern eine Geschichte zum Bild entwi‐ ckeln) und über deren Bezug zum Text sowie ihre Gefühle und Gedanken dazu zu reflektieren. In Kleingruppen (zwei bis drei Lernende) wird der Text abwechselnd vorgelesen und die Bilder werden interaktiv betrachtet. Der/ die jeweilige Vorleser: in hält dabei immer wieder inne, damit die Grup‐ penmitglieder Eindrücke und Kommentare zum Gelesenen und Gesehenen austauschen, Verständnisfragen klären und Lesearten gemeinsam entwi‐ ckeln können (vgl. Unterrichtshilfe „Graphic Novels ko-konstruktiv er‐ schließen“). In einzelnen Gruppenkonstellationen kann es sinnvoll sein, Bild- und Text-Experten zu bestimmen. Im Anschluss sollten die Lektüreer‐ fahrungen der Jugendlichen in einem Zwischenschritt auf der Basis von Notizen mit Beobachtungen/ Diagnosen aus den Kleingruppen-Lesegesprä‐ chen ausgewertet werden. Dabei können folgende Aspekte die vorherigen Beobachtungen bestimmen: ▸ Welche Text-/ Bildstellen werden von den Schüler: innen unterschiedlich gedeutet? ▸ Welche Figuren, welches Verhalten oder welche Bilder besitzen hohes Irritationspotenzial? ▸ Welche globalen Text-Bild-Zusammenhänge sind zu sichern? Als Lehrkraft kann man während der Lesegespräche einzelnen Gruppen auch flankierend Impulse geben, um 1. das globale Verstehen zu ermöglichen (Welchen inneren Kampf führt der Edelmann? Wovor fürchtet sich der Gast? Worin besteht die Quintessenz in der Aussage des Schlossherrn? u.-ä.) oder 308 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="309"?> 2. für Differenzen und Offenheiten zwischen Bild und Text zu sensibilisie‐ ren (Warum ragt ein Frauenkopf aus dem Rahmen? Was erfahren wir im Text dazu? ) Um diese ersten Rezeptionseindrücke zu vertiefen, bearbeiten die Schüler: in‐ nen in Kleingruppen arbeitsteilig unterschiedliche Aufträge, die von ihnen frei gewählt und (zeitlich) selbstreguliert gelöst werden. Es empfiehlt sich, die Bearbeitung im Anschluss an das erste Vorlesegespräch zu legen, um eine Involvierung der Schüler: innen bei der Erstlektüre des Mediums zu gewährleisten. Die Schüler: innen organisieren sich in Kleingruppen, um: a. das Kommunikationsgeflecht zu reflektieren b. die Naturdarstellung zu analysieren c. die innere und äußere Handlungsstruktur zu rekonstruieren d. die ästhetische Gestaltung der Graphic Novel nachzuvollziehen, indem sie Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Erzähl- und Bildebe‐ nen herstellen/ beschreiben. Die zuletzt genannten Aufgabenfelder können u. a. mit folgenden Frageimpulsen initiiert werden: a. Kategorisieren Sie die Redeanteile sowie - in chronologischer Reihen‐ folge - die Gesprächsarten von Schlossherrn und des Protagonisten. Welche Funktionen übernehmen diese Gesprächsbeiträge? Und wie sind sie hinsichtlich der Beziehung der Gesprächspartner und der Handlung einzuschätzen? b. Überprüfen Sie, inwieweit die Naturdarstellung als Spiegel zum Seelenleben des Protagonisten gestaltet ist! c. Beschreiben Sie die innere und äußere Dramaturgie der Handlung und deren Verbindung/ Zusammenhang auf der Textoberfläche! d. An welchen Stellen erweitern oder verändern die Bilder das Verständnis des Textes? In der abschließenden Auswertungsphase präsentieren die Schüler: innen ihre Gruppenergebnisse dem Plenum, so dass auf dieser Grundlage eine vertiefte Anschlusskommunikation geführt werden kann, die die verschie‐ denen Ebenen des komplexen Werkes erneut berührt. Die Auswertung sollte mit der Präsentation der Gruppenergebnisse zur inneren und äußeren Handlungsstruktur begonnen werden. Anschließend sollte die Auswertung der Kommunikationsstrukturen und der Naturdarstellung vorgenommen 5.4 Geschichte, Gesellschafts- und Sozialkritik 309 <?page no="310"?> werden, um schlussendlich die bildlichen Adaptionsversuche in den Blick zu nehmen - so ist ein gemeinsames Voranschreiten vom inhaltlichen zum intermedialen Verstehen gewährleistet. Als Abschluss können dann medienästhetische (a, anspruchsvoller) oder inhaltliche Ausblicke (b) ge‐ wagt werden: a) Die Kamera, die die Graphic Novel rahmt, lässt kann als Ausgangspunkt der Reflexion des „möglichen Filmcharakters“ (Genre‐ diskussion, Perspektive der Kamera) von Thieles Adaption dienen. b) Wie hättest du an der Stelle des Gastgebers gehandelt? 5.4.5 Nationalsozialismus und Folgen - „Und es war ein Tag“ von Nora Gomringer Carolin Führer Thema: Die Ballade „Und es war ein Tag“ von Nora Gomringer er‐ möglicht eine Neuperspektivierung nationalsozialistischer Gewaltver‐ brechen. Inhaltlich konzentriert sich die Ballade auf ein literarisch bisher selten ausgestaltetes Thema: die Umstände von Deportationen in die Konzentrationslager. Dabei ergibt sich im Text Gomringers eine Spannung aus strenger Form, intertextueller Ästhetik und sinnlich-emo‐ tionalisierender Darstellung. Intention: Die historische Thematik soll nicht nur zum Ausgangs‐ punkt der Auseinandersetzung werden, vielmehr wird ihre ästhetische Ausgestaltung als Möglichkeit der emotionalen und sprachbewussten Annäherung an den Holocaust konzipiert. Unterricht in der Klassenstufe 9 und 10: Es werden Wirkungsweisen der Ballade im Vergleich von Sprechgestaltungen und anderen themen‐ ähnlichen literarischen Texten untersucht. Ausgewählte didaktische Analyse Nora Gomringers Eltern sind die Germanistin Nortrud Gomringer und der Schweizer Dichter Eugen Gomringer. Eugen Gomringer gilt als „Vater der konkreten Poesie“: In seinen Gedichten arbeitet er mit einer minimalen Anzahl von Wörtern, die, in signifikanter Weise grafisch angeordnet, die Leser: innen dazu bringen, Semantik und Anordnung spielerisch miteinander zu verbinden. Auch in der Ballade Gomringers ist 310 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="311"?> 12 Hörtext. 