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Medientheorien: Grundwissen und Geschichte

0429
2024
978-3-8385-6174-5
978-3-8252-6174-0
UTB 
Andreas Ströhl
10.36198/9783838561745

Medien, Codes sowie die Kanäle der Kommunikation entscheiden über unsere Wahrnehmungs- und Erlebnismodelle, über das Funktionieren von Gesellschaften, über unsere Kultur und unser Wertesystem - kurz: Sie gestalten die Art und Weise, wie Menschen in der Welt sind. In der aktualisierten und erweiterten Auflage stellt Andreas Ströhl die wichtigsten Theoretiker der Medien vor. Angefangen bei Platons Höhlengleichnis zieht sich seine Geschichte der Medien über Kant und Hegel bis ins 20. Jahrhundert. Dabei fehlen die gängigen Kommunikationsmodelle ebenso wenig wie Marshall McLuhan und die Frankfurter Schule. Schaubilder und Zusammenfassungen helfen beim Verständnis des Textes, Fragen mit Musterlösungen vertiefen den Lernstoff. Der perfekte Einstieg für Studierende der Medien-, Kommunikations- und Kulturwissenschaft.

<?page no="0"?> ISBN 978-3-8252-6174-0 Andreas Ströhl Medientheorien Grundwissen und Geschichte 2. Auflage Medien, Codes sowie die Kanäle der Kommunikation entscheiden über unsere Wahrnehmungs- und Erlebnismodelle, über das Funktionieren von Gesellschaften, über unsere Kultur und unser Wertesystem - kurz: Sie gestalten die Art und Weise, wie Menschen in der Welt sind. In der aktualisierten und erweiterten Auflage stellt Andreas Ströhl die wichtigsten Theoretiker der Medien vor. Angefangen bei Platons Höhlengleichnis zieht sich seine Geschichte der Medien über Kant und Hegel bis ins 20. Jahrhundert. Dabei fehlen die gängigen Kommunikationsmodelle ebenso wenig wie Marshall McLuhan und die Frankfurter Schule. Schaubilder und Zusammenfassungen helfen beim Verständnis des Textes, Fragen mit Musterlösungen vertiefen den Lernstoff. Der perfekte Einstieg für Studierende der Medien-, Kommunikations- und Kulturwissenschaft. Medien-, Kommunikations- und Kulturwissenschaft Medientheorien: Grundwissen und Geschichte Ströhl Dies ist ein utb-Band aus dem UVK Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehr- und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel 2. A. 2024-04-02_6174-0_Ströhl_M_4123_PRINT.indd Alle Seiten 2024-04-02_6174-0_Ströhl_M_4123_PRINT.indd Alle Seiten 02.04.24 11: 36 02.04.24 11: 36 <?page no="1"?> utb 4123 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Brill | Schöningh - Fink · Paderborn Brill | Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen - Böhlau · Wien · Köln Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Narr Francke Attempto Verlag - expert verlag · Tübingen Psychiatrie Verlag · Köln Ernst Reinhardt Verlag · München transcript Verlag · Bielefeld Verlag Eugen Ulmer · Stuttgart UVK Verlag · München Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld Wochenschau Verlag · Frankfurt am Main <?page no="2"?> Dr. Andreas Ströhl lehrte Medientheorie an der Universität Innsbruck, leitete das Filmfest München, promovierte über Vilém Flusser und publi‐ zierte vor allem zu Medientheorien. Derzeit leitet er das Goethe-Institut Johannesburg/ Region Subsahara-Afrika. <?page no="3"?> Andreas Ströhl Medientheorien: Grundwissen und Geschichte 2., aktualisierte und erweiterte Auflage UVK Verlag · München <?page no="4"?> 2., aktualisierte und erweiterte Auflage 2024 1. Auflage 2014 unter dem Titel „Medientheorien kompakt“ DOI: https: / / doi.org/ 10.36198/ 9783838561745 © UVK Verlag 2024 ‒ ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikro‐ verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Heraus‐ geber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: siegel konzeption | gestaltung CPI books GmbH, Leck utb-Nr. 4123 ISBN 978-3-8252-6174-0 (Print) ISBN 978-3-8385-6174-5 (ePDF) ISBN 978-3-8463-6174-0 (ePub) Umschlagabbildung: © filo - iStock Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbib‐ liografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 7 9 10 14 17 23 29 29 ✻ 31 40 43 49 49 50 53 57 ✻ 57 ✻ 69 81 81 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wozu braucht man Medientheorie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seit wann gibt es Medientheorien? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was sind Medien? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verwirrende Disziplinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die philosophische Vorgeschichte: Medientheorie vor der Medientheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das vedische Konzept von Maja . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schatten in der Höhle: Platons Ideenlehre und Höhlengleichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Immanuel Kants Erkenntnistheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hegel und die Dialektik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Metaphern prägen unser Mediendenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anatomie und Blutkreislauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Friedrich List und Adam Heinrich Müller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Zweite Industrialisierung und das Riepl’sche Gesetz . . . . . . . Medientheorien im 20.-Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunikation statt Distribution: Bertolt Brechts Radiotheorie und die Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Aura zum Chock: Walter Benjamin - die Kunst, ihre Reproduzierbarkeit und die Technik . . . . . . . . . . . . . . . Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunikationsmodelle: Karl Bühler, Claude Shannon, Warren Weaver und Roman Jakobson - und die Lasswell-Formel . . . . . . <?page no="6"?> ✻ 91 ✻ 105 ✻ 119 131 ✻ 136 ✻ 151 ✻ 167 186 199 ✻ 199 ✻ 212 ✻ 226 241 241 246 249 259 265 280 283 284 Das Medium wird Botschaft … und Marshall McLuhan ist sein Botschafter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marxismus, Frankfurter Schule, Kritische Theorie: Adorno und Horkheimer, Enzensberger und Habermas als Medientheoretiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Melancholische Meditationen über die Fotografie: Roland Barthes und Susan Sontag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Konstruktivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teilnahmsloser Beobachter dritter Ordnung: Niklas Luhmanns Systemtheorie der Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wait a minute, Prof. Postman! Oder: Die schlechte Laune der Kulturpessimisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Dialog, von Kanälen und Codes: Vilém Flussers bodenlose Phänomenologie der Kommunikation . . . . . . . . Everything Turns: Die Lawine der Wenden im 20.-Jahrhundert . Medientheorien in der Postmoderne und Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . Das Komplott der Simulakra: Jean Baudrillard . . . . . . . . . . Rasender Stillstand: Paul Virilio - der Krieg, die Beschleunigung, das Verschwinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Geist singt nicht mehr im Signifikantenstadel: Friedrich Kittler und das technische Apriori . . . . . . . . . . . . … und jetzt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Erbe der Gründerväter und der Versuch, Abschied zu nehmen Nach dem Abschied vom Abschied von den Medientheorien . . . Auf der Suche nach afrikanischen Medientheorien . . . . . . . . . . . . Was also sind Medien? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Index . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenindex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> Vorwort Medientheorien: Grundwissen und Geschichte gibt einen Überblick über die wichtigsten Medientheorien. Nicht nur als Einführung dient der Band jedoch, sondern zugleich auch als kurze Kulturgeschichte dieser Medien‐ theorien, insbesondere der eher philosophischen oder auch spekulativen Theorien. Selbstverständlich kann ein derartiger Abriss niemals Vollstän‐ digkeit beanspruchen. Beim Verfassen bestand also eine Herausforderung darin, Akzente zu setzen, den zum Weglassen nötigen Mut aufzubringen - und doch zugleich nichts Wesentliches zu übersehen. Der Band setzt wenig Vorbildung voraus und holt die zum Verständnis moderner Medientheorien wichtigsten geistesgeschichtlichen Voraussetzungen in Kürze nach. Dabei wurde nach dem Grundsatz verfahren, auch komplexe Theorien so knapp es geht zu beschreiben und so einfach wie möglich zu erklären. Der Text wurde für die 2. Auflage aktualisiert und erweitert, insbesondere wurden die Online-Literaturquellen mit aktuellen Links versehen, und im Schlusskapitel ist ein Abschnitt über afrikanische Medientheorien neu hinzugekommen. Um den unterschiedlichen Gebrauchsweisen des Buches - als Selbstlern-, als Lese- und als Nachschlagewerk - gerecht zu werden, wurde ein eher ungewöhnlicher Aufbau gewählt: Zwölf Schlaglichter erhellen die Theorien besonders wichtiger Denker oder Denktraditionen. Sie haben die Geschichte der Medientheorien besonders nachhaltig geprägt und finden deshalb in eigenen Kapiteln Niederschlag, die in einen allgemeinen Einführungs- und Überblickstext eingebettet sind. Diese beiden Bestandteile des Gesamttextes werden deutlich voneinander abgehoben. Die zwölf Hauptkapitel stehen auch für sich und sind jeweils mit einer Vorschau, einer Zusammenfassung und Übungsaufgaben ausgestattet. Um die Handhabbarkeit des Buches noch weiter zu erhöhen, kommen zum Inhaltsverzeichnis und Personenregister, zu Schaubildern und Tabellen sowie zu den Vorschauen, Zusammenfassun‐ gen und Verständnisfragen, noch Querverweise hinzu. Dank dieser Hilfs‐ mittel ist es möglich, an jeder beliebigen Stelle mit der Lektüre einzusetzen und lesend, vom Thema gesteuert, hin und her zu springen. Medientheorien: Grundwissen und Geschichte zu schreiben, hat Spaß ge‐ macht. Selbstverständlich soll die Lektüre helfen, das Wissen der Leserinnen und Leser zu mehren. Vor allem aber soll sie Ihnen Vergnügen bereiten. <?page no="8"?> Andreas Ströhl Fragen und Musterantworten zur Verständnisüberprüfung, weiterfüh‐ rendes Material, Lesetipps und -listen sind kostenlos über https: / / files. narr.digital/ 9783825261740/ Zusatzmaterialien.pdf erhältlich. 8 Vorwort <?page no="9"?> 1 Martin Buber spricht in diesem Zusammenhang vom »Mittlertum des Du aller Wesen« (Buber 1995, 71). Die verantwortungsvolle Beziehung zwischen Menschen deutet er als Gleichnis für die Beziehung zu Gott, weil zu diesem keine unvermittelte Beziehung möglich ist. Mehr dazu im Kapitel über Vilém Flusser. Einführung Mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht. (2. Mose 33.20) Gott war für die Autoren des Alten Testaments gewaltig, überwältigend und unzugänglich. So unerträglich stellten sie ihn zumindest sich vor, dass ein gewöhnlicher Sterblicher seinen Anblick nicht überleben würde. Und doch wurde diesem Gott unterstellt, er wolle mit seinen Geschöpfen, zumindest mit einigen von ihnen, kommunizieren. Das hatte zwei Konsequenzen: Um mit seinem auserwählten Volk spre‐ chen zu können, brauchte Gott erstens einen Mittelsmann: Moses. Nur Moses ist autorisiert. Der göttliche Autor, der Schöpfergott, hat allein ihm die Fähigkeit verliehen, seinen Anblick zu ertragen, ihn sehen und hören zu können, und dann dem Volk wie ein Dolmetscher seine jenseitigen Nachrichten zu überbringen. Selbst er, der Allmächtige, ist auf den Mittler angewiesen, auf das Medium Moses. Nur durch dessen Vermittlung können die Israeliten das Göttliche überhaupt wahrnehmen. Ohne das Medium wäre ihr Bund mit dem neuen Gott nicht möglich; Kommunikation könnte ohne Medium gar nicht stattfinden. Zugleich zeigt sich schon hier die Zweischneidigkeit jeder medialen Vermittlung: Es gibt keinen direkten Zugang zur Quelle, zur Wahrheit. Alles, was die Israeliten von Gott wahrnehmen, ist das, was Moses über ihn sagt. Das Medium schiebt sich zwischen die Wahrnehmenden und die wahrgenommene Sache. Nicht die Sache wird eigentlich sichtbar, sondern - und auch dies nur bei konzentriertem Hinsehen - das Medium. Aber ohne das Medium gäbe es diese Wahrnehmung überhaupt nicht. 1 Zweitens aber befanden sich die Autoren dieser Erzählung in einer medi‐ engeschichtlich beispiellosen Situation: Sie schrieben. Und zwar schrieben sie, anstatt zu modellieren oder zu malen. Die Schrift steht am Beginn des Monotheismus, der mit einer magischen Weltvorstellung aufräumen sollte, <?page no="10"?> mit der Vorstellung, ein Götzenbild oder eine Ikone symbolisiere nicht nur eine Gottheit, sondern sei diese selbst. Die sogenannten Schriftreligionen sind Aufklärungsbewegungen. Geschrieben wurden sie vor allem gegen etwas, gegen die Anbetung von Bildern. Wie wird dieser Vorgang in der Bibel selbst dargestellt? Gottes Finger schreibt den Grundtext, die zehn Gebote, auf Gesetzestafeln und übergibt sie Moses, der die Tafeln vom Berg Sinai herunterbringt. Da sieht Moses unten die Israeliten ums Goldene Kalb tanzen. Vor Wut und Empörung zerschmettert er den Urtext. Doch dessen Autor zeigt Verständnis. Moses geht ein zweites Mal auf den Berg. Diesmal schreibt der Prophet selbst die Worte auf, die ihm der Autor diktiert. Dann überbringt er seinem reuigen Volk die zweite Auflage der zerstörten Erstausgabe: Die Schrift an sich also ist wertlos; sie ist eine Kulturtechnik, weiter nichts. Heilig ist der Inhalt des Textes, nicht aber das ihn bedeutende Zeichen, welches bloß auf den Inhalt verweist. Die Israeliten gehen in diesem Moment, in dem sie den Inhalt von den Zeichen seiner Wiedergabe trennen, einen gewaltigen zivilisatorischen Schritt, einen Schritt, der unsere Kulturen und unser Bewusstsein bis heute prägt. Die Kapitel 31 bis 34 des 2. Buch Mose enthalten im Grunde alles, was zur Begründung einer Theorie des Medialen notwendig ist. Ebenso wie andere große archaische Erzählungen ist die Bibel voll von solchen Motiven. Ist nicht der Mittelsmann Moses eine Präfiguration, eine Vorwegnahme von Gottes menschgewordenem Sohn, der zwischen diesem und den Menschen vermitteln soll? Sind die Engel nicht Boten, Kuriere und göttliche Nachrich‐ tentechniker? Das Alte Testament ist nur ein willkürlich gewähltes Beispiel unter vielen. Ebenso gut hätten wir unsere Expedition in die Medientheorie auch mit irgendeinem anderen Text beginnen können, mit der Ilias zum Beispiel oder dem Mahābhārata. Aber was ist eigentlich ein Text und: Wozu braucht man Medientheorie? Moses muss zwischen dem Auserwählten Volk und seinem Gott vermitteln, denn dessen bloßer Anblick würde die Israeliten töten. Die Wahrheit an sich ist als solche entweder gar nicht wahrnehmbar für die menschlichen Sinne oder so gewaltig, dass sie dem Menschen zum Verhängnis würde. Mediale Vermittlung ist deshalb eine existentielle Notwendigkeit. Dieses Motiv des Alten Testaments steht in der Ideengeschichte der Menschheit 10 Einführung <?page no="11"?> nicht allein da. In seinem berühmten Höhlengleichnis (→ S.-35) beschreibt der griechische Philosoph Platon im 4. Jahrhundert vor Christus, wie der Bewohner einer Höhle »nachdem er an das Sonnenlicht gekommen, die Augen voll Blendung haben und also gar nichts von den Dingen sehen können« würde. In Friedrich Schillers Gedicht Das verschleierte Bild zu Sais (1795) weigert sich »ein Jüngling, den des Wissens heißer Durst nach Sais in Ägypten trieb«, das Verbot der direkten Teilhabe an der Wahrheit zu akzeptieren: »Was ists, Das hinter diesem Schleier sich verbirgt? « »Die Wahrheit«, ist die Antwort. - »Wie? « ruft jener, »Nach Wahrheit streb ich ja allein, und diese Gerade ist es, die man mir verhüllt? « Daraufhin enthüllt er das Bild der Wahrheit, welches den Sterblichen aus gutem Grund unzugänglich ist, und vegetiert schließlich infolgedessen in geistiger Umnachtung »besinnungslos und bleich« dahin. Auch hier ist uns die reine Wahrheit selbst unzugänglich. »Kein sterblicher Mensch hat meinen Schleier aufgehoben« (Schiller 1962, 507), warnt sie uns bei Schiller höchstpersönlich. Ein vom Vorgang seiner Vermittlung abgetrennter, also nicht medial gedachter Inhalt ist, um weiter mit Schiller zu sprechen, »nimmermehr erfreulich«. Früh schon in der Kulturgeschichte der Menschheit hat sich eine Vorstellung davon entwickelt, dass die Wahrnehmung des Menschen nicht gleichzusetzen ist mit der ihn umgebenden Wirklichkeit, dass er der Wahrheit nicht unmittelbar teilhaftig werden kann. Das ist sehr weitgehend Konsens in der Geschichte der Philosophie. Aber es gibt verschiedene Möglichkeiten, mit diesem Grunddilemma umzugehen. Einer zufolge ist eine mittelbare Erkenntnis der Welt möglich. Dieser Denkweg versteht Media‐ tion, Medien, Medialität als Voraussetzung der Möglichkeit von Wahrneh‐ mung und Erkenntnis. Ein anderer Ansatz verneint diese Möglichkeit jedoch zur Gänze. Die Welt ist dann bloße Illusion, reines Scheingebilde. Dieses Verständnis der Welt führt zu keiner fruchtbaren Theorie der Erkenntnis, der Kommunikation oder der Wahrnehmung. Doch ganz egal, welche von beiden Reaktionen die richtige ist: In keinem Fall ist die Welt einfach so, wie sie sich für uns scheinbar darstellt. Das Wissen um diesen Umstand ist so fundamental, so essenziell, dass sich durchaus argumentieren ließe, dass es eben diese Erkenntnis von der Unmöglichkeit einer unmittelbaren Wozu braucht man Medientheorie? 11 <?page no="12"?> Erkenntnis, von einer nicht-medialen Wahrnehmung ist, die das Menschsein eigentlich ausmacht und definiert. Der Mensch ist demnach dasjenige Wesen, das weiß, dass das von ihm Wahrgenommene nicht einfach die Wirklichkeit ist. Noch ein dritter Ansatz soll hier vorab Erwähnung finden. Es ist der des (radikalen) Konstruktivismus (→ S. 132), einer Theorie, die den Me‐ dien nicht die Rolle als Mittler einer unabhängig von ihnen bestehenden Wirklichkeit zuschreibt. Der (stets mediale) Wahrnehmungsvorgang selbst ist es hingegen, der nach Meinung radikaler Konstruktivisten das Wahr‐ genommene erst erzeugt und so die Welt eigentlich erschafft, die wir wahrzunehmen glauben. Schon dieser sehr flüchtige Blick auf die Bedeutung von Medien und auf ihre Rolle in unserer Wahrnehmung der Welt zeigt, dass es sich lohnt, ihre Funktion und Wirkungsweise einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. Genau dies haben sich Medientheorien zur Aufgabe gemacht. Medientheo‐ rien sind notwendig, sobald man sich bewusst macht, dass Wahrnehmung stets vermittelt ist und in der Kommunikation zwischen einem Ich und einem Du ein Drittes steht - eben das Medium. Die Klärung von Funktionen und Eigenschaften des Medialen wird unumgänglich, sobald ich verstehe, dass meine gefühlte Teilhabe an der mich umgebenden Wirklichkeit nicht so direkt und unkompliziert abläuft, wie es mir erscheint, solange ich meine Wahrnehmungsweisen nicht infrage stelle. Fassen wir also zusammen: Medien vermitteln zwischen mir und der Welt und zwischen mir und anderen Menschen. Ohne sie könnte ich weder Men‐ schen noch die Welt erkennen. Zugleich beeinflussen und prägen Medien diese Wahrnehmung, welche sie selbst ermöglichen. Sie sind nie neutral oder frei von Haltungen und Perspektiven, von Filterungen, Wichtungen und Wertungen. Nach Meinung etwa der erwähnten konstruktivistischen Theoretiker stellen sie sogar die Wirklichkeit selbst überhaupt erst her. Und schließlich können Medien Daten nicht nur übertragen und vermitteln, sondern auch speichern - einige über kürzere Zeiträume (z. B. Schallwellen), andere über längere Zeiträume (z. B. die Pyramiden). Was unsere Wahrneh‐ mung und Erkenntnis so grundlegend bestimmt wie Medien es tun, das bedarf einer näheren Untersuchung und einer theoretischen Reflexion. Im selben Moment, in dem sich das Zeichen von seiner Bedeutung löst, in dem also die Skulptur eines Kalbs nicht mehr Gott selbst ist und ein Baum und das Wort »Baum« nicht mehr ein und dasselbe sind, entsteht ein Bewusstsein für die Zeichenhaftigkeit der Sprache. Um allgemeiner auch für 12 Einführung <?page no="13"?> 2 S. hierzu Weber 2010, 18-27. nonverbale Zeichensysteme (wie z. B. das System der Verkehrszeichen, für Musik oder für die Körpersprache) Aussagen treffen zu können, sprechen wir künftig nicht von »Sprache«, sondern vom »Code«. Ein Code ist ein System von Zeichen. Eine konkrete, zusammenhängende und abgrenzbare Anordnung von Zeichen eines Codes (z. B. das Alte Testament, das Goldene Kalb, die Verkehrszeichen einer Stadt, eine Symphonie oder eine Panto‐ mime) ist ein Text. Komplizierter wird die Sache in dem Moment, in dem der Begriff »Me‐ dium« hinzukommt. Denn die Zeichen sind nur ein Teil dessen, was da vermittelnd zwischen uns und die Welt tritt. Und selbst dieser einfache Satz ist medientheoretisch unsicher. Denn es gibt mit den bereits erwähnten radikalen Konstruktivisten auch sehr ernstzunehmende Medientheoretiker, die die Welt (und auch uns selbst) eher als das Produkt eben dieser Zeichen verstehen. Aber zurück zum Begriff des »Mediums«. Die Codes (z. B. die Schrift), die Datenträger (z. B. das Buch), die Kulturtechnik (z. B. das Lesen), die zur Übertragung oder Speicherung von Daten verwendete Technik (z. B. der Buchdruck), die Kanäle, durch die diese Daten transportiert werden (z. B. Verlage und Buchhandel), die technischen (z. B. die Druckerpresse) und selbst die gesellschaftlichen Apparate und Institutionen (z. B. die Schulen oder Bibliotheken), ja sogar das Geld, die Wahrheit oder die Liebe - all dies ist schon irgendwann einmal in irgendeiner Theorie der Medien als »Medium« bezeichnet worden. Und auch in der Geschichte von Moses und den Zehn Geboten würden verschiedene Medientheoretiker unterschiedliche Medien erkennen - die einen sähen in Moses den Mittler oder Mediator, das Medium also, andere in den Steintafeln, wieder andere in der Schrift, in der verwendeten Sprache oder in der Institution des Gesetzes selbst. Der Begriff »Medium« ist geradezu bizarr schillernd, widersprüchlich und unscharf, fast schon beliebig. Wie sich zeigen wird, ist dies allerdings nicht ohne Grund so. Und dass dies in den Kulturwissenschaften kein Sonderfall ist, zeigt schon ein Hinweis auf die Spannweite der Bedeutungen von Begriffen wie »Kunst« oder »Kultur«. Auf den Versuch einer allgemeingül‐ tigen Definition des Begriffs »Medium« (und erst recht auf den Versuch einer Definition von »Theorie«) 2 wird hier deshalb zunächst verzichtet. Stattdessen werden verschiedene Medienbegriffe ins Visier genommen. Wozu braucht man Medientheorie? 13 <?page no="14"?> Seit wann gibt es Medientheorien? In den ersten Medientheorien, die aus heutiger Sicht als solche gelten, etwa bei Platon (→ S.-31), taucht der Begriff »Medium« selbst gar nicht auf. Die mythischen Erzählungen, die irgendwann einmal in Schriftform gegossen wurden, wie etwa die Bibel oder die Ilias, besitzen aber durchaus medien‐ theoretisches Potenzial, wie die eingangs nacherzählte Episode von Moses und den Gesetzestafeln zeigen sollte. Dass darin Fragen von Autorschaft und Erzählstrategien, von Mündlichkeit und Schriftlichkeit verhandelt werden, deutet darauf hin, dass medientheoretische Fragestellungen auch damals, vor 3.000 oder 5.000 Jahren, als ganz existentiell und wesentlich in ihrer Bedeutung betrachtet wurden. Was darin verhandelt wird, trägt heute die Bezeichnungen »Medium«, »Kulturtechnik« oder »Kommunikationsstruk‐ tur«. Heutige Medientheorien und moderne oder postmoderne Medienphi‐ losophie beziehen sich folglich immer auf eine Philosophiegeschichte, in der viele ihrer Grundfragen schon gestellt sind. Es sind besonders die ungelösten Probleme aus der Geschichte der Erkenntnistheorie, die heute im Gewand dieser Theorien wiederkehren. Doch auch der Begriff des »Mediums« ist schon uralt. Begriffsgeschichten sind zwar immer fragwürdig, weil sich Bedeutungen nicht sinnvoll von dem kulturellen Zusammenhang trennen lassen, der ihnen erst Sinn verleiht. Und dieser unterliegt häufigen Wandlungen. Legt man aber Wert darauf, eine Geburtsstunde für die heutige Bedeutung des Begriffs »Medium« festzule‐ gen, so ließe sich diese wohl am sinnvollsten bei Aristoteles ansetzen. Im siebten Hauptstück des zweiten Buchs von De animus schreibt er: Democritus ist hier unrichtig, indem er meynt, daß wir, wenn das Medium, (durch das wir sehen,) ein Vacuum wäre, weit deutlicher sehen würden, ja, daß wir selbst eine Ameise im Himmel, (durch das Auge,) unterscheiden würden. Denn dieß ist ganz unmöglich. Weil das Sehen nur dadurch geschieht, daß das Sinnorgan, (von Außen,) leidet. (Mithin von Etwas äußerem afficirt wird.) Daß es von der Farbe (dem gefärbten Gegenstande,) der gesehen wird, (unmittelbar) afficirt werde, ist gar nicht möglich. (Weil dann der Gegenstand uns zu nahe, und mithin, eben deswegen, für uns nicht sichtbar wäre.) Es bleibt daher nichts übrig, als, daß er durch ein Medium afficirt werde. Folglich ist ein solches Zwischending, (ein Medium,) nothwendig. Wenn es aber zu einem Vacuum würde, würde nicht nur nichts deutlich, sondern vielmehr gar nichts gesehen werden. (Aristoteles 1794, 132) 14 Einführung <?page no="15"?> Schon bei Aristoteles, dem Urvater abendländischen Denkens, findet sich also die Überlegung, dass wir ohne Vermittlung eines »Zwischendings«, ei‐ nes Mediums, nichts wahrnehmen könnten. Die gewählte Aristoteles-Über‐ setzung stammt aus der Zeit der Französischen Revolution, weil sich mit die‐ sem Beginn der Neuzeit im engeren Sinne auch unser modernes Verständnis von Medien ausformt. Medien und ihre Funktionen hat es immer gegeben. Doch erst mit dem Aufkommen des Buchdrucks, mit der Reformation und der darauffolgenden Alphabetisierung weiter Bevölkerungsteile entsteht ein Bewusstsein für das Massenmedium als solches. In der Wahrnehmung von Medien ist dies die zweite Zäsur. Die erste Zäsur war die Erfindung der Schrift selbst, das Aufkommen der Schriftreligionen Judentum, Christentum und Islam sowie die ersten Reflexionen über die Schrift und das Mediale bei Aristoteles, Sokrates und Platon. In diesem Zeitraum zwischen der flächendeckenden Verbreitung des ersten technisch hergestellten Massenmediums Buch und der für dessen Rezeption erforderlichen Kulturtechnik des Lesens im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts, einerseits, und dem Aufkommen der ersten technischen Bilder (der Fotografie und dem Film) und der ersten elektrischen Medien‐ techniken (Telegrafie und Radio) im 19. und 20. Jahrhundert, andererseits, beginnt sich eine andere Vorstellung vom Medium zu formen. Medien scheinen nun ein Eigenleben anzunehmen. Obwohl auch die ersten explizit als »Medientheorie« bezeichneten Thesen genau zu dieser dritten Zäsur im frühen 20. Jahrhundert formuliert werden, gab es zuvor im weitesten Sinne schon eine moderne Medientheorie avant la lettre, eine, die sich ihrer selbst nur noch nicht bewusst war. In dieser Zeit bildet sich nun etwas heraus, was sich aus heutiger Sicht »Medienwissenschaft« nennen ließe: Noch zögerlich in den 1930er Jahren auf beiden Seiten des Atlantiks, aber deut‐ licher schon in den späten 1950er Jahren und massiv um die Jahrtausendwende entstehen immer wieder Programme von Medienwissenschaften genau dann, wenn wir Medienübergänge, also den massiven Durchbruch eines oder mehrerer neuer technischen Medien zu beobachten haben. Der Übergang Stummfilm/ Ra‐ dio/ Tonfilm ab Ende der 1920er Jahre prägt in den USA den Begriff; der Übergang Radio/ Fernsehen in den 1950er Jahren generiert die ersten Entwürfe von Medi‐ enwissenschaft; mit dem dritten, dem Übergang Fernsehen/ Computer/ Internet in den 1990er Jahren erleben wir die Inflation von Medienwissenschaftskonzepten, vor denen wir heute stehen. (Hagen 1988, 88) Seit wann gibt es Medientheorien? 15 <?page no="16"?> In den 70er- und 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts ereignet sich eine weitere, vierte Zäsur, der Medial Turn. Medienwissenschaften und vor allem Medi‐ entheorien rücken nun zur modischen Leitwissenschaft auf. Die mediale Bedingtheit unserer Wahrnehmung gerät in den Mittelpunkt zahlreicher Theorien und Wissenschaften, bis hin zu den von den Geisteswissenschaften zuvor weitgehend unbehelligten Naturwissenschaften. Weil es nun Schall‐ platten gibt, die sprachliche Texte wiedergeben können, wird plötzlich klar, dass auch die Schrift ein Code ist, der nicht ohne Einfluss auf das mit seiner Hilfe und in ihm inhaltlich Formulierte bleiben kann, dass auch die Schrift und das Buch nur Medien sind, Medien, die sich zufällig vor der Schallplatte und dem Radio etabliert haben. Woher »wissen wir eigentlich«, fragt beispielsweise Vilém Flusser, dass die »großen Schriftsteller (inklusive dem Autor der Heiligen Schrift) nicht lieber auf Tonband gesprochen oder gefilmt hätten? « (Flusser 1992c, 7) Der Geist als Gegenstand der Geistes‐ wissenschaften wird von Friedrich Kittler (→ S. 230) infrage gestellt - zugunsten einer Fokussierung auf Codes, Kanäle und Medientechniken. Plötzlich erschüttert erstens ein im Grunde lange schon bekannter Umstand die Art und Weise, wie Wissenschaft betrieben und Kunst geschaffen wird: dass nämlich unser Denken vom Code, in dem es stattfindet, abhängt, und unsere Wahrnehmung von medialen Prägungen. Zweitens gelingt erst zu diesem Zeitpunkt, um die Mitte des 20. Jahrhunderts, der unvoreingenom‐ mene Blick auf die Medien an sich, das heißt losgelöst von den von ihnen transportierten Inhalten. Rückblickend erscheint dies verwunderlich. Denn wenn wir uns in der öffentlichen wie der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit vor allem auf den Inhalt von Kommunikationen konzentrieren, gleicht das dem hypothetischen Versuch, die Bedeutung des Automobils zu verstehen, indem man ignoriert, daß es ein neues Transportmittel gibt, und sich statt dessen auf eine detaillierte Untersuchung der Namen und Gesichter von Passagieren konzentriert (Meyrowitz 1990, 56). Erst die aus dieser Erkenntnis entstehende Umorientierung markiert den Beginn einer Medientheorie im engeren, heutigen Sinn. Heute schließlich haben, fünftens, die Alltäglichkeit der Nutzung immer leistungsfähigerer Gadgets, die in immer mehr Bereiche des Lebens eindrin‐ gen, sowie die Allgegenwart von Internet, Sozialen Medien, Big Data und Künstlicher Intelligenz zu einer Relativierung der großen, sinnstiftenden Medientheoriegebäude der 1980er- und 90er-Jahre mitsamt ihrer apokalyp‐ tischen oder utopischen Prophezeiungen geführt. 16 Einführung <?page no="17"?> 3 S. hierzu: Krämer 2008. Nochmals die hier vorgeschlagenen Zäsuren, welche uns helfen sollen, die Geschichte von Medientheorien übersichtlich zu strukturieren: 1. von den Anfängen der Mediennutzung bis zu den großen Epen, Schrift‐ religionen und zur klassischen griechischen Philosophie (um die Zeiten‐ wende) 2. bis zu Buchdruck, Reformation und Alphabetisierung (16.-18. Jahrhun‐ dert) 3. bis zu den technischen Bildern und den elektrischen Medientechniken (19.-20.-Jahrhundert) 4. bis zum Medial Turn und dem Aufstieg der Medientheorien zu Leitwis‐ senschaften (1970er/ -80er Jahre) 5. Relativierung der Großtheorien; das Internet als dominantes Verbund‐ medium (seit den 1990er Jahren) Was sind Medien? Schon an der Frage, was überhaupt ein Medium sei, zerschellt der Traum von einer einheitlichen Wissenschaft oder Theorie von den Medien. Wie das Aristoteles-Zitat oben zeigt, stellte man sich in der Antike und in der Folge der aristotelisch und platonisch beeinflussten Lehren in Europa (einschließlich des Katholizismus) unter »Medien« zunächst physische Stoffe wie Luft oder Wasser vor. 1675 ging Isaac Newton noch von einem ätherischen Stoff aus, der die Bewegung des Lichts und damit das Sehen ermögliche. Dieser Stoff galt ihm als Medium. Parallel dazu waren Medien aber immer auch Sendboten des göttlichen Willens. Der Götterbote Hermes ebenso wie der Erzengel Gabriel, der Prophet Mohammed oder Jesus Christus: Sie alle überbringen göttliche Nachrichten. 3 Für Katholiken übernimmt die Jungfrau Maria allerlei Fürbit‐ ten, die offenbar einer medialen Vermittlung bedürfen. Von Anbeginn an hat unsere Vorstellung vom Medium also auch religiöse Züge: Das Heilige, die Wahrheit selbst zu sehen, ist uns unmöglich oder verboten. Mittler sind nötig. Das können Engel, Propheten oder Priester sein - oder eben Schriften oder andere Datenspeicher. Dieser Tradition entstammt auch der Sprachgebrauch vom Medium als dem besonders begabten Empfänger übersinnlicher Information. Bis ins Was sind Medien? 17 <?page no="18"?> 4 Ein Umstand, der wie zur Illustration der Simulationsthese von Jean Baudrillard geschaffen ist: Das Simulakrum als Darstellung der Realität und Realität in einem. Doch dazu mehr im Kapitel über Jean Baudrillard (→ S.-204). frühe 20. Jahrhundert wird unter einem Medium vor allem ein Mensch verstanden, der dank besonderer Begabung, durch Trance, Hypnose, Dro‐ gen, Nahtoderfahrungen, Hysterie oder andere ekstatische Begleitumstände in der Lage ist, mitzuteilen, was anderen Menschen nicht offenbar wird: verborgenes, geheimes Wissen, die Zukunft etc. Als Franz Anton Mesmer Ende des 18. Jahrhunderts diese Formen von Volksglauben, gestützt durch die gleichzeitige Erforschung der Elektrizität und die Entdeckung der »tie‐ rischen Elektrizität« durch Luigi Galvani, vorgeblich naturwissenschaftlich fundiert, als er Formen von Hypnose als »animalischen Magnetismus« gesellschaftlich akzeptabel und salonfähig zu machen versucht, werden seine Versuchspersonen ganz selbstverständlich als »Medien« bezeichnet. Ein Indiz dafür, dass der Begriff des Mediums im Sinne von Durchlässigkeit für etwas verwendet worden ist, findet sich in Georg W. F. Hegels Wissenschaft der Logik von 1812 - fast beiläufig wird da erwähnt, dass so, wie das Wasser im Körperlichen die vermittelnde Funktion eines Mediums hat, im Bereich des Geistigen die Zeichen bzw. die Sprache diese mediale Funktion übernehmen […]. Das Medium ist ein Tor zur Welt des Symbolischen (Hartmann 2010, 273). Ab 1870 fotografiert der Arzt Jean Martin Charcot in der berühmten Nervenheilanstalt Salpêtrière in Paris Hysterikerinnen. Seine Modelle, wie die durch die Sessions und Fotos berühmt gewordene Augustine, waren Patientinnen und Darstellerinnen zugleich. 4 Vor allem aber verkörperten sie etwas Unheimliches, anscheinend ihnen selbst Unzugängliches: Sie sind Medien, die etwas transportieren und vermitteln. Die Fotografie selbst als »Medium« zu bezeichnen, wäre damals aber noch niemandem eingefallen. Und noch als der Parapsychologe Albert von Schrenck-Notzing 1929 Fotos von »Materialisationsphänomenen« (z. T. in Anwesenheit von Thomas Mann) macht und ausstellt, wird keineswegs die Fotografie selbst als »Medium« bezeichnet, sondern vielmehr immer noch die fotografierten Personen, die diese Phänomene des sogenannten »physikalischen Medio‐ nismus« hervorbringen. Doch dann, etwa zu Beginn des 20. Jahrhunderts, setzt sich allmählich die Bedeutung von »Medium« durch, die wir heute zuallererst mit dem Begriff verbinden: ein technisches Kommunikationsmittel, stets im Zusam‐ 18 Einführung <?page no="19"?> menhang mit seinen kulturellen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Bedingtheiten und Bedingungen gedacht. Die Wiederbelebung und Umprägung des alten Begriffs vom »Medium« haben wir dann, es muss gesagt werden, der Werbewirtschaft zu verdanken: »Medien«, »media« - das ist, streng diskurshistorisch betrachtet, ein Konzept aus der amerikanischen Mikroökonomie der Werbewirkungsforschung und nicht etwa aus soziologischen Diskursen. Die Werbewirtschaft und niemand sonst musste in dem Begriff »Medien« den Epochenübergang markieren, der sich mit den Überlagerungen von Print, Plakat, Leuchtschrifttechniken, Film und Radio in den 1920ern ereignete. […] Kurzum: Nicht eine Wissenschaft, sondern die Medien selbst, nämlich der mikroökonomische Diskurs ihrer Werbeagenturen, haben das Pluraletantum der Medien in die Welt gesetzt. (Hagen 2011, 89-92) Ein Medium nach unserem heutigen Sprachgebrauch ist zunächst einmal eine Instanz, die Kommunikation ermöglicht. Nie jedoch sollte vergessen werden, dass die religiösen (Zugang zu geheimem Wissen) und naturwis‐ senschaftlichen (Trägersubstanz für chemische oder physikalische Reaktio‐ nen) Bedeutungen auch im aktuellen Gebrauch des Begriffs immer noch mitschwingen, wenn auch meist unbewusst. Medien im heutigen Sinne sind unverzichtbar in der Kommunikation mit anderen Menschen. Doch welche Funktion genau nehmen sie in diesem Pro‐ zess ein? In den klassischen Kommunikationstheorien werden verschiedene Funktionen voneinander abgegrenzt. Die meisten dieser Theorien sehen folgende Instanzen vor: einen Sender, einen Empfänger, einen Code, einen Kanal, eine Umwelt, Geräusche - und eben ein Medium. So weit herrscht weitgehende Übereinstimmung. Doch Kommunikations- und Medientheo‐ rien sind immer Ausdruck einer hinter ihnen stehenden, umfassenderen Grund- und Geisteshaltung, einer bestimmten Philosophie oder Ideologie. Deshalb ist bei jeder Beschäftigung mit Medientheorien ein Blick auf Philosophie und Ideengeschichte unumgänglich. Auch diese Einführung in die Medientheorien wird deshalb einige wichtige philosophische und vor allem erkenntnistheoretische Positionen und Entwicklungen kurz rekapitu‐ lieren, als deren Ausdruck oder Neuformulierung auch die zeitgenössischen Medientheorien verstanden werden müssen. Je nach übergeordnetem Weltbild verschieben sich die Schwerpunkte in der ihm zuzuordnenden Medientheorie. Dies zeigt sich besonders deutlich anhand des jeweils verwendeten Begriffs vom Medium: Was in der einen Theorie als »Kanal« gilt, wird in der anderen als »Medium« bezeichnet. Zur Was sind Medien? 19 <?page no="20"?> Erläuterung hier nochmals das Beispiel von Moses und den zehn Geboten: Eine intuitive Zuordnung der Begriffe (noch vor dem Versuch, diese zu definieren) ergäbe etwa folgendes Bild: Kommunikationstheoreti‐ scher Begriff Sender Code Me‐ dium Kanal Emp‐ fänger Mes‐ sage Beispiel zehn Gebote Gott Schrift Steinta‐ fel Moses Israeli‐ ten Gebote Abbildung 1: Der Kommunikationsakt »Moses bringt den Israeliten die zehn Gebote« Doch ganz offensichtlich ist schon diese einfache Aufstellung unbefriedi‐ gend. In welcher Sprache sind die Gesetze verfasst? Ist sie Teil des Codes, des Mediums, des kulturellen Wissens oder der Umwelt? Welche Rolle kommt den Kulturtechniken des Schreibens und des Lesens zu? Macht es einen Unterschied, ob Gott den Text selbst schreibt oder Moses ihn nach Diktat anfertigt? Welche Rolle spielen die Wege und Steige, die Moses geht, um den Berg herab zu gelangen? Sind sie Teil des Kanals? Welche Position nimmt der Griffel oder der Meißel ein, mit dem Moses den Text eingraviert? Besteht der Text aus den Buchstaben auf den Tafeln oder gehört zu ihm die gesamte Erzählung von der Entstehungsgeschichte der Gebote und ihrer Übermittlung? Gehören dazu auch die Vorgeschichte, das kulturelle Umfeld und die historische Situation (d. h. der Kampf gegen den Götzendienst und der Pakt zwischen Gott und den Israeliten)? Welchen Unterschied würde es machen, wenn der Text seine Empfänger nie erreicht hätte (weil z. B. auch die zweite Tafel zerbrochen oder Moses beim Abstieg verunglückt wäre)? Wäre das Medium dann trotzdem noch ein Medium? Und für wen? Spätestens hier wird deutlich, wie komplex die Angelegenheit wirklich ist. Verschiedene Interpreten würden den Kommunikationsvorgang »zehn Gebote« ganz unterschiedlich analysieren und kategorisieren. Als Sender ließe sich neben Gott auch Moses verstehen, denn schließlich war er es ja, der den Text geschrieben hat. Der Code kann die Schrift sein, die hebräische Sprache, die Textsorte des Gebots etc. Am umfassendsten jedoch ist der Be‐ griff »Medium«: Im Gegensatz zu unserer vereinfachenden Darstellung gibt es ganz unterschiedliche medientheoretische Positionen, die hier jeweils das Folgende zum Medium zählen würden: 20 Einführung <?page no="21"?> 5 Im Jahr 490 v. Chr. fand nahe der ca. 40 km von Athen entfernt gelegenen Kleinstadt Marathon eine Schlacht zwischen Persern und Athenern statt, welche die Athener unter ihrem Feldherrn Miltiades für sich entscheiden konnten. Der Legende nach überbrachte der attische Soldat Pheidippides der Bevölkerung von Athen die gute Nachricht, indem er die gesamte Strecke am Stück lief und unmittelbar nach Überbringung seiner Nachricht »νενικήκαμεν« (»Wir haben gesiegt«) tot zusammenbrach. Läufer als Boten waren damals der Stand der militärischen Nachrichtentechnik. Moses die Steintafeln den Meißel die Schrift die hebräische Sprache die Gebote die Religion den Weg, den Moses geht Moses’ Füße Das heißt, nahezu alle Instanzen des Kommunikationsprozesses lassen sich aus dem einen oder anderen Blickwinkel als Medium verstehen, als dasjenige, was vermittelt. Es ist nicht die Ausnahme, sondern der Normalfall medialer Kommu‐ nikation, dass dabei mehrere Medien wie russische Matrjoschka-Puppen ineinander enthalten sind. Der Läufer von Marathon 5 , dessen Körper selbst die Nachricht gespeichert hatte, ist die seltene Ausnahme von der Regel. Doch sowohl Moses, als auch die Steintafeln, die Schrift, die hebräische Sprache oder die Textsorte »Gesetz« können als ineinander verschachtelte Medien betrachtet werden. Bei der - ursprünglich durchaus nicht zum reinen Vergnügen betriebenen - Übermittlung von Nachrichten durch Brieftauben beispielsweise ist es ähnlich: Ist das Medium nun die Taube selbst oder der Brief, den sie trägt? Ist es der Text, der die Nachricht transportiert, oder kommt nicht vielmehr der medialen Nachrichtentechnik »Brieftaubensport« als Institution eine Bedeutung zu? Feine Differenzierun‐ gen bringen uns hier kaum weiter - sondern eher ins Gestrüpp spitzfindiger Begriffsungetüme als akademischem Selbstzweck. Es führt also kein Weg daran vorbei, den Begriff »Medium« in seiner Vieldeutigkeit zu akzeptieren und dabei anzuerkennen, dass er auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen zugleich Gültigkeit besitzen kann. »Entsprechend mehrdeutig fällt die Liste dessen aus, was als »Medien« bezeichnet worden ist«, schreibt Dieter Mersch (2006, 10 f.) und listet auf: Was sind Medien? 21 <?page no="22"?> Körper, Stimme, Schrift, Buchdruck, Holzschnitt, Fotografie, Schallplatte, Radio, Film, Fernsehen, Instrumente, Werkzeuge, Proben, Präparate, Appa‐ rate, Waffen, Kleidung, Uhren, Geld, Brillen, Häuser, Belüftungssysteme, Konsumgüter, Straßen, Kutschen, Autos, Flugzeuge, Licht, Luft, Wasser, materielle Kommunikationsträger, Liebe, Kunst, Relais, Transistoren, Com‐ puterhardware. So erschreckend verwirrend, allumfassend und deshalb auch bedeutungs‐ arm eine solche Auflistung sein mag, so zeigt sie doch dreierlei: 1. Eine solche Heterogenität lässt sich nur dadurch erklären, dass Medien‐ theorien Bestandteile ganz unterschiedlicher Zugänge zur Deutung der Welt sind. Nur in diesen Kontexten also werden sie sich sinnvoll erklären lassen. In diesem Sinn hat eine übergeordnete kulturwissenschaftliche Theorie von den Medien eine ideologiekritische Funktion: Sie muss die Zusammenhänge jeweiliger Medientheorie mit der umfassenderen Weltanschauung in ihrem Hintergrund aufdecken und erläutern. Die Aufgabe des vorliegenden Buches ist es, die Wirrnis ein wenig zu lichten, die unterschiedlichen Theoriefragmente und Begrifflichkeiten zu sichten und zu sortieren. 2. Schon an diesem Punkt wird klar, dass es nicht eine Medientheorie geben kann, sondern nur Medientheorien im Plural. Nicht nur verfol‐ gen die unterschiedlichen Medientheorien ganz verschiedene Ansätze und Erklärungs- und Deutungsziele; sie sind auch Theorien sehr unter‐ schiedlicher Reichweite und überlappen einander schon deshalb, weil jede Theorie Bestandteil, Ableitung und praktische Anwendung eines philosophischen Ansatzes - meist sogar mehrerer - ist. Im Grunde muss deshalb von einem Geflecht von Theorien und Einflüssen gesprochen werden. Ein Beispiel: Vilém Flussers Kommunikologie (→ S. 168) ist unter anderem stark geprägt vom Denken Edmund Husserls, Martin Bubers und Marshall McLuhans (→ S. 91). Letzterer wiederum weist ebenfalls deutliche phänomenologische Einflüsse auf, steht aber in einer anderen Tradition. 3. Es kann nicht verwundern, dass sich bei einer solchen Gemengelage Theorien unterschiedlichster Reichweite und Herkunft bis zur Unkennt‐ lichkeit durchdringen und vermischen. Dies gilt für ganz andere Theo‐ rien allerdings nicht weniger, und es bedarf wohl nicht einmal der Erwähnung, dass der folgende Ausschnitt aus der Geschichte der Medi‐ entheorien vereinfachend ist und nicht der tatsächlichen Komplexität 22 Einführung <?page no="23"?> von Einflussnahmen und Geltungsansprüchen in den Medientheorien gerecht werden kann. www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Stroehl__Medientheorien_kompakt___[Druck-PDF]/ 28.04.2014/ Seite 24 24 Einführung 4) Ein einführendes Lehrwerk wie das vorliegende muss den Versuch unternehmen, so gut es eben geht, sowohl das große Ganze im Auge zu behalten als auch einige ausgewählte Ansätze weitestgehend präzise und verständlich darzustellen. Hier wird die Auswahl zugunsten einiger besonders fruchtbarer und anregender medienphilosophischer Theorien im engeren Sinne getroffen werden. Verwirrende Disziplinen Wann immer im deutschsprachigen Raum eine internationale Konferenz zu medientheoretischen Fragen stattfindet, muss den ausländischen Teilnehmern erst einmal eine verwirrende deutsche Terminologie erklärt werden, die einer ebenso wirren Geschichte der theoretischen Auseinandersetzung und wissenschaftlichen Beschäftigung mit Medien entspricht. Zeitungswissenschaft/ Kommunikationswissenschaft Den Beginn einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Medien in Deutschland markiert die Gründung des zeitungswissenschaftlichen Instituts an der Universität Leipzig 1916. Dass man sich damals entschloss, sich den Printmedien wissenschaftlich zuzuwenden, dass man sie überhaupt in ihrer Medialität zu erfassen begann, dürfte durchaus mit dem Aufkommen der technischen Bilder (Fotografie seit 1826, Film seit 1888) Theoriengewirr Judentum Katholizismus Phänomenologie (Husserl) Buber Innis Flusser McLuhan Abbildung 2: Einige Einflüsse auf Marshall McLuhan und Vilém Flusser Abbildung 2: Einige Einflüsse auf Marshall McLuhan und Vilém Flusser 4. Ein einführendes Lehrwerk wie das vorliegende muss den Versuch unternehmen, so gut es eben geht, sowohl das große Ganze im Auge zu behalten als auch einige ausgewählte Ansätze weitestgehend präzise und verständlich darzustellen. Hier wird die Auswahl zugunsten einiger besonders fruchtbarer und anregender medienphilosophischer Theorien im engeren Sinne getroffen werden. Verwirrende Disziplinen Wann immer im deutschsprachigen Raum eine internationale Konferenz zu medientheoretischen Fragen stattfindet, muss den ausländischen Teilneh‐ mern erst einmal eine verwirrende deutsche Terminologie erklärt werden, die einer ebenso wirren Geschichte der theoretischen Auseinandersetzung und wissenschaftlichen Beschäftigung mit Medien entspricht. Zeitungswissenschaft/ Kommunikationswissenschaft Den Beginn einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Medien in Deutschland markiert die Gründung des zeitungswissenschaftlichen Insti‐ Verwirrende Disziplinen 23 <?page no="24"?> tuts an der Universität Leipzig 1916. Dass man sich damals entschloss, sich den Printmedien wissenschaftlich zuzuwenden, dass man sie überhaupt in ihrer Medialität zu erfassen begann, dürfte durchaus mit dem Aufkommen der technischen Bilder (Fotografie seit 1826, Film seit 1888) und den elektri‐ schen Medien (Telegrafie seit 1833, Hörfunk ab 1906) zusammenhängen: Erst der Umstand, dass nun Inhalte, neuerdings sogar das gesprochene Wort, anders als in gedruckter Form verbreitet werden konnten, führte dazu, dass ein Bewusstsein dafür entstand, dass Bücher und Zeitungen ebenfalls Medien sind. Ein Gattungsbegriff wie »Medien« ergibt schließlich erst dann Sinn, wenn er mehr als eine Art enthält. Bereits in den 1930er-Jahren begann die Zeitungswissenschaft konse‐ quenterweise, ihre Zuständigkeit zu erweitern und auszudehnen. Der Film und der Hörfunk wurden nun ebenfalls zu ihren Forschungsgegen‐ ständen. Aus der Zeitungswissenschaft entwickelte sich die Publizistik, die Wissenschaft vom Veröffentlichen und von den Veröffentlichungen. Damit war bereits eine Weichenstellung vorgegeben. Denn der Blick auf das Veröffentlichen bedingt die Untersuchung von Öffentlichkeit an sich. Diese traditionellste Form von Medienwissenschaft ist daher klar den Gesellschaftswissenschaften zuzurechnen; da sie sich häufig mit Fragen der Rezeptionsforschung befasst, macht sie sich zumeist Methoden der quantitativen und empirischen Sozialforschung zu Eigen. Die technischen Massenmedien Film, Hörfunk und Fernsehen verändern und erweitern den Forschungsgegenstand schließlich so grundlegend, dass sich aus Zeitungswissenschaft und Publizistik die Kommunikationswissen‐ schaft entwickelt, die einen viel weiter gefassten Anspruch erhebt: Zum einen widmet sie sich sozialwissenschaftlich der Massenkommunikation, das heißt der Funktion und Wirkung von Massenmedien wie Plakaten, Zeitungen, Film, Hörfunk und Fernsehen in der Gesellschaft. Zum anderen jedoch wird ihr Gegenstand ganz allgemein die Kommunikation unter Men‐ schen. Die Mutterdisziplinen, die bei der Ausformung dieser Forschungs‐ richtung Pate stehen, sind eher geisteswissenschaftlicher Art. Linguistik, Semiotik (→ S. 189), Philosophie und Psychologie liefern hier methodisch die Instrumentarien. Beide Ausprägungen der Kommunikationswissenschaft werden später, im Verbund mit philosophischen Disziplinen wie der Erkenntnistheorie, auf das Fach einwirken und das mitbegründen, was wir heute unter »Medien‐ theorie« verstehen. 24 Einführung <?page no="25"?> Medienwissenschaft Die geisteswissenschaftlich geprägte Erforschung individueller Kommuni‐ kation, d. h. derjenige Zweig der Kommunikationswissenschaft, der sich nicht der Sozialforschung zurechnet, dessen Gegenstand weniger die Gesell‐ schaft als vielmehr das Individuum sowie dessen Kommunikationsweisen und Mediennutzungsverhalten sind, verbindet sich seit den 1970er-Jahren mit den geisteswissenschaftlichen Fächern der Literatur- und Theaterwis‐ senschaft sowie der Kunstgeschichte zu dem, was seither als »Medienwis‐ senschaft« verstanden wird: Die Medien rücken nun als Gegenstand der Analyse in den Mittelpunkt. Parallel dazu gibt es jedoch auch hier eine zweite, anders orientierte Ausrichtung, nämlich eine soziologisch orien‐ tierte Medienwissenschaft, die sich als Weiterentwicklung der ebenfalls sozialwissenschaftlich geprägten Spielart der Kommunikationswissenschaft versteht. Doch nun haben sich die Kräfteverhältnisse deutlich verkehrt: War die klassische Kommunikationswissenschaft eine empirische Sozialwissen‐ schaft, die auch einen am Individuum orientierten, eher geisteswissenschaft‐ lich orientierten Zug aufwies, so versteht sich Medienwissenschaft weit überwiegend als geistes- und kulturwissenschaftliche Disziplin, bei der eine sozialwissenschaftliche Orientierung eher als Ausnahme denn als Regel zu verstehen ist. Medientheorie(n) Die geistes- und kulturwissenschaftliche Orientierung der Medienwissen‐ schaft brachte eine Fokussierung auf das Medium als zentralen Faktor im Kommunikationsprozess mit sich sowie eine Hinwendung zur Medialität als grundlegender Eigenschaft und Bedingung von Wahrnehmung. Der Medial oder Mediatic Turn (→ S. 195) machte in den 1980er-Jahren die Medientheo‐ rie plötzlich zur - vonseiten der Schulakademiker zunächst verpönten - Leitwissenschaft für alle, nicht nur für die geistes- und gesellschaftswissen‐ schaftlichen Disziplinen. Die Differenzierung der Medienwissenschaft in ihre drei Zuständigkeitsbereiche Medienanalyse (strukturalistischer oder diskursanalytischer Provenienz), Mediengeschichte (oder -archäologie), so‐ wie Medientheorie im engeren Sinn bestimmt seither das Geschehen. Diese Medientheorie ist im Kern eine Wiederkehr zum Teil Jahrtausende alter philosophischer Grundunterscheidungen und -fragestellungen. Verwirrende Disziplinen 25 <?page no="26"?> Wo Medienwissenschaften der Status und Titel einer universitären Disziplin ist (deren Plural immer noch eine Restturbulenz signalisiert), war Medientheorie die längste Zeit ein Geschehen, das sich - wenngleich […] meist nicht unter diesem Namen - in verschiedensten Wissensdomänen (der Philosophie, den Naturwissenschaften, den Künsten) seit längerer Zeit ereignet hat und immer noch ereignet. Daher ist Medientheorie (über eine Laufzeit von mindestens 2500 Jahren) überhaupt nicht an die Existenz einer akademischen Medienwissenschaft gebunden (ja sie muss nicht einmal an Universitäten stattfinden bzw. sich in Büchern und Aufsätzen niederschlagen, d. h. wissenschaftsförmig sein), kann (und sollte) aber sehr wohl deren bevorzugter Gegenstand im Rahmen einer historisch-epistemologischen Betrachtung sein. (Pias 2011, 18 f.) Medienphilosophie(n) Die in diesem Buch skizzierten Medientheorien lassen sich allesamt als anregende, spekulative Medienphilosophien beschreiben. Mit ihnen kehren teilweise uralte erkenntnistheoretische Fragestellungen im neuen Gewand des modisch-postmodernen Dekors zurück. Aber es geht ihnen unverkenn‐ bar um Grundfragen menschlicher Kommunikation und des menschlichen Zusammenlebens. Die Kritik der Schulphilosophie an dieser Art neuen Phi‐ losophierens war häufig harsch. Und doch greift der Vorwurf des alten Weins in neuen Schläuchen nicht: Dass unter vollständig veränderten Lebens- und Kommunikationsbedingungen die alten, ungelösten Fragen im neuen Gewand erscheinen, spricht nicht gegen, sondern vielmehr für die Relevanz des neuen Blickwinkels auf die Grundsatzfragen menschlicher Verständi‐ gung. In wesentlichen Punkten ist Medienphilosophie, wie sie besonders seit Marshall McLuhan, Vilém Flusser und Jean Baudrillard betrieben wird, ganz zu Recht eine Leitwissenschaft der heutigen Welt geworden. Ein immer wieder aufblitzender Zug von unseriösen (bis größenwahnsinnigen) Welterklärungsversuchen und endzeitlicher Spekulation gehört da wohl durchaus dazu. Analyse und Programm, Welterklärung und Millenarismus lassen sich in einer Zeit, in der jede Beschreibung von Phänomenen bereits im Verdacht unzulässiger Sinngebung und Konstruktion steht, nicht mehr trennscharf unterscheiden. Auch mit dieser schematischen Verkürzung und Vereinfachung ist letzt‐ lich noch nicht viel an Klarheit gewonnen. Denn auch innerhalb der philosophischen Medientheorien gibt es eine Vielzahl sich widersprechen‐ der und einander ausschließender Ansätze, die alle mehr oder weniger 26 Einführung <?page no="27"?> ausdrücklich einen Anspruch auf Gesamtgeltung erheben - und darauf, die Welt der Medien, ihrer Produktion und Rezeption, ihrer kommunikati‐ ven, weltkonstruierenden und gesellschaftsbildenden Aspekte allein und vollständig erklären zu können. Dennoch hier ein grob schematisierter Stammbaum der modernen Medi‐ enwissenschaften: www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Stroehl__Medientheorien_kompakt___[Druck-PDF]/ 28.04.2014/ Seite 28 28 Einführung Erkenntnistheorie Phänomenologie Dialektik und Erlösungsreligionen Zeitungswissenschaft Film & Hörfunk Publizistik sozialwissenschaftliche Kommunikationswissenschaft geisteswissenschaftliche Kommunikationswissenschaft Literatur- und Theaterwissenschaft sozialwissenschaftliche Medienwissenschaft geisteswissenschaftliche Medienwissenschaft Medientheorie Medienphilosophie Abbildung 3: Schematischer Stammbaum der Medienwissenschaften Abbildung 3: Schematischer Stammbaum der Medienwissenschaften Medialität In vieler Hinsicht ist also das, was heute unter »Medienphilosophien« verstanden wird, eine Wiederkehr von Fragestellungen aus einigen Jahr‐ tausenden Philosophiegeschichte, dabei insbesondere der Geschichte der Erkenntnistheorie. Erst etwa seit Beginn des 20. Jahrhunderts herrscht jedoch ein allgemeines Bewusstsein für die Medialität unserer Wahrneh‐ Verwirrende Disziplinen 27 <?page no="28"?> mung vor. Dieser Begriff hat, von der Kommunikationswissenschaft und der Beschäftigung mit den jeweils neuen Medien herrührend, dazu geführt, dass erkenntnistheoretische Fragen unter den veränderten Bedingungen des (post-)modernen Alltags mit den Massenmedien neu bewertet, aufgewertet und in die aktuelle Debatte mit einbezogen worden sind. Der Begriff der Medialität ist dabei ein doppelt doppelter: »Medialität« spielt nicht nur auf die Bedeutung der Wahrnehmung an, die durch Medi‐ ennutzung ermöglicht wird; sie wird zugleich auch in die Sinnesorgane hinein verlängert. In mühsamen phänomenologischen, erkenntnistheoreti‐ schen und kognitionswissenschaftlichen Studien wurde erstens gezeigt, dass auch unsere Wahrnehmung von Welt stets eine vermittelte ist, dass die Vorstellung unzutreffend ist, unsere Sinnesorgane würden ein Geschehen draußen in der Welt neutral aufzeichnen und dann objektiv und sachlich an unser Kleinhirn und dessen Rezeptoren weiterleiten. Alle Wahrnehmung ist stattdessen von vornherein durch eine Vielzahl von Rezeptionsmustern, Selektionsvorgängen, Perspektivfestlegungen, Wünschen und Konstruktio‐ nen geprägt. Zweitens aber betrifft der Begriff der Medialität keineswegs nur unsere Wahrnehmung, sondern selbstverständlich auch die Kommu‐ nikationsvorgänge, mittels derer wir in Kontakt mit anderen Menschen stehen. Und dazu gehört auch das weite Feld der Nutzung technischer Kommunikationsmedien. 28 Einführung <?page no="29"?> 6 Die Veden (Sanskrit: »Wissen«) sind eine religiöse Textsammlung aus dem südasiati‐ schen Raum, entstanden im 2. Jahrtausend v. Chr. Vedisch gilt als Vorläufer des Sanskrit und damit als eine frühe Form indogermanischer Sprachen. Die philosophische Vorgeschichte: Medientheorie vor der Medientheorie Die Erkenntnis, dass Wahrnehmung und Kommunikation stets medialen Charakter haben (Medial Turn → S. 195), wertete die Medienwissenschaft mit einem Schlag zu einer Grundlagenwissenschaft auf. Zugleich wurde die gesamte Philosophiegeschichte reaktiviert und, wie wir bereits gesehen haben, häufig auch in Gestalt modischer Medientheorien in neuem Gewand recycelt. Auf den folgenden Seiten sollen einige wichtige Entwicklungen für die Medientheorien in ihrer heutigen Form, wie sie in den dann folgenden Kapiteln skizziert werden, in aller Kürze dargestellt werden. Es handelt sich dabei sozusagen um einige Fußnoten zur Vorgeschichte der modernen Medientheorien, ohne welche diese aber kaum verständlich wären. Denn fast alle zeitgenössischen Medienphilosophien können ja als Fortführung klassischer Philosophie unter veränderten Bedingungen gesehen werden, eben unter den Bedingungen eines sich verbreitenden Bewusstseins dafür, wie die technischen Medienapparate unsere Kommunikationsweisen und -inhalte prägen. Das vedische Konzept von Maja Die vedische 6 Philosophie, welche in wesentlichen Zügen im Indien des 8. Jahrhunderts v. Chr. ausgeprägt wurde, enthält eine erkenntnistheoreti‐ sche Vorstellung, die um den Begriff von Maja kreist. Bei Maja handelt es sich laut Duden um die »als verschleierte Schönheit dargestellte Er‐ scheinungswelt, Blendwerk«. Aufgrund ihrer Vergangenheit als mythische, verführerische, weibliche Figur - aber wohl nicht nur deshalb - ist die Vorstellung von Maja immer auch erotisch aufgeladen. Maja wird im philosophischen Werk des Vedanta im 8. Jahrhundert zum Inbegriff der Unwissenheit und Verblendung. Es gibt in Wahrheit keinen Unterschied zwischen Subjekt und Objekt, zwischen dem Erkennenden und <?page no="30"?> 7 Vgl. hierzu: Ströhl 2011, 3 ff. dem Erkannten. Nur aufgrund des Wirkens von Maja entsteht für uns diese täuschende Illusion. Maja ist der Schleier der Illusion, der die Menschen daran hindert, das Göttliche zu erkennen. Im Advaita Vedenta ist sie die Ursache der illusorischen Natur des Universums. Maja ist nicht nur die Vorspiegelung einer Realität, sondern zugleich auch die Verwechslung dieser Illusion mit dem Wirklichen. Nur Brahman, die höchste Erkenntnis, erlaubt den Zugang zu einer absoluten Wirklichkeit. Maja legt einen täuschenden Schleier über die Dinge, einen Verblendungs‐ zusammenhang (→ S. 108), der uns die vorgespiegelten, vergänglichen Phänomene als absolute Wahrheit erscheinen lässt. Die Sterblichen sehen eine Welt, von der sich weder sagen lässt, dass es sie gibt, noch, dass es sie nicht gibt. Denn die Welt ist wie ein Traum, wie das Flirren der Sonne über dem Sand, das aus der Ferne für Wasser gehalten werden kann. Die Menschen sind nicht nur zur Sünde und zum Tod verdammt, sondern auch zur Illusion. Sie ist so wirklich wie das Leben, so wirklich wie die Welt der Sinne selbst, denn sie ist mit dieser Welt sogar identisch. Das im Zusammenhang mit der Wirkungsweise von Maja meistzitierte Anschauungsbeispiel soll auch hier in Kürze wiedergegeben werden: Ein Wanderer glaubt, im Halbdunkel am Wegesrand eine zusammengerollte Schlange zu sehen. Er ist wie gelähmt vor Angst. Als man eine Lampe herbeibringt, erweist sich die Schlange jedoch als ein Stück aufgerolltes Seil. Der Wanderer ist nun erleichtert statt ängstlich; die Erkenntnis des Wahren löscht die vorangegangene Vorstellung und die mit dieser verbundene Furcht völlig aus. Die Selbsterkenntnis (Brahman) durchstößt den Schleier der Maja unwiderruflich. Die Unwissenheit verschwindet für immer. In die europäische - und besonders die deutsche - Denktradition wurde die Vorstellung von Maja Ende des 19. Jahrhunderts unter anderem von Arthur Schopenhauer eingeführt. Erstaunlicherweise hat dieses an sich sehr fruchtbare Konzept von Verblendung und von einer Wahrheit hinter einer Welt aus vorgespiegelten Phänomenen in der Geschichte des westlichen Mediendenkens zwar deutliche Spuren hinterlassen. Als »Maja« selbst aber ist es in der westlichen Welt weitgehend dem Vergessen anheimgefallen und in medientheoretischen Zusammenhängen nicht fruchtbar gemacht worden, obwohl es auch in gewisser Weise mit dem Platonismus (→ S. 36) kompatibel ist. 7 30 Die philosophische Vorgeschichte: Medientheorie vor der Medientheorie <?page no="31"?> ✻ Schatten in der Höhle: Platons Ideenlehre und Höhlengleichnis Vorschau: ● Platons Kritik an der Schrift ist eine Form von Technikkritik. ● Im lebendigen Dialog lassen sich Begriffe klären. ● Alles Wahrnehmbare ist Abbild unwandelbarer und unzugänglicher Ideen. ● Ein stoffliches Medium vermittelt zwischen der Idee und ihrer Erscheinung. Naturgemäß hat nichts einen Anfang, sondern immer schon irgendeine Vor‐ geschichte. Ganz besonders gilt dies für die Geschichte der Medientheorien. Und doch, wollte man ihren Beginn festsetzen, so herrschte sicherlich große Einigkeit, ihn bei Platon zu sehen. Platon lebte von ca. 427 bis ca. 347 v. Chr. in Athen. Er war der Schüler von Sokrates und der Lehrer von Aristoteles und gilt als einer der wichtigsten und einflussreichsten Philosophen. Und das hat vor allem medientechnische Gründe: Während Sokrates das Philosophieren im Dialog perfektionierte, schrieb Platon dessen Dialoge auf, oder gab dies jedenfalls vor. Dabei setze er sich zu gleich kritisch mit der von ihm selbst bevorzugten Kulturtechnik der Schrift auseinander. Paradoxerweise übte Platon also schreibend Kritik an der Schrift. In seinem Dialog Phaidros findet sich eine ebenso heftige wie fundierte Schriftkritik. Der darin formulierte Konflikt zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit gibt das Vorbild für die seither über die Jahrtausende immer wieder wiederholte bipolare Gegenüberstellung unterschiedlicher Medien und Kulturtechniken, welche häufig so eskalierte, dass dabei nicht nur Weltanschauungen, sondern anscheinend auch Wohl und Wehe des Abend‐ lands, wenn nicht gar der ganzen Welt verhandelt wurden. Die Medialität der Schrift selbst aber trat in der Schriftvergessenheit des abendländischen Denkens bis ins 19. Jahrhundert schließlich wieder in den Hintergrund: Die Schrift schien in der europäischen Kultur zu selbstverständlich gegeben zu sein, als dass man sie bewusst wahrgenommen hätte. Man vergaß einfach, dass es sich auch bei ihr um eine Kulturtechnik handelte (→ S.-227). Platon sieht in der Schrift ein Hilfsmittel für das Erinnerungsvermögen. Doch zugleich erhebt er gewichtige Einwände gegen ihre Nutzung: Die ✻ Schatten in der Höhle: Platons Ideenlehre und Höhlengleichnis 31 <?page no="32"?> Schrift bringt keine neuen Informationen hervor; sie eignet sich nicht zum Philosophieren, und sie dient nicht der Wahrheitsfindung. Deshalb bleibt sie Platon letztlich immer nur ein »schönes Spiel« (Platon, Phaidros 276e). Nur im Dialog nämlich können »wir, ich und du, zu einander reden, der Sprache uns bedienend, mit der Seele zu der Seele« (Platon, Alkibiades 1. Dialog 130E). Zur Klärung der Begriffe, und damit zur Wahrheit, gelangen wir nur in der spezifischen Medialisierungsform des sokratischen Dialogs, in welchem sich ein antwortendes Gegenüber gegen kritische Rückfragen verteidigen muss. So tragen beide Dialogpartner zur Begriffsschärfung bei. Aber weder die unmittelbare Anschauung noch geschriebene Texte können etwas zur Erkenntnis beitragen, denn Erkenntnis kann nur im mündlichen Dialog erreicht werden. Bei Vilém Flusser (→ S. 180) wird diese These zweieinhalbtausend Jahre später eine gewichtige Rolle spielen. Eben dadurch, dass die Schrift als externes Hilfsmittel die Erinnerung stützt, so Platon, schwächt sie die Leistungsfähigkeit des Gedächtnisses. Denn was einmal aufgeschrieben ist, das muss man sich nie mehr merken und wer dies lernt, dem pflanzt es durch Vernachlässigung des Gedächtnisses Vergeß‐ lichkeit in die Seele, weil er im Vertrauen auf die Schrift von außen her durch fremde Zeichen, nicht von innen her aus sich selbst die Erinnerung schöpft. Nicht also für das Gedächtnis, sondern für das Erinnern erfandest du ein Mittel. (Platon 2002, 27) Dieses Mittel, das Medium Schrift, wird von Platon aber keineswegs ver‐ dammt. Wird Schrift, wie eine Arznei, verständig und im rechten Maß eingesetzt, so ist sie ein Segen. Doch das ausschließlich Positive, das bis dahin mit der Schrift als zivilisatorischer Glanzleistung Prometheus zugeschrieben worden war, wendet Platon ins Zwiespältige. Jede technische Neuerung, darunter selbstverständlich auch Entwicklungen der Kultur- und Medientechniken, hat nämlich tiefgreifende Konsequenzen, die über den eigentlich beabsichtigten Zweck hinausgehen (und meist kaum absehbar sind). So gehört die Schwächung der Gedächtnisleistung sicher nicht zu den ursprünglichen Zwecken des Mittels »Schrift«. Andererseits wäre ohne Schriftlichkeit, ohne Notation, zum Beispiel eine über das Einmaleins hinausgehende Mathematik unmöglich. Einige Mathematiker, wie etwa Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716), vertraten gar die Ansicht, dass alles menschliche Denken erst durch Zeichen ermöglicht werde und sich in Formeln darstellen lasse. 32 Die philosophische Vorgeschichte: Medientheorie vor der Medientheorie <?page no="33"?> Technik (téchnē), so Platon, hat grundsätzlich zwiespältigen Charakter. Techniken - im Altgriechischen wird zwischen Technik und Kunst nicht unterschieden - werden zur Lösung eines Problems entwickelt und zeitigen dann schwerwiegende Folgen in ganz anderen, vorher nicht bedachten Zusammenhängen. Dies gilt auch für Medien: In ihnen sind, wie in jeder Technik, Problemlösung und Problemverursachung zugleich angelegt, un‐ abhängig davon, wie sie verwendet werden. Medien lösen Veränderungen aus, die nicht absehbar sind. Am Ende des Kratylos-Dialogs führt der Sokrates, den Platon dort auftre‐ ten lässt, die mediale Funktion von Sprache auf ihre Bildlichkeit zurück. Wörter sind so gesehen Bilder von Gegenständen, und so lassen sich bei Platon die Dinge durch Sprache in ihrem Wesen erkennen. Sprache fungiert bei ihm als Basis aller Medien, ohne jedoch selbst von Platon als »Medium« bezeichnet zu werden. Bemerkenswert aus heutiger Sicht ist, dass Platon zwar ein Bewusstsein für die Schrift schafft und sie als Kulturtechnik der Mündlichkeit gegenüberstellt, dass er die Medialität der Sprache selbst aber nicht erkennt. Es wird noch zweitausend Jahre dauern, bis auch die Sprache den Denkern als Grundmedium bewusst wird. Im Gegensatz zur mündlichen Rede sind geschriebene Texte Platon zu‐ folge tot; sie sind nicht mehr als ein Schattenbild einer Realität, ein »Abbild« der »lebende[n] und beseelte[n] Rede des Wissenden« (Platon 2002, 28). Die Schrift lässt Platon als Erinnerungszeichen (pharmakon hypomnēsōs) gelten, nicht aber als lebendiges Gedächtnis (mnēmē). Da man sich mithilfe der Schrift nur an das zuvor als wahr »Geschaute« erinnern kann, können geschriebene Texte also nur konservieren, aber nichts voranbringen. Und sie können zwar lügen, aber keine Fragen beantworten. Alleingelassen, versagt die Schrift notwendigerweise: Jede Rede aber, wenn sie nur einmal geschrieben, treibt sich allerorts umher, gleicherweise bei denen, die sie verstehen, wie auch bei denen, für die sie nicht paßt, und sie selber weiß nicht, zu wem sie reden soll, zu wem nicht. Gekränkt aber und unrecht getadelt, bedarf sie immer der Hilfe des Vaters, denn selbst vermag sie sich weder zu wehren noch zu helfen. (Platon 2002, 28). Erstaunlich ist, wie Platon hier den Performative Turn des 21.-Jahrhunderts vorwegnimmt: Die Performativität des Dialogs, der Umstand, dass er sich hier und jetzt als Rede und Gegenrede mit ungewissem Ausgang ereignet, kann von der Schrift niemals ersetzt werden. Ebenso wenig kann sie die Authentizität und Glaubwürdigkeit dessen gewährleisten, der im lebendigen ✻ Schatten in der Höhle: Platons Ideenlehre und Höhlengleichnis 33 <?page no="34"?