2: 01 Min. https: / / www.vorleser.net/ gomringer_und_es_war_ein_tag/ hoerbuc h.html (11.02.2019). diese Konzeption sichtbar, weshalb ich kurz darauf eingehe. Rein visuell vermittelt Gomringers Ballade „Und es war ein Tag“ den Eindruck von Gleichmäßigkeit und Wiederholung. Dieser Anschein wird während der Lektüre verstärkt: Wortgruppen wiederholen sich, nur einzelne Worte werden ausgetauscht; eine Technik, die auch typisch für Eugen Gomringers Arbeiten ist, er spricht in diesem Zusammenhang von der Technik der Konstellation. Das Gedicht ist in E. Gomringers Konzeption „Spielanleitung“ bzw. „Gebrauchsgegenstand“, das Wort nicht mehr nur Bedeutungsträger, sondern materiales Gestaltungsele‐ ment. Ein Beispiel, dass in anderen inhaltlichen Zusammenhängen öffentlich Aufsehen erregte (vgl. Unterrichtsvorschlag Magirius 2019), ist das Gedicht „avenidas“ von Eugen Gomringer: - avenidas y flores - - alleen - flores - alleen und blumen flores y mujeres - - blumen - avenidas - blumen und frauen avenidas y mujeres - - alleen - avenidas y flores y mujeres y - alleen und frauen un admirador - - alleen und blumen und frauen und - - - ein bewunderer - - - - - (aus: Gomringer, Eugen (1965): Das stundenbuch. München: Max Hueber.) Die Erschließung der o. g. Konstellation muss sich an die Zusammenstellung der Wörter, an Gleichklänge oder Kontraste, an Wiederholungen, an die typographische und graphische Anordnung und akustischen Kombinations‐ möglichkeiten halten. Das heißt, die Rückführung der Metapher auf die Vokabel wird zugleich benutzt, um neue Zusammenhänge zwischen den Wörtern herzustellen. Die Ballade Nora Gomringers ist desweiteren aber auch gekennzeichnet durch die Lautung bzw. den Klang, was ein frei zugänglicher Hörtext im Internet, welchen die Autorin selbst einspricht, eindrucksvoll beweist. 12 Gomringer selbst betont in Lesungen und Essays sowohl ihre Faszination für den Klang der Sprache als auch die Bedeutung des Vortrags für ihre Kunst 5.4 Geschichte, Gesellschafts- und Sozialkritik 311 <?page no="312"?> (vgl. Gomringer 2015), ihre Lyrik erscheint demnach folgerichtig meist im Verbund mit Audiopaketen. Gomringer hat sich mit dem gesprochenen Wort viele Jahre intensiv auseinandergesetzt. So hat sie die deutsche Slampoetry-Szene mitgestaltet und gewann im Team 2005 die deutschen Slampoetry-Meisterschaften. Diese Erfahrungen aus der Spoken-Word-Szene fließen in ihre Texte wohl ebenso ein wie Grenzgänge zwischen Wort und Musik, so hat sie mit dem Wortart-Ensemble Vertonungen ihrer Texte erar‐ beitet und mit dem Jazzmusiker Philipp Scholz soeben eine Wort-Klang-Pro‐ duktion (Peng, peng, peng) präsentiert. Tempo und Lautstärke spielen in ihren Texten eine wesentliche Rolle, die Musikalität des vorliegenden Textes inszeniert sie performativ im o.-g. Hörbeitrag. Und es war ein Tag (Nora Gomringer) Und der Tag neigte sich Und es war Stehen und es war Warten Und es war eine Masse und es sah aus, wie ein Meer Und es waren Männer und es waren Frauen Und es waren Kinder und es roch nach Leder Und es waren Koffer und es war Dampfen Und es waren Münder und es war das Wort Und es war Stumpfes und es war Taubes Und es waren Große und es waren Mäntel Und es waren Hunde und es war Wimmern Und es war Weinen und es war ein Zug Und es waren Waggons und es war eine Rampe Und es war Eile und es hieß: Hinein Und es war Drängen und es war wieder Eile Und es war Härte und es war der Ton Und es waren Hände und es waren Blicke Und es waren Minuten und es war Enge Und es war kein Raum Und es war bald Nacht und es war ein Scherz Denn sie waren wie Rinder Und es war ein Riegel und es war ein Ruck Und es war Fahren und es war keine Luft Und es war Nacht und es war Zeit 312 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="313"?> Und es war zu lang Und es war Flüstern und es war Raunen Und es war Mutmaßen und es waren Fragen Und es war Hitze und es war zu eng Und es war wieder Weinen und es war ein Eimer Und es waren vier Ecken und es war ein Geruch Und es war eine Scham Und es waren Stunden und es waren Stunden Und es waren Stunden und es waren Stunden Und es war Durst und es war Wirre Und es war Sinken und es war Lehnen Und es war ein müdes Gebet Und es war trübes Wasser aus der Kelle Und es waren Gerüche Und es war ein Ruck Und es war ein Lauschen und es war eine Hoffnung Und es war eine Sprache und es war ein Land Und es waren Stunden und es waren Stunden Und es waren Stunden und es waren Stunden Und es waren Ahnungen und es waren Gerüchte Und es war ein Feuer, das lief Und es waren Fetzen und es waren Worte Und es war sicher nicht wahr Und es war ein Ruck Und es war wahr Und es war ein seltsamer Name Au-schwitz (G O M R I N G E R , Nora (2006). Sag doch mal was zur Nacht. Leipzig: Voland & Quist 73-74) Gomringer kommentiert den Zusammenhang zwischen einförmigem Klang und Thema wie folgt: „ […] diesem Text ist Bewegung hineingeschrieben, damit sein Thema und sein Nachwirken nicht zu lange harren und läh‐ men“ (2010). Der Zusammenhang von Klang und Unsagbarem in Bezug auf den Holocaust wird nicht zuletzt in der letzten Zeile der Ballade herausgestrichen: Auschwitz ist „ein seltsamer Name“, die Gedanken- oder Betonungsstriche suggerieren Unsicherheit bezüglich seiner Aussprache. 5.4 Geschichte, Gesellschafts- und Sozialkritik 313 <?page no="314"?> Dies verweist zum einen auf den Generationskontext, aus dem auch die Autorin stammt ( Jahrgang 1980 und damit die 3. Generation nach dem Holocaust), zum anderen weist es aber auch darauf hin, dass der Holocaust nach wie vor kein Thema ist, das nur als „historischer Sachverhalt“ im kulturellen Gedächtnis tradiert ist bzw. tradiert werden kann. Gomringer selbst verweist darauf, dass die Beschäftigung mit dem Holocaust vielen ihrer Texte anhängig sei (Gomringer 2010: 19): Irgendwie war die Begegnung mit diesem Thema, das Lebensthema meiner Mutter ist, auch das Kennenlernen meiner Mutter als Mensch und nicht nur als Mutter … so habe ich Mitfühlen gelernt, denke ich manchmal. Die Sprachprüfung kommt wohl auch daher. Was hält das Laut-Leise aus? Ist dieses Synonym für den Holocaust jemals wiederzurückzuerobern für die Sprache, die Reihe aller Namen? Wenn ich das Wort Au-Schwitz zerlege, begehe ich da schon ein Sakrileg? Habe ich es, wie die Diebe vor Weihnachten geklaut und zersägt? … habe ich wenigstens einen neuen Inhalt dafür gefunden? Nein, kein neuer Inhalt für das Auschwitz, das ich meine, wenn ich sage: Au-schw-itz. (ebd.) Gomringer verweist auf die Reihe der Namen bzw. Namenlosen, die mit dem Holocaust verbunden sind, und dass gerade in diesem Kontext ein Sprachbewusstsein zentral ist, um sich dem Feld wieder neu zuzuwenden. Mit Bezug auf den Holocaust bieten neue poetische und sprachliche Begeg‐ nungen wie die Gomringers die Möglichkeit, die Distanz der zunehmenden historischen Entfernung und die Nähe, die sich aus Spezifik der besonderen Erinnerungskultur generiert, in ein Eigenes zu verwandeln. Gomringer macht dieses Angebot an ihre Leser: innen, indem der Balla‐ dentext mit seinen Anaphern die Wiederholungen und die Gleichförmig‐ keiten des Räderwerks auf den Gleisen spiegelt, und in Wort-Wiederholun‐ gen von „Ruck“, „Stunden“ wirksam den spezifischen Kontext der Deportation aktiviert, ohne diesen Begriff nennen zu müssen. Auffällig ist auch die Benennung konkreter Dinge (Eimer, Kelle, Mäntel, Leder …) in Kombination mit einem sinnlichen und emotionalen Begriffsinventar (Hoffnung, Scherz, Geruch, Scham, Durst) ohne ausdifferenzierte Verwendung von Vollverben oder Abstrakta. Diese Dimension des Textes erlaubt ein sich Einlassen bzw. ein (ästhetisches) Erleben des Lesers bzw. der Leserin, das immer auf der Grenze zur Ästhetisierung des Holocaust changiert. Gomringers sprachliches Programm ermöglicht durch den Einsatz des „Es“ in allen Zeilen außer der ersten und letzten Zeile auch kritische Distanz. Historisch interpretiert erscheint das „Es“ als Verweis auf die Anonymität der Opfer, 314 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="315"?> es deutet aber auch an, dass Täterschaft hier umfangreich definiert werden muss. Intertextuell ist das „Es“ aber auch eine Anspielung auf das Böse und das Freud’sche „Es“ der Psychoanalyse als unbewusste Struktur, deren Inhalt psychischer Ausdruck der Triebe, Bedürfnisse (z. B. Geltungsbedürfnis, Angenommenseinsbedürfnis) und Affekte (Neid, Hass, Vertrauen, Liebe) ist. Die Wiederholung des „Und es war(en)“ kann zudem mit dem „Es war einmal“ des Märchens assoziiert werden, interpretativ liegt hier der Schluss nahe, die Grausamkeit des Holocaust dem im Märchen evozierten Bösen gegenüberzustellen. Vorschlag zur didaktischen Umsetzung Folgende Bezüge zu den Kompetenzen werden besonders berücksichtigt: Die Schüler: innen-… ▸ lassen sich hörend auf den Klang der Ballade ein; ▸ entwickeln eigene Sprechgestaltungen und damit Empathie für die in der Ballade entwickelte (sinnliche) Perspektive auf den Holocaust; ▸ rekonstruieren die sprachlichen Wirkungsweisen der Ballade über ihre rhetorischen, stilistischen und erzählerischen Mittel; ▸ stellen Bezüge zu anderen fiktionalen Erinnerungstexten her. Die Ballade Gomringers bietet eine Vielzahl ästhetischer, literarischer und historischer Lerngelegenheiten. Einige davon sollen in der Folge kurz skizziert werden, wobei zunächst die Sprachsensibilisierung und -reflexion hin zu einer inhaltlichen Auseinandersetzung führen soll. Damit wird der literarische Eigenwert zum Ausgangpunkt des historischen Erinnerns an den Holocaust, welches grundsätzlich immer mit einer Rekonstruktions- und Narrationsarbeit verbunden ist. Literaturunterricht sollte hier nicht als billiger Themenlieferant instrumentalisiert werden, sondern dazu bei‐ tragen, das Spannungsfeld zwischen „Universalismus und Partikularimus“ zum Nationalsozialismus (meint die Perspektivierungen von Opferschaft und Täterschaft gegenüber der Einzelbetrachtung ambivalenter Figuren und zu differenzierenden Handlungsrationalitäten) im Umgang mit dem Nationalsozialismus auszubalancieren (ausführlich dazu Köster 2001). Sinnlich-ästhetisches Wahrnehmen und Reflektieren In Hinblick auf die Nachhaltigkeit und die Wahrnehmung des Holocaust kann sich die Begegnung nicht auf eine Rekonstruktion „historischer Fak‐ ten“ beschränken. Gomringers Ballade ist eine künstlerische Annäherung 5.4 Geschichte, Gesellschafts- und Sozialkritik 315 <?page no="316"?> an das Thema, die auf emotionales Erleben setzt, ohne hierbei einnehmen zu wollen. Dies kann im Unterricht für eine sprachliche und ästhetische Sen‐ sibilisierung genutzt werden. Beispiele hierfür wären: Die Schüler: innen-… ▸ tragen die Ballade nach vorher festgelegten Kriterien (vgl. Unterrichts‐ hilfe „Einen Balladenvortrag kriterienorientiert reflektieren I“) vor und wählen bzw. beurteilen den besten Vortrag, abschließend kann auch die Version der Dichterin einbezogen werden; ▸ erhalten die Ballade ohne Zeilenumbrüche und legen diese fest (mit Er‐ klärung); sie analysieren die Wirkung der selbsterstellten Zeilenbrüche im Vergleich zum Original; ▸ finden eine Ersetzung für die Anapher, beschreiben die Funktion der Anapher; ▸ erproben in Kleingruppen eine Sprechgestaltung mit klanglichen Ele‐ menten (z. B. durch Geräusche, Einspielung von Musik mit iphone etc.), die unterschiedliche Atmosphären erzeugt; im Anschluss Präsentation besonders ausdrucksstarker und angemessener Beispiele im Plenum; ▸ erstellen eine eigenen Ballade nach dem gleichen formalen Muster (Anapher, keine Verbwechsel etc.) oder inhaltlicher Vorlage (das Gedicht Eugen Gomringers könnte hier als formale Vorlage zur Binnendifferen‐ zierung eingesetzt werden); ▸ suchen identische Reime und Wortwiederholungen, auffällige formale Brüche und interpretieren deren Bedeutung im historischen und litera‐ rischen Kontext. Auch die Sprachreflexion zu anderen Balladen, die den Nationalsozialismus bzw. seine Folgen in den Blick nehmen (vgl. „Legende über Lilja“ von Sarah Kirsch oder „Mörder Ratzek weißer Mond“ von Thomas Brasch, Unter‐ richtshilfe „Erzählformen in zeitgeschichtlichen Balladen analysieren“) kann hier sinnvoll sein, und zwar zunächst durchaus im Hinblick auf die Wirkungsweisen. Brasch setzt dem Ernsthaften in Gomringers Ballade durch den Alltagsjargon und die Ellipsen einen Unterhaltungston entgegen, fast schon ein Amüsement, dass im makabren Gegensatz zu den Grausam‐ keiten im literarischen Text und dem historischen Kontext steht. Um ein Bewusstsein für diesen umgangssprachlichen Sprachgebrauch in Braschs Ballade zu entwickeln, ist es nicht zwangsläufig notwendig, mit Schüler: in‐ nen die Vielzahl der historischen Orte und motivgeschichtlichen Anspie‐ lungen bei Brasch aufzuarbeiten. 