> Dialog spricht. Ironischerweise ist Platon der erste Philosoph, der solche Gedanken niederschreibt. Und nicht zufällig wählt er dafür die Form des vorgeblich berichteten Dialogs. Die Bedeutung des Dialogs bei Platon ist nicht nur auf die Methode des dialogischen Philosophierens zurückzuführen, welche sein Lehrer Sokrates bis zur Perfektion entwickelt hat. Dem Dialog kommt noch auf eine andere Weise eine ganz zentrale Funktion für das Streben nach menschlicher Erkenntnis zu. Um dies zu verstehen, ist ein Blick auf Platons Ideenlehre nötig, die das wohl wirkmächtigste Konzept der gesamten westlichen Philosophiegeschichte sein dürfte und die abendländische Geistesgeschichte bis heute prägt - so sehr, dass der britische Mathematiker und Philosoph Alfred North Whitehead nicht ganz zu Unrecht das Bonmot formulierte, dass die gesamte philosophische Tradition Europas »aus einer Reihe von Fußnoten zu Platon besteht« (Whitehead 1987, Teil 2, 91). Platon geht davon aus, dass unsere Welt eigentlich in zwei verschiedene Welten geteilt ist. Die sinnlich erfahrbare Welt ermöglicht nur Meinungen, aber keine sichere Erkenntnis. Die eigentliche Realität ist die Welt der Ideen. Diese Ideen sind die Ursache und das eigentliche Wesen der unei‐ gentlichen Welt der Erscheinungen, welche uns umgibt. Die Ideen sind unwandelbare Urbilder, immaterielle und ewig unveränderliche Wesenhei‐ ten. Sie existieren zwar objektiv, also unabhängig von Subjekten und deren Wahrnehmungen, werden aber in der sichtbaren Welt nur schwach von den von uns wahrnehmbaren Dingen nachgeahmt. Diese körperliche, relative Welt der Sinne, welche sich ständig im Fluss der Veränderung befindet, ist der absoluten Welt der ewigen Urbilder, der unveränderlichen Ideen, untergeordnet. Dennoch sind uns nur die sinnlichen Abbilder unmittelbar zugänglich, während sich die Ideen selbst nicht erschließen lassen. Nur durch mühsame geistige Anstrengung können wir es schaffen, wenigstens einen flüchtigen Einblick in die Welt der Ideen, der eigentlichen Realität, zu erlangen. Deshalb ist für Platon das bestmögliche Leben eines, das nach solcher Erkenntnis strebt. Platons Ideenlehre und seine Suche nach dem Ewigen, Absoluten der Ideen (welches im Übrigen später mühelos vom Monotheismus zum Beispiel des Christentums als Gott umgedeutet wurde) ist nicht nur der Kern seiner gesamten Philosophie, sondern eben auch der Urtext, zu dem die auf ihn fol‐ gende philosophische Tradition Europas lediglich die Fußnoten abgibt. Die Annahme einer perfekten, selbst aber unsichtbaren Idee hinter den Dingen hat darüber hinaus die europäische Kunstgeschichte bis heute entscheidend 34 Die philosophische Vorgeschichte: Medientheorie vor der Medientheorie <?page no="35"?> geprägt. Denn sie fordert ja bildende Künstler geradezu dazu heraus, über die beobachtbaren Gegenstände immer auch die »Idee dahinter«, hinter diesen Gegenständen, mit zu bedenken, das heißt idealisierende Darstellungen anzustreben. Weil sich aber bildende Künstler letztlich doch mehr an den Erscheinungen als an Ideen orientieren, hat Platon sie nicht allzu hoch geschätzt, weniger jedenfalls, als die der reinen Ideenschau verpflichteten Philosophen. Der Begriff der Idee hat bei Platon mehrere Bedeutungen: Von der logischen Bedeutung wurde schon gesprochen: Die Idee ist allgemeiner Begriff (λόγος), also Denkmittel. […] Die Idee ist immer auch Wesenheit (ούσος), bedeutet also das Ding selbst in seinem wahren Sein (αύτὸ τὸ πρᾶγμα). Daß es sich bei diesem Sein um ein ideales handelt, wurde schon gesagt. Darum ist die Idee drittens soviel wie Ideal oder Urbild. […] Viertens ist die Idee Ursache (αἰτία). […] Der Timaios[-Dialog] stellt ausdrücklich fest, daß die ganze Welt ein Abbild ist. Der Demiurg hat alles geschaffen im Hinblick auf die ewigen Ideen. Damit ergibt sich nun eine fünfte Bedeutung der Idee, ihr Charakter als Ziel und Zweck (τέλος). (Hirschberger 1981, 109 f.) Platons bekanntestes Gleichnis, das Höhlengleichnis, dient ihm dazu, seine Vorstellung vom Verhältnis der Phänomene zum ewigen Sein der unsicht‐ baren Ideen zu veranschaulichen und dabei auch die grundsätzliche Be‐ grenztheit der menschlichen Befähigung zur Erkenntnis zu illustrieren. In dieser Höhle sitzen, angekettet, Menschen, die nichts von der wirklichen Welt draußen gesehen haben. Hinter ihnen brennt ein Feuer; Gegenstände werden vorüber getragen, deren Schatten das flackernde Feuer an die Wand wirft. Platon lässt nun Sokrates seinen Gesprächspartner Glaukon fragen, ob diese Gefangenen nicht »dieses für wirklich hielten, was sie sehen? […] Auf keine Weise«, so hakt Sokrates noch einmal nach, »können diese irgend etwas anderes für das Wahre halten als die Schatten jener Kunstwerke« (Platon, Politeia, Buch 7). Sicherlich kann kein heutiger Leser dieses Gleichnisses umhin, hier sofort an das Kino zu denken, das ja tatsächlich genau so funktioniert, wie Platon das Schattenspiel in der Höhle beschreibt - über zweitausend Jahre vor der Erfindung des Kinos. Es ist in der Tat verblüffend, wie exakt Platon hier eine ganz moderne Kulturtechnik vorwegzunehmen scheint. Doch mit dieser Vortäuschung eines bloßen Schattenspiels als Realität ist es nicht genug. Platon beschreibt auch, wie hilflos der Mensch seinen Sinnestäuschungen ✻ Schatten in der Höhle: Platons Ideenlehre und Höhlengleichnis 35 <?page no="36"?> ausgeliefert ist, wie schwer es ist, sie als Täuschung zu erkennen, und dass es unmöglich ist, die Realität als solche zu schauen: Abbildung 4: Platons Höhlengleichnis Wenn einer von den Fesseln befreit wäre und gezwungen würde, sogleich aufzustehen, den Hals herumzudrehen, zu gehen und gegen das Licht zu sehen und, indem er das täte, Schmerzen hätte und wegen des flimmernden Glanzes nicht vermöchte, jene Dinge zu erkennen, wovon er vorher die Schatten sah, was meinst du wohl, würde er sagen, wenn ihm einer versicherte, damals habe er lauter Nichtiges gesehen, jetzt aber, dem Seienden (Wirklichen) näher und zu dem im höheren Grade Seienden gewendet, sähe er richtiger, und ihm jedes Vorübergehende zeigend, ihn fragte und zu antworten zwänge, was es sei? Meinst du nicht, er werde ganz verwirrt sein und glauben, was er damals gesehen, sei doch wirklicher als was ihm jetzt gezeigt werde? (Platon, Politeia, Buch 7) Auch hier findet sich wieder, wie auch in der indischen Vorstellung von Maja (→ S. 30), in der ägyptischen Sais-Sage und im Alten Testament (→ S. 10) das Motiv der Blendung durch die Wahrheit. Die Realität kann von Menschen nicht wahrgenommen werden, bestenfalls nur ihr Abbild, ein Schatten ihrer selbst. Zur Vermittlung sind Medien nötig. Im Liniengleichnis aus demselben Dialog, der Politeia, teilt Platon die Welt nun in zweimal zwei Bereiche ein. Das Sichtbare besteht aus direkt Wahrnehmbarem (wie etwa Gegenständen) und indirekt Wahrnehmbarem (wie etwa Schatten von Gegenständen). Denjenigen Teil der Welt aber, der nur dem Geist zugänglich ist, unterteilt Platon ebenfalls. Einer der beiden 36 Die philosophische Vorgeschichte: Medientheorie vor der Medientheorie <?page no="37"?> Bereiche dieses Teils leitet sich aus den wahrnehmbaren Gegenständen ab, überschreitet deren Welt aber. Wissenschaften wie die Mathematik schluss‐ folgern abstrakte Gesetze aus der Beobachtung zum Beispiel geometrischer Verhältnisse. Der zweite Teilbereich des Geistigen ist das nur von der reinen Vernunft erreichbare Reich der Ideen. Dieses Reich ist losgelöst von der wahrnehmbaren Welt und der Anschauung unzugänglich. Deshalb taugt die sinnlich erfahrbare Welt nicht zur Quelle von wahrer Erkenntnis, und man kann nicht von den Objekten dieser Welt Rückschlüsse auf die Welt der Ideen ziehen. Zugänglich sind die Ideen nur einem voraussetzungslosen »Schauen«. Im Dialog aber können sie zumindest eingekreist werden. er richtiger, und ihm jedes Vorübergehende zeigend, ihn fragte und zu antworten zwänge, was es sei? Meinst du nicht, er werde ganz verwirrt sein und glauben, was er damals gesehen, sei doch wirklicher als was ihm jetzt gezeigt werde? (Platon, Politeia, Buch 7) Auch hier findet sich wieder, wie auch in der indischen Vorstellung von Maja (  S. 30), in der ägyptischen Sais-Sage und im Alten Testament (  S. 11) das Motiv der Blendung durch die Wahrheit. Die Realität kann von Menschen nicht wahrgenommen werden, bestenfalls nur ihr Abbild, ein Schatten ihrer selbst. Zur Vermittlung sind Medien nötig. Im Liniengleichnis aus demselben Dialog, der Politeia, teilt Platon die Welt nun in zweimal zwei Bereiche ein. Das Sichtbare besteht aus direkt Wahrnehmbarem (wie etwa Gegenständen) und indirekt Wahrnehmbarem (wie etwa Schatten von Gegenständen). Denjenigen Teil der Welt aber, der nur dem Geist zugänglich ist, unterteilt Platon ebenfalls. Einer der beiden Bereiche dieses Teils leitet sich aus den wahrnehmbaren Gegenständen ab, überschreitet deren Welt aber. Wissenschaften wie die Mathematik schlussfolgern abstrakte Gesetze aus der Beobachtung zum Beispiel geometrischer Verhältnisse. Der zweite Teilbereich des Geistigen ist das nur von der reinen Vernunft erreichbare Reich der Ideen. Dieses Reich ist Liniengleichnis Meinung über Werden und Vergehen Sinnliche Wahrnehmung Weg der Erkenntnis Erkenntnisformen Welt Denkbarer Bereich, erkennbar Wissen über das Sein Abbilder Schatten Spiegelbilder Sichtbare Dinge Reale Objekte Mathematische Gegenstände Ideen Vermutung Glauben Verstand Vernunft Abbildung 5: Platons Liniengleichnis Abbildung 5: Platons Liniengleichnis Wie aber kann die Seele dann überhaupt eine Idee kennen? Und: Was genau ist eine Idee? Existiert etwas überhaupt, was nur als Idee existiert? Die platonische Vorstellung davon, weshalb und unter welchen Schwie‐ rigkeiten wir uns überhaupt Ideen annähern können, setzt den Glauben an die Wiedergeburt voraus. Platon glaubt, dass Erkenntnis eigentlich Erinnerung ist. Dabei geht er von folgender Überlegung aus: Ideen sind immer mit sich selbst identisch; sie verändern sich nie. Ein perfekter Kreis zum Beispiel ist eine Idee. In der für uns wahrnehmbaren Welt aber existiert kein perfekter Kreis. Und dennoch leuchtet jedem die Idee des perfekten Kreises intuitiv ein. Gleiches gilt für alle Ideen. Sehr vereinfacht formuliert, sind sie angeboren. Etwas genauer gesagt: Ideale Begriffe sind apriorische ✻ Schatten in der Höhle: Platons Ideenlehre und Höhlengleichnis 37 <?page no="38"?> Konzepte wie etwa Identität, Verschiedenheit, Anzahl etc. »Apriorisch« heißt, dass sie sich nicht aus der Sinneswahrnehmung ableiten, sondern entweder bereits vor ihr da sind und ihr vorausgehen oder sich unabhängig von jeder Erfahrung bloß aus der Vernunft gewinnen lassen. Man kann nämlich aus Beobachtungen nicht auf Ideen wie Ähnlichkeit oder Vielheit schließen, ohne zuvor schon um diese Prinzipien gewusst zu haben, denn sonst ist ein entsprechendes Vergleichen und Abstrahieren ja gar nicht erst möglich. Aus der Erfahrung können die Ideen also nicht kommen. Denn einen einzelnen Baum erkennt der Mensch nur als Baum, wenn in ihm zuvor schon die Idee »Baum« geruht hat. Doch sich selbst kann der Mensch die Ideen auch nicht zurechtgelegt haben. So schließt Platon vom Apriori der Urbilder, von ihrem Angeborensein, auf die Lehre von der Wiedergeburt. Demzufolge hatte unsere Seele Zugang zur Welt der Ideen, als sie noch bei den Göttern war. Dort schaute sie die reinen Gedanken. Bevor sie in einen Körper wiedergeboren wurde, musste die Seele das Wasser des Flusses Ameles in der Lethe-Ebene trinken, um ihre Erinnerung an das frühere Leben und das Jenseits auszulöschen. Als sie aber in unseren Körper gelangte, brachte sie dennoch die vage Erinnerung (Anámnesis) an die Welt der Ideen mit, welche durch Sinneswahrnehmungen unter den Bedingungen von Raum und Zeit nach und nach wieder aktiviert wird. Diese Erinnerung bestimmt, was wir in unserem gegenwärtigen Leben lernen und erkennen können. Erfahrungen, deren Möglichkeit und Grenzen nicht schon im Vorhinein von diesen Aprioris geprägt und bestimmt werden, sind jedoch unmöglich. Einmal auf der Welt, sehnt sich der Mensch nun nach der perfekten Schönheit, nach der Idee von Schönheit, an die sich seine Seele aus einer Präexistenz undeutlich erinnert. Wenige Menschen nur besitzen eine aus‐ geprägte Erinnerung an die Ideen, die ihre Seele geschaut hat, als sie noch bei den Göttern war. Diese Menschen geraten außer sich, wenn sie etwas erblicken, was die unbewusste Idee in ihnen zum Widerklingen bringt. Sie hören den Ruf der reinen, unveränderlich ewigen Idee. Sieht der Mensch sinnlich wahrnehmbare Schönheit, so erinnert ihn dies an das Wahre, und er strebt danach, möglichst schon in diesem irdischen Dasein zur Schau der Idee selbst zu gelangen. Diesem Perfekten, in der Erlebniswelt nicht zu Erlangenden, gilt alles höhere menschliche Streben. Alle Erscheinungen der erfahrbaren Wirklichkeit streben nach dem Ewigen, dem Unvergänglichen. Bei Platon, wie später bei Kant (→ S. 41), kommt den Aprioris von Raum und Zeit, von Identität und Verschiedenheit etc. eine zentrale Bedeutung 38 Die philosophische Vorgeschichte: Medientheorie vor der Medientheorie <?page no="39"?> zu. Doch es gibt zwei tiefgreifende Unterschiede: Platonische Ideen sind Inhalte, während bei Kant nur die Anschauungsweisen selbst, die Formen also, apriorischen Charakter besitzen. Und Platon schließt im Gegensatz zu Kant aus, dass Sinneswahrnehmungen zur Erkenntnis der Ideen führen können. Dennoch spielen auch die Sinne eine wichtige Rolle in Platons Erkennt‐ nistheorie. Denn es ist ja keineswegs fruchtlos, die raumzeitlichen Abbilder der ideellen Urbilder zu studieren. Trotzdem ist es nicht die sinnliche Wahrnehmung, die zur Wahrheit führt. Nur im Dialog nämlich kann sich der Mensch an die Wahrheit erinnern. Die Begriffe, die im Dialog geklärt werden, beziehen sich auf die durch Tod und Wiedergeburt unvollständig ausgelöschte Kenntnis der Ideen. Für Platon sind die Ideen keine gedankenspielerischen Abstraktionen. Sie sind Realität - wenn auch eine Realität, die wir nicht unmittelbar wahrnehmen können. Das Verhältnis zwischen der Ideenwelt und der wahrnehmbaren Welt ist sogar hierarchisch, weil das Sichtbare nur Abbild des eigentlichen und wahren Urbilds ist, der Idee. Sein Wirklichkeitsgrad ist geringer. Entsprechend zeichnet eine tiefere Wirklichkeit das Wirkliche der Ideenwelt vor der Welt der Erscheinungen aus. Nichtsdestotrotz haben die Erscheinungen teil an den Ideen. Schließlich wurde das Universum im Hinblick auf die unveränderlichen Ideen geschaffen, eben als dessen Abbild. Und hier kommt nun ein Aspekt von Medialität ins Spiel. Denn dieses Abbild befindet sich in der Schwebe, in der Mitte zwischen Sein und Nichtsein. Es selbst existiert und existiert zugleich nicht. Es ist die Erscheinungsweise der Idee, ein Mittleres, ein Vermittelndes. Dies ist ein Aspekt in Platons Denken, der medientheoretisch hochinter‐ essant ist, eine frühe Definition von Medialität. Jedoch ist diesem Aspekt in der Geschichte der Medientheorien keine besondere Aufmerksamkeit gewidmet worden. Wenn sich das ewige Sein in der Welt, die immateriellen Ideen, als Gegenstände und Lebewesen manifestieren, dann muss es einen zuvor ungeformten Stoff geben, in dem und mit dessen Hilfe dies möglich ist - ein Medium also. Platon nennt diesen Stoff das »Aufnehmende« (dechómenon). Dieses mediale Substrat tritt vermittelnd zwischen die Idee und ihre Verkörperung. Schon deshalb können die Gegenstände dieser Welt stets nur als unvollkommene Abbildungen der Ideen gelten. So wird an dieser Stelle nicht nur das Medium von Platon erdacht, sondern mit ihm zugleich der verfälschende Einfluss benannt, den jede mediale Vermittlung auf ihren Inhalt nimmt. ✻ Schatten in der Höhle: Platons Ideenlehre und Höhlengleichnis 39 <?page no="40"?> Zusammenfassung: Unsere Wahrnehmung beschränkt sich auf die Welt der Erscheinungen. Diese sind Abbilder ewiger, unveränderlicher Ideen, an die sich unsere Seele aus früheren Leben mehr oder weniger undeutlich erinnert. Im lebendigen, mündlichen Dialog können wir die Begriffe schärfen und uns so der Erkenntnis der Ideen wenigstens annähern. Die Schrift kann diese Gedanken zwar festhalten und speichern, zu neuen Erkenntnissen aber führt sie nicht. Verständnisfragen zur Vertiefung: 1. Warum kann man aus der Beobachtung der Welt allein nicht auf ihr wahres Wesen schließen? (leicht) 2. Wenn uns die Ideen selbst unzugänglich sind, wie ist dann Erkennt‐ nis überhaupt möglich? (mittel) 3. Gibt es einen Ausweg aus Platons Höhle? (mittel) 4. Gibt es Platon zufolge zwei Welten, eine der Ideen sowie eine ihrer Erscheinungen, oder sind Urbild und Abbild nur zwei Aspekte ein und derselben unteilbaren Welt? (schwer) 5. Wie geht Platon mit dem Widerspruch um, dass er der Schrift die Eignung zum Philosophieren abspricht, dies aber in schriftlicher Form tut? (schwer) Immanuel Kants Erkenntnistheorie Nach Platon stellt Immanuel Kants (1724-1804) Erkenntnistheorie die am tiefsten greifende Revolution der Art und Weise dar, wie wir uns unsere Beziehung zur Welt vorstellen. Getrieben von der Frage »Was kann ich wissen? «, unterscheidet Kant in seiner Schrift Kritik der reinen Vernunft (1781) zwischen der Erscheinung eines Dinges und dem Ding an sich. Körper sind demnach Erscheinungen von Gegenständen, die existieren. Über deren Eigenschaften wissen wir jedoch nichts, da wir ja nur ihre Erscheinungen kennen. Die Dinge an sich bleiben uns unzugänglich: 40 Die philosophische Vorgeschichte: Medientheorie vor der Medientheorie <?page no="41"?> Ich […] sage: es sind uns Dinge als außer uns befindliche Gegenstände unserer Sinne gegeben, allein von dem, was sie an sich selbst sein mögen, wissen wir nichts, sondern kennen nur ihre Erscheinungen, d. i. die Vorstellungen, die sie in uns wirken, indem sie unsere Sinne affizieren. Demnach gestehe ich allerdings, daß es außer uns Körper gebe, d. i. Dinge, die, obzwar nach dem, was sie an sich selbst sein mögen, uns gänzlich unbekannt, wir durch die Vorstellungen kennen, welche ihr Einfluß auf unsre Sinnlichkeit uns verschafft, und denen wir die Benennung eines Körpers geben, welches Wort also bloß die Erscheinung jenes uns unbekannten, aber nichtsdestoweniger wirklichen Gegenstandes bedeutet. (Kant 1783, § 13, Anm. 2) Das Erkennen ist kein Abbildungsvorgang, sondern eine Synthese: Der Mensch bringt notwendigerweise Voraussetzungen, (Aprioris: die Vorstel‐ lungen von Raum und Zeit), sowie bestimmte ordnende Gesetzmäßigkeiten des Verstandes (Kategorien: Quantität, Qualität, Relation und Modalität) mit. Diese sind Beschränkungen der Sinnlichkeit und Strukturen des Verstands und nicht etwa Eigenschaften des wahrgenommenen Dinges an sich. Wir können uns die Dinge nicht anders als räumlich und zeitlich vorstellen. Werden diese reinen Formen der sinnlichen Anschauung, diese Aprioris und Kategorien auf die Anschauung selbst angewendet, dann entsteht ein Bild von Wirklichkeit. Die Anschauung wird von unseren Sinnen beigesteuert, und zwar nur dann, wenn die Sinne von einer vorbegrifflichen Außenwelt, von den Dingen an sich, dazu angeregt werden. Wir erfahren diese Außen‐ welt, indem wir sie sehen, hören, riechen, tasten oder schmecken. Die Dinge existieren also an sich (denn sie lösen unsere Empfindungen aus), aber wir kennen ihre Eigenschaften nicht. Die Wirklichkeit erscheint uns nicht so, wie sie an und für sich sein mag, sondern so, wie wir sie uns aufgrund unseres ganz spezifischen, subjektiven Erkenntnisvermögens vorstellen. Wir können also nie wissen, welche Eigenschaften eines Dinges diesem Ding an sich zukommen und welche auf die jeweilige Wirkungs‐ weise unseres Wahrnehmungsapparats und Denkvermögens zurückzufüh‐ ren sind. Wir wissen nicht, ob unsere Erkenntnis der erkannten Sache entspricht; wir können nicht einmal sagen, ob den Dingen selbst Raum und Zeit zukommen. Schließlich sind auch Raum und Zeit Zutaten, die zwangsläufig vom denkenden Subjekt beigebracht werden. Wir haben also sagen wollen: daß alle unsere Anschauung nichts als die Vorstel‐ lung von Erscheinung sei: daß die Dinge, die wir anschauen, nicht das an sich selbst sind, wofür wir sie anschauen, noch ihre Verhältnisse so an sich selbst Immanuel Kants Erkenntnistheorie 41 <?page no="42"?> beschaffen sind, als sie uns erscheinen, und daß, wenn wir unser Subjekt oder auch nur die subjektive Beschaffenheit der Sinne überhaupt aufheben, alle die Beschaffenheit, alle Verhältnisse der Objekte im Raum und Zeit, ja selbst Raum und Zeit verschwinden würden, und als Erscheinungen nicht an sich selbst, sondern nur in uns existieren können. Was es für eine Bewandtnis mit den Gegenständen an sich und abgesondert von aller dieser Rezeptivität unserer Sinnlichkeit haben möge, bleibt uns gänzlich unbekannt. (Kant 1781, 1. Teil, 2. Abschn., § 8) Kant vergleicht unsere Sinnlichkeit und unseren Verstand mit einer Brille, die wir nicht abnehmen können. Wie die Welt (oder wir selbst) durch diese Brille hindurch gesehen aussieht, das wissen wir. Wie sie aber an sich beschaffen ist, das können und werden wir niemals herausfinden. Darüber können wir nur spekulieren. Wir können zwar über das Sein an sich (zum Beispiel über das Sein der Welt oder unser eigenes) oder über Gott nachdenken. Doch Denken und Erkennen sind zweierlei, und die Dinge an sich entziehen sich immer unserer Erkenntnis; nur ihre Erscheinungen können erfahren werden. Am schönsten, einfachsten und womöglich folgenreichsten hat der Dich‐ ter Heinrich von Kleist diesen Punkt der kantischen Erkenntnistheorie zusammengefasst. In einem Brief an seine Verlobte Wilhelmine von Zenge schreibt er 1801: Vor kurzem ward ich mit der neueren sogenannten Kantischen Philosophie bekannt - und Dir muß ich jetzt daraus einen Gedanken mitteilen, indem ich nicht fürchten darf, daß er Dich so tief, so schmerzhaft erschüttern wird, als mich. Auch kennst Du das Ganze nicht hinlänglich, um sein Interesse vollständig zu begreifen. Ich will indessen so deutlich sprechen, als möglich. Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün - und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzutut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstande. Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint. Ist das letzte, so ist die Wahrheit, die wir hier sammeln, nach dem Tode nicht mehr - und alles Bestreben, ein Eigentum sich zu erwerben, das uns auch in das Grab folgt, ist vergeblich. (Kleist 1801) 42 Die philosophische Vorgeschichte: Medientheorie vor der Medientheorie <?page no="43"?> Hegel und die Dialektik Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) war weder Medientheoretiker noch hat er zur Vorgeschichte der Medientheorien erhebliche Beiträge geleistet. Und doch enthält sein Denken zwei Züge, die aus der späteren Entwicklung der Traditionslinien innerhalb und auch außerhalb medien‐ theoretischen Denkens nicht wegzudenken sind. Die logische Methode und Denkfigur der Dialektik hat insbesondere auf marxistische und mate‐ rialistische Philosophien ganz wesentlichen Einfluss gehabt; alle diesem Ansatz folgende medientheoretische Überlegungen (wie die der Frankfurter Schule, wie Bertolt Brechts Radiotheorie, Hans Magnus Enzensbergers Medienschelte oder Habermas’ Konzept vom »herrschaftsfreien Diskurs«) bauen auf die dreischrittige dialektische Denkbewegung auf, die Hegel allerdings keineswegs selbst erfunden hat. Er selbst bezieht sich auf Heraklit (ca. 520-460 v. Chr.), und auch andere Denker könnten hier als Zeugen für dialektisches Philosophieren aufgerufen werden. Bei Platon (→ S. 32) etwa ist die Dialektik diejenige Methode, mit der man sich wissenschaftlich dem eigentlichen Sein nähern kann, im Gegensatz zur Physik, welche nur über die empirische Welt der Erscheinungen Aussagen treffen kann. Und doch ist es keine Zufälligkeit, dass Hegel hier herausgegriffen wird: Mit ihm wird weithin - und dies zu Recht - die systematische Bewusst‐ machung und Theoretisierung des Instruments der Dialektik bzw. dieser vorgeblichen Naturgesetzlichkeit unseres Denkens verbunden. Vor allem aber, und dies ist hier noch wichtiger, bauen Karl Marx, Friedrich Engels und in ihrer Folge alle dialektisch-materialistischen Denker - eben auch die der Frankfurter Schule (→ S. 106) und der Kritischen Theorie - auf dem von Hegel ins Zentrum der Betrachtung gerückten Dreischritt als Methode auf. Im Grunde wird unter »Dialektik« eine Grundoperation der Logik ver‐ standen: Einer Behauptung (These) wird eine andere Behauptung (Anti‐ these) entgegengestellt, die mit ihr nicht vereinbar scheint. In einer Aufhe‐ bung auf einem höheren oder abstrakteren Niveau (Synthese) werden These und Antithese dann doch vereint. Im Begriff der »Aufhebung« klingt dabei sowohl diese höhere Ebene an als auch die gegenseitige Neutralisierung von These und Antithese sowie das gleichzeitige Bewahren ihrer Widersprüch‐ lichkeit selbst noch in der gelungenen Synthese. Ein Beispiel: These: das Leben. Antithese: der Tod. Beide sind unvereinbar: Wer lebt, ist nicht tot, und wer tot ist, lebt nicht. Leben und Tod schließen einander aus. Die synthetische Aufhebung beider erfolgt nun auf einer ganz Hegel und die Dialektik 43 <?page no="44"?> anderen, einer transzendenten Ebene. Es wird ein Jenseits postuliert, ein Leben nach dem Tod. In diesem Jenseits leben wir nicht mehr, denn wir sind ja tot. Wir sind aber nicht tot, denn wir leben ja weiter. Gerade an diesem Beispiel wird auch deutlich, dass allen Erlösungsre‐ ligionen und -ideologien (wie zum Beispiel dem Christentum oder dem Marxismus) eine dialektische Grundstruktur innewohnt (Sündenfall, Be‐ währung hienieden, Himmel bzw. Entfremdung, Revolution, klassenlose Gesellschaft). Wie wir später sehen werden, sitzt diese Dreischrittigkeit, mit der ja immer auch ein Fortschritt impliziert wird, dem abendländischen Den‐ ken tief in den Knochen. Auch Philosophen - egal, welcher Weltanschauung sie anhängen - tun sich schwer damit, sich von ihr zu lösen. Dies ändert sich erst mit Gilles Deleuze und Felix Guattari sowie mit Michel Serres. Doch zurück zu Hegel. So kommentiert Hegel selbst die Bedeutung und das Ansehen der Dialektik: Das dialektische Moment ist das eigene Sichaufheben solcher endlichen Bestim‐ mungen und ihr Übergehen in ihre entgegengesetzten. […] Die Dialektik […] ist dies immanente Hinausgehen, worin die Einseitigkeit und Beschränktheit der Verstandesbestimmungen sich als das, was sie ist, nämlich als ihre Negation darstellt. Alles Endliche ist dies, sich selbst aufzuheben. Das Dialektische macht daher die bewegende Seele des wissenschaftlichen Fortgehens aus und ist das Prinzip, wodurch allein immanenter Zusammenhang und Notwendigkeit in den Inhalt der Wissenschaft kommt. (Hegel 1817, 1. Teil, C, § 80 f, α und β) Zahlreiche zeitgenössische Medientheorien wären ohne die hegelsche Dia‐ lektik jedenfalls nicht denkbar: Einige der im 20. Jahrhundert entstandenen Medientheorien befassen sich mit der Funktion von technischen Massenme‐ dien in marktwirtschaftlichen Gesellschaften und mit den sozialen Folgen der Rezeption dieser Medien. Der weitaus größte Teil dieser Theorien baut auf marxistische Gesellschaftstheorien auf, welche ihrerseits nur auf der Grundlage des dreischrittigen Dialektik-Modells von Hegel verständlich sind. Ohne Kenntnis der hegelschen Dialektik sind Denker wie Walter Benjamin, Bertolt Brecht, Günther Anders, Theodor Adorno, Hans Magnus Enzensberger, aber auch Jean Baudrillard, nicht zu verstehen. Jedoch ist der Einfluss von Hegel auf diese Denker zumeist durch Karl Marx (1818-83) vermittelt, der Hegels Dialektik »vom Kopf auf die Füße gestellt« hat, wie er selbst zutreffend bemerkte. Er unterscheidet dabei Hegels mystifizierende, affirmative und idealistische Form von Dialektik von seiner eigenen ratio‐ 44 Die philosophische Vorgeschichte: Medientheorie vor der Medientheorie <?page no="45"?> nalen Form, welche den Akzent auf die Veränderbarkeit und Veränderung der Dinge legt: Die Mystifikation, welche die Dialektik in Hegels Händen erleidet, verhindert in keiner Weise, dass er ihre allgemeinen Bewegungsformen zuerst in umfassender und bewusster Weise dargestellt hat. Sie steht bei ihm auf dem Kopf. Man muss sie umstülpen, um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken. In ihrer mystifizierten Form ward die Dialektik deutsche Methode, weil sie das Bestehende zu verklären schien. In ihrer rationellen Gestalt ist sie dem Bürgertum und seinen doktrinären Wortführern ein Ärgernis und ein Gräuel, weil sie in dem positiven Verständnis des Bestehenden zugleich auch das Verständnis seiner Negation, seines notwendigen Untergangs einschließt, jede gewordene Form im Flusse der Bewegung, also auch nach ihrer vergänglichen Seite auffasst, sich durch nichts imponieren lässt, ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär ist. (Marx/ Engels 1962, Bd.-23, 27 f.) Bei Marx findet also eine tiefgreifende Umwertung des hegelschen Denkens statt (die man ihrerseits dialektisch als »Synthese« bezeichnen könnte): Versteht sich das denkende Individuum im Idealismus als der Welt gegen‐ über befindlich, eignet es sich die Welt dadurch an, dass es sie im Kopf herstellt, so erdet Marx diesen Gedanken und entlässt ihn aus dem Reich logisch-abstrakter Denkübungen in die gesamte materielle Welt: Die Dialektik, die sog. objektive, herrscht in der ganzen Natur, und die sog. subjektive Dialektik, das dialektische Denken, ist nur Reflex der in der Natur sich überall geltend machenden Bewegung in Gegensätzen, die durch ihren fortwährenden Widerstreit und ihr schließliches Aufgehen ineinander, resp. in höhere Formen, eben das Leben der Natur bedingen. (Marx/ Engels 1962, Bd. 20, 481) Marx ist der Ansicht, dass Hegel falsch vorgeht, wenn er meint, »die Bestimmungen des logischen Begriffs überall wiederzuerkennen«, anstatt umgekehrt »die eigentümliche Logik des eigentümlichen Gegenstandes zu fassen« (Marx/ Engels 1962, Bd. 1, 296). Hegel, so Marx, entwickle »sein Denken nicht aus dem Gegenstand, sondern den Gegenstand nach einem mit sich fertigen und in der abstrakten Sphäre der Logik mit sich fertig gewordenen Denken« (Marx/ Engels 1962, Bd.-1, 213). In ihrer Polemik Das Elend der Philosophie erklären Karl Marx und Fried‐ rich Engels ihre materialistische Dialektik in Abgrenzung zur idealistischen Hegels: Hegel und die Dialektik 45 <?page no="46"?> Um griechisch zu sprechen, haben wir These, Antithese und Synthese. Für die, welche die Hegelsche Sprache nicht kennen, lassen wir die Weihungsformel folgen: Affirmation, Negation, Negation der Negation. Das nennt man reden. Es […] ist die Sprache dieser reinen, vom Individuum getrennten Vernunft. […] Aber, einmal dahin gelangt, sich als These zu setzen, spaltet sich diese These, indem sie sich selbst entgegenstellt, in zwei widersprechende Gedanken, in Positiv und Negativ, in Ja und Nein. Der Kampf dieser beiden gegensätzlichen, in der Antithese enthaltenen Elemente bildet die dialektische Bewegung. Das Ja wird Nein, das Nein wird Ja, das Ja wird gleichzeitig Ja und Nein, das Nein wird gleichzeitig Nein und Ja; auf diese Weise halten sich die Gegensätze die Waage, neutralisieren sich, heben sie sich auf. Die Verschmelzung dieser beiden widersprechenden Gedanken bildet einen neuen Gedanken, die Synthese derselben. (Marx/ Engels 1962, Bd.-4, 127 ff.) Aus einer abstrakt-logischen Denkoperation wird so durch Marx und En‐ gels die Beschreibung der Art und Weise, wie die Welt funktioniert. Für alle gesellschaftskritischen Mediendenker bis hin zu Vilém Flusser und Jean Baudrillard, die die dialektische Denkfigur auf unterschiedliche Weise zugleich weiterführen und aufheben, bleibt sie der verbindliche Weg, zu argumentieren und dabei gültige Schlussfolgerungen zu ziehen. Die starke Vorherrschaft der Dialektik - und in ihrer Folge der Frankfurter Schule - insbesondere in Deutschland hat erheblich dazu beigetragen, dass Medien‐ theorien anderer geistiger Herkunft (wie die so genannte Kanadische Schule von Harold Innis und Marshall McLuhan oder die vom Poststrukturalismus geprägten französischen Denker wie Michel Foucault, Jean Baudrillard oder Paul Virilio) hier lange Zeit nicht ernst genommen und kaum rezipiert worden sind. Das unglückliche Bewusstsein Der zweite, vielleicht etwas weniger wichtige Grund, hier vergleichsweise ausführlich auf Hegel einzugehen, ist die von ihm dialektisch als These und Antithese beschriebene Dichotomie und Spannung zweier Zustände unseres Bewusstseins: Wenn ich ganz bei mir bin, dann habe ich keine Aufmerksamkeit mehr für die Welt, dann bin ich weltvergessen. Gebe ich mich aber ganz der Welt hin, dann verliere ich Bewusstsein und Gefühl für mich selbst als Individuum. 46 Die philosophische Vorgeschichte: Medientheorie vor der Medientheorie <?page no="47"?> In seinem Tun ist demnach das Bewußtsein zunächst in dem Verhältnisse zweier Extreme; es steht als das tätige Diesseits auf einer Seite und ihm gegenüber die passive Wirklichkeit; beide in Beziehung aufeinander, aber auch beide in das Unwandelbare zurückgegangen und an sich festhaltend. (Hegel 1806 f, IV B) Wie also kann ich mich mit der Welt in Einklang bringen? Hegel schlägt als Bild zur Beschreibung des Sachverhalts das gegenseitige Abhängigkeits‐ verhältnis von Herr und Knecht vor. Die gleichzeitigen, konkurrierenden und sich scheinbar ausschließenden Gefühle von Selbstständigkeit und Un‐ selbstständigkeit, denen der Herr ausgesetzt ist, müssen dialektisch gefasst werden. In ihrer Summe bilden diese Erfahrungen sein Selbstbewusstsein heraus, das also ein Ergebnis der Anerkennung des Anderen ist. Ohne Knecht kein Herr. Allein schon unter bloß medientheoretischen Gesichtspunkten ist dies ein gewaltiger Gedanke: Nur in Abhängigkeit eines Gegenüberstehenden, eines Gesprächspartners, bin ich ich. Kommunikation ist also nicht irgendeine Tätigkeit, die ein bereits in sich gefestigtes, unveränderliches, als essentia‐ listisch gedachtes Ich ausübt (oder auch nicht). Kommunikation ist nun ganz im Gegenteil das Wesentliche, was unser Ich ausmacht, was es überhaupt erzeugt. Ohne Du kein Ich. Das Selbstbewußtsein ist an und für sich, indem, und dadurch, daß es für ein Anderes an und für sich ist; d. h. es ist nur als ein Anerkanntes. Der Begriff dieser seiner Einheit in seiner Verdopplung, der sich im Selbstbewußtsein realisierenden Unendlichkeit, ist eine vielseitige und vieldeutige Verschränkung, so daß die Momente derselben teils genau auseinandergehalten, teils in dieser Unterscheidung zugleich auch als nicht unterschieden, oder immer in ihrer ent‐ gegengesetzten Bedeutung genommen und erkannt werden müssen. […] Es ist für das Selbstbewußtsein ein anderes Selbstbewußtsein; es ist außer sich gekommen. Dies hat die gedoppelte Bedeutung, erstlich, es hat sich selbst verloren, denn es findet sich als ein anderes Wesen; zweitens, es hat damit das Andere aufgehoben, denn es sieht auch nicht das Andere als Wesen, sondern sich selbst im Andern. (Hegel 1806 f IV A) »Ich ist der Inhalt der Beziehung und das Beziehen selbst« (Hegel 1806 f, IV). Erst kommunizierend schaffen wir uns selbst; unser Ich entsteht aufgrund der Antworten, die wir erhalten. Bei Martin Buber und Vilém Flusser (→ S.-182) werden wir diesen Grundgedanken weiter ausgeführt finden. Hegel und die Dialektik 47 <?page no="48"?> Hegels »unglückliches Bewusstsein« hat aber auch Pate gestanden für ein Denkmodell, das in Medientheorien von Anfang an und bis in die Gegenwart nicht wegzudenken ist: Ohne mediale Vermittlung können wir nichts wahrnehmen. Doch die Medien haben die Eigenschaft, sich zwischen uns und die Welt zu schieben, uns so den Weg zu den Dingen zu verstellen und uns der Welt zu entfremden. Vor allem Vilém Flusser hat diesen Gedanken sehr explizit ausgearbeitet. Medienrevolutionen sind aus seiner Sicht Ausbruchsversuche aus der »innere[n] Dialektik aller Mediationen« (Flusser 1993d, 255). Haben wir die Welt, so besitzen wir uns selbst nicht. Haben wir aber uns selbst, geht uns die Welt verloren. Eignen wir uns die Welt mithilfe von Bildern oder der Schrift an, so entstehen bald Universen aus Bildern oder aus Schrift, die dann zu Universen der Bilder oder der Schrift werden, sich vor die Welt schieben und uns schließlich wirklicher erscheinen als diese. Das ist die dialektische Bewegung, die die Medienge‐ schichte antreibt - ganz ähnlich dem Dialektischen Materialismus, welcher Karl Marx zufolge der Mechanismus ist, der die Geschichte vorantreibt. 48 Die philosophische Vorgeschichte: Medientheorie vor der Medientheorie <?page no="49"?> Metaphern prägen unser Mediendenken Anatomie und Blutkreislauf Kommunikation ist eine Spielart des Tausches; Kommunikationstheorie ist immer auch Tauschtheorie. Das Prinzip von Gabe und Gegengabe impliziert, dass das Gegebene und Empfangene, die Gegenstände des Tausches also, zirkulieren. Werfen wir deshalb einen Blick in die Geschichte der Metapher vom Kreislauf, wie sie auch für wirtschaftliche Tauschsysteme selbstver‐ ständlich geworden ist. Sie kann uns helfen, auch Kommunikationstheorie besser zu verstehen. Während im 18. Jahrhundert der »Automat«, das heißt raffinierte fein‐ mechanische Apparate und Uhrwerke, als Metapher zur Beschreibung von komplexen Systemen herangezogen wurde, und im 19. Jahrhundert die Maschine und ihre Mechanik, galten bis ins 17. Jahrhundert der Körper und seine Organe als modellhaft für die Erklärung des komplexen Zusammen‐ wirkens vieler Teile in einem größeren Ganzen. Eine wichtige Rolle spielte dabei die Lehre von den vier Körpersäften gelbe Galle (Choleriker), schwarze Galle (Melancholiker), Blut (Sanguiniker) und Schleim (Phlegmatiker). Sie wurde aus dem alten Ägypten über Aristoteles und Galen bis zu Paracelsus im 16. Jahrhundert tradiert und spielt in esoterischen Kreisen bis heute noch eine Rolle. Dieser wissenschaftlich inzwischen längst verworfenen Säftelehre zufolge bestimmen nicht nur die Anteile der genannten vier Säfte im Körper eines Menschen dessen Charakter; entscheidend ist auch, dass sie frei zirkulieren können. Das Stocken von Körpersäften bedeutet Stillstand und Tod. Der Blutkreislauf wiederum wurde zwar schon im 13. Jahrhundert vom arabischen Arzt Ibn an-Nafis entdeckt, doch erst, als ihn sein englischer Kol‐ lege William Harvey 1628 für Europa erneut entdeckte und genau beschrieb, wurde diese Entdeckung hier Allgemeingut. Sie hatte gewaltige Folgen, nicht nur für die Anatomie und Medizin. Sofort wurde der Blutkreislauf zu einer Metapher, die auch zur Beschreibung anderer komplexer Systeme diente. Und indirekt veranlasste sie auch die Herausbildung neuer Theorien in ganz anderen Wissenschaftsbereichen, beispielsweise für die merkantile und monetäre Zirkulation. In einem Wörterbuch des 18. Jahrhunderts heißt <?page no="50"?> es etwa unter dem Eintrag »Umtrieb«: »Der Umtrieb des Blutes, dessen Umlauf, Circulation, Kreislauf. Der Umtrieb des Geldes, da es oft aus einer Hand in die andere getrieben wird; der Umlauf, Kreislauf. Eine Waare kommt in Umtrieb, wenn sie stark gekauft und wieder verkauft wird« (Adelung 1793-1801, »Umtrieb«). Die erste Darstellung des wirtschaftlichen Kreislaufs 1758 durch François Quesnay, zugleich Leibarzt von Ludwig XV. und Begründer der physiokra‐ tischen Volkswirtschaftslehre, wurde sofort begeistert aufgenommen. Geld und Waren sind darin Substitute füreinander. Während die Waren von den Produzenten zu den Konsumenten fließen, strömt ihr Gegenwert als Geld zu den Produzenten zurück. Da es sich nicht um einen vereinzelten Tauschvorgang, sondern um einen beliebig oft wiederholbaren handelt, ist die notwendige Voraussetzung für das dauerhafte Funktionieren der Zirkulation, dass das Gegebene dem Genommenen äquivalent ist, also seinen Gegenwert repräsentiert. So lässt sich dieser andauernde Prozess wie ein einmaliger Tausch beschreiben. Implizit sind die anatomische und dann die volkswirtschaftliche Vorstel‐ lung vom Kreislauf, vom geschlossenen Ringtausch, die Grundlage für zahlreiche kommunikationstheoretische Konzepte und Medientheorien, die im 20. Jahrhundert entstehen. Wir werden darauf noch zurückkommen, wenden uns aber zunächst noch einer weiteren Metapher aus der Volkswirt‐ schaftslehre zu, die zum Beginn einer modernen Verkehrstheorie wurde. Friedrich List und Adam Heinrich Müller Im Zuge der Industrialisierung im 19. Jahrhundert begannen Nationalöko‐ nomen wie Adam Heinrich Müller (1779-1829) oder Daniel Friedrich List (1789-1846), der Verkehrsinfrastruktur und den Kommunikationstechnolo‐ gien einer Volkswirtschaft ebenso viel Augenmerk zu schenken wie ihren Rohstoffvorräten, Produktionsweisen, ihrer Arbeits- und ihrer Investitions‐ kraft. Mehr noch, sie sahen beides in einem systemischen Zusammenhang. Sie hatten erkannt, dass Verkehr und Kommunikation in einer Volkswirt‐ schaft dem Nervensystem in einem Organismus vergleichbar sind. Im frühen 19. Jahrhundert waren die Begriffe »Verkehr« und »Kommu‐ nikation« (zu einem geringeren Grad auch »Straßen« und »Medien«) gleichbedeutend. »Tausch« ist dabei der beiden Termini gleichermaßen 50 Metaphern prägen unser Mediendenken <?page no="51"?> übergeordnete Oberbegriff. Als implizite Tauschtheorie war das Nachden‐ ken über Verkehr und Geselligkeit die Medientheorie der damaligen Zeit. Friedrich List zum Beispiel setzte 1837 ausdrücklich Wasserwege mit Medien sowie »Transport« mit »Kommunikation« gleich. In diesen frühen nationalökonomischen Verkehrstheorien liegt eine ganz wesentliche Quelle späterer Medientheorien, insbesondere der sogenannten Kanadischen Schule (Harold Innis, Marshall McLuhan). Bis heute gründet unser intuitives Ver‐ ständnis von Medien auf einem Kommunikationsmodell und einer Trans‐ portmetapher, die sich von Eisenbahnlinien und Kanälen herleiten. Dazu mehr im Zusammenhang mit dem Kommunikationsmodell von Claude Shannon und Warren Weaver (→ S.-85). Ohne die im vorigen Abschnitt skizzierten Vorstellungen von der Kom‐ munikation als Tauschverkehr hätte es nicht zu dieser erweiterten und fortgesetzten Metapher kommen können. Wurden in der Vorgeschichte der heutigen Medientheorien Verkehrs- und Transportmittel schon als Medien und Kommunikationsmittel aufgefasst, so sprechen wir heute übrigens in einer Umkehrung dieser Metaphorik im Zusammenhang mit Datenübert‐ ragugen von »Kanälen«, von »Nachrichtenverkehr« oder »Datenautobah‐ nen«. Friedrich List jedenfalls war ein glühender Befürworter eines planvoll integrierten, zusammenhängenden Eisenbahnnetzes in Deutschland. Es sollte nicht der Personenbeförderng dienen, sondern dem Gütertransport, also rein wirtschaftlichen Zwecken. List ist unter Medienforschern kein Star. Doch einigen von ihnen, wie etwa Dierk Spreen, gilt er dennoch als einer der ersten wirklichen Medientheoretiker. Er behandelt ausführlich medientheo‐ retische Fragen zum Verhältnis von »Kanälen und Eisenbahnen« bzw. Probleme der »Dampfwagen auf Chausseen und ihre mögliche Konkurrenz mit den Eisenbahnen betreffend« und wägt sozio-politische Folgen neuer Verkehrs- und Kommunikationssysteme ab […]. Wesentliche Topoi der Medientheorie des 20. Jahrhunderts finden sich hier vorweggenommen, zum Beispiel: Erwei‐ terung der sozialen Wirkungskreise, Vergrößerung und Internationalisierung des Wissens, Bildungsrevolution, Beschleunigung von Kommunikation und Informationsfluß, Verständnis und Verstehen, Gemeinschaftlichkeit, Mobilität und Tourismus. Wenn List das »Nationaltransportsystem«, das er gelegentlich auch »Kommunikationssystem« nennt, zum Paradigma der produktiven Kräfte erhebt, dann deutet er eine Medientheorie an, in der beschleunigter Austausch Friedrich List und Adam Heinrich Müller 51 <?page no="52"?> 8 Dies wurde dann durch Claude Shannons und Warren Weavers technizistisches Kom‐ munikationsmodell (→ S.-85) noch erheblich verstärkt. und schnelle Zirkulation von Informationen (Menschen, Waren, Post, Depechen, Journale, Zeitungen) an sich zur produktiven Größe werden. (Spreen 1998, 59) Dies ist nicht nur der Beginn eines systemischen Ansatzes bei der Untersu‐ chung der verschlungenen Beziehungen zwischen Kommunikation, Wirt‐ schaft, Medien und Verkehr. Es ist auch die Vorahnung eines Prozesses, in dem die Kommunikationsmittel fortan ständig an Bedeutung und Wirkung gewinnen - und dabei immer schneller, kleiner und schließlich zunehmend ganz immateriell werden. Es ist der Anfang einer Betrachtungsweise dieser Entwicklung, die uns heute (nach Marshall McLuhan, Jean Baudrillard, Friedrich Kittler und Paul Virilio) so selbstverständlich erscheint, dass wir sie für schlechthin gegeben halten, als wäre sie schon immer da gewesen. List und einige seiner Zeitgenossen aber waren die ersten, die - wenn auch noch implizit - Gregory Batesons Einsicht vorwegnahmen, dass Kommunikation nicht der Transport von Substanzen, sondern von Differenz ist, dass das Maß von Information ein Unterschied ist - und dieser Unterschied eine Idee. Im Rückblick erscheinen Lists Eisenbahnen als erste Pioniere auf dem Weg zu einer immateriellen, informationsbasierten Zivilisation. Während List einige Jahre im kanadischen Exil verbrachte, entwickelte er auch dort ein intelligent konzipiertes Eisenbahnnetz zur Beförderung der wirtschaftlichen Integration des nordamerikanischen Landes. Und vor allem bei der später als Kanadische Schule bekannt gewordenen Gruppe von Schülern Harold Innis’ um Marshall McLuhan sollte er prägend wieder in Erscheinung treten. Weil sich Innis als kanadischer Wirtschaftshistoriker zunächst mit dem Pelzhandel und mit Eisenbahnen befasste, blieb die auf ihn zurückgehende Schule eng verbunden mit der Transportmetapher. 8 Innis versteht Medialität als Transport und Kommunikation als Übertragung. Für die Medientheorien des 20. Jahrhunderts sollte dies tiefgreifende Folgen haben. 52 Metaphern prägen unser Mediendenken <?page no="53"?> 9 Es gibt verschiedene Theorien und Gesetze, die dieses Phänomen als Regelmäßigkeit zu beschreiben versuchen: Thomas Kuhns Konzept vom Paradigmenwechsel in den Wis‐ senschaften (Kuhn 1962), die als Moore’s Law firmierende These von der Verdopplung der Leistungsfähigkeit von Computerchips alle ein bis zwei Jahre (1965) oder das Law of Accelerating Returns von Ray Kurzweil, das Kuhns und Moores Thesen in Bezug auf die Technologiegeschichte zusammenfasst (2001). Die Zweite Industrialisierung und das Riepl’sche Gesetz Die Industrialisierung Mitteleuropas im 19. Jahrhundert führte zu einer im‐ mer schnelleren Abfolge von Einführungen neuer technischer Medien: 9 des Telegrafen 1809, der Fotografie 1822, des Telefons 1872, des Grammophons 1877, des Films 1895 und des Radios 1918. Für sich genommen, können diese Medienrevolutionen auch als Zweite Industrialisierung betrachtet werden: Beruhte die Erste Industrialisierung seit dem 19. Jahrhundert darauf, dass menschliche oder tierische Muskelkraft durch Maschinen, zuerst durch die Dampfmaschine, dann durch den Elektro- und den Verbrennungsmotor, simuliert und ersetzt wurde, waren es nun die menschlichen Sinnesorgane und vor allem Nervenstränge, deren Funktionen technisch nachgebaut bzw. implementiert wurden. Die Vision Friedrich Lists vom Netzwerk der Eisen‐ bahnen, das den Nationalstaat durchziehen sollte wie die Blutbahnen den Organismus, war nun wahr geworden. Der Telegraf wurde das Äquivalent zum menschlichen Nervensystem (bzw. umgekehrt dieses sein Modell): Elektrische Impulse konnten nun in Sekundenbruchteilen durch das ganze Land zucken und Daten übermitteln, Daten, die beim Empfänger zu Infor‐ mation wurden und so beispielsweise unterschiedliche Fabriken leiten und koordinieren konnten, ganz so wie Muskeln von Nervenimpulsen gesteuert werden. Diesen Vergleich von Telegrafie und menschlichem Nervensystem stellte bereits der zeitgenössische Geograf Ernst Kapp 1877 an. Er behauptete eine [d]urchgängige Parallelisierung von Telegraphensystem und Nervensystem […]. Die Nerven sind Kabeleinrichtungen. […] Der Telegraph auf der Schwelle, wo der Mechanismus sich vom sinnlich Greifbaren mehr und mehr entfernend […] zur durchsichtigen Form des Geistes wird. (Kap.-1877, XI) Jede neue Medientechnik wurde nun nicht nur jeweils als Durchbruch menschlichen Fortschritts gefeiert, sie trat auch in Windeseile einen er‐ folgreichen Siegeszug durch die gesamte industrialisierte Welt an (und Die Zweite Industrialisierung und das Riepl’sche Gesetz 53 <?page no="54"?> kolonialisierte und teilindustrialisierte dabei auch zunehmend den Rest der Welt). Doch diese Revolutionen in der Medientechnik und die aus ihnen resul‐ tierenden gewaltigen Umbrüche in Produktions- und Konsumtionsweisen, in Kriegsführung, Wertschöpfung und -akkumulation, Sozialer Frage und menschlichem Zusammenleben warfen auch Probleme auf, die nicht nur kultureller und sozialer Natur, sondern, avant la lettre, auch medientheore‐ tischer Art waren: Würde die Malerei aussterben, nun da sich die Natur in der Fotografie, dem »pencil of nature« (so einer ihrer Erfinder, William Henry Fox Talbot), selbsttätig und anscheinend objektiv abbilden konnte? Was würde aus dem Theater werden im Angesicht des Kinos? Was aus dem gedruckten Buch? Eine mögliche Antwort lieferte der Altphilologe und spätere Chefredak‐ teur der Nürnberger Zeitung Wolfgang Riepl. 1913 promovierte er über Das Nachrichtenwesen des Altertums mit besonderer Rücksicht auf die Römer. In seiner Dissertation kam Riepl zu dem Schluss, dass Techniken der Nachrich‐ tenübermittlung und Kommunikation, die einmal funktioniert haben, nie wieder ganz aufgegeben werden oder verschwinden, also daß die einfachsten Mittel, Formen und Methoden, wenn sie nur einmal einge‐ bürgert und brauchbar befunden worden sind, auch von den vollkommensten und höchst entwickelten niemals wieder gänzlich und dauernd verdrängt und außer Gebrauch gesetzt werden können, sondern sich neben diesen erhalten, nur daß sie genötigt werden können, andere Aufgaben und Verwertungsgebiete aufzusuchen. (Riepl 1913, 5) Um die Geltung dieses später so genannten Riepl’schen Unverdrängbar‐ keitsgesetzes wird erstaunlicherweise bis heute heftig gestritten. Denn offensichtlich ist es ja irgendwie wahr: Noch heute werden Kupferstiche angefertigt und Statuen aufgestellt, und vermutlich gibt es auch irgendwo noch jemanden, der Pergamente beschriftet. Auf der anderen Seite stellt sich die Frage, welche Bedeutung dieser Befund überhaupt hat. Natürlich können Lithografie und Offsetdruck nebeneinander bestehen. Aber was genau folgt aus diesem vorgeblichen Riepl’schen Gesetz von der Komplementarität der Medien? Es gibt tatsächlich - und das ist die eigentlich unbedeutende Widerlegung Riepls auf Faktenebene - eben doch Medientechniken, die ausgestorben sind. Man kann in den meisten Ländern zum Beispiel keine Telegramme mehr verschicken oder empfangen, weil der entsprechende Dienst in den 54 Metaphern prägen unser Mediendenken <?page no="55"?> 10 vgl. Fiedler 1982. 11 vgl. Flusser 1992c. USA 2006 und in Deutschland 2022 aus Mangel an Nachfrage eingestellt worden ist. Auch Rauchzeichen, Herolde und reitende Boten sind heute Medien von doch nur mehr äußerst marginaler Bedeutung. Über Gültigkeit und Ungültigkeit des Riepl’schen Gesetzes zu spekulie‐ ren, ist einigermaßen sinnlos. Seine Bedeutung hängt nämlich gar nicht von seiner Richtigkeit ab. Vielmehr hat es sich als nützliche, pragmatische Warnung erwiesen, beim Auftreten neuer technischer Unterhaltungsmedien nicht immer gleich routinemäßig den Tod ihrer Vorgänger auszurufen. Als das Fernsehen aufkam, wurde das unmittelbar bevorstehende Verschwinden des Kinos vorhergesagt. Dies wiederholte sich mit der Verbreitung des Videorekorders. Nichts davon wurde jedoch wahr: Kino, Fernsehen, Video und Streamingdienste koexistieren heute friedlich nebeneinander, sind z. T. längst ins neuere Verbundmedium Computer/ Internet einbezogen worden, haben aber dennoch ihre Überlebensnischen gefunden und behaupten sich dort gut. In diesem Lichte sollte wohl auch das oft schon ausgerufene Ende der Literatur 10 oder der Schrift 11 gesehen werden. Die empirische Beobachtung, dass ältere Medien von neueren, leistungs‐ fähigeren in Nischen abgedrängt werden (der Kupferstich ist heute sicher‐ lich nicht mehr das Leitmedium, das er vor der Erfindung der Lithografie war), ist wohl das, was uns vom etwas großspurig so genannten Riepl’schen Gesetz bleiben sollte. Dies, und die sich darin ausdrückende Vorahnung der dann von Marshall McLuhan (→ S. 102) formulierten Einsicht, dass der Inhalt eines Mediums immer ein anderes, älteres Medium ist: Die Lithografie hat eben den Kupferstich zum Inhalt; der Inhalt des Verbund‐ mediums Internet sind alle elektrischen Medien, die es zuvor gab. Und im technischen Bild sind laut Vilém Flusser sowohl die Schrift als auch die älteren, vorgeschichtlichen Bilder aufgehoben. Hier begegnen wir schon wieder der dialektischen Denkformel der Aufhebung von Gegensätzen auf höherer, synthetischer Ebene: Aufhebung im Sinne von Neutralisierung, Konservierung und Elevation zugleich. Hegel grüßt uns durch den heils‐ geschichtlich-katholischen Kanadier McLuhan ebenso wie vermittelst des jüdisch-phänomenologischen Tschechobrasilianers Vilém Flusser. Der gängigen Interpretation des Riepl’schen Gesetzes zufolge sucht sich jedes Medium, wenn es durch das Aufkommen eines neuen bedrängt wird, eine Nische, in der es überleben kann. Doch was geschieht umgekehrt mit Die Zweite Industrialisierung und das Riepl’sche Gesetz 55 <?page no="56"?> einem neuen Medium, das plötzlich da ist, obwohl es dafür allem Anschein nach gar keinen Bedarf gab? Dieser Frage ging Bertolt Brecht im Hinblick auf das Radio nach. 56 Metaphern prägen unser Mediendenken <?page no="57"?> Medientheorien im 20.-Jahrhundert ✻ Kommunikation statt Distribution: Bertolt Brechts Radiotheorie und die Folgen Vorschau: ● Bertolt Brechts Verständnis von der Funktion von Kunst ● Brechts Radiopraxis und -theorie ● Technische Potenziale, gesellschaftliche Hemmnisse ● Medieninhalte und Strukturen von Kommunikationskanälen, Inter‐ aktivität ● CB-Funk und Offene Kanäle ● Aktive Mediennutzung und passiver Medienkonsum Ich erinnere mich daran, wie ich zum ersten Mal vom Radio hörte. Es waren ironische Zeitungsnotizen über einen förmlichen Radio-Hurrikan, der an der Arbeit war, Amerika zu verwüsten. Man hatte aber trotzdem den Eindruck einer nicht nur modischen, sondern wirklich modernen Angelegenheit. Dieser Eindruck verflüchtigte sich sehr rasch, als man dann auch bei uns Radio zu hören bekam. Man wunderte sich natürlich zuerst, woher diese tonalen Darbietungen kamen, aber dann wurde diese Verwunderung durch eine andere Verwunderung abgelöst: Man wunderte sich, was für Darbietungen da aus den Sphären kamen. Es war ein kolossaler Triumph der Technik, nunmehr einen Wiener Walzer und ein Küchenrezept endlich der ganzen Welt zugänglich machen zu können. Sozusagen aus dem Hinterhalt. (Brecht 1967c, 121) Bertolt Eugen Brecht wurde 1898 als Sohn eines Fabrikmanagers in Augs‐ burg geboren. Als bekennender Kommunist floh er vor den Nationalsozia‐ listen ins Exil, zuerst nach Prag, dann über Wien, die Schweiz, Dänemark, Schweden, Finnland in die USA. Schon vor seiner Flucht aus Deutschland hatte er sich als Lyriker, besonders aber als Dramatiker, Theatertheoretiker und Regisseur einen Namen gemacht. 1949 kehrte er nach Deutschland, nun <?page no="58"?> in die DDR, zurück und setzte mit einem eigenen Ensemble und Theater (am Schiffbauerdamm in Ostberlin) konsequent seine Vorstellungen vom epischen Theater um. Er starb 1956 in Ostberlin. Brecht gilt als einer der bedeutendsten Schriftsteller, Theatermacher und -theoretiker der deutschen Sprache und ist bis heute einer der weltweit meistgespielten Bühnenautoren. Das Beeindruckendste an der überragenden künstlerischen und theater‐ theoretischen Leistung Brechts liegt womöglich darin, dass sein künstleri‐ sches Schaffen zwar im Dienste seiner politischen Überzeugung stand, dass es jedoch über diesen Anlass hinaus bis heute als eigenständiges Werk Bestand hat. Brechts Leistungen in Lyrik, Dramatik, Prosa, seine Arbeit als Essayist, Kommentator, kritischer Intellektueller, Dramaturg, Regisseur, Theaterleiter, Theoretiker und Meinungsmacher werden ebenso wenig durch die politische Ausrichtung all dieser Aktivitäten geschmälert, als sie davon zu trennen wären. Und dennoch sind sie alle dem großen Projekt untergeordnet: die Welt lebbarer und die Gesellschaft menschlicher und gerechter zu machen. Walter Benjamin (→ S. 69), der Brecht stets bewun‐ derte, bemerkte deshalb treffend über den Künstler Brecht, dass die Dichtung bei ihm wisse, was ihre einzige Chance sei: »Nebenprodukt in einem sehr verzweigten Prozeß zur Änderung der Welt zu werden. Das ist sie hier. Und dazu ein unschätzbares. Hauptprodukt aber ist: eine neue Haltung.« (Benjamin 1991a, 662). In der Tat: Brecht sah in Literatur, Theater, Film und Radio - in der Kunst insgesamt - vor allem Mittel zu einem übergeordneten Zweck, zu einem volkspädagogisch-politischen Ziel: »Kunst und Radio sind pädagogischen Absichten zur Verfügung zu stellen« (Brecht 1967e, 127). Und dem »Bestreben des Rundfunks, Belehrendes künstlerisch zu gestalten, kämen Bestrebungen der modernen Kunst entgegen, welche der Kunst einen belehrenden Charakter verleihen wollen« (Brecht 1967d, 137). Nachhaltige Bedeutung wird Brecht wohl vor allem als Theaterreformer behalten. Sein episches Theater kann als einer von weniger erfolgreichen und gelungenen Versuchen gelten, mit Mitteln der Kunst revolutionäre politische Wirkung zu erzielen: Durch Verfremdung werden Alltagserfah‐ rungen dem Publikum schlagartig bewusst gemacht. Seine Rolle ist nun nicht mehr die emotional Mitfiebernder, sondern die eines entspannten, »rauchenden Beobachters«, der das Geschehen auf der Bühne durch seine eigene geistige Mitarbeit daran kritisch reflektiert und so den Verhältnissen unter den Menschen neue Einsichten abgewinnt. Es erstaunt nicht, dass Brecht sich auch dem Film zuwandte, im Gegensatz zu Benjamin allerdings nicht theoretisch, sondern als Praktiker. Die bleibende Leistung Brechts 58 Medientheorien im 20.-Jahrhundert <?page no="59"?> 12 Die österreichischen Steyr-Werke bauten in der Tat nicht nur Automobile, sondern hatten mit dem im 1. Weltkrieg sehr erfolgreichen »Manlicherstutzen« viel Geld verdient (AS). mag in der Entwicklung des epischen Theaters liegen. Noch wichtiger für unseren Zusammenhang ist jedoch, dass Brecht dem Radio als einer der Ersten künstlerisches Potenzial zutraute - ganz ähnlich, wie Benjamin dem neuen Medium Film - und auf einer andersgearteten, anspruchsvolleren Nutzung des noch ganz neuen Mediums beharrte. In seiner Rede über »die Funktion des Rundfunks« 1932 beispielsweise stellte Brecht die Behauptung auf, daß etwa eine Anwendung der theoretischen Erkenntnisse der modernen Drama‐ tik, nämlich der epischen Dramatik, auf das Gebiet des Rundfunks außerordent‐ lich fruchtbare Ergebnisse zeitigen könnte. […] Auch eine direkte Zusammenar‐ beit zwischen theatralischen und funkischen Veranstaltungen wäre organisierbar. (Brecht 1967d, 138 f.) So gerechtfertigt es auch zweifellos ist, in Brecht einen Intellektuellen unter den Regisseuren und einen Theoretiker des dialektischen Materialismus zu sehen, so war ihm doch das Handfeste, die Wertschätzung des Materiellen, nicht abzusprechen. Brecht war mindestens ebenso sehr ein Mann der Medienpraxis wie der Theorie. Als bekanntes Beispiel für seine geradezu unverfroren souverän coole Haltung im Umgang mit den Medien soll hier sein Ausflug in die Werbewirtschaft angeführt werden. 1928 schrieb Brecht das Gedicht Singende Steyrwägen: Wir stammen Aus einer Waffenfabrik Unser kleiner Bruder ist Der Manlicherstutzen. 12 Unsere Mutter aber Eine steyrische Erzgrube. Wir haben: Sechs Zylinder und dreißig Pferdekräfte. […] Wir liegen in der Kurve wie Klebestreifen. Unser Motor ist: Ein denkendes Erz. […] ✻ Kommunikation statt Distribution: Bertolt Brechts Radiotheorie und die Folgen 59 <?page no="60"?> 13 Es handelt sich um die Texte Radio - eine vorsintflutliche Erfindung? (3 Seiten), den Zeitungsartikel Vorschläge für den Intendanten des Rundfunks (4 Seiten), das Fragment Über Verwertungen (2 Seiten), den Versuch Erläuterungen zum »Ozeanflug« (4 Seiten) und die Rede Der Rundfunk als Kommunikationsapparat (9 Seiten) - alle in: Brecht 1967a. Wir fahren dich so ohne Erschütterung Daß du glaubst, du liegst (Brecht 1981b, 318) Dazu berichtet Brecht-Biograf Werner Hecht folgende Anekdote: Die Autofirma hatte Brecht für sein Gedicht das Auto zum Geschenk gemacht. Im Mai 1929 verunglückte er mit dem Auto und ließ sich mit dem demolierten Fahrzeug fotografieren. Auf Brechts veröffentlichte Erklärung, daß man in diesen Autos einen Unfall ohne Schaden überstehen kann, bekam er einen neuen Steyr. (Hecht 1988, 73) Brechts kaltschnäuzige Dreistigkeit, wenn es um materielle Interessen und Genüsse ging, hatte immer auch etwas Demonstratives: »In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen« (Brecht 1981c, 261), schien er zu sagen. Auf Brechts Bedeutung als Medientheoretiker aber wirft die kleine Steyr-Episode ein interessantes Licht. Im Umgang mit den Medien, auch im Vorgriff auf deren erst beginnende Kommerzialisierung, war Brecht ein souveräner Meister und Manipulator mit viel Instinkt, aber auch mit dem Willen zur radikalen Brüskierung von Erwartungshaltungen. Die Aufführung seines Radiolehrstücks Der Ozeanflug 1929 ist für die Geschichte des Mediums Radio ebenso bedeutend wie Brechts sogenannte »Radiotheorie«, welche tatsächlich eine weder explizite noch zusammen‐ hängende Theorie darstellt. Sie kann auch nicht mit komplexeren Theorie‐ gebäuden verglichen werden. Vielmehr handelt es sich lediglich um ein paar zwischen 1927 und 1932 entstandene Notizen, Zeitungsartikel und Reden, 13 in denen Brecht seine Kritik am damaligen Radio und seine Hoffnungen auf und Forderungen für ein künftiges Radio skizziert. Erst durch ihre Zusammenstellung für Brechts Schriften zur Literatur und Kunst im Suhr‐ kamp-Verlag erscheinen sie als aufeinander bezogene, zusammenhängende Theorie. Und doch sind diese wenigen Seiten für die Mediengeschichte höchst relevant: Erstmals stellt hier jemand politische Forderungen, die sich viel weniger auf die Medieninhalte beziehen als auf die Schaltungsweise der Kommunikationskanäle. Hier fordert jemand Reversibilität ein und erhofft sich davon unmittelbar politische, partizipatorische Wirkung. Damit nimmt Brecht nicht nur ein wesentliches Thema Vilém Flussers (→ S. 181) vorweg, 60 Medientheorien im 20.-Jahrhundert <?page no="61"?> 14 Das Stück hieß ursprünglich Der Lindberghflug. Doch wegen der von Lindbergh offen bekundeten Sympathie für die Nazis änderte Brecht den Namen später in Der Ozeanflug. er führt damit in den medientheoretischen Diskurs auch eine andere, eine strukturelle Sichtweise ein. Von nun an werden die Debatten um Medien weniger von der Frage nach deren politisch korrekten Inhalten als von der Frage nach ihrer Dialogfähigkeit geprägt sein, also von der Frage nach ihrer Eignung für ein demokratisches Verhalten. Brechts These: Das Radio wäre technisch in der Lage, eine Gegensprech‐ anlage zu sein. Stattdessen ist es aus politischen Gründen eine Einbahnstraße, die nur die passive Rezeption des Broadcasting zulässt, Distribution also statt Kommunikation. Und eben dies, fordert Brecht, muss geändert werden, um den Rundfunk in den Dienst einer vernünftigen gesellschaftlichen Entwicklung zu stellen. Noch vor der Aufführung und Sendung seines Radiolehrstücks Der Ozeanflug  14 1929 schreibt der Radiopraktiker Brecht: Ich habe über die Radiosendung des »Lindberghfluges« etwas nachgedacht, und zwar besonders über die geplante öffentliche Generalprobe. Diese könnte man zu einem Experiment verwenden. Es könnte wenigstens optisch gezeigt werden, wie eine Beteiligung des Hörers an der Radiokunst möglich wäre. (Diese Beteiligung halte ich für notwendig zum Zustandekommen des »Kunstaktes«.) (Hecht 1988, 94) Der Rezipient, also Leserinnen, Zuschauer oder Hörerinnen, sollte sich nun Brecht zufolge nicht mehr mit der bloßen Rolle des Rezipienten (wörtlich: des »Entgegennehmenden«) zufriedengeben. Er sollte Mitwirkender wer‐ den. In Brechts Verständnis wird Kunst erst durch die aktive Beteiligung von betrachtenden Mitschöpfenden zur Kunst. Und die am »Kunstakt« Beteiligten tragen nicht weniger als professionelle Künstler und Künstlerin‐ nen Verantwortung dafür, die Kunst gesellschaftlichen Zwecken nutzbar machen. Kunstkonsumenten sollen dazu gebracht werden, die Kunst nicht nur zu genießen, sondern sich von ihr anleiten zu lassen, in die Wirklichkeit verändernd einzugreifen. Nur so nützt die Kunst allen Beteiligten und auch der Gesellschaft, und so ist auch der Wunsch des Künstlers Brecht nach einer Inschrift auf seinem Grabstein zu verstehen: Ich benötige keinen Grabstein, aber Wenn ihr einen für mich benötigt Wünschte ich, es stünde darauf: ✻ Kommunikation statt Distribution: Bertolt Brechts Radiotheorie und die Folgen 61 <?page no="62"?> Er hat Vorschläge gemacht. Wir Haben sie angenommen. Durch eine solche Inschrift wären Wir alle geehrt. (Brecht 1981a, 1029) Den Kern von Bertolt Brechts Radiotheorie bildet sein Vorschlag »für den Intendanten des Rundfunks«: »Meiner Ansicht nach sollten Sie aus dem Radio eine wirklich demokratische Sache zu machen versuchen.« (Brecht 1967 f, 124) Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsappa‐ rat zu verwandeln. Der Rundfunk wäre der großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein ungeheures Kanalsystem, das heißt, er wäre es, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn in Beziehung zu setzen. […] Der Rundfunk muß den Austausch ermöglichen. (Brecht 1967d, 134 f.) Brecht war sich selbstverständlich völlig darüber im Klaren, wie unrealis‐ tisch und utopisch diese Forderung unter den gegebenen Bedingungen und herrschenden Verhältnissen Anfang der dreißiger Jahre in Deutschland war. Niemand außer den bislang vom öffentlichen Leben, von politischen Ent‐ scheidungen und wirtschaftlicher Teilhabe ausgegrenzten Bevölkerungstei‐ len konnte ja daran Interesse haben, dass der Rundfunk half, das herrschende System infrage zu stellen. Die Resultate des Radios sind beschämend, seine Möglichkeiten sind »unbe‐ grenzt«. […] Würde ich glauben, daß diese Bourgeoisie noch hundert Jahre lebte, so wäre ich überzeugt, daß sie noch Hunderte Jahre von den ungeheuren »Möglichkeiten« faselte, die zum Beispiel im Radio stecken. (Brecht 1967c, 122) Die technischen Möglichkeiten des neuen Mediums Rundfunk jedoch tragen dazu bei, die Machtverhältnisse in der Gesellschaft offenzulegen. Und wenn eine technische Erfindung von so natürlicher Eignung zu entscheidenden gesellschaftlichen Funktionen bei so ängstlicher Bemühung angetroffen wird, in möglichst harmlosen Unterhaltungen folgenlos zu bleiben, dann erhebt sich doch ununterdrückbar die Frage, ob es denn gar keine Möglichkeit gibt, den Mächten der Ausschaltung durch eine Organisation der Ausgeschalteten zu begegnen. (Brecht 1967d, 136) 62 Medientheorien im 20.-Jahrhundert <?page no="63"?> Provokativ fragt Brecht, weshalb seine Forderungen an den Rundfunk eigentlich als so utopisch belächelt werden: »Sollten Sie dies für utopisch halten, so bitte ich Sie, darüber nachzudenken, warum es utopisch ist.« (Brecht 1967d, 135) Allerdings gibt Brecht keinerlei Hinweise darauf, wie sich dieses bessere, dialogische Radio gesellschaftlich verwirklichen lassen könnte. Die Katze beißt sich in den Schwanz, denn ein besserer Rundfunk könnte zwar zu einer besseren Gesellschaft führen. »Undurchführbar in dieser Gesellschaftsord‐ nung, durchführbar in einer anderen, dienen die Vorschläge, welche doch nur eine natürliche Konsequenz der technischen Entwicklung bilden, der Propagierung und Formung dieser anderen Ordnung.« (Brecht 1967d, 140) Aber nur andere gesellschaftliche Voraussetzungen könnten wohl einen solchen verbesserten Rundfunk ermöglichen. Denn dieser wäre »so weit ›revolutionär‹, daß der gegenwärtige Staat kein Interesse hat, diese Übungen zu veranstalten« (Brecht 1967b, 131). Es wird klar: Brecht spricht von einer Utopie, deren Verwirklichung ihm selbst nicht realistisch scheint. »Dies ist eine Neuerung, ein Vorschlag, der utopisch erscheint und den ich selber als utopisch bezeichne«. (Brecht 1967d, 139) Auch deshalb ist Brechts »Radiotheorie« nicht wirklich eine Theorie. Und dennoch: Sie hat ungeheure und außerordentlich anregende Wirkung hinterlassen. Der Grund, weshalb das Radio nur als Distributionsapparat und gerade nicht, wie eigentlich wünschenswert, als Zweibahnstraße, als Kommunikati‐ onsapparat, eingesetzt wird, ist keineswegs technischer Natur. Im Gegenteil ist das Radio eine Erfindung, »die nicht bestellt« war, »die sich ihren Markt erst erobern« (Brecht 1967d, 132) musste. Ihre Technik war da, bevor die Gesellschaft wusste, was sie mit ihr anfangen solle. »Man hatte plötzlich die Möglichkeit, allen alles zu sagen, aber man hatte, wenn man es sich überlegte, nichts zu sagen.« (Brecht 1967d, 132) Der Bedarf für die neue Technologie musste erst künstlich geschaffen werden, und die »technische Entwicklung« trieb die gesellschaftliche vor sich her. »Nicht die Öffentlichkeit hatte auf den Rundfunk gewartet, sondern der Rundfunk wartete auf die Öffentlich‐ keit«. (Brecht 1967d, 132) Deshalb steht Radio bei Brecht nicht nur für die neu entwickelte Funk‐ technik, sondern auch für die Institution Rundfunkanstalt mit all ihren gesellschaftlichen Funktionen und Kommunikationsmöglichkeiten. Brecht formuliert das seither gültige Programm der marxistischen Medientheorie: »Durch immer fortgesetzte, nie aufhörende Vorschläge zur besseren Verwen‐ dung der Apparate im Interesse der Allgemeinheit haben wir die gesellschaft‐ ✻ Kommunikation statt Distribution: Bertolt Brechts Radiotheorie und die Folgen 63 <?page no="64"?> liche Basis dieser Apparate zu erschüttern, ihre Verwendung im Interesse der wenigen zu diskutieren.« (Brecht 1967d, 140) Doch der Rundfunk »als Stellvertreter […] des Theaters, der Oper, des Konzerts, der Vorträge, der Kaffeemusik, des lokalen Teils der Presse und so weiter […] hat […] nahezu alle bestehenden Institutionen, die irgend etwas mit der Verbreitung von Sprech- und Singbarem zu tun hatten, imitiert«. (Brecht 1967d, 133) Das Medium verbreitete nur Unterhaltung, nur von früheren Medien kopierte Banalitäten mit narkotisierender - wie Brecht sagte, kulinarischer - Wirkung, ohne eigentlich zu sich und seinen Möglichkeiten zu kommen. Es verfehlte sowohl seine emanzipatorischen wie auch seine technischen Potenziale. Und dies konnte gar nicht anders sein, denn schließlich sind es die Besitzverhältnisse, die über die gesell‐ schaftliche Verwendung von Medien entscheiden, und nicht die in ihrer Technik angelegten Möglichkeiten. Über die folgenden Jahrzehnte wird diese Einsicht vor allem linke Medientheoretiker prägen; »Massenmedien« mit Einbahnstraßenmedien gleichzusetzen, ist ein aus damaliger Sicht ver‐ ständlicher Fehler, der aber groteske Züge annimmt, wenn er sich über die Rezeption Theodor W Adornos und Max Horkheimers (→ S. 108) in den 1970er-Jahren durch Hans Magnus Enzensberger, aber auch über die vielen Epigonen der Frankfurter Schule weiter fortpflanzt und sich auch bis heute bei Jürgen Habermas (→ S.