316 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="317"?> Fakt und Fiktion Aufgrund des zunehmenden zeitlichen Abstands zum Nationalsozialismus und des Ablebens letzter Zeitzeugen ist der Umgang mit der geschicht‐ lichen Wirklichkeit nationalsozialistischer Gewaltverbrechen inzwischen zunehmend von Distanz geprägt. Dennoch bewegen die Schicksale der Opfer Menschen heute weiterhin, besonders der Holocaust läuft hier jedoch Gefahr, ein emotional und medial wirksames „Argument“ zu sein, um Reflexionsprozesse zugunsten von Polemisierungen auszuschalten. Statt einer Betroffenheitspädagogik gilt es, auch im Literaturunterricht Hilfestel‐ lungen zur moralischen Positionierung zu geben. Denn Holocaust und Nationalsozialismus sind weiterhin keine Themen, die nur als historische Sachverhalte im kulturellen Gedächtnis tradiert werden können. Die fik‐ tionalisierte Darstellung Gomringers leistet hier Besonderes, indem der Fakt Deportation mit Fiktion so verdichtet wird, dass Empathie jenseits einer reinen Betroffenheitslage möglich wird. Im Deutschunterricht stellt sich die Frage, ob z. B. beim Zuhören unter Weglassung der letzten Zeile der historische Kontext antizipiert werden kann. Man könnte die Lesung an unterschiedlichen Stellen stoppen um die Schüler: innen Vermutungen zum Thema anstellen zu lassen. Auch wäre es sicher passend, nach einer ersten Erschließung des Hörtexts als Ganzen, das „Es“ durch Namen, Orga‐ nisationen, Abstrakta u. ä. mit Bezug zum historischen Kontext schriftlich auszutauschen. Im Anschluss kann dann über die Wirkung des Einsatzes von Konkreta gegenüber dem „Es“ diskutiert oder gar eine prüfende Inter‐ pretation (Kap. 4.3) verfasst werden, die die Funktion des „Es“ in diesem Kontext diskutiert. Als Erörterungsgrundlage wäre es auch möglich, die Ballade mittels Material in Bezug zu anderen Texten (Bibel, Märchen etc.) und Kunstwerken (Konkrete Poesie/ Kunst) zu setzen und diese Bezüge im Kontext der Holocaust-Thematik der Ballade bewerten zu lassen. Arbeitsteilige vertiefende Recherchen zu historischen „Belegen“ einzelner Angaben können hilfreich sein, um neben der sinnlich-konkreten Dimen‐ sion von Gomringers Text auch das europäische Ausmaß dieses Teils vom Nationalsozialismus zu erschließen. Seriöse Informationen bieten hierzu die Homepage zum „Zug der Erinnerung“ sowie das Bundesarchiv zur Chronologie der Deportationen. Statt dieser konventionellen, wissensba‐ sierten historischen „Aufarbeitung“ kann aber auch weiter mit fiktionaler Erinnerungskultur zum Thema Auschwitz gearbeitet werden: z.-B. in Form von Robert Thalheimers Film Am Ende kommen die Touristen (2007), der 5.4 Geschichte, Gesellschafts- und Sozialkritik 317 <?page no="318"?> den Ort bzw. die Gedenkstätte und die dort lebenden Menschen heute zeigt (ausführliche didaktische Analysen vgl. Herz 2017). Art Spiegelmanns Co‐ mic Maus erzählt die Geschichte eines Auschwitzüberlebenden als Tierfabel um den Abstand zum erzählten Grauen wahren zu können (ausführlich Frahm 2010). Natürlich kann auch auf literarisches Vorwissen aus dem Unterricht zurückgegriffen werden, möglicherweise haben die Schüler: in‐ nen dort bereits einen Roman wie Der Vorleser, Malka Mai, Der Junge im gestreiften Pyjama, Als Hitler das rosa Kaninchen stahl o. ä. gelesen. Sollte dies der Fall sein, könnte man erinnerungskulturelle Perspektiven miteinander vergleichen, z. B. in Form der Frage, mit welchen erzählerischen Mitteln hier auf den Holocaust geblickt wird. Bernhard Schlinks Vorleser entwickelt das Thema beispielsweise wie Gomringer retrospektiv; während bei Gomringer jedoch die Perspektive der betroffenen Opfer eingenommen zu werden scheint, treten im Vorleser verstärkt Fragen nach dem Umgang mit den Tätern des Holocaust in den Fokus. Insgesamt sollte auf Multiper‐ spektivität und Kontroversität im Vergleich der Texte geachtet werden; Köster hat in diesem Zusammenhang vorgeschlagen, dass im Curriculum des Deutschunterrichts folgende Themen den literarischen Umgang mit Nationalsozialismus und Holocaust strukturieren könnten: 1. Heimkehren, 2. Kollaboration und Verrat, 3. Widerstehen, 4. Das Versteck, 5. Die Welt der Lager, 6. Die Nachgeborenen (Köster 2001: 212). 5.4.6 Gedankenfreiheit bis zum Tod - „Der Flüchtling“ von Fritz von Unruh Juliane Dube Thema: Wenngleich aktuelle Debatten zur Flüchtlingsthematik sugge‐ rieren, Flüchtlingsbewegungen innerhalb und nach Europa wären ein neues Phänomen, zeigt sich, dass diese Thematik bereits eine lange Geschichte besitzt. Ob aufgrund ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung - schon seit jeher haben Menschen ihre Heimat verlassen müssen. Damals wie heute wird der Zuzug größerer Menschengruppen kontrovers diskutiert und sowohl eigene als auch fremde Fluchterfahrungen literarisch verarbeitet. Diese Geschichten und Schicksale berühren immer wieder aufs Neue. Sie setzen Mahnmale 318 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="319"?> in einem Europa, welches vom 9. Mai 1945 bis zum Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 die längste Friedensperiode (mit Ausnahme des Bürgerkriegs in Jugoslawien) erlebte. Unterrichtsbeiträge so zu gestal‐ ten, dass sie die Heranwachsenden „zur Gestaltung des eigenen Lebens in sozialer Verantwortung sowie zur Mitwirkung in der demokratischen Gesellschaft befähigen, ist Aufgabe aller Fächer“ (Bildungsstandards im Fach Deutsch für die allgemeine Hochschulreife 2012: 5). Intention: Durch die Behandlung von Exil- und Migrationslyrik können nicht nur historisches und politisches Wissen vermittelt, sondern auch Bezüge zum derzeitigen Weltgeschehen hergestellt werden. Unterricht in der Sekundarstufe II: Im Zentrum der Unterrichtsreihe steht die Ballade „Der Flüchtling“ von Fritz von Unruh, in der er seine eigenen Kriegs- und Fluchterfahrungen verarbeitet. Die für die Exillyrik häufig zentralen Motive wie Hunger, Flucht, Elend und Ausweisung werden auch in Unruhs Ballade unter der Verwendung einer Vielzahl sprachlicher Bilder beschrieben. Folglich bietet es sich an, die Metapho‐ rik der Ballade genauer zu erschließen. Ein erweiterter Blick auf die Metaphorik in aktuellen Medienberichten kann dabei den thematischen Brückenschlag zur Lebenswelt der Lernenden bilden. - Ausgewählte didaktische Analyse In seiner Biographie zu Fritz von Unruh verweist Friedrich Rasche (1960) auf die Ignoranz der Deutschen gegenüber Dichtern seiner Zeit, die „an ihre Zeitgenossenschaft besondere geistige und moralische Ansprüche stellten, die im geheimen oder offenen Protest gegen ihre Gegenwart lebten und Botschaften für die Zukunft hatten“ (ebd.: 5 f.). Neben den zu Lebzeiten unbeachteten Autoren Heinrich von Kleist, Friedrich Hölderlin und Georg Büchner verweist Rasche auch auf das Wirken von Fritz von Unruh. Wenngleich die deutsche Öffentlichkeit ihm - im Gegensatz zu den zuvor genannten - zu seinen Lebzeiten zumindest eine Zeit lang ihre Aufmerksamkeit schenkte, indem sie ihm eine Reihe namhafter Literatur‐ preise verlieh (Kleist-Preis 1915, Bodmer-Preis 1917, Grillparzer-Preis 1922, Schillerpreis 1926) und ihn von 1928 bis zu seinem Austritt 1932 in die Preußische Dichterakademie aufnahm, sind seine Werke heute fast gänzlich 5.4 Geschichte, Gesellschafts- und Sozialkritik 319 <?page no="320"?> von deutschen Bühnen verschwunden. Seine Bücher werden nicht mehr gedruckt. Dies ist umso bedauerlicher, da seine Werke stets auf eine Umgestaltung unserer Lebenswirklichkeit ausgerichtet waren: „Fritz von Unruh hat sich um Semikolon und Komma wenig gekümmert; seine Sorge waren die Fragezeichen, sein Glaube waren die Ausrufezeichen. Eben die aber hat er richtig gesetzt! “, heißt es 1965 im Plädoyer von Werner Koch zum 80. Geburtstag von Fritz von Unruh (vgl. Koch 1965). In Zeiten, in denen vor dem Hintergrund eines erodierenden demokra‐ tischen und auf Freiheits- und Gleichheitsrechten aufgebauten Systems Fragen der Humanität wieder verstärkt diskutiert werden müssen, bieten von Unruhs Texte, u. a. die Ballade „Der Flüchtling“, Jugendlichen einen unmittelbaren und persönlichen Zugang zu Themen wie Flucht, Hunger, Vertreibung und Krieg. Durch die literarische Thematisierung von Flucht‐ schicksalen wird damit ein anderer Blick möglich, der in der aktuellen medialen Diskussion doch allzu häufig hinter Zahlen und rechtsgerichteten Beiträgen verschwindet. Der Flüchtling (Fritz von Unruh) Er spielte an der Spree den Marquis Posa - „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit! “ - Flieht Zerprügelt vom Pogrom dann nach Arosa - Trotz der zerquetschten Lunge aber zieht Der Emigrant, vom Büttel ausgewiesen, Durch erste Frühlingsblüten wie ein Dieb - Fiebergeschüttelt von der Gletscherbrisen Nach Frankreich. Doch ein neuer Häscherhieb Jagt ihn nach Belgien. Tags in den Ardennen Bei Tier und Angst vor Polizei versteckt, Läuft er des Nachts, daß ihn die Sohlen brennen - Wohin? Wohin? Ihm ist kein Tisch gedeckt. Zum Horizont träumt er mit hohlem Magen - Dort wo der Mohn so rot, vielleicht glüht da Ein Menschenherz? „Mut! Mut! -… ich will es wagen-…“ Er hinkt, er läuft, er hofft - nun ist er nah - 320 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="321"?> Statt des Erbarmens heiliger Hände greifen Nach wüster Flucht ihn drei Gendarmen auf. Das Dorf entlang an vollen Küchen schleifen Sie den „Verbrecher“ vorm Revolverlauf Bis zum Gefängnis: „Einen Monat Buße! Weil er unangemeldet leben wollt’! “ - Nun hat er hinter Gitterstäben Muße, Zu sinnen, wie Fortunas Kugel rollt-… Der Sommer duftet - Klee und Weizenernte-… Im Schnitterlied erwacht ein holdes Bild: Die Heimat sieht er - Ach! die weit entfernte! Und Heimweh wühlt! doch welcher Heimat gilt Sein Tränenschauer? Vater, Mutter liegen Zerzaust, erschlagen irgendwo im Schutt - Statt Sohnesküsse - überkrabbeln Fliegen Ehrwürdige Form! „Ein überflüss’ger Jud“ - Kaut er das trockne Brot und zählt die Flöhe - Der Mond wird voll, nimmt ab - die Zeit ist um. Man führt ihn zu der Grenze auf die Höhe - Zeigt den Revolver: „Marsch! Sonst macht es bum! “ Wohin? wohin? o hohes Blau, o Himmel! Nach Deutschland! Nein! das wär’ der Schlachthaustod. - Entführe mich auf deinem Wolkenschimmel! Wohin? wohin? aus der durchhetzten Not-… Und wieder schleicht er heimlich mit Gespenstern Zur Nebelstunde ein in Rousseaus Land. Als die Aurora spiegelt in den Fenstern Von Bauernhäusern - hebt er seine Hand - Begrüßt im Licht die Heimatlosen, Toten - Von Tyrannei Zertretenen! Hört die Uhr Im Kirchturm rufen wie des Schicksals Boten - Und murmelt leise einen Freiheitsschwur. Dann wandert er, am Tag versteckt in Wäldern, Bei Tier und Angst. - Des nachts längs der Chaussee 5.4 Geschichte, Gesellschafts- und Sozialkritik 321 <?page no="322"?> Auf schattenschweren, tauverklebten Feldern - Ihn fliehen Sterne, Hasen, Mond und Reh-… Als er Paris sieht - fallen schon die Blätter - Herbstlich umfriert es seine wunde Brust - Der Eiffelturm erscheint ihm wie ein Retter - Des Lebens Dunstkreis faßt nach ihm wie Lust! Er stiehlt sich in die ersten Straßen, zitternd, Daß ihn kein Wachmann sieht. - Rennt kreuz und quer Mit allen seinen Sinnen Leben witternd, Dreht er die Taschen um - doch sie sind leer. Ein Bettler, bartverwildert, irrt er - irrt er - Von Bar zu Bar. - Ergattert, wo was liegt - Treibt ihn der Hunger - girrt er, girrt er, girrt er Schauspielerhaft! Und dankt, wenn er was kriegt. Nacht unter Brücken mit den Allerärmsten Hüllt er sich im November in Papier. - Träumt von nem Bett! dem allerwärmsten - Und schaudert zu der Seine: ach, - ich frier’-… Von einer Radpatroullie angeblendet, Blinzelt er in das satte Dienstgesicht-… „Sein Aufenthalt ist vorschriftsklar beendet! “ Neu ausgewiesen, hebt er in das Licht Die magre Hand - beschwört die Menschenrechte! Ruft die Erinnerung großer Tage an! Bastillestürmer! Freiheitstrunk’ne Nächte - Doch die Patrouille führt den müden Mann Zum Polizeirevier. Verhör, Befehle-… Zur Schweizer Grenze fährt er wiederum hin - Zerfetzt, verhungert, wirr von dem Gequäle Verdunkelt sich allmählich nun sein Sinn. Und während der Bürger „fröhlich’ Weihnacht“ feiert - Wird dieser Flüchtling todkrank durch den Schnee Der Schweizer Pässe hoffnungsausgeleiert Den Weg sich suchen - bis ihn an dem See 322 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="323"?