-116) wiederfindet. Andererseits wird hier wohl erstmals ausgesprochen, was später in anspruchsvollerer Medientheorie, etwa bei Friedrich Kittler (→ S. 236) oder Paul Virilio (→ S. 216), als gesicherte Überzeugung gelten darf. Es ist die Ein‐ sicht, dass jedes Medium potenziell einer dialogischen Anwendung geöffnet werden könnte. Eben die beiden letzteren Medienhistoriker stellten auch die These auf, dass jede medientechnische Entwicklung zunächst einmal eine kriegstechnische Erfindung gewesen sei. Gerade beim Rundfunkgerät, bei der 16 mm-Filmkamera sowie beim Internet ist dies in der Tat offenkundig. Aus der Nachrichtentechnik Funk des Ersten Weltkriegs war zu Brechts Zeiten ein Massenmedium geworden. Es dauerte nur zehn Jahre, da war aus der drahtlosen Telegraphie, deren ein‐ zige Anwendung in der Fernverbindung zweier Gesprächspartner bestand, das broadcasting-System, einer der Hauptträger der Massenkultur, geworden. Dieser Übergang von einer technisch-gesellschaftlichen Anwendung zu einer anderen wurde durch zwei Entwicklungen begünstigt […]. Zum einen wurde die Geräte‐ fertigung im Laufe des I. Weltkriegs auf eine industrielle Grundlage gestellt, und 64 Medientheorien im 20.-Jahrhundert <?page no="65"?> zum anderen bildete der Sprechfunk in den USA einen kommunikativen Raum, in dem sich Funkamateure frei bewegen konnten. (Flichy 1994, 180) Und Funkamateure auf der ganzen Welt bewiesen zweierlei: Erstens war es tatsächlich möglich, das militärische, ursprünglich dialogische Gerät zu einem ebenfalls dialogfördernden Bürgerfunk (Citizen Band Radio) umzu‐ funktionieren. Zweitens nahm der mediengeschichtlich gesehen dann doch eher magere quantitative Erfolg der CB-Funkbewegung die Gelegenheit zu einer schmerzlichen Einsicht vorweg, die sich heute, nach vergleichba‐ ren Erfahrungen mit der Bürgerbeteiligung an offenen Fernsehkanälen und mit Entwicklungen der Internetnutzung, aufdrängt: Möglicherweise bleiben die dialogischen Möglichkeiten von Medien nicht nur aufgrund wirtschaftlicher und politischer Interessen häufig ungenutzt. Die harte Erkenntnis ist nicht von der Hand zu weisen, dass die weitaus am stärksten nachgefragte Mediennutzung eine rezeptive ist, dass also die Rezipierenden von Medieninhalten häufig gar kein ausgeprägtes Interesse haben, sich selbst mitzuteilen und aktiv einen Dialog zu führen. Interaktivität, die Wechselbeziehung zwischen zwei Menschen oder ei‐ nem Menschen und einem Computer, die Informationen austauschen, war seit den siebziger Jahren ein häufig idealisiertes Konzept in Sozialwissen‐ schaften, Informationstechnik, Medienkunst, Kommunikationswissenschaft und Informatik. Jedoch lässt sich nur wirklich von »Interaktivität« sprechen, wenn der stattfindende Austausch auch Einfluss auf das Handeln der Akteure hat. Selbstverständlich spielen Medien hierbei eine gewichtige Rolle, allerdings nur die dialogischen, die eine unmittelbare Antwort über denselben Kanal zulassen, also etwa der Brief, das Telefon, die E-Mail. Im Gegensatz etwa zu den einkanaligen Medien Zeitung, konventionelles Radio und Fernsehen sind sie rückkanalfähig. Sender und Empfänger tauschen hier ständig die Rollen, steuern den Fortgang der Kommunikation gemeinsam und tragen auch gemeinsam Verantwortung für ihre Beziehung zueinander. Genau dies ist es, was Bertolt Brecht mit seiner Radiotheorie einforderte. Und genau dies war das Ziel von Bestrebungen, sogenannte »Offene Ka‐ näle« einzurichten, Fernsehsender also, deren Empfänger zugleich ihre Macher sein sollten. Genau wie es Brecht für das Radio vorschwebte, ist ein offener Fernsehkanal ein Bürgermedium, dessen Programm von Bürge‐ rinnen und Bürger für Bürgerinnen und Bürger gestaltet und verantwortet wird. ✻ Kommunikation statt Distribution: Bertolt Brechts Radiotheorie und die Folgen 65 <?page no="66"?> Seit Ende der siebziger Jahre war in Deutschland heftig über Offene Kanäle diskutiert worden. Mit der Einführung des Privatfernsehens ab 1984 wurden sie schließlich zügig in einigen Bundesländern verwirklicht. Der erste Offene Kanal Deutschlands ging 1984 in Ludwigshafen auf Sendung. Nicht nur die Idee intensiverer politischer Teilhabe stand dabei Pate, sondern auch eine medienpädagogische Überlegung: Die Bürgerinnen und Bürger sollten nicht nur zur medialen Vielfalt beitragen, sondern auch ihre Medi‐ enkompetenz verbessern. Dieser Teilaspekt gewann im Lauf der Zeit immer mehr die Oberhand, sodass die meisten ehemals Offenen Kanäle heute ganz einfach Ausbildungssender für junge Fernsehtechniker und -journalisten geworden sind. Dies ist weniger auf einen vermeintlichen Siegeszug der Medienpädagogik zurückzuführen als auf das schnell erlahmende Interesse an einem Graswurzelfernsehen, und zwar nicht nur seitens der Zuschauen‐ den, sondern auch bei seinen Macherinnen. Grob gesagt war die Qualität dürftig, und man fand heraus, dass gute Berichterstattung viel Arbeit macht, dass man sich gar nicht so viel zu sagen hatte und sich außerdem doch lieber wahlweise vom öffentlich-rechtlichen oder kommerziellen Fernsehen berieseln ließ. Paradoxerweise bewahrheitete sich nun auf ganz andere Weise Brechts böses Bonmot, man »hatte plötzlich die Möglichkeit, allen alles zu sagen, aber man hatte, wenn man es sich überlegte, nichts zu sagen« (Brecht 1967d, 132). Schon Jahre bevor das Internet dem chronisch kränkelnden Patienten Offener Kanal den Todesstoß versetzte, hatte dieser nur noch im Koma dahinvegetiert. Auf Brechts Radiotheorie bezogen, bedeutet diese Erfahrung aber einen Einwand, der schwerer wiegt als jedes theoretische Argument. Natürlich darf man nicht unterschätzen, wie wirtschaftliche Interessen, massive Werbeanstrengungen und der politische Druck möglicherweise zu dieser seltsam erscheinenden Lethargie beitragen. Es ist eine Frage der Weltanschauung, weshalb sich potenzielle Gesprächspartner freiwillig in die Rolle von Medienkonsumenten begeben, und ob es vielleicht sogar in der Natur der Menschen liegt, sich lieber berieseln zu lassen als selbst tätig zu werden. In der politischen Situation allerdings, in der Brecht sich befand, stellte sich diese Frage nicht. Das Radio, eine militärische Entwicklung des Ers‐ ten Weltkriegs zur Koordination von Panzern, Flugzeugen und U-Booten, wurde, gegen zähe Widerstände der Wehrmacht, erst 1923 für zivile Nutzung freigegeben. 66 Medientheorien im 20.-Jahrhundert <?page no="67"?> Bereits im Jahr 1929, als er noch Gouverneur von New York war, entdeckte Franklin D. Roosevelt das Radio als Möglichkeit, seinen Bürgerinnen und Bürgern auf gleichermaßen eindringliche wie intime Weise zuzureden. Zwischen 1933 und 1944, dann als Präsident der Vereinigten Staaten, systematisierte und perfektionierte er dieses Format in 30 so genannten Fireside Chats, die seine sympathische Stimme zur Geltung brachten, aber die Symptome seiner Kinderlähmung verbergen halfen. Die Politik hatte die Trennung von öffentlichem und privatem Raum aufgehoben. Die Stimme des Präsidenten war nun in den Wohnzimmern seines Wahlvolks zu Hause. Die Nationalsozialisten in Deutschland hatten zur selben Zeit andere, aber mindestens ebenso effektive Ideen zum Radio. Im August 1933, nur ein Jahr nachdem Bertolt Brecht im Juli 1932 seine Rede über die Funktion des Rundfunks veröffentlicht hatte, wurde der im Auftrag des Reichsminis‐ ters für Volksaufklärung und Propaganda Joseph Goebbels entwickelte »Volksempfänger« vorgestellt. Die Message war klar: Von nun an sollte das Volk empfangen, weiter nichts. Wer Radio empfängt, und zwar am besten nur einen einzigen Sender, der ist empfänglich für Befehle von oben - so das Kalkül der NSDAP. »Die Nationalsozialisten […] wussten, dass der Rundfunk ihrer Sache Gestalt verlieh wie die Druckerpresse der Reformation.« (Horkheimer/ Adorno 2008, 168) Aus dem Volksempfänger wurde unter den Bedingungen eines manipulativen, diktatorischen Systems eine der ersten Erfolgsgeschichten medialen Massenkonsums. Jede Familie konnte sich nun zu sehr erschwinglichen Kosten der nationalsozialistischen Propaganda zuschalten, die Stimme der Herrschenden in ihre Privaträume holen und sich dabei fortschrittlich fühlen. Dies war Gleichschaltung auch im medienpraktischen Sinn. Die Anzahl der Rundfunkempfänger im »Dritten Reich« stieg von Jahr zu Jahr. Bertolt Brechts Stimme und die Stimmen seiner zahlreichen politischen Mitstreitenden waren dagegen nun nicht mehr zu hören. Brecht konnte sich mit seinen Vorstellungen von der partizipativen Nutzung der Radiotechnik nicht durchsetzen. Im Jahr der Einführung des Volksempfängers musste er sein nacktes Leben aus Deutschland retten. Zusammenfassung: Die Kunst soll laut Brecht nicht auf Zerstreuung zielen, sondern allen an ihr Beteiligten und der ganzen Gesellschaft dienen. Auch den Rezipienten ✻ Kommunikation statt Distribution: Bertolt Brechts Radiotheorie und die Folgen 67 <?page no="68"?> kommt dabei eine aktive Rolle zu. Das Radio ist von der distributiven Einbahnstraße in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln, der Dialoge unter den Beteiligten zulässt. Die technischen Möglichkeiten dafür sind gegeben, aber politische und wirtschaftliche Hemmnisse stehen einer Nutzung des Radios als Kommunikationsapparat entgegen. Brecht richtet seine Aufmerksamkeit weniger auf die Inhalte der Medien als auf ihre Befähigung, Antworten zu ermöglichen. Die Geschichte des CB-Funks und der Offenen Kanäle zeigt, dass die Theorie der Bürgerbeteiligung an Massenmedien und der tatsächliche Bedarf daran auseinanderklaffen: Auch dort, wo Interaktivität technisch und gesell‐ schaftlich möglich ist, lässt das Interesse an ihr meist schnell nach. Verständnisfragen zur Vertiefung: ● Weshalb gab »Reichspropagandaminister« Joseph Goebbels den Auftrag, ein billiges Radiogerät massenhaft herstellen zu lassen? (leicht) ● Was genau meint Brecht, wenn er fordert, das Radio von einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwan‐ deln? (leicht) ● Welche Rolle kommt Brecht zufolge der Kunst zu? Was hat das Radio damit zu tun? (leicht) ● Welche Gründe vermuten Sie hinter dem Umstand, dass quantitativ weitaus mehr passiver Medienkonsum als aktive Mediengestaltung stattfindet? (mittel) ● Auf welche Weise und in welcher Form hat Brechts Radiotheorie weitergewirkt? (mittel) ● Angenommen, Brechts Forderungen wären umgesetzt worden: Wie stellen Sie sich die Kommunikation aller mit allen per dialogischem Radio konkret vor? (schwer) ● Wenn Brecht die Rückkanalfähigkeit von Medien so sehr am Herzen lag - weshalb schrieb er dann auch Drehbücher für Kinofilme? Lässt der Kinofilm Dialogizität zu? (schwer) 68 Medientheorien im 20.-Jahrhundert <?page no="69"?> ✻ Von der Aura zum Chock: Walter Benjamin - die Kunst, ihre Reproduzierbarkeit und die Technik Vorschau: ● Die Wurzeln von Benjamins Denken ● Benjamins Bedeutung und Stellung in der Geschichte der Medien‐ theorien ● Die Sprache, die Schrift und der Buchdruck ● Die Fotografie und der Verfall der Aura ● Der Film als Schulung für das moderne Leben ● Die Großstadt, der Straßenverkehr und die Fabrik ● Der Faschismus, der Krieg und die Politik Von Walter Benjamin war im vorangegangenen Kapitel über Bertolt Brecht schon die Rede. In der Tat gab es zwischen beiden mehr Verbindendes als Trennendes. Beide waren sie überzeugte Marxisten, und beide gehörten sie zu den Verfolgten des Nazi-Regimes, vor dem sie flüchten mussten. Benjamin wurde 1892 in Berlin geboren und nahm sich 1940 auf der Flucht im spanischen Port Bou das Leben, um der Abschiebung zurück nach Frankreich zuvorzukommen. Sie hätte wohl seine Auslieferung an die Gestapo bedeutet. Nicht nur als Jude wurde Benjamin in Nazideutschland verfolgt, sondern auch wegen seiner marxistischen Gesinnung. Dabei kann er gar nicht als Marxist im engeren oder gar im parteipolitischen Sinne gelten. Sein Denken lässt sich zwar als materialistisch-dialektisch bezeich‐ nen, wies aber durchaus auch konservative Züge auf und war außerdem deutlich von mystischen Einflüssen durchdrungen. Benjamins Frühwerk gilt als esoterisch; ab den späten zwanziger Jahren dann »konvergierten in Benjamins Denken Theologie und Kommunismus« (Tiedemann 1982, 23). Während aber die meisten marxistischen Theoretiker Kultur ausschließlich als Überbau von gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen sahen und als geradlinigen Effekt wirtschaftlicher Entwicklungen analysierten, und auch für Benjamin die These der Abhängigkeit der Kultur vom ökonomischen Unterbau der Gesellschaft weiterhin Geltung hatte, interpretierte er den Zusammenhang beider nicht kausal, sondern inhaltlich. Kultur war bei Benjamin nicht einfach die Widerspiegelung der Besitzverhältnisse: »Marx stellt den Kausalzusammenhang zwischen Wirtschaft und Kultur dar. Hier ✻ Walter Benjamin - die Kunst, ihre Reproduzierbarkeit und die Technik 69 <?page no="70"?> kommt es auf den Ausdruckszusammenhang an. Nicht die wirtschaftliche Entstehung der Kultur sondern der Ausdruck der Wirtschaft in der Kultur ist darzustellen.« (Benjamin 1982a, Bd.-1, 573 f.) Benjamin hatte es nicht leicht mit seinen Zeitgenossen, selbst mit den an‐ deren marxistischen Kulturkritikern seiner Zeit. Rationalistisch gestimmte Kommunisten wie Bertolt Brecht (→ S. 58) fanden es schwer, den Hang Ben‐ jamins zur Mystik - »alles mystik […] es ist ziemlich grauenhaft« (Brecht 1977, 11 {25.7.1938}) - zu akzeptieren. Pessimistische Marxisten wie Theodor Adorno, die den drohenden Verlust der bürgerlichen Hochkultur nicht verschmerzen konnten, waren wiederum nicht bereit, Benjamins Offenheit für kulturelle Umbrüche zu teilen. Diese Umbrüche waren nach Benjamins Ansicht in erster Linie durch technische Entwicklungen ausgelöst worden, nicht durch ideelle. Benjamin selbst hatte ein ambivalentes Verhältnis zu diesen Umbrüchen. Doch die emanzipatorischen Hoffnungen, die er in die neuen Medientech‐ niken (Fotografie, Radio, Schallplatte, Film) setzte, überwogen doch letztlich seine Trauer im Angesicht der kulturellen Verluste, beispielsweise des Verfalls der Aura von Kunstwerken. In diesen neuen Techniken sah Benjamin vor allem die Chance zu einer neuen, partizipativen und zeitgemäßen Kultur. Voraussetzung hierfür würde allerdings sein, dass die Produktionsmittel der gesamten Gesellschaft zugänglich gemacht würden, nicht nur der besitzenden Klasse. Benjamin ist der erste Theoretiker, der die Technik hinter der Produktion von Kunst in den Vordergrund rückt. Dadurch wird die bis dahin gültige Vorstellung von der Autonomie der Kunst, also von ihrer Unbeeinflusst‐ heit von technischen Möglichkeiten und Herausforderungen sowie von wirtschaftlichen Faktoren, infrage gestellt. Kultur, die ihre wirtschaftlichen und technischen Voraussetzungen zu verbergen versucht, gilt Benjamin als unehrlich. Die Vorspiegelung des Ideals einer hehren, gänzlich unabhän‐ gigen Kunst diene lediglich der Verfestigung der geltenden, ungerechten Gesellschaftsverhältnisse, indem sie die Rezipienten dieser Kunst über eben diese Macht- und Besitzverhältnisse hinwegtäusche. In Wirklichkeit aber sei längst schon »die Kunst aus dem Reich des ›schönen Scheins‹ entwichen […], das solange als das einzige galt, in dem sie gedeihen könne« (Benjamin 1963b, 27). Zumindest für die Medienwissenschaft im deutschsprachigen Raum gilt Benjamin heute als Gründervater - für marxistische Medientheorien gar als eine Art Ordensstifter. Sein Zugang zur kulturellen Überlieferung war der 70 Medientheorien im 20.-Jahrhundert <?page no="71"?> eines Historikers. Als solcher klopfte er die Kunst, vor allem die Literatur, auf sichtbare Einflüsse industrieller Gegebenheiten und kommerzieller Interes‐ sen ab, um seine Betrachtung dieser Verhältnisse und Praktiken dann sofort in die Zukunft zu wenden. Er erkannte ein »Gesetz der Vorverkündung neuerer Errungenschaften in älterer Technik« (Benjamin 1963a, 55). Dem‐ nach sind es nicht nur technische Entwicklungen, die die Kultur verändern und vorantreiben. Vielmehr deuten sich derartige Umbrüche bereits an, bevor ihre technischen Voraussetzungen überhaupt zur Verfügung stehen. Diese Annahme gründet Benjamin auf eine Erkenntnis, die sich in der Tat für die Geschichte der Medientheorien, vor allem für die Kanadische Schule um Marshall McLuhan, als ganz wesentlich erweisen wird: Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich mit der gesamten Da‐ seinsweise der menschlichen Kollektiva auch die Art und Weise ihrer Sinneswahr‐ nehmung. Die Art und Weise, in der die menschliche Sinneswahrnehmung sich organisiert - das Medium, in dem sie erfolgt - ist nicht nur natürlich sondern auch geschichtlich bedingt. (Benjamin 1963b, 14) Hier wird zum ersten Mal die Gemachtheit menschlicher Wahrnehmung konstatiert, ihr Angewiesensein auf ein Medium, das wiederum von den Zeitläuften und ganz konkreten historischen und technischen Bedingungen abhängig ist. Es gibt verschiedene Aspekte im weitläufigen Werk Walter Benjamins, die medientheoretisch von Interesse sind. Vor allem assoziiert man mit seinem Namen wohl seine Thesen zum Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (so der Titel seines berühmten Aufsatzes) sowie zum Verfall der Aura, der daraus folgt. Als Kronzeugen für die von ihm untersuchte Entwicklung ruft Benjamin die Fotografie auf; sein Kunstwerk-Aufsatz mündet aber in eine Auseinandersetzung mit dem Film in politischer Hinsicht, sowie als Schule des Sehens und Wahrnehmens in der modernen Großstadt. All diesen Thesen Benjamins zur modernen Technik geht jedoch eine intensive Beschäftigung mit Sprache und Schrift voraus, auch mit der Frage, wie der Buchdruck Kulturen verändert hat, die bis zu dessen Siegeszug von Mündlichkeit geprägt waren. Im Folgenden sollen nun die wichtigsten Aspekte dieses Denkens in Kürze dargestellt werden. In seiner (zurückgezogenen) Habilitationsschrift Ursprung des deutschen Trauerspiels wird Benjamin nicht müde, auf die »Spannung zwischen Wort und Schrift« (zumindest) im Barock hinzuweisen: »Das Wort, so darf man sagen, ist die Ekstase der Kreatur, ist Bloßstellung, Vermessenheit, ✻ Walter Benjamin - die Kunst, ihre Reproduzierbarkeit und die Technik 71 <?page no="72"?> Ohnmacht vor Gott; die Schrift ist ihre Sammlung, ist Würde, Überlegenheit, Allmacht über die Dinge der Welt.« (Benjamin 1982b, 179) Doch ähnlich wie sich in der Renaissance Kulturen schlagartig und radikal durch den Einfluss des Buchdrucks verändert haben, stehen wir nun, so Benjamin, am Beginn einer nicht minder tiefgreifenden Umwälzung: »Die Zeit steht, wie in Kontrapost zur Renaissance schlechthin, so insbesondere im Gegensatz zur Situation, in der die Buchdruckerkunst erfunden wurde. […] Nun deutet alles darauf hin, daß das Buch in dieser überkommenen Gestalt seinem Ende entgegengeht.« (Benjamin 1928, 28) Das Buch sei dem‐ nach gerade dabei, dramatisch an Bedeutung zu verlieren. Die technischen Bilder, also Fotografie, Film und Werbeplakate, befreiten die Schrift aus der Alleinherrschaft des Buches. »Die Schrift, die im gedruckten Buche ein Asyl gefunden hatte, wo sie ihr autonomes Dasein führte, wird unerbittlich von Reklamen auf die Straße hinausgezerrt«. (Benjamin 1928, 28) Dies führe zu neuen Sehgewohnheiten, zu Reizüberflutung und zu einer bildhaft-visuellen Ästhetik und Informationsvermittlung. Eingesetzt habe dieser Prozess der Bildwerdung der Schrift jedoch schon im Barock, bevor die Techniken der Bildreproduktion überhaupt erfunden waren: »Das Wissensideal des Barock […] wird im Schriftbild erfüllt. Fast gleich sehr wie in China ist es als ein solches Bild nicht Zeichen des zu Wissenden allein sondern wissenswürdiger Gegenstand selbst.« (Benjamin 1982b, 161 f.) Das »Schriftbild« meint hier die typografische Gestaltung, und Benjamin diagnostiziert, dass sich schon zur Zeit des Barock das Zeichen von seiner Bindung an das von ihm Bezeichnete zu verselbstständigen begann. Die gedruckte Schrift fing an, zum bildhaften Selbstzweck zu werden. »Das geschieht im Barock. Äußerlich und stilistisch - in der Drastik des Schriftsatzes wie in der überladenen Metapher - drängt das Geschriebene zum Bilde.« (Benjamin 1982b, 153) Doch selbst schon die Sprache an sich und ihre Bedeutung klaffen bereits seit dem Sündenfall auseinander. Der Name und das von ihm Benannte, das Medium und seine Botschaft, sind seither nicht mehr eins. Die Sprache dient laut Benjamin aber auch gar nicht der Mitteilung eines Sachverhalts; sie besitzt keinen Inhalt. Es klingt beinahe wie eine Vorwegnahme von Marshall McLuhans Diktum, dass das Medium die Message (→ S. 101) sei, wenn Benjamin bereits 1916 feststellt: Wenn das geistige Wesen mit dem sprachlichen identisch ist, so ist das Ding seinem geistigen Wesen nach Medium der Mitteilung, und was sich in ihm 72 Medientheorien im 20.-Jahrhundert <?page no="73"?> mitteilt, ist - gemäß dem medialen Verhältnis - eben dies Medium (die Sprache) selbst. Sprache ist dann das geistige Wesen der Dinge. Es wird das geistige Wesen also von vornherein als mitteilbar gesetzt, oder vielmehr gerade in die Mitteilbarkeit gesetzt, und die Thesis: das sprachliche Wesen der Dinge ist mit ihrem geistigen, sofern letzteres mitteilbar ist, identisch, wird in ihrem »sofern« zu einer Tautologie. Einen Inhalt der Sprache gibt es nicht; als Mitteilung teilt die Sprache ein geistiges Wesen, d. i. eine Mitteilbarkeit schlechthin mit. Die Unterschiede der Sprachen sind solche von Medien, die sich gleichsam nach ihrer Dichte, also graduell, unterscheiden; und das in der zwiefachen Hinsicht nach der Dichte des Mitteilenden (Benennenden) und des Mitteilbaren (Namen) in der Mitteilung. (Benjamin 1991c, 145 f.) Genau wie andere Medien vermittelt Sprache keinen Gehalt, der außer ihrer selbst liegen würde. Sie teilt im Wesentlichen die Mitteilbarkeit selbst mit und ist also ein selbstbezügliches Medium. Ihre hauptsächliche Aussage ist also »etwas wird mitgeteilt«. Was jedoch nicht von vornherein sprachlich angelegt ist, lässt sich durch Sprache auch nicht repräsentieren. Die Errun‐ genschaft der Sprache, und auch der Schrift, liegt nach Benjamin vor allem in ihrer Abstraktionsfähigkeit: Bezog sich die Sprache ursprünglich auf kon‐ krete, sinnlich erfahrbare Eindrücke, so erlaubte sie zunehmend, vor allem dank der Schrift, Vergleiche und die Feststellung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den Dingen sowie schließlich ein sehr abstraktes Denken. In seinem ehrgeizigen und unvollendet gebliebenen Passagen-Werk versucht Benjamin, diesem Abstrahieren eine ganz konkrete Erfahrbarkeit entgegenzusetzen. »An die Stelle der Begriffe traten Bilder« (Tiedemann 1982, Bd. 1, 19), um so Wissen, vor allem totes, historisches Wissen, sinnlich zu vergegenwärtigen. Konsequenterweise gehört Benjamin zu den ersten Theoretikern, die die Fotografie als Gegenstand für sich entdeckten. Dabei interessierte er sich als einer der Ersten dafür, was mit der Kunst geschieht, wenn sie fotografiert wird. Alle Fotografietheoretiker vor ihm hatten nur die wohl weniger ergiebige Frage zu stellen, ob denn die Fotografie auch Kunst sei. »Nicht der Schrift-, sondern der Photographieunkundige wird, so hat man gesagt, der Analphabet der Zukunft sein.« Die Verfügung über den Apparat als Produktionsmittel ist dabei Bedingung einer neuartigen Literalität, die auf eine allgemeine Beherrschung der kulturellen Codes abzielt. (Hartmann 2000, 204 f.) ✻ Walter Benjamin - die Kunst, ihre Reproduzierbarkeit und die Technik 73 <?page no="74"?> Für Benjamin ist die Fotografie Symptom dafür, dass im 19. Jahrhundert die Kultur immer mehr verdinglicht wurde und Warencharakter annahm. Doch diese kulturellen Waren haben phantasmagorischen Charakter: Ihre Ober‐ fläche betrügt. Sie macht Versprechungen, die mit dem Daseinszweck des Dinges, nämlich seinem Tauschwert, nichts zu tun haben. Dies ergibt sich aus den kapitalistischen Bedingungen von Produktion und Vermarktung. Was Karl Marx als den »Fetischcharakter der Ware« bezeichnet, nennt Benjamin ihre »Zweideutigkeit, die durch die Intensivierung der Kapitalwirtschaft sehr gesteigert wird«. Sie wird sichtbar z. B. an den Maschinen […], die die Ausbeutung verschärfen statt das menschliche Los zu erleichtern. Hängt nicht hiermit überhaupt die Doppelrandigkeit der Erscheinungen zusammen, mit der wir es im 19ten Jahrhundert zu tun haben? Eine Bedeutung des Rauschs für die Wahrnehmung, der Fiktion für das Denken wie sie vor dem unbekannt waren? (Benjamin 1982a, Bd.-1, 499) Damit ändert sich auch die Funktion von Kunst. Die Fotografie und später der Film sprechen in ihrer Zweischneidigkeit als Ware und als kulturelles Ausdrucksmittel ganz andere Bevölkerungskreise an als die bürgerliche Kultur mit ihrer Verehrung des Buches und des auratischen Kunstwerks. Der Ursprung des Kunstwerks liegt im Ritual, denn seine Bedeutung war zunächst kultisch. Benjamin erklärt: Der einzigartige Wert des »echten« Kunstwerks hat seine Fundierung im Ritual, in dem es seinen originären und ersten Gebrauchswert hatte. Diese mag so vermittelt sein, wie sie will, sie ist auch noch in den profansten Formen des Schönheits‐ dienstes als säkularisiertes Ritual erkennbar […]: mit der Säkularisierung der Kunst tritt die Authentizität an die Stelle des Kultwerts. (Benjamin 1963b, 16 f & Fn. 8) Wegen der hier geltenden Verbote der Götzenanbetung und der unmittelba‐ ren, nicht-symbolischen Verehrung religiöser Kultgegenstände, suchte das Abendland eine neue Verwendung für Kunstwerke. Es fand sie im Konzept von der Autonomie der Kunst. Kunst ist nun um ihrer selbst willen da. »Mit der Emanzipation der einzelnen Kunstübungen aus dem Schoße des Rituals wachsen die Gelegenheiten zur Ausstellung ihrer Produkte.« (Benjamin 1963b, 20) Doch verbunden waren diese »Authentizität« der Kunst und auch ihre Ausstellbarkeit mit der implizierten Garantie, dass das Werk einmalig sei, das heißt mit der unmittelbaren Präsenz des Werks im einmaligen Hier und 74 Medientheorien im 20.-Jahrhundert <?page no="75"?> Jetzt sowie mit der Autorschaft durch einen mehr oder weniger genialen Künstler, welcher in der neuen, säkularisierten Rolle des Kunstwerks dessen ehemals religiöse Bezogenheit auf ein göttliches Wesen weiterleben ließ. Nun aber bedrohen die immer weiter perfektionierten Reproduktionstech‐ niken des 19. Jahrhunderts die Aura des einmaligen Kunstwerks. Zuvor waren beispielsweise Ölgemälde nur im geradezu sakralen Museum des bürgerlichen Kulturbetriebs zugänglich, wo eine intensive Versenkung in die Kunst stattfinden konnte. Der bürgerliche Kult um die hohe Kunst hat ja Züge einer Ersatzreligion. Nun aber sind diese Bilder überall schnell, leicht, billig und in guter Qualität als fotografische Reproduktionen verfügbar. »In der Photographie beginnt der Ausstellungswert den Kultwert auf der ganzen Linie zurückzudrängen.« (Benjamin 1963b, 21) Diese Verfügbarkeit der Kunst, ihre endgültige Entheiligung, ist der Grund für den Verlust ihrer Aura. Mit diesem Begriff umschreibt Benjamin eine Ausstrahlung von Unerreichbarkeit und Unverfügbarkeit, eine Wirkung des »Hier und Jetzt des Originals« (Benjamin 1963b, 12), dessen Einzigartigkeit verbürgt ist. »Was ist eigentlich Aura? Ein sonderbares Gespinst von Raum und Zeit: einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag.« (Benjamin 1963a, 57) Entsprechend diagnostiziert Benjamin: Man kann […] sagen: was im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks verkümmert, das ist seine Aura. Der Vorgang ist symptomatisch; seine Bedeutung weist über den Bereich der Kunst hinaus. Die Reproduktionstech‐ nik, so ließe sich allgemein formulieren, löst das Reproduzierte aus dem Bereich der Tradition ab. Indem sie die Reproduktion vervielfältigt, setzt sie an die Stelle seines einmaligen Vorkommens sein massenweises. (Benjamin 1963b, 13) Seine Reproduzierbarkeit verändert den Charakter des Kunstwerks grund‐ legend. Es verliert nun völlig den Anschein von Autonomie, der ein Erbe seiner einstigen Heiligkeit war. In Benjamins Worten: »[D]ie technische Re‐ produzierbarkeit des Kunstwerks emanzipiert dieses zum ersten Mal in der Weltgeschichte von seinem parasitären Dasein am Ritual.« (Benjamin 1963b, 17) Doch die Konsequenzen reichen noch weiter, denn die Möglichkeiten der Reproduktion des Kunstwerks bedingen auch »eine qualitative Veränderung seiner Natur« (Benjamin 1963b, 20): »Das reproduzierte Kunstwerk wird in immer steigendem Maße die Reproduktion eines auf Reproduzierbarkeit angelegten Kunstwerks.« (Benjamin 1963b, 17) Dies bedeutet, dass das Kunstwerk nun von vornherein hergestellt wird, um vervielfältigt zu wer‐ den. Seine Reproduzierbarkeit und Reproduktion ist nun der eigentliche ✻ Walter Benjamin - die Kunst, ihre Reproduzierbarkeit und die Technik 75 <?page no="76"?> Zweck seiner Entstehung. Besonders deutlich wird dies am Beispiel des Films, bei dem es ja gar kein Original geben kann, sondern lediglich eine Nullkopie oder ein Negativ, von dem dann Vorführkopien gezogen werden, die alle gleich sind und die das eigentliche Produkt des Filmemachens darstellen. »[D]ie Frage nach dem echten Abzug hat keinen Sinn« (Benjamin 1963b, 18), bringt Benjamin diese Entwicklung auf den Punkt. Besonders interessieren Benjamin am Film die Montagetechnik, die Über‐ wältigung des Publikums durch die Beschleunigung der Sinneseindrücke und die gesellschaftliche Bedeutung des neuen Mediums. Diejenige Frage dagegen, die die meisten marxistischen Medientheoretiker beschäftigt hat, die nach dem Film als Ware auf dem kapitalistischen Markt nämlich, nach seinen Investoren und Produktionsverhältnissen, lässt Benjamin unberührt. Benjamins Schreibweise als Autor war der Montagetechnik des Films durchaus ähnlich: Als er sich an sein unvollendetes, riesenhaftes Passa‐ gen-Werk macht, das letztlich vor allem eine Zitatcollage geblieben ist, versucht er ausdrücklich, »das Prinzip der Montage in die Geschichte zu übernehmen. Also die großen Konstruktionen aus kleinsten, scharf und schneidend konfektionierten Baugliedern zu errichten«. (Benjamin 1982a, Bd. 1, 575) Im Filmschnitt, aber auch in der Zerstückelung und Konfrontation der Wirklichkeitsfragmente in Fotografie und in Radioberichten sah er die Ausdrucks- und Wahrnehmungsweise, die der Gegenwart adäquat war. Sie sollte eine Schockwirkung herbeiführen. Der Grund für diese Einschätzung ist folgender: Wie wir bereits festge‐ stellt haben, ist die Art und Weise, wie wir wahrnehmen und erleben, laut Benjamin immer schon gemacht und keineswegs naturgegeben. Wahrneh‐ mung ist geschichtlich bedingt, und ebenso wie unser Denken unterliegt sie historisch und technisch verursachten Veränderungen. Im Kino, in der gleichzeitigen Fragmentierung und Beschleunigung unserer Sinneseindrü‐ cke durch den Film, erkennt Benjamin die dem modernen Leben angemes‐ sene Ausdrucks- und Wahrnehmungsweise: Man vergleiche die Leinwand, auf der der Film abrollt, mit der Leinwand, auf der sich das Gemälde befindet. Das letztere lädt den Betrachter zur Kontempla‐ tion ein; vor ihm kann er sich seinem Assoziationsablauf überlassen. Vor der Filmaufnahme kann er das nicht. Kaum hat er sie ins Auge gefaßt, so hat sie sich schon verändert. Sie kann nicht fixiert werden. […] In der Tat wird der Assoziationsablauf dessen, der diese Bilder betrachtet, sofort durch ihre Veränderung unterbrochen. Darauf beruht die Chockwirkung des Films, die wie 76 Medientheorien im 20.-Jahrhundert <?page no="77"?> jede Chockwirkung durch gesteigerte Geistesgegenwart aufgefangen sein will. (Benjamin 1963b, 38 f.) Die Rezeption in der Zerstreuung, die sich mit wachsendem Nachdruck auf allen Gebieten der Kunst bemerkbar macht und das Symptom von tiefgreifenden Verän‐ derungen der Apperzeption ist, hat am Film ihr eigentliches Übungsinstrument. In seiner Chockwirkung kommt der Film dieser Rezeptionsform entgegen. (Benja‐ min 1963b, 41) Der Gefährdung des Privatmanns wie des Staatsbürgers gleichermaßen - durch die Beschleunigung und Fragmentierung des Alltags, des Stra‐ ßenverkehrs, der Produktionsweisen und der Kriegsführung - muss eine angemessene Wahrnehmungs- und Rezeptionsweise entsprechen. Schon allein deshalb kann Kunst in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts nicht länger auratisch sein. Im Film und in seiner Rezeption spiegelt sich nicht nur das atomisierte und beschleunigte Leben in der modernen Großstadt oder die Arbeit am Fabrikfließband. Die von Benjamin so genannte Chockwirkung ist auch eine Schulung für ein Überleben in dieser unwirtlichen Umgebung. Wenn [Edgar Allan] Poes Passanten noch scheinbar grundlos Blicke nach allen Seiten werfen, so müssen die heutigen das tun, um sich über die Verkehrssignale zu orientieren. So unterwarf die Technik das menschliche Sensorium einem Training komplexer Art. Es kam der Tag, da einem neuen und dringlichen Reizbe‐ dürfnis der Film entsprach. Im Film kommt die chockförmige Wahrnehmung als formales Prinzip zur Geltung. Was am Fließband den Rhythmus der Produktion bestimmt, liegt beim Film dem der Rezeption zugrunde. […] Dem Chockerlebnis, das der Passant in der Menge hat, entspricht das »Erlebnis« des Arbeiters an der Maschinerie. (Benjamin 1991b, 630 ff.) So trainiert die schnelle Bilder- und Schnittfolge des Films den Zuschauer durch Gewöhnung im Sinne eines Überlebenstrainings für die Aufgaben und Herausforderungen des neuen Alltags, zum Beispiel des Straßenverkehrs. Der Film ist die der gesteigerten Lebensgefahr, der die Heutigen ins Auge zu sehen haben, entsprechende Kunstform. Das Bedürfnis, sich Chockwirkungen auszusetzen, ist eine Anpassung der Menschen an die sie bedrohenden Gefahren. Der Film entspricht tiefgreifenden Veränderungen des Apperzeptionsapparates - Veränderungen, wie sie im Maßstab der Privatexistenz jeder Passant im Großstadtverkehr, wie sie im geschichtlichen Maßstab jeder heutige Staatsbürger erlebt. (Benjamin 1963b, 39, Fn. 29) ✻ Walter Benjamin - die Kunst, ihre Reproduzierbarkeit und die Technik 77 <?page no="78"?> Auch auf übergeordneter, gesamtgesellschaftlicher Ebene sind der moderne Mensch und seine Wahrnehmungsfähigkeit schweren Prüfungen ausge‐ setzt: »Durch die Zerstreuung, wie die Kunst sie zu bieten hat, wird unter der Hand kontrolliert, wie weit neue Aufgaben der Apperzeption lösbar geworden sind.« (Benjamin 1963b, 41) Der Schritt zum Krieg scheint von diesem Überlebenstraining nicht mehr weit. Benjamin zieht eine unmittelbare Verbindung von der Medienwirkung zur Mobilmachung und von den Effekten des technisch reproduzierten Kunstwerks zum Krieg. Er macht sich zum Ahnherrn von späteren Denkern wie Paul Virilio (→ S. 236) oder Friedrich Kittler (→ S. 214), die im Krieg den Vater aller medientechnischen Entwicklungen sehen, wenn er 1935 im Pariser Exil schreibt, daß Massenbewegungen, und so auch der Krieg, eine der Apparatur besonders entgegenkommende Form des menschlichen Verhaltens darstellen. […] Nur der Krieg macht es möglich, die sämtlichen technischen Mittel der Gegenwart unter Wahrung der Eigentumsverhältnisse zu mobilisieren. (Benjamin 1963b, 42 & Fn. 32) Die Leerstelle, die die Ablösung der Kunst vom Ritual hinterlassen hat, drohe nun vom Faschismus eingenommen zu werden, indem sich dieser der Mittel technischer Massenreproduzierbarkeit der Kunst bediene. Benjamin fordert deshalb für die Kunst »ihre Fundierung auf eine andere Praxis: nämlich ihre Fundierung auf Politik« (Benjamin 1963b, 18). Der Faschismus läuft […] auf eine Ästhetisierung des politischen Lebens hinaus. […] Alle Bemühungen um die Ästhetisierung der Politik gipfeln in einem Punkt. Dieser eine Punkt ist der Krieg. […] So steht es um die Ästhetisierung der Politik, welche der Faschismus betreibt. Der Kommunismus antwortet ihm mit der Politisierung der Kunst. (Benjamin 1963b, 42 f.) Benjamin erlebte selbst das Scheitern dieses Projekts genau auf dem von ihm befürchteten Weg. Vier Jahre vor Beginn des Zweiten Weltkriegs schreibt er: »Die Menschheit, die einst bei Homer ein Schauobjekt für die Olympischen Götter war, ist es nun für sich selbst geworden. Ihre Selbstentfremdung hat jenen Grad erreicht, der sie ihre eigene Vernichtung als Genuß ersten Ranges erleben läßt.« (Benjamin 1963b, 44) Fünf Jahre später, schon im Krieg, geht Walter Benjamin auf der Flucht vor dem Faschismus in den Freitod. 78 Medientheorien im 20.-Jahrhundert <?page no="79"?> Zusammenfassung: Benjamins Denken beruht auf einer unkonventionellen Verbindung jüdisch-mystischer und dialektisch-marxistischer Wurzeln. Als einer der ersten Medientheoretiker stellt er die geschichtliche und technische Gemachtheit der menschlichen Wahrnehmung fest. Das Kunstwerk hatte seinen Ursprung im Ritual. Es folgte die bürgerliche Vorstellung einer autonomen Kunst. Nun aber wird das Kunstwerk schon mit Blick auf seine Reproduzierbarkeit geschaffen. Es hat seine Aura verloren. Der Faschismus betreibt die Ästhetisierung der Politik und führt zum Krieg. Die Antwort darauf muss die Politisierung der Kunst sein. Verständnisfragen zur Vertiefung: ● Auf welche Weise bereitet Benjamin zufolge der Film auf das moderne Leben vor? (leicht) ● Was kritisiert Bertolt Brecht an Walter Benjamin? (leicht) ● Definieren oder beschreiben Sie, was Benjamin mit dem Begriff der Aura meint! (mittel) ● Was geht mit der Aura des Kunstwerks verloren? (mittel) ● Würden Sie Benjamin eher als konservativ-bürgerlichen oder als marxistisch-fortschrittlichen Denker bezeichnen? (schwer) ● Benjamin begrüßt das wahrnehmungspsychologische Trainings‐ programm, das mit der »Chockwirkung« des Films verbunden ist, als Vorbereitung auch auf bessere Arbeitsleistungen an den Fließbändern der Fabriken. Wie vereinbart er dies mit seinem marxistischen Ansatz, der ja die Emanzipation der Arbeiter und ihre Befreiung von entfremdeter Arbeit zum Ziel hat? (schwer) ✻ Walter Benjamin - die Kunst, ihre Reproduzierbarkeit und die Technik 79 <?page no="81"?> Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien Kommunikationsmodelle: Karl Bühler, Claude Shannon, Warren Weaver und Roman Jakobson - und die Lasswell-Formel Nach dem Zweiten Weltkrieg begann, wohl als Folge der rasanten Entwick‐ lung der technischen Massenmedien und angetrieben von einer sich profes‐ sionalisierenden Werbewirtschaft, eine explizite Auseinandersetzung mit den Medien im Allgemeinen und mit ihren Wirkungsweisen im Besonderen. Heute gibt es, ganz einfach ausgedrückt, zwei einander widersprechende Vorstellungen von Medien. Eine davon ist noch sehr neu. Sie betrachtet Medien als Systeme, an die sich ein Nutzer anschließen kann oder auch nicht. Das ältere und weitaus traditionellere Verständnis von Medien aber betrach‐ tet sie als Teil eines Tauschprozesses zwischen einem Sender und einem Empfänger. Genau dieses Modell hat in wechselnder Gestalt immer wieder die verschiedensten Medientheorien geprägt. Sein Ursprung liegt im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, in den damaligen Theorien von Wirtschaft, Handel, Verkehr und sozial angemessenem Verhalten. Als sich selbst noch nicht bewusst gewordene Tauschtheorien haben diese Vorstellungen die heutige Kommunikationswissenschaft und moderne Medientheorien zum Teil vorweggenommen. In den vergangenen 200 Jahren hat sich die Art und Weise, wie wir über den Tausch denken, immer wieder stark verändert. Doch nicht diese Veränderungen im Denken sind überraschend, sondern ganz im Gegenteil die hartnäckige Beständigkeit des ihm zugrundeliegenden Denkmodells. Dieses Modell hat sich als wirkungsvolles Mittel behauptet, grundlegende Vorgänge sowohl in der Natur als auch im Bereich des Sozialen und Kulturellen zu beschreiben. Immer wieder hat es seine Gestalt gewechselt, ist aber niemals ganz verschwunden. Im Gegenteil: In den 1970er- und 1980er-Jahren wurde es in das umgeformt, was seither »Medientheorie« genannt wird. Also zurück zum Thema Verkehr, zu den Eisenbahnnetzen der Herren List und Innis, zu den Transportwegen also, die ursprünglich für die Beförderung von Gütern erdacht worden waren und ein Jahrhundert später im Glasfa‐ <?page no="82"?> 15 Der Soziologe Émile Durkheim und der Anthropologe Marcel Mauss verstanden unter »fait social total« (»totale soziale Tatsache«) umfassende soziale Tatbestände, die in die Gesamtheit des Lebens hineingreifen und alle seine Bereiche bestimmen. Für Mauss war dies vor allem der Tausch. serkabel immer noch wiederzuerkennen sind, in der Datenautobahn für die immaterielle, digitale Kommunikation oder im Transport von Unterschieden. Doch kann »Verkehr« wirklich als Metapher für Kommunikation dienen? Oder sind Begriffe wie »Verkehr«, »Medien« etc. ungleiche Spielarten eines gemeinsamen Oberbegriffs, der sich sozusagen unerkennbar über ihnen wölbt (wie etwa »Tausch« oder »fait social total« 15 )? Harold Innis (→ S. 93) etwa, der Lehrer von Marshall McLuhan, verstand Kommunikation als Übertragung (von etwas). In diesem Abschnitt werden nun die drei folgenreichsten Konzepte davon vorgestellt, wie Kommunikation eigentlich funktioniert. Es wird sich dabei zeigen, dass die Metapher von der Kommunikation als Transportvorgang, und in der Konsequenz vom Medium als Vehikel, die gesamte Medienphi‐ losophie des 20. Jahrhunderts prägt, und zwar so tiefgreifend, dass ihr in schwachen Augenblicken auch diejenigen Denker verfallen, die sich eigentlich längst schon explizit von ihr losgesagt haben. Das erste dieser drei Kommunikationsmodelle wird hier nur deshalb erwähnt, weil es auf die beiden folgenden, insbesondere auf das von Roman Jakobson, großen Einfluss hatte. Der Psychologe und Sprachtheoretiker Karl Bühler (1879-1963) skizzierte 1934 das folgende, als »Organon« (griechisch: »Werkzeug«) bezeichnete Kommunikationsmodell: 82 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="83"?> portvorgang, und in der Konsequenz von Medium als Vehikel, die gesamte Medienphilosophie des 20.- Jahrhunderts prägt, und zwar so tiefgreifend, dass ihr in schwachen Augenblicken auch diejenigen Denker verfallen, die sich eigentlich längst schon explizit von ihr losgesagt haben. Das erste dieser drei Kommunikationsmodelle wird hier nur deshalb erwähnt, weil es auf die beiden folgenden, insbesondere auf das von Roman Jakobson, großen Einfluss hatte. Der Psychologe und Sprachtheoretiker Karl Bühler (1879-1963) skizzierte 1934 das folgende, als »Organon« (griechisch: »Werkzeug«) bezeichnete Kommunikationsmodell: 15 Der Soziologe Émile Durkheim und der Anthropologe Marcel Mauss verstanden unter »fait social total« (»totale soziale Tatsache«) umfassende soziale Tatbestände, die in die Gesamtheit des Lebens hineingreifen und alle seine Bereiche bestimmen. Für Mauss war dies vor allem der Tausch. Gegenstände und Sachverhalte Ausdruck Sender Empfänger Appell Darstellung Z Abbildung 6: Karl Bühlers Organon Abbildung 6: Karl Bühlers Organon Bühler geht in seinem »Organon« vom gesprochenen Wort aus. Der Kreis in der Mitte seines Modells bedeutet ein konkretes Phänomen, zum Beispiel den Schall. Er überschneidet sich mit einem Dreieck, welches das dazuge‐ hörige Zeichen darstellt. Der Kreis würde beispielsweise den Klang des gesprochenen Wortes »Baum« repräsentieren, während das Dreieck für die Funktion des Wortes »Baum« als sprachliches Zeichen steht. Es weist deshalb drei Seiten auf, weil es in Beziehung zu drei anderen Elementen des Modells steht, dem Sender, dem Empfänger sowie dem vom Zeichen Be‐ deuteten (Gegenstände und Sachverhalte). Diesen Beziehungen entsprechen die drei Funktionen, die Bühler zufolge der Sprache zukommen: Ausdruck, Appell und Darstellung. Der Ausdruck wird dabei als diejenige Funktion interpretiert, die das Zeichen für den Sender wahrnimmt (der Aufschrei »au« beim Auftreten eines Schmerzes etwa). Der appellative Charakter von Äußerungen dagegen wird vom Empfänger her bestimmt (z. B. »Setz dich hin! «). Die Darstellungsfunktion der Kommunikation ist vom beschriebenen Gegenstand oder Sachverhalt her gedacht (z. B. »Dies ist ein grüner Tisch.«). Diese drei Funktionen der Sprache und ihrer Zeichen lassen sich jedoch nicht scharf voneinander trennen. Vielmehr weisen die meisten Äußerun‐ gen sowohl Ausdrucksals auch Appell- und Darstellungscharakter auf, Kommunikationsmodelle 83 <?page no="84"?> 16 Die Originalfassung lautete etwas schlichter: »Wer sagt was in welchem Kanal zu wem mit welchem Effekt? « allerdings in unterschiedlichen Wichtungen und Mischungsverhältnissen. Tatsächlich lassen sich diese drei Funktionen etwa mit Hilfe einer Dialog‐ analyse nachweisen. Es ist aber fraglich, ob damit schon alle Funktionen der Sprache erschöpfend bezeichnet sind. Zudem erscheint die Zuordnung von Elementen und Funktionen im Kommunikationsprozess ein wenig eindimensional und naiv. Um der offenkundig doch größeren Komplexität von Sprache und Kom‐ munikation gerecht zu werden, formulierte der amerikanische Politologe Harold D. Lasswell 1948 die nach ihm benannte Formel, welche seither Ausgangsfrage jeder Untersuchung von Kommunikationsakten ist. In einer geringfügig erweiterten Fassung lautet sie: »Wer sagt was unter welchen Umständen in welchem Kanal für welchem Zweck zu wem mit welchem Effekt? «  16 In dieser Frage scheinen alle wesentlichen Faktoren, die Kommu‐ nikationsvorgänge bestimmen, enthalten zu sein: Subjekt, Inhalt, Umstände, Kanal, Funktionen der Medien, Empfänger und Wirkungen. Und doch: Erstens fehlen selbst hier, wie seltsamerweise in allen anderen Beschreibun‐ gen von Kommunikationsvorgängen auch, einige Faktoren. In diesem Falle sind es beispielsweise der Code, die Störgeräusche oder auch sinngebende Bezugssysteme wie etwa das kulturelle Wissen, das Sender und Empfänger bis zu einem Grad teilen müssen, um Sinn kommunizieren zu können. Zweitens aber handelt es sich um ein lineares Modell. Und alle Faktoren werden so aufgezählt, als seien sie gleichrangig. Die höchst komplexen Wechselwirkungen unter ihnen können nicht berücksichtigt werden. Lasswells Formel hat aber wohl Einfluss genommen auf die Entstehung des weitaus folgenreichsten Kommunikationsmodells. Es wurde 1949 von Claude Shannon und Warren Weaver, zwei amerikanischen Ingenieuren bei Bell Telephone Labs, entworfen: 84 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="85"?> der und Empfänger bis zu einem Grad teilen müssen, um zieren zu können. Zweitens aber handelt es sich um ein lineares Modell. Und alle Faktoren werden so aufgezählt, als seien sie gleichrangig. Die höchst komplexen Wechselwirkungen unter ihnen können nicht berücksichtigt werden. Lasswells Formel hat aber wohl Einfluss genommen auf die Entstehung des weitaus folgenreichsten Kommunikationsmodells. Es wurde 1949 von Claude Shannon und Warren Weaver, zwei amerikanischen Ingenieuren bei Bell Telephone Labs, entworfen: Auf den ersten Blick wird schon erkennbar, dass es sich hier um ein Modell für Übertragungen handelt. Kommunikation wird hier gleichgesetzt mit der Übermittlung von Daten. Shannon und Weavers Modell stützt sich auf eine Postmetapher. Die ihm zugrunde liegende Vorstellung ist die von einem Paket, das, von einem Sender losgeschickt, bei einem Empfänger ankommt. Schließlich waren geschriebene Texte bis zur Erfindung des Telegrafen tatsächlich auf einen materiellen Träger wie etwa Papier angewiesen, der seinerseits physisch transportiert werden musste, wollte man die im Text schriftlich niedergelegte Nachricht übermitteln. In der Welt der Briefe, Bücher und Zeitungen führte deshalb die Notwendigkeit des Transports von Gegenständen zu der Annahme, dass Kommunikationsvorgänge Sonderfälle von Transporten seien. Die Wörter »Nachricht« oder »Message« sind Bestandteile der Postmetapher. Auf dieser Metapher von der Kommunikation als einer Übertragung beruht entsprechend der alltägliche Gebrauch des Begriffs »Kommunikation«. Doch ist die Metapher in vieler Hinsicht irreführend. Dafür gibt es zahlreiche Gründe. So spricht die Metaphorik die zwischen Sender und Shannon und Weaver message message channel Info source Transmitter Noise source Receiver Destination Abbildung 7: Claude Shannons und Warren Weavers Kommunikationsmodell Abbildung 7: Claude Shannons und Warren Weavers Kommunikationsmodell Auf den ersten Blick wird schon erkennbar, dass es sich hier um ein Modell für Übertragungen handelt. Kommunikation wird hier gleichgesetzt mit der Übermittlung von Daten. Shannon und Weavers Modell stützt sich auf eine Postmetapher. Die ihm zugrunde liegende Vorstellung ist die von einem Paket, das, von einem Sender losgeschickt, bei einem Empfänger ankommt. Schließlich waren geschriebene Texte bis zur Erfindung des Telegrafen tatsächlich auf einen materiellen Träger wie etwa Papier angewiesen, der seinerseits physisch transportiert werden musste, wollte man die im Text schriftlich niederge‐ legte Nachricht übermitteln. In der Welt der Briefe, Bücher und Zeitungen führte deshalb die Notwendigkeit des Transports von Gegenständen zu der Annahme, dass Kommunikationsvorgänge Sonderfälle von Transporten seien. Die Wörter »Nachricht« oder »Message« sind Bestandteile der Post‐ metapher. Auf dieser Metapher von der Kommunikation als einer Übertragung beruht entsprechend der alltägliche Gebrauch des Begriffs »Kommunika‐ tion«. Doch ist die Metapher in vieler Hinsicht irreführend. Dafür gibt es zahlreiche Gründe. So spricht die Metaphorik die zwischen Sender und Empfänger geteilten oder nicht geteilten Codes gar nicht an. Stattdessen werden diese Codes als stabil gesetzt. Heute aber geht man davon aus, dass jeder Kommunikationsakt Rückwirkungen auf den für ihn benutzten Code hat. Woher sonst auch sollten diese Codes kommen? Sie entstehen in Kommunikationsvorgängen und entwickeln sich durch sie in einem Wechselverhältnis fortlaufend weiter. Außerdem wird Kommunikation im Modell von Shannon und Weaver so abgebildet, als würden Menschen wie durch eine Wechselsprechanlage in klar voneinander abgegrenzten Sprechakten miteinander reden - und Kommunikationsmodelle 85 <?page no="86"?> 17 Aus diesem Modell resultiert »das folgende Grundmodell des Wirkungsvorgangs. Die von den Massenmedien präsentierten Stimuli erreichen die Rezipienten unmittelbar, Rückkopplungen finden nicht statt, und damit weder Interaktionen zwischen dem Sender und dem Empfänger noch unter den Empfängern selbst. Das Modell hat endgültigen Charakter und enthält keinerlei Hinweise auf Lernprozesse; es erscheint statisch. Reaktionen werden lediglich als Folge einer bestimmten Aussage definiert: Kommunikation ist gleich Wirkung. Es dominiert ein fast ›technisches‹ Verständnis von ›Wirkung‹. Dass Menschen selbst Medien sein können, also Vermittler oder Interpreten von über Medien vermittelten Aussagen, ist in diesem Ausgangsmodell der Medienwirkungsforschung nicht vorgesehen.« ( Jäckel 2012, 141 f.) darüber hinaus auch nur einen einzigen Code benutzen. Ein Durcheinan‐ derschreien Vieler in unterschiedlichen Tonlagen (und vielleicht auch Sprachen), begleitet von Gestik und Körpersprache, ließe sich mit dem Shannon/ Weaverschen Kommunikationsmodell nur sehr mühsam und un‐ zureichend wiedergeben. Es weist alle Beschränkungen eines linearen, unflexiblen Modells auf, das sich im Wesentlichen auf die einfache Funktion von Ursache und Wirkung stützt. Es ist blind gegenüber der Tatsache, dass Geräusche möglicherweise die einzige Quelle neuer Daten (und damit auch neuer Information) sein könnten und dass Information in einer dialogischen Anstrengung konstruiert wird - und nicht schon durch den passiven Empfang von Daten. Im Lichte konstruktivistischer Ansätze (→ S. 135) wurde es schließlich ganz haltlos. Doch dazu später mehr. Dies alles kann man jedoch den Urhebern dieses Modells schwerlich vor‐ werfen, denn sie hatten niemals vorgehabt, die menschliche Kommunikation zu erklären. Das Ziel ihres Modells war es vielmehr, eine mathematische Informationstheorie zu veranschaulichen. Wird diese jedoch einfach so auf menschliches Verhalten übertragen, so impliziert dies von vornherein ein bestimmtes Bild sowohl von Menschen als auch von der Wirkungsweise der Medien. Menschliches Verhalten wird mit den groben Instrumenten des Behaviorismus zu beschreiben und zu erklären versucht; die Wirkung von Medien wird auf die simple Funktionalität des Stimulus-Response-Modells 17 reduziert. Das Shannon-Weaver’sche Modell ist also voller Unzulänglichkeiten, wenn es als Erklärung für Kommunikation missverstanden wird. Interessan‐ ter ist aber weniger die berechtigte Kritik an seinem mechanistischen Ansatz als vielmehr die Frage, weshalb es sich - wie wir noch sehen werden - so hartnäckig behaupten konnte. Und: Woher nahmen Shannon und Weaver die Grundannahmen, die ihrem Modell implizit zugrunde liegen? Welche Metapher steht hinter diesem bis heute so wirkmächtigen, einflussreichen 86 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="87"?> und irreführenden Modell? Welche Vorstellungen hatten Shannon und Weaver, als sie dieses Diagramm skizzierten? Die Antwort auf diese Frage führt uns zu einem weiteren Medientheore‐ tiker, den wir später noch genauer kennenlernen werden. Wie zu zeigen sein wird (→ S. 237), verstand Friedrich Kittler die Geschichte der Medien in Abhängigkeit von technischen Entwicklungen, deren Ziel es war, Daten immer schneller zu transportieren. Zu diesem Zweck mussten deren Träger immer kleiner und leichter werden, bis zu dem Punkt, an dem ihre Materia‐ lität ganz verschwand und den Weg freigab für die Übertragung von puren, immateriellen Daten, von Bits und Bytes, die losgelöst waren von jeglicher Trägersubstanz. Genau für diesen Zweck aber hatten Claude Shannon und Warren Weaver ihr Modell entworfen. Ihr Ziel war es, die höchstmögliche Effizienz von Telefonkabeln und Radiowellen zu gewährleisten. Dennoch konnten sie wohl nicht anders, als das alte, archetypische Bild vom Verkehr oder Austausch gleich der ganz neuen Welt einzuschreiben, die zu definieren und entwerfen sie angetreten waren. Sie behandelten Daten deshalb wie physische Materie, die von einer Person zur anderen weitergereicht wird. Diese Verkehrsmetapher der Kommunikation als Austausch von materiellen Datenträgern, diese postalische Gleichsetzung von Nachricht und Nachrich‐ tenträger, erwies sich als so stark, dass sie bis heute wirkt. Wie der ameri‐ kanische Kommunikationstheoretiker James Carey bemerkte (Carey 1989, 204 ff): Die Telegrafie machte Kommunikation unabhängig von Geografie. Sie erlaubte erstmals, dass sich Symbole schneller und unabhängig von Transportmitteln bewegten. Sie beendete die Gleichsetzung von Nachricht und ihrem Träger, konnte aber das Fortleben der Metapher nicht verhindern, die uns weiterhin begleitet. Selbst professionelle Medientheoretiker fallen - obwohl sie sich eigentlich der Unangemessenheit der Post- und Transport‐ metapher bewusst sind immer wieder in sie zurück. Die Metaphern, die uns heute als populäre medientheoretische Termino‐ logie geläufig sind - sei diese nun deskriptiv oder normativ - wurzeln also ursprünglich in einem Zusammenhang, in dem Verkehrsplanung erstmals Teil des modernen Denkens geworden war. Wasserkanäle und Eisenbahn‐ linien gaben die ersten Modelle für Kommunikation ab, auf die unser intuitives Verständnis der Medien bis heute gründet. Wir mögen zwar rational die Unhaltbarkeit des Shannon/ Weaverschen Modells eingesehen haben, aber dies schützt uns auf einer anderen Bewusstseinsebene nicht vor der immer noch dominanten Vorstellung von einer Masse von Daten, die irgendwie durch Raum und Zeit transportiert wird und dann auf unsere Kommunikationsmodelle 87 <?page no="88"?> Sinnesorgane und unser Bewusstsein prallt, um so Information zu erzeugen. Diese Vorstellung allein erklärt den bis heute nahezu ungebrochenen Erfolg des Kommunikationsmodells von Claude Shannon und Warren Weaver. Wir sind so begierig, Sinn auf unsere Lebenswelt zu projizieren, dass starke Metaphern wie die vom Verkehr noch lange weiterleben, nachdem ihre materielle Basis längst verschwunden ist. Vermutlich denken wir überhaupt nur in Metaphern. Das berühmte Axiom McLuhans, dass der Inhalt eines Mediums stets ein anderes Medium sei (→ S. 102), ließe sich dann so paraphrasieren, dass der Inhalt einer Metapher immer eine Metapher ist (und nicht etwas, was hinter der Metapher stünde, wie Friedrich Nietzsche bemerkt hätte). Ein weiteres Kommunikationsmodell muss hier Erwähnung finden - nicht, weil es so neu und originell wäre im Vergleich zu denen Bühlers oder Shannons und Weavers, sondern weil es die Art und Weise darstellt, wie deren technisches Informationsmodell Einzug in die Welt der Geistes‐ wissenschaften gehalten hat. In seinem Aufsatz Linguistics and Poetics von 1960 schlug Roman Jakobson (1896-1982), ein russischer Linguist und Semiotiker, das folgende Modell vor, welches auf denen Bühlers und Shannon/ Weavers basiert: 82 Eine kurze Geschichte der Medientheorien intuitives Verständnis der Medien bis heute gründet. Wir mögen zwar rational die Unhaltbarkeit des Shannon/ Weaverschen Modells eingesehen haben, aber dies schützt uns auf einer anderen Bewusstseinsebene nicht vor der immer noch dominanten Vorstellung von einer Masse von Daten, die irgendwie durch Raum und Zeit transportiert wird und dann auf unsere Sinnesorgane und unser Bewusstsein prallt, um so Information zu erzeugen. Diese Vorstellung allein erklärt den bis heute nahezu ungebrochenen Erfolg des Kommunikationsmodells von Claude Shannon und Warren Weaver. Wir sind so begierig, Sinn auf unsere Lebenswelt zu projizieren, dass starke Metaphern wie die vom Verkehr noch lange weiterleben, nachdem ihre materielle Basis längst verschwunden ist. Vermutlich denken wir überhaupt nur in Metaphern. Das berühmte Axiom McLuhans, dass der Inhalt eines Mediums stets ein anderes Medium sei (  S. 96), ließe sich dann so paraphrasieren, dass der Inhalt einer Metapher immer eine Metapher ist (und nicht etwas, was hinter der Metapher stünde, wie Friedrich Nietzsche bemerkt hätte). Ein weiteres Kommunikationsmodell muss hier Erwähnung finden- - nicht, weil es so neu und originell wäre im Vergleich zu denen Bühlers oder Shannons und Weavers, sondern weil es die Art und Weise darstellt, wie deren technisches Informationsmodell Einzug in die Welt der Geisteswissenschaften gehalten hat. In seinem Aufsatz Linguistics and Poetics von 1960 schlug Roman Jakobson (1896-1982), ein russischer Linguist und Semiotiker, das folgende Modell vor, welches auf denen Bühlers und Shannon/ Weavers basiert: Paketmetapher Referent (referenziell) Botschaft (poetisch) Empfänger (konativ) Sender (emotiv) Kanal (phatisch) Code (meta-lingual) Abbildung 8: Roman Jakobsons Kommunikationsmodell Abbildung 8: Roman Jakobsons Kommunikationsmodell In diesem Modell sind an jeder sprachlichen Mitteilung sechs Faktoren beteiligt, denen wie im Modell Bühlers jeweils eine Funktion von Sprache entspricht: 88 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="89"?> 1. Der Sender oder Destinateur möchte etwas mitteilen. Seine Rolle im Kommunikationsakt ist emotiv. Hier ist ein wesentlicher Unterschied zu Shannon/ Weaver erkennbar, denn in deren Skizze ist Emotion nicht vorgesehen. Schließlich handelt es sich bei ihrem Modell um eine auf Maschinen anwendbare mathematisch-technische Informationstheorie. 2. Der Botschaft oder Message kommt eine poetische Funktion zu. Dabei rückt die Sprache selbst in den Mittelpunkt der Mitteilung, wie dies vor allem in der Lyrik geschieht. Jakobson bezeichnet die poetische Funktion als »Zentrierung auf die Sprache um ihrer selbst willen« ( Jakobson 1971, 151). 3. Der Empfänger oder Destinataire steht für das konative, das heißt strebende Element der Kommunikation: Er empfängt vom Sender eine Aufforderung. 4. Der Contexte oder Referent ermöglicht überhaupt erst eine Verständi‐ gung zwischen Sender und Empfänger. Nur, wenn sich beide auf diesel‐ ben Gegenstände und Sachverhalte beziehen, ist eine Verständigung möglich. Diese Bezugnahme nennt Jakobson die referenzielle Funktion von Sprache. 5. Gleiches gilt für den Code: Nur, wenn sich die Codes, die Sender und Empfänger benutzen, stark ähneln oder überschneiden, ist Verständi‐ gung möglich. Dem Code kommt dann eine meta-linguale Funktion zu. Mit ihrer Hilfe kann überhaupt erst eine Bedeutung, die außerhalb der Beziehung zwischen Sender und Empfänger liegt, zugeordnet werden. Erst indem der Code zum Thema wird, wird der Bezug seiner Zeichen auf etwas jenseits seiner selbst, auf die Welt, möglich. 6. Und schließlich gibt es in Jakobsons Kommunikationsmodell auch einen Kanal, welchen er Kontakt nennt. Der Kanal wird ganz physisch als Übertragungsweg von Daten gedacht; seine Funktion gilt Jakobson aber als phatisch, das heißt sozial verbindend, über den Datentransfer hinausgehend. Er legt sein Augenmerk auf die aufgebaute Verbindung selbst als einem Effekt des Kommunikationsakts. Als Literaturwissenschaftler schuf Jakobson sein Modell zum Zweck von Textanalysen. Doch wie auch im Falle von Shannon und Weaver begann das Modell, ein von seinem Schöpfer weder geplantes noch vorhergesehenes Eigenleben zu führen. So diente es etwa in zahllosen Anwendungsbereichen behavioristischer Populärpsychologie dazu, manipulatives Kommunizieren einzuüben. Kommunikationsmodelle 89 <?page no="90"?> 18 Lotman 1972. 19 Z.-B. durch den Anthropologen und Ethnologen Claude Lévi-Strauss. In gewisser Weise bildet Jakobson, der in Vilém Flussers (→ S. 167) Ge‐ burtsjahr 1920 aus der Sowjetunion in dessen Geburtsstadt Prag umsiedelte, eine Brücke zwischen Edmund Husserl und Flusser: Husserls epochē (die Methode der Einklammerung von Vorurteilen bei der Betrachtung eines Phänomens) wird in Jakobsons Strategie der Erkenntnis der Dinge zur Einklammerung des Unwesentlichen. Von ganz entscheidender Bedeutung jedoch ist bei ihm die Einstellung des Beobachters zur beobachteten Sache, die von ihm gewählte Perspektive: Unter dem Einfluss der von Edmund Husserl begründeten relationalen Denkweise der Phänomenologie, welche später auch Marshall McLuhan, Jean Baudrillard, Paul Virilio und vor allem Vilém Flusser prägte, wandte sich Jakobson vom strengen und mechanistischen russischen Formalismus ab. Statt einen Formalismus zu vertreten, der sich lediglich auf die Beschrei‐ bung und Klassifizierung von Phänomenen beschränkte. erweiterte er die Ideen des russischen Formalismus in den späten 1920er Jahren zu einem strukturalistischen Konzept. Diesem Konzept zufolge können Gegenstände und Sachverhalte nicht von ihrer Funktion her, sondern nur anhand ihrer Beziehungen zu anderen Gegenständen und zum Beobachter sinnvoll beschrieben werden. Dasselbe gilt für Zeichen in einem Code. Nicht nur, aber vor allem in dieser Hinsicht blieb Jakobsons Strukturalismus stets sehr eng dem phänomenologischen Denken verbunden. In ihm gibt es nichts Absolutes oder Bewegungsloses. Die Beziehungen unter den Phänomenen sind das Greifbarste. Sie sind »wahrer« als die beobachteten Dinge, welche nur aus einer zufälligen Perspektive heraus beobachtet werden können. Die Beziehungen aber lassen sich analysieren. Sie sind Bestandteil eines Systems, eines Ganzen, das eine zu entschlüsselnde Struktur aufweist. Dieser von Jakobson begründete Ansatz wurde zum Beispiel durch Ju‐ rij Lotman 18 weiterentwickelt und schließlich auch auf nicht-sprachliche Phänomene 19 angewandt, wodurch sich sein Textbegriff entsprechend er weiterte. Damit wuchs jedoch die Unzufriedenheit vieler Geistes- und Sozi‐ alwissenschaftler mit den Beschränkungen des Ansatzes. Sie fanden, dass das Beharren auf der strengen Beobachtung überschaubarer Relationalität die Einbeziehung von weiter angelegten Zusammenhängen behinderte. Deshalb entwickelten sich, besonders in Frankreich, poststrukturalistische 90 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="91"?> Denkbewegungen in Philosophie, Literaturwissenschaft und Soziologie, die für die Medienphilosophien der 80er-Jahre so fruchtbar werden soll‐ ten, dass französischer Poststrukturalismus und Medientheorien in der Wahrnehmung Vieler damals im Grunde gleichgesetzt wurden. Namentlich genannt werden sollten hier zumindest Gilles Deleuze, Félix Guattari, Jacques Derrida, Michel Foucault, Jean-François Lyotard, Roland Barthes, Jean Baudrillard, Julia Kristeva und Jacques Lacan. Die Genannten können nicht nur als die Begründer und wesentlichen Stimmen des Poststrukturalismus betrachtet werden. Zusammen mit Claude Lévi-Strauss, Judith Butler und Umberto Eco sind sie es auch, die für die Geisteswissenschaften, die Philosophie und eben auch die im Entstehen begriffene Medienwissenschaft die Konsequenzen gezogen haben aus einer Wissenschaftskrise mit zunächst unabsehbaren geistesgeschichtlichen Fol‐ gen. Sie haben die Sprachliche Wende, den Linguistic Turn, (→ S. 186) für die Kulturwissenschaften fruchtbar gemacht und damit entscheidend zur Herausbildung moderner (und postmoderner) Medientheorien beigetragen. Doch was hat es mit dieser Linguistischen Wende auf sich? Darauf kommen wir zurück, nachdem wir uns mit weiteren Medientheorien beschäftigt haben. ✻ Das Medium wird Botschaft … und Marshall McLuhan ist sein Botschafter Vorschau: ● Die Kanadische Schule ● Die vier Zeitalter - eine erste Mediengenealogie ● Das globale Dorf ● Medien sind Auslagerungen von Körperfunktionen, Prothesen. ● Körpererweiterungen werden als Amputationen empfunden, die zu partieller Lähmung, Narkose oder Taubheit führen. ● Heiße und kühle Medien ● Das Medium ist die Botschaft, und diese Botschaft ist eine Umwelt. It’s the singer, not the song. (The Rolling Stones 1965) ✻ Das Medium wird Botschaft … und Marshall McLuhan ist sein Botschafter 91 <?page no="92"?> Im Zusammenhang mit dem Eisenbahnwesen war bereits von Harold Innis die Rede. Der kanadische Literaturwissenschaftler Herbert Marshall McLuhan (1911-1980) war Innis’ Schüler, und er gilt als der Begründer der modernen Medientheorie. In der Tat hat McLuhan unser Verständnis von Medien grundlegend verändert. Dieser Umbruch lässt sich durchaus erklären - aber eben nur mithilfe einer der Thesen, die von McLuhan selbst stammt. Erst seit der Zeit McLuhans, dem elektrischen Zeitalter, sind wir in der Lage, den Wandel der Medien und dessen Folgen für unsere Umwelt und Lebensweise überhaupt zu reflektieren und zu erfassen. McLuhan liefert uns also eine Theorie, die uns zu verstehen hilft, weshalb McLuhan überhaupt möglich wurde: weil jetzt erst die Medien als Externalisierung unseres Nervensystems verstanden werden konnten. McLuhans Botschaft ist sozusagen McLuhan selbst. Doch der Reihe nach … In den 1950er-Jahren, als Marshall McLuhan beginnt, sich mit Medien und ihren Wirkungen auseinanderzusetzen, gab es noch keine institutio‐ nalisierte Medientheorie. Die Beschäftigung verschiedener Wissenschafts‐ zweige mit Kommunikationsfragen zielte einerseits, in den technisch-inge‐ nieurwissenschaftlichen Fächern, auf eine Optimierung des Datentransfers in Leitungen (→ S. 85) oder andererseits, in der Soziologie, auf die Erfor‐ schung und Berechenbarkeit der Wirkung von medialer Kommunikation (→ S. 84). Beide Seiten bemühten sich, ein Modell zu finden, das die gesamte Kommunikation beschreiben und zugleich berechenbar und optimierbar machen sollte. In diesem Bestreben konzentrierten sie sich auf die Frage der Nachricht oder Botschaft und wie diese möglichst unverzerrt und ohne Datenverlust vom Sender zum Empfänger gelangen kann. Sie untersuchten, welche Folgen eine gelungene Datenübertragung für den Empfänger hat - vom Wissenszuwachs im Sinne von Bildung und Aufklärung bis hin zur Manipulation durch Propaganda oder Werbung. Vorausgesetzt wurde dabei jedoch immer, dass es der Inhalt sei, die Nachricht also, die Wirkungen beim Rezipienten verursache. Kanal und Medium dagegen wurden von den Technikern (wie Claude Shannon und Warren Weaver) nur hinsichtlich einer möglichst hohen Leistungsfähigkeit und geringen Anfälligkeit für Störungen, Geräusche und Verzerrungen in den Blick genommen. Liberale oder pragmatistische Wissenschaftler (wie Harold Lasswell oder Walter Lippmann) oder Vertreter der Kritischen Theorie (wie Theodor Adorno (→ S. 108) oder Jürgen Habermas) setzten prinzipiell voraus, dass Medien keine Wirkung auf ihren eigenen Inhalt haben, und beachteten die Medien selbst 92 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="93"?> deshalb gar nicht. Als Botschaft eines Kommunikationsakts galt in dieser Zeit die Nachricht, die vom Sender zum Empfänger reist, und wie sie vom ersteren eigentlich gemeint ist. Doch schon in den 1930er-Jahren, während Marshall McLuhans Studium in England und Kanada, hatte sich an der Universität Toronto ein For‐ schungsschwerpunkt zu Kommunikationsfragen herausgebildet, verbunden mit einer besonderen, von der strukturalistischen Ethnologie und Anthro‐ pologie entlehnten Methodik. Ab 1946 gehörte McLuhan der Universität dann selbst als Dozent an. Im Nachhinein wurde diese Forschung als »Toronto School of Communication« oder »Kanadische Schule« bezeichnet: Milman Parry (Parry 1971) wies beispielsweise nach, dass die spezifische Struktur der Epen Homers darauf zurückzuführen ist, dass sie mündlich überliefert wurden. Dies führte umgekehrt dazu, dass nun erstmals die Schrift als formendes Medium Aufmerksamkeit erhielt und dass Kulturen systematisch anhand ihrer mündlichen oder schriftlichen Kommunikati‐ onsweise unterschieden und klassifiziert wurden. Erstmals wurden also Medien mit ganz bestimmten Effekten in Verbindung gebracht, von denen wiederum die Beschaffenheit ganzer Kulturen hergeleitet und begründet wurde. Französische Ethnologen wie Marcel Mauss (Mauss 1978) und vor allem Claude Lévi-Strauss (Lévi-Strauss 1968) schlossen aus dem Gegensatz von Mündlichkeit und Schriftlichkeit auf weitreichende Unterschiede in der Sozialstruktur, in Sitten und Gebräuchen traditioneller oder moderner Gesellschaften. In Toronto wiederum untersuchte Eric Havelock (Havelock 1963) unter diesem Vorzeichen die weitreichenden gesellschaftlichen und kulturellen Folgen, die das Aufkommen der phonetischen Alphabetschrift hatte. Dank Radio und Fernsehen begann sich zur selben Zeit auch ein allgemeines Bewusstsein für die Existenz von »Massenmedien« durchzu‐ setzen. Havelock trug zum Entstehen des Eindrucks bei, dass es sich bei dieser Medienentwicklung um eine kulturelle Zäsur von geschichtlicher Bedeutung handelte: Das Radio führe uns, so Havelock und auch McLuhan, zurück in die Oralität und die damit verbundenen vorzivilisatorischen Stammesstrukturen (→ S.