> Der Wächter wiederum fängt. Und in der Zelle Die „Stille Nacht“ den Sterbenden umgibt-… Daß solch Geschlecht der Höllenhund verbelle! Wo Mensch nicht mehr den Gott im Menschen liebt. (B E R G E R , Karl Heinz / Püschel, Walter (Hrsg.) (1961). Deutsche Ballade von Bürger bis Brecht. Berlin: Neues Leben, 351-354) Durch seine eigenen Kriegserfahrungen in Verdun, wo binnen weniger Mo‐ nate 600.000 deutsche Soldaten ihr Leben verloren, schworen von Unruh und eine Reihe anderer Offiziere ihren Verdun-Eid ‚Nie wieder! ‘. Folglich forderte er fortan nicht als Offizier der deutschen Armee, sondern als Kriegsgegner in seinen Werken „neuere tiefere Verpflichtungen einzugehen, um eine menschenwürdigere, der Gegenwart wie Zukunft dienende Verantwortung zu übernehmen“ (Rasche 1960: 14 f.). Zu eben jenen mahnenden Texten gehört auch die im Kreuzreim ver‐ fasste Ballade „Der Flüchtling“. Beginnend mit dem intertextuellen Verweis auf Friedrich Schillers Drama Don Karlos, in dem der Marquis Posa dem absolutistisch herrschenden König Philipp II. zuruft „Sire, geben Sie Gedan‐ kenfreiheit! “ und damit einfordert, was vielen Menschen in der Zeit vor der Aufklärung verwehrt war, verweist der Text bereits zu Beginn auf die zentrale Forderung der namenlosen Hauptfigur, die sich fortan auf der Flucht befindet. Diese führt ihn in eine Reihe von Ländern (Frankreich, Belgien, Schweiz), in denen er, so erfährt man vom heterodiegetischen Erzähler, jedoch statt „Menschenherz“ und Rettung Armut, Hunger und Gefängnisaufenthalte erlebt. Dabei unterstreicht die gewählte strophenfreie Form den fehlenden Platz der Ruhe zusätzlich. Zweimal des Landes verwie‐ sen, ist er stets auf der Suche nach einer neuen Heimat. Eine Rückkehr nach Deutschland, in dem inzwischen der „Schlachthaustod“ droht, kommt für ihn nicht infrage. Und so irrt er hungernd und verarmt weiter, bis er in der Schweiz todkrank im Schnee verstirbt. Seinen Schwur auf die Menschenrechte schwört dabei zuletzt auch noch die „magre Hand“. - Vorschlag zur didaktischen Umsetzung Folgende Bezüge zu den Kompetenzen werden besonders berücksichtigt: Die Schüler: innen-… 5.4 Geschichte, Gesellschafts- und Sozialkritik 323 <?page no="324"?> ▸ analysieren die Ballade unter Verwendung der entsprechenden Fachter‐ mini in Bezug auf die rhetorischen Stilmittel und erfassen die Bedeutung jener für die Erschließung und Darstellung zentraler Themen. ▸ rekonstruieren den biografischen Entstehungskontext der Ballade. ▸ reflektieren und bewerten die Darstellung von Flucht in der Exillyrik intertextuell. ▸ setzen sich mit der Verwendung von Metaphorik in expositorischen Texten der aktuellen Presse differenziert auseinander und erfahren im sprachkreativen Spiel die Wirkmacht von Sprache. Vor dem Hintergrund der derzeitigen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen besitzt nicht nur die Wahl des Autors, sondern auch das ausgesuchte Werk einen hohen Aktualitätswert. Während in den Medien die Begriffe ‚Flüchtlinge‘ und ‚Migranten‘ häufig synonym verwendet werden, wodurch die Debatte verzerrt wird, soll sich die Unterrichtseinheit auf Themen und Texte von Flüchtlingen konzentrieren, womit nach der Genfer Flüchtlingskonvention (1951) jede Person gemeint ist, die „wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung […] den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will“ (UNHCR 2015: 6). Die Zahl der Menschen, die in diesem Sinne vor Krieg, Konflikten und Verfolgung und nicht, wie in den Medien häufig dargestellt, vor Armut fliehen, war noch nie so hoch wie heute. Ende 2022 waren 103 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht (vgl. 2017: 68,5 Millionen, 2005: 37,5 Millionen). Wenngleich davon 59 Millionen Menschen zu den Binnenvertriebenen gehören (vgl. UNO Flüchtlingshilfe 2022) und 9 von 10 Flüchtlingen in Entwicklungsländern leben (vgl. UNO Flüchtlingshilfe 26.07.2018), hat die Diskussion in den deutschen Medien und im privaten Umfeld seit 2015 kaum an Kontroversität verloren. Dringlicher denn je scheint es daher, Aufgabe der Schule zu sein, Lerngelegenheiten zu schaffen, in denen die Heranwachsenden Einblicke in die Lebens- und Erfahrungswelt von Geflüchteten erhalten, um sie so für die Beweggründe dieser Menschen zu sensibilisieren. Literarische Zugänge für die Auseinandersetzung bieten die Texte der Exilliteratur, u. a. von Mascha Kalèko, Heinrich Heine, Else Lasker-Schüler, Lion Feuchtwanger, Bertolt Brecht. Aber auch aktuelle Werke sollten in einer Unterrichtsreihe zum Thema „Flucht in der Literatur“, u. a. von der 324 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="325"?