-353). Von größtem Einfluss auf McLuhan aber war sein Freund und Lehrer Harold Innis. Innis hatte als Wirtschaftshistoriker den Zusammenhang zwi‐ schen Pelzhandel, Eisenbahnbau und der Erschließung und wirtschaftlichen Entwicklung Kanadas erforscht. Dabei knüpfte er an die Überlegungen an, die neben anderen bereits Friedrich List (→ S. 51) in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts angestellt hatte. Wie zuvor List dehnte Innis den Medien‐ ✻ Das Medium wird Botschaft … und Marshall McLuhan ist sein Botschafter 93 <?page no="94"?> begriff erneut auf alle Mittel und Träger von Transport und Kommunikation aus. Ein Medium war ihm also sowohl das Eisenbahngleis als auch der Zug, der auf ihm fuhr. Papier war ihm ebenso ein Medium wie die Schrift. Und Innis war davon überzeugt, dass der Gebrauch eines bestimmten Kommunikationsmediums über einen langen Zeitraum hinweg in gewisser Weise die Gestalt des zu übermittelnden Wissens prägt. Auch stellen wir fest, daß der überall vorhandene Einfluß dieses Mediums irgendwann eine Kultur schafft, in der Leben und Veränderungen zunehmend schwieriger werden, und daß schließlich ein neues Kommunikationsmittel auf‐ treten muß, dessen Vorzüge eklatant genug sind, um die Entstehung einer neuen Kultur herbeizuführen. (Innis 1997) Dies ist nicht nur bedeutend, weil Innis hier auf phänomenologische Weise eine Abhängigkeit der Kultur von herrschenden Technologien feststellt, sondern auch, weil er damit in der Konsequenz eine Dynamik beschreibt, die zu einer Abfolge ganz unterschiedlicher Kulturen führen muss. Die Vorherrschaft unterschiedlicher Medientechniken ist demnach der Grund für das Aufeinanderfolgen wechselnder Kulturepochen. McLuhan und Vi‐ lém Flusser werden, auf diesem Gedanken aufbauend, die Kulturgeschichte der Menschheit anhand von sich verändernden Kommunikationsweisen gliedern. McLuhan baut aber noch auf einem weiteren Gedanken Innis’ auf: Medien eignen sich entweder besonders gut dafür, Nachrichten über lange Zeit aufzubewahren (z. B. die Pyramiden) oder sie mühelos durch den Raum zu transportieren (z. B. das Telefon). Die von ihnen geprägten Gesellschaften sind dementsprechend entweder auf zeitliche Kontinuität angelegt (wie das pharaonische Ägypten) und entsprechend stabil aber starr. Oder sie sind räumlich expansiv und innovativ (wie etwa Europa im 19. und 20. Jahrhun‐ dert). Beide Extreme haben Vor- und Nachteile, und idealerweise besteht in einer Zivilisation ein harmonisches Verhältnis beider Tendenzen. Dies aber setzt ebenso ausgewogene Medienverhältnisse voraus. All diesen damals neuen Forschungen und Ansätzen war Marshall McLu‐ han eng verbunden. Sein Buch The Gutenberg Galaxy: The Making of Typographic Man bezeichnete er gar »als Fußnote zu Innis Beobachtungen zum Thema der psychischen und sozialen Konsequenzen der Schrift und des Buchdrucks« (McLuhan 1997 f., 79). Doch McLuhan radikalisiert die Thesen der Kanadischen Schule, indem er dort anfängt, wo Innis stehenbleibt, nämlich bei der Elektrizität: »Nach vielen historischen Beweisen für die 94 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="95"?> 20 McLuhans Mutter war Lehrerin an einer baptistischen Schule. Er selbst konvertierte im Alter von 26 Jahren zum Katholizismus und arbeitete fortan ausschließlich in katholischen Institutionen. raumbindende Macht des Auges und der zeitbindenden Macht des Ohrs unterläßt es Innis, diese strukturellen Prinzipien auf die Auswirkung des Radios anzuwenden.« (McLuhan 1997 f, 82) In der durch den Gebrauch der Elektrizität ermöglichten »Marconi-Galaxis« sorgen die elektronischen Me‐ dien für eine neue Ausgewogenheit zwischen auditiven und visuellen Codes. Sie wirken integrativ und binden die Menschheit zu einer Gemeinschaft zusammen. Damit erweitert McLuhan die Unterscheidung, die die Toronto School of Communication zwischen von mündlichem und schriftlichem Medienge‐ brauch geprägten Gesellschaften trifft, um eine dritte Variante: um die elektrischen Medien. Und er ordnet sie ein in ein Modell mit einer zwingen‐ den zeitlichen Abfolge. Auf die auditive Epoche der Mündlichkeit folgt die visuelle der Schriftlichkeit und schließlich die »taktile« der Elektrizität. Dabei meint »Taktilität«, also das »Tastgefühl« nicht die Haut […], sondern das Wechselspiel aller Sinne, und beim »in Fühlung bleiben« oder »Fühlung aufnehmen« handelt es sich um eine fruchtbare Verbindung aller Sinne, um Gesichtseindrücke, die in Schallempfin‐ dungen, und Schallempfindungen, die in Bewegungen und Geschmacks- und Geruchsempfindungen übertragen werden. (McLuhan 1997d, 129 f.) Dieses Geschichtsbild McLuhans weist deutlich teleologische Züge auf. Man hat an ihm auch Momente von Heilserwartung feststellen wollen, 20 denn im‐ pliziert wird ja - wie im Christentum, in der Dialektik Hegels (→ S. 43) oder im Historischen Materialismus - nicht nur eine gewisse Zwangsläufigkeit des Ablaufs, sondern auch ein Immer-Besser-Werden im Fortschreiten von Stufe zu Stufe, von oralen Stammesgesellschaften über die Schriftkultur hin zur Epoche der Elektrizität. Doch McLuhan löst die strenge Dreigliedrigkeit selbst auf, indem er die mittelalterliche Manuskriptkultur zwischen den Epochen der Mündlichkeit und der Schriftlichkeit ansiedelt. Manuskripte wurden zwar geschrieben, dann aber vorgelesen, und überhaupt war das Mittelalter noch stark von Analphabetismus und Mündlichkeit geprägt. Wie das vierte Zeitalter, das der elektrischen Medien und der Taktilität, erscheint bei McLuhan das Mittelalter als positive Zeit, weil das Auditive und das Visuelle, die Betonung des Raums und der Zeit, sich die Waage ✻ Das Medium wird Botschaft … und Marshall McLuhan ist sein Botschafter 95 <?page no="96"?> halten. Erst die Erfindung des Buchdrucks bringt die in der phonetischen Schrift angelegten Wirkungen ganz zur Entfaltung und erschafft so die »Gutenberg-Galaxis«. Diese vier kulturgeschichtlichen Epochen werden durch das Aufkommen jeweils neuer Medientechniken bestimmt und voneinander getrennt. - orale Stam‐ meskultur literale Ma‐ nuskriptkul‐ tur Guten‐ berg-Galaxis Mar‐ coni-Gala‐ xis Leitmedium Mündlichkeit Schriftlichkeit Druck Elektronische Medien Bevorzugtes Sinnesorgan Ohr Ohr & Auge Auge »Taktilität«, d.-h. Ausge‐ wogenheit Gesell‐ schaftsform Stamm, Familie Stadt, Kloster‐ gemeinschaft Nation, Indi‐ viduum Globales Dorf Grundcha‐ rakteristik Zeitlich be‐ wahrend Flexibel (Mischform) Räumlich expansiv integrativ Abbildung 9: Kulturgeschichtliche Epochen und ihre Medientechniken nach Marshall McLu‐ han Die Gegenwart sieht McLuhan geprägt von der Zäsur, in der wir uns befinden, dem Übergang von der Gutenberg-Galaxis des Buchdrucks hin zum Globalen Dorf, das durch Telegrafie, Radio, Fernsehen und Computer herbeigeführt wird. Dass wir uns bereits am Ortseingang zu diesem Global Village befinden, ist eine der plakativen Thesen, die McLuhan berühmt gemacht haben. Was ist damit gemeint? Nach dreitausend Jahren der Explosion des Spezialistentums durch die techni‐ schen Ausweitungen unseres Körpers wirkt unsere Welt nun in einer gegenläu‐ figen Entwicklung komprimierend. Elektrisch zusammengezogen ist die Welt nur mehr ein Dorf. Die elektrische Geschwindigkeit, mit der alle sozialen und politischen Funktionen in einer plötzlichen Implosion koordiniert werden, hat die Verantwortung des Menschen in erhöhtem Maß bewußt werden lassen. (McLuhan 1994, 17) Durch die elektrischen Medien Radio und Fernsehen wird erstens, nach der Dominanz des Visuellen in der Gutenberg-Galaxis, dem Auditiven wieder 96 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="97"?> 21 Dem leistete McLuhan selbst Vorschub, indem er sich explizit auf das »Noo‐ sphäre«-Konzept des Jesuiten Teilhard de Chardin bezog (vgl. Grampp 2011, 99-102). Sprach McLuhan schon 1964 vom »ganzheitlichen Miteinbezogensein« der Jugend, so nahm er die popkulturelle Revolution ab Ende der 60er-Jahre vorweg und wurde von dieser dann entsprechend hofiert. zu seinem Recht verholfen, sodass sich nun alle Sinne angesprochen fühlen. Denn die »Elektrizität ist nur zufällig visuell und auditiv; sie ist in erster Li‐ nie taktil« (McLuhan 1997d, 139) (im oben angegebenen Sinne). Das globale Dorf ist zweitens das Ergebnis der weltweiten Augenblickskommunikation, die diese Medien ermöglichen. Raum und Zeit, die jeweils relevanten und kritischen Grenzen der Reichweite oraler oder visueller Medienwelten, werden überwunden und überholt, sodass »dieser Planet nunmehr eine einzige Stadt ist« (McLuhan 1997e, 34). Mit dem Erstarken des globalen Dorfes werden die Gutenberg-Galaxis und ihre Folgen - Nationalismus und Individualismus - zurückgedrängt. Hier wird deutlich, dass McLuhans Vi‐ sion vom Global Village in seiner Zeit durchaus Anschlussmöglichkeiten bot für spirituelle 21 und esoterische Bewegungen, für Bewusstseinserweiterung, Hippies, New Age und Popkultur: Alles ist verbunden, wir sind alle eins … Das elektrische Netzwerk, welches die Welt zum Dorf implodieren lässt, interpretiert McLuhan als eine Auslagerung unserer Nervenstränge, unseres zentralen Nervensystems, hinaus in die Welt. Jedes Medium, ob es nun dem Transport oder der Kommunikation dient, ja, jede Technologie ist eine Aus‐ stülpung und Externalisierung von Körperorganen und ihren Funktionen: Jede Erfindung oder neue Technik ist eine Ausweitung oder Selbstamputation unseres natürlichen Körpers, und eine solche Ausweitung verlangt auch ein neues Verhältnis oder neues Gleichgewicht der anderen Organe und Ausweitungen der Körper untereinander. […] Indem wir fortlaufend neue Techniken übernehmen, machen wir uns zu ihren Servomechanismen. […] Der Mensch wird sozusagen zum Geschlechtsteil der Maschinenwelt, wie es die Biene für die Pflanzenwelt ist, die es ihr ermöglicht, sich zu befruchten und immer neue Formen zu entfalten. (McLuhan 1997d, 124) Die Vorstellung vom Menschen als Mängelwesen hat eine lange Tradition, von der Antike über Johann Gottfried Herder (Herder 1772) und Fried‐ rich Nietzsche bis hin zu Arnold Gehlen (Gehlen 1940). Sigmund Freud bezeichnete den Menschen als »Prothesengott« (Freud 1930). Von Natur aus physisch schwach ausgestattet und kaum zum Überleben geeignet, schafft ✻ Das Medium wird Botschaft … und Marshall McLuhan ist sein Botschafter 97 <?page no="98"?> sich der Mensch technische Hilfsmittel, die zu seiner zweiten Natur werden, ihn aber auch stets von der Natur und von sich selbst entfremden. Verlagern wir Körperfunktionen als Prothese nach außen, dann meldet sich unser nun nutzlos gewordenes Organ mit einer Art Phantomschmerz, denn dieser Vorgang kommt einer Selbstamputation gleich. Das Gleichge‐ wicht der Sinneswahrnehmungen ist dann gestört und in Unordnung ge‐ bracht. Der daraus resultierende Schock führt zu Taubheit und Lähmung, zu einem Zustand der Hypnose oder Trance, in dem wir unseren Zustand selbst nicht erkennen können: »Wenn wir jeden Schock in unsere verschiedenen Bewußtseinsbezirke direkt und im vollen Umfang aufnehmen müßten, wären wir bald Nervenbündel mit Spätzündung, die jeden Augenblick den Bedienungsknopf für den Schleudersitz betätigten.« (McLuhan 1997d, 118 f.) Das Rad beispielsweise ist eine Externalisierung zur Entlastung des Fußes. Das Rad als Gegenmittel gegen größere Belastung […] führt durch die Verstär‐ kung einer gesonderten oder isolierten Funktion, nämlich der des Fußes im Abrollen, erneut zu intensiverer Wirkung. Eine solche Verstärkung kann das Nervensystem nur mit Betäubung oder Blockierung der Wahrnehmung ertragen. […] Selbstamputation schließt Selbsterkenntnis aus. (McLuhan 1997d, 121 f.) Medientechnische Veränderungen narkotisieren uns. Wir sind dann blind und taub für die Ursache des Schocks. Doch der Stress führt zur technischen Weiterentwicklung. Der Leidensdruck durch Irritation des homöostatischen Wahrnehmungsgleichgewichts ist der Motor für die Geschichte der Technik. Um etwa die Irritation durch das Rad zu entspannen, schaffen wir erst die Schnellstraße und schließlich das Flugzeug: »ein Gegenreizmittel, das mithilft, das Gleichgewicht der Körperorgane herzustellen, die das Zentral‐ nervensystem schützen.« (McLuhan 1997d, 122) Eine besondere Situation entsteht, wenn es nicht mehr Körperteile sind, die externalisiert werden, sondern wenn es unser Nervensystem ist. Und in eben jener Situation befinden wir uns heute. Das World Wide Web des Internets konnte McLuhan noch nicht erahnen. Aber er erkennt unser Ner‐ vensystem wieder im weltumspannenden Netzwerk elektrischer Medien, in Telegrafie, Radio und Fernsehen. Dabei greift er (wohl unbeabsichtigt) auf den schon erwähnten Ernst Kapp (→ S. 53) zurück, der bereits 1877 die »Durchgängige Parallelisierung von Telegraphensystem und Nerven‐ system« (Kap.-1877, XI) feststellte. 98 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="99"?> Das Prinzip der Betäubung gilt in der Technik der Elektrizität genauso wie in jeder anderen. Wir müssen unser Zentralnervensystem betäuben, wenn es erweitert oder exponiert wird, oder wir gehen zugrunde. So ist das Zeitalter [… ] der elektrischen Medien auch das Zeitalter des Unbewußten […]. Aber es ist bezeichnenderweise auch das Zeitalter, in dem wir uns des Unbewußten bewußt sind. Mit unserem systematisch betäubten Zentralnervensystem wird die Aufgabe des bewußten Erfassens und Ordnens auf das physische Leben des Menschen übertragen, so daß er zum erstenmal die Technik als eine Ausweitung seines natürlichen Körpers bewußt erlebt. Offenbar hätte es dazu vor dem Zeitalter der Elektrizität […] nicht kommen können. (McLuhan 1997d, 126) Einigermaßen erstaunlich mögen wir heute finden, dass McLuhan ausge‐ rechnet dem Fernsehen eine besonders verbindende Wirkung zuschrieb. Das Fernsehen fördere nicht nur den Austausch aller mit allen, es verlange auch besonders viel Engagement und Kreativität von seinen Rezipienten. Im Angesicht der Kritik Hans Magnus Enzensbergers am Fernsehen als verdummendem »Nullmedium« (→ S. 114), angesichts der üblichen Schelte des Fernsehens als Sedativ des Prekariats und angesichts der interaktiven Angebote des Internet wirkt das geradezu bizarr. Wohlgemerkt: McLuhan bezieht sich auf das grobgepixelte Fernsehen der frühen 60er-Jahre. Doch er feiert es nicht aus empirischen, sondern aus medientheoretischen Erwä‐ gungen als besonders partizipativ: Das Fernsehbild verlangt in jedem Augenblick, daß wir die Lücken im Maschen‐ netz durch angestrengte Beteiligung der Sinne »schließen«, die zutiefst kinetisch und taktil ist, weil Taktilität viel eher Wechselspiel der Sinne bedeutet als den isolierten Kontakt der Haut mit einem Gegenstand. (McLuhan 1997d, 146) »Die angestrengte Beteiligung der Sinne«, so überraschend sie uns auch in Verbindung mit dem Fernsehen heute erscheinen mag, verweist auf einen zentralen Punkt in McLuhans Medientheorie: auf die Unterscheidung zwischen »heißen« und »kühlen« Medien. »Ein kühles Medium, ob es nun das gesprochene Wort, die Handschrift oder das Fernsehen ist, gibt dem Hörer oder Benutzer viel mehr zu tun als ein heißes Medium. Weil das Fernsehen detailarm ist, ergibt sich eine starke Beteiligung des Publikums.« (McLuhan 1997d, 148) So viel zum Unterschied zwischen »heißen« und »kühlen« Medien, die McLuhan übrigens von der seinerzeit geläufigen Klassifizierung von Jazz ✻ Das Medium wird Botschaft … und Marshall McLuhan ist sein Botschafter 99 <?page no="100"?> als »hot« oder »cool« auf die Medien übertragen hat. Was aber bezweckt McLuhan mit dieser Unterscheidung? Es gibt ein Grundprinzip zur Unterscheidung zwischen einem »heißen« Medium, wie dem Radio, und einem »kühlen«, wie dem Telefon, oder einem »heißen«, wie dem Film, und einem »kühlen«, wie dem Fernsehen. Ein »heißes« Medium erweitert durch seinen Detailreichtum nur einen Sinn allein. […] Das Telefon ist ein kühles Medium oder ein detailarmes, weil das Ohr nur eine dürftige Summe von Informationen bekommt. […] Heiße Medien verlangen daher nur in geringem Maße persönliche Beteiligung, aber kühle Medien in hohem Grade persönliche Beteiligung oder Vervollständigung durch das Publikum. Daher hat natürlich ein heißes Medium wie das Radio ganz andere Auswirkungen auf den, der es verwendet, als ein kühles Medium wie das Telefon. Ein kühles Medium wie hieroglyphische oder ideographische Schriftzeichen hat ganz andere Auswirkungen als das heiße und explosive Medium des phonetischen Alphabets. (McLuhan 1997d, 117) Wenn wir Medien benutzen, dann verändert uns diese Tätigkeit auf uns selbst nicht bewusste Weise. Kommunikationsmedien transportieren neben der Nachricht noch andere Wirkungen. Diese betreffen die Veränderung unserer Umwelt, unserer Lebensweise und Gesellschaft, unseres Wertesys‐ tems. Und solche Veränderungen kommen eben dadurch zustande, dass wir Gebrauch von diesem und nicht jenem Medium machen. Kühle Medien verlangen uns mehr ab an Mitdenken, mehr an kreativer und partizipativer Mitkonstruktion der Nachricht. Heiße Medien dagegen wirken noch stärker narkotisierend. »Dieser Einfluß von Medien kann nur dann wirken, wenn die Nutzer gut darauf vorbereitet sind - das heißt, wenn sie sich im Tiefschlaf befinden.« (McLuhan 1997c, 235) Für das, was das Medium selbst mit uns macht, sind wir blind, denn wir starren wie gelähmt auf den vorgeblichen »Inhalt«, weil »der ›Inhalt‹ jedes Mediums der Wesensart des Mediums gegenüber blind macht« (McLuhan 1997d, 114). Das soll nicht besagen, daß Inhalt und Programm beim Fernsehen keine Funk‐ tion hätten. Ihre Funktion besteht in der Tat darin, sicherzustellen, daß der Fernsehapparat eingeschaltet wird, damit er seine Tätigkeit der Auslöschung aller Individualität und alles Privaten vollführen kann. T. S. Eliot hat vor langer Zeit bemerkt, der Hauptzweck des Inhalts eines Gedichts bestehe darin, eine Gewohnheit des Lesers zu befriedigen, seinen Geist abzulenken und ruhig zu 100 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="101"?> halten, während das Gedicht seine Wirkung auf ihn ausübt, etwa so wie der imaginäre Einbrecher stets mit einem Bissen saftigen Fleisches für den Wachhund ausgestattet ist. In ähnlicher Weise ist es die Aufgabe des Programms, den Konsumenten mit einer Ablenkung zu beschäftigen, während das Medium als solches seine Wirkung auf ihn ausübt. (McLuhan 1997b, 222) Hier kommen wir nun zu der Sentenz, die Marshall McLuhan zum Superstar gemacht hat. Wenn nämlich Medien eigentlich ihnen spezifische Wirkungen transportieren - etwa so wie eine Website, die nur der Tarnung und heim‐ lichen Verbreitung eines Computer-Virus dient - und wenn der vorgebliche »Inhalt« ihrer Nachrichten eigentlich nicht mehr als ein Köder ist, dann ist eben diese Wirkung die eigentliche Nachricht, die das Medium wirklich übermittelt, und nicht sein vorgeblicher »Inhalt«. Dann ist, verkürzt gesagt, das Medium selbst die Botschaft. In einer Kultur wie der unseren, die es schon lange gewohnt ist, alle Dinge aufzusplittern und zu teilen, um sie unter Kontrolle zu bekommen, wirkt es fast schockartig, wenn man daran erinnert wird, daß in Funktion und prakti‐ scher Anwendung das Medium die Botschaft ist. Das soll nur heißen, daß die persönlichen und sozialen Auswirkungen jedes Mediums - das heißt jeder Ausweitung unserer eigenen Person - sich aus dem neuen Maßstab ergeben, der durch jede Ausweitung unserer eigenen Person oder durch jede neue Technik eingeführt wird. […] Für die Art und Weise, wie die Maschine unsere Beziehungen zueinander und zu uns selbst verändert hat, ist es vollkommen gleichgültig, ob sie Cornflakes oder Cadillacs produziert. […] Denn die »Botschaft« jedes Mediums oder jeder Technik ist die Veränderung des Maßstabs, Tempos oder Schemas, die es der Situation des Menschen bringt. […] Und das traf zu, ob nun die Eisenbahn in einer tropischen oder nördlichen Umgebung fuhr, und ist völlig unabhängig von der Fracht oder dem Inhalt des Mediums Eisenbahn. (McLuhan 1997d, 112 f.) Also: The medium is the message. Aber worin besteht diese Message eigent‐ lich? McLuhan sagt: in Umwelten. »Jegliches Verständnis sozialer und kultureller Wandlungen ist unmöglich, ohne eine gewisse Kenntnis der Wirkung von Medien als Umwelten.« (McLuhan 1997g, 158) Und genau deshalb sind Medien »dermaßen durchgreifend in ihren persönlichen, po‐ litischen, ökonomischen, ästhetischen, psychologischen, moralischen, ethi‐ schen und sozialen Auswirkungen, daß sie keinen Teil von uns unberührt, unbeeinflußt, unverändert lassen« (McLuhan 1997g, 158). Sie »massieren uns gründlich durch« (McLuhan 1997 g, 158), eben weil wir ihre Wirkungen ✻ Das Medium wird Botschaft … und Marshall McLuhan ist sein Botschafter 101 <?page no="102"?> 22 Und Fritz Mauthners, der Sprachkritik definierte als »die Arbeit an dem befreienden Gedanken, daß die Menschen mit den Wörtern ihrer Sprachen niemals über eine bildliche Darstellung der Welt hinaus gelangen können« (Mauthner 1910, XI). gar nicht bewusst wahrnehmen. Denn jede »beliebige Form von Umwelt sättigt die Wahrnehmung, so daß der Charakter der Umwelt selber nicht wahrnehmbar ist; die Umwelt hat die Macht, das menschliche Bewußtsein zu verzerren oder abzulenken« (McLuhan 1997a, 175). »Alle Kommunika‐ tionsmedien […] schaffen Umwelten, die unsere Aufmerksamkeit durch ihre Allgegenwart betäuben. Die Wahrnehmung dieser Formen ist bei uns begrenzt, nicht aber deren Einfluß auf unser Empfindungsvermögen.« (McLuhan 1997h, 200) Und genau dies, ihre unbemerkten »psychischen und sozialen Auswirkungen« (McLuhan 1997d, 113), macht einen naiven Umgang mit Medien so gefährlich. Das elektrische Licht beispielsweise hat die Welt zweifellos tiefgreifend verändert. Es ist reine Information. Es ist gewissermaßen ein Medium ohne Botschaft […]. Ob das Licht nun bei einem gehirnchirurgischen Eingriff oder einem nächtlichen Baseballspiel verwendet wird, ist vollkommen gleichgültig. Man könnte behaup‐ ten, daß diese Tätigkeiten in gewisser Hinsicht der »Inhalt« des elektrischen Lichts seien, da sie ohne elektrisches Licht nicht sein könnten. (McLuhan 1997d, 113 f.) »Diese für alle Medien charakteristische Tatsache bedeutet, daß der ›Inhalt‹ jedes Mediums immer ein anderes Medium ist. Der Inhalt der Schrift ist Sprache, genauso wie das geschriebene Wort Inhalt des Buchdrucks ist und der Druck wieder Inhalt des Telegrafen ist.« (McLuhan 1997d, 113) So sind letztlich alle Medien »mit ihrem Vermögen, Erfahrung in neue Formen zu übertragen, wirksame Metaphern« (McLuhan 1997d, 127). Der Inhalt eines Mediums ist immer ein anderes Medium, eine Metapher, die andere, ältere Metaphern enthält. Damit greift McLuhan auf Friedrich Nietzsches 22 Feststellung zurück, dass Sprache gar nicht anders als metapho‐ risch sein kann. Wahrheit, so Nietzsche, ist immer nur ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauch […] fest, kano‐ nisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind (Nietzsche 1973, Kap.-1). 102 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="103"?> Der Inhalt einer Metapher ist immer eine andere Metapher. So stellt sich die Frage, ob Medien - die Sprache eingeschlossen - irgendeine Möglichkeit bieten, aus ihrem System auszubrechen. Es scheint aber eher, dass nichts innerhalb des Systems auf etwas außerhalb desselben verweist. Einen Zugang zu einer außermedialen Realität finden wir nicht. So wurde McLuhan ein Vordenker des Prinzips der Medialität (→ S. 27), welches als solches erst lange nach seinem Tod 1980 zur Ausformulierung und allgemeinen Anerkennung gelangen sollte. Zusammenfassung: Marshall McLuhan griff vielfältige Einflüsse auf und verschmolz sie zu einer außerordentlich originellen anthropologischen Medientheorie. So führten ihn die Forschungen der Toronto School of Communication zu den Auswirkungen der Benutzung unterschiedlicher Medien auf alle Aspekte des Lebens zu der Annahme, dass die Botschaft eines Mediums eine Umwelt sei und seine Wirkung die Veränderung unserer Lebens‐ umstände. Das Medium selbst ist also die Botschaft und sein Inhalt stets ein anderes Medium. Dabei unterscheidet McLuhan zwischen heißen und kühlen Medien. Erstere haben einen besonders stark betäubenden und lähmenden Effekt. Sie überwältigen uns, und wir haben ihnen kaum etwas entgegenzusetzen. Medien sind grundsätzlich als Körpererweiterungen zu betrachten. Diese Auslagerung von Körperfunktionen stört unser psychisches Gleichge‐ wicht und führt zur Blindheit gegenüber der eigentlichen Wirkung von Medien. Erst jetzt, im elektrischen Zeitalter (welches das orale und die Gutenberg-Galaxis der Schrift ablöst), können wir dies erkennen, denn die elektrischen Medien sind eine Auslagerung unseres Nervensystems. Wie ein Netz legen sie sich über die Welt, verbinden unterschiedlichste Regionen und schrumpfen sie zu einem globalen Dorf zusammen. In einem höchst bemerkenswerten Kurzauftritt in Woody Allens Film Annie Hall (Der Stadtneurotiker) tritt plötzlich der von Marshall McLuhan persönlich dargestellte Marshall McLuhan wie ein deus ex machina aus der Kulisse, um einen Angeber zurechtzuweisen, der hinter der von Allen gespielten Figur in der Schlange an der Kinokasse steht und dort ebenso lautstark wie präpotent doziert. McLuhan: »Ich hab’ gehört, was Sie gesagt ✻ Das Medium wird Botschaft … und Marshall McLuhan ist sein Botschafter 103 <?page no="104"?> 23 Marshall McLuhan als Marshall McLuhan in Allen 1977b. Im Original: »I heard what you were saying. You know nothing of my work. You mean my whole fallacy is wrong. How you ever got to teach a course in anything is totally amazing.« (Allen 1977a) haben. Sie haben keine Ahnung von meiner Philosophie. Sie legen mich absolut diametral aus. Wie Sie überhaupt an eine Universität gekommen sind, ist mir völlig schleierhaft.« 23 Damit Sie nicht nächstes Mal beim Anstehen für Kinokarten auf ähnliche Weise gedemütigt werden, lege ich Ihnen nun dringend die Überprüfung Ihres McLuhan-Basiswissens anhand von folgenden Fragen ans Herz: Verständnisfragen zur Vertiefung: ● Fassen Sie die wichtigsten Thesen der Toronto School of Communi‐ cation zusammen - und ihren Einfluss auf McLuhan! (leicht) ● Können Sie einen Einfluss Walter Benjamins auf das Denken McLu‐ hans benennen? (leicht) ● Welche Eigenschaften und Folgen hat ein heißes, welche ein kühles Medium? Ist E-Mail ein heißes oder kühles Medium? (leicht) ● Damit eine Theorie wie die McLuhans entstehen kann, muss laut McLuhan eine bestimmte Voraussetzung gegeben sein. McLuhan liefert so eine Theorie für die Entstehung seiner Theorie. Erklären Sie, was es mit diesem Paradox auf sich hat! (mittel) ● Worin besteht der Inhalt, worin die Botschaft eines Mediums? Erklären Sie das auch an einem Beispiel, am Roman, am Radio oder Fernsehen! (mittel) ● Erkennen Sie Spuren des Katholizismus in McLuhans Denkgebäude? Wenn ja, welche? (schwer) ● McLuhan sprach spät (1970) selbst davon, dass das »globale Dorf in ein globales Theater verwandelt wurde« (McLuhan, 1997h, 204). Auch Vilém Flusser zufolge irrte »McLuhan […], wenn er meint, amphitheatralische Medien wie Presse oder Fernsehen könnten die Menschheit in ein kosmisches Dorf verwandeln: sie verwandeln sie in einen kosmischen Zirkus.« (Flusser 1996a, 275) Wo befinden wir uns heute nun wirklich, in einem Dorf, Theater oder Zirkus? Welche Vorstellungen verbergen sich hinter diesen Begriffen? (schwer) 104 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="105"?> ✻ Marxismus, Frankfurter Schule, Kritische Theorie: Adorno und Horkheimer, Enzensberger und Habermas als Medientheoretiker Vorschau: ● Einige Schlüsselbegriffe marxistischer Medientheorien ● Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser Positionen ● Horkheimer und Adorno: Dialektik der Aufklärung; Kulturindustrie, Verblendungszusammenhang und als Folge ein Generalverdacht ● Hans Magnus Enzensberger: Baukasten zu einer Theorie der Medien; Bewußtseins-Industrie und das Nullmedium Fernsehen ● Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns; der herr‐ schaftsfreie Diskurs und die Pauschalisierung der Massenmedien ● Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen; Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels; Slavoj Žižek verbindet Marx mit Lacan. Dieses Kapitel bildet zusammen mit den beiden über Walter Benjamin und Bertolt Brecht eine inhaltliche Einheit. Nur weil Benjamins Gedanken zum Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit und Brechts Radiotheorie auch für sich genommen als Medientheorien Bestand haben, wurde Benjamin und Brecht ein je eigenes Kapitel gewidmet. Doch zahlrei‐ che Gemeinsamkeiten verbinden die medientheoretischen Überlegungen dialektischer, marxistischer oder linker Denker, der Frankfurter Schule oder Kritischen Theorie. Allerdings gibt es auch ebenso viele trennende Unter‐ schiede. Bei diesem Kapitel handelt es sich also einerseits um eine Sammlung und Bestandsaufnahme anderer marxistisch geprägter und medientheoretisch relevanter Ideen neben denen von Benjamin und Brecht. Andererseits aber sollen deren Gedanken in einen Wirkungszusammenhang gestellt und so ihre Darstellung eigentlich erst vervollständigt werden. Dialektisch/ ma‐ terialistische oder marxistische Theoretiker und Denker wie Karl Marx und Friedrich Engels, Walter Benjamin, Bertolt Brecht, Max Horkheimer, Theodor Adorno, Günther Anders, Guy Debord, Hans Magnus Enzensber‐ ger, Jürgen Habermas und Slavoj Žižek haben Spuren in der Geschichte der Medientheorien hinterlassen und beigetragen zu einer außerordentlich reichen Geschichte der Ideen, zu Strukturen, Funktionen und Wirkungen ✻ Marxismus, Frankfurter Schule, Kritische Theorie 105 <?page no="106"?> von Medien in und auf Gesellschaften. Und das, obwohl die Medien nicht ihr Hauptthema waren. Dieser Gesellschaftsbezug ist, neben einer grundsätzlich kritisch-distan‐ zierten Haltung und der Solidarisierung mit Schwächeren, das Glied, das all diese Denker verbindet: Der Mensch wird von ihnen nicht als ein an sich komplettes Wesen gesehen, das sich nach Belieben mit anderen verbinden kann oder auch nicht. In einer sozialistisch geprägten Weltanschauung ist der Mensch notwendig sozial. Ein Mensch, der nicht mit anderen verbunden wäre, mit ihnen nicht kommunizierte und für gemeinsame Interessen gestal‐ tend zusammenarbeitete, wäre gar kein Mensch im eigentlichen Sinne. Dies liegt daran, dass Gesellschaft und Individuum in einer Wechselbeziehung stehen. Sie bedingen einander, und nicht nur gäbe es ohne den Menschen keine Gesellschaft, sondern der Mensch wäre ohne Gesellschaft eben auch kein Mensch. Wenn aber Gemeinschaft, Kooperation und Kommunikation von so zentraler Bedeutung für das Menschsein an sich sind, dann kommt der Art und Weise, wie kommuniziert wird, die allergrößte Wichtigkeit zu. Dies erklärt, weshalb marxistische Theorien zumeist auch medientheore‐ tische Gedanken enthalten. Der Umgang der Menschen miteinander ist hier der Schlüssel zu aller gesellschaftlichen Praxis. Zugleich schränkt jedoch auch genau dieser Umstand die Reichweite marxistischer Medientheorien ein: Im Allgemeinen sind sie gar keine originären Medientheorien, sondern bestehen meist nur aus einigen Aussagen und Konzepten zum Medialen und zur Kommunikation innerhalb eines viel weiter gespannten theoretischen Bogens, der letztlich immer gesellschaftstheoretischer, bestenfalls noch politisch-praktischer Natur ist. Medientheorie ist hier eben nur ein Teilas‐ pekt einer übergeordneten Weltanschauung, der Spezialfall einer Kritik am Kapitalismus und an seinen gesellschaftlichen Folgen. Dies ist eine erste Gemeinsamkeit, die die marxistisch orientierten Theo‐ rien zu Medien teilen. Zwei weitere sollen hier Erwähnung finden. Zum einen ist da der Umstand, dass es sich hier um eine kritische Theorie, um eine »negative Dialektik« handelt. Die Medienentwicklung im 20.-Jahr‐ hundert wird von linken Theoretikern durchweg pessimistisch beurteilt. Eine einzige bemerkenswerte Ausnahme macht Benjamin, der im Film das proletarisch-revolutionäre Medium der Zukunft und eine Schule für die Verarbeitung einer Reizüberflutung sieht, wie sie für das moderne Großstadtleben kennzeichnend ist. Die ansonsten einstimmig negative Hal‐ tung zu den Massenmedien verbindet die aufklärerischen Denker übrigens sowohl mit weltanschaulich ganz anders geprägten Intellektuellen, wie etwa 106 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="107"?> Jean Baudrillard, als auch mit offen kulturkonservativen Bewahrern (wie z.-B. Neil Postman → S.-152). Dieser seltsam konservative, pessimistische Grundton, der so gar nicht zur progressiv-revolutionären politischen Einstellung dieser Autoren zu passen scheint, stellt schließlich die dritte Auffälligkeit dar. Hier meldet sich mitunter wohl die verletzte Eitelkeit eines im Grunde bürgerlichen Linksintellektuellen zu Wort, am stärksten möglicherweise bei Adorno. Diese Eitelkeit sieht im Verfall der großen europäischen Traditionen nicht das erfreuliche Ende elitärer Überheblichkeit über die Massen. Stattdessen sieht sie darin nichts weniger als den Untergang des Abendlandes (→ S. 152), die Infragestellung des eigenen Selbstverständnisses als Bildungsträger und die Untergrabung der damit verbundenen Autorität (z. B. als Autor, als Intellektueller etc.). Hier im Überblick einige Gemeinsamkeiten marxistisch orientierter Me‐ dientheorien im 20.-Jahrhundert: - Beispiel Ausnahme Parallele zu ande‐ ren Theoretikern Benjamin Die Medien machen - als Teil des Über‐ baus - nur einen un‐ ter zahlreichen As‐ pekten eines viel umfassenderen welt‐ anschaulichen Theo‐ riegebäudes aus. Für Anders ist die Antiquiertheit des Menschen im 20.-Jahrhundert engstens und unmit‐ telbar mit der Medi‐ enentwicklung ver‐ bunden. Niklas Luhmann: Medien als Teilas‐ pekt seiner System‐ theorie Brecht Adorno Anders Dieses Denken ist in seinem Wesen ne‐ gativ und pessimis‐ tisch. Benjamin sieht gro‐ ßes Potenzial im Film als Grundlage für eine neue Kunst. Jean Baudrillard: Medien verhindern Kommunikation. Enzens‐ berger Habermas Die stattfndenden Veränderungen wer‐ den bedauert; in der Klage über den Verfall der bürgerli‐ chen Kultur werden Selbstmitleid und eine (kultur)konser‐ vative Haltung er‐ kennbar. Brecht zeigt keine Neigung zu regres‐ siven oder kulturbe‐ wahrenden Zügen. Neil Postman: Mit dem Niedergang des Buchs als Leitme‐ dium verlieren wir die abendländische Kultur und die Vor‐ aussetzungen für unsere Demokratie. et al. Abbildung 10: Einige Gemeinsamkeiten marxistisch orientierter Medientheorien ✻ Marxismus, Frankfurter Schule, Kritische Theorie 107 <?page no="108"?> 24 Ähnlich wie Benjamins Hang zum Mystizismus rief Adornos Interesse an der Psycho‐ analyse den beißenden Spott Brechts hervor: »[…] adorno hier. er ist rund und dick Setzen wir nun also unseren Besuch in der Galerie dialektisch-marxistischer Medientheorien fort, indem wir schlaglichtartig einzelne Standpunkte an‐ leuchten: Von Karl Marx und Friedrich Engels stammt die Unterscheidung zwischen Unterbau und Überbau. Den Unterbau einer Gesellschaft bilden ihre Besitz‐ verhältnisse und Produktionsbedingungen, die Verteilung von Lasten und Nutzen bei der Herstellung von Mehrwert. Der Überbau ist die ideologische Verklärung dieser Verhältnisse. Ihm sind Kultur, Religion, bürgerliche Werte und Tugenden sowie die Medien zuzurechnen. Ein weiterer wichtiger Begriff der marxschen Theorie ist der der Entfremdung: Arbeiter verkaufen ihre Arbeitskraft dem Besitzer des Kapitals und der Maschinen, der den gesamten mit dieser Kraft erzeugten Mehrwert abschöpft. Die so geleistete Arbeit ist entfremdet, weil sie weder zur Verwirklichung der Persönlichkeit des Arbeiters beiträgt noch diesen in den Genuss seiner Wertschöpfung kommen lässt. Walter Benjamin brachte in die Geschichte marxistischen Mediendenkens nicht nur einen gehörigen Schuss Mystik ein, sondern auch die bis heute nützliche Einsicht, welche Veränderungen aus der technischen Reproduzier‐ barkeit des Kunstwerks für dessen Produktion und Rezeption folgen. Bertolt Brecht trug zu diesem Diskurs nicht nur das Konzept des Verfremdungsef‐ fekts bei, dank dessen vertraute Sachverhalte mit einem distanziert fremden Blick in Frage gestellt werden können, als betrachte man sie zum ersten Mal. Er lenkte außerdem mit seiner Forderung, der Rundfunk müsse von einer Einbahnstraße zu einem dialogischen Kommunikationsapparat werden, die Aufmerksamkeit auf Strukturen statt auf die Inhalte von Medien, auf die Schaltung der Kommunikationskanäle. Max Horkheimers und Theodor W. Adornos bleibendes Verdienst für die Medientheorie wiederum lässt sich mit den Stichworten Kulturindustrie und Verblendungszusammenhang umreißen. Verbleiben wir kurz bei diesen beiden Denkern. Max Horkheimer (1895- 1973) und Theodor Wiesengrund Adorno (1903-1969) arbeiteten gemeinsam als Sozialphilosophen am Frankfurter Institut für Sozialforschung. Deshalb wird die von ihnen inspirierte Kritische Theorie auch Frankfurter Schule genannt. Sie verbindet eine marxistische Kritik der Ökonomie und der Entfremdung mit freudscher Psychoanalyse 24 , mit der damals gerade erst 108 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="109"?> geworden und bringt einen aufsatz über RICHARD WAGNER, nicht uninteressant, aber ausschließlich nach verdrängungen, komplexen, hemmungen im bewußtsein des alten mythenschmieds stöbernd, in dieser routine der lukács, bloch, stern, die alle nur eine alte psychoanalyse verdrängen«. (Brecht 1977, 219/ 18.1.1942) entstandenen Massenkommunikationsforschung und mit empirischer Sozi‐ alforschung. Ihr Forschungsgegenstand war nicht die Wirtschaft, sondern deren kultureller Überbau. 1933 und 1934 mussten Horkheimer und Adorno über die Schweiz bzw. England in die USA emigrieren, kehrten aber 1949 wieder nach Frankfurt zurück. Ihr folgenreichstes Werk, Dialektik der Aufklärung (Horkheimer/ Adorno 2008), ist ein rhetorisch glänzendes, bitter sarkastisches Pamphlet, eine brillante Demonstration dialektischen Denkens. Horkheimer und Adorno wenden sich strikt gegen die utopischen Hoffnungen, die Benjamin und Brecht mit dem Film und dem Radio verbinden. Eine Kultur, die wie die des 20. Jahrhunderts weitgehend durch Massenmedien vermittelt wird, ist in ihren Augen nichts als Regression, und verbesserte Medientechniken sehen sie lediglich als noch durchschlagendere Mittel zur Verblendung der Menschen. Anstelle von »Medien« sprechen sie konsequent nur von der »Kulturindustrie« und begründen dies wie folgt: Das Wort Massenmedien, das für die Kulturindustrie sich eingeschliffen hat, verschiebt bereits den Akzent ins Harmlose. Weder geht es um die Massen an erster Stelle, noch um die Techniken der Kommunikation als solche, sondern um den Geist, der ihnen eingeblasen wird, die Stimme ihres Herrn. (Adorno 1967, 60) Diese Kulturindustrie dient in erster Linie dazu, die permanent erforderliche Unterdrückung individueller »Triebregungen« auf die Ebene des Kollek‐ tiven zu heben: »Diese Sisyphusarbeit der individuellen Triebökonomie scheint heute ›sozialisiert‹, von den Institutionen der Kulturindustrie in eigene Regie genommen, zum Vorteil der Institutionen und der mächtigen Interessen, die hinter ihnen stehen.« (Adorno 1974, 201) Adornos Beschreibung der Kulturindustrie spricht dieser in radikaler Weise jede Möglichkeit ab, ihre Produkte in den Dienst auch emanzipa‐ torischer Bestrebungen zu stellen. Populärkultur, so Horkheimer/ Adorno, ist Massenindustrie, und auch die Traumfabrik des Films, der Rundfunk, die Schallplattenindustrie und später das von Adorno heftig attackierte Fernsehen erfüllen keine anderen Zwecke als die des Konsums, der Vernich‐ tung kulturell tradierter Werte, der Verblendung ihrer Rezipienten durch ✻ Marxismus, Frankfurter Schule, Kritische Theorie 109 <?page no="110"?> bloße Vorspiegelung kulturellen Lebens, der Profitmaximierung und der Programmierung der Bevölkerung mit dem Ziel des Systemerhalts einer ungerechten, kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaft. Natürlich stimmten Adorno und Horkheimer Brecht darin zu, dass es ausschließlich ökonomi‐ sche und politische Gründe und keineswegs technische waren, die das Radio zur kommerziell verwertbaren und politisch manipulativen Einbahnstraße gemacht haben. Die Macht über die technischen Möglichkeiten liegt bei den wirtschaftlich Starken, und diese sehen in Rezipienten nur die Käufer von Produkten und die Empfänger von Botschaften. Wegen des allumfassenden, totalitären Charakters der Kulturindustrie sahen Horkheimer und Adorno keinen Ausweg aus dieser Situation. Anders als Brecht gingen sie mit diesem Befund um, als handelte es sich um ein unveränderliches Naturgesetz. Auch von Benjamin setzten sie sich ab. Benjamin war in verschiedenen Phasen seines Lebens geradezu abhängig vom Wohlwollen Horkheimers und Adornos. Doch seine Bejahung des technischen Fortschritts war ihnen und ihrem Kulturpessimismus (→ S. 152) geradezu ein Dorn im Auge. Auf sein Interesse an den technischen Aspekten der Medien ließen sich Horkheimer und Adorno nicht ein. Anstatt auf den technischen Bedingungen von Medien basiert ihre Argumentation auf der Analyse von deren gesellschaftlichen Bedingungen. Sie verläuft wie folgt: In kapitalistischen Gesellschaften sind die Medien, Presse, Schallplatten, Film, Radio etc. systematisch aufeinander bezogene Bestandteile der Kultur‐ industrie. Die Produkte dieser Industrie machen die Massenkultur aus. Sie werden nicht von technischen, sondern ausschließlich von wirtschaftlichen und Herrschaftskriterien bestimmt. Weil alle Medien in einer Gesellschaft diesen exakt gleichen Produktionshintergrund besitzen, sind sie unterein‐ ander vollkommen gleichartig. »Alle Massenkultur unterm Monopol ist identisch«. (Horkheimer/ Adorno 2008, 128) Deswegen ist es sinnlos, sich analytisch mit einzelnen Produkten der Kulturindustrie zu beschäftigen. Das Ergebnis steht ja von vornherein fest: Es ist die Manifestation des Überbaus in Werken, die sich als Kunst ausgeben, in Wahrheit jedoch nichts sind als serielle Massenprodukte des immer Gleichen. In ihnen wird der entfremdete Alltag reproduziert und als wünschenswert dargestellt. Ganz im Gegensatz hierzu hatte das Kunstwerk in vorindustrieller, vorkapitalistischer Zeit immer etwas Randständiges, eine ihm eigene Logik, welche nicht bloß die herrschenden Verhältnisse bestätigte. In diesem Sinne deuten Horkheimer und Adorno auch das Verschwinden der Tragik aus der Kulturindustrie. Die nicht integrierbare Unversöhnlich‐ 110 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="111"?> 25 So die Überschrift des Kulturindustrie-Kapitels in der Dialektik der Aufklärung: »Kul‐ turindustrie. Aufklärung als Massenbetrug« (Horkheimer/ Adorno 2008, 128). keit des Individuums mit seinem Schicksal, mit Gott und der Welt ist »in das Nichts jener falschen Identität von Gesellschaft und Subjekt zergangen […]. Die Liquidation der Tragik bestätigt die Abschaffung des Individuums […]. Es wird nur so weit geduldet, wie seine rückhaltlose Identität mit dem Allgemeinen außer Frage steht.« (Horkheimer/ Adorno 2008, 163) Jegliche Verstörung, jegliches kreative Denken und jegliche systemgefährdende Phantasie werden den Konsumenten der Kulturindustrie konsequent aus‐ getrieben. Die ganze Welt wird durch das Filter der Kulturindustrie geleitet. […] Die Produkte selber, allen voran das charakteristischste, der Tonfilm, lähmen ihrer objektiven Beschaffenheit nach jene Fähigkeiten. Sie sind so angelegt, daß ihre adäquate Auffassung zwar Promptheit, Beobachtungsgabe, Versiertheit erheischt, daß sie aber die denkende Aktivität des Betrachters geradezu verbieten, wenn er nicht die vorbeihuschenden Fakten versäumen will. (Horkheimer/ Adorno 2008, 134 f.) Walter Benjamins Argument, dass die Rezeptionshaltung der kontemplati‐ ven Versenkung in das als auratisch oder zumindest einmalig gedachte Kunstwerk der technischen Moderne nicht mehr angemessen ist, bleibt von Adorno und Horkheimer unbeachtet und unerwidert. Weil Benjamin Medientechnik als apriorische Voraussetzung von medialer Kommunikation versteht, kann er anders als Adorno/ Horkheimer den Verfall der Aura zwar bedauernd feststellen, sich dann aber auch aufschwingen, positive Seiten der Massenkultur ausfindig zu machen. In den Augen Horkheimers und Adornos jedoch bleibt jede Form von Massenkultur stets und ausschließlich »Massenbetrug« 25 , auch wenn sich dieser gerne kritisch gibt und als Form der Aufklärung zu erscheinen bestrebt ist. Diese Art von Kultur als Ware erlaubt keine Distanznahme mehr, welche aber zur kritischen Reflexion nötig wäre. Die Folge ist ein universeller Verblendungszusammenhang: Das Ziel des Warenfetischismus ist das kollek‐ tive Unterbewusstsein der Massen, das keine Möglichkeit mehr erhält, sich gegen die totale Manipulation durch die Kulturindustrie zur Wehr zu setzen. Es wird oberflächlich befriedigt, dabei aber in eine infantile Regression gezwungen. Ein Zustand von Betäubung ist die Folge. ✻ Marxismus, Frankfurter Schule, Kritische Theorie 111 <?page no="112"?> Das Gefährliche an dieser Form von Massenbetrug ist, so Horkheimer und Adorno, sein systematischer Ansatz, sein eingelöster Anspruch auf Totalität. Das immer Gleiche wird, nur leicht variiert, endlos wiederholt. Das eben macht die Totalität der Kulturindustrie aus: »Kultur heute schlägt alles mit Ähnlichkeit. Film, Radio, Magazine machen ein System aus.« (Horkheimer/ Adorno 2008, 128) In diesem System verschmelzen stereotype kulturelle Äußerungen mit dem Warencharakter ihrer Darbietungsform sowie mit Elementen der Werbung und der politischen Agitation im Sinne der bestehenden Gesellschaftsform und ihrer Besitzverhältnisse. Das System der Massenmedien dient also der Stabilisierung des politischen Systems. Daraus gibt es keinen Ausweg. Die Manipulation durch die Kultur der Massenmedien erhöht das Bedürfnis ihrer Rezipienten nach eben dieser ma‐ nipulativen Kulturindustrie immer weiter und schließt dabei Alternativen konsequent aus. Die Massen »haben ihre Wünsche. Unbeirrbar bestehen sie auf der Ideologie, durch die man sie versklavt.« (Horkheimer/ Adorno 2008, 142) Je dichter das Netz der Vergesellschaftung geflochten und womöglich ihnen über den Kopf geworfen ist, desto weniger vermögen ihre Wünsche, Intentionen, Urteile ihm zu entschlüpfen. Gefahr ist, daß das Publikum, wenn man es animiert, seinen Willen kundzutun, womöglich noch mehr das will, was ihm ohnehin aufgezwungen wird. (Adorno 1986, 343) Als Folge schließt sich das System immer noch dichter zusammen. Das Kulturindustrie-Kapitel in Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung trägt wesentlich Schuld daran, dass in Deutschland trotz der vielversprechenden Anfänge mit Walter Benjamin und Bertolt Brecht bis in die 1980er-Jahre keine relevante Medientheorie entstehen konnte. Jede Beschäftigung mit den Massenmedien galt in Folge von Horkheimers und Adornos Verdikt als politisch inkorrekt, affirmativ und potenziell systemstabilisierend. Jedes Ernstnehmen populärer Kultur stand unter Generalver‐ dacht. Die Wahrnehmung strukturalistischer und poststrukturalistischer Ansätze wurde dadurch ebenso beeinträchtigt wie die Rezeption von Den‐ kern wie Marshall McLuhan, Derrick de Kerckhove, Jean Baudrillard oder Paul Virilio. Die Entwicklung origineller eigener Theorien der Medien kam in Deutschland spät in Gang, was zweifellos mit der Dominanz der Kritischen Theorie hierzulande zusammenhing: Adorno, Horkheimer und Marcuse hatten mit ihrer harten Kritik der Massenmedien als Teil der das kapitalistische System 112 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="113"?> stabilisierenden »Kulturindustrie« den Ton für die siebziger Jahre vorgegeben. Medien gerieten vorrangig als Instanzen der Manipulation und Entmündigung in den Blick, die den eingeschläferten Konsumenten in sein falsches Bewusstsein bannen. Diese Haltung […] half mit, eine medientheoretische Reformulierung geistes- und kulturwissenschaftlicher Fragen lange zu blockieren. (Lagaay/ Lauer 2004, 18 f.) Die Dialektik der Aufklärung wurde zwar bereits 1947 in Amsterdam veröf‐ fentlicht. Wirkung zeigte der Text jedoch erst infolge seiner Wiederauflage 1969, dann aber massiv: »Kritische Theorie und Theorie der Medien, das konnte nach 1980 geradezu als Opposition aufgefasst werden.« (Lauer 2004, 246) Lediglich einmal, in den 1970er-Jahren, wurde ein Versuch unternommen, den großen Wurf Horkheimers und Adornos aus seiner kulturpessimisti‐ schen Trotzhaltung herauszuholen und ihn tatsächlich für eine kritische, linke Auseinandersetzung mit den Massenmedien fruchtbar zu machen. Es war der 1929 geborene und 2022 verstorbene Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger, der 1970 diesen Versuch unternahm. Anstatt von »Kulturin‐ dustrie« spricht Enzensberger von »Bewußtseins-Industrie« und richtet das Augenmerk damit noch konsequenter als Adorno und Horkheimer auf den Verblendungszusammenhang, in dem die Massenmedien stehen: Mit der Entwicklung der elektronischen Medien ist die Bewußtseins-Industrie zum Schrittmacher der sozio-ökonomischen Entwicklung spätindustrieller Ge‐ sellschaften geworden. Sie infiltriert alle anderen Sektoren der Produktion, übernimmt immer mehr Steuerungs- und Kontrollfunktionen und bestimmt den Standard der herrschenden Technologie. (Enzensberger 2002, 254) Deutlich bezieht sich Enzensberger auf Brechts Radiotheorie, wenn er bemerkt: In ihrer heutigen Gestalt dienen Apparate wie das Fernsehen oder der Film […] nicht der Kommunikation sondern ihrer Verhinderung. Sie lassen keine Wechselwirkung zwischen Sender und Empfänger zu […]. Die Entwicklung vom bloßen Distributionszum Kommunikationsmedium ist kein technisches Problem. Sie wird bewußt verhindert […]. […] Die Neue Linke der sechziger Jahre hat die Entwicklung der Medien auf einen einzigen Begriff gebracht: den der Manipulation. Er war ursprünglich von großem heuristischen Nutzen […], droht jedoch zu einem bloßen Schlagwort herunterzukommen, das […] seinerseits einer Analyse bedarf. (Enzensberger 2002, 256 f.) ✻ Marxismus, Frankfurter Schule, Kritische Theorie 113 <?page no="114"?> Aus dem Geist der 1968er-Bewegung heraus, der es nicht nur um verbesserte politische Partizipation ging, sondern auch um Freiräume für Selbstbestim‐ mung und Selbstverwirklichung, greift Enzensberger die Kernthesen aus der Dialektik der Aufklärung auf, wertet sie aber um, indem er ganz im Sinne Brechts auf das Potenzial der damals neuen elektronischen Massenmedien für dialogische Kommunikation und Interaktion verweist. Heftig greift Enzensberger die weltfremde Arroganz von Sozialisten in der Folge Adornos an, die ihre Wertmaßstäbe per Dekret zu denen »der Massen« erklären, und appelliert stattdessen dafür, deren Bedürfnisse als legitim anzuerkennen: »Sozialisten und sozialistische Regierungen, die die Frustration der Massen verdoppeln, indem sie ihre Bedürfnisse zu falschen erklären, machen sich zu Komplizen eines Systems, das zu bekämpfen sie angetreten sind.« (Enzensberger 2002, 265) Zugleich räumt er mit der naiven Vorstellung auf, es gebe eine neutrale, objektive, nicht-manipulative Verwendung von Medien: »Ein revolutionä‐ rer Entwurf muß nicht die Manipulateure zum Verschwinden bringen; er hat im Gegenteil einen jeden zum Manipulateur zu machen.« (Enzensberger 2002, 262) Denn nur in der geschickten Nutzung medialer Möglichkeiten liegt deren Befreiungspotenzial, nicht jedoch in ihren Strukturen allein: »Wer sich Emanzipation von einem wie auch immer strukturierten tech‐ nologischen Gerät oder Gerätesystem verspricht, verfällt einem obskuren Fortschrittsglauben«. (Enzensberger 2002, 262) Enzensberger ruft dazu auf, sich die Medien und ihre Beherrschung zu eigen zu machen. Dies ist einer der ersten Aufrufe zu einer allgemeinen, vertieften Medienkompetenz mit dem Ziel breiterer demokratischer Teilhabe an der Macht, die mithilfe von Medien ausgeübt wird. Weder die Verweigerung gegenüber den Medien oder die Selbstausschließung aus dem medialen Diskurs noch bloßes Wehklagen über die mediale Manipulation helfen laut Enzensberger weiter. Stattdessen muss das Ziel sein, dass der Einzelne den eigenen souveränen Umgang mit den Medien erlernt - rezeptiv wie produktiv. Achtzehn Jahre später revidiert Enzensberger - auch auf die Kritik Jean Baudrillards (→ S. 203) hin - seine Thesen aus dem Baukasten zu einer Theo‐ rie der Medien von 1970. In seinem 1988 im Spiegel veröffentlichten Aufsatz Das Nullmedium oder warum alle Klagen über das Fernsehen gegenstandlos sind erweitert er seinen 1970 erhobenen Vorwurf der Nichtkommunikation von Massenmedien auf deren Nichtwirkung. Weil insbesondere das Fernse‐ hen gar keine Inhalte vermittle und deshalb auch keine Wirkungen zeitige, sei jede Kritik an oder Auseinandersetzung mit ihm völlig verfehlt und 114 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="115"?> 26 »Adorno hat eine kulturkritische Perspektive eingenommen, die ihn gegenüber Benja‐ mins etwas voreiligen Hoffnungen auf die emanzipatorische Kraft der Massenkultur, damals in erster Linie des Films, mit Recht skeptisch gestimmt hat. Andererseits hat er von dem durchaus ambivalenten Charakter einer über Massenmedien ausgeübten sozialen Kontrolle […] keinen klaren Begriff.« (Habermas 1981, Bd.-1. 496) beruhe auf dem Missverständnis, in der vom Fernsehen produzierten Leere irgendeinen Sinn sehen zu wollen. Nur indirekt, aber immer wieder, beeinflusst auch der bedeutende zeit‐ genössische Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas (*1929) den Theo‐ riediskurs um die Medien. Habermas, der seine akademische Karriere als Forschungsassistent bei Horkheimer und Adorno am Frankfurter Institut für Sozialforschung begann, kritisiert in seinem Hauptwerk Theorie des kommunikativen Handelns (Habermas 1981) die defätistische, resignative Haltung Adornos. 26 Er verweist auf die Notwendigkeit, der von ihm be‐ schriebenen Vereinzelung des Mediennutzers durch Massenmedien einen möglichen Ausweg in Aussicht zu stellen, etwa durch die Umwandlung der einbahnstraßenförmigen medialen Kanäle in reversible. Im Übrigen ist der von ihm dort verwendete Begriff vom Medium nicht derselbe, der im Rahmen der in diesem Band behandelten Medientheorien gebraucht wird. Nur, um Missverständnissen vorzubeugen, soll hier in aller Kürze darauf verwiesen werden, dass die funktionalistische Soziologie Talcott Parsons (1902-1979) von vier »Medien« ausgeht: Geld, Macht, Einfluss und Wertbindung (→ S. 137). Sie stehen für die gesellschaftlichen Teilsysteme der Wirtschaft, Politik, des Sozialen und der Kultur. Habermas beschreibt nun auf Parsons aufbauend die Folgen einer zunehmenden Herr‐ schaft von Wirtschaft und Staat durch Geld und Macht als ihren »Medien« im Sinne von Parsons. Weil sich Wirtschaft und Staat als Subsysteme verselbstständigt und immer weiter ausgeprägt haben, dominieren und un‐ terwerfen Geld und Macht zunehmend auch diejenigen Lebensbereiche, für die sie eigentlich gar keine Geltung beanspruchen dürfen. Dies führe dazu, dass »die mediengesteuerten Subsysteme eine unaufhaltsame Eigendynamik entfalten, welche gleichzeitig die Kolonialisierung der Lebenswelt und deren Segmentierung von Wissenschaft, Moral und Kunst verursacht« (Habermas 1981, Bd.-2. 488). Bekannt geworden ist Habermas nicht zuletzt durch sein Konzept vom herrschaftsfreien Diskurs, einer gemeinsamen vorurteilsfreien Anstrengung vieler Beteiligter, ohne Rücksicht auf Hierarchien gemeinsam zu den besten Problemlösungen zu gelangen - im Sinne einer pragmatischen, demokra‐ ✻ Marxismus, Frankfurter Schule, Kritische Theorie 115 <?page no="116"?> tisch breit mitgetragenen Vernunft und zum Wohle aller. Gesamtgesell‐ schaftlich verbindliche Werte und Normen sollen, so Habermas, durch den »eigentümlich zwanglosen Zwang des besseren Arguments« (Habermas 1984, 161) öffentlich erarbeitet werden. Trotz aller akademischen, dialekti‐ schen Diskussion dieses Ansatzes ist seine Naivität doch unübersehbar. Kaum irgendjemand wird nämlich ernsthaft annehmen, dass zwischen Herr‐ schenden und Beherrschten, zwischen hierarchisch extrem Ungleichen, ein solcher idealer Dialog auf Augenhöhe stattfinden kann, bei dem sämtliche Eigeninteressen vollständig ausgeblendet werden. Im Übrigen wäre zu Habermas noch zu ergänzen, dass er von den Autoren der Dialektik der Aufklärung die Gleichsetzung von elektronischen mit Massenmedien übernommen hat, welche allesamt als nicht-dialogisch an‐ genommen werden, also keine Rückkanäle anbieten. Mit dem Aufkommen des Internets aber hat sich das Blatt völlig gewendet. Als die hier zitierten Schriften Adornos und Habermas’ erschienen, war einzig das Telefon ein elektronisches Massenmedium der dialogischen Art. Jedoch kann man den Autoren die Verkennung dieses Mediums schwerlich vorhalten. Das Telefon haben sie wohl gar nicht erst als »Medium« in den Blick genommen. Doch dass Habermas, immerhin ein Zeitgenosse des Internets, in dessen Angesicht seine Art und Weise, über Massenmedien zu denken, seine Gleichsetzung von »Masse« mit »nicht-dialogisch«, nicht revidieren konnte oder wollte, ist schwer zu verstehen. Wahrscheinlich lässt sich das nicht nur auf eine politische Grundhaltung zurückführen, sondern auf eine vorgefasste, ein‐ engende Vorstellung davon, was Medien sind - nämlich eben die potenziell verdummenden Massenmedien, die keine Reversibilität ermöglichen. Hier zeigt sich also ein argumentativer Zirkelschluss. Abzurunden wäre diese tour d’horizon durch die marxistisch inspirierten Medientheorien mit einem Hinweis auf Günther Anders (1902-1992), der auf Benjamins Reproduzierbarkeitsthese aufbauend einige Aspekte späterer Medientheorien vorwegnimmt. Dies gilt sowohl für den Primat des Mediums vor seinem Inhalt (→ S. 16) als auch für die Umkehrung von Ursache und Wirkung der Bildproduktion in Bezug auf das auslösende Ereignis (Flusser) oder die Ununterscheidbarkeit von Wirklichkeit und Fiktion in medialer Simulation (→ S.-204). Ein weiterer Hauptgedanke von Anders lautet wie folgt: Dadurch, dass die vom Menschen selbst in Gang gesetzte Technisierung der Welt außer Kontrolle geraten sei und ihm nun ihrerseits ihre Gesetze aufzwinge, sei der Mensch unzeitgemäß geworden. Durch diese These von der Antiqiertheit des 116 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="117"?> 27 »Wenn die gesellschaftlichen Bedürfnisse der Epoche, in der sich solche Techniken entwickeln, nur durch die Vermittlung dieser Techniken befriedigt werden können, wenn die Verwaltung dieser Gesellschaft sowie jeder Kontakt zwischen den Menschen nur mittels dieser Macht augenblicklicher Kommunikation geschehen können, dann deshalb, weil diese ›Kommunikation‹ wesentlich einseitig ist, so daß ihre Konzentrie‐ rung darauf hinausläuft, in den Händen der Verwaltung des bestehenden Systems die Mittel anzuhäufen, die ihr die Fortsetzung dieser bestimmten Verwaltung erlauben. Die verallgemeinerte Entzweiung des Spektakels ist untrennbar vom modernen Staat, d. h. von der allgemeinen Form der Entzweiung in der Gesellschaft, dem Produkt der Teilung der gesellschaftlichen Arbeit und dem Werkzeug der Klassenherrschaft.« (Debord 2002, 241 f.). 28 So eine Selbstbezeichnung Žižeks. Menschen klingt klar die marxistische Entfremdungsthese durch. Irrtümlich sieht der Mensch die ihn längst schon bestimmende Technik immer noch so, als sei sie ein einfaches Werkzeug zur Lösung ganz bestimmter Probleme. Doch was uns prägt und entprägt, was uns formt und entformt, sind eben nicht nur die durch die »Mittel« vermittelten Gegenstände, sondern die Mittel selbst, die Geräte selbst: die nicht nur Objekte möglicher Verwendung sind, sondern durch ihre festliegende Struktur und Funktion ihre Verwendung bereits festlegen und damit auch den Stil unserer Beschäftigung und unseres Lebens, kurz: uns. (Anders 2002, 209) Zahlreiche andere, auch für die Medientheorien relevante Thesen marxis‐ tisch orientierter Denker wären noch zu nennen, etwa Guy Debords These von der Gesellschaft des Spektakels  27 (1967) oder Slavoj Žižek mit seiner ebenso amüsanten und anregenden wie eigenwilligen Mischung freudiani‐ scher und lacanianischer Psychoanalyse einerseits und »altmodischer« 28 kommunistischer Gesellschaftstheorie andererseits. Zusammenfassung: Marxistische Medientheorien sind zumeist keine originär von den Me‐ dien her entwickelten Theorien, sondern Teilaspekte weitgespannter sozialer und historischer Großkonzepte. Ihr Grundton ist zumeist ne‐ gativ und kulturpessimistisch. Das Kapitel über die »Kulturindustrie« in Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung gibt den Ton für linke Medienkritik im 20. Jahrhundert vor: Massenmedien sind ✻ Marxismus, Frankfurter Schule, Kritische Theorie 117 <?page no="118"?> Waren, die im umfassenden Verblendungszusammenhang der Kulturin‐ dustrie stehen; Populärkultur dient der Propagierung eines falschen Bewusstseins und damit den Herrschenden. Hans Magnus Enzensber‐ ger revidiert diese Haltung in den 1970er Jahren: Zwar dienen die Massenmedien der »Bewußtseins-Industrie«, doch die Bedürfnisse der Rezipienten seien legitim. Alle Medien manipulieren. Medienverweige‐ rung ist sinnlos. Enzensberger fordert stattdessen eine breite Teilhabe an der Medienproduktion durch mehr Medienkompetenz. Später lehnt er das Fernsehen radikal ab (»Nullmedium«). Jürgen Habermas hat großen Einfluss auf die Medientheorien in Deutschland. Sein Medienbegriff ist jedoch ein funktionalistisch-sozio‐ logischer (von Talcott Parsons geprägter). Sein normatives Konzept vom »herrschaftsfreien Diskurs« mutet fragwürdig an; seine Vorstellung von Massenmedien als manipulative Einbahnstraßen ist pauschalisierend. Einige weitere Positionen: der Mensch als Fremder und Opfer in einer von ihm selbst geschaffenen technisierten Welt (Günther Anders); die Massenkommunikationsmittel als Oberflächenerscheinung einer Gesellschaft des Spektakels (Guy Debord); nach Adorno/ Horkheimer eine erneute Verbindung von Kommunismus (Marx) und Psychoanalyse (Freud, Lacan), diesmal aber als Liebeserklärung an die Populärkultur (Slavoj Žižek). Verständnisfragen zur Vertiefung: ● Wie unterscheidet sich die Position von Adorno und Horkheimer von der Walter Benjamins? (leicht) ● Wieso lehnen es Horkheimer und Adorno ab, kulturelle und mediale Phänomene in Einzelanalysen zu untersuchen? (leicht) ● Erklären Sie den Begriff »Verblendungszusammenhang«! (mittel) ● In welchem Punkt kritisiert Enzensberger Adorno und Horkheimer, und worin nimmt er Bezug auf Bertolt Brecht? (mittel) ● Weshalb neigen marxistische Autoren häufig zu kulturkonservati‐ ven Positionen? (schwer) ● Welche Folgen hatte das Kapitel über die »Kulturindustrie« aus der Dialektik der Aufklärung? Worauf könnte sich Diedrich Diederich‐ sen beziehen, wenn er schreibt: »Medientheorie gibt es in Deutsch‐ 118 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="119"?> 29 André Kertész in: Sontag 2003e, 192. land immer nur in einem sehr ideologischen Sinne« (Diederichsen 1993, 7)? (schwer) ✻ Melancholische Meditationen über die Fotografie: Roland Barthes und Susan Sontag Vorschau: ● William Henry Fox Talbot: Der Stift der Natur ● Indexikalität, Signifikanten und Signifikate, hard icons ● Roland Barthes und Susan Sontag ● Die Zeit und der Tod ● studium und punctum (Barthes) ● Fotografie als Bestätigung, Zustimmung, Vergewaltigung, Aneig‐ nung, Machtausübung und das »Patronat über die Realität« (Sontag) ● Errol Morris: »saved from oblivion by an image« Die Kamera ist mein Werkzeug. Mit ihrer Hilfe mache ich alles um mich herum sinnvoll. 29 Zumeist, wenn im Alltag über Medien diskutiert wird, steht dabei die Frage im Mittelpunkt, inwieweit die mediale Darstellung eines Sachverhalts diesem selbst in der nicht-medialen Realität gerecht wird. Man muss sich vor Augen halten, dass diese Frage vor der Entstehung technischer Aufnahme- und Wiedergabeapparate eine völlig andere Bedeutung hatte als seither. Die erste dieser Aufzeichnungstechnologien war die Fotografie. Unzählige Menschen hatten an der Entwicklung des fotografischen Verfahrens Anteil. Und dennoch gelten bis heute zwei Männer als die eigentlichen Erfinder der Fotografie: der französische Maler und Erfinder Louis Jacques Mandé Daguerre (1787-1851) und der englische Mathematiker und Philologe Wil‐ liam Henry Fox Talbot (1800-1877). Letzterer veröffentlichte 1844 das erste Fotobuch der Geschichte, The Pencil of Nature. Im Vorwort schreibt er, ✻ Melancholische Meditationen über die Fotografie: Roland Barthes und Susan Sontag 119 <?page no="120"?> the plates of this work have been obtained by the mere action of Light upon sensitive paper. They have been formed or depicted by optical and chemical means alone, and without the aid of any one acquainted with the art of drawing. […] They are impressed by Nature’s hand […]. (Talbot 2010, 9) Damit unterstreicht Talbot, was schon der Name nahelegt, der für die neue Medientechnik gefunden worden war: »Photographie« heißt wörtlich »Lichtschrift«. Die Natur selbst, so wird suggeriert, führt den Zeichenstift. Sie bildet sich automatisch ab, scheinbar unbeeinflusst von künstlerischen Ambitionen oder verfälschenden Interessen. Dieser naive Glaube an die naturwissenschaftliche Objektivität der fotografischen Abbildung lebt bis heute fort, häufig verborgen unter einer anderen Bewusstseinsebene, auf der die kritischere Einsicht in die Gemachtheit von Fotografien durchaus gegen‐ wärtig ist. Doch immer schon war jeder Schritt auf dem Weg zum fertigen Foto von unzähligen Faktoren bestimmt, die gestalterische Entscheidungen verlangten. Und diese Entscheidungen fallen nicht im luftleeren Raum. Sie hängen von den kulturellen, ästhetischen, technischen, ideologischen, poli‐ tischen Rahmenbedingungen ab, unter denen Menschen an der Herstellung von Fotos beteiligt sind: Hersteller von Kameras, Chemiker, Physiker, Tech‐ niker, Fotografen, die Konventionen der Fotografiedistribution (Drucker, Verleger, Museen, Sendeanstalten) etc. Unabhängig von allen technischen Fragen hätte doch immer schon wahrnehmungspsychologisch klar sein müssen, dass selbst im Falle unbestreitbarer Beweiskraft von Fotografien oder anderen bildgebenden Verfahren immer noch die Subjektivität der Betrachtenden im Wesentlichen die Bedeutung festlegt, die er oder sie einem Foto gibt. Diese Bedeutung ist also geprägt von Vorurteilen, Glaubensinhal‐ ten, Erfahrungen und mehr. Erst das Aufkommen der digitalen Fotografie hat in nennenswertem Ausmaß dazu beitragen können, den Glauben an die Objektivität von Fotos zu zerstören. Weil nun die neuen, spielerisch einfachen Möglichkeiten der nachträglichen Bildbearbeitung leicht zugänglich sind, vertraut heute kaum noch jemand auf den Wahrheitsgehalt eines Fotos. Weil heute fast jeder Mensch selbst fotografiert, glaubt auch erst recht niemand mehr daran, dass Fotos sich gleichsam selbst herstellen. Dies ist die eine Seite. Auf der anderen Seite überlebt dennoch ein zäher Restglaube an die Be‐ weiskraft von Fotos. Dieser Glaube ist eng verbunden mit einer bestimmten Eigenschaft des (traditionellen, analogen, auf photochemischen Prozessen 120 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="121"?> beruhenden) Fotos: seiner sogenannten »Indexikalität«. So erklärt der Literaturwissenschaftler Bernd Stiegler: Bereits in der Frühzeit der Fotografie […] beschreiben ihre ersten Betrachter fasziniert die neuen technischen Bilder als eine Art visuelle Materialisation der Wirklichkeit und suchen nach Bildern und Metaphern, um diese Erfahrung über‐ haupt theoretisch fassen zu können. Man spricht von »vom Himmel gefallenen Abdrücken«, von »Lichtfäden, die ins Bild hinübergewandert sind« oder von fotografischen eidola, Abbildern, die auf der Platte festgehalten wurden. (Stiegler 2010, 14) In der analogen Fotografie, welche auf fotochemischen Prozessen beruht, ist es tatsächlich ein von einem Objekt reflektierter Lichtstrahl, der ein Silbernitratmolekül zersetzt und so einen schwarzen Punkt auf der Emulsion des Films erzeugt. Es handelt sich hierbei also um eine physische Spur, um einen vom fotografierten Objekt selbst kausal erzeugten Zusammenhang. Eine solche kausale Verbindung zwischen Zeichen und Referent wird als »indexikalisch« bezeichnet. Dazu die Kunst- und Medienwissenschaftlerin Susanne Holschbach: Indexikalische Zeichen wie der Rauch eines Feuers, Fußabdrücke im Sand und Ähnliches stehen in einer physikalischen, man könnte auch sagen, kausalen (Ursache/ Wirkung) Verbindung zu ihrem Referenten. […] Auf diese physiko-che‐ misch basierte Indexikalität gründet sich das Realitätsversprechen der Fotografie, das über die wirklichkeitsgetreue Abbildung hinausgeht: nämlich Wirklichkeit bezeugen zu können. (Holschbach 2004, 2 f.) Der Begriff geht zurück auf den amerikanischen Philosophen und Logiker Charles Sanders Peirce (1839-1914), der ihn 1893 prägte: Es gibt drei Arten von Zeichen. Erstens gibt es Similes oder Ikons, die die Ideen der von ihnen dargestellten Dinge einfach dadurch vermitteln, daß sie sie nachahmen. Zweitens gibt es Indikatoren oder Indizes, die etwas über Dinge zeigen, weil sie physisch mit ihnen verbunden sind. […] Drittens gibt es Symbole oder allgemeine Zeichen, die mit ihren Bedeutungen durch ihre Verwendung verknüpft worden sind. […] Photographien […] gehören […] zu der zweiten Zeichenklasse, die Zeichen aufgrund ihrer physischen Verbindung sind. (Peirce 2010, 77) Neben indexikalischen Zeichen führt Peirce also noch zwei weitere Klassen von Zeichen ein, »Similes« und »Symbole«. Lese ich das Wort »Baum«, so stelle ich mir einen Baum vor. Das Zeichen, hier ein Wort, bezeichnet man als ✻ Melancholische Meditationen über die Fotografie: Roland Barthes und Susan Sontag 121 <?page no="122"?> 30 Ob die Prinzipien der Digitalität und der Indexikalität aber vereinbar sind, erscheint äußerst fraglich. Die Idee der »Spur« eines chemisch-physikalischen Vorgangs muss wohl auf analoge Aufzeichnungssysteme beschränkt bleiben, weil bereits die Überset‐ zung in den digitalen Code die Authentizität dieser Spur verwischt und das Versprechen »Signifikant« und seine Bedeutung als »Signifikat«. Ist der Zusammenhang zwischen beiden völlig willkürlich, von einer zufälligen Konvention be‐ stimmt, so lässt sich diese Beziehung als »symbolisch« bezeichnen. Dies ist eben bei der Beziehung zwischen der abstrakten Buchstabenfolge »Baum« und einem tatsächlichen Baum der Fall, Wörter gehören also zur dritten Klasse in Peirces Zitat. Zwischen dem Signifikanten eines Baums in einem Gemälde von Caspar David Friedrich und einem tatsächlichen oder vorgestellten Baum dagegen besteht eine Relation äußerer Ähnlichkeit. Der Maler hat den Pinsel so geführt, wie ihm dies richtig erschien, um diese Ähnlichkeit herzustellen. Peirce bezeichnet ein solches Zeichen (wie das traditionelle Ölgemälde) als »Simile«, welches die erste Klasse in Peirces Aufzählung darstellt. Das Foto ordnet Peirce der zweiten von ihm erwähnten Klasse zu, den »Indikatoren«. Doch gehört es nicht in Wirklichkeit zugleich auch zur ersten Klasse, zu den »Similes«? Hat es nicht Ähnlichkeit mit den auf ihm abge‐ bildeten Dingen? Signifikanten wie das Foto, die sowohl indexikalischen Ursprungs als auch von ähnlicher Erscheinung sind, werden auch als hard icons bezeichnet: The term »Hard icons« was coined by Tomas Maldonado (1974) to describe signs, which, in addition to bearing resemblance to that which they depict, are related to them as traces to that which produced them. Examples would be X-ray pictures, hand impressions on cave walls, »acoustic pictures« made with the aid of ultrasound, silhouettes, configurations left on the ground by people who were walking out in Hiroshima at the moment of the explosion of the nuclear bomb, thermograms, pictures made with »invisible light« to discover persons hiding in the woods - and ordinary photographs. The real contiguity between the picture and its referent is here taken to guarantee the cognitive value of the picture. It is important to note that »hard icons« cannot simply be signs which are both indexical and iconic […]: there must be coincidence between their respective indexical and iconic grounds. (Sonesson 2006, 80 f.) Noch vor dem Phonographen erfunden, war die Fotografie jedenfalls die erste indexikalische Kulturtechnik. 30 Deshalb haben sich Fototheoretiker 122 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="123"?> des Zeugentums, das den analogen Aufzeichnungssystemen anhaftet, im Falle digitali‐ sierter Daten nicht aufrechterhalten werden kann. bislang fast ausschließlich mit dem Foto als Medium der Repräsentation befasst, das heißt mit dem Verhältnis zwischen Abbildung und Abgebil‐ detem, zwischen den Zeichen und den von ihnen bedeuteten Objekten. Daraus leitete sich auch ein weiteres Lieblingsthema der Fototheoretiker ab, nämlich das der Zeit (bzw. der komplexen Beziehungen zwischen eingefro‐ renem Moment, persönlicher und kollektiver Erinnerung, Vergänglichkeit und Geschichte). Auch bei den beiden wohl interessantesten Fotografiethe‐ oretikern seit Walter Benjamin (→ S. 73), bei Roland Barthes und Susan Sontag, sind dies die zentralen Motive der Betrachtung - oder besser: der melancholischen Meditation. Im Folgenden werden nun eben dieser französische Schriftsteller und Philosoph Roland Barthes (1915-1980) und die amerikanische Essayistin und Schriftstellerin Susan Sontag (1933-2004) gemeinsam betrachtet, ins‐ besondere ihre jeweils berühmt gewordenen Bücher über die Fotografie, On Photography (Über Fotografie, Sontag 1977) bzw. La chambre claire (Die helle Kammer, Barthes 1980). Dies liegt nicht nur an der gebotenen Kürze dieses Kapitels über Fotografie. Die beiden meditativen Theoretiker Barthes und Sontag waren einander auch durch einen ähnlichen Zugang zur Fotografie sowie durch persönliche Freundschaft verbunden. Susan Sontag nahm immer wieder auf Roland Barthes Bezug, wie ein Beitrag in der FAZ verdeutlicht: Roland Barthes, dem sie einen ihrer hellsichtigen Essays gewidmet hat, war einer ihrer Brüder im Geiste: »Alles, was er schrieb«, schrieb sie, »war interessant - lebhaft, voller Tempo, dicht, pointiert.« Das Porträt von Roland Barthes liest sich heute streckenweise wie ein Selbstporträt von Susan Sontag, wie wir sie kannten. »›Ah, Susan. Toujours fidele‹, waren die Worte«, schreibt sie, »mit denen er mich herzlich begrüßte, als wir einander das letzte Mal sahen. […]« (Krüger 2006, 3) Im genannten Essay, den sie über den verstorbenen Freund schrieb, stellte Sontag dessen Buch Die helle Kammer wie folgt vor: The last book is part memoir (of his mother), part meditation on eros, part treatise on the photographic image, part invocation of death - a book of piety, resignation, desire; a certain brilliance is being renounced, and the view itself is of the simplest. The subject of photography provided the great exemption, perhaps release, from ✻ Melancholische Meditationen über die Fotografie: Roland Barthes und Susan Sontag 123 <?page no="124"?> the exactions of formalist taste. In choosing to write about photography, Barthes takes the occasion to adopt the warmest kind of realism: photographs fascinate because of what they are about. And they may awaken a desire for a further divestment of the self (»Looking at certain photographs,« he writes in »Camera Lucida,« »I wanted to be a primitive, without culture.«) (Sontag 1982, 140) Was hat es mit diesem, insbesondere für einen ausgewiesenen Semiotiker, geradezu kindlich anmutenden Wunsch nach kulturloser Primitivität, Re‐ gression, nach einer bekanntermaßen unmöglichen »Rückkehr« zur Unmit‐ telbarkeit auf sich? Die Antwort auf diese Frage findet sich in einem späteren Text von Sontag. Fotos fördern, so Susan Sontag, die Nostalgie. Die Fotografie ist eine elegische Kunst, eine von Untergangsstim‐ mung überschattete Kunst. […] Jede Fotografie ist eine Art memento mori. Fotografieren bedeutet teilnehmen an der Sterblichkeit, Verletzlichkeit und Wan‐ delbarkeit anderer Menschen (oder Dinge). (Sontag 2003d, 21) Zwar belege das Foto, dass etwas einmal so und nicht anders gewesen sei, argumentiert Barthes, doch nicht nur die abgebildeten Menschen ver‐ schwänden, auch das Foto von ihnen sei »um nichts weniger sterblich« (Barthes 1989, 104). Und ohne Zweifel wird auch das Staunen über das »Es-ist-so-gewesen« verschwin‐ den. Es ist bereits verschwunden. Ich bin, ich weiß nicht, warum, einer seiner letzten Zeugen (Zeuge des UNZEITGEMÄSSEN), und dieses Buch ist seine archaische Spur. (Barthes 1989, 104) Das »Unzeitgemäße« seiner Betrachtungen, das Barthes ganz zu Recht spürt (→ S. 168), hängt mit ihrem Ausgangspunkt und Augenblick zusam‐ men. Anlass seiner Meditation ist die Vertiefung in Fotografien von seiner kürzlich verstorbenen und über alles geliebten Mutter. Die melancholische Grundstimmung des Buches ergibt sich demnach aus der Vorauswahl dessen, was Barthes an Fotografien überhaupt für betrachtungswürdig hält: Es handelt sich ausschließlich um ältere, schwarzweiße Portraits oder Schnappschüsse von Personen. Vergangenheit und Sterblichkeit drängen sich also thematisch auf. Und Barthes schreibt in einem Moment, als die Farbfotografie bereits selbstverständlich und der Siegeszug der digitalen Fotografie absehbar ist. Am Beispiel des Fotos eines zum Tode verurteilten jungen Mannes aus dem Jahr 1865 erläutert Barthes das Paradox der Fotografiebetrachtung: 124 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="125"?> Ich lese gleichzeitig: das wird sein und das ist gewesen; mit Schrecken gewahre ich eine vollendete Zukunft, deren Einsatz der Tod ist. Indem die Photographie mir die vollendete Vergangenheit der Pose […] darbietet, setzt sie für mich den Tod in die Zukunft. Was mich besticht, ist die Entdeckung dieser Gleichwertigkeit. Das Kinderphoto meiner Mutter vor Augen, sage ich mir: sie wird sterben: ich erschauere […] vor einer Katastrophe, die bereits stattgefunden hat. Gleichviel, ob das Subjekt, das sie erfährt, schon tot ist oder nicht, ist jegliche Photographie diese Katastrophe. (Barthes 1989, 106) Tod und Zeit sowie die indexikalisch fundierte Bestätigung, die von Fotos auszugehen scheint, etwas sei so und nicht anders gewesen, sind die Felder, in denen sich Barthes’ Denken kreisförmig bewegt. Wenn sich Barthes danach sehnt, ein unkultivierter Primitiver zu werden, so hängt dies mit seiner unerfüllbaren Sehnsucht nach unmittelbarer, unvermittelter Teilhabe zusammen. Dass er die Fotografie als »Paradox einer Nachricht ohne Code« (Barthes 2010, 83) bezeichnet, ist nur so zu erklären. Anders als bei […] Imitationen läßt sich in der PHOTOGRAPHIE nicht leugnen, daß die Sache dagewesen ist. Hier gibt es eine Verbindung aus zweierlei: aus Reali‐ tät und Vergangenheit. […] Die PHOTOGRAPHIE ruft nicht die Vergangenheit ins Gedächtnis zurück […]. Die Wirkung, die sie auf mich ausübt, besteht nicht in der Wiederherstellung des (durch Zeit, durch Entfernung) Aufgehobenen, sondern in der Beglaubigung, daß das, was ich sehe, tatsächlich dagewesen ist. (Barthes 1989, 86-92) Bei Susan Sontag lautet dies ganz ähnlich: »Das Foto-Dokument […] be‐ stätigt ganz einfach und bescheiden, daß der Gegenstand, den es zeigt, existiert«. (Sontag 2003a, 158) Fotos liefern Beweismaterial. Etwas, wovon wir gehört haben, woran wir aber zweifeln, scheint »bestätigt«, wenn man uns eine Fotografie davon zeigt. […] Eine Fotografie gilt als unwiderleglicher Beweis dafür, daß ein bestimmtes Ereignis sich tatsächlich so abgespielt hat. Das Bild mag verzerren; immer aber besteht Grund zu der Annahme, daß etwas existiert - oder existiert hat -, das dem gleicht, was auf dem Bild zu sehen ist. (Sontag 2003d, 11 f.) Sontag konstatiert bei Roland Barthes eine Sehnsucht nach Überschreitung des Ich, nach religiöser oder sexueller Ekstase. Es ließe sich wohl auch behaupten, die Funktion der Fotografie, an der Barthes am leidenschaftlichs‐ ten gelegen zu sein scheint, sei eine Art ontologische, epistemologische ✻ Melancholische Meditationen über die Fotografie: Roland Barthes und Susan Sontag 125 <?page no="126"?> Ekstase. Schließlich scheinen Fotos allen intellektuellen Zweifeln und Ein‐ wänden zum Trotz die Realität doch zu beglaubigen, indem sie durch eine Art Evidenzerlebnis das Heureka der Bestätigung ermöglichen, etwas sei dagewesen, und so (und nicht anders) sei es gewesen. »Wenn die PHOTOGRAPHIE«, schreibt Barthes, sich nicht ergründen läßt, dann deshalb, weil ihre Evidenz so mächtig ist. Im Bild gibt sich der Gegenstand als ganzer zu erkennen, und sein Anblick ist gewiß […]. So ging ich die Photos meiner Mutter durch, einer Spur folgend, die in diesen Schrei mündete, mit dem jede Sprache endet: »Das ist es! «: zunächst waren da einige ihrer nicht würdige Photos, die mir nur ihre bürgerliche Identität in allzu grober Weise vermittelten; dann fand ich Photos, und dies war die Mehrzahl, an denen ich ihre »individuelle Erscheinung« ablas (entsprechende, »ähnliche« Photos); schließlich stoße ich auf die PHOTOGRAPHIE aus dem Wintergarten, auf dem ich sie mehr als nur wiedererkenne (ein zu grobes Wort): auf dem ich sie wiederfinde: ein jähes Erwachen, durch keinerlei »Ähnlichkeit« ausgelöst, […] wo die Worte versagen, die seltene, vielleicht einzigartige Evidenz des »So, ja, so, und weiter nichts«. (Barthes 1989, 117 ff.) Aus dieser Betroffenheit beim Betrachten von Fotos leitet Barthes eine wichtige Unterscheidung ab, die zwischen studium und punctum. Das allge‐ meine Interesse des Betrachters am Sinn eines Fotos, an seinem Gegenstand, bezeichnet Barthes als »studium«. Im Französischen fand ich kein Wort, das diese Art menschlichen Interesses auf einfache Form zum Ausdruck brächte; doch im Lateinischen existiert, meine ich, dieses Wort: es ist das studium, was nicht, jedenfalls nicht in erster Linie, »Stu‐ dium« bedeutet, sondern die Hingabe an eine Sache, das Gefallen an jemandem, eine Art allgemeiner Beteiligung, beflissen zwar, doch ohne besondere Heftigkeit. Aus studium interessiere ich mich für viele Photographien, sei es, indem ich sie als Zeugnisse politischen Geschehens aufnehme, sei es, indem ich sie als anschauliche Historienbilder schätze: denn als Angehöriger einer Kultur (diese Konnotation ist im Wort studium enthalten) habe ich teil an den Figuren, an den Mienen, an den Gesten, an den äußeren Formen, an den Handlungen. Das zweite Element durchbricht (oder skandiert) das studium. Diesmal bin nicht ich es, der es aufsucht (wohingegen ich das Feld des studium mit meinem souveränen Bewußtsein ausstatte), sondern das Element selbst schießt wie ein Pfeil aus seinem Zusammenhang hervor, um mich zu durchbohren. […] Dies zweite Element, welches das studium aus dem Gleichgewicht bringt, möchte ich 126 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="127"?> […] punctum nennen; denn punctum, das meint auch: Stich, kleines Loch, kleiner Fleck, kleiner Schnitt - und: Wurf der Würfel. Das punctum einer Photographie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft). (Barthes 1989, 35 f.) Nun wird das erwähnte Wort Barthes’ vom »Paradox einer Nachricht ohne Code« (Barthes 2010, 83) verständlicher: »Das studium ist letztlich immer codiert, das punctum ist es nicht« (Barthes 1989, 60). Das punctum beschreibt Barthes als abhängig von der Kontingenz des Fotos, also von seinen zahl‐ losen, vom Fotografen kaum beabsichtigten, häufig ganz nebensächlichen oder gar zufälligen Details, die aber auf Betrachtende eine beinahe physische Gewalt ausüben können: Ein Detail bestimmt plötzlich meine ganze Lektüre; mein Interesse wandelt sich mit Vehemenz, blitzartig. Durch das Merkmal von etwas ist die Photographie nicht mehr irgendeine. Dieses Etwas hat »geklingelt«, hat eine kleine Erschütterung in mir ausgelöst […]. Seltsam: die tugendhafte Geste, mit der man sich der »ver‐ nünftigen« Photos bemächtigt (auf die man ein einfaches studium verwendet), ist eine faule Geste (blättern, rasch und flüchtig ansehen, trödeln und sich beeilen); die Lektüre des punctum (des »getroffenen« Photos, wenn man so sagen kann) ist hingegen kurz und aktiv zugleich, geduckt wie ein Raubtier vor dem Sprung. (Barthes 1989, 59) Das punctum ist immer emotional und überwältigend; es wirkt unmittelbar und ist frei von Moral. Wäre das deutsche Wort »Betroffenheit« nicht längst schon durch lang anhaltenden Missbrauch entwertet worden, es wäre genau der Begriff, der in seiner Doppeldeutigkeit sowohl Barthes’ punctum, also den aus dem Bild hervorschießenden Pfeil, in eine Synthese aufnehmen könnte als auch Susan Sontags existentielle Verwundung beim Anblick entsetzlicher Fotos. Die schockierende Wirkung, die Fotos noch nie zuvor gesehener Schrecken auslösen können, bezeichnet Sontag als eine Art Offenbarung, […] eine negative Epiphanie. Für mich waren dies die Aufnahmen aus Bergen-Belsen und Dachau, die ich im Juli 1945 in einer Buch‐ handlung in Santa Monica entdeckte. Nichts, was ich jemals gesehen habe - ob auf Fotos oder in der Realität -, hat mich so jäh, so tief und unmittelbar getroffen. […] Als ich diese Fotos betrachtete, zerbrach etwas in mir. Eine Grenze war erreicht, und nicht nur die Grenze des Entsetzens; ich fühlte mich unwiderruflich betroffen, verwundet. (Sontag 2003d, 25) ✻ Melancholische Meditationen über die Fotografie: Roland Barthes und Susan Sontag 127 <?page no="128"?> Für Susan Sontag scheint es kein studium zu geben. Fotos sind ihr auch nie wertfrei. Sie sind politisch, weil sie Gewalt ausüben, sich des abgebildeten Objekts bemächtigen und es bestätigen. »Fotografien erklären nicht: sie bestätigen«. (Sontag 2003c, 109) Und sie zerren verborgene Wahrheiten ans Licht. Sontag argumentiert hier mit der platonischen (→ S. 39) Unterschei‐ dung von Idee und Phänomen: »Das Realismus-Programm der Fotografie basiert letztlich auf nichts anderem als dem Glauben, daß die Wirklichkeit verborgen ist. Und da sie verborgen ist, muß sie enthüllt werden. Alles, was die Kamera protokolliert, ist Enthüllung« (Sontag 2003b, 116). »Fotografieren heißt sich das fotografierte Objekt aneignen. Es heißt sich selbst in eine bestimmte Beziehung zur Welt setzen, die wie Erkenntnis - und deshalb wie Macht - anmutet« (Sontag 2003d, 10), schreibt Sontag. Während er fotografiere, könne der Fotograf nicht ins Geschehen eingreifen, egal wie entsetzlich oder ungerecht dieses sei. Allerdings hätte er ja immer die Option, die Kamera niederzulegen und Handelnder zu werden. Den Akt des Fotografierens bezeichnet Sontag deshalb als mehr als nur passives Beobachten. Ähnlich dem sexuellen Voyeurismus ist er eine Form der Zustimmung, des manchmal schweigenden, häufig aber deutlich geäußerten Einverständnisses damit, daß alles, was gerade geschieht, weiter geschehen soll. Fotografieren bedeutet an den Dingen, wie sie nun einmal sind, interessiert zu sein, daran, daß ihr status quo unverändert bleibt (wenigstens so lange, wie man zu einer »guten« Aufnahme braucht). Es bedeutet, im Komplott mit allem zu sein, was ein Objekt interessant, fotografierenswert macht, auch - wenn das gerade von Interesse ist - mit dem Leid und Unglück eines anderen Menschen. (Sontag 2003d, 18) Dessen seien sich die meisten Fotografierenden allerdings nicht bewusst. Sie tendierten dazu, ihre Arbeit als ideologiefrei misszuverstehen. »Neugierig, innerlich unbeteiligt und routinemäßig die Realität begaffend, in der andere Menschen leben, arbeitet der allgegenwärtige Fotograf, als ob seine Tätig‐ keit jenseits aller Klasseninteressen und seine Perspektive allgemeingültig wäre.« (Sontag 2003 f, 57) Letztlich dient Sontag die Fotografie dazu, die Beziehungen zu erläutern, die zwischen Aneignung, Macht, Gewalt und Besitz bestehen: »Menschen fotografieren heißt ihnen Gewalt antun, indem man sie so sieht, wie sie selbst sich niemals sehen, indem man etwas von ihnen erfährt, was sie selbst nie erfahren; es verwandelt Menschen in Objekte, die man symbolisch besitzen kann.« (Sontag 2003d, 20) 128 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="129"?> Die fotografisch vermittelte Erkenntnis der Welt ist dadurch begrenzt, daß sie, obzwar sie das Gewissen anzustacheln vermag, letztlich doch nie ethische oder politische Erkenntnis sein kann. […] Es ist eine Erkenntnis zu Ausverkaufspreisen - ein Abklatsch der Erkenntnis, ein Abklatsch der Weisheit, wie ja auch der Akt des Fotografierens nur scheinbare Aneignung, scheinbare Vergewaltigung ist. (Sontag 2003d, 29) Dahinter steht letztlich der ebenso sehnliche wie unerfüllbare Wunsch, der Realität habhaft zu werden: In der modernen Gesellschaft äußert sich die Unzufriedenheit mit der Realität in dem an Besessenheit grenzenden Verlangen, diese Welt zu reproduzieren. Als ob die Welt allein dadurch, daß man die Welt in Gestalt eines Objekts - festgehalten auf einem Foto - betrachtet, wirklich real […] wäre. Die Fotografie weckt im Menschen unweigerlich das Bedürfnis, eine Art Patronat über die Realität auszuüben. (Sontag 2003 f, 82) Und wie der Dokumentarfilmer Errol Morris in seinen hochintelligenten und wunderschönen Buch Observations on the Mysteries of Photography. Believing Is Seeing, hinzufügt, weckt sie »the hope that […] perhaps we […] can be saved from oblivion by an image that reaches beyond our lives, that communicates something undying and transcendent about each one of us.« (Morris 2011, 271) Der Kommunikationsphänomenologe Vilém Flusser (→ S. 183) schließlich wird diese Hoffnung als die Motivation dafür identifizieren, weshalb Menschen überhaupt kommunizieren (anstatt einfach den Mund zu halten). Zusammenfassung: Die Fotografie gilt als die erste indexikalische Kulturtechnik: Die Signi‐ fikanten eines Fotos werden hier physisch vom Signifikat verursacht. Doch der Glaube an die Objektivität von Fotografien war immer schon ein Irrtum, weil bei der Entstehung jedes Fotos zahllose Entscheidungen getroffen werden. Neben Walter Benjamin gelten der französische Semiotiker Roland Barthes und die amerikanische Essayistin Susan Sontag als besonders anregende Fotografietheoretiker. Beide wählen einen meditativen, me‐ lancholischen Zugang zur Fotografie: Fotos bestätigen die Realität, weil sie etwas zeigen, das existiert hat. Sie thematisieren aber stets auch die ✻ Melancholische Meditationen über die Fotografie: Roland Barthes und Susan Sontag 129 <?page no="130"?> Vergänglichkeit und den Tod. Barthes unterscheidet bei der Wirkung von Fotos zwischen einem allgemeinen Interesse des Betrachters, dem studium, und einem vom Foto selbst ausgehenden, intensiven Stich, dem punctum. Sontag kritisiert die ideologische Naivität von Fotografen und hebt die affirmative Gewalt hervor, mit der sich Fotos Realität aneignen und sich gefügig zu machen versuchen. Verständnisfragen zur Vertiefung: ● Erklären Sie den Unterschied zwischen Signifikant und Signifikat! (leicht) ● Wie würden Sie die Beziehung beschreiben, in der Roland Barthes und Susan Sontag zueinander standen? (leicht) ● Was ist ein hard icon ? (leicht) ● Wie hat das Aufkommen der digitalen Fotografie die Beziehung zwischen Fotos und der von ihnen abgebildeten Realität verändert, und warum? (mittel) ● Was ist Barthes und Sontag in Bezug auf ihr Verständnis der Fotografie gemein? Worin unterscheiden sie sich? (mittel) ● Weshalb kommen der Zeit und dem Tod nach Ansicht von Barthes eine besondere Rolle bei der Betrachtung von Fotos zu? (mittel) ● Erklären Sie die Begriffe studium und punctum! (mittel) ● Ist jedem Foto ein punctum eigen? (mittel) ● Weshalb betrachtet Susan Sontag das Fotografieren als Vergewalti‐ gung? Weshalb relativiert sie dies zugleich? (mittel) ● Welche Konsequenzen könnte es für die Malerei gehabt haben, dass sich die Fotografie als neutrales, wissenschaftliches Instrument präsentierte, mit dessen Hilfe sich die Natur selbst abbilde? (schwer) ● Wessen Argumentation ist rationaler; wer erscheint Ihnen emotio‐ naler oder impulsiver - Barthes oder Sontag? (schwer) ● Stimmen Sie Errol Morris zu und seiner Begründung, weswegen wir mit der Fotografie ganz bestimmte Hoffnungen verbinden? (schwer) 130 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="131"?> 31 Dieses Zitat wird zwar Marshall McLuhan zugeschrieben, ist aber wahrscheinlich älteren Ursprungs. Der Konstruktivismus I would not have seen it, if I had not believed it. 31 Errol Morris gab seinem Buch den Titel Believing is Seeing in Umkehrung der geläufigen idiomatischen Wendung seeing is believing. Seine zentrale Aussage: What we see is not independent of our beliefs. Photographs provide evidence, but no shortcut to reality. It is often said that seeing is believing. But we do not form our beliefs on the basis of what we see; rather, what we see is often determined by our beliefs. Believing is seeing, not the other way around. (Morris 2011, 93) Errols Methode ist phänomenologisch. Doch die hier zitierte Ausgangs‐ position von Morris’ Untersuchungen ist von einer konstruktivistischen Vorstellung davon geprägt, wie menschliche Wahrnehmung funktioniert. Kenntnisse konstruktivistischen Denkens sind Voraussetzung für ein Ver‐ ständnis etwa der Medientheorie Niklas Luhmanns (→ S. 136), aber auch anderer zeitgenössischer Diskurse. Konstruktivistische und systemtheore‐ tische Ansätze sind einander durch viele Gemeinsamkeiten verbunden. Es sind hier drei Vorbemerkungen nötig: 1. »Konstruktivismus« ist ein Sammelbegriff für unterschiedliche Ansätze. Es gibt weder ein in sich geschlossenes konstruktivistisches Theorie‐ gebäude noch etwa ein Lehrbuch, dem »der Konstruktivismus« zu entnehmen wäre. Vielmehr handelt es sich um ein Denken, das gewisse Voraussetzungen und Grundannahmen teilt, »um einen Diskurs, in dem viele Stimmen aus ganz unterschiedlichen Disziplinen zu hören sind« (Schmidt 1994, 4). 2. Die Positionen des Radikalen Konstruktivismus sind heftig umstritten. 3. Konstruktivistisches Denken an sich ergibt noch keine Medientheorie. Es hat wesentlich tiefer gehende, allgemeinere Bedeutung. Weil es aber deshalb auch gewaltigen Einfluss auf zeitgenössische Medientheorien ausgeübt hat, muss es hier in Kürze skizziert werden. Der Konstruktivismus 131 <?page no="132"?> Der erkenntnistheoretische Radikale Konstruktivismus Was also ist Konstruktivismus? Der Konstruktivismus versteht den Men‐ schen bzw. sein Gehirn oder sein Bewusstsein als geschlossenes System. Unsere Sinnesorgane gehören zu diesem System. Das Nervensystem ent‐ steht durch Selbstorganisation (Autopoiesis), indem es Annahmen über seine Umwelt aufstellt, die im günstigen Fall durch Handlungserfolge bestätigt werden. Daraufhin werden die gemachten Annahmen als bestätigt (vali‐ diert) betrachtet - nicht hinsichtlich ihres Wahrheitsgehaltes, sondern lediglich hinsichtlich ihrer Brauchbarkeit (Viabilität). Bestandteile der Umwelt, zum Beispiel ein Baum, können nicht in das System eindringen (sonst wären sie keine Umwelt mehr). Aber es kann auch nicht einmal ein Abbild eines Baums in das System eindringen, denn das System ist ja in sich geschlossen. Stattdessen geben unsere Augen einen Impuls an das Gehirn ab. Mehr »weiß« das Gehirn nicht. Mehr können wir nicht wissen. Zu unserer Welt gehört nur der im Gehirn verrechnete Impuls, von dem wir annehmen, dass er einer Welt da draußen und einem Objekt in ihr entspricht. Wissen jedoch können wir dies nicht. Folglich kennen wir keine Realität jenseits der von uns konstruierten Wirklichkeit: Kein System kann von außen auf sich selbst schauen. Hinzu kommt, dass unsere Sinne für die meisten Phänomene der Welt blind sind. Wir können weder infrarote Strahlung sehen, noch besitzen wir Sinnesorgane für Magnetismus oder Radioaktivität. Die wenigen Daten, die unsere Sinne aufnehmen können, werden zudem noch rigoros gefiltert. Und über 90 % der Daten, die unser Gehirn verarbeitet, stammen gar nicht aus der äußeren Umwelt, auch nicht indirekt, sondern aus unserem Körper. Für das Gehirn allerdings sind alle anderen Teile unseres Körpers ebenso Umwelt wie alles, was sich außerhalb des Körpers befindet. Aus den sehr spärlichen Daten über unsere Umwelt, die also letztlich unser Gehirn erreichen, konstruiert dieses nun ein Bild von ihr. Dabei bildet sich aber nicht die Realität an sich ab, sondern der Beobachter schafft aktiv und schöpferisch eine dann als »Wahrnehmung« empfundene Konstruktion. Die Kriterien für diese Wahrnehmung sind vor allem kultureller Art. Was als Wirklichkeit konstruiert und empfunden wird, unsere Wahrnehmungs-, Erkenntnis- und Sinnhaftigkeitsmodelle, hängt außer von biologischen Parametern vor allem von der Sozialisation des Individuums ab. Und natürlich ist uns der Konstruktionsvorgang selbst nicht bewusst. Er verläuft implizit und intuitiv, 132 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="133"?> wie der konstruktivistische Philosoph und Kommunikationswissenschaftler Siegfried J. Schmidt erklärt: Wirklichkeitskonstruktionen von Aktanten sind subjektgebunden, aber nicht subjektiv im Sinne von willkürlich, intentional oder relativistisch. Und zwar deshalb, weil die Individuen bei ihren Wirklichkeitskonstruktionen […] immer schon zu spät kommen: Alles, was bewußt wird, setzt vom Bewußtsein aus unerreichbare neuronale Aktivitäten voraus; alles, was gesagt wird, setzt bereits das unbewußt erworbene Beherrschen einer Sprache voraus; worüber in welcher Weise und mit welchen Effekten gesprochen wird, all das setzt gesellschaftlich geregelte und kulturell programmierte Diskurse in sozialen Systemen voraus. Insofern organisieren diese Prozesse der Wirklichkeitskonstruktion sich selbst und erzeugen dadurch ihre eigenen Ordnungen der Wirklichkeit(en). (Schmidt 2000, 47 f.) Deshalb ist unsere Situation mit der eines Flugzeugs im Blindflug ver‐ gleichbar. Das Bewusstsein ist der Pilot, der sich auf die von seinen Mess‐ instrumenten gelieferten Daten verlassen muss. Solange die Instrumente funktionieren, kann er zwar sinnvoll reagieren und das Flugzeug sicher fliegen. Er kann aber niemals sagen, ob es da draußen wirklich eine Welt gibt, oder gar, welche Beschaffenheit diese Welt hat, denn das kognitive System ist autonom. Der Pilot könnte sich ja ebenso gut in einem Flugsimulator befinden. Er hat einfach keine Möglichkeit, dies zu überprüfen (es sei denn, er zerstört das System durch gewollt herbeigeführten Absturz). Wie die Welt aussieht, falls es sie denn gibt, welche Farbe etwa ihre Oberfläche hat, ob es Farben überhaupt gibt: All dies ist dem Piloten ganz gleichgültig. Er konstruiert aus wenigen Daten ein Modell von einer Welt, das ihm einen gelungenen Flug und damit das Überleben ermöglicht. Diese Welt wird also nicht entdeckt, sondern erfunden. Der Geruch einer Blume in 10.000 Metern Tiefe etwa spielt keine Rolle, während wir die Welt im Blindflug erfinden, obwohl er für eine Beschreibung dieser Welt durchaus relevant wäre. Der sogenannte Radikale Konstruktivismus stellt nun eine Welt außerhalb des beobachtenden Bewusstseins in Zweifel. Genauer gesagt: Ob es diese Welt gibt und wie sie gegebenenfalls beschaffen ist, ist für ihn keine relevante Frage mehr, denn wenn es Realität gäbe, wäre sie uns kognitiv ohnehin nicht zugänglich. Wir wissen zwar, dass es einen Beobachter gibt, nicht aber, welcher Realitätsgrad dem von ihm Beobachteten zukommt. Für den radikalen Konstruktivisten ist jedoch gar nicht wichtig, ob unsere Vorstellungen von der Welt zutreffen, denn das lässt sich nicht überprüfen. Der Konstruktivismus 133 <?page no="134"?> 32 Die Kybernetik untersucht Systeme auf ihre Regelungs- und Steuerungsmechanismen. Als ihr Begründer gilt der amerikanische Mathematiker Norbert Wiener, der den Begriff 1947 prägte. Illusion und Realität sind nicht unterscheidbar. Entscheidend ist vielmehr, dass sich die Vorstellungen bewähren. Sie müssen also so passen, so viabel sein, dass sie dem Individuum die Handlungsfähigkeit und das Überleben ermöglichen oder, systemtheoretisch gesprochen, dem System die Selbster‐ haltung. Die vom Piloten aus unserem Beispiel konstruierte Welt ist genau dann viabel, wenn sie ihm Reaktionen ermöglicht, die zur Erhaltung des Systems »Flugzeug« führen. Konstruktivistisches Denken fragt also nicht nach einem objektiven oder essenziellen Wesen der Dinge, sondern untersucht den Akt des Erkennens selbst, welches als aktiver Vorgang, als Projektion von Daten, verstanden wird. Damit reiht sich sein Ansatz in die von Kant (→ S. 40) angestoßene Tradition des Fragens nach der Möglichkeit von Erkenntnis ein. Für unsere Wirklichkeitskonstruktionen wird die Sprache als wesentliche Vorausset‐ zung und wichtigstes Gestaltungselement verstanden. Deshalb kann als Voraussetzung für die Entwicklung konstruktivistischen Denkens nicht nur das Aufkommen der Kybernetik als Wissenschaft 32 betrachtet werden, sondern ganz entscheidend auch die linguistische Wende, auf die später eingegangen werden soll (→ S.-186). Konstruktivistische Medientheorie Der Konstruktivismus hat eine lange philosophische Vorgeschichte, deren Beginn wohl spätestens auf Platons Ideenlehre datiert werden kann. Neu sind dagegen seine Radikalisierung infolge der Entstehung der Kybernetik als neuer Wissenschaft sowie die Anwendung konstruktivistischen Denkens auf Medien und auf den Journalismus. Das traditionelle Konzept von Berichterstattung, Journalismus und Me‐ dien sah vor, dass es eine Realität gibt, die auf die Medien und ihre Kanäle eindringt, von ihnen gefiltert und dann an Rezipienten weitergereicht wird. Der Konstruktivismus hat diese Vorstellung auf den Kopf gestellt: Indem sie sie publizieren, erzeugen Medien demnach Wirklichkeiten, und aus diesen Medienwirklichkeiten konstruieren Mediennutzer dann ihre Rezipientenwirklichkeiten. Sie sind es, die die Bedeutung einer Botschaft bestimmen. Dies ist ein ganz entscheidendes Argument gegen das Kom‐ 134 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="135"?> munikationsmodell von Shannon und Weaver (→ S. 85) und gegen die Paket- und Transportmetapher von Kommunikation. Rezipienten werden nun eher als Nutzer betrachtet, die sich an ein Medium anschließen und mit oder in ihm ihre Wirklichkeit herstellen. Durch interaktive, nutzerge‐ steuerte Simulationstechniken wie Virtual Reality ist diese systemische und relationale Beziehung zwischen der Funktion von Medientechnik und der Intentionalität ihrer Nutzer auch in der verwirklichten Medienpraxis unübersehbar geworden. Im Detail sind Medien wie folgt an der Konstruktion von Wirklichkeit beteiligt: Die allermeisten Ereignisse, die sich in der Welt zutragen, entge‐ hen unserer Wahrnehmung. Was von den Medien zur Berichterstattung aufgegriffen wird, ist das Ergebnis eines Selektionsprozesses. Was wir davon rezipieren, ist mehr oder weniger zufällig, und was davon unser Bewusstsein erreicht, kaum vorhersagbar. Anschließend setzt dann noch der oben beschriebene Datenverarbeitungsprozess im Gehirn ein, sodass das Ergebnis nicht mehr ernsthaft als ein Abbild der Welt angesehen werden kann. Was wir über die Welt zu wissen glauben, zum Beispiel über die Unabhängigkeitsbestrebungen in Tibet, beruht im Grunde auf nur sehr wenigen von uns rezipierten Nachrichten, welche ihrerseits auf einer sehr dünnen Faktenbasis aus zweiter oder dritter Hand beruhen und das Ergebnis eines wiederholten Prozesses der Zuweisung von Wichtigkeit sind. Doch obwohl die Wirklichkeit, die wir in einem weitgehend unbewussten Vorgang konstruieren, subjektiv ist, ist sie nicht ganz willkürlich. Denn ein perma‐ nenter Prozess kultureller und sozialer Abstimmung oder Synchronisation sorgt für ein Minimum an Konsens, an intersubjektiver Übereinstimmung (bis hin zur massenmedialen Gleichschaltung). Der Konstruktivismus 135 <?page no="136"?> ✻ Teilnahmsloser Beobachter dritter Ordnung: Niklas Luhmanns Systemtheorie der Medien Vorschau: ● Die Grundzüge von Luhmanns Systemtheorie ● Die Systeme und ihre Medien ● Kommunikationsmedien und Verbreitungsmedien ● Das mediale Substrat und die Differenz Medium/ Form als Medium ● Die Realität der Massenmedien Einander kennen? Wir müßten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren. (Büchner 1980, 8 [I,1]) Verstehen ist praktisch immer ein Mißverstehen ohne Verstehen des Miß. (Luhmann 2009, 118) Von der Gemachtheit unserer Vorstellungen von der Welt, wie sie der Konstruktivismus herausgearbeitet hat, geht auch die Systemtheorie aus. Sie spitzt diese Vorstellung in gewisser Weise sogar noch weiter zu. Ihr für unsere Zusammenhänge weitaus wichtigster Vertreter ist der Soziologe Niklas Luhmann. Geld, Druck, Funk, Glaube, Kunst, Liebe, Macht, Recht, Schrift, Sprache und Wahrheit: Das alles sind in den Augen Luhmanns (1927- 1998) Medien. Schon dies zeigt, dass es sich bei der maßgeblich von ihm entwickelten Systemtheorie nicht in erster Linie um eine Medientheorie handeln kann, obwohl der Begriff des »Mediums« in dieser Theorie eine zentrale Rolle spielt. Kompliziert wird die Lage weiter dadurch, dass Luhmanns Theorie auch für die klassischen Medientheorien, wie sie in den vorstehenden Ka‐ piteln behandelt worden sind, Bedeutung besitzt - und dass noch dazu auch innerhalb der Systemtheorie selbst mit unterschiedlichen Medienbegriffen operiert wird. Im Folgenden soll nun der Versuch unternommen werden, in aller Kürze etwas Übersichtlichkeit in diese Wirrnis zu bringen. Bei der Systemtheorie, wie sie von Niklas Luhmann ausgearbeitet worden ist, handelt es sich um eine Großtheorie mit sehr allgemeinem, umfassendem Anspruch. Sie erklärt sich für gültig für Systeme verschiedenster Arten: biologische (z. B. eine Zelle oder ein Organismus), technische (z. B. eine 136 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="137"?> Maschine), soziale (z. B. ein Verein oder die Gesellschaft) oder psychische (z. B. ein Bewusstsein). Dabei entwickelt Luhmanns Systemtheorie die Ansätze des österreichischen Biologen und Systemtheoretikers Ludwig von Bertalanffy (1901-1972) sowie des amerikanischen Soziologen Talcott Parsons (1902-1979, → S. 115) weiter. Sie führt die Wissenschaft der Kybernetik (Norbert Wiener, Heinz von Foerster) und konstruktivistische Erkenntnistheorien (Humberto Maturana, Francisco Varela, Siegfried J. Schmidt) zu einem Theoriegebäude zusammen. Systeme bestehen laut Luhmanns Theorie, vereinfacht gesagt, aus Bezie‐ hungen ihrer Elemente zueinander sowie aus der Differenz des sich so konstituierenden und reproduzierenden (autopoietischen) Gebildes zu seiner Umwelt. Diese Umwelt kann weitere Systeme enthalten, aus deren jeweiliger Sicht jedoch alle anderen Systeme wiederum lediglich Umwelt sind. Aus Sicht jedes Systems besteht die Welt also aus ihm selbst und Umwelt. Durch Erzeugung und Unterhaltung der Differenz zu seiner Umwelt erhält sich das System. Das System ist operativ geschlossen. Das heißt, seine Operationen finden nur in ihm selbst und für es selbst statt: »Als operativ geschlossen sollen Systeme bezeichnet werden, die zur Herstellung eigener Operationen auf das Netzwerk eigener Operationen angewiesen sind und in diesem Sinne sich selbst reproduzieren.« (Luhmann 1997, 44) Dabei gilt, »daß Systemgrenzen operativ nicht überschritten werden können.« (Luhmann 2009, 126) Genau deshalb ist Verstehen immer selbstgesteuert und »praktisch immer ein Mißverstehen ohne Verstehen des Miß«, wie eingangs schon zitiert. So, wie die Grenzen des Piloten das Cockpit oder eben der Flugsimulator sind, müssen im Grunde »die Schädeldecken« im obigen Zitat von Georg Büchner - aus einer sehr vereinfachenden und zuspitzenden Perspektive - als die Grenzen unseres Denkens gelten. »Aber ebenso gilt auch, daß jedes beobachtende System dies reflektieren kann. Es sieht auf der Innenseite seiner Grenze, daß es eine Außenseite geben muß, denn sonst wäre die Grenze keine Grenze.« (Luhmann 2009, 126) Von außen kommende Reize können zwar wahrgenommen werden, jedoch nur als Irritationen an der Innenseite der Systemgrenze zur Umwelt. Diese Irritationen können in Informationen umgewandelt werden, deren Aufgabe es ist, das System zu erneuern und zu stabilisieren. Information ist - hier macht sich Luhmann Gregory Batesons (→ S. 262) Definition zu Eigen - »irgendein Unterschied, der bei einem späteren Ereignis einen Unterschied ausmacht« (Bateson 1981, 488). Sie ist nur dann relevant, ✻ Teilnahmsloser Beobachter dritter Ordnung: Niklas Luhmanns Systemtheorie der Medien 137 <?page no="138"?> wenn sie Anschlussmöglichkeiten für weiterführende Kommunikationen ermöglicht. Soziale Systeme sind selbstreferentiell, sie stellen also Beziehungen zu sich selbst her. Gesellschafssysteme bilden eine Untergruppe sozialer Systeme. Moderne Gesellschafen gliedern sich Luhmann zufolge nicht in erster Linie stratifikatorisch, das heißt nach Klassen oder Schichten, sondern funktional. Damit ist gemeint, dass sie sich in gleichrangige Teilsysteme ausdifferenzie‐ ren, die miteinander strukturell eng gekoppelt sind - im Gegensatz zum System mit seiner Umwelt. Zu diesen spezialisierten Funktionssystemen zählen die Erziehung, die Familie (bzw. Intimbeziehung), die Kunst, die Politik, das Recht, die Religion, die Wirtschaft, die Wissenschaft und die Massenmedien. Jedes dieser Funktionssysteme besitzt eine ihm eigene Unterscheidung, einen Code (z. B. die Wissenschaft: wahr/ falsch; das Recht: Recht/ Unrecht). www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Stroehl__Medientheorien_kompakt___[Druck-PDF]/ 28.04.2014/ Seite 129 Niklas Luhmann 129 funktional. Damit ist gemeint, dass sie sich in gleichrangige Teilsysteme ausdifferenzieren, die miteinander strukturell eng gekoppelt sind- - im Gegensatz zum System mit seiner Umwelt. Zu diesen spezialisierten Funktionssystemen zählen die Erziehung, die Familie (bzw. Intimbeziehung), die Kunst, die Politik, das Recht, die Religion, die Wirtschaft, die Wissenschaft und die Massenmedien. Jedes dieser Funktionssysteme besitzt eine ihm eigene Unterscheidung, einen Code (z. B. die Wissenschaft: wahr/ falsch; das Recht: Recht/ Unrecht). Funktionssysteme moderner Gesellschaften Systeme soziale Systeme Gesellschaften moderne Gersellschaften Funktionssysteme: Kunst, Politik, Recht, Religion, Wirtschaft, Wissenschaft Abbildung 11: Systeme nach Niklas Luhmann Abbildung 11: Systeme nach Niklas Luhmann 138 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="139"?> 33 Glaube, Kunst und Recht sind weitere Kommunikationsmedien. Soziale Systeme erschaffen und erhalten sich aus sich selbst heraus (= Autopoiesis). Sie und ihre Funktionssysteme bestehen also weder aus in ihnen Handelnden (z. B. Menschen, Personen) noch aus deren Handlungen. Stattdessen sind es die Operationen des Systems selbst, die es produzieren und reproduzieren. In sozialen Systemen sind diese Operationen Kommuni‐ kationen. Daher ist eine Voraussetzung für die Entstehung und Erhaltung des Systems, dass Kommunikationen aneinander anschließen können und so ein Kontinuum, einen Zusammenhang stiften. Massenmedien etwa »wenden […] fortlaufend neue Kommunikation auf die Resultate bisheriger Kommu‐ nikation an« (Luhmann 2009, 121). Das Problem ist, wie man von einer Kommunikation zu einer nächsten kommt; und dies auch dann noch, wenn das Gesellschaftssystem hochkomplex und für sich selbst intransparent geworden ist und jeden Tag massenhaft Varietät aufnimmt und als Irritation in Information überführen muß. (Luhmann 2009, 122) Gegen die Umwelt hin grenzt sich das System ab, indem es die Kommuni‐ kation mit ihr stark einschränkt. Hingegen ist Kommunikation in seinem Inneren für das Fortbestehen des Systems von entscheidender Bedeutung. Um die Wahrscheinlichkeit von Kommunikation zu erhöhen, gibt es sym‐ bolisch generalisierte Kommunikationsmedien wie Geld, Liebe, Macht und Wahrheit. 33 Im Grunde handelt es sich bei ihnen um innerhalb des Systems allgemeingültige Symbole, die in ihm verschiedene Funktionen wahrneh‐ men und gegenüber konkreten Inhalten indifferent und vom Kontext möglicher Verwen‐ dung unabhängig sind, um die soziale Differenz zwischen den Kommunikati‐ onsteilnehmern […] überbrücken zu können. Diese Symbole müssen vom Kom‐ munikationsprozeß selbst unterscheidbar sein; sie müssen es möglich machen, identischen Sinn gegenüber verschiedenen Partnern in verschiedenen Situatio‐ nen festzuhalten. (Künzler 1987, 324) Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien sorgen, kurz gesagt, für Kohärenz in der Gesellschaft, indem sie ein Wertesystem bereitstellen. Wahrheit z. B. ist das Kommunikationsmedium des Funktionssystems Wis‐ senschaft. Sein Code ist wahr/ unwahr. Geld/ Eigentum ist das Kommunikati‐ onssystem des Funktionssystems Wirtschaft, dessen Code Haben/ Nicht-Ha‐ ben ist. Was jedoch im Einzelfall wahr oder unwahr, Recht oder Unrecht ✻ Teilnahmsloser Beobachter dritter Ordnung: Niklas Luhmanns Systemtheorie der Medien 139 <?page no="140"?> 34 Die Schrift, der Druck und der Funk sind, Luhmann zufolge, Verbreitungsmedien. ist, was man haben oder nicht haben sollte, das legen die Funktionssysteme nicht fest. Unterstützt wird die Anschlussmöglichkeit von Kommunikationen nicht nur durch symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien, sondern auch durch das Auftreten und Wirken von Verbreitungsmedien  34 . Sie erst sorgen für eine flächendeckende Verbreitung der hergestellten Kommunikation innerhalb des Systems. Die wichtigsten und wirkungsvollsten unter ihnen wiederum sind die Massenmedien. Was aber versteht Luhmann unter einem »Medium«? Zunächst einmal bedeutet der Begriff des »Mediums« bei Luhmann ein mediales Substrat, das aus lose gekoppelten Einzelelementen besteht, beispielsweise die Luft oder das Alphabet. Die Luft kann Geräusche vermitteln, weil sie selbst nicht zu Geräuschen kondensiert. Man hört die Uhr ticken nur deshalb, weil die Luft selbst nicht tickt. […] Man liest nicht die Buchstaben, sondern mit Hilfe des Alphabets die Worte; und wenn man das Alphabet selbst lesen will, muß man es alphabetisch ordnen. (Luhmann 2002, 301) Aus dem medialen Substrat treten vorübergehend Formen hervor, konkrete Konstellationen, strikt gekoppelte Verbünde einiger dieser Elemente, die schließlich wieder in die gering strukturierte Masse des Mediums zurück‐ fallen. Das Medium ist der Horizont, die nie erreichbare potenzielle Vollzäh‐ ligkeit aller Formen, die es ermöglicht. Es ist das Substrat, aus dem gekoppelt und in das hinein wieder entkoppelt wird. Diese für die Funktionsweise von Medien grundlegende Idee übernimmt Luhmann von Fritz Heider, der sie bereits 1926 in seinem Aufsatz Ding und Medium veröffentlichte. Am Beispiel eines Steins beschrieb Heider die Beziehung zwischen der Form (die bei ihm noch »Geschehen« heißt) und dem medialen Substrat, aus dem sie sich herausbildet: Wir können sagen, das Medium und der Stein, das sind die Substrate des Gesche‐ hens […]. Das Substrat hat gar keinen eigenen Charakter, alles wird übernommen und treu weitergeleitet, das Substrat hat viel Geschehensmöglichkeiten in sich. Welche Möglichkeit sich verwirklicht, hängt nicht von inneren, sondern nur von äußeren Bedingungen ab […], die spezielle Beschaffenheit des Mediums ist für die Form des Geschehens weitgehend gleichgültig. […] Um auf etwas Anderes 140 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="141"?> hinweisen zu können, muß das Zeichen diesem Anderen, dem Bezeichneten, enge zugeordnet sein. Das Zeichen muß auf etwas Bestimmtes hinweisen, es darf nicht allein in der Welt stehen, es muß an Anderes gekoppelt sein und zwar eindeutig an etwas Bestimmtes Anderes. Diese Eigenschaften des Zugeordnetseins finden wir nun auch wirklich an den Mediumvorgängen. (Heider 1999, 323-327) Bei Fritz Heider handelt es sich um einen österreichischen Gestaltpsycho‐ logen, der eine frühe Theorie von der engen Kopplung der Elemente eines medialen Substrats entwarf, quasi als Abfallprodukt seiner Bemühungen um eine Psychologie des Alltags. Heider gilt heute als Wegbereiter einer Bewusstwerdung der umfassenden Bedeutung von Medialität sowie neben Talcott Parsons als vielleicht wichtigster Einfluss auf Luhmann und als dessen unmittelbarer Ideengeber. Ein Ding, so definiert Heider, ist wahrnehmbar in einem diese Wahrnehmung vermittelnden Medium. Weil sich das Ding der Wahrnehmung verdankt, die ihrerseits nur durch das Medium möglich ist, kann kein Ding außerhalb eines Me‐ diums sein. Medien sind so immer ein Mittleres, etwas, das sich zwischen anderen Dingen bewegt. Eben als solche Störenfriede betrachtet Heider zunächst Medien, denn sie können die Wahrnehmung von Objekten trüben, so z. B. das Fensterglas: »in ihm werden die Zuordnungen der Lichtwellen zu den Dingen gestört …«. Heider stellt zwar den Begriff des Medialen inklusive seiner Effekte heraus, unterwirft ihn aber zugleich einer Ökonomie, die das Bedrohungspotential des Medialen für die Form des Menschen (Heider) oder des Systems (Luhmann) bannt. (Heider 2005, Buchrückseite) Die strikte Kopplung von Elementen des Substrats kann man sich gut an‐ hand von Lettern aus einem Setzkasten veranschaulichen, die zu sinnhaften Formen, zu Wörtern, zusammengestellt werden, um dann wieder in die Bedeutungs- und Strukturlosigkeit eines Haufens von Lettern zurückzufal‐ len. »Die Buchstaben lassen sich auf mannigfaltige Art zusammensetzen, weil sie nicht zusammengekoppelt sind, allgemeiner ausgedrückt, weil sie voneinander unabhängig sind.« (Heider 2005, 47 f.). Oder man denkt an Sand, der vorübergehend die Form eines Fußabdrucks annimmt, von der nächsten Welle jedoch wieder entkoppelt, als Form zerstört und in einen Zustand der größeren Ungeordnetheit zurückversetzt wird, also wieder zu medialem Substrat wird. Wichtig ist, dass für Heider wie für Luhmann das Medium und die Form aus denselben Elementen bestehen, aufeinander bezogen sind und sich nur aufgrund ihrer loseren oder strikteren Kopplung, ✻ Teilnahmsloser Beobachter dritter Ordnung: Niklas Luhmanns Systemtheorie der Medien 141 <?page no="142"?> also durch mehr oder weniger geordnete Zustände, unterscheiden. Doch selbst dieser Unterschied zwischen Form und Medium ist nur vorübergehend und relativ, denn auch der Sandstrand oder der Setzkasten sind keineswegs chaotisch, sondern schon dafür vorstrukturiert, Form annehmen zu können. Die lose Kopplung und leichte Trennbarkeit der Elemente des Mediums erklärt, daß man nicht das Medium selbst wahrnimmt, sondern die Form, die die Elemente des Mediums koordiniert. Man sieht nicht die Ursache des Lichts, die Sonne, sondern man sieht im Licht die Dinge. (Luhmann 2002, 301) Nur in ihrer Wirkung also wird, Luhmann zufolge, Form erkennbar. Diese Form schafft Sinn, indem sie aus dem lose Strukturierten etwas unterschei‐ det, dem sie eine striktere Struktur gibt. Die kleinste operative Einheit in Luhmanns Systemtheorie ist deshalb Sinn als Medium. Als »Medium« aber bezeichnet Luhmann - und hier steigert sich die Begriffsverwirrung noch weiter - sowohl das mediale Substrat, aus dem sich durch strikte Kopplung vorübergehend Formen aktualisieren, als auch die zusammengehörige Dua‐ lität beider, die Einheit der aufeinander bezogenen Differenz von medialem Substrat und Form. Als diese operative Differenz zwischen Medium und Form, ist der Sinn das allgemeinste Medium; er ist eine Grundunterschei‐ dung, die das System trifft, um etwas zu realisieren (und anderes eben nicht). Die Differenz von Medium und Form wird also bei Luhmann selbst medial. Hier nun ein Überblick über die verschiedenen Bedeutungen, die dem Begriff »Medium« bei Niklas Luhmann zukommen: Luhmanns Medien Begriff Synonyme Beispiele Funktion Symbolisch ge‐ neriertes Kom‐ munikations‐ medium Steuerungsme‐ dium, Erfolgsme‐ dium Geld, Kunst, Liebe, Macht, Wahrheit Erhöhung der Chan‐ cen, dass in den Funk‐ tionssystemen an sich unwahrscheinli‐ che Kommunikatio‐ nen angenommen werden Verbreitungs‐ medium Medium Bücher, Fernsehen, Sprache, Telefon, Zeitung Bestimmung und Er‐ weiterung des Emp‐ fängerkreises einer Information, Über‐ brückung räumlicher und zeitlicher Distan‐ 142 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="143"?> zen, Erreichen unbe‐ kannter Kommunika‐ tionspartner Massenme‐ dium - Bücher, Funk, Pla‐ kate, Videos, Zeit‐ schriften, Zeitun‐ gen Ersatz eines unmög‐ lich gewordenen zen‐ tralen Gedächtnisses der Gesellschaft Mediales Sub‐ strat (= Me‐ dium) lose gekoppelte Elemente Buchstaben, Laute, Sand Herstellung unter‐ scheidbarer Formen durch striktere Kopp‐ lung Medium als Di‐ ferenz von Me‐ dium und Form Einheit der Diffe‐ renz von Form (strikt gekop‐ pelte Elemente) und medialem Substrat Differenz Worte/ Buchsta‐ ben, Differenz Sprache/ Laute, Differenz Fußab‐ druck/ Sand Sinn Abbildung 12: Überblick über die Medienbegriffe Niklas Luhmanns So gliedert sich Luhmanns Systemtheorie, welche neben den anderen in diesem Band dargestellten Theorien zunächst so fremdartig wirkt, eben doch als eine Theorie vom Medium in die Reihe von Medientheorien ein. Das Medium ist ja auch bei ihm das Vermittelnde, der Horizont, vor dem sich Form und Sinn konstituieren können. Während wir das Medium selbst nicht wahrnehmen (→ S. 100), erkennen wir vor seinem Hintergrund und in der Abfolge von strikteren Kopplungen und loseren Entkopplungen bedeutungstragender Elemente Formen und daher Sinn. Soweit also eine extrem geraffte Einführung in Niklas Luhmanns System‐ theorie. 1996 wandte sich Luhmann in dem kleinen Band Die Realität der Massenmedien ganz explizit den Medien im herkömmlichen Sprachgebrauch zu. Das Bändchen, dessen doppeldeutiger Titel auf den »Doppelsinn von Realität als tatsächlich ablaufende, das heißt beobachtbare Operation und als dadurch erzeugte Realität der Gesellschaft und ihrer Welt« (Luhmann 2009, 17) anspielt, basierte auf einem Vortrag, den Luhmann zwei Jahre zuvor in Düsseldorf gehalten hatte. Mit ihm legte er nicht nur eine systemtheoreti‐ sche Theorie der Massenmedien vor, er erklärt eingangs auch seine darüber hinaus führende Absicht, ✻ Teilnahmsloser Beobachter dritter Ordnung: Niklas Luhmanns Systemtheorie der Medien 143 <?page no="144"?> die Theorie der Massenmedien in eine allgemeine Theorie der modernen Gesell‐ schaft einordnen zu können. Im folgenden geschieht dies über die Annahme, die Massenmedien seien eines der Funktionssysteme der modernen Gesellschaft, das, wie alle anderen auch, seine gesteigerte Leistungsfähigkeit der Ausdifferen‐ zierung, der operativen Schließung und der autopoietischen Autonomie des betreffenden Systems verdankt. […] Die Analyse des Systems der Massenmedien liegt deshalb auf derselben Ebene wie die Analyse des Wirtschaftssystems, des Rechtssystems, des politischen Systems usw. der Gesellschaft und hat über alle Unterschiede hinweg auf Vergleichbarkeit zu achten. (Luhmann 2009, 17-36) Anhand von Die Realität der Massenmedien, einem Text, der auch im nicht-systemtheoretischen Sinne medientheoretische Bedeutung beanspru‐ chen kann, soll nun untersucht werden, wie Medientheorien von system‐ theoretischen Überlegungen und Unterscheidungen profitieren können. Was wir über die Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien. […] Andererseits wissen wir so viel über die Massenmedien, daß wir diesen Quellen nicht trauen können. Wir wehren uns mit einem Manipulationsverdacht, der aber nicht zu nennenswerten Konsequenzen führt, da das den Massenmedien entnommene Wissen sich wie von selbst zu einem selbstverstärkenden Gefüge zusammenschließt. […] Mit dem Begriff der Massenmedien sollen im folgenden alle Einrichtungen der Gesellschaft erfaßt werden, die sich zur Verbreitung von Kommunikation technischer Mittel der Vervielfältigung bedienen. Vor allem ist an Bücher, Zeitschriften, Zeitungen zu denken, die durch die Druckpresse hergestellt werden; aber auch an photographi‐ sche oder elektronische Kopierverfahren jeder Art, sofern sie Produkte in großer Zahl mit noch unbestimmten Adressaten erzeugen. Auch die Verbreitung der Kommunikation über Funk fällt unter den Begriff, sofern sie allgemein zugänglich ist und nicht nur der telephonischen Verbindung einzelner Teilnehmer dient. (Luhmann 2009, 9 f.) So beginnt Luhmann seine Ausführungen über die Massenmedien, so definiert er diese. Er beginnt seine Überlegungen am Ausgangspunkt, daß die Massenmedien als beobachtende Systeme genötigt sind, zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz zu unterscheiden. Sie können nicht anders. Sie können […] nicht einfach sich selber für die Wahrheit halten. Sie müssen folglich Realität konstruieren, und zwar im Unterschied zur eigenen Realität noch eine andere. […] Aber: Wenn alle Erkenntnis auf Grund einer Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz erarbeitet werden muß, 144 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="145"?> gilt zugleich, daß alle Erkenntnis (und damit alle Realität) eine Konstruktion ist. Denn diese Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz kann es ja nicht in der Umwelt des Systems geben (was wäre da »Selbst« und was wäre da »Fremd«? ), sondern nur im System selbst. […] Damit werden jedoch alle Aussagen über Realität an nicht weiter generalisierbare […] Systemreferenzen gebunden. Unsere Frage hat also jetzt die Form: Wie konstruieren Massenmedien Realität? […] Sie lautet nicht: Wie verzerren die Massenmedien die Realität durch die Art und Weise ihrer Darstellung? Denn das würde ja eine ontologische, vorhandene, objektiv zugängliche, konstruktionsfrei erkennbare Realität […] voraussetzen. (Luhmann 2009, 13-16) Und so schlussfolgert Luhmann: »Eben deshalb ist die Realität eines Systems immer ein Korrelat der eigenen Operationen, immer eigene Konstruktion.« (Luhmann 2009, 21) Es ist wichtig, die wie immer beschränkten Möglichkeiten der Manipulation und des teils überzogenen, teils nicht durchdringenden Manipulationsverdacht [sic] als eine systeminterne Problematik zu begreifen und nicht als einen Effekt, den die Massenmedien in der Umwelt ihres Systems erzeugen. (Luhmann 2009, 57) Natürlich findet Kommunikation auch außerhalb der Massenmedien statt: Selbstverständlich bleibt mündliche Kommunikation als Reaktion auf Gedrucktes oder Gefunktes möglich. Aber das Gelingen von planmäßiger Kommunikation hängt davon nicht mehr ab. So kann im Bereich der Massenmedien ein autopoie‐ tisches, sich selbst reproduzierendes System entstehen, das auf Vermittlung von Interaktionen unter Anwesenden nicht mehr angewiesen ist. Erst damit kommt es zu einer operativen Schließung mit der Folge, daß das System die eigenen Operationen aus sich heraus reproduziert, sie nicht mehr zur Herstellung von interaktionellen Kontakten mit der gesellschaftsinternen Umwelt verwendet, sondern sich statt dessen an der systemeigenen Unterscheidung von Selbstrefe‐ renz und Fremdreferenz orientiert. (Luhmann 2009, 26) Neben die Differenz von Selbstreferenz (dem Blick der Massenmedien auf das eigene Funktionieren) und Fremdreferenz (die von ihnen konstruierte Realität) tritt noch der spezifische Code des Funktionssystems Massenme‐ dien. »Es geht beim Code […] um eine Unterscheidung, die die Selbstbe‐ obachtung an Hand der Unterscheidung von System und Umwelt erst ermöglicht. Der Code des Systems der Massenmedien ist die Unterscheidung von Information und Nichtinformation.« (Luhmann 2009, 28) Codes sorgen ✻ Teilnahmsloser Beobachter dritter Ordnung: Niklas Luhmanns Systemtheorie der Medien 145 <?page no="146"?> für die operative Schließung des Systems; mehr als Selbstreferenz/ Fremd‐ referenz (System/ Umwelt) und Information/ Nichtinformation müssen die Massenmedien nicht unterscheiden können. Alle operativ geschlossenen Systeme müssen ihre Realitätsindikatoren auf der Ebene ihrer eigenen Operationen erzeugen; sie verfügen über keine andere Möglichkeit. […] Je voraussetzungsvoller (evolutionär unwahrscheinlicher) die operative Schließung eines Systems ist, desto anspruchsvoller und spezifischer werden auch seine Realitätstests ausfallen. […] Auch hier kann die Verleihung des Qualitätssiegels »Realität« also nur in dem System erfolgen, das zunächst Inkon‐ sistenzen erzeugt, um sodann das zu konstruieren, was als Realität anzunehmen ist. (Luhmann 2009, 109 f.) Das mediale Konstrukt Realität wird also zwar getestet, doch auch dies nur systemintern, »durch Widerstand der Operationen gegen die Operationen desselben Systems […] - und nicht durch eine Repräsentation der Welt, wie sie ist.« (Luhmann 2009, 56) Luhmann untersucht sodann die Selektoren für Nachrichten, also die Kriterien, nach denen Informationen vom System ausgewählt und dann ggf. als Nachrichten weiterkommuniziert werden: (1) Die Überraschung wird durch markante Diskontinuität verstärkt. Die Infor‐ mation muß neu sein. […] (2) Bevorzugt werden Konflikte. […] (3) Ein besonders wirksamer Aufmerksamkeitsfänger sind Quantitäten. […] (4) Ferner gibt der lokale Bezug einer Information Gewicht, vermutlich weil man sich im eigenen Ort so gut informiert weiß, daß jede weitere Information geschätzt wird. […] (5) Auch Normverstöße verdienen besondere Beachtung. […] (6) Normverstöße werden vor allem dann zur Berichterstattung ausgewählt, wenn ihnen moralische Bewertun‐ gen beigemischt werden können; wenn sie also einen Anlaß zur Achtung oder Mißachtung von Personen bieten können. […] (7) Um Normverstöße kenntlich zu machen, aber auch um dem Leser/ Zuschauer eine eigene Meinungsbildung zu erleichtern, bevorzugen die Medien eine Zurechnung auf Handeln, also auf Handelnde. […] (8) Das Erfordernis der Aktualität führt zur Konzentration der Meldungen auf Einzelfälle - Vorfälle, Unfälle, Störfälle, Einfälle. […] (9) Als Sonderfall muß schließlich erwähnt werden, daß auch die Äußerung von Meinungen als Nachricht verbreitet werden kann. […] (10) All diese Selektoren werden verstärkt und durch weitere ergänzt dadurch, daß es Organisationen sind, die mit der Selektion befaßt sind und dafür eigene Routinen entwickeln. (Luhmann 2009, 42-52) 146 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="147"?> Medien, schreibt Luhmann, sind diejenigen »evolutionären Errungenschaf‐ ten, die an […] Bruchstellen der Kommunikationen ansetzen und funkti‐ onsgenau dazu dienen, Unwahrscheinliches in Wahrscheinliches zu trans‐ formieren« (Luhmann 1987, 220). Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass an einmal getroffene Selektionen angeknüpft wird, wird mithilfe der Verbrei‐ tungsmedien erheblich erhöht: Die getroffenen Selektionen werden als Information übertragen, an die dann weitere Informationen angeschlossen werden können. Genau dann ist eine Kommunikation erfolgreich, wenn auf Selektionen weitere Selektionen auf eine bestimmte, vorhersehbare Weise anschließen, wenn also Informationen verstanden und angenommen werden. Kommunikation ist allgemein ein Prozessieren von Selektoren. Bei einem kom‐ munikativen Akt handelt es sich um einen dreistelligen Selektionsprozeß; die Einheit der Kommunikation ist die Synthese von Information (als Selektion aus einem Repertoire von Möglichkeiten), Mitteilung (als Selektion eines Verhaltens, das die Information überträgt) und Verstehens des Sinns der Information (das heißt, verstanden werden muß, welche Anschlußselektion erwartet wird). (Künz‐ ler 1987, 320) Das Verstehen ist eine Voraussetzung für einen erfolgreichen Kommunika‐ tionsakt, stellt jedoch keine Gewähr für den Erfolg dar. Denn sein Erfolg erweist sich erst, indem in einem weiteren, an ihn anschließenden Kommu‐ nikationsakt die verstandene Information vom Adressaten als Grundlage für dessen eigenes Verhalten übernommen wird. Die gesellschaftliche Haupt‐ funktion der Massenmedien sieht Luhmann »nicht in der Gesamtheit der jeweils aktualisierten Informationen […], sondern in dem dadurch erzeugten Gedächtnis.« (Luhmann 2009, 83) Massenmedien sind also nicht in dem Sinne Medien, daß sie Informationen von Wissenden auf Nichtwissende übertragen. Sie sind Medien insofern, als sie ein Hintergrundwissen bereitstellen und jeweils fortschreiben, von dem man in der Kommunikation ausgehen kann (Luhmann 2009, 84), ohne daß das Gefühl aufkäme, man lebe in verschiedenen, inkommensurablen Welten. (Luhmann 2009, 83) Hier wird nun die gesellschaftsstabilisierende Wirkung der Massenmedien deutlich. »Den Massenmedien obliegt es denn auch in erster Linie, Bekannt‐ sein zu erzeugen und von Moment zu Moment zu variieren, so daß man ✻ Teilnahmsloser Beobachter dritter Ordnung: Niklas Luhmanns Systemtheorie der Medien 147 <?page no="148"?> in der anschließenden Kommunikation es riskieren kann, Akzeptanz oder Ablehnung zu provozieren.« (Luhmann 2009, 122) Hinzu kommt, daß die Funktion der Massenmedien in der ständigen Erzeugung und Bearbeitung von Irritation besteht - und weder in der Vermehrung von Erkenntnis noch in einer Sozialisation oder Erziehung in Richtung auf Konformität mit Normen. Als faktischer Effekt dieser zirkulären Dauertätigkeit des Erzeugens und Interpretie‐ rens von Irritation […] entstehen die Welt- und Gesellschaftsbeschreibungen, an denen sich die moderne Gesellschaft innerhalb und außerhalb des Systems ihrer Massenmedien orientiert (Luhmann 2009, 119), wobei die Massenmedien im Prozeß der Erarbeitung von Informationen zugleich einen Horizont selbsterzeugter Ungewissheit aufspannen, der durch weitere und immer weitere Informationen bedient werden muß. Massenmedien steigern die Irritier‐ barkeit der Gesellschaft und dadurch ihre Fähigkeit, Informationen zu erarbeiten. (Luhmann 2009, 102) Wegen der Art und Weise, wie die Systemtheorie die Massenmedien be schreibt, hat man ihr eine affirmative, konservative Grundhaltung vorge‐ worfen. Dies ist jedoch ein Missverständnis, denn Luhmann erklärt, wie sich Systeme selbst regulieren. Ethische Urteile über diesen Vorgang oder über die Systeme fällt er nicht. Luhmann fragt nicht, welche Medien die Gesellschaft hervorbringt (→ S. 69), sondern umgekehrt, was für eine Gesellschaft von den Medien produziert wird: »Welche Gesellschaft entsteht, wenn sie sich laufend und dauerhaft auf diese Weise über sich selbst informiert? « (Luhmann 2009, 95 f.) Das Positivste, was Luhmann der von ihm beschriebenen Selbstorganisation der Massenmedien und ihrer auto‐ matischen Selbsterhaltung abgewinnen kann, ist die »Eingewöhnung des Modus der Beobachtung zweiter Ordnung«: Man dechiffriert alles, was mitgeteilt wird, in Richtung auf den, der es mitteilt. […] Die Realität der Massenmedien, das ist die Realität der Beobachtung zweiter Ord‐ nung. Sie ersetzt die Wissensvorgaben, die in anderen Gesellschaftsformationen durch ausgezeichnete Beobachtungsplätze bereitgestellt wurden: durch die Wei‐ sen, die Priester, den Adel, die Stadt, durch Religion oder durch politisch-ethisch ausgezeichnete Lebensformen. (Luhmann 2009, 104 f.) 148 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="149"?> Es geht um eine Beobachtung, die die Bedingungen ihrer eigenen Möglichkeit selbst erzeugt und in diesem Sinne autopoietisch abläuft. […] Das heißt auch, daß der Anstoß zu weiterer Kommunikation im System selbst reproduziert wird und nicht anthropologisch, etwa als Wissenstrieb, zu erklären ist. (Luhmann 2009, 119) »Dies ist […] soziologisch deshalb interessant, weil man alle wichtigen gesellschaftlichen Funktionssysteme nur auf dieser Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung‹ wirklich begreifen kann.« (Luhmann 1991, 58) Es ist das Wie der Massenmedien, dem unser Interesse gelten muss, nicht ihr Inhalt. Die Aufgabe der Massenmedien ist es, immer neue Anschlusskommunika‐ tion zu ermöglichen. So dienen sie der Selbsterhaltung des gesellschaftlichen Systems, indem sie die Beobachtung zweiter Ordnung steuern und forma‐ tieren. »Die Funktion der Massenmedien liegt nach all dem im Dirigieren der Selbstbeobachtung des Gesellschaftssystems«. (Luhmann 2009, 118) In den Massenmedien beobachtet sich die Gesellschaft selbst und erzeugt zugleich ihre Realität. Die Realität der Massenmedien ist die Realität der Gesellschaft, »aber eine nicht konsenspflichtige Realität […]. Weil Realität ohnehin nicht mehr konsenspflichtig ist.« (Luhmann 2009, 112-115) Luhmanns Fazit zum Verhältnis von Gesellschaft, Massenmedien und Kultur lautet: Das Ergebnis dieser Analysen läßt sich unter dem Begriff der Kultur zusammen‐ fassen. Dieser Begriff faßt seit seiner Entstehung am Ende des 18. Jahrhunderts reflexive und vergleichende Komponenten zusammen. Kultur weiß und sagt von sich selbst bis in alle Einzelheiten hinein, daß sie Kultur ist. […] Kultur in genau diesem Sinne, Kultur im Sinne der Umformung von allem und jedem in ein Zeichen für Kultur, ist ein Produkt und zugleich das Alibi der Massenmedien. […] Ohne Reproduktion gäbe es keine Originale, ohne Massenmedien wäre Kultur nicht als Kultur erkennbar. Und daß diese reflexive, diese sich als Kultur wissende Kultur ihre Gegenbegrifflichkeit der »Echtheit«, »Eigentlichkeit«, »Spontaneität« etc. mitproduziert, bestätigt nur, daß es sich um ein universales, Selbstreferenz einschließendes Phänomen handelt. […] Zur Kultur werden ent‐ sprechende Erlebnisse und Kommunikationen nur dadurch, daß sie als Zeichen für Kultur angeboten werden, und eben dies geht auf die Institutionalisierung der Beobachtung zweiter Ordnung im System der Massenmedien zurück. (Luhmann 2009, 105 f.) So trocken und abstrakt Luhmanns Systemanalyse auf den ersten Blick erscheinen mag, so nützlich und anregend erweist sie sich als Instrumenta‐ ✻ Teilnahmsloser Beobachter dritter Ordnung: Niklas Luhmanns Systemtheorie der Medien 149 <?page no="150"?> rium in der Praxis, wenn es darum geht, komplexe Zusammenhänge zu beschreiben und zu reflektieren. Und mit dem Konzept der Beobachtung zweiter Ordnung hat sich Luhmann innerhalb des medientheoretischen Diskurses unsterbliche Verdienste erworben. Denn als Theoretiker, der diesen Zusammenhang für den Bereich der Medien erstmalig beobachtet, das heißt von außen analysiert und systematisiert hat, gebührt ihm der Ruhm, der erste Beobachter dritter Ordnung gewesen zu sein. Etwa zur selben Zeit, als Luhmann, außer von einer kleinen intellektuellen Elite weithin unbemerkt, seine hochkomplexen systemtheoretischen Diffe‐ renzierungen entwickelte, waren die Massenmedien, deren Funktionieren er systematisierte und beschrieb, gefüllt mit einer Medienkritik ganz anderer Art: mit der kulturkritischen Medienschelte Neil Postmans. Zusammenfassung: Systeme stellen sich durch Unterscheidungen selbst her (Autopoiesis) und definieren sich in Differenz zu ihrer Umwelt. Soziale Systeme sind selbstreferentiell, ihre Operationen sind Kommunikationsakte. Zu ihnen zählen die modernen Gesellschaften, die sich funktional, das heißt in Funktionssysteme ausdifferenzieren. Die Massenmedien sind eines dieser Funktionssysteme. Die für sie maßgebliche Unterscheidung ist die zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz, ihr Code ist Informa‐ tion/ Nichtinformation. Die kleinste Einheit dieses Prozesses ist die Unterscheidung von Form vor dem Hintergrund der lose gekoppelten Elemente des medialen Substrats, das diese Form als striktere Kopplung seiner Elemente erst vorübergehend ermöglicht. Beide zusammen, Form und Medium, bilden in ihrer Bezogenheit aufeinander, als Einheit der Differenz beider, das Medium Sinn. Dem Begriff »Medium« kommen bei Luhmann aber noch einige weitere Bedeutungen zu. Das System der Massenmedien produziert in sich, in operativer Geschlossenheit, auf eine Weise Realität, die Anschlusskommunikationen dank symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien wahrscheinlicher macht und so ein Gedächtnis der Gesellschaft schafft, ein Bekanntsein, das Kohärenz ermöglicht. Die Massenmedien stellen die Gesellschaft her, nicht umge‐ kehrt. Ihre Funktion in der Gesellschaft ist deren Selbstbeobachtung. 150 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="151"?> Verständnisfragen zur Vertiefung: ● Aus welchen drei Aspekten besteht Luhmann zufolge Kommunika‐ tion? (leicht) ● Vergleichen Sie die Rolle, die die mündliche Kommunikation im An‐ gesicht der Massenmedien bei Luhmann spielt, mit Vilém Flussers (→ S. 181) Diktum, dass unter diskursiven Kommunikationsbedin‐ gungen die Dialoge nur noch der Synchronisation und Standardi‐ sierung von Meinungen dienen können! (leicht) ● Welchen Zusammenhang zwischen Massenmedien und Kultur stellt Luhmann her? (mittel) ● Luhmann zufolge generieren sich Systeme autopoietisch selbst auf‐ grund von Unterscheidungen. Wer aber trifft die Unterscheidungen, wenn das System erst noch in seiner eigenen Entstehung begriffen ist? (schwer) ● Können sich die Massenmedien selbst beobachten? Wer beobachtet dann diese Beobachtung? Handelt es sich hier um einen unendlichen Regress, oder lässt sich das Problem mit Hilfe des Gegensatzpaars Selbstreferenz/ Fremdreferenz (dialektisch) in einer Beobachtung höherer Ordnung auflösen? (schwer) ✻ Wait a minute, Prof. Postman! Oder: Die schlechte Laune der Kulturpessimisten Vorschau: ● Der Übergang vom Buch zum Fernsehen und das Verschwinden der Kindheit ● Die kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Wirkungen des Mediums Fernsehen: Unterhaltung statt Information. Wir amüsieren uns zu Tode. ● Neil Postmans Kulturkonservatismus ● Andere konservative Denker der Kulturmüdigkeit, des Zivilisations‐ pessimismus und des Verfalls des Abendlands - eine abendländische Spezialität ✻ Wait a minute, Prof. Postman! Oder: Die schlechte Laune der Kulturpessimisten 151 <?page no="152"?