> tunesischen Lyrikerin Najet Adouani, die jüngst in Deutschland Asyl fand, aufgegriffen werden. Reise (Najet Adouani) Mein Reisepass ist ein grüner Revolver, eine Glocke am Körper, ich zieh in ein Land aus der Asche von Mythen. Die Mutter verlangt die verlorenen Jahre von mir zurück. Der Vater verlangt die Puppen zurück, die ich zum Fest bekam. Wem soll ich verkaufen mein Leben in diesem Himmel aus Abend-Jasmin? Ach Möwe, versengt von der sinkenden Sonne, in den Gelenken nistet die Kälte, Kamele zwingt der Sturm in die Knie Zwischen einer Mirage und der nächsten. Ach, kleine Heimat. A D O U A N I , Najet (2015). „Reise“, in: dies., Meerwüste, Berlin: Lotos Werkstatt Besonders zu empfehlen ist die Einbindung des Poetry „Keschmesch. Hinter uns mein Land“ von Babak Ghassim und Usama Elyas (2015). Sie können dieses unter: https: / / www.youtube.com/ watch? v=IQBncz9Rm qA abrufen. Im Sinne eines heterogenitätssensiblen Deutschunterrichts sollte die Lehrperson, den sprachlich-kulturellen Hintergrund ihrer Schüler: innenschaft berücksichtigend, drei bis vier Werke vorstellen aus denen die Lernenden eines zur genauen Analyse auswählen. Fragen zur Texterschließung sollten sich dabei auf die inhaltliche, formale und sprachliche Gestaltung der Texte konzentrieren. Mögliche Fragen und Aufgaben zur Analyse der ausgewählten Ballade „Der Flüchtling“ könnten sein: ▸ Worum geht es in der Ballade? ▸ Warum muss die Hauptfigur immer wieder fliehen? 5.4 Geschichte, Gesellschafts- und Sozialkritik 325 <?page no="326"?> ▸ Warum beginnt die Ballade mit dem Verweis „Sire, geben Sie Gedanken‐ freiheit! “ ▸ Markieren Sie die Stationen der Flucht im Text und auf einer Karte. ▸ Beschreiben Sie wie sich der Zustand des Flüchtlings im Verlauf der Ballade verändert. ▸ Markieren Sie die in der Ballade verwendeten sprachlichen Bilder, die den Zustand des Flüchtlings beschreiben und untersuchen sie diese auf ihre Wirkung. Welches Metaphernfeld wird hier verwendet? ▸ Untersuchen Sie die formale Ebene in Bezug auf Erzählzeit, erzählte Zeit und Erzählperspektive und beschreiben Sie deren Wirkung. ▸ Überlegen Sie, warum der Flüchtling in der Ballade namenlos bleibt? Aufgrund der stark autobiografischen Züge aller drei Texte kann der Zu‐ gang zu diesen im Anschluss an die Textanalyse über eine wechselseitige Betrachtung von Biographie und Text erfolgen, wie es Bekes 2016 für eine Auseinandersetzung mit den Werken von Mascha Kalèko vorschlägt (vgl. Deutschunterricht 6/ 2016). Fragen, die in solch einem Lernkontext bearbeitet werden, könnten sich mit den Konsequenzen für die Lebensgestaltung der Autor: innen in Folge der Diktaturen in ihren Ländern, mit dem persönlichen Umgang mit dem Faschismus bzw. den gesellschaftlichen Repressalien der politischen Sys‐ teme sowie mit den Gründen für die Emigration und die dort gesammelten Erfahrungen beschäftigen. So befindet sich auch von Unruh nach seinen Rufen gegen die wachsende Macht der Nationalsozialisten ab 1933 mit seiner Frau Friederike auf der Flucht. Er lebt zuerst in Zoagli an der ligurischen Küste (Italien), später in Frankreich, wo er jedoch 1940 interniert wird. Von dort gelingt ihm die Flucht über Spanien nach New York, wo Albert Einstein das Ehepaar von Unruh aus dem Lager der unerwünschten Flüchtlinge erlöst. Das Gefühl von Heimatlosigkeit und die Angst vor den staatlichen Kräften dürften von Unruh demnach vertraut gewesen sein. Dass er trotz dieser Zwänge, zu denen in Amerika auch noch der Hass auf die Deutschen hinzukommt, weiterhin an seinen Idealen und Werten festhält, belegen die zu jener Zeit veröffentlichten Romane, Dramen und Reden. Anders als die Figur in der Ballade, kehrt von Unruh nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges jedoch für eine Zeit nach Deutschland zurück. Dort erhält er u. a. den Wilhelm Raabe- und den Goethe-Preis sowie 1955 das Große Bundesverdienstkreuz. Die wachsende Aufrüstung zu Zeiten des Kalten Krieges lässt den „Soldat[en] 326 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="327"?> des Friedens“ (Rasche 1960: 19) jedoch seine Warnrufe erneuern. 1961 verlässt von Unruh Deutschland erneut, kehrt jedoch nach einem Hurrikan, der sein ganzes Hab und Gut vernichtet, bereits ein Jahr später wieder zurück und verstirbt dort 1970. Im Anschluss an die selbstständige Textarbeit kommen die Lernenden in textspezifischen Kleingruppen zusammen, um sich zu ihren Ergebnissen auszutauschen. Schreibkonferenzen zur Aufgabe: Beschreiben Sie die in Ihrem Text vorliegende Fluchterfahrung. Gehen Sie dabei insbesondere auf deren sprachliche Gestaltung ein, schließen die Gruppenarbeit ab. Die ausgesuchten Textbeispiele eint jedoch nicht nur ihr Einblick in die individuellen Ängste und Schmerzen von Flüchtenden sowie in deren Wechselspiel von Hoffnung und Enttäuschung, sondern auch die starke Metaphorik dieser. In der Ballade des ehemaligen Offiziers von Unruh wird das Wechselspiel der Gefühle besonders deutlich. Metaphorische Wendun‐ gen wie „Fortunas Kugel“, „Wolkenschimmel“ und „mit allen seinen Sinnen Leben witternd“ verstärken die Hoffnung auf Rettung während der Flucht im „Tränenschauer“ vor dem „Schlachthaustod“. Obwohl die Metapher nicht nur in den ausgewählten Texten zu den zentralen rhetorischen und poetischen Stilmitteln im Literatur- und Sprach‐ unterricht zählt (vgl. Dube/ Kammler 2018), stellt deren Analyse und Inter‐ pretation Lernende immer wieder vor Herausforderungen. Arbeiten zum Umgang mit Metaphorik haben in den letzten Jahren deshalb verstärkt auf die Berücksichtigung der kontextuellen Einbettung sowie die Einbeziehung unterschiedlicher Textsorten verwiesen (vgl. Katthage 2004 und 2006). Ergänzend zu den poetischen Metaphern wie „Mein Reisepass ist ein grüner Revolver“ (Adouani 2015) aus den Texten der Einzel- und Gruppenarbeits‐ phase sollte in einem sprachsensiblen Deutschunterricht auch die Metapho‐ rik in expositorischen Texten zum aktuellen Zeitgeschehen besprochen werden. Durch die Arbeit mit Ankerbeispielen, wie z. B. aus dem Bereich der Naturkatastrophen-Metaphorik (‚Flüchtlingswelle‘, ‚Flüchtlingsflut‘ oder ‚einzudämmende Flüchtlingsströme‘) oder Kriegsmetaphern (‚Festung Eu‐ ropa‘, ‚Ansturm auf die Grenzzäune‘, ‚belagerte Aufnahmezentren‘ oder ‚Die Flüchtlingszahlen explodieren‘) und der Reflexion dieser erwerben die Lernenden ein Bewusstsein für die Wirkmacht von Sprache. Um diese Erfahrungen zu verstärken, sollen die Lernenden in der letzten Stunde auch Raum für eigene metaphorische Sprachexperimente bekommen. Besonders intensive Spracherfahrungen können bei der wertenden Beschreibung von einfachen Gegenständen wie einem Ziegelstein gewonnen werden. Je nach‐ 5.4 Geschichte, Gesellschafts- und Sozialkritik 327 <?page no="328"?> dem, ob die Stärke und Tragfähigkeit des Steines oder ihre Zerstörungskraft in die Formulierung der Metapher fließt, führt diese zu Zuspruch oder Ablehnung. Der Einbezug von Exil- und Migrationsliteratur und die Reflexion der eingesetzten Metaphorik erweitern damit nicht nur die Perspektive auf eine häufig emotional geführte Debatte, sondern zeigen den Lernenden auch die Komplexität sprachlicher Stilmittel. Als erfolgsversprechend im Umgang mit Metaphorik in Texten erweist sich demzufolge nicht nur das textnahe Lesen und der intersubjektive Austausch, sondern auch die eigene sprachkreative Arbeit. 328 5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge <?page no="329"?> Rechtsnachweise S. 39f.: Bertold Brecht, „Ballade von des Cortez Leuten“, in: ders., Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Band 11: Gedichte 1 © Ber‐ told-Brecht-Erben / Suhrkamp Verlag 1988. S. 40f.: Walter Helmut Fritz, „Heillos“, in: Segebrecht, Wulf (2012): Deutsche Balladen: Gedichte, die dramatische Geschichten erzählen. München: Hanser, 81 © Carl Hanser Verlag GmbH & Co KG, München, Abdruck mit freundlicher Genehmigung. S. 42: Günter Grass, „Freitag“, in: Piontek, Heinz (1964): Neue Deutsche Erzählge‐ dichte. Eine Anthologie. Stuttgart: DVA, 255 © Steidl Verlag GmbH & Co. OHG, Göttingen. S. 150f.: Erich Kästner, „Sachliche Romanze“, aus: Lärm im Spiegel © Atrium Verlag AG, Zürich 1929 und Thomas Kästner. S. 154, Abb. 5.2: „Room in New York“, Edward Hopper (1932) / © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 S. 181, Abb. 5.4: „Die Bürgschaft“ © GEIST&BLITZE / Kerstin Höckel, Berlin 2015. S. 202, Abb. 5.7: Kamishibai mit Illustration von Antje Bohnstedt, aus: „Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland“ (Bildkartenset) © 2015 Don Bosco Medien, München / Foto: „DIY-Bausatz“ © 2014 www.donbosco-medien.de S. 215, Abb. 5.8: „Der Knabe im Moor“, Illustration: Reinhard Michl © Kindermann Verlag 2010. S. 240ff.: Michael Ende, „Die Ballade vom Seiltänzer Felix Fliegenbeil“. Berlin: Kindermann 2011 © Michael Ende: „Die Ballade vom Seiltänzer Felix Fliegenbein“ aus: Michael Ende: „Trödelmarkt der Träume. Mitternachtslieder und leise Balla‐ den“, hockebooks, 2010., S. Rechte beim Nachlass von Michael Ende, vertreten durch: AVA-international GmbH, München (www.ava-international.de). S. 243, Abb. 5.10: „Felix Fliegenbeil“, Illustration: Henrike Robert © Kindermann Verlag 2011. S. 247ff.: Lars Ruppel, „Holger, die Waldfee“, in: ders., Holger, die Waldfee. Zehn Gedichte über Redensarten. Berlin: Satyr Verlag, 9-14 © Satyr Verlag, Berlin 2014. 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Der theoretische Teil stellt Geschichte, Begriffe und Methoden der Literaturdidaktik systematisch dar und bildet auch die aktuelle fachdidaktische Diskussion ab. Der zweite Teil behandelt die unterschiedlichen Textgattungen und Medien. Dabei werden jeweils deren Besonderheiten und Eignung für den Unterricht besprochen, Hinweise zur Textauswahl gegeben und konkrete Unterrichtsvorschläge und Angaben zu weiterführender Fachliteratur gemacht. Der Band schließt mit einem Kapitel zur Projektarbeiten (z.B. literarische Lesungen, Theaterwerkstatt etc.) und mit einem Serviceteil zu Institutionen, Aus- und Fortbildungen, Zertifikaten, Hilfsmitteln etc. Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ Fax +49 (0)7071 97 97 11 \ info@narr.de \ www.narr.de <?page no="357"?> BUCHTIPP Christiane Hochstadt, Andreas Krafft, Ralph Olsen Deutschdidaktik Konzeptionen für die Praxis 3., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage 2022, 458 Seiten €[D] 26,90 ISBN 978-3-8252-5941-9 eISBN 978-3-8385-5941-4 Dieser Band liefert eine Übersicht über wesentliche deutschdidaktische Konzeptionen und präsentiert sprach-, literatur- und mediendidaktische Ansätze.Dabei orientiert er sich an den Kompetenzbereichen der KMK-Bildungsstandards. Jede Konzeption wird überblickshaft dargestellt, problematisiert sowie durch Aufgaben und kommentierte Literaturhinweise ergänzt. Das Buch bietet eine unersetzliche Grundlage, um Deutschunterricht fundiert zu planen und zu reflektieren. Für die . Auflage wurden einige Kapitel neu erstellt; daneben wurden alle bedeutsamen deutschdidaktischen Erkenntnisse der letzten Jahre eingearbeitet und das Thema Inklusion stärker in den Vordergrund gerückt. „Wer eine gut verständliche und fachlich fundierte Einführung in Konzeptionen der Deutschdidaktik sucht, lese den Band von Hochstadt, Krafft und Olsen.“ Prof. em. Dr. Dr. h.c. Kaspar H. Spinner, Universität Augsburg Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ Fax +49 (0)7071 97 97 11 \ info@narr.de \ www.narr.de <?page no="358"?> Dies ist ein utb-Band aus dem Narr Francke Attempto Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehr- und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb.de Die Ballade ist als Unterrichtsgegenstand fester Bestandteil des Literaturunterrichts. Dieser Band hilft dabei, ihr Potential für die Initiierung literarischer Lernprozesse neu zu entdecken. Dazu werden kanonische und jüngere Balladen in einem themenorientierten und mediensensiblen Unterricht aufbereitet. Der Band umfasst fachwissenschaftliche und fach didaktische Grundlagen sowie konkrete praktische Unterrichtsvorschläge. Damit gibt er Lehramtsstudierenden, Referendar: innen und Lehrenden des Faches Deutsch Einblick in aktuelle fachliche Diskussionen um-die Ballade und deren Vermittlung. Online sind Materialien zu den im Band präsentierten Unterrichtsangeboten verfügbar. „Es ist dem Buch also zu wünschen, dass seine Vorschläge im Unterricht häufig angenommen und umgesetzt werden.“ (Zeitschrift für Germanistik 1/ 2022) utb+ Das Lehrwerk mit dem digitalen Plus Literaturdidaktik QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel ISBN 978-3-8252-6106-1