> Wait a minute Mister Postman Wait Mister Postman Please Mister Postman, look and see If there’s a letter in your bag for me […] You didn’t stop to make me feel better By leavin’ me a card or a letter (The Marvelettes 1961) Herr Postman! Haben Sie denn nichts Gutes dabei? Keine Karte, keinen Brief, kein Stück Schriftmedium, damit ich mich besser fühle? Doch das hatte er. Der Sack war voller Schriftgut. Auch wenn der Postman, den The Marvelettes 1961 besingen, als Medium versagt und keine Message überbringen kann - Neil Postman, von dem nun hier die Rede sein soll, schrieb ein Buch nach dem anderen. Alle kreisten sie um das Buch selbst, um das Fernsehen, um die Technik und um Erziehung. Neil Postman hatte Einfluss, war ein rhetorisch exzellenter Vermittler medientheoretisch zumindest begründbarer Glaubenssätze, und er steht exemplarisch für zahlreiche meist schlecht gelaunte, konservative Kulturpessimisten von Pla‐ ton bis Adorno. »Kulturpessimisten (die übrigens, von Platon angefangen, unter den Medientheoretikern stets gegenüber den Kulturoptimisten in der Mehrheit waren) interpretieren […] Änderungen ausschließlich als zivilisa‐ torische Verfallserscheinungen«, erklärt der Philosoph Reinhard Margreiter (Margreiter 2003, 162). Das Beispiel Adornos belegt, dass auch Linksintellek‐ tuelle keinesfalls gefeit sind gegen Kulturkonservatismus. Ich möchte sogar behaupten, dass ein Gutteil dessen, was in Deutschland als Medientheorie gilt, der schlechten Laune von im Grunde konservativen Anhängern linker Theorien zuzuschreiben ist. Die meisten von ihnen prognostizieren den Niedergang der Schriftlichkeit und verbinden ihn mit dem Verschwinden humanistischen Gedankenguts und mit dem Verfall traditioneller Werte - bis hin zum Untergang des Abendlandes. Auch um diese Denker geht es in diesem Kapitel, welches aber keinesfalls zu deren Denkschrift geraten soll. Es ist eher ein Sammelgrab. Der New Yorker Medienwissenschaftler Neil Postman (1931-2003), einer der einflussreichsten Sachbuchautoren der 1980er-Jahre, begann seine Kar‐ riere nach einem Studium der Pädagogik zunächst als Grundschullehrer. Bereits als Student, Mitte der 50er-Jahre, lernte er den damals noch unbe‐ kannten Marshall McLuhan (→ S. 92) kennen, der ihn außerordentlich beeindruckte. Damit sind die beiden Hauptfaktoren im Denken Postmans 152 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="153"?> bereits umrissen: ein pädagogisch-humanistischer Impetus und die Über‐ nahme von McLuhans Verständnis von Umwelten als Inhalten und Wir‐ kungen von Medien. Schätzt McLuhan jedoch am cool medium (→ S. 99) Fernsehen dessen angeblich partizipative und völkerverbindende Wirkung, die »angestrengte Beteiligung der Sinne« (McLuhan 1997d, 146), die es erfordere, so gilt Postman »das Fernsehen als Narkotikum, das den Verstand ebenso einschläfert wie die Wahrnehmungsfähigkeit» (Postman 1993, 122). Für ihn ist dieses Medium der Totengräber unserer Zivilisation. Feiert McLuhan das Fernsehen als Königsweg zum global village, so hält Postman dem entgegen, »daß das Fernsehen unsere Kultur in ein allgegenwärtiges Las Vegas verwandelt« (Postman 1993, 134). »Denn Las Vegas hat sich ganz und gar der Idee der Unterhaltung verschrieben und verkörpert damit den Geist einer Kultur, in der der gesamte öffentliche Diskurs immer mehr die Form des Entertainments annimmt.« (Postman 1985, 12) In seinem einflussreichsten Buch, Das Verschwinden der Kindheit (1982), bringt Postman beide Argumentationsketten zusammen. Im Mittelalter gab es demnach keine Kindheit und keine Kinder in unserem heutigen Sinne: Tatsächlich hat es die Idee der Kindheit als sozialer Struktur im Mittelalter nicht gegeben, sie entstand im 16. Jahrhundert und ist heute im Begriff, wieder zu verschwinden. […] Wenn eine Kultur von einem Medium dominiert wird, das die Absonderung der Kinder verlangt, damit sie unnatürliche, spezialisierte und hochkomplexe Fertigkeiten und Verhaltensweisen erlernen, dann entsteht notwendigerweise auch eine deutlich umrissene Form von Kindheit. Wenn die Kommunikationsbedürfnisse einer Kultur die langfristige Absonderung der Kinder nicht erfordern, dann bleibt die Kindheit stumm. (Postman 1993, 162 f.) Die mittelalterliche Gesellschaft beruhte auf Mündlichkeit. Sobald Kinder Sprache verstehen und sprechen konnten, waren sie Bestandteil einer weitestgehend analphabetischen Gesellschaft, aus der sich nur die wenigen schriftkundigen Gelehrten und Geistlichen abhoben, und von der man ebenso gut sagen kann, dass sie ausschließlich aus Erwachsenen bestand, wie man sagen könnte, sie habe aus lauter Kindern bestanden. Kinder waren ja kleine Erwachsene, die an allem beteiligt waren, was das Erwachsenen‐ leben ausmacht, darunter auch an den erst später tabuisierten Bereichen der Sexualität, des Rausches, des Verbrechens, der Gewalt, der Krankheit und des Todes. Schamgefühl (und Höflichkeit), so argumentiert Postman aber, seien grundlegende zivilisatorische Errungenschaften. Die Erfindung des Buchdrucks und in ihrer Folge das Erstarken des Individualismus, die ✻ Wait a minute, Prof. Postman! Oder: Die schlechte Laune der Kulturpessimisten 153 <?page no="154"?> Schulpflicht, die Entstehung des Nationalismus und die protestantische Re‐ formation machten in kurzer Zeit das Lesen zur dominanten Kulturtechnik. Nun gab es erstmals Geheimnisse, die dem Kind unzugänglich waren - bis es in der Lage war, selbst zu lesen. »Seit der Erfindung des Buchdrucks mußte die Erwachsenheit erworben werden.« (Postman 1993, 48) Das Lesen als Kulturtechnik begünstigte nicht nur eine gewaltige Wissensvermehrung, es führte auch die Prinzipien von Geschichtlichkeit (→ S. 171), Rationalität, Kritik und Triebaufschub ein, nämlich die Fähigkeit zur Selbstbeherrschung und zum Aufschub unmittelbarer Bedürf‐ nisbefriedigung, ein differenziertes Vermögen, begrifflich und logisch zu denken, ein besonderes Interesse sowohl für die historische Kontinuität als auch für die Zukunft, die Wertschätzung von Vernunft und gesellschaftlicher Gliederung. (Postman 1993, 116) Kausalität und zeitliche Abfolgen lassen sich in der Schrift übersichtlich und nachprüfbar ausdrücken. Heranwachsende, die nun so lange als Kinder gelten, wie sie brauchen, um lesen zu lernen und damit der Welt der Erwachsenen teilhaftig zu werden, lernen früh, komplexe Zusammenhänge und lange Satzgefüge in sich aufzunehmen, die erst ganz an ihrem Ende Sinn ergeben. Wer lesen lernt, der lernt auch, sich auf die Regeln einer komplexen logischen und rhetorischen Tradition einzulassen, die einen dazu nötigt, die Sätze behutsam und gründlich abzuwägen und Bedeutungen ständig zu modifizieren, wenn sich im weiteren Fortgang neue Gesichtspunkte ergeben. Der Leser muß lernen, reflektiert und analytisch vorzugehen, er muß Geduld und Aufnahmebereitschaft entwickeln und sich in einem ständigen Schwebezustand halten, aus dem heraus er nach reiflicher Überlegung auch einmal nein zu einem Text zu sagen vermag. (Postman 1993, 91) In der Folge des Buchdrucks und des Lesens als weit verbreiteter Kultur‐ technik entsteht daher unsere moderne Vorstellung von Kindheit als einer Phase im Leben des Menschen, in der er sich in praktisch jeder Hinsicht vom Erwachsenen unterscheidet. Und zwar deshalb, weil […] im Laufe des 16. Jahrhunderts eine neue kommu‐ nikative Umwelt Gestalt angenommen hatte - als Folge der Erfindung des Buchdrucks und der […] Ausbreitung einer sozialen Literalität. Die Druckerpresse brachte eine neue Definition von Erwachsenheit hervor, die auf dem Lesenkönnen 154 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="155"?> gründete, und entsprechend eine neue Auffassung von Kindheit, die auf dem Nichtlesenkönnen beruhte. (Postman 1993, 28) In der Folge bildete sich ein eigener Verhaltenscode für Kinder heraus, kinderspezifische Kleidung, Kinderspiele, Kinderbücher, ein Verbot von Kinderarbeit etc. Etwa zur selben Zeit jedoch, als sich in Europa und Nordamerika die allgemeine Schulpflicht, eine flächendeckende Alphabeti‐ sierung und die Vorstellung von der Kindheit als etwas Besonderem und Schützenswertem nahezu vollständig durchsetzten, deutete sich mit dem Aufkommen technischer und visueller Medien wie dem Telegrafen, der Fotografie etc. bereits der Anfang vom Ende der Kindheit an. Der elektromagnetische Telegraph ist das erste Kommunikationsmedium, mit dessen Hilfe eine Botschaft eine höhere Geschwindigkeit erreichen konnte als der menschliche Körper. Er zerbrach die historische Verbindung zwischen Transport und Kommunikation. In der Zeit vor dem Telegraphen konnten alle Botschaften, auch die in schriftlicher Form, nur so schnell übermittelt werden, wie sich der Mensch fortzubewegen vermochte. Der Telegraph nun beseitigte mit einem Schlag Zeit und Raum als Dimensionen menschlicher Kommunika‐ tion und entkörperlichte damit die Mitteilung in einem Maße, das weit über die Körperlosigkeit des geschriebenen und gedruckten Wortes hinausging. Er versetzte uns in eine Welt der Gleichzeitigkeit und Augenblicklichkeit, die den menschlichen Erfahrungsraum sprengte. Damit schaffte er auch Stil und Individualität als Bestandteile von Kommunikation ab. […] Der Telegraph brachte […] eine Welt der anonymen, ihres Kontexts beraubten Information hervor […]. Der Telegraph drängte auch die Geschichte in den Hintergrund und weitete die unmittelbare, simultane Gegenwart aus. […] Der Telegraph erzeugte ein Publi‐ kum und einen Markt nicht einfach für Nachrichten, sondern für aufgesplitterte, zusammenhanglose und im großen und ganzen belanglose Nachrichten, die bis auf den heutigen Tag das wichtigste Produkt der Nachrichtenindustrie darstellen. (Postman 1993, 84 ff.) Seinen Todesstoß erhielt das Prinzip Kindheit jedoch durch das Fernsehen. Denn während die Übermittlungsgeschwindigkeit die kontrollierte Handhabung von Informationen unmöglich machte, veränderte das in Massenproduktion gefertigte Bild die Form dieser Informationen selbst - vom Diskursiven zum Nicht-Diskursiven, von der Satzform zur Bildform, vom Intellektuellen zum Emotionalen. Sprache ist eine Abstraktion aus der Erfahrung, während Bilder konkrete Darstellungen von Erfahrung sind. Ein Bild mag soviel wert sein wie ✻ Wait a minute, Prof. Postman! Oder: Die schlechte Laune der Kulturpessimisten 155 <?page no="156"?> tausend Worte, aber es ist auf keinen Fall ein Äquivalent für tausend oder hundert oder auch nur zwei Worte. Wörter und Bilder gehören unterschiedlichen Dis‐ kurssphären an. […] Bilder zeigen keine Begriffe, sie zeigen Dinge. Man kann es nicht oft genug wiederholen: anders als der gesprochene oder geschriebene Satz ist das Bild unwiderlegbar. Es stellt keine Behauptung auf, es verweist nicht auf ein Gegenteil oder die Negation seiner selbst, es muß keinerlei Plausibilitätsregeln und keiner Logik genügen. (Postman 1993, 87) Das Fernsehen nun »ist dasjenige Medium, in dem die elektronische und die optische Revolution aufeinanderstoßen« (Postman 1993, 89). Als Medium »der totalen Enthüllung« (Postman 1993, 109) legt es alle Geheimnisse offen. Es tut dies aber nicht in aufklärerischer Weise, sondern in der Absicht, zu unterhalten. Weil es jetzt aber nichts mehr gibt, was die Lebenswelt der Kinder von der der Erwachsenen unterscheidet, gibt es auch keine Kinder im engeren Sinne mehr. Kinder sind eine Gruppe von Menschen, die von bestimmten Dingen, über die die Erwachsenen Bescheid wissen, keine Ahnung haben. Im Mittelalter gab es keine »Kinder«, weil auch die Erwachsenen keine Möglichkeit hatten, exklusives Wissen zu erlangen. Im Zeitalter Gutenbergs entwickelte sich ein solches Mittel. Im Zeitalter des Fernsehens zerfällt es wieder. (Postman 1993, 101) Nun sind »wir an dem Punkt angelangt, wo Kinder nicht mehr vonnöten sind« (Postman 1993, 160). Erkennbar ist dies unter anderem daran, dass die Kennzeichen einer separaten Kinderkultur, wie Kinderkleidung oder Kinderspiele etc., verschwinden. Indem nun Buch und Schule das »Kind« hervorbrachten, schufen sie gleichzeitig den modernen Begriff vom Erwachsenen. Und wenn ich […] zu zeigen versuche, daß heute die Kindheit verschwindet, dann will ich damit auch zum Ausdruck bringen, daß eine bestimmte Form von Erwachsenheit ebenfalls unweigerlich zu verschwinden droht. (Postman 1993, 63) Entsprechend folgert Postman: »Den Grundgedanken […] - daß unsere elektronische Informationsumwelt die Kindheit zum Verschwinden bringt - kann man […] auch so formulieren: unsere elektronische Informations‐ umwelt bringt die Erwachsenheit ebenfalls zum Verschwinden.« (Postman 1993, 115) Beide, Kinder wie Erwachsene, werden von einem undifferen‐ zierten Menschentyp abgelöst, einem unkindlichen Heranwachsenden oder infantilen Volljährigen, »aber es ist der Charakter des Mediums und nicht 156 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="157"?> der Charakter seiner Benutzer, der den Kind-Erwachsenen hervorbringt« (Postman 1993, 130). Zur in dieser Hinsicht nivellierenden Wirkung des Fernsehens gesellt sich zusätzlich noch seine grundsätzlich verdummende Wirkung. Wir wissen über die Technologie des Fernsehens zumeist sehr wenig. Das macht es dem »Fernsehen als Narkotikum, das den Verstand ebenso einschläfert wie die Wahrnehmungsfähigkeit« (Postman 1993, 122) so leicht, uns durch seine »Wunder zu einer Art von verschlafener Dumm‐ heit zu verführen« (Postman 1994, 17). Nicht Konzentration, sondern Zerstreuung ist das Ziel des Fernsehens. Ohne Unterschiede werden komplexe Zusammenhänge banalisiert und dem Zuschauer von flackernden Bildern in schneller Folge gebracht. Die blitz‐ schnelle Abfolge unterschiedlichster, miteinander unverbundener Themen hat eine Weltsicht zur Folge, die sich aus atomisierten, bedeutungslosen Splittern kaum zu einem sinnvollen Ganzen zusammensetzen lässt. Man muß bedenken, daß die Fernsehnachrichten-Shows geradezu surrealistisch sind - zusammenhanglos bis zu dem Punkt, wo sich nichts mehr auf irgend etwas anderes beziehen läßt. […] Jedes Ereignis steht für sich; Vergangenheit und Geschichte sind belanglos; es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, ein Faktum höher zu bewerten als ein anderes. (Postman 1993, 122 f.) Da das Fernsehen alles als gegenwärtig präsentiert, verschwindet allmählich das Gefühl für Vergangenheit und für Zukünftiges, und damit schließlich auch das Prinzip Geschichtlichkeit. Und: »Parallel zum Verfall des Schamge‐ fühls verlieren auch die Höflichkeitsformen immer mehr an Bedeutung.« (Postman 1993, 104) Den Einwand, dass das Fernsehen entgegen dieser Behauptung auch der Erziehung der Zuschauer dienen kann, lässt Postman nicht gelten. Denn auch, wenn etwa die Sesamstraße zu Postmans Zeiten als gutes Kinderfernsehen gefeiert wurde, hat es laut Postman gar keinen Sinn, sich um gutes Fernsehen zu bemühen oder gar um pädagogisch wertvolles: »Das Fernsehen ist in erster Linie ein visuelles Medium, was […] die Liebhaber von Sesamstraße bis heute nicht begriffen haben.« (Postman 1993, 92) Die Eigengesetzlichkeiten des Mediums seien eben, wie sie seien - und hätten, wie jede Technologie, ganz bestimmte Konsequenzen für seine Nutzer, sodass das Fernsehen die Trennungslinie zwischen Kindheit und Erwachsenenalter aus drei Gründen verwischt, die alle mit seiner undifferenzierten Zugänglichkeit zusammenhängen: erstens, weil es keiner Unterweisung bedarf, um seine Form zu ✻ Wait a minute, Prof. Postman! Oder: Die schlechte Laune der Kulturpessimisten 157 <?page no="158"?> begreifen; zweitens, weil es weder an das Denken noch an das Verhalten komplexe Anforderungen stellt; drittens, weil es sein Publikum nicht gliedert. Unterstützt von anderen elektronischen, nicht auf dem gedruckten Wort beruhenden Medien, bringt das Fernsehen erneut Kommunikationsverhältnisse hervor, wie sie im 14. und 15.-Jahrhundert bestanden haben. (Postman 1993, 94) In seinem zweiten Bestseller, Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie (1985) schreibt Postman seine Thesen fort und belegt sie wortreich immer wieder neu. Nur die Akzentsetzung verschiebt sich nun weg von der pädagogischen Perspektive hin zu den Auswirkungen des Fernsehens sowie des Prinzips der Unterhaltung auf die Gesellschaft. Punkten kann Postman dabei vor allem wegen seiner Fähigkeit, zugespitzte Formulierungen und anschauliche Bilder für seine Warnungen vor dem von den Medien ausgehenden Kulturverfall zu finden, dem die amerikanische Gesellschaft entgegengehe. Gleich im ersten Kapitel stellt er klar: Ich untersuche und ich beklage in diesem Buch die einschneidendste Verände‐ rung, die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts innerhalb der ameri‐ kanischen Kultur vollzogen hat: den Niedergang des Buchdruck-Zeitalters und den Anbruch des Fernseh-Zeitalters. Dieser Umbruch hat zu einer dramatischen, unwiderruflichen Verschiebung im Inhalt und in der Bedeutung des öffentlichen Diskurses geführt, denn zwei so unterschiedliche Medien können nicht die gleichen Ideen in sich aufnehmen. (Postman 1985, 17) Postmans Grundüberzeugung variiert einen Gedanken von Harold Innis (→ S. 94), dass nämlich die Kommunikationsmedien das von ihnen übermittelte Wissen prägen: »Es ist naiv, anzunehmen, daß man etwas, das in einem bestimmten Medium zum Ausdruck gebracht wurde, in einem anderen ausdrücken kann, ohne seine Bedeutung, seine Struktur und seinen Wert erheblich zu verändern.« (Postman 1985, 145) Die zentrale These, die Postman in Wir amüsieren uns zu Tode in vielfältigen Variationen ausführt und illustriert, lautet, dass »die Form, in der Gedanken zum Ausdruck gebracht werden, einen Einfluß darauf hat, welche Gedanken überhaupt geäußert werden« (Postman 1985, 45). Damit greift Postman auch das diskurstheoretische Konzept (→ S. 235) vom Dispositiv auf, das regelt, welche Diskurse in einer Gesellschaft überhaupt möglich sind. Die Technik verhält sich zum Medium wie das Gehirn zum Verstand oder zum Denken. So wie das Gehirn ist die Technik ein gegenständlicher Apparat. 158 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="159"?> So wie der Verstand ist das Medium die Art und Weise, in der man einen solchen materiellen Apparat gebraucht. Die Technik wird zum Medium, indem sie sich eines bestimmten symbolischen Codes bedient, indem sie ihren Ort in einer bestimmten sozialen Umgebung findet und indem sie in bestimmten ökonomischen und politischen Kontexten Fuß faßt. Mit anderen Worten, die Technik ist bloß eine Maschine; das Medium ist die soziale und intellektuelle Umwelt, die von einer Maschine hervorgebracht wird. (Postman 1985, 106) »Wer verkennt, daß eine neue Technik ein ganzes Programm des sozia‐ len Wandels in sich birgt, wer behauptet, die Technik sei ›neutral‹, wer annimmt, die Technik sei stets ein Freund der Kultur, der ist zu dieser vorgerückten Stunde nichts als töricht.« (Postman 1985, 192) Wie genau ein Medium eine Kultur prägt, erläutert Postman am Beispiel des Fernsehens, welches eben unser gegenwärtiges Zeitalter des Showbusiness präge. Dabei macht er kein Hehl aus seiner Überzeugung, daß der Verfall einer auf dem Buchdruck basierenden Epistemologie und der da‐ mit einhergehende Aufstieg einer auf dem Fernsehen basierenden Epistemologie für das öffentliche Leben schwerwiegende Folgen gehabt haben und daß wir von Minute zu Minute dümmer werden. […] Ich wiederhole, daß ich in dieser Frage kein Relativist bin, denn ich bin überzeugt davon, daß die vom Fernsehen erzeugte Epistemologie nicht nur der auf dem Buchdruck beruhenden unterlegen, sondern daß sie auch gefährlich und vernunftwidrig ist. (Postman 1985, 36-40) Das Fernsehen beraubt jede Art von Information ihres Kontextes und ihrer Geschichte. Es banalisiert sie und presst sie in Unterhaltungsformate. »Problematisch am Fernsehen ist nicht, daß es uns unterhaltsame Themen präsentiert, problematisch ist, daß es jedes Thema als Unterhaltung präsen‐ tiert.« (Postman 1985, 110) Ausführlich geht Postman auf Fernsehwerbung ein und zeigt, welche verheerenden Auswirkungen sie auf das politische Leben in den USA hat. Denn auch die Politiker haben sich das Unterhal‐ tungsgebot des Fernsehens zu eigen machen müssen, um unter dem Diktat des Mediums bestehen zu können. »Mit anderen Worten, das Fernsehen ist dabei, unsere Kultur in eine riesige Arena für das Showbusiness zu verwandeln. Es ist natürlich möglich, daß wir das am Ende ganz herrlich finden und es gar nicht mehr anders haben wollen.« (Postman 1985, 102) Wenn ein Volk sich von Trivialitäten ablenken läßt, wenn das kulturelle Leben neu bestimmt wird als eine endlose Reihe von Unterhaltungsveranstaltungen, als gigantischer Amüsierbetrieb, wenn der öffentliche Diskurs zum unterschieds‐ ✻ Wait a minute, Prof. Postman! Oder: Die schlechte Laune der Kulturpessimisten 159 <?page no="160"?> losen Geplapper wird, kurz, wenn aus Bürgern Zuschauer werden und ihre öffentlichen Angelegenheiten zur Varieté-Nummer herunterkommen, dann ist die Nation in Gefahr - das Absterben der Kultur wird zur realen Bedrohung. (Postman 1985, 190) Leitmotiv für Postmans medienkritischen Kulturpessimismus ist eine Ge‐ genüberstellung von George Orwell, dem Autor von 1984, und Aldous Huxley, dem Verfasser von Schöne neue Welt. Es sei ein verbreiteter Irr‐ tum anzunehmen, beide hätten vor derselben bedrohlichen Entwicklung gewarnt. Orwells düstere Version (z. B. in 1984) nämlich warnt vor der Gefährdung des demokratischen Gemeinwesens durch einen allmächtigen Überwachungsstaat. Postman jedoch fürchtet weniger die Manipulationen eines bösen Diktators als vielmehr die Zersetzung der demokratischen Grundlagen unserer Gesellschaften durch das Prinzip Unterhaltung: »Es gibt zwei Möglichkeiten, wie der Geist einer Kultur beschädigt werden kann. Im ersten Fall - Orwell hat ihn beschrieben - wird die Kultur zum Gefängnis; im zweiten Fall - ihn hat Huxley beschrieben - verkommt sie zum Varieté.« (Postman 1985, 189) Vieles von dieser Kritik Postmans hatte Jahre zuvor bereits Günther Anders (1902-1992, → S.-116) vorweggenommen: Natürlich können wir das Fernsehen zu dem Zwecke verwenden, um an einem Gottesdienst teilzunehmen. Was uns dabei aber, ob wir es wollen oder nicht, genau so stark »prägt« oder »verwandelt« wie der Gottesdienst selbst, ist die Tatsache, daß wir an ihm gerade nicht teilnehmen, sondern allein dessen Bild konsumieren. Dieser Bilderbuch-Effekt ist aber offensichtlich von dem »bezweckten« nicht nur verschieden, sondern dessen Gegenteil. Was uns prägt und entprägt, was uns formt und entformt, sind eben nicht nur die durch die »Mittel« vermittelten Gegenstände, sondern die Mittel selbst, die Geräte selbst: die nicht nur Objekte möglicher Verwendung sind, sondern durch ihre festliegende Struktur und Funktion ihre Verwendung bereits festlegen und damit auch den Stil unserer Beschäftigung und unseres Lebens, kurz: u n s. (Anders 1985, 100) Die Einleitung seines wichtigsten Buchs, Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution (1956), »diese traurigen Seiten über die Verwüstung des Menschen« (Anders 1985, V), beginnt Anders wie folgt: Aus einem Zeitungsbericht: 160 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="161"?> »Die zum Tode Verurteilten können frei darüber entscheiden, ob sie sich zu ihrer letzten Mahlzeit die Bohnen süß oder sauer servieren lassen.« Weil über sie verfügt ist. Auch wir können frei darüber entscheiden, ob wir uns unser Heute als Bom‐ benexplosion oder als Bobsleighrennen servieren lassen. Weil über uns, die wir diese freie Wahl treffen, bereits verfügt ist. Denn daß wir als Rundfunk-, bzw. Fernsehkonsumenten die Wahl zu treffen haben: als Wesen also, die dazu verurteilt sind, statt Welt zu erfahren, sich mit Weltphänomenen abspeisen zu lassen; und die Anderes, selbst andere Arten von Wahlfreiheit, schon kaum mehr wünschen, andere sich vielleicht schon nicht einmal mehr vorstellen können - darüber ist bereits entschieden. (Anders 1985, 1) Postmans Negativität verband sich in den 1980er-Jahren mit der anderer Theoretiker wie Jean Baudrillard (→ S. 199) oder dem US-amerikanischen Soziologen Richard Sennett (geb. 1943 in Chicago), der 1977 sein bekann‐ testes Buch veröffentlichte: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Darin beklagt er das Schwinden der Öffentlichkeit und analysiert dessen Folgen für das Funktionieren demokratischer Gesellschaften. Sennett geht nicht wie Postman von den Medien aus. In ihrer Diagnose kommen aber beide Kritiker zu ähnlichen Ergebnissen: Mit dem Schwinden von kultureller Komplexität und politischer Öffentlichkeit werde der Verlust einer verbindlichen und vernünftigen gesellschaftlichen Sinnstiftung einhergehen. Damit schreiben sich Sennett und Postman in eine lange Reihe pessimistischer Kulturkritiker ein, der ja auch die von letzterem erwähnten dystopischen Schriftsteller H. G. Wells, Aldous Huxley und George Orwell zuzurechnen sind. Der Beginn dieser Reihe jedoch ließe sich bereits bei Sokrates’ Auslassungen über den Sittenverfall bei der Jugend ansetzen: Die Jugend liebt heute den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor den älteren Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten sollte. Die jungen Leute widersprechen ihren Eltern, schwadronieren in der Gesellschaft, verschlingen bei Tisch Süßspeisen, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer. (Sokrates, zitiert nach Maxeiner/ Miersch 2002, 99) Sokrates’ Auslassungen über die verderbte Jugend unterscheiden sich nur unwesentlich von denen, die der österreichische Liedermacher Wolfgang Ambros etwa 2.500 Jahre später kurz und bündig wie folgt persifliert: Die Jugend hat kein Ideal, kaan Sinn für wahre Werte. Den jungen Leuten geht’s zu gut, sie kennen keine Härte! (Ambros 1975) ✻ Wait a minute, Prof. Postman! Oder: Die schlechte Laune der Kulturpessimisten 161 <?page no="162"?> Geradezu in den alltäglichen Sprachgebrauch eingegangen ist Oswald Spenglers (1880-1936) These vom »Untergang des Abendlandes« (1918- 22). Erklären lässt sich dies nicht nur mit der Griffigkeit des von Spengler gewählten Titels, sondern auch mit seiner damals erstmals popularisierten These, dass der Geschichtsverlauf nicht progressiv hin zu immer höheren, besseren Entwicklungsstufen führe, sondern dass er im Gegenteil, analog zum Leben eines Organismus, zyklisch über Kindheit, Blüte, und Alter hin zum unvermeidlichen Verfall strebe. »Das engere Thema«, schreibt Spengler, sei für ihn »eine Analyse des Unterganges der west-europäischen, heute über den ganzen Erdball verbreiteten Kultur« (Spengler 1980, 70). Damit stand er in seiner Zeit nicht allein; antisemitische Kulturpessimisten wie Heinrich von Treitschke, Paul de Lagarde, Julius Langbehn, Werner Sombart oder Arthur Moeller van den Bruck gehörten ebenfalls dieser Traditionslinie an, welche direkt zum Nationalsozialismus führte. Dennoch glaubt Spengler, sich in seinem Vorwort zur Neubearbeitung 1922 gegen den gegen ihn erhobenen Vorwurf des Kulturpessimismus verteidigen zu müssen: Da erhebt sich denn das Geschrei über Pessimismus, mit dem die Ewiggestrigen jeden Gedanken verfolgen, der nur für die Pfadfinder des Morgen bestimmt ist. […] Die Härte des Lebens ist wesentlich, nicht der Begriff des Lebens, wie es die Vogel-Strauß-Philosophie des Idealismus lehrt. (Spengler 1980, VIIIf.) Sigmund Freud (Das Unbehagen in der Kultur, 1930) wiederum kann als Ausgangspunkt gelten für die späte, melancholische und gelegentlich ein wenig dekadente Blüte altösterreichischer Fin-de-siècle-Literatur, der etwa Arthur Schnitzler (1862-1931, Der Reigen, Traumnovelle etc.) oder Joseph Roth (1884-1939, Radetzkymarsch, Die Kapuzinergruft, Die Legende vom heiligen Trinker) zuzurechnen sind, ebenso wie dessen Freund Stefan Zweig, der vor seinem Selbstmord im brasilianischen Exil 1942 mit Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers einen großartigen Abgesang auf die untergegangene Kultur vorlegte: Es war mir zu schmerzlich, noch einen Blick auf dieses schöne Land zu tun, das durch fremde Schuld grauenhafter Verwüstung anheimgefallen war; todgeweiht schien mir Europa durch seinen eigenen Wahn, Europa, unsere heilige Heimat, die Wiege und das Parthenon unserer abendländischen Zivilisation. […] Und ich wußte: abermals war alles Vergangene vorüber, alles Geleistete zunichte - 162 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="163"?> 35 Bei Paul Virilio und Friedrich Kittler werden wir diese These in ausgearbeiteter Form wiederfinden. Europa, unsere Heimat, für die wir gelebt, weit über unser eigenes Leben hinaus zerstört. (Zweig 1976, 286-312) Das »abermals« in den Worten Zweigs bezieht sich auf die dem Desaster des Zweiten Weltkriegs vorangegangene Katastrophe des Ersten. Zusammen mit einer allgemeineren Entzauberung der Welt durch Technisierung, Me‐ diatisierung, Industrialisierung, Kapitalismus sowie durch Darwin, Nietz‐ sche, Freud, Einstein und Heisenberg, hatte der Erste Weltkrieg zu tiefer Entwurzelung, Verstörung und Verunsicherung geführt. Karl Kraus hatte in seinem Endzeitdrama Die letzten Tage der Menschheit (1915-22) dramatisch die grenzenlose Brutalität des Krieges und die Untergangssehnsucht darge‐ stellt, die Europa damals aus seiner Sicht ein für alle Mal in den Abgrund getrieben hatten. Dazu schreibt der Literaturhistoriker Eckard Früh: Karl Kraus hat es wohlweislich unterlassen, am Ende eine schöne Perspektive zu eröffnen. Er wußte, daß »eine Zukunft, die den Lenden einer so wüsten Gegenwart entsprossen« war, schlimmer noch als schlimm ausfallen würde. Er war »völlig negativ«; er nörgelte »selbst an der Zukunft«. (Früh 1992, 259 f.) Interessanterweise sah Kraus tatsächlich einen Zusammenhang zwischen medientechnischen Entwicklungen und Kriegsgräueln. 35 Denn wenn man die menschliche Stimme, also auch das Kommando, auf Entfer‐ nungen wie Berlin - Wien übertragen kann, warum sollte es der Technik, die das Wunder von heute zur Kommodität von morgen macht, nicht möglich sein, einen Apparat zu erfinden, durch den es (…) einem Militäruntauglichen gelingen könnte, von einem Berliner Schreibtisch aus London in die Luft zu sprengen und vice versa? (Kraus 1988, 88 f.) Die lange Tradition von Endzeitstimmungen, kulturkonservativem Unbe‐ hagen und von pessimistischen Fantasien vom Untergang der Zivilisation ergibt eine beeindruckende Ahnengalerie, der allein im 20. Jahrhundert auf die eine oder andere Weise so unterschiedliche Denker wie Sigmund Freud, Walter Benjamin (Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, 1935), Guy Debord (→ S. 117, Die Gesellschaft des Spektakels, 1967), Ivan Illich (z. B. Fortschrittsmythen, 1978) und, wegen seiner Verachtung für die populäre Kultur und seinem mangelnden Ver‐ ✻ Wait a minute, Prof. Postman! Oder: Die schlechte Laune der Kulturpessimisten 163 <?page no="164"?> 36 Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft [Anmerkung des Autors]. ständnis für sie, auch Theodor W. Adorno (→ S. 110) zugerechnet werden können wenn auch stets mit vielen Vorbehalten, wie bei allen derartigen Zuschreibungen. Erlösung durch eine imaginierte ideale Gemeinschaft ist eine häufige Sehnsucht dieses regressiven und elitären Denkstils. Zumeist ersehnen Kulturpessimisten eine Rückkehr zu einer früheren, idealisierten Form der Gemeinschaft. »In sorgenvoller Denkerpose und vom eigenen Weltekel ergriffen, beklagen sie den angeblichen Verlust von Tradition und Tiefe« (Maxeiner/ Miersch 2002, 94), kritisieren die Autoren Dirk Maxeiner und Michael Mirsch und führen auf ihre eigene polemische Art weiter aus: Spaßgesellschaft. Unter diesem Kampfbegriff subsumieren sie alles, was dem wertkonservativen deutschen Bildungsbürger mit Opernabonnement und gro‐ ßem Latinum zuwider ist. Dazu zählen einfache Volksvergnügungen jeglicher Art sowie das Internet, Hollywood und die Stammzellenforschung. […] Anlässlich eines Symposiums zur Zukunft des Schwimmens im Frühjahr 2001 kritisierte die DLRG 36 -Führung, dass immer mehr Schwimmbäder in so genannte Spaßbäder umgewandelt werden. Opas rechteckiges Hallenbad stirbt aus. Ein deutlicheres Warnsignal für den Untergang des Abendlandes kann man sich kaum vorstellen. (Maxeiner/ Miersch 2002, 99 f.) Nicht zuletzt war es wohl die Bewusstwerdung des Medialen an sich, die die skizzierten, bewahrend-konservativen Ablehnungsreflexe ausgelöst hat. Die Erkenntnis des Prinzips der Medialität, dass nämlich jeglicher Wahrneh‐ mung und auch jeder gesellschaftlichen Kommunikation das Vermitteltsein durch Medien bereits anhaftet, mag wohl gelegentlich zu der unstillbaren Sehnsucht nach einem Eigentlichen führen, nach der Teilhabe an einem unveränderlichen, essenzialistisch gedachten, nicht-relationalen, transzen‐ denten, haltgebenden Wesen des Daseins. Medienkulturpessimismus ist deshalb nicht nur zumeist konservativ. Er ist auch naiv, denn die meisten Begriffe, die das Mediale im Sinne eines »Sekundären« (das Virtuelle, das Hyperreale, die Simulation) und damit innerhalb einer kulturpessimistischen Verfallstheorie thematisieren, zehren im Geist der philosophischen Tradition noch vom metaphysischen Glauben an eine Essenz der Dinge oder an ein Absolutes - ohne dieses je ausweisen zu müssen (wer führt heute schon einen Gottesbeweis? ). (Hartmann 2003, 145) 164 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="165"?> Dass nicht nur der medial indizierte Kulturpessimismus lange schon allge‐ genwärtig, sondern dass neuerdings auch die Reflexion über ihn äußerst präsent ist, zeigt beispielhaft die Berichterstattung der Süddeutschen Zeitung, die sich an zwei aufeinanderfolgenden Tagen wie folgt zum Thema äußert: Gedanken würden durch Bilder ersetzt, heißt es, die Intellektuellen verschwän‐ den, die Kritik sei am Ende, die bildende Kunst ein Tummelplatz der Scharlatane, kurz: Wo einmal Kultur war, da herrschten nun Flitterkram, Klamauk und Geprotze. […] Die Gebetsmühlenhaftigkeit des Vortrags erweckt den Eindruck, es gehe dabei weniger um die Sache als ums Lamentieren. (Konersmann 2013, 13) Wenn ein Medium den Höhepunkt seiner öffentlichen Wirkung überschritten und seinen langen Sinkflug begonnen hat, beginnen die Kulturkonservativen, es zu loben. […] Ein Medium ist bei Kräften, solang es als Schund gilt. Dass heute allgemeine Einigkeit über den Bildungswert des Buchs besteht, bezeugt dessen mediale Schwäche; und dazu gehört es wohl auch, dass es auf einmal soziale Qualitäten aufweisen soll, die man ihm früher rundheraus abgesprochen hat. […] Warten wir den nächsten Schub medialer Innovation ab: Dann nämlich wird es den Kulturkritikern nachträglich wie Schuppen von den Augen fallen, und sie werden das Verschwinden von Facebook mit seinen so offensichtlichen sozialen Qualitäten beklagen. (Müller 2013, 10) Ein großer Teil der Auseinandersetzung mit Vilém Flusser, von dessen Kommunikationsphänomenologie das folgende Kapitel handelt, drehte sich um die Frage, ob Flusser nun ein konservativer Schwarzseher oder aber ein grundlos optimistischer Technikeuphoriker sei. Das ist einerseits verständ‐ lich, denn Flusser leistete beiden Rezeptionsweisen Vorschub. Andererseits ist es sehr bedauerlich, denn es erschwerte eine unvoreingenommene Aus‐ einandersetzung mit einem der interessantesten Theoretiker und darüber hinaus auch großen Stilisten. Zusammenfassung: Neil Postmans Begabung bestand vor allem in der Medienfolgenab‐ schätzung. Er überprüfte zentrale Momente des Denkens von Marshall McLuhan und anderen Theoretikern auf ihre gesellschaftlichen Konse‐ quenzen hin und wurde zum eindringlichen Warner vor dem Verfall gesellschaftlicher Werte. Das Fernsehen, so Postman, habe Bildung und Information durch das Paradigma der Unterhaltung ersetzt. Die Folge sei ✻ Wait a minute, Prof. Postman! Oder: Die schlechte Laune der Kulturpessimisten 165 <?page no="166"?> eine generelle Verdummung der Bevölkerung. Weil Lesen und Schreiben als Kulturtechniken dramatisch an Wert verloren hätten, werde auch die Differenzierung zwischen Kindern und Erwachsenen verschwinden. In der Medienentwicklung glaubte Postman ausschließlich einen kul‐ turellen Niedergang und zivilisatorischen Verfall zu erkennen. Damit reiht er sich ein in eine Tradition konservativer Kulturpessimisten, die von Sokrates bis in die Gegenwart reicht und deren Höhepunkte unter anderem Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes und Günther Anders’ Die Antiquiertheit des Menschen darstellen. Der Verdacht, dass dahinter gelegentlich eine Unfähigkeit steht, sich mit dem Verlust von nicht hinterfragbaren Letztbegründungen abzufinden, ist wohl nicht ganz von der Hand zu weisen. Verständnisfragen zur Vertiefung: ● Worin unterscheidet sich Postman maßgeblich von seinem Lehrer Marshall McLuhan? (leicht) ● Warum verschwindet Postman zufolge die Kindheit? Woran lässt sich dieses Verschwinden ablesen? (leicht) ● Wie verändert das Fernsehen unsere Wahrnehmungsfähigkeit? (leicht) ● Wie verhalten sich laut Postman Technik und Medium zueinander? Geben Sie Beispiele! (mittel) ● Am Ende seines Lebens hielt Postman das Internet und die Com‐ putertechnik für überschätzt, sah in letzterer aber eine gewisse Hoffnung hinsichtlich der persönlichen Entwicklung von Heran‐ wachsenden und ihres möglichen Erwerbs von Kulturtechniken. Wie schätzen Sie das ein? (schwer) ● Postman wird unter seriösen Medientheoretikern nicht allzu ernst genommen. Versuchen Sie zu erklären, weshalb dies wohl so sein könnte! (schwer) ● Postman hatte mit seinen Büchern in Deutschland mehr Erfolg als in den USA. Worauf führen Sie dies zurück? (schwer) 166 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="167"?> ✻ Vom Dialog, von Kanälen und Codes: Vilém Flussers bodenlose Phänomenologie der Kommunikation Vorschau: ● Bodenlosigkeit und Freiheit ● Die Abstraktionsleiter ● Schrift und Geschichte ● Die technischen Bilder ● Diskurse und Dialoge ● Die Sinngebung des Projekts Mensch; Menschwerdung Die klassische Soziologie geht vom Menschen aus, von seinen Bedürfnissen, Wünschen, Gefühlen und Kenntnissen, und sie teilt die Gesellschaft nach zwischenmenschlichen Beziehungen auf, zum Beispiel in Gruppen vom Typ »Familie«, »Volk« oder »Klasse«. Die Kulturgegenstände sind für die klassische Soziologie Vermittlungen zwischen Menschen, und solche Gegenstände (wie Tische, Häuser, Autos) sind daher vom Menschen her zu erklären. Ein solcher Ansatz und solche Kriterien sind für die gegenwärtige Gesellschaftsstruktur nicht mehr gültig. Nicht mehr Menschen, sondern technische Bilder stehen jetzt im Zentrum, und dementsprechend sind es die Beziehungen zwischen dem techni‐ schen Bild und dem Menschen, nach denen die Gesellschaft zu klassifizieren ist, zum Beispiel in Gruppen vom Typ »Kinobesucher«, »Fernsehzuschauer« oder »Computerspieler«. Die Bedürfnisse, Wünsche, Gefühle und Kenntnisse des Menschen sind vom technischen Bild her zu erklären. (Flusser 1990, 45) Vilém Flusser wurde als Sohn eines jüdischen Intellektuellen 1920 in Prag geboren. 1940 konnte er sich gerade noch über England aus der von Deutschen besetzten Stadt nach Brasilien retten. Nahezu alle seine Familienangehörigen und Freunde jedoch wurden in Konzentrationslagern ermordet. Flusser erlebte dies als Sturz in eine existenzielle Bodenlosigkeit. In ihr hatte die Vernunft […] für immer ihren Boden verloren. Nie mehr konnte man sich von der vollkommen unvernünftigen, aber der Lage entsprechenden Überzeugung befreien, daß man »eigentlich« in den Gasöfen umkommen sollte; daß man von jetzt ab ein »unvorhergesehenes« Leben führte; daß man mit der Flucht sich ✻ Vilém Flussers bodenlose Phänomenologie der Kommunikation 167 <?page no="168"?> 37 Die Phänomenologie ist eine von Edmund Husserl (1859-1938) begründete philosophi‐ sche Strömung, die - als Basiswissenschaft allen Philosophierens gedacht - versucht, die Dinge unter weitestgehender Ausklammerung von vorschnellen Deutungen und Vorurteilen so zu sehen, wie sie der Anschauung unmittelbar gegeben sind. Das Ziel dieser Methode ist, die Philosophie als strenge Wissenschaft zu etablieren. 38 Der Religionsphilosoph Martin Buber (1878-1965) entwickelte, geprägt von der Phä‐ nomenologie Edmund Husserls, eine Lehre vom dialogischen Prinzip und dialogischen Leben als Quintessenz judäochristlichen Denkens, die - in säkularisierter Form (vgl. hierzu: Ströhl 2005) - außerordentlichen Einfluss auf Flusser ausübte: »Der Mensch wird am Du zum Ich.« (Buber 1995, 28) »Die verlängerten Linien der Beziehungen schneiden sich im ewigen Du. Jedes geeinzelte Du ist ein Durchblick zu ihm.« (Buber 1995, 71) Vgl. auch: Buber 1947 und Buber 1978. 39 Zu den technischen Bildern gehören u. a. die Fotografie, Poster, Röntgenbilder, der Film, Hologramme und Wärmebilder sowie das Video. 40 So der Titel des im vorstehenden Kapitel zitierten literarischen Nachrufs auf den kulturellen Raum Mitteleuropa von Stefan Zweig (→ S. 162), der ebenfalls nach Brasilien emigrierte, dort aber Selbstmord beging. selbst ausgerissen hatte, um sich in den gähnenden Abgrund der Sinnlosigkeit zu werfen. […] Man lebte von jetzt ab aus eigenen Kräften, nicht aus den Kräften, die von einem nährenden Boden kamen. […] Das Leben in der Bodenlosigkeit hatte begonnen. (Flusser 1992a, 28) In Brasilien wurde Flusser zum gefragten Essayisten und Privatgelehrten. Dennoch kehrte er 1972 überraschend nach Europa zurück, zog in ein provenzalisches Dorf und entwickelte dort allmählich seine Kommuniko‐ logie genannte Typologie von Kommunikationsstrukturen und seine vor allem von Edmund Husserls Phänomenologie 37 und von Martin Bubers Konzept vom dialogischen Leben  38 beeinflussten Thesen zur Geste Mensch, zu Diskursen und Dialogen, zum technischen Bild  39 sowie zum Ende von Schrift und Geschichte. 1991 starb er bei einem Autounfall auf der Fahrt von Prag nach Deutschland. Zur Eigenheit von Flusser als Medientheoretiker trägt sicherlich bei, dass er weder in einem wissenschaftlichen Sinn Theoretiker war noch sich vornehmlich mit Medien befasst hat. Und dennoch hat Flusser das heutige Denken über Medien mehr geprägt als sonst irgendein Theoretiker, Marshall McLuhan vielleicht ausgenommen. Flusser war und bleibt ein schwer zu fassender Außenseiter, der mit verblüffenden Analysen und verstörenden (aber sich zunehmend erfüllenden) Prognosen sein Publikum überraschte und verunsicherte. Er trat auf wie ein prophetischer Bote aus einer untergegangenen Welt. Die Welt von gestern, 40 das kulturelle Programm, für das der junge Flusser sozialisiert worden war, hatte sich in 168 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="169"?> 41 Nahezu gleichlautend in: Rapsch 1990, 242. der Tat buchstäblich in Rauch aufgelöst: »So ist Prag gestorben. Man ging in den letzten Tagen in seinen wohlbekannten und mit tausend Erinnerungen gesättigten Straßen umher und war in der Fremde.« (Flusser 1992a, 29) »Alle Menschen, mit denen ich in Prag geheimnisvoll verbunden war, sind umgebracht worden. Alle. Die Juden in Gaskammern, die Tschechen im Widerstand, die Deutschen im russischen Feldzug.« (Flusser 1992b, 252) 41 Doch aus diesem Sturz in die Bodenlosigkeit schöpfte Flusser die Kraft für einen radikalen Neubeginn, allerdings einen, der auf das erneute Wur‐ zelschlagen ein für alle Mal verzichten wollte. »Was nach der Katastrophe eintritt, können Sie nicht voraussehen. Aber es birgt andererseits auch alle Möglichkeiten zu Neuem - es gibt nichts Neues vor der Katastrophe, erst nach ihr.« (Flusser in: Albrecht 1990, 44) So berichtet Flusser über sein Leben: Als ich aus Prag vertrieben wurde […], durchlebte ich den Zusammenbruch des Universums. […] Aber dann […] begann ich, mir darüber klar zu werden, daß es nicht die Schmerzen eines chirurgischen Eingriffs waren, sondern die einer Entbindung. […] Ich wurde vom Schwindel der Freiheit erfaßt, der sich darin zeigt, daß sich die Frage nach »frei wovon? « in die Frage »frei wozu? « verkehrt. (Flusser in: Rapsch 1990, 242) Ich wurde in meine erste Heimat durch meine Geburt geworfen, ohne befragt worden zu sein, ob mir dies zusagt. Die Fesseln, die mich dort an meine Mitmenschen gebunden haben, sind mir zum großen Teil angelegt worden. In meiner jetzt errungenen Freiheit bin ich es selbst, der seine Bindungen zu seinen Mitmenschen spinnt, und zwar in Zusammenarbeit mit ihnen. […] Ich bin nicht, wie der Zurückgebliebene, in geheimnisvoller Verkettung mit meinen Mitmenschen, sondern in frei gewählter Verbindung. Und diese Verbindung ist nicht etwa weniger emotional und sentimental geladen als die Verkettung, sondern ebenso stark, nur eben freier. Das, glaube ich, zeigt, was Freisein bedeutet. (Flusser 1992b, 252 f) Aufgabe und Würde des Menschen liegen entsprechend bei Flusser darin, sich selbstbestimmt und in Zusammenarbeit mit anderen selbst zu entwer‐ fen, Verantwortung für den anderen und sich selbst zu übernehmen. Wir werden am Ende dieses Kapitels auf diese Form menschlicher Sinngebung zurückkommen. Um ihre Möglichkeit zu ergründen, musste sich Flusser intensiv mit Fragen der Kommunikation befassen. Seine Phänomenologie der Kommunikation soll im Folgenden umrissen werden. ✻ Vilém Flussers bodenlose Phänomenologie der Kommunikation 169 <?page no="170"?> 42 Nach dem amerikanischen Wissenschaftstheoretiker Thomas Kuhn, der in seinem Buch The Structure of Scientific Revolutions (1962) ein wissenschaftliches Modell zur Erklärung der Abfolge wissenschaftlicher Modelle beschrieb. Flusser interpretiert die Kulturgeschichte der Menschheit als eine Abfolge von fünf einander teilweise überschneidenden Phasen. Durch immer wei‐ tergehendes Zurücktreten aus der ursprünglichen Erlebniswelt bekam der Mensch eine zunehmend mittelbare Beziehung zur ihn umgebenden Welt. Seine Codes wurden dabei immer abstrakter. Diese Codes aber schlagen zurück: Sie haben kulturelle und gesellschaftliche Entwicklungen zur Folge (→ S. 94). Denn sie bestimmen, wie Menschen die Welt wahrnehmen und deuten. Die Bruchstellen zwischen den aus ihnen folgenden unterschiedli‐ chen Erlebnis- und Vorstellungswelten bezeichnet Flusser als Paradigmen‐ wechsel  42 . Das Modell ist eine aus fünf Stufen bestehende Leiter. Die Menschheit ist diese Leiter Schritt für Schritt aus dem Konkreten hinaus in immer höhere Abstraktio‐ nen emporgeklommen: ein Modell der Kulturgeschichte und der Entfremdung des Menschen vom Konkreten. Erste Stufe: Das Tier und der »Naturmensch« (diese contradictio in adjecto) sind in eine Lebenswelt gebadet, in eine vierdimensionale Raumzeit, welche das Tier und den »Naturmenschen« angeht. Es ist die Stufe des konkreten Erlebens. Zweite Stufe: Die uns vorangegangenen Menschenarten (etwa zwischen - 2.000.000 und - 40.000 Jahren) standen als Subjekte einem objektiven Umstand entgegen, einem dreidimensionalen, aus behandelbaren Objekten bestehenden Umstand. Es ist die Stufe des Fassens und Behandelns. Auf ihr stehen Gegenstände (zum Beispiel Steinmesser und geschnitzte Figuren). (Flusser 1990, 10) Auf der zweiten Stufe spaltet der Mensch seine Lebenswelt also in eine Objekt- und eine Subjektsphäre, indem er zu handeln beginnt, indem er seine Hand gegen die Welt ausstreckt. Dritte Stufe: Homo sapiens sapiens hat zwischen sich und den objektiven Umstand eine imaginäre, zweidimensionale Vermittlungszone geschoben, und er erfaßt und behandelt den Umstand dank dieser Vermittlung. Es ist die Stufe der Anschauungen und des Imaginierens. Auf ihr stehen die traditionellen Bilder (zum Beispiel die Höhlenmalereien). (Flusser 1990, 10) Das Denken in dieser dritten Phase ist zirkulär und magisch. Ein Bild, das einen krähenden Hahn und eine aufgehende Sonne zeigt, lässt in den Augen 170 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="171"?> seiner Betrachter ebenso den Schluss zu, dass der Hahn kräht, weil die Sonne aufgeht, wie umgekehrt, dass die Sonne aufgeht, weil der Hahn kräht. Vierte Stufe: Vor etwa 4 000 Jahren wurde zwischen den Menschen und seine Bilder eine weitere Vermittlungszone, die der linearen Texte, eingeschoben, der der Mensch von nun an den Großteil seiner Anschauungen verdankt. Es ist die Stufe des Begreifens, des Erzählens, die historische Stufe. Auf ihr stehen die linearen Texte (zum Beispiel Homer und die Bibel). (Flusser 1990, 10) Aus dem Bild werden nun einzelne Elemente herausgerissen, um dann in eindeutiger Reihenfolge auf Zeilen gereiht zu werden: Abbildung 13: Vom Bild zur Schrift - nach Vilém Flusser Die eindimensionale Linearität und Finalität der Schrift, in der immer eines aus dem anderen folgt, rufen geschichtliches Denken, Wissenschaft, Monotheismus und Aufklärung hervor. Fünfte Stufe: Die Texte haben sich jüngst als unzulänglich erwiesen. Sie erlauben keine weiteren Bildvermittlungen mehr, sie sind unanschaulich geworden. Und sie zerfallen zu Punktelementen, welche gerafft werden müssen. Es ist die Stufe des Kalkulierens und des Komputierens. Auf ihr stehen die technischen Bilder. (Flusser 1990, 10) Vor der Erfindung der Schrift war Geschichte undenkbar. Damals wurde das Neue nicht aus dem Alten abgeleitet. Das Denken war nicht kausal. Die Welt der Bilder ist die Welt des Mythos und der Magie, die vorgeschichtliche Welt. Die konzeptionelle Welt der Schrift dagegen ist die der Religionen, der Geschichte, Politik und Wissenschaft. »Geschichte ist eine Funktion des Schreibens und des sich im Schreiben ausdrückenden Bewußtseins.« (Flusser 1992c, 12) Die Linearität des alphabetischen Codes schlug auf das Denken zurück, es wurde selbst linear (fortschrittlich), und geschichtsbewußtes Handeln (also letzterdings ✻ Vilém Flussers bodenlose Phänomenologie der Kommunikation 171 <?page no="172"?> Technik) wurde möglich. Die Erfindung des Alphabets ist eine auf dem Weg zur Menschwerdung entscheidende Phase. (Flusser 1989b, 45 f.) Im Gegensatz zum mythischen Denken strebt das lineare, historische Denken voran, wobei jedes neue Ereignis oder Zeichen aus dem voran‐ gegangenen folgt, aus ihm ableitbar ist, und seinerseits ein folgendes verursacht. In geschriebenen Texten verweist jedes Element auf den Schluss‐ punkt. Dem entspricht die geschichtliche Einstellung. Nicht, dass nichts passieren würde, würden wir nicht lesen und schreiben; wir würden diese Geschehnisse nur nicht als Geschichte wahrnehmen, sondern als eine Szene. Geschichte dagegen ist das Produkt einer eindimensionalen, abstrakten Erklärung der Welt. »Mit der Erfindung der Schrift beginnt Geschichte, nicht weil die Schrift Prozesse festhält, sondern weil sie Szenen in Prozesse verwandelt: Sie erzeugt das historische Bewußtsein.« (Flusser 1993c, 68) Doch die Geschichte im traditionellen Sinn ist nun dabei, ihr Ziel zu erreichen. Unsere geschichtliche Denkweise steht im Widerspruch zu den nachgeschichtlichen Apparaten und Institutionen um uns herum. Unsere Ahnen schwammen im Strom der Geschichte, von ihr genährt und informiert. Wir aber haben die Geschichte überholt, und die Erbschaft unserer Großeltern bedeutet uns nichts mehr. Es ist so, als ob sie uns bis hierher gestoßen und am Rande des Abgrunds verlassen hätten. Wir fühlen uns verraten. Allein und verlassen sind wir mitten unter neue Dinge geschleudert worden und in uns selbst müssen wir eine Lösung finden, damit es zu einer Zukunft kommt. (Flusser 1993 f, 135) Flusser selbst hatte ja seinen Austritt aus der Geschichte als persönliche, als private Erfahrung erlebt. In der messianischen Ära sagt der Prophet vom Ziel der Geschichte: »Ihr werdet verwandelt werden.« […] Und vielleicht ist die Posaune schon erschallt, und die Welt hat sich schon in Asche aufgelöst, ohne daß wir es bemerkt hätten. Unser Gefühl der Unwirklichkeit ist dafür vielleicht ein Beweis. Vielleicht sind wir schon verwandelt worden. (Flusser 1993 f, 136 f.) 172 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="173"?> Erste Stufe Zweite Stufe Dritte Stufe Vierte Stufe Fünfte Stufe - Szenen Gegen‐ stände Bilder Texte Punktele‐ mente Dimensio‐ nen 4 (alle drei Raumdi‐ mensionen und Zeit) 3 (alle drei Raumdi‐ mensio‐ nen) 2 (flache Darstel‐ lung) 1 (lineare Repräsen‐ tation) 0 Beispiele Erlebnis‐ welt Plastiken, Götzenbil‐ der Höhlenma‐ lereien, Öl‐ gemälde Assyrische Tonplat‐ ten, die Bi‐ bel Ziffern, Pi‐ xel; daraus errechnete technische Bilder Vorzüge Unmittel‐ barkeit des Erlebens plastische Anschau‐ lichkeit Orientie‐ rungshilfe, Transpor‐ tabilität hoher Abs‐ traktions‐ grad, kau‐ sales Denken Komputa‐ bilität, Vi‐ sualisier‐ barkeit, Anschau‐ lichkeit Nachteile Distanzlo‐ sigkeit Götzen‐ dienst magisches Denken Textgläu‐ bigkeit Verwech‐ selbarkeit mit vorge‐ schichtli‐ chen Bil‐ dern Zeitachse: Beginn der Phase - vor ca. 2 Mio. Jahren vor ca. 40.000 Jah‐ ren vor ca. 4.000 Jah‐ ren vor ca. 180 Jahren Abbildung 14: Kulturgeschichtliche Epochen und die Dimensionalität ihrer Codes nach Vilém Flusser ✻ Vilém Flussers bodenlose Phänomenologie der Kommunikation 173 <?page no="174"?> Das lineare Denken, welches auf der Schrift basiert und wesentliche Voraussetzung des Konzepts Geschichte ist, ist nun also im Begriff, von einer neuen Denkweise an Wirkung übertroffen zu werden. Wie das Bild der zentrale Code der vorgeschichtlichen Epoche war, und die Schrift der Code der geschichtlichen, so entsprechen der numerische Code und seine Visua‐ lisierung als technisches Bild der beginnenden nachgeschichtlichen Periode. Digital kalkulierte und komputierte Information prägt den Charakter der kommenden Zeit ebenso wie die Schrift, von der Bibel bis Ulysses, den des historischen Denkens und Fühlens. In der Zukunft jedoch könnte sie vor allem dazu dienen, Vorlagen für technische Bilder zu liefern, denn das »Ziel der Geschichte ist es, ein Fernsehprogramm zu werden« (Flusser 1996b, 152), und die Technobilder kennzeichnet, daß sich in ihnen das Verhältnis zwischen der sogenannten Wirklichkeit und dem Symbolsystem (dem Code) umdreht. Alle früheren Codes - inklusive der traditionellen Bilder und linearen Texte - sind Träger von Botschaften hinsichtlich einer Welt, die es zu verstehen gilt. […] Die Technobilder hingegen sind Folgen einer Manipulation der Welt […]. Die Welt ist für die Technobilder nicht Ziel, sondern Rohmaterial. Sie vermitteln nicht zwischen Mensch und Welt - wie es alle vorangegangenen Codes taten […]. Der Mond ist von amerikanischen Astronauten »erobert« worden, damit man dies und die Ansprache Nixons auf der Leinwand sehen kann, und Terroristen entführen Flugzeuge, um dabei gefilmt zu werden. […] Die Geschichte läuft gegenwärtig im Hinblick auf Technobilder. (Flusser 1993a, 163 f.) Natürlich, so argumentiert Flusser, werde das historische Denken nicht ganz verschwinden. Es werde Generationen dauern, bis die neuen Denk- und Verhaltensweisen Alltag und Bewusstsein der Bevölkerungsmehrheit erreicht haben würden. Flusser selbst rechnete sich allerdings jenen zu, »die glauben, ohne Schreiben nicht leben zu können« (Flusser 1992c, 7). Ein Lamento über den sich bereits vollziehenden Verlust, so argumentiert er, könne uns aber nicht weiterbringen. Und die Schrift könnte sich, aus der Perspektive ihres Untergangs betrachtet, überdies sogar als kulturelle Fessel erweisen: Mit dem Schreiben, so sagen wir, ginge all jenes verloren, das wir einem Homer, einem Aristoteles, einem Goethe verdanken. Von der Heiligen Schrift ganz zu schweigen. Nur, woher wissen wir eigentlich, daß diese großen Schriftsteller 174 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="175"?> (inklusive dem Autor der Heiligen Schrift) nicht lieber auf Tonband gesprochen oder gefilmt hätten? (Flusser 1992c, 7) Das Problem aller Codes ist, dass sie zwar ursprünglich entstanden sind, um die Welt zugänglich und verständlich zu machen, sie zu vermitteln und zu erklären, dass sie sich jedoch im Laufe ihres Gebrauchs immer mehr vor die Welt schieben und schließlich den Zugang zu ihr eher verstellen als ermöglichen. Fototheoretiker vor Flusser beschäftigten sich fast ausschließlich mit dem Foto als Medium der Repräsentation, das heißt mit dem Verhältnis zwischen Abbildung und Abgebildetem bzw. dem zwischen den Zeichen und den von ihnen bedeuteten Objekten (→ S. 123). Flusser aber wählt einen radikal anderen Zugang zum Thema Fotografie. Seine Frage lautet: Wie haben a) das vorgeschichtliche Bild, b) die Schrift und c) das tech‐ nische Bild jeweils als Code unser Denken und Erleben, unsere Kultur, geprägt? Er interessiert sich nicht für den Zeichencharakter einzelner Fotos, sondern für die Codes, auf denen die technischen Bilder als Ganzes basie‐ ren. Dabei unterscheidet er zwei geistige Ansätze zum Bildermachen: Die Vorstellungskraft, die dem traditionellen, vorgeschichtlichen Bild zugrunde liegt, dient der auf zwei Dimensionen reduzierten Heraufbeschwörung eines in der vierdimensionalen Lebenswelt ersehenen Sachverhalts. Dem gegenüber steht die (neue) Einbildungskraft, die Voraussetzung ist für die Herstellung technischer Bilder. Diese Darstellungen dürfen nicht als indexikalische (→ S. 121) Repräsentationen missverstanden werden. Sie sind vielmehr Entwürfe, modellhafte Überlegungen, Komputationen, denen ein Bild gegeben wurde. Das technische Bild unterbricht den Fluss der Geschichte; das Foto wird zu deren Staudamm: Fotos sind nicht gerichtet; sie kreisen auf der Stelle, bleiben verfügbar. Technische Bilder stauen Ereignisse zu Szenen. Deshalb, aber auch aufgrund seiner Herkunft aus formal kalkulierendem Denken, kann das Foto als das erste nachgeschichtliche Bild gelten. Vom Gesichtspunkt dieses formalen Bewusstseins aus sind Fotos absichtsvoll aus einer Menge punktförmiger Möglichkeiten hergestellte Information. Strukturell sind sie Mosaiken ähnlich: Sie bestehen aus voneinander unterscheidbaren, distink‐ ten Punkten, aus Pixeln, die von Programmen und Algorithmen komputiert werden. Sie sind Modelle, welche einer zerfallenen Welt und einem zerfallenen Bewußt‐ sein Form verleihen, sie »informieren« sollen. Dabei ist bei ihnen der Bedeu‐ ✻ Vilém Flussers bodenlose Phänomenologie der Kommunikation 175 <?page no="176"?> tungsvektor umgekehrt worden: Sie empfangen ihre Bedeutung nicht von außen, sondern sie projizieren sie nach außen. Sie geben dem Absurden Sinn. (Flusser 1990, 141) Selbst wenn sie geschichtliche Ereignisse darstellen, sind technische Bilder nachgeschichtlich, weil sie nicht in einem Prozess der Abstraktion, sondern im Gegenteil durch Konkretisierung entstehen. Oft fälschlich als Repräsen‐ tationstechnik angesehen, ist ihre Struktur tatsächlich die von Projekten. Fotos sind programmiert, damit sich ihre Empfänger in Funktion der Bilder verhalten, »und die Programmierer werden dadurch zu einer herrschenden Elite von Technokraten, Medienoperatoren und Meinungslenkern, welche eine unbewusste Gesellschaft manipulieren« (Flusser 1998a, 186). Indem Zahlen durch Algorithmen zu Pixeln komputiert werden, können Modelle und Konzepte als technische Bilder visualisiert und projiziert wer‐ den. Dies ist nicht eine Funktion der Vorstellungskraft (auch: Imagination), sondern der Einbildungskraft. »Was bedeutet ein technisches Bild? « ist eine falsch formulierte Frage. Die tech‐ nischen Bilder stellen nicht etwas dar (obwohl sie dies zu tun scheinen), sondern sie projizieren etwas. Das von den technischen Bildern Bedeutete (»signifié«) ist etwas von innen nach außen Entworfenes (gleichgültig, ob es ein fotografiertes Haus oder ein Computerbild eines zu bauenden Flugzeugs ist), und es ist dort draußen erst, nachdem es entworfen wurde. Daher sind die technischen Bilder nicht vom Bedeuteten (»signifiant«) her zu entziffern. Nicht von dem her, was sie zeigen, sondern woher sie zeigen. Und die ihnen entsprechende Frage ist: »Wozu bedeuten die technischen Bilder? «. Ein technisches Bild entziffern heißt nicht, das von ihnen Gezeigte entziffern, sondern ihr Programm aus ihnen herauszulesen. (Flusser 1990, 42 f.) Traditionelle Bilder stellen Sachverhalte dar, die durch sie vermittelt werden. Doch Fotografien bilden weder Sachverhalte noch Objekte ab, sondern Texte, die auf Bildern beruhen: es sind Begriffe, die sich ein Fotograf vom Anblick einer Szene gemacht hat, welche einen Sachverhalt bedeutet. Dabei nutzt der Fotograf nicht seine Vorstellungskraft, sondern seine Einbildungs‐ kraft, indem er sozusagen Bildelemente oder Pixel ins Bild hinein gibt. Imagination ist die Fähigkeit, von der Umwelt zurückzutreten und sich ein Bild davon zu machen, während Einbildungskraft die Fähigkeit ist, einen Schwarm von Möglichkeiten in ein Bild zu setzen. Imagination ist Folge einer Abstraktion aus der Umwelt, Einbildungskraft ist die Kraft, aus Möglichkeiten ein Bild zu 176 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="177"?> konkretisieren. Fotos sind nachgeschichtlich, weil sie nicht abstrahieren, sondern konkretisieren. Sie mögen zwar häufig wie Abbilder aussehen (und daher damit verwechselt werden), sind aber ihrer Struktur nach im Gegenteil Projekte. […] Zwei Aspekte der Fotos machen die Sache schwierig. Erstens sehen die Fotos wie Abbilder aus, nicht wie Projektionen. Ein Foto eines Flugzeugs zeigt nicht auf den ersten Blick, daß es ebenso wie ein synthetisches Computerbild eines Flugzeugs nicht ein gegebenes, sondern ein mögliches Flugzeug bedeutet. Zweitens sieht es beim Foto so aus, als sei es von einem den Apparat bedienenden Knipser und nicht von einem den Apparat programmierenden Softwaremenschen hergestellt worden. Der projizierende und komputierende Charakter des Fotos ist nicht ebenso evident wie im Fall eines synthetischen Bildes. Aber gerade deshalb wäre ein Erlernen des Fotografierens im Sinn einer nachgeschichtlichen Projektion außerordentlich emanzipatorisch. […] Das uns umgebende und umspülende Fotouniversum wird sich dadurch von Grund auf ändern. Wir werden diesen Modellen nicht mehr blindlings zu folgen haben, sondern aktiv am Herstellen dieser Modelle engagiert sein. Es wird ein Universum sein, durch das hindurch wir uns aus der Gegenwart in die Zukunft projizieren werden. (Flusser 1998a, 184-187) Trotz dieses letztlich optimistischen Ausblicks ist die Rezeption der tech‐ nischen Bilder, welche unsere heutige Erfahrungswelt beherrschen, mit mehreren gravierenden Problemen und Risiken behaftet. Wir verfügen über kein Instrumentarium, das etwa der Kritik im Universum der Texte entsprä‐ che, und unterliegen auch deshalb besonders leicht der Gefahr, technische Bilder mit traditionellen zu verwechseln. Die Bedeutung, die Fotos und Filme vermitteln können, liegt nicht in den von ihnen abgebildeten Dingen der Objektwelt. Sie verweisen nicht auf Objekte der Lebenswelt, sondern auf die wissenschaftlich-technischen Theorien, die ihnen zugrunde liegen. Dennoch werden sie häufig wie vorgeschichtliche wahrgenommen, mit einem magischen Bewusstsein also, das von der Realität des Abgebildeten ausgeht anstatt von der Realität eines Abbildungsverfahrens. ✻ Vilém Flussers bodenlose Phänomenologie der Kommunikation 177 <?page no="178"?> mit einem magischen Bewusstsein also, das von der Realität des Abgebildeten ausgeht anstatt von der Realität eines Abbildungsverfahrens. Dieser ontologische Kurzschluss hat tiefgreifende Folgen, denn während traditionelle, vorgeschichtliche Bilder die Erfahrungswelt vermitteln wollen, beziehen sich technische Bilder auf Texte, die ihrerseits traditionelle Bilder bedeuten. Ihre Grundlage und Inhalte sind wissenschaftliche Theorien, Ideologien, Religion, Geschichte, Politik: das zweidimensionale Universum der Schrift. Die leichte Verwechselbarkeit beider Arten von Bildern führt zu einer außerordentlichen Anfälligkeit von Rezipienten, die Missverständlichkeit der technischen Bilder Einbildungskraft Vorstellungskraft semiotischer (und heidnischer) Kurzschluss Welt Abstraktion Bild Abstraktion Schrift Welt bedeutet Bild bedeutet Schrift bedeutet Technobild Welt Technobild Abstraktion in 3 Stufen (durch Texte und Bilder) Missverstehende Rezeption als »Bedeutung« (rezipiert wie traditionelles Bild) Abbildung 15: Bedeutungsvektoren nach Vilém Flusser Abbildung 15: Bedeutungsvektoren nach Vilém Flusser Dieser ontologische Kurzschluss hat tiefgreifende Folgen, denn während tra‐ ditionelle, vorgeschichtliche Bilder die Erfahrungswelt vermitteln wollen, beziehen sich technische Bilder auf Texte, die ihrerseits traditionelle Bilder bedeuten. Ihre Grundlage und Inhalte sind wissenschaftliche Theorien, Ideologien, Religion, Geschichte, Politik: das zweidimensionale Universum der Schrift. Die leichte Verwechselbarkeit beider Arten von Bildern führt zu einer außerordentlichen Anfälligkeit von Rezipienten, die sich dieses Sach‐ verhalts nicht bewusst sind, für Manipulationen aller Art (z. B. politischer Propaganda, Werbung etc.). Fotos werden nicht als Projektionen, also als Zukunftsbilder, sondern als Abbilder von Szenen, also als Vergangenheitsbilder, empfangen. Und es wird allgemein angenommen, daß Fotos Geschehnisse illustrieren (dokumentieren), als seien sie geschichtliche Bilder. Die Folge dieses Mißverständnisses zwischen den Program‐ mierern der Fotoerzeugungs- und -verteilungsapparate und den Empfängern der Fotos ist für die gegenwärtige Kultursituation überaus kennzeichnend. (Flusser 1998a, 185) 178 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="179"?> 43 »Laut den Rabbinern ist ein Jude ein Mensch, der nur Verantwortung übernimmt für etwas, das seinerseits Verantwortung für ihn annimmt. Wenn ich aber Verantwortung annehme für etwas, was sich mir gegenüber nicht verantwortlich benimmt, bin ich Heide.« (Flusser 2009, 249) Genauer beschreibt Flusser die Folgen an anderer Stelle: So wie sie uns gegenwärtig umgeben, bedeuten die technischen Bilder Modelle (Vorschriften) für das Erleben, Erkennen, Werten und Verhalten der Gesellschaft. Sie bedeuten imperative Programme. Die Einbildner und ihre Apparate geben gegenwärtig ihren Bildern eine nicht nur programmierte, sondern auch program‐ mierende Bedeutung. (Flusser 1990, 44) Das fundamentale Missverständnis, von Technobildern auf die Welt zu schließen, führt zur Gefahr der Manipulierbarkeit ihrer Rezipienten. Sie ist der Grund, weswegen den Massenmedien von Medientheoretikern in der Tradition der Frankfurter Schule (→ S. 108, genauer bereits in der Tradition Bertolt Brechts, → S. 64, und Walter Benjamins, → S. 70) generell eine böswillige Täuschungsabsicht unterstellt wird. Flusser bemüht nun theologische Termini, wenn er diesen Kurzschluss in der Rezeption der Technobilder als »Heidentum« brandmarkt. 43 Die Manipulierbarkeit durch technische Bilder stellt ein Problem dar. Die jüngere abendländische Kulturgeschichte besteht weitgehend aus Texten, die sich kritisch auf vorangegangene Texte beziehen. Genau dies ist das Wesen von Kritik. Nun, da das technische Bild aber das Leitmedium der Gegenwart geworden ist, fehlt uns eine schlüssige Kritik dieser Bilder. Dies wird sich, Flusser zufolge, wohl auch nur bedingt ändern lassen, da Kritik eine Funktion der Schrift ist. So stehen wir den uns programmierenden technischen Bildern weitgehend kritiklos gegenüber. Die technischen Bilder verdanken […] ihr Entstehen gerade jenem kritischen Bewußtsein […]. Sie verdanken ihr Entstehen jener Art von Texten (zum Beispiel wissenschaftlichen Texten), von der wir erwarten, daß sie diese Bilder wegerklä‐ ren möge. Anders gesagt: Die technischen Bilder sind ein Meta-Code der Texte, und wir versuchen in unserem kritischen Engagement, Texte als Meta-Code der technischen Bilder zu verwenden. (Flusser 1998b, 88) Wir benötigen dringend, stellt Flusser fordernd fest, eine Kritik der Techno‐ imagination und der Apparate, die sie herstellen. Anders als die Kritik der Schrift kann diese Kritik nicht darin bestehen, vermeintliche Bilder ersten ✻ Vilém Flussers bodenlose Phänomenologie der Kommunikation 179 <?page no="180"?> Grades hinter den technischen Bildern aufzudecken. Sie muss vielmehr die Texte an die Oberfläche bringen, die unter den technischen Bildern verborgen sind, die Programme und Ideologien also, die ihrer Herstellung zugrunde liegen. Die Programme der Apparate enthalten vorab getroffene, eingefrorene Entscheidungen; sie sind materialisierte Wertesysteme. Diese müssen wir durch die Bilder und die potenziell totalitären Apparate hin‐ durch kritisieren lernen. Nur so entgehen wir der Gefahr, von ihnen unbe‐ merkt programmiert und manipuliert zu werden. Entsprechend formuliert Flusser die Aufgabe einer Philosophie der Fotografie wie folgt: Die Philosophie der Fotografie ist notwendig, um die fotografische Praxis ins Bewußtsein zu heben; und dies wiederum, weil in dieser Praxis ein Modell für die Freiheit im nachindustriellen Kontext überhaupt aufscheint. Die Philosophie der Fotografie hat aufzudecken, daß die menschliche Freiheit im Bereich der automatischen, programmierten und programmierenden Apparate keinen Platz hat, um schließlich aufzuzeigen, wie es dennoch möglich ist, für die Freiheit einen Raum zu öffnen. Die Philosophie der Fotografie hat die Aufgabe, über diese Möglichkeit der Freiheit - und damit der Sinngebung - in einer von Apparaten beherrschten Welt nachzudenken; darüber nachzudenken, wie es dem Menschen trotz allem möglich ist, seinem Leben angesichts der zufälligen Notwendigkeit des Todes einen Sinn zu geben. Eine solche Philosophie ist notwendig, weil sie die einzige Form von Revolution ist, die uns noch offensteht. (Flusser 1991, 74) Die Frage der künstlichen Sinngebung angesichts der natürlichen Sinnlo‐ sigkeit des Lebens erweist sich als das zentrale Motiv, das Flussers Philoso‐ phieren antreibt. Sinn, so Flusser, kann nur dialogisch hergestellt werden. Er unterscheidet zwei Typen von Kommunikationsakten: dialogische und diskursive. Während im Diskurs Nachrichten von einem Sender zu einem oder mehreren Empfängern fließen und bereits zuvor bestehende Informa‐ tion übertragen wird, oszillieren im Dialog die Nachrichten zwischen den Beteiligten. Im Laufe dieses Prozesses werden Informationen synthetisiert. Neue Information stammt immer aus Dialogen. Um Informationen zu erzeugen, tauschen Menschen verschiedene bestehende Informationen aus, in der Hoffnung, aus diesem Tausch eine neue Information zu synthetisieren. Dies ist die dialogische Kommunikationsform. Um Information zu bewahren, verteilen Menschen bestehende Informationen, in der Hoffnung, 180 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="181"?> 44 »Entropie« ist ein Schlüsselbegriff Flussers, den er der Thermodynamik entliehen hat. Er bezeichnet die unaufhaltsame Tendenz des Universums, von geordneten zu ungeordneten Zuständen überzugehen, also letztlich den Wärmetod zu sterben. 45 In einem Pyramidendiskurs werden Informationen von oben nach unten autoritär durchgereicht. Es gibt weder Widerrede noch Dialog - und deshalb auch keinen Zugewinn an Information. 46 In einem Netzdialog kommuniziert potenziell jeder mit jedem. daß die so verteilten Informationen der entropischen Wirkung der Natur besser widerstehen. Dies ist die diskursive Kommunikationsform. (Flusser 1996b, 16) 44 Die Dynamik der Kommunikation besteht in der Ausarbeitung von Infor‐ mation durch Dialoge und ihre Übertragung durch Diskurse. Der Zweck des Diskurses ist nicht wie der des Dialogs, neue Information herzu‐ stellen, sondern bestehende zu verteilen. Darin besteht die dynamische Pulsation des Kommunikationsprozesses: Im Dialog werden Informationen hergestellt, die im Diskurs so verteilt werden, daß deren Empfänger in künftigen Dialogen daraus wieder neue Informationen herstellen können. Die verschiedenen Medien sind miteinander synchronisiert und aufeinander geeicht, und es hängt von dieser Koordination der Medien ab, wie die Kommunikation als ganzes vor sich geht. (Flusser 1996a, 273) Die Dominanz diskursiver Massenmedien sowie moderner öffentlicher Institutionen (Parteien, Kirchen, Verwaltung), die ebenfalls eine diskursive Pyramidenstruktur 45 aufweisen, resultiert im heutigen Ungleichgewicht zwischen Diskursen und Dialogen, das fortschreitend Dialoge verhindert. Allein Netzdialoge  46 (ergänzt durch zusätzliche diskursive Kommunikations‐ situationen) können jedoch eine Gesellschaft ermöglichen, in der Individuen Verantwortung füreinander übernehmen und gemeinsam neue Information erzeugen. Für unsere gegenwärtige Situation also ist die massive Vorherrschaft dis‐ kursiver Strukturen, die unser Verhalten programmieren, über die Dialoge kennzeichnend. Technisch unterstützt durch Kommunikationskanäle, die das Versenden von Nachrichten ermöglichen, nicht jedoch eine Rückant‐ wort, regnen diese Diskurse unaufhörlich auf uns herab. »So stellt sich das politische Problem des Totalitarismus und der Demokratie von einer Theorie der Kommunikation her dar.« (Flusser 1993e, 232) Flusser dringt deshalb auf die Verwandlung diskursiver Kommunikationsstrukturen in dialogische sowie auf deren technische Implementierung. Folgt man diesem Gedanken ✻ Vilém Flussers bodenlose Phänomenologie der Kommunikation 181 <?page no="182"?> Flussers, dann verdienen nicht die Zeitung oder das Fernsehen, sondern das Telefon und das Internet unsere Aufmerksamkeit und Förderung. Dem Dialog kommt jedoch über die Generierung von Information hinaus noch eine weitere fundamentale Funktion zu: Erst im Dialog mit Anderen gewinne ich meine Identität. In ihm entstehen ein Du und ein Ich. Dabei ist der Dialog selbst das Konkrete, Ich und Du aber sind nur Abstraktionen aus dieser Relation. Im Dialog erkenne ich einen Andern an. Wenn ich antworte, übernehme ich Verantwortung. Angesichts des absurden Daseins zum Tode, angesichts des Umstands, dass dem Leben kein Sinn vorgegeben ist und dass es darüber hinaus endlich ist, sind anerkennende Dialoge mit Anderen der einzige Weg, dem Leben Sinn zu geben. Tatsächlich läßt sich behaupten, daß die Kommunikation ihre Absicht, die Einsamkeit zu überwinden und dem Leben Bedeutung zu verleihen, nur dann erreichen kann, wenn sich Diskurs und Dialog das Gleichgewicht halten. Wenn, wie heute, der Diskurs vorherrscht, fühlen sich die Menschen trotz ständiger Verbindung mit den sogenannten »Informationsquellen« einsam. (Flusser 1996b, 17 f.) Mit seinen Gedanken zum technischen Bild und seiner Kritik an der Vor‐ herrschaft der Diskurse in unserer Gesellschaft hat Flusser wichtige Impulse für die zeitgenössische Medientheorie gegeben. Weshalb aber kann er, wie schon eingangs bemerkt, nicht als Medientheoretiker im engeren Sinn bezeichnet werden? Zum einen: Er spricht fast gar nicht von »Medien«, sondern vor allem von Kommunikationskanälen und von Codes. Zum an‐ deren aber: Auch diese Beschäftigung ist ihm kein Selbstzweck. Flusser war vor allem Phänomenologe, und nur innerhalb dieses philosophischen Zusammenhangs lässt sich von ihm auch als von einem Theoretiker der Kommunikation sprechen. Dabei geht es ihm um nichts weniger als die große Frage nach der Möglichkeit, dem Leben Sinn zu geben. In seinen letzten, Fragment gebliebenen Texten (Flusser 1994a) stellt er sich die Aufgabe, eine anthropologische Ausgangsbasis für diese Sinn‐ gebung zu skizzieren: »Die hier vorgeschlagene Anthropologie ist eine Disziplin, welche den Prozeß der Menschwerdung behandelt.« (Flusser 1994b, 200) Eine erste Menschwerdung, die zum Homo sapiens sapiens, sei unvollständig geblieben. Man hat es aus verständlichen Gründen satt, nach all dem im zwanzigsten Jahrhundert Geschehenen als Mensch herumzulaufen, und will sich ändern. Es ist 182 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="183"?> nur allzu verständlich, daß einem nicht wohl in der eigenen Haut ist. Aber, nach Abstreifen dieser Haut, als nunmehr rückgratlose, amorphe, schleimige Masse, in welche Form soll man sich krümmen? Was soll aus einem werden, der keine Lust mehr hat, angesichts der jüngsten Vergangenheit Mensch zu bleiben? (Flusser 1997, 2) Mensch zu sein - zu werden - ist laut Flusser ein von unserer Gattung noch nicht eingelöster Anspruch. Er entwirft eine Anthropologie, die diese vielleicht gar nicht einlösbaren Ansprüche als Horizont definiert und die Menschwerdung in den Mittelpunkt stellt: Eine derartige Anthropologie, die vom möglichen Menschen handelt, ist eine vorgreifende Disziplin, und sie versucht, am vorderhand Gegebenen (an der Säugetierspezies »Homo sapiens sapiens«) eine zu erreichende Möglichkeit (den Menschen im eigentlichen Sinn) zu erhaschen. (Flusser 1994b, 200) Falls »Mensch« als jenes Säugetier definiert wird, das den biologischen Regeln zum Trotz erworbene Informationen speichert und weitergibt - das heißt also, falls »Mensch« als ein Nicht-mehr-Tier definiert wird -, dann ist Menschwerdung das Speichern und Weitergeben erworbener Informationen. Man könnte dann von der Menschwerdung sagen, sie sei die Methode, aus einem Säugetier fortschreitend ein Nicht-mehr-Tier zu machen. (Flusser 1994b, 179) Der Grund, warum das Speichern und Weitergeben von Informationen eine derart zentrale Rolle spielt, ist der Tod. Er ist nach Flusser das Motiv, das Menschen zur an sich unnatürlichen Tätigkeit der Kommunikation antreibt: Der Zweck der menschlichen Kommunikation ist, uns den bedeutungslosen Kontext vergessen zu lassen, in dem wir vollständig einsam und incommunicado sind, nämlich jene Welt, in der wir in Einzelhaft und zum Tode verurteilt sitzen: die Welt der »Natur«. Die menschliche Kommunikation ist ein Kunstgriff, dessen Absicht es ist, uns die brutale Sinnlosigkeit eines zum Tode verurteilten Lebens vergessen zu lassen. (Flusser 1996b, 10) Unermüdlich variiert und paraphrasiert Flusser diesen Kerngedanken sei‐ ner Philosophie: »Die menschliche Kommunikation […] geschieht in der Absicht, die Sinnlosigkeit und Einsamkeit eines Lebens zum Tod vergessen und damit das Leben lebbar zu machen.« (Flusser 1996b, 16) Jeder Mensch stirbt zwar, doch hat er die Möglichkeit, Spuren zu hinterlassen, die über ihn hinaus bestehen, die ihm also in gewissem Sinne ein ewiges Leben ermöglichen: »In seinem vergeblichen Kampf gegen den Tod gräbt er ✻ Vilém Flussers bodenlose Phänomenologie der Kommunikation 183 <?page no="184"?> 47 Das Kunstwort »Telematik«, eine Komposition aus »Telekommunikation« und »Infor‐ matik«, bezeichnet die Verbindung von mindestens zwei datenverarbeitenden Syste‐ men über größere Entfernungen hinweg; mit ihrer Hilfe soll uns das Fernliegende automatisch nähergebracht werden. 48 Diese Formulierung ist auf Portugiesisch in Flussers und seiner Frau Ediths Grabstein eingemeißelt. Informationen in Gegenstände, um sie im Kulturspeicher zu lagern. Kultur ist ein Gedächtnis, worin sich der Mensch vor dem Vergessen verbirgt.« (Flusser 1993e, 226 f.) Ausgehend von »der Tatsache, daß wir absurderweise in einer absurden Welt da sind, daß es an dieser Tatsache nichts herumzuraten gibt und daß wir nichts anderes tun können, als diesem Geheimnis des Sinnlosen einen Sinn zu verleihen« (Flusser 1993b, 331), sei der Mensch berufen, ein selbstbestimmtes, zweckfreies - also heiliges - Dasein zu führen, das der Kontemplation, der theoretischen Anschauung, dem Dialog sowie dem Feiern und dem Spielen gewidmet ist. »Wir wissen wieder, dass der Sinn des Lebens die Muße ist, das Weekend, die Freizeit, die Ferien. […] Muße ist die Einstellung, in der man versucht, dem Leben einen Sinn zu geben.« (Flusser 2003) Hier liegt das große Potenzial der Telematik 47 . Sie erlaubt uns, uns auf eine ziellose, müßige und feierliche Weise im Andern zu erkennen, und zwar durch technische Bilder. Auch auf diese dialogische und verbindende Weise lassen sich technische Bilder also herstellen und verwenden. Nicht der Code »Bild« also entscheidet darüber, welche sozialen und kulturellen Folgen er nach sich zieht, sondern die dialogische oder diskursive Qualität der Kommunikationskanäle, in denen dieser Code seine Anwendung findet. Während alle nicht-dialogischen Bilder laut Flussser idolatrisch seien, also götzendienerisch, seien dialogisch-telematisch synthetisierte Bilder wie Gebete, Medien von Mensch zu Mensch. »Ich bin sterblich, du bist sterblich, wir sind unsterblich. Dies wäre eine annehmbare Formulierung des negativ entropischen Engagements.« (Flusser 1990, 125) 48 Zusammenfassung: Flussers Antrieb, sich mit den kommunikativen Strukturen in einer Ge‐ sellschaft und mit den dabei verwendeten Codes auseinanderzusetzen, steht in einem größeren philosophischen Zusammenhang: Er geht da‐ 184 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="185"?> von aus, dass das Leben an sich sinnlos ist, dass ihm jedoch Sinn gegeben werden kann, nämlich in einem anerkennenden Dialog mit einem Du, in dem in gemeinsamer Verantwortung spielerisch neue Information ausgearbeitet wird und sich das Subjekt als Projekt selbst entwirft und verwirklicht. Eben darin bestehe die menschliche Freiheit. Um diese Dialoge technisch gegen die manipulative, verdummende Macht des diskursiven Apparats zu ermöglichen, müssen die Kanäle der Kommuni‐ kation in dialogische verwandelt werden. Die Codes, die wir benutzen, bestimmen die Art und Weise, wie wir die Welt wahrzunehmen glauben und wie wir uns zu ihr verhalten. In phänomenologischen Betrach‐ tungen analysiert Flusser diese uns bedingenden Umstände, welche unsere Wahrnehmungs- und Erlebnismodelle prägen. Flusser legt eine ausgefeilte Typologie von Kommunikationsverhältnissen vor, deren wich‐ tigste Unterscheidung die zwischen diskursiven und dialogischen Struk‐ turen ist. Die dabei benutzen Codes und ihre wahrnehmungs- und ide‐ engeschichtlichen Auswirkungen (Erlebniswelt/ Unmittelbarkeit, Bild/ Magie, Schrift/ Geschichte und Technobild/ Nachgeschichte) ordnet er zu einem gestuften Abriss der Menschheitsgeschichte. Unsere momen‐ tane Situation ist demnach vom Niedergang des Paradigmas Schrift/ Ge‐ schichtlichkeit geprägt sowie vom Sprung ins Universum der technischen Bilder und dem darin herrschenden nachgeschichtlichen Lebensgefühl. Verständnisfragen zur Vertiefung: ● Erklären Sie den Zusammenhang zwischen Schrift und Geschichte! (leicht) ● Wodurch unterscheidet sich ein vorgeschichtliches Bild von einem technischen? (leicht) ● Nennen Sie Beispiele für diskursive und für dialogische Medien! (leicht) ● Warum war Flusser kein reiner Medientheoretiker, obwohl er doch auch Medientheoretiker war? (leicht) ● Sieht Flusser die heraufziehende Herrschaft der technischen Bilder eher als Gefahr oder als Chance? (mittel) ● Flusser starb, bevor sich das Internet als Massenmedium durch‐ setzte. Wie hätte er sich zum Internet gestellt? (mittel) ✻ Vilém Flussers bodenlose Phänomenologie der Kommunikation 185 <?page no="186"?> ● Benennen Sie markante Parallelen und Unterschiede im Denken Flussers und McLuhans! (mittel) ● Erkennen Sie hinsichtlich ihrer Zukunftszugewandtheit grundle‐ gende Unterschiede zwischen Vilém Flusser und Neil Postman? (mittel) ● Ist es legitim, aus dem eigenen persönlichen Schicksal (Sturz in die Bodenlosigkeit) philosophische Maximen (Sprung in die Nach‐ geschichte) abzuleiten? Ist dies möglicherweise sogar besonders fruchtbar und glaubwürdig? (schwer) ● Wie muss man sich das Ende des Paradigmas Geschichte in der Nachgeschichte vorstellen? (schwer) ● Wenn das gesamte Universum dem Zerfall im Wärmetod (Entropie) entgegenstrebt, welchen Sinn hat es dann, »Informationen in Ge‐ genstände zu graben«, um sich so unsterblich zu machen? (schwer) Everything Turns: Die Lawine der Wenden im 20.-Jahrhundert Die linguistische Wende To Everything (Turn, Turn, Turn) There is a season (Turn, Turn, Turn) And a time to every purpose, under Heaven (Seeger 1959) Flusser gebrauchte den von Thomas Kuhn geprägten Begriff des »Para‐ digmenwechsels« zur Abgrenzung verschiedener Epochen, die durch den Gebrauch unterschiedlicher Codes gekennzeichnet sind. Die Vorstellung von Paradigmenwechsel geht wohl auf das dialektisch-materialistische Konzept vom plötzlichen Umschlagen von Quantität in Qualität zurück. In moderaterer Variante hielt dieses Denken in die Geschichte der Medien‐ theorien Einzug in Form einer etwas merkwürdigen Abfolge sogenannter »Wenden« oder »Turns«, welche sich im 20.-Jahrhundert überschlagen. Etwa Anfang des 20. Jahrhunderts erlitt die Welt der Wissenschaften eine erkenntnistheoretische Erschütterung, wie sie zuvor nur durch Immanuel Kants rigide Kritik der reinen Vernunft ausgelöst worden war. Plötzlich 186 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="187"?> war nämlich ins allgemeine Bewusstsein gedrungen, dass man, wenn man mit Hilfe der Sprache und innerhalb des Systems der Sprache Phänomene untersucht, niemals Gewissheit darüber haben kann, ob die beobachteten Eigenschaften nun dem beobachteten Gegenstand zukommen, oder aber Effekte dieser Sprache selbst sind. Diese Linguistische Wende (engl.: Linguistic Turn), welche auch als »sprachkritische Wende« bezeichnet wurde, war überfällig. Sie war sowohl das Ergebnis als auch die Ursache von Medienentwicklungen. Und sie war die Mutter zahlloser weiterer »Wenden«, die nun in immer kürzeren Abständen den Diskurs überschwemmen würden. Aber zunächst zu ihren Ursprüngen. Es lassen sich drei verschiedene Ursachentypen für diese Mutter aller Wenden ausmachen: 1. Immanuel Kant (→ S. 41) und seine Lehre von den Aprioris, welche unser Wahrnehmen und Denken prägen. Wer eine grüne Brille trägt, glaubt, dass die Welt grün ist, fasste Heinrich von Kleist die Lehren zusammen, die er für sich aus Kants Kritik der reinen Vernunft gezogen hatte, und die ihrerseits auf Platons Höhlengleichnis zurückgehen. 2. Naturwissenschaftlich-philosophische Erkenntnisse, die das lineare Newtonsche Weltbild erschütterten. 1905 veröffentlichte Albert Einstein seine Relativitätstheorie; 1927 formulierte Werner Heisenberg seine Erkenntnis, dass ein Beobachter immer die beobachtete Situation beein‐ flusst. Begleitet wurde dies vom Aufkommen der Phänomenologie und ihrer relationalen Betrachtungsweise. Nicht nur Edmund Husserl ist hier zu nennen; auch in Ludwig Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus wird die Relation in einem ontischen Sinne über die Objekte gestellt: »Die Welt ist alles, was der Fall ist. […] Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge. […] die Tatsache […] ist das Bestehen von Sachverhalten. Der Sachverhalt ist eine Verbindung von Gegenständen (Sachen, Dingen).« (Wittgenstein 1984, 1.1 - 2.01, S. 11) Die Welt besteht also aus Sachverhalten, aus Relationen unter Objekten oder Everything Turns: Die Lawine der Wenden im 20.-Jahrhundert 187 <?page no="188"?> 49 Vgl. hierzu: »Wenn die Welt die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge ist (T. 1. 1) und wenn Tatsachen als bestehende Sachverhalte (T. 2) und Sachverhalte als Verbindungen von Gegenständen, Sachen, Dingen zu verstehen sind ( T. 2. 01), dann ist die Schlüsselrolle der Relationen zwischen den Gegenständen offenkundig. Was für unsere Welt, so wie wir sie erleben und erkennen, ausschlaggebend ist, ist ihre Relationalität.« (Runggaldier 2003, 82) sowie: »Worauf es […] ankommt, ist, dass die Welt aus Tatsachen, existierenden Sachverhalten - wie immer man sie nennen will - besteht. Diese weisen einen relationalen Charakter auf. Wir dürfen also schließen, dass trotz der bekundeten ontologischen Zurückhaltung sowohl die Mitglieder des Wiener Kreises als auch der frühe Wittgenstein die Ansicht vertraten, dass die Wirklichkeit relationaler Art ist.« (Runggaldier 2003, 91). Subjekten. 49 Nicht die Gegenstände sind gegeben; wirklich sind vielmehr die Beziehungen, aus denen unser Bewusstsein sie abstrahiert. 3. Das Aufkommen technischer, non-verbaler Massenmedien wie Fotogra‐ fie, Grammophon und Film im 19. Jahrhundert: Plötzlich war der Schrift eine Konkurrenz erwachsen. Es gab nun andere als nur sprachliche Wege, einen Gedanken zu formulieren und ihn einem großen Publikum zu vermitteln (→ S. 231). Damit war erstmals unübersehbar klar gewor‐ den, dass Sprache keine Selbstverständlichkeit ist und schon gar nicht neutral, dass sie sich, wie alle anderen Ausdrucksformen und Medien, auf den Inhalt des in ihr Gesagten auswirkt. Unsere Logik ist nicht anders als sprachlich vorstellbar; unser Denken kann nicht anders, als der Struktur der Sprache zu folgen, in der es stattfindet. Das heißt auch, dass, wie Wittgenstein sagte, die »Grenzen meiner Sprache […] die Grenzen meiner Welt« (Wittgenstein 1984, 67 [5.6]) bedeuten. Es wurde also nicht nur die Abhängigkeit unseres Denkens von der Sprache postuliert. Man konnte nun darüber hinaus folgern, dass die Art und Weise, wie eine Sprache funktioniert, auch bestimmt, wie wir die Welt wahrneh‐ men. So könnte man etwa die Subjekt-Objekt-Spaltung im abendländischen Denken als einen Grammatik-Effekt deuten, denn schließlich basieren bei‐ spielsweise alle indogermanischen Sprachen auf Sätzen, in denen ein Subjekt sich durch ein Verb auf ein Objekt im Akkusativ bezieht. Dabei bemerken wir hier kaum, dass die Sprache möglicherweise unser Denken manipuliert. Schließlich ist die Subjekt-Objekt-Spaltung ein so fester Bestandteil unserer Sprache, dass sie uns intuitiv vollkommen natürlich, vollkommen vertraut erscheint. 188 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="189"?> 50 Dieses Zitat wird meist Marshall McLuhan zugeschrieben. Es ist in dieser Form jedoch nirgendwo in seinem Werk auffindbar. Lediglich in McLuhans Buch Culture Is Our Business (McLuhan 1972) findet sich auf Seite 191 eine ähnlich lautende Stelle. Aber schon Albert Einstein hat das Bild vom Fisch gebraucht, dem das Wasser so selbstverständlich ist, dass er es nicht erkennen kann. Der Semiotic Turn und der Iconic Turn We don’t know who discovered water, but we know it wasn’t the fish. 50 Je vertrauter und selbstverständlicher uns etwas erscheint, desto weniger fällt es uns auf, und desto weniger leicht erkennen wir darin die Kontingenz, das heißt die Zufälligkeit seines So-Und-Nicht-Anders-Seins. Durch diese Erkenntnis gewann die Semiotik gewaltig an Bedeutung. Die Semiotik ist die Lehre von den Zeichen und Zeichenprozessen in Natur und Kultur. Ihr Gegenstand ist die Produktion und Interpretation von Zeichen. Ohne Zeichen gäbe es keine Bedeutung, keine Kommunikation und keine Medien. Obwohl das Nachdenken über Zeichen und Zeichenprozesse so alt ist wie die Philosophie, nahm die Semiotik als eigenständige Wissenschaft doch erst gegen 1900 ihren Anfang. Zeichen verweisen stets auf etwas anderes. Diese Zeichenhaftigkeit des Zeichens wird ihm jedoch meist verliehen; sie ist eine menschliche Konstruktion und Konvention. Zweck der Zeichen ist es, Beziehungen herzustellen. Anhand dieser Beziehungen lassen sich die Teildisziplinen der Semiotik unterscheiden: Die Syntaktik untersucht die Beziehungen der Zeichen untereinander. Die Semantik beschäftigt sich mit der Beziehung des Zeichens zum von ihm bezeichneten realen Objekt. Der Gegenstand der Pragmatik schließlich ist die Beziehung zwischen dem Zeichen und seinem Interpreten. Da nur Zeichen in der Lage sind, Information zu speichern und zu übertra‐ gen, ist die Semiotik die Grundlage jeder Wissenschaft von Kommunikation und von den Medien. Deshalb finden einige der wichtigsten Semiotiker in diesem Band auch in anderen Zusammenhängen Erwähnung. Dies gilt etwa für Charles Sanders Peirce (→ S. 121), Roland Barthes (→ S. 123), Roman Jakobson (→ S. 88), Ferdinand de Saussure (→ S. 189), Jean Baudrillard (→ S. 199), Jacques Derrida (→ S. 91), Umberto Eco (→ S. 91), Julia Kristeva (→ S. 91), Claude Lévi-Strauss (→ S. 201), Jurij Lotman (→ S. 90) und natürlich auch für Platon (→ S.-31). Besonders hervorzuheben sind jedoch die semiotischen Theorien de Saussures und Peirces. Saussure (1857-1913) entwickelt ein zweistelliges Everything Turns: Die Lawine der Wenden im 20.-Jahrhundert 189 <?page no="190"?> Konzept vom Zeichen. Ein Zeichen ist demnach immer sprachlicher Art. Es besteht aus einer im Geist vorhandenen (Vorstellung) und einer physischen Seite (zum Beispiel dem Lautbild eines Wortes). Diese beiden Bestandteile sind eng miteinander verbunden. Ihrer beider Verbindung nennt de Saussure »Zeichen«. Die Zeichenform wird auch »signifiant« genannt, der Zeichen‐ inhalt »signifié«. Ein Bezug des Zeichens zu einem realen Objekt wird von de Saussure nicht vorausgesetzt. Peirce ist im Zusammenhang mit dem von ihm eingeführten Begriff der Indexikalität (→ S. 121) bereits kurz vorgestellt worden. Er vertritt eine dreistellige Auffassung vom Zeichen, als das in seiner Theorie schlicht alles fungieren kann, nicht nur Bestandteile von Sprache. Neben dem Mittel, dem materiellen Zeichen, gibt es bei Peirce noch ein Objekt und einen Interpretant, ein System, dessen Teil das Zeichen ist. Ein Zeichen ist ein Ding, das dazu dient, ein Wissen von einem anderen Ding zu vermitteln, das es, wie man sagt, vertritt oder darstellt. Dieses Ding nennt man Objekt des Zeichens. Die vom Zeichen hervorgerufene Idee im Geist, die ein geistiges Zeichen desselben Objekts ist, nennt man den Interpretanten des Zeichens. (Peirce 2000, 204) Als der Linguistic Turn den Weg freigab für die Einsicht in die sprachliche Bedingtheit allen Denkens und Kommunizierens, geriet geradezu zwangs‐ läufig auch die Frage nach den Voraussetzungen von Sprache, nach den Bedeutung tragenden Zeichen also, in den Blick. Die Semiotik wurde schnell zur Grundlagen- und Metawissenschaft befördert, zur Schlüsseldisziplin für alle mit Bedeutung operierenden Wissenschaften, einschließlich der Kultur- und Medienwissenschaften. Deshalb wurde aus dem Linguistic Turn bald schon der Semiotic Turn, vertreten vor allem von Paul Ricœur und Roland Barthes (→ S.-123). Der Semiotic Turn erweiterte, ganz im Sinne von Peirce, die zu interpre‐ tierenden Zeichensysteme von den sprachlichen Codes auf alle Codes. Das Interesse war dabei nicht auf die Erkenntnis tiefer, essenzieller oder immer gültiger Strukturen gerichtet. Stattdessen nahm die Semiotische Wende im Rahmen der Cultural Studies eher zufällige und kontingente Entwicklungen in den Blick und untersuchte, wie sie sich mithilfe von Zeichen zum scheinbar Selbstverständlichen entwickeln. Dabei wurden stets die materiellen Aspekte von Zeichen in den Mittelpunkt gestellt. Der Semiotic Turn konzentrierte sich beispielsweise auf die Untersuchung von in Körpern oder Situationen eingeschriebenem Wissen. Insbesondere 190 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="191"?> 51 Vgl. Benjamin 1963b. 52 Z.-B. in Flusser 1990, in Flusser 1992c oder Flusser 1989a. feministische Ansätze und Gender Studies haben sich die Entwicklung des Semiotic Turns schnell zu eigen gemacht und so den Körper als kulturelles Medium interpretiert, als Oberfläche, auf der wesentliche Regeln, Werte, Hierarchien und Glaubensinhalte durch einfache Routinen und Regeln eingeschrieben, verstärkt und so verkörpert werden. Der Damm war nun gebrochen; es folgte eine Schwemme von Turns aller Art in immer kürzeren Abständen. Die Behauptung der totalen Dominanz einer sprachlichen Aneignung der Welt warf bald schon Zweifel auf. War nicht unsere Lebenswelt, waren nicht die Mittel unserer Kommunikation durch die technischen Medien Fotografie und Film, durch billigen Farboffsetdruck und durch das Fernsehen immer bunter und visueller, immer non-verbaler geworden? In einer interdiszipli‐ nären Zusammenarbeit unter Kunsthistorikern, Semiotikern (→ S. 189), Kommunikationswissenschaftlern, Wahrnehmungspsychologen, Ethnolo‐ gen, Philosophen und Medienwissenschaftlern wird seit den 1990er-Jahren der Versuch unternommen, eine allgemeine Bildwissenschaft zu begründen. Entsprechend sprach 1994 der deutsche Kunsttheoretiker Gottfried Böhm in seinem Buch Was ist ein Bild? (Böhm 1994, 11-38) vom Iconic Turn. Auch dem Bild sollte, so wie der Sprache, die Macht zukommen, unsere Wahrnehmung, unser Erleben und Denken, zu strukturieren. Mit der »Wie‐ derkehr der Bilder« hatte sich bereits in den 1980er-Jahren mit größter Intensität und unter ganz anderen philosophischen Vorzeichen Vilém Flus‐ ser (→ S. 174) beschäftigt. Böhms Buch und zahlreiche andere Stimmen, die zu Beginn des Iconic Turns lauter wurden, waren eher melancholischer und kulturpessimistischer Natur. Ihnen ging es um eine Rehabilitation des auratischen Bildes als Kunstwerk im Zeitalter seines in jeder Hinsicht billi‐ gen massenmedialen Einsatzes, 51 beispielsweise in der Werbung und in der Fernsehunterhaltung. Doch auch seriösere als nur restaurative Absichten waren mit dem Iconic Turn verbunden. Schließlich hatte sich trotz der unleugbaren Bedeutung des Bildes in der alltäglichen Kommunikation bis‐ lang keine Wissenschaft vom Bild herausgebildet, die auch nur ansatzweise den Sprachwissenschaften oder der Sprachphilosophie ebenbürtig gewesen wäre. Doch kann man überhaupt in Bildern denken (wie etwa Vilém Flusser forderte 52 )? Und wie gelingt es Bildern, Sinn zu erzeugen? Everything Turns: Die Lawine der Wenden im 20.-Jahrhundert 191 <?page no="192"?> 53 vgl. hierzu: http: / / www.topowiki.de/ wiki/ Paradigmen. Der von Böhm angestoßene Iconic Turn stellte diese grundsätzliche Frage ganz ausdrücklich. Dabei handelte es sich zwar zunächst um einen weitgehend auf den deutschsprachigen Raum beschränkten Diskurs. Zeit‐ gleich mit Böhms Wiederkehr der Bilder hatte aber auch der amerikanische Kunsthistoriker und Anglist William John Thomas Mitchell den Begriff des »Pictorial Turn« geprägt. Dabei ging er vom tatsächlichen Gebrauch von Bildern im Alltagsleben aus. Der Linguistic Turn erwies sich also als bloßer Anfang einer Rutschbewe‐ gung. Ein kurzer Überblick über die verschiedenen Wenden Well, I was tossing and turnin’, Turnin’ and tossing, Tossing and turnin’ all night. (Lewis 1960) Auf eingehendere Erläuterungen soll hier verzichtet werden. Dennoch folgt nun der Anschaulichkeit halber eine Auflistung einiger weiterer Turns und Wenden der vergangenen Jahre. Sie kursierten in immer schnellerer, sich teils überschlagender Folge. Und ganz sicher ist diese Liste weit davon entfernt, vollständig zu sein. Wenden, die es nur zu geringerer Popularität gebracht haben, sind hier gar nicht erst aufgeführt. Dazu gehören etwa der Relational Turn, der Social Turn, der Topological Turn, der Dialogical Turn und der Intersubjective Turn. 53 Jahrtausendelang hatten Menschen mit der Hilfe von Sprache und inner‐ halb sprachlicher Regeln und Grenzen philosophiert. Mit dem Linguistic Turn wurde ihnen nun schlagartig bewusst, dass sie dabei lediglich die re‐ gelkonformen Kombinationsmöglichkeiten innerhalb des Systems Sprache durchgespielt - und weitgehend ausgeschöpft - hatten. Von den Anfängen ihrer Geschichte bis hin zum Linguistic Turn hat die abendländische Philo‐ sophie »jede Technologie aus der Behandlung von Materie-Form-Problemen ausgeklammert«. (McLuhan nach Innis 1997, 5). Damit leitete McLuhan die nächste Wende ein, denn infolge seines wirk‐ mächtigen Statements, dass das Medium die Botschaft sei, geriet das Medium nun als zentraler Bestandteil des Kommunikationsvorgangs (und später auch von Medialität als Apriori von Wahrnehmung schlechthin) in den 192 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="193"?> Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Es entstanden eine Medienwissenschaft und die Medienphilosophien. Der rasche Aufstieg dieser Disziplinen zu modischen Leitwissenschaften in den 1980er-Jahren rechtfertigt zweifellos die Behauptung einer Medialen Wende oder eines Mediatic Turns. Wenden/ Turns Wichtige Ver‐ treter Literaturempfehlungen Linguistic Turn Ludwig Witt‐ genstein, Gus‐ tav Bergmann, Richard Rorty Gustav Bergmann: Logic and Reality. University of Wisconsin Press, Madison 1964. Richard Rorty: The Linguistic Turn. Recent Essays in Philosophical Method. University of Chicago Press, Chicago 1967. Semiotic Turn Paul Ricœur, Roland Barthes Bruno Latour und Steve Woolgar: Laboratory Life. The Construction of Scientifc Facts. Princeton University Press, Princeton 1986. Timothy Lenoir and Algirdas Julien Greimas: Was That Last Turn A Right Turn? The Semiotic Turn. In: Confgurations, Bd.-2, 1994, 119-136. Iconic Turn Vilém Flusser, Gottfried Böhm Gottfried Böhm: Die Wiederkehr der Bilder. In: Was ist ein Bild? Hrsg. V. Gottfried Böhm. Wil‐ helm Fink, München 1994. Christa Maar (Hg.): Iconic turn. Die neue Macht der Bilder. DuMont, Köln 2004. Pictorial Turn William John Thomas Mit‐ chell William J. T. Mitchell: The Pictorial Turn. In: Artforum: New York, März 1992; dt.: Der Picto‐ rial Turn. In: Christian Kravagna (Hg.): Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur. Edition ID-Ar‐ chiv, Berlin 1997. Visual Turn Angela Dalle Vacche Mitchell Stephens: The Rise of the Image and the Fall of the Word. Oxford University Press, Oxford 1998. Angela Dalle Vacche: The Visual Turn. Classical Film Theory and Art History. Rutgers University Press, New Brunswick 2003. Gerhard Paul (Hg.): Visual History. Ein Studien‐ buch. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2006. Everything Turns: Die Lawine der Wenden im 20.-Jahrhundert 193 <?page no="194"?> Cultural Turn David Chaney, Fredric Jameson David Chaney: The Cultural Turn. Scene-setting Essays on Contemporary Cultural History. Rout‐ ledge, London 1994. Fredric Jameson: The Cultural Turn. Selected Wri‐ tings on the Postmodern. Verso, London 1998. Lutz Musner (Hg.): Cultural Turn. Zur Geschichte der Kulturwissenschaften. Turia + Kant, Wien 2001. Postmodern Turn Jean-Fran‐ çois-Lyotard, Umberto Eco, Arnold J. Toyn‐ bee Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Passagen-Verlag, Wien 2009. Hassan Ihab Habib: The Postmodern Turn. Essays in Postmodern Theory and Culture. Ohio State University Press, Columbus 1987. Steven Seidman: The Postmodern Turn. New Per‐ spectives on Social Theory. Cambridge University Press, Cambridge 1994. Interpretive Turn Cliford Geertz, Doris Bach‐ mann-Medick David R. Hiley (Hg.): The Interpretive Turn. Philo‐ sophy, Science, Culture. Cornell University Press, Ithaca 1991. Cliford Geertz: The Interpretation of Cultures. Fontana Press, New York 1993. Véronique Mottier: The Interpretive Turn: History, Memory, and Storage in Qualitative Re‐ search. Forum Qualitative Sozialforschung/ Fo‐ rum: Qualitative Social Research, 6(2), 2005. Art. 33, http: / / nbn-resolving.de/ urn: nbn: de: 0114-fqs 0502330 Doris Bachmann-Medick: Interpretive Turn. In: Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neu‐ orientierungen in den Kulturwissenschaften. 3. Neu bearb. Auf. Rowohlt, Reinbek 2009. Pragmatic Turn Hilary Putnam, Richard Rorty, Mike Sandbothe William Egginton und Mike Sandbothe (Hgg.): The Pragmatic Turn in Philosophy. Contemporary Engagements between Analytical and Continental Thought. University of New York Press, Albany 2004. Performa‐ tive Turn Richard Schech‐ ner, Victor Turner, John Searle, Pierre Bourdieu, Judith Butler Erika Fischer-Lichte: Vom »Text« zur »Perfor‐ mance«. Der performative turn in den Kulturwis‐ senschaften. In: Georg Stanitzek und Wilhelm Voßkamp (Hgg.): Schnittstelle: Medien und Kul‐ turwissenschaften. DuMont, Köln 2001. Uwe Wirth (Hg.): Performanz. Zwischen Sprach‐ philosophie und Kulturwissenschaften. Suhr‐ kamp, Frankfurt am Main 2002. 194 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="195"?> 54 Diese Übersicht orientiert sich u.-a. an Münker 2009. Medial Turn Reinhard Mar‐ greiter Münker/ Roesler/ Sandbothe (Hgg.): Medienphi‐ losophie. Beiträge zur Klärung eines Begrifs. Fi‐ scher, Frankfurt am Main 2003, darin besonders: Margreiter 2003 (150-171). Reinhard Margreiter: Medienphilosophie. Eine Einführung. Parerga, Berlin 2007. Abbildung 16: Turns und Wenden 54 Die mediale Wende Die in unserem heutigen Alltag unübersehbar dominanten Medientechno‐ logien haben alle Aspekte von Berufs- und Privatleben erobert und geprägt. Wir können uns heute ein Leben ohne all diese Gadgets, Geräte und Programme kaum noch vorstellen. Ihre Präsenz und die von ihnen ausge‐ henden Nachrichten und Kommunikationsakte durchdringen tagtäglich unser Leben und bestimmen unser Bewusstsein, und zu einem großen Teil tun sie dies, ohne dass wir es bemerken. Entsprechend stellt die Philosophieprofessorin Sybille Krämer fest: Alles, was wir über die Welt sagen, erkennen und wissen können, das wird mit Hilfe von Medien gesagt, erkannt und gewußt. Dieser Gedanke ist der Nährboden einer Bewegung, welche seit geraumer Zeit Teile der Geisteswissenschaften beschäftigt und manchmal auch erschüttert. (Krämer 1998, 73) Die fortschreitende Digitalisierung und technische Standardisierung einst‐ mals unterschiedlicher medialer Inhalte verschärft diese Entwicklung noch weiter und erhöht zusätzlich die permanente Verfügbarkeit und Einsetzbar‐ keit medialer Anwendungen. Die psychischen, kulturellen, sozialen und politischen Effekte dieses revolutionären, geradezu eruptiven Prozesses sind noch weitgehend unerforscht. Doch der Mediatic Turn erzeugt ein Bewusst‐ sein für die möglicherweise sehr tiefgreifenden Folgen dieses Wandels. Unsere Mediennutzung formt und kontrolliert auf eine uns selbst weitge‐ hend unbewusste Weise unsere Subjektivität, unsere so genannte Identität und unser Empfinden der eigenen Freiheit und Selbstverantwortung. Wir nehmen den Umgang mit Medien als so selbstverständlich hin, dass wir uns nicht immer in angemessenem Umfang ihrer prägenden Wirkung bewusst sind. Ebenso wie Kant die Aprioris von Raum und Zeit postulierte, welche Everything Turns: Die Lawine der Wenden im 20.-Jahrhundert 195 <?page no="196"?> unsere Wahrnehmung strukturieren, so postuliert der Mediatic Turn deshalb ein mediales Apriori: Media, in this sense, can be said to constitute a kind of a priori condition, in the sense similar to Kant’s transcendental a priori. Just as water constitutes an a priori condition for the fish, so do media for humans. Like Kant’s understanding of the »always-already« existing categories of time and space that are constitutive of experience, media today can be said to structure our awareness of time, shape our attentions and emotions, and provide us with the means for forming and ex‐ pressing thought itself. Media, in slightly different terms, become epistemology: the grounds for knowledge and knowing itself. (Friesen/ Hug 2009, 64) Der Mensch als Medientier Mit dem Mediatic Turn hören die Medien auf, als Sonderfall des Kom‐ munizierens oder Denkens zu gelten. Sie werden nun der menschlichen Grundkonstitution zugerechnet. Anstatt von anderen sozialen oder erkennt‐ nistheoretischen Faktoren bestimmt zu werden, bestimmen sie diese. So, wie wir nicht Sprache sprechen, sondern von Sprache gesprochen werden, so drückt sich das Medium durch uns aus, anstatt dass wir uns durch das Medium als vermeintlich neutralem Werkzeug ausdrücken würden. In dem Moment, in dem Medien als konstitutiv für das Denken an sich betrachtet werden, hat sich ein grundlegender und tief greifender Umbruch vollzogen. Die Zeichensysteme, auf denen Denken beruht, werden nun nicht mehr nur als dem Denken wie auch den Medien gemeine symbolische Ord‐ nungen betrachtet, sondern sie werden mit den Medien selbst gleichgesetzt. In dieser Betrachtungsweise ist das Medium nicht nur, nach McLuhan, seine eigene Nachricht (→ S. 101). Vielmehr werden nun im Mediatic Turn der Code und sein Medium gleichgesetzt. So werden Medien nicht bloß zur Voraussetzung von Wissen und Erfahrung; sie entscheiden auch darüber, was zu wissen überhaupt möglich ist. Nach der absoluten Beschleunigung der Turns und Wenden vor einigen Jahren dürfte nun ein Punkt erreicht sein, an dem das Überbordende ins Nichts zusammenfällt. Es müsste nun eigentlich eine Art MetaWende kom‐ men, die das Paradigma der Wenden aufhebt auf eine höhere synthetische Ebene im hegelianischen Sinne. Tatsächlich scheint der Mediatic oder Medial Turn die wilde Progression der Kehren und Wenden fürs Erste beendet zu haben: 196 Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien <?page no="197"?> »Media […] are (at) the end of theory because in practice they were already there to begin with.« (Winthrop-Young/ Wutz 1999, XX) Everything Turns: Die Lawine der Wenden im 20.-Jahrhundert 197 <?page no="199"?> Medientheorien in der Postmoderne und Gegenwart ✻ Das Komplott der Simulakra: Jean Baudrillard Vorschau: ● Baudrillard - ein Medientheoretiker? ● Baudrillards Stil ● Kritik am Marxismus ● Simulation ● Die Gegenwehr des Realen ● Die Befreiung der Zeichen ● Medien verhindern Kommunikation ● Negativität Es gibt keine Medientheorie. (Baudrillard 1978e, 83) Ausgerechnet ein zunächst traditioneller Marxist war es, der die gesamte kritische Medientheorie bis dato in Frage stellen sollte. Er sollte also eine Spezies der dominierenden Gattung von Medientheorien hinterfragen, die davon ausgeht, dass Medien Teil eines Abbildungsverhältnisses seien, das in einer festen Verbindung zwischen Signifikant und Signifikat bestehe. Diesen Medientheorien zufolge wären Medien eigentlich der Ort, an dem diese Verknüpfung hergestellt wird. Denn von Platon über Benjamin bis hin zu Luhmann galt: ohne Original keine Kopie, ohne Idee kein Schatten (in der Höhle, → S. 36). Und umgekehrt galt: »Ohne Reproduktionen gäbe es keine Originale«. (Luhmann 2009, 106) Doch mit einer einzigen Bewegung stellt Jean Baudrillard diese mehrtausendjährige Denktradition in Frage. Was hat es damit auf sich? Jean Baudrillard, 1929 in Reims geboren und 2007 in Paris verstorben, wurde zunächst Deutschlehrer, promovierte dann aber und habilitierte sich als Soziologe. Sowohl vom historischen Materialismus als auch von der kommunistischen Partei, die ihn beide bis dahin maßgeblich geprägt <?page no="200"?> hatten, sagte er sich Mitte der 1970er-Jahre los. Etwa zur gleichen Zeit begann Baudrillard, sich intensiver mit Medien auseinanderzusetzen und seine These von der Verschwörung der Simulakra zu entwickeln, mit der sein Name bis heute verbunden wird. Er ist es auch, der Philosophie und Medientheorie auf eine Weise miteinander verband, die stilbildend geworden ist und die den Maßstab für heutige Medientheorien darstellt. Doch lässt sich diese Art des Denkens überhaupt noch als »Medientheorie« bezeichnen? Ich weiß nicht recht, ob ich ein Medientheoretiker bin. Der Ursprung meiner Theorie bestand in einer Analyse der Welt der Objekte und wie diese Welt der Alltagsgegenstände sich verändert hat. Das war eine Umschreibung der Revolution in die Revolution der trivialen Dinge. Natürlich war es unumgänglich, dann auch auf die Medien zu stoßen. Kann es überhaupt eine Theorie der Medien geben? Ich weiß nicht, da die Medien gerade eine Welt der Unentscheidbarkeit bilden. Durch sie verflüchtigt sich jede Wahrheit, löst sich jede Spielregel auf. Damit aber verflüchtigt sich auch die Theorie. Wir können deswegen keinen Omega-Standpunkt einnehmen, von dem aus sich eine Wahrheit über die Medien sagen ließe. (Baudrillard 1995a, 32) Dieser zweifelnde Zugang Baudrillards zu Medienfragen lässt sich auch an seinen frühen Publikationen ablesen, von seiner Dissertation über Das System der Dinge (Baudrillard 1968) über Die Konsumgesellschaft (Baudril‐ lard 1970) bis zu Für eine Kritik der politischen Ökonomie des Zeichens (Baudrillard 1972). Schon diese erste Marxismus-Kritik Baudrillards enthält eine Hinwendung zu den Medien. Ihr entstammt der auch auf Deutsch veröffentlichte Auszug Requiem für die Medien (Baudrillard 1978e). Der Spiegel der Produktion (Baudrillard 1975) und Agonie des Realen (Baudrillard 1978a) waren nochmals Abrechnungen mit dem Marxismus. 1976 erschien Baudrillards wohl wichtigstes Werk, Der symbolische Tausch und der Tod (Baudrillard 1976). Hier entwickelt er sein Konzept von der Simulation, das er dann in späteren Schriften, wie Simulacres et Simulation (Baudrillard 1981) und vielen weiteren, ausführt. Aus Baudrillards zahllosen Artikeln und Aufsätzen ein kohärentes me‐ dientheoretisches System zu destillieren, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Dies liegt zum einen nicht nur an der schieren Zahl seiner verstreuten Publikationen, sondern auch an seinem eloquenten aber dunklen Sprachstil: »Wir müssen uns im Paradox halten, ohne in den Unsinn zu geraten. […] Wenn man von Simulation sprechen will, muß die Sprache selbst 200 Medientheorien in der Postmoderne und Gegenwart <?page no="201"?> 55 »Le projeter partout ailleurs est une opération théorique frauduleuse.« 56 »Auquel cas la critique marxiste de l’économie politique n’est pas extensible à une théorie généralisée.« simulatorisch werden.« (Baudrillard 1991, 85) Aber es liegt zum anderen auch an zahlreichen Widersprüchen in seinem Werk selbst. Das kann nicht verwundern, denn er hatte nie im Sinn, ein »kohärentes medientheoreti‐ sches System« zu schaffen. Baudrillard wollte Anstöße geben, verunsichern, provozieren. Er übertrieb um des Effekts willen und bezeichnete sein Werk selbst freimütig als »Fiktion« (Baudrillard in: Oliveira 1993): Ich bin nicht mehr in der Lage, etwas zu »reflektieren«, ich kann lediglich Hypothesen bis an ihre Grenzen vorantreiben, d. h. sie der Zone entreißen, in der man sich kritisch auf sie beziehen kann, und sie an den Punkt kommen lassen, nach dem es kein Zurück mehr gibt; ich lasse auch die Theorie in den Hyperraum der Simulation eintreten - sie verliert darin jede objektive Gültigkeit, gewinnt aber vielleicht an Zusammenhalt, d. h. sie gleicht sich dem System an, das uns umgibt. (Baudrillard 2001b, 268) »Mein Ziel also ist es«, schreibt er, »einen kleinen, aber undurchdringlichen Punkt des Nicht-Kommunizierbaren, des Undurchsichtigen oder des Fatalen zu erzeugen, kleine Klumpen solcher fataler Strategien zu inszenieren.« (Baudrillard 1991, 91) Um die Entstehung von Baudrillards Simulationstheorie zu verstehen, ist ein Blick auf seine Kritik am Marxismus nötig. Diese wiederum richtet sich zunächst gegen die Übertragung der marxschen Analyse der Produktionsbe‐ dingungen im Europa des 19. Jahrhunderts auf vor- oder nachgeschichtliche Gesellschaften. »Sie immer auf alles zu projizieren, ist eine betrügerische theoretische Operation.« 55 (Baudrillard 1975, 70, Übs.: AS) So »lässt sich die marxistische Kritik der politischen Ökonomie zu keiner allgemeinen Theorie erweitern« 56 (Baudrillard 1975, 85, Übs.: AS). Umgekehrt aber würde ein Schuh daraus. Baudrillard ficht im Grunde mit Marx denselben Kampf, den dieser seinerseits mit Hegel ausgetragen hat (→ S. 44). Denn wieder wird ein philosophisches System auf den Kopf oder, je nach Standpunkt, vom Kopf auf die Füße gestellt: Für Baudrillard bedeuten die Produktionsverhältnisse keineswegs den Unterbau, aus dem sich Ideolo‐ gie, Kultur, Religion etc. als Überbau ableiten ließen. Ganz in der Tradition strukturalistischer Semiotiker und Ethnologen wie Marcel Mauss, Claude Lévi-Strauss, Georges Bataille oder Michel Foucault, sieht er stattdessen ✻ Das Komplott der Simulakra: Jean Baudrillard 201 <?page no="202"?> 57 »Il est à peu près clair (malgré les prouesses exégétiques des structuralistes marxistes) que l’analyse de la forme / représentation (le statut du signe, du langage qui commande toute la pensée occidentale) […] a échappé à Marx.«. 58 »[…] l’analyse marxiste […] est incapable de théoriser la pratique sociale totale […] sinon pour la réfléchir dans le miroir de production […]. Rétrospectivement d’ailleurs, il faut se demander s’il n’en a pas toujours été ainsi - si, du temps de Marx déjà, la théorie du mode de production n’opérait pas sur la pratique sociale une simplification extraordinaire.« auch im Ökonomischen vor allem dessen Zeichenhaftigkeit. Demnach ist es der symbolische Austausch, der eine Gesellschaft zusammenhält, und nicht das Gewinnstreben. Gabe und Gegengabe postulieren Regeln des Verkehrs miteinander und sie schaffen eine Ordnung der Dinge, die ein Zusammenleben ermöglicht, ein Wertesystem herstellt und Sinn stiftet. Der Tausch, das Zirkulieren der Zeichen, die Form der Kommunikation, sind die Grundlage auch des Ökonomischen, nicht umgekehrt. Auch der Ware kommt zuvorderst Zeichencharakter zu. »Es ist einigermaßen klar (trotz der exegetischen Heldentaten der mar‐ xistischen Strukturalisten), dass Marx die Analyse von Form/ Repräsentation (der Status des Zeichens, der Sprache, die das ganze abendländische Denken bestimmt) […] versäumt hat.« 57 (Baudrillard 1975, 7, Übs.: AS) Marx, so Baud‐ rillard, hat die Zeichenhaftigkeit der Produktion und des Warenaustausches verkannt, denn er war ein Kind seiner Zeit und somit Zeuge des entsetzli‐ chen Elends, das die Industrialisierung über große Teile der Bevölkerung Europas brachte. Deshalb war er nicht in der Lage, von der Ausbeutung der entfremdeten Arbeitskraft als spezieller Form des symbolischen Tausches zu abstrahieren. Außerdem ist die marxistische Analyse […] unfähig, die totale […] soziale Praxis theoretisch zu fassen, außer, um sie im Spiegel der Produktion zu reflektieren […]. Rückblickend also muss man sich fragen, ob es nicht immer so gewesen ist - ob nicht schon zur Zeit von Marx die Theorie der Produktionsweise eine außerordentliche Simplifizierung der sozialen Praxis vorgenommen hat. 58 (Baudrillard 1975, 110, Übs.: AS) Weil die Produktionsverhältnisse nach Marx das Sein bestimmen, die Kom‐ munikation - welche von ihm als solche aber gar nicht wahrgenommen wird - aber dem Überbau zuzurechnen wäre, kann es Baudrillard zufolge gar keine marxistische Kommunikations- oder Medientheorie geben. Die Me‐ dien lediglich nach ihren Besitzern zu sortieren und sie danach zu beurteilen, 202 Medientheorien in der Postmoderne und Gegenwart <?page no="203"?> welcher gesellschaftlichen Klasse sie in die Hände spielen, könne niemals eine Medientheorie ergeben. Weder Brechts Radiotheorie (→ S. 61) noch Adorno/ Horkheimers Wettern gegen den Verblendungszusammenhang in der Kulturindustrie (→ S. 108) oder Enzensbergers Warnungen vor der Bewusstseinsindustrie (→ S. 113) werden den Medien als einer »Rede ohne Antwort« (Baudrillard 1978e, 91) gerecht. »DIE WIRKLICH RADIKALE ALTERNATIVE […] LIEGT ANDERSWO«. (Baudrillard 1978e, 84) Wenn Brecht und Enzensberger behaupten, die Verwandlung der Medien in ein wirkliches Kommunikationsmedium sei technisch überhaupt kein Problem […], dann ist das in der Tat […] ÜBERHAUPT KEIN TECHNISCHES PROBLEM […], denn die Ideologie der Medien liegt auf der Ebene ihrer FORM (Baudrillard 1978e, 90), und nicht auf der der Besitzverhältnisse. »Nicht als Vehikel eines Inhalts, sondern durch die Form und Operation selbst induzieren die Medien ein ge‐ sellschaftliches Verhältnis, und dieses Verhältnis ist keines der Ausbeutung, sondern ein Verhältnis der Abstraktheit, der Abtrennung und Abschaffung des Tauschs.« (Baudrillard 1978e, 90) Indem sie Kommunikation verhindern, anstatt sie zu ermöglichen, bewirken die Medien an sich, unabhängig davon im Interesse welcher Klasse oder welcher politischen Ziele sie verwendet werden, eine Unterbrechung des zwischenmenschlichen Austausches und damit die Isolation des Individuums in der Gesellschaft. Es sind, ganz wie bei Marshall McLuhan (→ S. 101), die Funktion und die Formen der Medien, die wirken, nicht die von ihnen transportierten Inhalte oder Informationen. Ab Mitte der 1970er-Jahre übt Baudrillard harsche Kritik nicht nur an der Theorie des Marxismus, sondern auch am Verhalten der kommunistischen Partei Frankreichs. Er wirft ihr Versagen aus Unfähigkeit vor und spricht ihr auch den Willen ab, wirklich Macht zu erringen. Dieser Wille sei nur vorgetäuscht, und letztlich sei die Partei mehr daran interessiert, den revolutionären Gestus aus der Opposition heraus aufrecht zu erhalten und so die Verhältnisse zu stabilisieren, als das gesamte System umzustürzen: »Wie erzeugt man die Illusion eines Willens zur politischen Macht«, fragt Baudrillard, »und vermeidet zugleich dabei jeden politischen Einsatz, ohne sein Realitätsprinzip zu zerstören? « (Baudrillard 1978b, 87) An dieser Stelle nun setzt er sein Konzept der Simulation an. Die Kommunisten, schreibt er, werden eines Tages die Macht ergreifen, um zu verbergen, daß es keine Macht mehr gibt. Es handelt sich dann also nicht um eine Subversion, auch nicht um ✻ Das Komplott der Simulakra: Jean Baudrillard 203 <?page no="204"?> eine Revolution des Kapitals, sondern ganz einfach um eine Involution der Politik, eine Resorption der Politik und jeder politischen Gewalt in einer Gesellschaft, die sich einzig den Spielen massenhafter Simulation widmet. (Baudrillard 1978d, 82) Schon 1973 hatte er die materialistische Ideologie der Simulation bezichtigt: »Simulation einer universellen Zweckhaftigkeit der Berechnung und der produktiven Rationalität, Simulation einer Bestimmung dort, wo der sym‐ bolische Tausch weder Bestimmung kennt noch Ziel.« (Baudrillard 1975, 109, Übs.: AS) Unter einem Simulakrum versteht Baudrillard eine Kopie des Realen, die aber nicht weniger real ist als das Kopierte selbst. Vielmehr ähnelt sie ihm auf verwirrende Weise und verwischt so den Unterschied zwischen Original und Kopie. Im Simulakrum sind die Zeichen sich selbst genug. Sie verweisen nun nicht mehr auf eine Realität außerhalb des Zeichensystems. Durch diese inzestuöse Selbstbezogenheit jedoch geht die ursprüngliche Funktion der Zeichen verloren, denn ihrem Wesen nach stehen Zeichen ja für etwas an‐ deres, das durch sie repräsentiert wird. Nun werden sie autark und von ihrer Referenz auf eine Realität befreit. »Emanzipation des Zeichens: entbunden von der ›archaischen‹ Verpflichtung, etwas bezeichnen zu müssen, wird es schließlich frei für ein strukturales oder kombinatorisches Spiel, in der Folge einer totalen Indifferenz und Indetermination«. (Baudrillard 2005, 18) Diese These Baudrillards vom Referenzverlust der Zeichen, von ihrer Fähigkeit, frei zu flottieren, ist aus dem medientheoretischen Diskurs seither nicht mehr wegzudenken. Ebenso folgenreich ist Baudrillards Simulationstheorie geworden. Die »Simulation entspricht einem Kurzschluß der Realität und ihrer Verdopp‐ lung durch die Zeichen« (Baudrillard 1978c, 43). Von Original und Kopie zu sprechen, ist dabei sinnlos geworden. Denn es gibt weder eine Möglichkeit noch die Notwendigkeit, das Simulakrum vom Simulierten zu unterschei‐ den. »Überall gibt es den Effekt von perfekter Wiedergabe und absoluter Nähe des Realen: denselben Simulationseffekt.« (Baudrillard 2001b, 273) Dadurch entsteht etwas völlig Neues, ein verwirrender Modus des Seins, der mit hergebrachten Kategorien nicht beschrieben werden kann: Mit der Simulation verschwindet die gesamte Metaphysik. Es gibt keinen Spiegel des Seins und der Erscheinungen, des Realen und des Begriffs mehr. […] Es geht um die Substituierung des Realen durch Zeichen des Realen […]. »Jemand, der eine Krankheit simuliert, erzeugt an sich einige Symptome dieser Krankheit« […]. Beim Fingieren oder Dissimulieren wird […] das Realitätsprinzip nicht angetastet: 204 Medientheorien in der Postmoderne und Gegenwart <?page no="205"?> die Differenz ist stets klar, sie erhält lediglich eine Maske. Dagegen stellt die Simulation die Differenz zwischen »Wahrem« und »Falschem«, »Realem« und »Imaginärem« immer wieder in Frage. Ist ein Simulant, also jemand, der »wahre« Symptome produziert, krank oder nicht? […] Dann gleitet das ganze System in Schwerelosigkeit hinab und wird selbst nur noch ein gigantisches Simulakrum - nicht irreal, sondern ein Simulakrum, d. h. daß es sich niemals gegen das Reale austauschen läßt, sondern nur in sich selbst zirkuliert, und zwar in einem unun‐ terbrochenen Kreislauf ohne Referenz (référence) und Umfang (circonférence). […] Ausgangspunkt der Simulation […] ist die UTOPIE des Äquivalenzprinzips, DIE RADIKALE NEGATION DES ZEICHENS ALS WERT, sowie die Um‐ kehrung und der Tod jeder Referenz. (Baudrillard 1978c, 8-14) »Ein realer Überfall bringt nur die Ordnung der Dinge, das Besitzrecht, ins Wanken, ein simulierter Überfall dagegen ist ein Attentat auf das Realitätsprinzip selbst.« (Baudrillard 1978c, 35) »Eine simulierte Missetat ist auch ein Verbrechen, ein schlimmeres vielleicht, weil es ein Attentat auf das Wirklichkeitsprinzip selber ist.« (Baudrillard 1993, 265) Das »Verbrechen«, von dem Baudrillard von nun an immer wieder sprechen wird, besteht im »Tod des Originals« (Baudrillard 2005, 111), in der Ermordung der Realität durch ihre Simulation. Diese nämlich löscht die Differenz zwischen Zeichen und Bezeichnetem, zwischen ihr selbst und dem Original, also der Realität, aus, denn »die Verdoppelung genügt, um zu bewirken, daß sie beide künstlich erscheinen« (Baudrillard 1978c, 20). Als ikonischen Inbegriff für das Verschwinden der Realität aufgrund ihrer Verdopplung identifiziert Baudrillard 1976 die beiden Türme des World Trade Centers in New York. Warum hat das World Trade Center in New York zwei Türme? […] Dieser architektonische Graphismus ist der des Monopols: […] daß es zwei identische gibt, ist signifikant für das Ende aller Konkurrenz, das Ende aller ursprünglichen Referenz. […] Die zwei Türme des WTC sind das sichtbare Zeichen für die Abgeschlossenheit eines Systems im Rausch der Verdoppelung, während jeder der anderen Wolkenkratzer das Ursprungsmoment eines Systems ist, das sich durch die Krise und die Herausforderung ständig selbst übertrifft. (Baudrillard 2005, 110 f.) Das Prinzip des binären Codes, das Baudrillard im Digitalen ebenso er‐ kennt wie im US-amerikanischen Parteiensystem oder im Dualismus der Supermächte im Kalten Krieg, sorgt für die dauerhafte Stabilisierung mo‐ nopolistischer Systeme. Das Gleiche, aber verdoppelt, ohne Alternative ✻ Das Komplott der Simulakra: Jean Baudrillard 205 <?page no="206"?> zur Andersheit, bedeutet Stagnation in alle Ewigkeit; »es zerstückelt jeden Diskurs, es schließt alles kurz, was im inzwischen vergangenen goldenen Zeitalter die Dialektik des Signifikanten und des Signifikats, des Repräsen‐ tanten und des Repräsentierten war« (Baudrillard 2005, 100). Sozusagen im Futur II, also rückblickend aus einer fiktiven Zukunft, gibt Baudrillard 1976 auf makabre Weise eine verblüffend plausible Erklärung für die Anschläge des 11. September 2001: Noch mehr als irgendeine andere positivistische Ideologie, die von einer als gegeben und erkennbar angenommenen Wirklichkeit ausgeht, muss ja der Fundamentalismus jede Form von Simulation entschieden bekämpfen, weil diese die Realität durch Verdopplung nicht nur relativiert und der Lächerlichkeit preisgibt, sondern nachgerade auslöscht. Denn die wirkliche Definition des Realen lautet: das, wovon man eine äquivalente Repro‐ duktion herstellen kann. […] Am Ende dieses Entwicklungsprozesses der Repro‐ duzierbarkeit ist das Reale nicht nur das, was reproduziert werden kann, sondern das, was immer schon reproduziert ist. Hyperreal. (Baudrillard 2005, 116) Der Zustand der Hyperrealität ist in den Augen Baudrillards dann erreicht, wenn das Reale durch Zeichen des Realen ersetzt worden ist (die sich als das Reale der Zeichen ausgeben). Wenn es aber der Geschichte einmal gelingt, doch als Ereignis einzubrechen in die Totenstarre der Simulakra, so gerinnt das Ereignis augenblicklich wieder zum Bild und gewinnt so erst seine eigentliche Wirkung. »Im Fall des World Trade Centers […] findet eine Wechselsteigerung des Ereignisses und des Bildes statt, das Bild selbst wird ereignishaft, es wird als Bild zum Ereignis.« (Baudrillard 2002, 69 f.) Dazu führt Baudrillard weiter aus: Der Einsturz des World Trade Center war unvorstellbar, aber er war nicht ausreichend, um daraus ein reales Ereignis zu machen. Ein Übermaß an Gewalt genügt nicht, um in die Realität zu gelangen. Denn die Realität ist ein Prinzip, und es ist dieses Prinzip, das wir verloren haben. Wirklichkeit und Fiktion sind nicht auseinander zu halten, und die Faszination des Attentates ist in erster Linie eine Faszination durch das Bild. (Baudrillard 2001a) Eine erfolgreichere Strategie, die das Simulakrum entwickelt hat, um wei‐ terhin als Reales durchgehen zu können, besteht in der Manifestation seines Gegensatzes, in einer Simulation zweiter Ordnung. Im Schatten einer Fiktion, die offenkundig als Fiktion erkennbar ist, soll ex negativo der Anschein des verlorengegangenen Realitätsprinzips wiederhergestellt werden: »Alles 206 Medientheorien in der Postmoderne und Gegenwart <?page no="207"?> verwandelt sich in seinen entgegengesetzten Term, um in geläuterter Form zu überleben. Alle Mächte und alle Institutionen verleugnen sich, wenn es darum geht, mit Hilfe einer Simulation des Todes ihrer wirklichen Agonie zu entkommen.« (Baudrillard 1978c, 34) Als Paradebeispiel für eine solche Simulation zweiter Ordnung dient Baudrillard der Vergnügungspark Disneyland: Disneyland existiert, um das »reale« Land, das »reale« Amerika, das selbst ein Disneyland ist, zu kaschieren. […] Disneyland wird als Imaginäres hingestellt, um den Anschein zu erwecken, alles Übrige sei real. […] Es geht nicht mehr um die falsche Repräsentation der Realität (Ideologie), sondern darum, zu kaschieren, daß das Reale nicht mehr das Reale ist, um auf diese Weise das Realitätsprinzip zu retten. (Baudrillard 1978c, 25) Das »simulacrum is never that which conceals the truth - it is the truth which conceals that there is none. The simulacrum is true.« (Baudrillard 1983, 1) Disneyland ist ja nicht weniger »wahr« als der Rest der USA. Also treten wir aus der Geschichte heraus, um in die Simulation einzutreten (meiner Meinung nach geschieht dies jedoch ebenso mit dem biologischen Begriff des genetischen Codes wie mit den Medien, ebenso mit der Erforschung des Weltraums, der uns als Simulationsraum dient, wie mit dem Entwurf des Computers als Äquivalent und Modell des menschlichen Hirns usw.). Diese Annahme ist durchaus kein Anlass zum Verzweifeln, es sei denn, man betrachtet die Simulation als höchste Form der Entfremdung. (Baudrillard 2001b, 274) Die Simulation führt Geschichte im gewohnten Sinne ad absurdum, »wo ein Ereignis und seine Verbreitung in den Medien zu dicht aufeinander folgen, zu nah sind und sich daher unglücklich überlagern« (Baudrillard 2001b, 272 f.). Wenn geschichtliche Ereignisse mit dem Ziel geschehen, sofortige Berichterstattung in den Medien zu generieren, dann handelt es sich hierbei um eine »Verwirrung von Akt und Zeichen in Echtzeit« (Baudrillard 1993, 258). Dann sind die Folgen vor den Gründen da, denn sie erzeugen ihre eigenen Gründe. Dann kann von Kausalität im geschichtlichen Sinn nicht mehr die Rede sein. Von daher sind alle Raubüberfälle, Flugzeugentführungen usw. von nun an in gewisser Weise simulierte Vergehen, und zwar insofern, als sie sich von vornherein in die rituelle Dechiffrierung und Orchestrierung der Massenmedien einschreiben […] - kurz, sie funktionieren als ein Ensemble von Zeichen, die ✻ Das Komplott der Simulakra: Jean Baudrillard 207 <?page no="208"?> einzig und allein ihrer Zeichenrekurrenz dienen und nicht länger ihrem »realen« Zweck. (Baudrillard 1978c, 38) Baudrillard argumentiert hier ganz ähnlich wie Vilém Flusser (→ S. 175): Wenn über Ereignisse nicht mehr berichtet wird, weil sie stattfinden, sondern umgekehrt Ereignisse stattfinden, damit über sie berichtet wird, dann ergibt unsere herkömmliche Vorstellung von Geschichte keinen Sinn mehr. Das Realitätsprinzip wird von der Simulation untergraben, und das Prinzip der Ereignishaftigkeit von der Finalität des Geschehens im Hinblick auf die Medien. »Das ganze Scenario der öffentlichen Information und alle Medien haben keine andere Aufgabe als die Illusion einer Ereignishaftigkeit bzw. die Illusion der Realität von Einsätzen und der Objektivität von Fakten aufrechtzuerhalten.« (Baudrillard 1978c, 62) Natürlich führt dies aufseiten der Rezipienten zu Ermüdungserscheinungen und Abstumpfung: Die Medien wirken als Verstärker der Katastrophen und führen zu einer Ab‐ schreckungswirkung. Doch hat sich wie bei der nuklearen Bedrohung eine stabile Lage der Abschreckung eingestellt, in der das Gespenst des nuklearen Schlags verschwunden oder homöopathisch in das Alltagsleben eingetreten ist. (Baudrillard 1991, 88) Die »Mediatisierung löscht jeden Hinweis auf Referenz und Wahrheit aus« (Baudrillard 1995b, 27). Die fortgesetzte Simulation von Ereignissen durch die Medien führt einerseits zu einem Geschichts- und Realitätsverlust, andererseits aber auch zur Zerstörung der Glaubwürdigkeit dieser Medien. Haben die Medienbilder die Substanz des Ereignisses vereitelt, so doch auf eine solche Weise, daß die Glaubwürdigkeit der Medienbilder selbst vereitelt worden ist. […] Das Fernsehen infiziert uns allmählich mit der Indifferenz, mit dem agnostischen Reflex, mit einer viralen Apathie, eben durch diese Bildwerdung der Welt, die unsere Phantasie und jede andere geistige Fähigkeit betäubt. (Baudrillard 1993, 265) Diese Indifferenz führt zu einem veränderten Umgang mit den Medien und den von ihnen vermittelten Inhalten. »Heute geht es nicht mehr darum, an die Bilder, die vor unseren Augen vorbeiziehen, zu glauben oder nicht. Wir nehmen unterschiedslos die Realität und die Zeichen wahr, ohne daran zu glauben.« (Baudrillard 1994b, 144) Hier ist ein Punkt zu beachten, der etwas verwirrend sein kann, weil Baudillard ihn nie explizit macht: Wenn Baudrillard von »Medien« spricht, 208 Medientheorien in der Postmoderne und Gegenwart <?page no="209"?> dann spricht er von zweierlei zugleich, nämlich einerseits vom Medium als Form, das den symbolischen Tausch ermöglicht, weil es Zeichen für Objekte festlegt, und andererseits vom Medium als dem technischen Ver‐ mittlungsapparat, als Massenmedien. In beiden Hinsichten jedoch versagen die Medien gleichermaßen und stürzen uns in einen Zustand der Inkom‐ munikabilität, der Unfähigkeit zu kommunizieren. Erstens nämlich ist der Zusammenhang von Zeichen und Bezeichnetem zerstört, zweitens aber auch die dialogische Vermittlungsfunktion der Massenmedien. Sie sind zu einer Rede ohne Widerrede verkommen, denn unter ihrer Herrschaft können die Empfänger dem Sender nicht antworten. In keinem Fall also sind die Medien in Baudrillards Augen das, wofür sie allgemein gehalten werden, denn sie sind nicht dasjenige, was Kommunikation ermöglicht und die Massen informiert. Baudrillard geht schließlich so weit, die Massenmedien geradezu als das zu definieren, was Kommunikation verhindert: Die Massenmedien sind dadurch charakterisiert, daß sie anti-mediatorisch sind, intransitiv, dadurch, daß sie Nicht-Kommunikation fabrizieren - vorausgesetzt, man findet sich bereit, Kommunikation als AUSTAUSCH zu definieren, als reziproken Raum von Rede und ANTWORT (parole et réponse), als Raum also einer VERANTWORTUNG (responsabilité), - und zwar nicht im Sinne psychologischer oder moralischer Verantwortung, sondern als eine vom einen zum anderen im Austausch sich herstellende persönliche Korrelation. […] Die gesamte gegenwärtige Architektur der Medien gründet sich jedoch auf diese […] Definition: DIE MEDIEN SIND DASJENIGE, WELCHE [SIC] DIE ANT‐ WORT FÜR IMMER UNTERSAGT, das, was jeden Tauschprozeß verunmög‐ licht. (Baudrillard 1978e, 91) Der bittere Sarkasmus, der hier erkennbar wird, kann keineswegs auf eine spontane Aggression Baudrillards zurückgeführt werden. Die Medien sind bei ihm vielmehr nur ein Aspekt eines umfassenden negativen Weltbilds. Darin beziehen sich »drei Syndrome […] auf wichtige Bereiche unserer Modernität: Atomenergie, Terrorismus, Medien. Jedes steht für eine ganz besondere Barbarei, die sich aber alle entsprechen« (Baudrillard 1992, 140). Die Medien dienen nicht der Kommunikation, sondern deren Verhinderung. Da […] gibt es gar keinen unwiderstehlichen Kommunikationszwang oder Trans‐ parenzwillen. Das will man uns glauben machen, und es ist ganz die Ideologie der Medien, Illusionen über ihren »guten Einsatz« und ihre positive Funktion ✻ Das Komplott der Simulakra: Jean Baudrillard 209 <?page no="210"?> zu erwecken, die einem positiven und kollektiven Kommunikationsbedürfnis entspricht. Alles Quatsch. (Baudrillard 1992, 145) Baudrillards Medientheorie wurde dementsprechend häufig als negativ oder nihilistisch bezeichnet, und dies ganz zu Recht. Ihr Negativismus gipfelt schließlich in der Forderung nach der Destruktion der Medien. Es ist […] eine strategische Illusion, an eine kritische VER-WENDUNG der Medien zu glauben. Eine derartige Rede ist heute nur durch die DESTRUKTION der Medien als solcher möglich, durch ihre Dekonstruktion als System der Nicht-Kommunikation. […] Letztenendes ist es natürlich der Begriff des Medi‐ ums, der verschwindet und verschwinden muß. (Baudrillard 1978e, 101) Am Ende hat Baudrillard keine Lust mehr. Etwa ab der Jahrtausendwende schreibt er nur noch kaum verständliche Texte zu den verschiedensten Themen. Über Simulakra oder über die Medien schreibt er bis zu seinem Tod 2007 jedoch gar nicht mehr. Zusammenfassung: Baudrillard stellt selbst infrage, ob sein Werk als Medientheorie gel‐ ten und ob es eine solche überhaupt geben könne. Ausgehend von einer Kritik am Primat des Ökonomischen im Marxismus, welcher die Zweckfreiheit des symbolischen Tausches verkennt, entwickelt er seine Theorie der Simulation. Darin beschreibt er zwei Strategien, mit denen sich die Realität gegen den Angriff der Simulakra zur Wehr setzt. Seine ausgesprochen negative, nihilistische Analyse der Gegenwart begründet Baudrillard mit dem Verschwinden von Referenz, das heißt mit der Loslösung der Zeichen von dem von ihnen Bezeichneten, und mit der Wirkung der Massenmedien. Diese ermöglichen nicht etwa Kommunikation im Sinne eines Austauschs, sondern unterbinden sie. Verständnisfragen zur Vertiefung: ● »Wenn man von Simulation sprechen will, muß die Sprache selbst simulatorisch werden«, schreibt Baudrillard. Teilen Sie diese Hal‐ tung? Welche Konsequenzen hat/ hätte sie für die Wissenschaften? (leicht) 210 Medientheorien in der Postmoderne und Gegenwart <?page no="211"?> ● Baudrillard bezieht sich explizit oder implizit auf Walter Benjamin, Bertolt Brecht, Theodor Adorno und Max Horkheimer, Hans Mag‐ nus Enzensberger, Marshall McLuhan und Vilém Flusser. Beschrei‐ ben Sie diese Beziehungen jeweils in ein bis drei Sätzen! (leicht) ● Zu Beginn dieses Kapitels heißt es: »Mit einer einzigen Bewegung stellt Jean Baudrillard diese mehrtausendjährige Denktradition in Frage.« Was für eine »Bewegung« ist hier gemeint? Und: Stimmen Sie dem zu? (mittel) ● Würden Sie Baudrillards Werk als »Medientheorie« bezeichnen? Warum oder warum nicht? Gibt es nun also grundsätzlich eine Medientheorie oder nicht? (mittel) ● Worin besteht Baudrillards Kritik am Marxismus? (mittel) ● Vilém Flusser lehnte Baudrillards Begriff der Simulation ab, weil er seiner Meinung nach implizit eine naiv-positivistische Vorstellung von Realität voraussetze, die theoretisch unhaltbar sei. »Wenn etwas simuliert wird, also etwas anderem ähnlich ist, dann muß es etwas geben, das simuliert wird. Im Begriff der ›Simulation‹ oder des ›Simulakrums‹ steckt ein tiefer metaphysischer Glaube an etwas Simulierbares.« (Flusser 1996c, 231) Wie stehen Sie zu dieser Kritik? (schwer) ● Baudrillard starb 2007. Er hätte also, ebenso wie dies für Jürgen Habermas gilt, seine medientheoretischen Überlegungen angesichts der tiefgreifenden Veränderungen im Kommunikationsverhalten, die das Internet ermöglichte, verändern oder revidieren können. Keiner von beiden hat dies (bis heute) ernsthaft getan. Wie erklären Sie das? Machen die sozialen Medien nicht eine Revision der Theo‐ rien Baudrillards erforderlich? (schwer) ✻ Das Komplott der Simulakra: Jean Baudrillard 211 <?page no="212"?> 59 So erklärt Virilio z. B. in Die Sehmaschine, dass »die Geschwindigkeit kein Phänomen ist, sondern vielmehr die Beziehung zwischen den Phänomenen (die Relativität selbst)« (Virilio 1989, 168). ✻ Rasender Stillstand: Paul Virilio - der Krieg, die Beschleunigung, das Verschwinden Vorschau: ● Von der Phänomenologie zur Dromologie ● Bunker und Krieg ● Metabolische Geschwindigkeit und die Ästhetik des Erscheinens ● Mechanische Geschwindigkeit und die Ästhetik des Verschwindens ● Echtzeitmedien und rasender Stillstand ● Geschwindigkeit als Medium ● Telepräsenz und Teleaktion ● In Erwartung des absoluten Unfalls ● Die Eroberung des menschlichen Körpers Ihr habt keine Geschwindigkeit, ihr seid Geschwindigkeit. (Virilio 1986, 49) Ebenso wie Jean Baudrillard, aber auch wie Marshall McLuhan und Vilém Flusser, war Paul Virilio, der 1932 geborene französische Bunker- und Beschleunigungsphilosoph, Architekt, Essayist und Dromologe, als Philosoph stark von Husserls Phänomenologie (→ S.-168, Fn. 37, S.-90) geprägt: 59 »Of course, I am a phenomenologist. When young, I was a pupil of [Maurice] Merleau-Ponty, I loved [Edmund] Husserl.« (Virilio in: Armitage 2000, 26) Dromologe? In der Tat. Diesen Begriff erschafft Virilio 1977. Er leitet ihn von den altgriechischen Wörtern »dromos« (Rennbahn) und »logos« (Lehre) ab. »Dromologie« bedeutet also etwa »Wissenschaft vom Rennen«. Es handelt sich dabei aber weniger um eine Wissenschaft als um ein besonderes Erkenntnisinteresse, um eine Sichtweise: So, wie Flusser (→ S. 170) gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen von den in ihnen herrschenden Kommunikationsverhältnissen her erklärt, untersucht Virilio Gesellschaften in Abhängigkeit der in ihnen vorherrschenden Geschwin‐ digkeiten. Dabei greift er auf Forschungen in der Militärwissenschaft, Neu‐ rophysiologie, Physik, Technikgeschichte, Urbanistik und Verkehrswissen‐ schaft zurück. Der dromologische Zugang erlaubt ihm, Technikgeschichte 212 Medientheorien in der Postmoderne und Gegenwart <?page no="213"?> 60 Dromokratie ist Virilios Wortprägung für die Verbindung von Geschwindigkeit und Macht: Macht ist Geschwindigkeit. In ihr wird Macht erkennbar. und ihre Wirkungen auf unsere Wahrnehmung und unser Bewusstsein verständlich zu machen. Unser Angewiesensein auf Medialität ist eine vorausgesetzte Annahme in Virilios Anthropologie, ebenso wie auch das Ineinanderwirken von Raum und Zeit. Dromologie ist schon deshalb wenigstens mittelbar auch Medientheorie, weil jedes Medium in seiner geschichtlichen Phase eine spezifische Ge‐ schwindigkeit erzeugt. In Anlehnung an McLuhan (→ S. 101) könnte man sagen, Virilio geht davon aus, dass diese Geschwindigkeit die Message des Mediums sei. Die Geschwindigkeit ist also die eigentliche Mitteilung. Wie später noch erläutert wird, besteht sie immer in Gewalt, und hier wird eine Verbindung zwischen der menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit und der Entwicklung von Waffentechnologien deutlich. Nicht in den Inhalten der Medien liegt demnach deren Bedeutung und Wirksamkeit. Vielmehr verändern ihre Übertragungsgeschwindigkeiten unsere Beziehung zu Zeit und Raum. Dabei bemerkt Virilio, dass die gesamte Geschichte der Menschheit durch das Prinzip einer immer weiter fortschreitenden Beschleunigung vorangetrieben wird. Mit dem Erreichen der Lichtgeschwindigkeit durch die heutigen Medien- und Waffensysteme kommt die Beschleunigung, und mit ihr die Geschichte, aber an ihr Ende. So gelangt Virilio zu einer Geschichtsschreibung, deren Gliederung von medialen Umbrüchen, von sogenannten dromokratischen  60 Revolutionen, bestimmt wird. Bevor dieses Geschichtsmodell erläutert wird, ein paar Worte zu den Eigenheiten Paul Virilios als Autor: Als Philosoph meidet Virilio Festlegungen. Er antizipiert, umschreibt und weicht aus. Er gibt Beispiele aus der Geschichte, illustriert oder provoziert bildhafte Vorstellungen. In Interviews bezeichnet er sich selbst als schreiben‐ den Maler, als »a painter who writes« (Virilio in: Armitage 2000, 16). Argu‐ mentativ erscheinen seine Texte zunächst wenig stringent. Doch immer sind sie anschaulich, trotz ihrer sprunghaften Unruhe, ihrer wilden, spekulativen Assoziationsketten, ihrer Häufung unterschiedlichster Anekdoten, Beispiele und Exkurse, trotz ihres atemlos vorantreibenden Duktus. Leicht zu lesen ist Virilio nicht. Man muss ihn sich mühsam erarbeiten. Es hat den Anschein, als wolle er seine Thesen vom Verschwinden der Wirklichkeit und der Zerrüttung unserer Wahrnehmung durch Medienwirkungen (welche für ihn immer auch Kriegsfolgen sind), eher stilistisch darstellen als sie geduldig ✻ Rasender Stillstand: Paul Virilio - der Krieg, die Beschleunigung, das Verschwinden 213 <?page no="214"?> zu erklären. Wegen Virilios assoziativen, sprunghaften Stils ist nicht auf den ersten Blick zu erkennen, dass sich gerade dieser so spekulativ erschei‐ nende Denker einer im Grunde pragmatischen Medienphilosophie zuordnen ließe. Und doch ist dies der Fall, zumindest wenn man der pragmatischen Medienphilosophie mit Mike Sandbothes Definition die Aufgabe überträgt, zu untersuchen, wie technische Medien unsere Codes und damit unsere Vorstellungen von Raum und Zeit verändern: Die pragmatische Medienphilosophie untersucht, wie Veränderungen im Bereich der technischen Verbreitungsmedien zu Transformationen von Verwendungs‐ weisen und Nutzungsgewohnheiten im Bereich der semiotischen Kommunikati‐ onsmedien führen können, und stellt darüber hinaus die Frage, wie sich diese Verflechtungen ihrerseits auf unsere Raum- und Zeitvorstellungen […] auswir‐ ken. (Sandbothe 2003, 190 f.) Genau dies unternimmt Virilio. In vieler Hinsicht Baudrillard ähnlich, betreibt er eine düstere, negative Medienphilosophie. Medien ermöglichen ihm zufolge keinen Fortschritt, und die Echtzeitmedien sind Feinde der Menschheit. »Also ist das Fernsehen mit oder gegen uns? «, fragt Virilio, und fährt fort: »Ich glaube wohl, daß es […] ganz und gar gegen uns ist! « (Virilio 1990, 158) Sein Hass aufs Fernsehen und seine konservative, kulturpessimistische Grundhaltung verbinden Virilio mit Neil Postman (→ S. 153), wenn ihn auch sonst nichts mit Postman verbindet. Mit Friedrich Kittler (→ S. 236), dem letzten Medientheoretiker, der in unserer Galerie besprochen wird, vereinen ihn der Glaube an den Krieg als Vater aller Dinge und allgemeiner die Überzeugung, dass es stets technologische Entwicklun‐ gen sind, die die Geschichte vorantreiben (→ S. 230). Anders als Kittler sieht Virilio allerdings im Krieg zwar eine wesentliche, aber nicht die einzige Quelle aller Medienentwicklungen. Die prominente Stellung des Kriegs in Virilios Denken wird am augen‐ fälligsten durch seine Leidenschaft für Bunker unterstrichen, welche er als 26-Jähriger entdeckt. Während langer Wanderungen an der französischen Atlantikküste inventarisiert, dokumentiert und analysiert er die militäri‐ schen Anlagen, die die deutsche Wehrmacht zur Verteidigung gegen die Invasion der Alliierten angelegt hatte. 1976 mündet diese Faszination in eine große Ausstellung Virilios im Centre Pompidou in Paris. Doch auch darüber hinaus bleiben Bunker die maßgebliche Anregung für Virilios eigenwilliges Denken, ein positives Gegenbild zu seiner negativen Interpretation der Medienentwicklung. Bunker stehen für eine klare Positionierung in Raum 214 Medientheorien in der Postmoderne und Gegenwart <?page no="215"?> und Zeit; sie garantieren die Aufrechterhaltung der Unterscheidung von innen vs. außen. Bunker sind ein Zeichen der Hoffnung, der menschlichen Gegenwehr gegen die Kriegswaffen, gegen die Geschwindigkeit und gegen die Machtergreifung der Medien, welche die Welt unsichtbar machen, uns aber exponieren. Innerhalb der Logik der Medien gibt es keinen geschützten Raum, keinen Bunker, der uns Schutz gewährte. Geschichte, gegliedert durch dromokratische Revolutionen Zeitalter Schauplatz Medium Geschwin‐ digkeit Ästhetisches Paradigma 1. prähisto‐ risch geografi‐ scher Raum Frau, Nutztier, Segelschiff metabolisch Distanz, Er‐ scheinen 2. 19. & 20.-Jahrhun‐ dert relative Ge‐ schwindig‐ keit im Raum, Vi‐ sualisierung Dampfma‐ schine, Auto, Flugzeug mechanisch Beschleuni‐ gung, Ver‐ schwinden 3. spätes 20.-Jahrhun‐ dert Echtzeit, Aufhebung des Raums Telefon, Fern‐ sehen, Inter‐ net elektronisch Stillstand, po‐ tenzieller Un‐ fall 4. Gegenwart & Zukunft menschli‐ cher Körper Biotechnolo‐ gie, Implan‐ tate, Mikro‐ maschinen Stillstand Aufhebung der Opposition in‐ nen vs. außen, Beziehungslo‐ sigkeit Abbildung 17: Kulturgeschichtliche Epochen, Transportmittel und Geschwindigkeiten nach Paul Virilio Nicht allein die Architektur der Bunker - der Krieg selbst war es gewesen, der zu Virilios Denken die entscheidenden Anregungen gegeben hatte: »The main influence in my work has been the Second World War, that is, strategy, spatial planning, and this body of thinking about total war of which I was victim in my youth.« (Virilio in: Armitage 2000, 26) In anderen Schriften erläutert er diesen Einfluss genauer: Schon als Junge machte ich mir Gedanken über die Ästhetik der Kriegsmaschinen, über das, was ich für mich ihr Rätsel nannte. Oft blieb ich stehen, um einen Bunker zu betrachten oder die Silhouette eines U-Boots, das auf offener See trieb, und ✻ Rasender Stillstand: Paul Virilio - der Krieg, die Beschleunigung, das Verschwinden 215 <?page no="216"?> fragte mich, warum ihre glatten, blanken Formen so schwer zu entziffern seien, woher ihre geradezu plastische Unsichtbarkeit käme. (Virilio 1986, 115) Ich bin ein Kind des Krieges, ich habe ihn erlebt, er hat mich traumatisiert, und meine ganze Arbeit hat im Krieg ihren Ursprung. Der Krieg ist mein Vater und meine Mutter, meine Universität. Meine Erkenntnisse verdanke ich nicht so sehr Marx oder Descartes, sie stammen aus der Erfahrung des Krieges, besonders des Zweiten Weltkrieges, dann aber auch aus der Erfahrung des Kriegszustandes der Abschreckung. (Virilio in: Rötzer 1986, 151) Die Geschichte des Krieges ist zugleich die Geschichte der Medien. Beide wurden vor allem von immer weiter erhöhten Geschwindigkeiten vorange‐ trieben. In der Tat sind die menschliche Wahrnehmung, die zunehmend automatisierten technischen Medien und auch die Beschleunigung der Entwicklung dieser Medien wesentlich von Kriegstechnologien geprägt. Das reicht vom Fernrohr und den verschiedensten optischen Geräten über den Code farbiger Wimpel zur Verständigung auf dem Schlachtfeld über das Radio bis hin zum Internet: allesamt Medien, die für den Krieg entwickelt worden sind. In jedem Fall sollte die Bedeutung, die der Krieg für Virilio einnimmt, bei einer Betrachtung seiner Medientheorie stets berücksichtigt werden. Nach diesem Einschub nun also zurück zu Virilios Geschichtsmodell: Als historisch erstes Medium gilt Virilio die Frau, ist sie doch das Mittel, das Medium also, durch das Menschen auf die Welt gebracht werden. In prähistorischen Gesellschaften schleppt sie Hab und Gut, während der Mann jagt oder Krieg führt. »Auf den Wanderungen, bei Zusammenstößen trägt sie das Gepäck; lange vor dem Gebrauch des Hausesels ist sie das einzige ›Transportmittel‹«. (Virilio 1978, 74) Durch die Domestizierung von Lasttie‐ ren, besonders des Pferdes, wird der Mensch mobiler, ortsunabhängiger. Die Geschwindigkeit tierischer Organismen macht die Beziehung des Menschen zu Orten somit erstmals zu einer relativen Beziehung. Durch die Fähigkeit, große Entfernungen schnell zu überwinden, entsteht territoriale Macht. So erschafft die Kavallerie die ersten Reiche. In dieser Zeit der metabolischen Ge‐ schwindigkeit, in der die Leistungsfähigkeit des tierischen Stoffwechsels die Grenze des vom Menschen erreich- und kontrollierbaren Wirkungskreises bestimmt, dienen Medien wie Aussichtshügel oder Wachttürme vor allem der Sichtbarmachung des zuvor Verborgenen. Sie erzeugen eine Ästhetik des Erscheinens. 216 Medientheorien in der Postmoderne und Gegenwart <?page no="217"?> Die Erfindung von Medien wie der Dampfmaschine (im 17. Jahrhundert), der Fotografie (1827), dem Automobil (1886), dem Film (1895), dem Flugzeug (1783; erste Luftpost: 1911) verändert diese Situation. »Es gibt durchaus einen technologischen Donjuanismus: man besteigt Maschinen und nicht mehr die logistische Partnerin.« (Virilio 1986, 104) Motorisierte Verkehrs‐ mittel werden immer schneller, und dieses Schnellerwerden an sich, die Beschleunigung, wird nun zum entscheidenden Entwicklungsfaktor der Zivilisation. Virilio unterscheidet nicht zwischen Medien (und Medialität) des Transports und Verkehrs, der Wahrnehmung, Distribution, Übertragung oder Kriegsführung. Medium, ob audiovisuell oder automobil, ist alles, was zwischen Mensch und Welt steht und was günstigenfalls dazwischen ver‐ mittelt. Darum schreibt Virilio: »In der Tat ist das Automobil ein Projektor […]; der Motor des Autos und der des Projektors haben einen ähnlichen Effekt: beides sind Übertragungsmittel«. (Virilio 2000, 166) Auch Kriege und Kinos sind für ihn ein und dasselbe: »jene neuen Mischformen, die Motor, Auge und Waffe miteinander verbinden« (Virilio 1986, 63), in denen es um Beschleunigung und Informationsgewinn geht (und darum, selbst nicht gesehen zu werden). In all diesen Medien führen nun hohe (Reise-)Ge‐ schwindigkeiten zu einem Verschwimmen der Wahrnehmung, zu einem Ineinanderfließen der durchs Fenster gesehenen Wirklichkeit. Aus dem Zug- oder Autofenster kann man eine Landschaft an sich vorüberziehen sehen, und man kann die Kinoleinwand oder den Monitor so betrachten, als schaute man aus dem Fenster, solange Zug und Flugzeug nicht ihrerseits Kinos geworden sind … Eisenbahn, Auto, Jet, Flugzeug, Telefon, Fernsehen … durch die Prothesen des Reisens verläuft unser ganzes Leben im Zeitraffer, doch wir merken es gar nicht mehr … […] Was die Massen einst in die Kinosessel getrieben hatte, trieb sie nun auf die Autositze. (Virilio 1986, 68-71) Unschwer ist dieses Verhalten als Fluchtbewegung erkennbar. Die bewusst‐ seinstrübende Wirkung von Kino, Raserei und ähnlichen Ekstasen verfolgt als Ziel die Aufhebung oder doch zumindest das temporäre Verwischen der eigenen Existenz. Diese Zusammenhänge subsummiert Virilio begriff‐ lich als Umschlagen der Ästhetik des Erscheinens in eine Ästhetik des Verschwindens. »Es ist nicht so sehr der Nihilismus der Technik, der die Welt vernichtet, eher vernichtet der Nihilismus der Geschwindigkeit die Wahrheit der Welt.« (Virilio 1986, 78) Das Dasein in der lebensweltlichen Wirklichkeit wird so zum bloßen rauschhaften Kinoerlebnis. Denn zwangs‐ läufig muss »die Entwicklung der hohen technischen Geschwindigkeiten in ✻ Rasender Stillstand: Paul Virilio - der Krieg, die Beschleunigung, das Verschwinden 217 <?page no="218"?> das Verschwinden des Bewußtseins münden, wenn man unter Bewußtsein die unmittelbare Wahrnehmung der Phänomene versteht, die uns über unsere eigene Existenz unterrichten« (Virilio 1986, 117). So gesehen ist die gesamte Technikgeschichte mit ihrem Ehrgeiz, immer höhere Übertra‐ gungsgeschwindigkeiten zu ermöglichen, eine einzige Tragödie. Sie ist eine Entwicklung hin zu immer größeren Verlusten an Realität - bis die Reali‐ tät schließlich völlig verschwindet: »Umweltverschmutzung, Bevölkerungs‐ entwicklung, Rohstoffknappheit - beunruhigender als all das ist zweifellos die konstante Zunahme hoher Geschwindigkeiten; die Beschleunigung ist buchstäblich DAS ENDE DER WELT! « (Virilio 2000, 172) Innerhalb des Universums der technologischen Beschleunigung und seiner Ästhetik des Verschwindens bleiben die hohen Geschwindigkeiten aber relative Geschwindigkeiten. Sie sind noch nicht absolut. Erst der Telegraf macht es möglich, Daten schneller zu übertragen, als der Mensch reisen kann. Damit beginnt der Prozess der Entkörperlichung von Information. Von Beginn der Mediengeschichte an sind die Datenträger immer schneller und kleiner geworden, vom Marathonläufer bis zum Eilbrief. Doch erst seit der Telegrafie sind Nachrichten materielos. Sie benötigen nun gar keinen Datenträger mehr. Und auch keine Zeit. Die Nutzung der Lichtgeschwin‐ digkeit oder absoluten Geschwindigkeit durch die elektronischen Medien zerstört die natürliche Beziehung von Raum und Zeit sowie auch das Prinzip der Kausalität, denn wenn Ereignisse geschehen, damit Bilder von ihnen entstehen, und diese dann zeitgleich mit dem Ereignis zu zirkulieren beginnen, dann löst sich die Temporalität auf und die Kausalität wird fragwürdig. Nun befinden sich die traditionellen öffentlichen Repräsentationsformen (Graphik, Photographie, Film) […] in der Krise; sie werden durch eine Präsentation abgelöst, durch eine paradoxe Präsenz, eine Tele-Präsenz: hier und jetzt kann sie das Vorhandensein von entfernten Dingen und Lebewesen ersetzen. Die hochauflö‐ senden Technologien beziehen sich nicht nur auf Photos und Fernsehbilder, sondern auch auf die Wirklichkeit selbst. Denn mit der paradoxen Logik löst sich das wirkliche Vorhandensein der Dinge in Echtzeit endgültig auf. (Virilio 1991, 344) In Echtzeitmedien verdrängt die Präsentation die Repräsentation. Es wird deutlich, »daß das Bild den Primat über die Sache hat, deren Bild es ist« (Virilio 1993, 18), denn das Ereignis tritt, noch im Augenblick, in dem es 218 Medientheorien in der Postmoderne und Gegenwart <?page no="219"?> stattfindet, als bloßer Vorwand hinter seinen Zweck, Bilder zu generieren, zurück. Das logische Paradox ist […] die Logik des Bildes in Echtzeit, das die dargestellte Sache beherrscht, in jener Zeit, die von nun an den Vorrang vor dem realen Raum hat. Die Virtualität, die die Aktualität beherrscht, erschüttert sogar den Begriff der Realität. Daher die Krise bei den traditionellen (graphischen, photographischen, kinematographischen …) Formen öffentlicher Darstellung, von der eine Präsen‐ tation profitiert, eine paradoxe Präsenz, eine Tele-Präsenz des Objekts oder des Wesens aus der Entfernung, die seine Existenz selbst, hier und jetzt, ersetzt. Das bedeutet letzten Endes »hohe Auflösung«, und zwar nicht so sehr des (photographischen oder televisuellen) Bildes, sondern der Realität selbst. Durch die paradoxe Logik wird tatsächlich die Realität der Präsenz des Objektes in Echtzeit aufgelöst. (Virilio 1989, 144 f.) Je höher das Tempo, desto schneller verschwindet die Realität. »Die Telekommunikationsmittel […] bescheiden sich nicht damit, die Weite einzuschränken, sie zerstören auch jede Dauer, jede Verzögerung bei der Übertragung von Nachrichten und Bildern.« (Virilio 1996, 19) Höchste Geschwindigkeiten führen zum »Verschwinden der Einzelheiten der Welt im Flimmern der Geschwindigkeit« (Virilio 2000, 170), und schließlich tritt paradoxerweise der Stillstand ein. Virilio interpretiert diesen Vorgang als Aufhebung und erweist sich so als dialektischer (→ S. 43) Denker - wenn auch eben als negativ dialektischer. »Auf das Gleichartige folgt das Verschiedenartige […], in der Ästhetik des Verschwindens setzt sich das Unternehmen des Erscheinens fort.« (Virilio 1986, 59) Auf die These des Verborgenseins der Dinge und die Antithese ihrer Entbergung durch hohe Geschwindigkeit lässt Virilio die Synthese ihres Verschwindens durch die Höchstgeschwindigkeit der Gleichzeitigkeit folgen. Mit […] dem Aufkommen von Fernsehanstalten wie CNN wurde die Echtzeit die alles beherrschende Zeit. Eine praktische Dauer, die keinen Abstand, keine kritische Distanz mehr zuläßt, eine Zeitspanne, bei der nicht mehr das Vorher vom Nachher, der Angriff nicht mehr von der Verteidigung zu unterscheiden ist […], da niemandem mehr die notwendige Zeit zur Verfügung steht, sich eine Meinung zu bilden. (Virilio 1993, 18) Die Gegenüberstellung von aktuell vs. virtuell ersetzt angesichts dieser hohen Übertragungsgeschwindigkeiten die Frage nach Wahrheit oder Lüge. »Diese Frage ist nicht mehr aktuell, da die aktive - interaktive - Desinfor‐ ✻ Rasender Stillstand: Paul Virilio - der Krieg, die Beschleunigung, das Verschwinden 219 <?page no="220"?> mation niemals die Lüge ist, sondern das Übermaß an widersprüchlicher Information, die Überinformation.« (Virilio 1993, 15 f.) Das Bombardement mit Fernsehbildern verunmöglicht das Fortbestehen eigener gedanklicher Bilder, innerer Vorstellungen und Fantasien. Deshalb fordert Virilio »so etwas wie ein Recht auf Blindheit« (Virilio 1996, 135). Wenn nämlich die Nachrichtenübertragung zu schnell wird für die menschliche Wahrnehmungs- und Urteilsfähigkeit, dann muss geradezu zwangsläufig die Wahrnehmung selbst, das heißt die Auswertung der Bilder, automatisiert und auf Maschinen übertragen werden, auf »Sehmaschinen« (Virilio 1989), deren Entwicklung bereits mit der Fotografie beginnt. In ihnen werden Auge und Objektiv fusioniert, die beide zur Waffentechnik kurzgeschlossen werden. Die automatischen, »blicklosen Sehmaschinen« (Virilio 1996, 127) können in Echtzeit technisch analysierend sehen (und wohl auch zerstören und töten); interpretierend und wertend sehen aber können sie nicht. Angesichts dieser äußersten Automatisierung reichen die gewohnten Kategorien der […] Realität tatsächlich nicht mehr aus: wenn die reale Zeit den realen Raum besiegt, wenn das Bild das Objekt, also das Gegenwärtige besiegt, wenn die Virtualität die Aktualität besiegt, dann muß man die Auswirkungen dieser Logik […] auf die verschiedenen physikalischen Vorstellungen untersuchen. (Virilio 1989, 166) Denn das Sehen ohne Blick ist dabei, den Menschen und seinen Körper zu ersetzen. Trotz der langen Debatte um das Problem der Objektivität von mentalen und instrumentalen Bildern ist die revolutionäre Veränderung des Sehens nicht klar erkannt worden, und die Fusion/ Konfusion von Auge und Objektiv, der Übergang vom Sehen zur Visualisierung ist ohne Schwierigkeiten Bestandteil der Lebensgewohnheiten geworden. (Virilio 1989, 41) Die Wirkungen der Echtzeitmedien reichen aber noch viel weiter. Sie heben ja nicht nur unser Urteils- und Reaktionsvermögen auf, indem sie uns keine Zeit und keinen zum Nachdenken nötigen Abstand mehr einräumen, sie führen auch direkt zum Verlust unseres Bewusstseins und unserer Wirklichkeit. Denn »die Beschleunigung der Antriebstechniken wird dafür verantwortlich sein, daß wir den Kontakt mit der sinnlich wahrnehmbaren Realität verloren haben« (Virilio 1996, 144). Wenn wir in Echtzeit überall dabei sein können, verliert der Raum jede Bedeutung. »Der Raum ist« 220 Medientheorien in der Postmoderne und Gegenwart <?page no="221"?> 61 »Raumforschung« jedoch hat eine unselige begriffliche Präfiguration. Paul Schmitthenner, »Frontprofessor« und ab 1938 Rektor der Universität Heidelberg, der sich gerne als »Soldat, Politiker und Gelehrter« bezeichnete, begründete nicht nur das Fach »Kriegsgeschichte«, sondern sorgte auch dafür, dass sich seine gesellschafts- und wirtschaftswissenschaftliche Fakultät vornehmlich dem Fach »Raumforschung« widmete. Grundlage dafür war Werner Sombarts Überzeugung, dass das deutsche Wirtschaftsleben auf den beiden Pfeilern »Rasse« und »Raum« ruhte. aber, schreibt der Philosoph Peter Sloterdijk, »ein Mittel, zu verhindern, daß sich alles an derselben Stelle befindet.« (Sloterdijk 2012, 113) Nun löst er sich auf, und alles erstarrt. »Der strategische Wert des Nicht-Ortes der Geschwindigkeit hat den des Ortes heute endgültig ersetzt.« (Virilio 1989, 79) Da nun Echtzeitmedien zeitliche Distanzen ebenso verschwinden lassen wie räumliche, da die Echtzeitkommunikation nicht mehr an unseren Körper gebunden ist, stellt sich die Frage, wozu wir uns überhaupt noch im bedeutungslosen Raum irgendwohin bemühen sollten: Da die echtzeitliche Schnittstelle tatsächlich endgültig das Intervall ersetzt, das einst die Geschichte und Geographie unserer Gesellschaften gestaltet und organisiert hatte, kommt es zur Entstehung einer wirklich paradoxen Kultur, in der alles ankommt, ohne daß es notwendig wäre, sich physisch fortzubewegen oder überhaupt nur wegzugehen … Wie sollte man hinter diesem kritischen Übergang nicht die zukünftige Konditionierung der menschlichen Lebenswelt vermuten? (Virilio 1996, 33) Die enge Verknüpfung der anthropologischen Kategorien Raum und Zeit in seiner Argumentation darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Beschleunigungstheoretiker Virilio stets vom Raum her denkt 61 : Er bildet die Lebenswelt des Menschen, der sich in ihr mithilfe von medienbeding‐ ten Geschwindigkeiten über räumliche Entfernungen hinwegsetzt, die für sein In-der-Welt-Sein keineswegs neutral oder folgenlos sind. Die jeweilige Geschwindigkeit aber wird selbst zum Medium menschlicher Welt- und Selbsterfahrung. So verwendet Virilio im Grunde zwei unterschiedliche Medienbegriffe zugleich: Jedes Kommunikations-, Transport- und Kriegsme‐ dium (a) bedingt eine spezifische Geschwindigkeit. Vom Medium dieser Geschwindigkeit (b) hängt wiederum unser jeweiliges Erleben der Relation von Zeit und Raum ab. Es entscheidet auch darüber, was in Reichweite des menschlichen Erfahrens und vor allem Handelns liegt. Geschwindigkeiten also bestimmen über Gesellschaften. Wie die Besitzverhältnisse in der Theo‐ ✻ Rasender Stillstand: Paul Virilio - der Krieg, die Beschleunigung, das Verschwinden 221 <?page no="222"?> 62 Virilio benutzt »endotisch« als Gegenbegriff zu »exotisch«. Gemeint ist hier also eine in sich geschlossene Welt, die ihr Anderes, ihren Gegenpol und ihre Alternativen, verloren hat. Eigentlich bedeutet »endotisch« aber »das Innenohr betreffend«. (AS) rie von Marx und die Kommunikationsverhältnisse bei Flusser (→ S. 170) die Gesellschaften prägen, so sind es bei Virilio die Geschwindigkeitsverhältnisse. »Auch wenn heute die unmittelbare Nähe noch ziemlich klar das Dasein im Hier und Jetzt definiert«, schreibt Virilio, »so droht dieser Sachver‐ halt in Zukunft auf gefährliche Weise zu verschwimmen oder ganz zu verschwinden«. (Virilio 1996, 148) Diesen Sachverhalt nennt er Telepräsenz: ein Allgegenwärtigsein in einem Jetzt bei gleichzeitigem Verlust des Hier. Telepräsenz beruht auf der Höchstgeschwindigkeit elektromagnetischer Wellen, d. h. derjenigen Ge‐ schwindigkeit, die es von nun an nicht mehr nur möglich macht, über große Entfernungen hinweg zu hören und zu sehen, so wie es beim Telefon, Radio oder Fernseher der Fall war, sondern aus der Ferne zu handeln. (Virilio 1996, 30 f.) Diese Art der Interaktion, Teleaktion genannt, spielt sich nicht nur, wie etwa der Teletourismus, in der virtuellen Realität des Cyberspace ab, sondern durchdringt zum Beispiel auch als Homebanking und Teleshopping das reale zivile Leben. Und sie durchdringt die Kriegsführung und die mit ihr nun verschmolzene Berichterstattung in Form von Früherkennung, Fernortung, Fernlenkung und ferngesteuerter Zerstörung. Deshalb folgert Virilio: Das Ende der Außenwelt ist gekommen, und die ganze Welt wird mit einem Mal »endotisch« 62 . Dieses Ende beinhaltet sowohl das Vergessen des räumlichen als auch des zeitlichen Äußeren (now future) zugunsten des »gegenwärtigen« Augenblicks, d. h. des echtzeitlichen Augenblicks der unmittelbaren Telekommu‐ nikationstechniken. Wann wird es endlich gesetzliche Einschränkungen geben, wann eine Ge schwindigkeitsbegrenzung eingeführt? Nicht aufgrund der Wahrscheinlichkeit eines Verkehrsunfalls, sondern wegen der Gefahr des vollständigen Abbaus der zeitlichen Distanzen und des daraus resultierenden Risikos des Stillstands, anders gesagt, des Parkunfalls. (Virilio 1996, 40 f.) Und er stellt eine eindeutige Diagnose: Sollte dies tatsächlich der Fall sein, ja, dann wäre die Erde, der irdische Raum an einem bisher nie dagewesenen Gebrechen »erkrankt«, und man müßte Mitleid haben mit der Dauer, der Schwere und der Tiefe eines Raums, der 222 Medientheorien in der Postmoderne und Gegenwart <?page no="223"?> durch den Kunstgriff einer Höchstbeschleunigung entwertet würde, die sowohl die Geschichte als auch die Erinnerung daran wahrhaftig auszulöschen vermag. (Virilio 1996, 173) Für den Menschen würde dies die Vertreibung aus seinen gegebenen Daseinsbedingungen bedeuten, die absolute Bedrohung. Diese Gefahr un‐ terscheidet sich fundamental von bisherigen Bedrohungen, obwohl jede Technologie immer schon die ihr eigenen Unfälle mitproduziert hat, und obwohl sich erst im Unfall ihr wahrer Charakter erweist - noch deutlicher als in der Nutzung, für die die Technologie eigentlich vorgesehen ist. Nur haben wir in der Geschichte bisher stets die Augen vor dem Akzidentellen verschließen können, das jeder Erfindung innewohnt. Der nun als Folge der Echtzeittechnologien zu erwartende Unfall hingegen wird der absolute Unfall sein; ihn werden wir nicht mehr verdrängen können. Aufgrund der »plötzlichen Einzigartigkeit der Welt-Zeit der unmittelbaren Telekommuni‐ kation« erwartet Virilio also das Auftauchen einer letzten Form des Unfalls: Während die Menschen mit dem Primat der lokalen Raumzeit noch der Gefahr eines spezifischen und genau zu si‐ tuierenden Unfalls ausgesetzt waren, sind wir alle mit dem Anbruch der Welt-Zeit der Gefahr eines allgemeinen Unfalls ausgesetzt […]. Die Delokalisierung von Aktion und Reaktion (Interaktion) bedingt notwendigerweise die Delokalisierung jeder Form von Unfall. Schließlich läßt sich sagen, daß durch die elektromagnetischen Übertragungs‐ möglichkeiten von Bildern, Tönen und Daten der Verkehrsunfall eine Zukunft hat, da wir neben den klassischen Eisenbahn-, Flugzeug-, Schiffs- oder Autounfällen schon bald miterleben werden, daß der Unfall der Unfälle aufkommt. Anders ge‐ sagt, wir werden es mit der Verbreitung des allgemeinen Unfalls zu tun haben, der das Ausmaß des beschränkten Verkehrsunfalls im Zeitalter der Revolutionierung der Transportmittel bei weitem übersteigt. Man kann sagen, daß die atomare Katastrophe von Tschernobyl in gewisser Weise eine Vorwegnahme des zukünftigen großen Unfalls war. Genauso wie sich seinerzeit die Radioaktivität ungehindert von Ost nach West ausbreiten und dabei fast den gesamten Kontinent atomar verseuchen konnte, stellt das elektromagne‐ tische Übertragungssystem der Interaktivität zukünftiger Datenautobahnen ein Phänomen von globaler Tragweite dar. (Virilio 1996, 98 f.) Nachdem die Medien- und Kriegstechniken den Raum und die Zeit bereits zerstört und den Menschen zu völliger Bewegungslosigkeit verurteilt haben, ✻ Rasender Stillstand: Paul Virilio - der Krieg, die Beschleunigung, das Verschwinden 223 <?page no="224"?> erfolgt nun ihre allerletzte Eroberungstat. Sie kolonialisieren auf biotech‐ nischem, gentechnischem oder auf dem Weg der High-Tech-Implantate, welcher Virilio ganz besonders zu faszinieren schien, das Innere unserer Körper. Doch Kommunikation und ein kritisches Bewusstsein sind nur auf der Grundlage und unter der Voraussetzung einer Spannung, einer Distanz, möglich. Wenn dagegen der Unterschied von innen und außen aufgehoben wird, dann werden Selbstbestimmung, Sinngebung und Menschenwürde unmöglich. Die restlose Zerstörung des körperlichen Daseins in einer gegebenen Realität ist dann vollzogen. Jeden Widerstand nach und nach gebrochen und jede örtliche Gebundenheit gelöst zu haben, die Gegenwehr der Dauer und der Weite zur Aufgabe zu zwingen […], genau das ist das Ziel, das die Wissenschaften und Techniken des Menschen nunmehr erreicht haben; den Abstand aufzuheben, dem Skandalon des Raum- und Zeitintervalls ein Ende zu bereiten […], all das ist auf dem besten Wege, vollendet zu werden, aber um welchen Preis? Doch wohl um den Preis, daß nicht nur das mit fast genereller Gleichgültigkeit durchreiste Land, sondern die Welt, der irdische Raum, zu etwas Erbarmungswürdigem, endgültig Erbarmungswürdigem werden. (Virilio 1996, 165 f.) So sieht Virilio nur noch einen Ausweg: »Wenn es eine Rettung gibt, dann liegt sie in der Demut des philosophischen, des wissenschaftlichen und auch des politischen Denkens […]. Wir sind nichts.« (Virilio in: Rötzer 1986, 158) Zusammenfassung: Von einer phänomenologischen Grundhaltung ausgehend und inspiriert von der Architektur der Bunker, entwickelt Virilio einen kulturpessi‐ mistischen Thesenkomplex, der bei der übergeordneten Bedeutung von Geschwindigkeit und Beschleunigung ansetzt, und den er »Dromologie« nennt. Krieg, Verkehr, Transport und Nachrichtenübermittlung bilden dabei gleichermaßen die Anwendungsbereiche der Medienentwicklung. In einem vierstufigen Schema leitet Virilio aus unterschiedlichen Ge‐ schwindigkeiten unsere Zivilisationsgeschichte ab und ordnet jeder Epoche eine eigene Ästhetik zu. Auf Mensch und Tier als metabolische Transportmedien und eine Ästhetik des Erscheinens folgen demnach die mechanische Geschwindigkeit der Maschinen und die Ästhetik des Verschwindens sowie schließlich der rasende Stillstand der Echt‐ 224 Medientheorien in der Postmoderne und Gegenwart <?page no="225"?> zeitmedien, welche eine simulierte Präsenz und ein Handeln in Licht‐ geschwindigkeit über große Entfernungen hinweg erlauben. In dieser Entmachtung des Raums durch Telepräsenz und Teleaktion erweisen sich die Geschwindigkeit als Medium und das Licht als Information. Die Folge sind Wirklichkeitsverlust und irgendwann einmal der absolute Unfall. Auf der letzten Stufe dieses Geschichtsmodells findet eine Durchdrin‐ gung des menschlichen Körpers mit Medien- und Biotechnologien statt. Verständnisfragen zur Vertiefung: ● Was ist Dromologie? (leicht) ● Was bedeutet »Ästhetik des Verschwindens«? Was genau »ver‐ schwindet« da? (leicht) ● Vergleichen Sie die Epochengliederung der medien- und kulturge‐ schichtlichen Modelle von Marshall McLuhan, Vilém Flusser und Paul Virilio! (mittel) ● Worin unterscheidet sich das »Sehen« einer Maschine vom mensch‐ lichen Sehen? (mittel) ● Was halten Sie von Virilios Definition der Frau als »Fahrzeug« und »Medium«? (mittel) ● Worin könnte der absolute oder allgemeine Unfall bestehen? (schwer) ● Wie könnte man sich, mit Virilio argumentierend, eine Rettung der Welt und der menschlichen Realität vorstellen? (schwer) ✻ Rasender Stillstand: Paul Virilio - der Krieg, die Beschleunigung, das Verschwinden 225 <?page no="226"?> 63 Allesamt aber sind die vorgestellten Denker weiße, in der westlichen Kultur erzogene Männer. ✻ Der Geist singt nicht mehr im Signifikantenstadel: Friedrich Kittler und das technische Apriori Vorschau: ● Von der Ideengeschichte zur Mediengeschichte ● Die Geschichte der Medien als harte Technikgeschichte: »Es gibt keine Software.« ● Das technische Apriori ● Aufschreibesysteme: Dichtung, Film, Grammophon, Typewriter ● Der Signal-Rausch-Abstand ● Die Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften ● Diskursanalyse, Krieg, Rockmusik und Sex Blind sind Schreiber vor Medien, Philosophen vor Technik. (Kittler 1986, 145) Noch ausschließlicher als Paul Virilio leitete Friedrich Adolf Kittler (1943- 2011) die Entwicklung der Medientechnik aus der Kriegstechnologie ab. Auch Kittler war kein Medientheoretiker. Also passt er perfekt in das vor‐ liegende Pantheon von Medientheoretikern, die alle keine waren. McLuhan ist vielleicht eine Ausnahme, aber Platon, Adorno und Baudrillard waren vor allem Philosophen, Brecht und Postman Schriftsteller, Luhmann Soziologe, Virilio gar Architekt und Flusser ein phänomenologischer Kulturtheoretiker. Friedrich Kittler wiederum entwickelte sich vom Literaturwissenschaftler, der über Conrad Ferdinand Meyer promoviert hatte, zum Diskursanalytiker und zu einem der Begründer der Disziplin Mediengeschichte. 63 »Ich behaupte nicht«, stellte er später fest, dass die Medienwissenschaft unsere Erfindung in den frühen neunziger Jahren gewesen ist, aber man muss leider sagen, dass nach der massiven Durchsetzung von Marshall McLuhan das Geschichtliche an der Medientheorie sehr blass geworden war. […] Ich glaube also schon, dass die nachdrückliche Betonung des schwierigen methodischen Zusammenhangs zwischen Geschichtswissenschaft und Medientechnik oder zwischen historischen Ereignissen und Infrastruktur eine Innovation war, die gerechtfertigterweise dazu führte, dass es nicht mehr 226 Medientheorien in der Postmoderne und Gegenwart <?page no="227"?> um Medientheorie oder Medienwissenschaft ging, sondern explizit um Medienge‐ schichte. (Kittler 2000, 110) Mit zwei grundlegenden Büchern schrieb sich Friedrich Kittler von der Literaturwissenschaft aus direkt in den Mittelpunkt einer Diszipin der Mediengeschichte, die er, wenigstens im deutschsprachigen Raum, eigentlich begründete und dann mit Siegfried Zielinski und nur wenigen anderen über lange Jahre auch weitgehend allein vertrat. Kittlers Habilitationsschrift Aufschreibesysteme 1800/ 1900 von 1984 unter‐ nimmt zwei Probebohrungen in die Sedimente medialer Speicherverfahren, deren Gegensätzlichkeit einen gewaltigen kulturellen Umbruch erkennbar macht, der sich innerhalb von nur hundert Jahren vollzogen hat. Um 1800 nämlich befindet sich die Gutenberg-Galaxis in höchster Blüte. Die Alphabetisierung hat alle Bevölkerungsschichten erreicht. Die Auto‐ ren sind in der Regel Männer, schreiben jedoch letzten Endes vor allem für Frauen. Seit das Lesenlernen nicht mehr abstrakten Buchstabendrill bedeutet, sondern über die Mündlichkeit von Müttern organisiert wird, nehmen Leserinnen und Leser die Schrift in ihrer Medialität gar nicht mehr wahr. Stattdessem glauben sie seither, beim Lesen innerlich eine Stimme zu hören, nämlich die ihrer Mutter. Auf diese Weise erzeugt die Einbildungskraft ein Imaginäres zwischen Zeilen und Buchstaben. Weil es keine Möglichkeit gibt, Phänomene und Erlebnisse anders als durch die Symbole der Buchstaben- oder Notenschrift aufzuzeichnen, imaginieren Leserinnen und Leser Stimmen, Bilder und Gefühle, wo doch nur diskrete Buchstaben auf weißem Grund stehen. Schrift aber kann nur Symbolisches zum Inhalt haben. Daher wird übersehen, dass Dichtung nicht aus Gefühlen, Visionen und Klängen, sondern aus der Materialität der Schrift, aus einer Reihung von Buchstaben, besteht. Im Aufschreibesystem von 1800 wird das Buch der Dichtung zum ersten Medium im modernen Sinn. Nach McLuhans Gesetz, daß der Inhalt eines Mediums stets ein anderes Medium ist, supplementiert Dichtung auf reproduzierbare und multiplikatorische Weise sinnliche Daten. (Kittler 1995, 147) Um 1900 hat sich diese Situation geändert. Der Schrift ist nun Konkurrenz erwachsen - zunächst im Grammophon, welches das Reale selbst technisch und ohne den Umweg über das Symbolische aufzeichnet. Wenn sich Stim‐ men mit ihrem Timbre, ihrer dialektalen Färbung und in ihrem prosodischen Verlauf unmittelbar und kontinuierlich wiedergeben lassen, dann wird ✻ Friedrich Kittler und das technische Apriori 227 <?page no="228"?> plötzlich klar, welch umständliches, unzulängliches und einengendes No‐ tationssystem die Schrift doch gewesen ist. Sprache in ihrer Musikalität und in all ihren Eigenarten, Sprache auch als Geräusch, lässt sich durch 26 Buchstaben nur sehr verlustreich und symbolisch fixieren. Der Film wiederum, der nun visuell darstellt, was zuvor nur Vorstellung war, schafft eine weitere Abkürzung: Die Imagination tritt den Zuschauern nun als Externes vor Augen. Was zwischen den Zeilen imaginiert worden war, wird nun als psychophysische Realität extern sichtbar gemacht. Mit »Typewriter« bezeichnet Kittler nicht nur die Schreibmaschine, son‐ dern auch die Stenotypistin sowie den Verbund, der zwischen beiden besteht. Erstmals sind es nun nämlich die Frauen, die schreiben. Und dank der Serialität der genormten und diskreten Buchstaben wird nun offensichtlich, dass auch Schrift eine Technologie ist, der eine Infrastruktur zugrunde liegt. Die technischen Medien Grammophon und Film speichern akustische und opti‐ sche Daten seriell und mit übermenschlicher Zeitachsen-Präzision. Zur selben Zeit und von denselben Ingenieuren erfunden, attackieren sie an zwei Fronten zugleich ein Monopol, das die allgemeine Alphabetisierung, aber auch erst sie dem Buch zugespielt hat: das Monopol auf Speicherung serieller Daten. Um 1900 wird die Ersatzsinnlichkeit Dichtung ersetzbar, natürlich nicht durch irgendeine Natur, sondern durch Techniken. Das Grammophon entleert die Wörter, indem es ihr Imaginäres (Signifikate) auf Reales (Stimmphysiologie) hin unterläuft. […] Der Film entwertet die Wörter, indem er ihre Referenten, diesen notwendi‐ gen, jenseitigen und wohl absurden Bezugspunkt von Diskursen, einfach vor Augen stellt. […] Was am Speicher das Reale ist, fällt dem Grammophon zu; was das im Sprechen oder Schreiben produzierte Imaginäre ist, dem Spielfilm. […] Während also die Plattenrillen Körper und ihre scheußlichen Abfälle spei‐ chern, übernehmen die Spielfilme all das Phantastische oder Imaginäre, das ein Jahrhundert lang Dichtung geheißen hat. […] Im Filmstudio nämlich, bei Tricks wie Projektion und Schnitt, Rückblende und Großaufnahme, begegnet die Psychotechnik ihrer eigenen Wahrheit: Trickaufnahmen implementieren auf der Leinwand, damit aber auch im Sehzentrum des Großhirns, sämtliche Prozesse eines physiologisch Unbewußten - Projektionen die Halluzination, Rückblenden das souvenir involontaire, Schnitte die Assoziation und Großaufnahmen schließ‐ lich den Selektionsprozeß aller unbewußten Aufmerksamkeit. So ist »die Welt des Films« als mechanisierte Psychotechnik »tatsächlich gleichbedeutend mit Illusion und Phantasie geworden […]«. (Kittler 1995, 310 f.) 228 Medientheorien in der Postmoderne und Gegenwart <?page no="229"?> So lässt sich der Umbruch der Kulturtechniken, der innerhalb von hundert Jahren die europäische Zivilisation völlig verändert hat, verkürzt darstellen: 1800: Durch perfekte mütterliche Alphabetisierung entstehen deutsche Dichter, die Bücher halluzinierbar wie Filme machen und interpretierbar wie Philosophien. 1900: Menschenexperimente und technische Medien wie Grammophon, Film, Schreibmaschine machen Wörter zum Medium nur noch von Psychoanalyse und Literatur. (Kittler 1985a, 430) Abbildung 18: Umbruch der Kulturtechniken 1800/ 1900 nach Friedrich Kittler Dieser Umbruch vollzog sich keineswegs plötzlich. Ein ganzes fortschrittsgläubiges und positivistisches Jahrhundert lang waren angestrengt Versuche unternommen worden, die Natur selbst, wie man damals glaubte, mithilfe technischer Verfahren indexikalisch zu Wort kommen zu lassen und so festzuhalten. Das gesamte neunzehnte Jahrhundert […] arbeitet bereits an einer Technisierung von Kommunikationsprozessen, die dann an seinem Ende - als Kino und Pho‐ nograph, Schreibmaschine und Telephon - auch in den Alltag selber einzieht. Was damit zusammenbricht, ist zugleich eine Praxis und eine Theorie: jenes Monopol schriftlicher Diskurse nämlich, das für die Literatur ebenso begründend war wie für die Kulturwissenschaften des sogenannten Menschen und seiner Hervorbringungen. Mit den technischen Medien sinken historische Aprioris reihenweise dahin. (Kittler/ Schneider/ Weber 1987, 8) Bei Kittlers Buch Film Grammophon Typewriter (1986) handelt es sich um eine Variation des zweiten Teils von Aufschreibesysteme 1800/ 1900, die sich aber weniger als der Vorgänger mit Psychoanalyse und ihrem Verhältnis zur Schriftstellerei beschäftigt als vielmehr mit den Folgen der Entstehung technischer Medien ab 1900. Diese Folgen beschreibt Kittler so: Seit dieser Epochenschwelle gibt es Speicher, die akustische und optische Daten in ihrem Zeitfluß selber festhalten und wiedergeben können. Ohr und Auge sind autonom geworden. Und das hat den Stand der wirklichen Dinge mehr verändert als Lithographie und Photographie, die im ersten Drittel des neunzehnten Jahr‐ hunderts lediglich das Kunstwerk (nach Benjamins These) ins Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit beförderten. Medien »definieren, was wirklich ✻ Friedrich Kittler und das technische Apriori 229 <?page no="230"?> ist«; über Ästhetik sind sie immer schon hinaus. Was erst Phonograph und Kine‐ matograph, die ihre Namen ja nicht umsonst vom Schreiben haben, speicherbar machten, war die Zeit: als Frequenzgemisch der Geräusche im Akustischen, als Bewegung der Einzelbildfolgen im Optischen. (Kittler 1986, 10) Kittler analysiert, wie das Aufkommen dieser technischen Aufzeichnungs‐ apparate in Konkurrenz zum Aufschreibesystem Schrift trat und schließlich vortechnische Konzepte wie Bildung, Dichtung, Geist und Mensch auflöste. Mit der technischen Ausdifferenzierung von Optik, Akustik und Schrift, wie sie um 1880 Gutenbergs Speichermonopol sprengte, ist der sogenannte Mensch machbar geworden. Sein Wesen läuft über zu Apparaturen. Maschinen erobern Funktionen des Zentralnervensystems und nicht mehr bloß, wie alle Maschinen zuvor, der Muskulatur. […] Der sogenannte Mensch zerfällt in Physiologie und Nachrichtentechnik. […] Die Medienrevolution von 1900 hat den Möglichkeits‐ grund für Theorien und Praktiken gelegt, die Information nicht mehr mit Geist verwechseln. (Kittler, 1986, 30) Der Geist nämlich war, Kittler zufolge, ein Produkt der auf Imagination angewiesenen Speichertechnik Schrift. Für die Buchstaben als solche, für die Basis von Dichtung also, waren Leserinnen und die meisten Schreiber blind. Sie verstanden zu mühelos. Analoge und technische Aufschreibesys‐ teme wie etwa das Grammophon dagegen setzen geradezu voraus, dass bei der Aufzeichnung der Signale kein Verstehen zwischengeschaltet ist: »Unterschobene Identitäten oder Bedeutungen kämen wieder ins Spiel. Daß der Phonograph nicht denkt, ist seine Ermöglichung.« (Kittler 1986, 56) Weil die interpretierende Filterung durch ein Bewusstsein ausgeschaltet ist, wird nun diesseits »von Lauten und Worten, diesseits aller Organismen […] das weiße Rauschen […], dieser unaufhörliche und unaufhebbare Hintergrund von Information« (Kittler 1995, 230) hör- und erfahrbar: Erst technische Medien, weil ihre Daten über physikalische Kanäle laufen, stehen grundsätzlich vor dem Hintergrund eines Rauschens, das als Unschärfe beim Film oder als Nadelgeräusch beim Grammophon ihren Signal-Rausch-Abstand festlegt. Das ist der Preis, den sie dafür zahlen, mit ihren Abbildungen […] zugleich Erzeugnisse des Abgebildeten selber zu geben. Denn Rauschen emittieren die Kanäle, die Medien jeweils durchlaufen müssen. (Kittler 1986, 72) »Medien […] gibt es nur als willkürliche Selektion aus einem Rauschen« (Kittler 1995, 234, → S. 140). So sind es nun die technischen Medien und ihre 230 Medientheorien in der Postmoderne und Gegenwart <?page no="231"?> Selektionsleistung, die unser Weltbild schaffen, »weil das Medienzeitalter Gegebenheiten überhaupt durch ihr Signal-Rausch-Verhältnis definiert. Aus dem Chaos der Umwelteindrücke wird ein wirklicher Erfahrungskosmos erst durch Selektion‹, die ihrerseits bewußt oder unbewußt sein kann.« (Kittler 1986, 241) Menschen können zwar entscheiden, ob sie beispiels‐ weise ein Klavierkonzert, das Lachen eines Kindes oder ein Gedicht auf Schallplatte speichern wollen. Doch dann erfolgt eine zweite Selektion, die eine technische des gewählten Mediums ist und durch dessen spezifisches Signal-Rausch-Verhältnis festgelegt ist. Hierbei spielt Semantik keine Rolle; es kommt lediglich auf physikalische Daten an. Denn nicht »Gedichte, sondern Indizien speichert der Phonograph« (Kittler 1986, 129), selbst dann, wenn es sich zum Beispiel wirklich um die Aufnahme eines Gedichtes handelt. Was sich hier vollzieht, ist nichts weniger als »ein historischer Übergang von Intervallen zu Frequenzen, von einer Logik zu einer Physik der Klänge« (Kittler 1986, 41). Unerhört muß selbst für ihren Erfinder eine Erfindung gewesen sein, die Literatur und Musik gleichermaßen unterlief, weil sie das unvorstellbare Reale auf beider Grund reproduzierbar machte. […] Der Phonograph hört eben nicht wie Ohren, die darauf dressiert sind, aus Geräuschen immer gleich Stimmen, Wörter, Töne herauszufiltern; er verzeichnet akustische Ereignisse als solche. Damit wird Artikuliertheit zur zweitrangigen Ausnahme in einem Rauschspekt‐ rum. […] So tief ist der Schnitt, der Alteuropas Alphabetismus von einer mathe‐ matisch-physikalischen […] Verzifferung in Frequenzangaben trennt. (Kittler 1986, 38-42) Was zuvor als nicht sinnhaltig immer schon ausgeblendet wurde, erzwingt in den technischen Medien Aufmerksamkeit. »Unter Medienbedingungen […] darf es, nach einem Wort Rilkes, ›Auswahl und Ablehnung‹ einfach nicht mehr geben.« (Kittler 1986, 138) Deshalb kann etwa in Fotos jedes zufällige Detail scharf sein, und vom Grammophon aufgenommene gespro‐ chene Sprache umfasst mehr als eine Reihung von Buchstaben. So ereignet sich Kittler zufolge »der historische Schwenk von 1900«, von »Einbildungs‐ kraft zu Datenverarbeitung, von Künsten zu nachrichtentechnischen oder physiologischen Einzelheiten […]. Einmal mehr rückt Reales an die Stelle von Symbolischem«. (Kittler 1986, 115) Gleich im Vorwort zu Film Grammophon Typewriter räumt Kittler mit der Vorstellung auf, unter Medienbedingungen ließen sich Medien nun verstehen. Wenn die Schrift als Medium unter alphabetischen Bedingungen ✻ Friedrich Kittler und das technische Apriori 231 <?page no="232"?> gar nicht ins Bewusstsein dringen konnte, dann gilt diese Denkfigur auch ganz allgemein. Kittler bezeichnet sie als technisches Apriori. Philosophie‐ geschichtlich sind Aprioris Erkenntnisse, die nicht empirisch, das heißt durch Erfahrung gewonnen werden, sondern schon vor jeder Erfahrung unser Denken bestimmen oder aber logisch, allein mithilfe der Vernunft, abgeleitet werden. Alles, was wir wissen oder zu wissen glauben, können wir demnach nur deshalb wissen oder zu wissen glauben, weil dieses Wissen oder dieser Glaube von unseren Kulturtechniken unterstützt oder nachgerade produziert wird. Kittlers brennendstes Anliegen ist es, immer wieder herauszustreichen, dass auch den Geisteswissenschaften dieses me‐ dientechnische Apriori stillschweigend und bis dato unerkannt zugrunde liegt. Dies nachgewiesen und gegen wütende humanistische Anfeindungen verteidigt zu haben, bleibt bis heute wohl Kittlers größtes Verdienst. Wenn die Mediennutzung, also die Kulturtechniken, das Menschsein bestimmen, dann ist es für Menschen unmöglich, sich über diese Bedingungen ihrer selbst hinwegzusetzen. Sie können sich dann nicht reflektierend-distanziert über sie als Gegenstand erheben; »sie müssen als ihre Haustiere, Opfer, Untertanen entstanden sein« (Kittler 1986, 167). Deshalb entsteht im Be‐ wusstsein der Menschen, im Selbstverständnis von Kulturen, ein blinder Fleck im Hinblick auf ihre medialen Voraussetzungen. Medien zu verstehen, bleibt - trotz Understanding Media im Buchtitel McLuhans - eine Unmöglichkeit, weil gerade umgekehrt die jeweils herrschenden Nachrich‐ tentechniken alles Verstehen fernsteuern und seine Illusionen hervorrufen. […] Von den Leuten gibt es immer nur das, was Medien speichern und weitergeben können. Mithin zählen nicht die Botschaften oder Inhalte, mit denen Nachrich‐ tentechniken sogenannte Seelen für die Dauer einer Technikepoche buchstäblich ausstaffieren, sondern (streng nach McLuhan) einzig ihre Schaltungen, dieser Schematismus von Wahrnehmbarkeit überhaupt. […] Im Augenblick gnadenloser Unterwerfung unter Gesetze, deren Fälle wir sind, vergeht das Phantasma vom Menschen als Medienerfinder. Und die Lage wird erkennbar. (Kittler 1986, 5 f.) Die Lage, die da dank Kittlers hartnäckigem Insistieren auf dem technischen Apriori erkennbar wird, ist folgende: Die medientechnologischen Aprioris ermöglichen oder verhindern bestimmte Diskurse, die, zu Dispositiven geballt, den Menschen ausmachen. Der von Michel Foucault geprägte Begriff des »Dispositivs« bezeichnet die Gesamtheit der durch Aprioris erzeugten kulturellen und sozialen Möglichkeiten und Vorschriften, innerhalb derer sich die Diskurse des Menschen und sein Handeln überhaupt abspielen 232 Medientheorien in der Postmoderne und Gegenwart <?page no="233"?> können. Der Mensch mag glauben, Herr über die Medien und damit des Diskurses zu sein. Doch: »Es gibt um 1900 keinen universalen Erziehungs‐ beamten, der Dichtungen legitimiert, weil sie und nur sie ihn legitimieren.« (Kittler 1995, 344) Nicht wir erschaffen Medien; Medien erschaffen uns. Seit Kant den Raum und die Zeit als Aprioris (→ S. 41) menschlicher Erkenntnis definiert hat, gelten Aprioris als vorausgesetzte Rahmenbedin‐ gungen unserer Wahrnehmung und Erkenntnis, die so selbstverständlich scheinen, dass wir sie selbst nicht wahrnehmen und uns ihrer nicht bewusst sind. So verdankt sich etwa der Linguistic Turn (→ S.-187) der 1970er-Jahre der Einsicht, dass die Struktur der Sprache, in der Menschen gedacht haben, unsere Erkenntnismöglichkeiten stets prägt, bedingt und limitiert, ohne dass dies im Laufe der Jahrhunderte je ausreichend reflektiert worden wäre. Diese Überlegung wird von Kittler auf die technischen Bedingungen übertragen, unter denen Medien und damit unsere Erkenntnis und unser Bewusstsein funktionieren. Der Rest sind laut Kittler von diesen Aprioris verursachte Halluzinationen: der Geist, die Seele, der ganze emphatisch auch »Individuum« genannte Mensch, der »dann verschwindet […] wie am Ufer des Meeres ein Gesicht im Sand« (Kittler 1989, 79). Deshalb schreibt Kittler diese Begriffe konsequent in Anführungszeichen oder stellt ihnen das distanzierende Epitheton »sogenannt« voran. Für seine Auffassung vom Menschen als Halluzination der Technik wurde Kittler heftig angegriffen. Doch unbeirrt von allen Anfeindungen arbeitete er seine harte Technikgeschichte der Medien aus. Sie fragt nicht nach Inhalten, denn diese ergeben sich vielmehr als Abfallprodukt der tech‐ nischen Infrastruktur, ihrer Rahmenbedingungen und ihrer Innovationen. »Infrastruktur«, bemerkt Kittler in einem Interview, »ist ein Wort, das ich immer öfter verwende, um Medien zu umschreiben. Bei Medien fragt man immer: Ist dies oder das noch ein Medium? Ist das Radarsystem noch ein Medium? Am Ende will ich das gar nicht mehr beantworten.« (Kittler 2000, 115) Dabei gebraucht Kittler den Medienbegriff keineswegs in einem so umfassenden Sinn wie etwa McLuhan (→ S. 94) oder Luhmann (→ S. 136), sondern ausschließlich für Techniken, die das Speichern, Übertragen und Verarbeiten von Daten ermöglichen. Für die Übermittlung von Informationen sind solche Techniken unbedingt notwendig. Schließlich kann jede Information immer nur gemeinsam mit einem Medium auftreten. Dies mache sich der Mensch jedoch nicht ausrei‐ chend bewusst. Weil er blind sei für das, was ihn bedingt, blind auch für das mediale Vorzeichen, unter denen sein gesamtes Wahrnehmen, Empfinden, ✻ Friedrich Kittler und das technische Apriori 233 <?page no="234"?> Denken und Hoffen steht, neige er dazu, die Existenz eines Geistes zu vermuten, der jenseits aller Medialität an sich schon da sei und sich dann die ihm gemäße Manifestation, Ausdrucksform und Medientechnik schaffe. Die Wirklichkeit aber sei anders. »Es gibt keine Software« (Kittler 1993, 225), schreibt Kittler, und nur, wenn es eine Technik gibt, die es erlaubt, kann überhaupt etwas gedacht werden, sei diese Technik nun die Schrift, der Großrechner oder unser Gehirn mit seinem Wahrnehmungsapparat. Außer der harten Technologie der Apparatur ist nichts gegeben, und selbst deren eigene, interne Programmierung unterliegt dem technischen Apriori. Kittlers konsequente Herleitung des Phänomens menschlicher Geist (und damit letztlich des Menschen im eigentlichen Sinne) als bloßes Phänomen technischer Aprioris wurde häufig als Zeichen der Verbitterung interpre‐ tiert. Mit seinem Projekt der Austreibung des Geistes aus den Geisteswissen‐ schaften machte sich Kittler viele Feinde. 1980 veröffentlichte er unter diesem Titel ein Buch, in dessen Einleitung er sein Programm prägnant formulierte: Daß Wissensformen aufgekommen sind, die die geisteswissenschaftlichen Ele‐ mente systematisch bestreiten und gleichwohl zu einer positiven Analyse der Domänen imstande sind, wo Geist, Mensch, Geschichte zu Hause waren, ist […] Anlaß genug, eine Art Rückkopplung zu versuchen. (Kittler 1980, 12) Mit diesen »Wissensformen« war die 1980 eben erst entstandene Diskurs‐ analyse gemeint, zu der Kittler selbst maßgeblich beigetragen hatte. Gemein‐ hin gilt er als Vater der seit Anfang der 1970er-Jahre sich entwickelnden medientheoretischen Variante von Diskursanalyse. Sein Ansatz ist ein mediengeschichtlicher, aber er ist auch von einer auffälligen Bezugnahme auf die Psychoanalyse geprägt. Es gibt, so Kittler, drei Spaltungen, die den theoretischen Boden der Diskursanalyse bilden: die des Subjekts und seines Unbewußten, die des Zeichens und seiner Bedeutungen, die des Diskurses und seiner kulturellen Regularitäten. Die drei Namen, unter denen bislang die Theorie dieser Spaltungen zu ihrer entschiedensten Artikulation gelangt war, sind Lacan, Derrida und Foucault. Von ihren Arbeiten, die ihrerseits an Freud, Saussure und Nietzsche anknüpfen, gehen jene Strahlkräfte oder Schre‐ cken innerhalb der neueren Philosophien und Geschichtswissenschaften aus, die unter dem Namen Poststrukturalismus firmieren. (Kittler/ Schneider/ Weber 1987, 7) 234 Medientheorien in der Postmoderne und Gegenwart <?page no="235"?> Der Diskursanalyse liegt dabei folgender Gedanke zugrunde: Aus allen sprachlichen Äußerungen einer Zeit zu einem bestimmten Thema lassen sich Regeln ableiten, die festlegen, was gesagt oder geschrieben werden kann und was nicht. Die Grenzen beispielsweise, die zwischen dem gezogen werden, was zulässig ist, und dem, was verboten ist, bestimmen Gegen‐ stand und Inhalt des gesellschaftlichen Diskurses. Alles außerhalb dieses Diskurses ist schlicht unsagbar und unbeschreiblich. So steuert der Diskurs über Inklusion oder Ausschluss das gesellschaftliche Leben, aber auch die Wahrnehmungsmodelle und Wertesysteme, die das Handeln von Individuen bestimmen. Der Diskurs gibt vor, was normal oder anormal ist. Welche Art von Sex ist zulässig? Wie benimmt man sich in der Öffentlichkeit? Was strebt man im Leben an? Unter welchen Umständen muss ein Mensch ins Gefängnis, wann in die Psychiatrie? Der Diskurs, der stets der Erhaltung der Gesellschaft dient, ist die Gesamtheit aller sprachlichen Äußerungen zu einem Thema in dieser Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit. Dieses umfassende Gewebe ist der Gegenstand von Diskursanalyse. Ihre Sache ist die Vernetzung, die faktisch ergangene Diskurse in einem bestimm‐ ten Raum und einer bestimmten Zeit zu Dispositiven organisiert hat. Solche Dispositive aber beschreiben zuletzt die unendlich variablen Programme, durch deren Eingriff Leute strategisch unter die Steuerung von Diskursen geraten sind. (Kittler 1985b, 24) Diskursanalyse ist aber keine hermeneutische oder interpretierende Diszi‐ plin, denn »die Referenz von Diskursen ist keine Sache der Sprechermei‐ nungen oder Redebedeutungen […]. Diskursanalysen […] brauchen nicht zu deuten.« (Kittler 1985b, 32-38) Ihr Gegenstand sind vielmehr die Regeln, Grenzen, Ausschließungen und Glaubenssätze des Diskurses. Und diese wiederum beruhen auf den Aprioris einer medientechnischen Infrastruktur. Nur, was das mediale Dispositiv erlaubt, kann in einer Gesellschaft über‐ haupt gedacht werden oder stattfinden. Die Medien bilden, zusammen mit den Institutionen einer Gesellschaft (wie Beamtentum, Dichtung, Familie, Irrenhäuser, Schulen etc.), deren Aufschreibesystem, welches darüber ent‐ scheidet, welche Daten als relevant ausgewählt, gespeichert, verarbeitet und übertragen werden. Deshalb folgert Kittler: »Schon darum ist es unumgänglich, die sogenann‐ ten Wirklichkeiten als historische Formationen und Verbundsysteme von Medien auseinanderzunehmen.« (Kittler/ Schneider/ Weber 1987, 7) Genau ✻ Friedrich Kittler und das technische Apriori 235 <?page no="236"?> dies wird denn auch zum Ausgangspunkt und Programm der medienge‐ schichtlichen Diskursanalysen Kittlers. Die Militärgeschichte war […] eine methodische Möglichkeit klarzumachen, dass Medien nicht einfach Werkzeuge sind, die zu nettem, zivilem Gebrauch überall herumstehen und uns von charmanten Ingenieuren hingestellt werden. Bestimmte Notsituationen oder Ausnahmezustände erzwingen eben medientech‐ nologische Durchbrüche, die für eine ganze Folgezeit das zivile Verhalten mitbe‐ stimmen. (Kittler 2000, 114) Auch mit seinem zugespitzten Beharren darauf, dass »der Krieg der Vater aller Dinge« (Kittler 1986, 6) sei, provoziert Kittler: Um die Weltgeschichte (aus geheimen Kommandosachen und literarischen Durchführungsbestimmungen) abzulösen, prozedierte das Mediensystem in drei Phasen. Phase 1, seit dem amerikanischen Bürgerkrieg, entwickelte Speichertech‐ niken für Akustik, Optik und Schrift: Film, Grammophon und das Mensch-Ma‐ schinesystem Typewriter. Phase 2, seit dem Ersten Weltkrieg, entwickelte für sämtliche Speicherinhalte die sachgerechten elektrischen Übertragungstechni‐ ken: Radio, Fernsehen und ihre geheimeren Zwillinge. Phase 3, seit dem Zweiten Weltkrieg, überführte das Blockschaltbild einer Schreibmaschine in die Technik von Berechenbarkeit überhaupt; Turings mathematische Definition von Compu‐ tability gab 1936 kommenden Computern den Namen. Speichertechnik, 1914 bis 1918, hieß festgefahrener Stellungskrieg in den Schützengräben von Flandern bis Gallipoli. Übertragungstechnik mit UKW-Panzerfunk und Radarbildern, dieser militärischen Parallelentwicklung zum Fernsehen, hieß Totalmobilmachung, Motorisierung und Blitzkrieg vom Weichselbogen 1939 bis Corregidor 1945. Das größte Computerprogramm aller Zeiten schließlich, dieser Zusammenfall von Testlauf und Ernstfall, heißt bekanntlich Strategic Defense Initiative. Spei‐ chern/ Übertragen/ Berechnen oder Graben/ Blitz/ Sterne. Weltkriege von 1 bis n. (Kittler 1986, 352) Alle Medien sind also letztlich Produkte der militärischen Entwicklung. Kittlers böse, aber kaum polemische Zuspitzung bringt es auf den Punkt: Die gesamte zivile Nutzung von Medientechnologien und ganz besonders die po‐ pulärkulturelle »Unterhaltungsindustrie ist in jedem Wortsinn Mißbrauch von Heeresgerät.« (Kittler 1986, 149) Die Geschichte dieses Missbrauchs beschreibt Kittler wie folgt: 236 Medientheorien in der Postmoderne und Gegenwart <?page no="237"?> Funkspiel, UKW-Panzerfunk, Vocoder, Magnetophon, U-Boot-Ortungstechnik, Bomberrichtfunk usw. haben einen Mißbrauch von Heeresgerät freigegeben, der Ohren und Reaktionsgeschwindigkeiten auf den Weltkrieg n + 1 einstimmt. Radio, dieser erste Mißbrauch, führt von WW I zu WW II, Rock Musik, der nächste, von WW II zu WW III. […] Massenmedien der Interzeption wie die Rock Musik sind Mobilmachung, also das gerade Gegenteil von Benjamins Zerstreuung. […] Rock Songs singen von der Medienmacht selber, die sie trägt. (Kittler 1986, 170) Hier argumentiert Kittler auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs, indem er eine Argumentationsfigur Benjamins (→ S. 78) in negierter Form wieder aufnimmt. Die Popkultur, welche sich seit Ende des Zweiten Weltkriegs ausgebreitet hat, sei letzten Endes doch nicht bloß als Missbrauch der militärischen Technologien und Infrastrukturen anzusehen, die sie sich zunutze macht. Denn schließlich diene sie sogar der Mobilmachung und Vorbereitung der Jugend auf den nächsten Weltkrieg dadurch, dass sie die Bedingungen dieses Krieges einübt, das heißt Körper und Medientechnik eng miteinander koppelt: Mechanisierung hat den Befehl auch über sogenannte Frei- oder Friedenszeiten angetreten. Jede Diskothek wiederholt Nacht für Nacht […] Analysen des Marsch‐ schritts. Der Stroboskopeffekt am Ursprung des Films hat die physiologischen Labors verlassen, um Tanzende zwanzigmal pro Sekunde in Filmaufnahmen ihrer selbst zu zerhacken. Das Trommelfeuer hat die Hauptkampflinien verlassen, um aus Beschallungsanlagen wiederzukehren - nicht ohne präzise und gleichzeitige Kombination mit optischen Wirkungen. […] Mögen die Joysticks von Atari-Spie‐ len aus Kindern lauter Analphabeten machen, Präsident Reagan hieß sie gerade darum willkommen: als Trainingsplatz künftiger Bomberpiloten. Jede Kultur hat ihre Bereitstellungsräume, die Lust und Macht legieren, optisch, akustisch usw. Unsere Diskotheken üben die Zweitschlagfähigkeit ein. (Kittler 1986, 211 f.) Kittlers pointierten, mitunter zynisch wirkenden Analysen - »Motor und Funk sind […] die Seele auch unserer Touristendivisionen, die unter so‐ genannten Nachkriegsbedingungen den Blitzkrieg simulieren oder üben« (Kittler 1986, 165) etc. - trugen dazu bei, ihn den bis in die 1980er-Jahre hinein eher behäbigen Geisteswissenschaften (und vor allem: Geisteswis‐ senschaftlern) zunehmend zu entfremden und ihn außerhalb einer sehr überschaubaren Szene von Medientheoretikern und Diskursanalytikern noch weiter zu isolieren. ✻ Friedrich Kittler und das technische Apriori 237 <?page no="238"?> Kurz vor seinem Tod im Herbst 2011 gab Kittler noch ein Interview, in dem es um Erfahrung und Wissen, vor allem aber um Liebe und Sex ging. Nach der zentralen Frage gefragt, auf die sein Lebenswerk eine Antwort gebe, erwidert Kittler: »Die Liebe und der Tod. Alles andere interessiert doch kein Schwein. […] Die glücklichsten Momente unseres Lebens sind alle Orgasmen«. (Kittler 2013) Zusammenfassung: Friedrich Kittlers Ansatz ist weniger medientheoretisch als vielmehr me‐ dienhistorisch: Um 1800 war die Schrift das einzige Aufschreibesystem des Diskurses Dichtung. Zwischen den Zeilen hauste das Imaginäre. Um 1900 bietet der Phonograph erstmals die Möglichkeit, das Reale selbst festzuhalten, ohne den Umweg über Zeichen. Der Film wiederum stellt das Imaginäre als Externes vor Augen. Und die Schreibmaschine zer‐ hackt das Kontinuierliche der Handschrift des ehemaligen Individuums und überführt es in eine Auswahl aus 26 unverbundenen Zeichen, die fortan das Symbolische übernehmen. Nur die Psychoanalyse führt das altmodische Projekt der Dichtung weiter. Die neuen analogen Aufzeich‐ nungstechniken aber stellen den Geist (der Geisteswissenschaften) und den dazugehörigen emphatischen Begriff des Menschen infrage. Nicht Menschen schaffen Medien, sondern es sind umgekehrt die medialen Infrastrukturen, die den Menschen und seinen Geist als Effekte hervor‐ bringen. Ob vor dem Hintergrund des weißen Rauschens ein Phänomen aufgezeichnet wird oder nicht, entscheidet der jedem Medium eigene Signal-Rausch-Abstand. Die technischen Aprioris des Diskurses legen fest, was und wie wir denken können. Dieser Frage geht die von Kittler mitbegründete Diskursanalyse nach. Seine harte Technikgeschichte der Medien verweigert sich allen »Inhalten« und sogar dem Konzept von Software. Letztlich sind alle Me‐ dienentwicklungen dem Krieg zu verdanken; Popkultur ist »Mißbrauch von Heeresgerät« zur Simulation und Einübung des Krieges. Verständnisfragen zur Vertiefung: ● Was versteht Kittler unter einem Medium? (leicht) ● Was ist ein technisches Apriori? (leicht) 238 Medientheorien in der Postmoderne und Gegenwart <?page no="239"?> ● Erklären Sie den Begriff »Diskursanalyse«! (leicht) ● Vergleichen Sie die Verbindungen, die Virilio und Kittler zwischen Krieg und Medienentwicklung herstellen! (mittel) ● Was verbindet den Typewriter mit den Medien Grammophon und Film? (mittel) ● Vergleichen Sie das physikalisch-technische Konzept des Signal‐ Rausch-Abstands mit Niklas Luhmanns Vorstellung von der strikten Kopplung der Elemente eines medialen Substrats! (mittel) ● Vergleichen Sie die »Diskurs«-Begriffe Flussers, Kittlers und Haber‐ mas’ (sowie evtl. Foucaults)! (schwer) ● »Unsere Diskotheken üben die Zweitschlagfähigkeit ein.« Stimmen Sie dem zu? Vergleichen Sie diese Argumentation mit derjenigen, die Walter Benjamin mit der »Chockwirkung« des Kinos verbindet! (schwer) ● Weshalb eigentlich schrieb Kittler Bücher - statt sich der seit 1900 dominanten technischen Aufschreibesysteme zu bedienen? (schwer) ✻ Friedrich Kittler und das technische Apriori 239 <?page no="241"?> … und jetzt? Das Erbe der Gründerväter und der Versuch, Abschied zu nehmen Dass Friedrich Kittler das letzte Kapitel in diesem kompakten Überblick über die Medientheorien bildet, ist kein Zufall. Auch andere, vergleichbare Lehrwerke und Anthologien enden zumeist mit ihm, wenn nicht schon mit Jean Baudrillard. Doch sogar der relativ zeitgenössische Kittler schrieb seine Hauptwerke bereits in den 1980er-Jahren, vor Jahrzehnten also, in einem anderen Jahrtausend. Was ist seither geschehen? Nichts Nennenswertes etwa? Wie geht es nun weiter mit den Theorien über die Medien? Vielleicht ist die Zeit der Gründerväter ja tatsächlich vorbei. Flusser, Baudrillard, Virilio, Kittler: Sie alle kamen von außerhalb der Medientheorie. Sie machten aus der ehrwürdigen, grauen Kommunikationswissenschaft, wie sie einer pedantischen und verstaubten Zeitungswissenschaft entsprun‐ gen war, eine andere, neue und schillernde, angenehm unakademische (bis gelegentlich halbseidene) Disziplin, eine, die den Anspruch erhob, die Zeichen der Zeit deuten zu können. Und dies im ganz wortwörtlichen Sinn. Heute sind es die Schüler dieser Großmeister, die den medientheoreti‐ schen Diskurs bestimmen. Baudrillard und Virilio haben ihre Nachfolger eher im philosophischen und vor allem im essayistischen Bereich. Flusser, der ja erstens eher Kulturals Medientheoretiker und zweitens als solcher nie Teil des akademischen Betriebs im deutschen Sprachraum geworden ist, hat eher verstreut Lehrende und Forschende erkennbar geprägt. Der Schwei‐ zer Rainer Guldin, der sich vor allem mit Übersetzungstheorie befasst, wäre hier zuerst zu nennen, daneben Michael Hanke, ein in Brasilien lehrender Literaturwissenschaftler, sowie der Medienarchäologe Siegfried Zielinski, der das Flusser-Archiv in Berlin leitete, und der kulturwissenschaftliche Autor Byung-Chul Han in Berlin. Auf Zielinski wird noch zurückzukommen sein. Han aber betreibt eine präzise Flusser-Exegese und schafft es dabei dennoch, diese mit Jürgen Habermas’ (→ S. 115) Theorie des kommuni‐ kativen Handelns (Habermas 1981) sowie Richard Sennetts Thesen zum Verschwinden des öffentlichen Raums (Sennett 1986) zu verbinden und daraus ein Plädoyer für eine direkte Demokratie per Internet zu entwickeln: <?page no="242"?> Heute ist jenes von Flusser erträumte »[…] System, an dem ein großer Teil der Menschheit teilnimmt«, in Form des Internets Wirklichkeit geworden. Die Mög‐ lichkeit, direkt in den politischen Entscheidungsprozess einzugreifen, besteht bis zu einem gewissen Grad nun tatsächlich. An die Stelle der Distanz schaffenden Repräsentation tritt heute überall die unmittelbare Präsenz und Kopräsentation. Die sozialen Medien würden sogar die periodischen Wahlen überflüssig machen. Womöglich ersetzt der Gefällt-mir-Button den Wahlzettel. Die digitalen Wahlen, die Optionsmöglichkeiten anböten, würden täglich und stündlich stattfinden können. […] Ob das eine Utopie oder eine Dystopie ist, ein Traum oder ein Albtraum, lässt sich heute nicht eindeutig beantworten. (Han 2013, 40 f.) Kittlers Habilitationsschrift Aufschreibesysteme 1800/ 1900 hatte die damalige literaturwissenschaftliche Zunft noch erheblich verstört. Doch so zäh er sich auch seine Akzeptanz im universitären System erkämpfen musste, so fest konnte Kittler sich langfristig in diesem System etablieren und eine ganze Reihe heute medientheoretisch sehr einflussreicher Schüler hervorbringen. Zu ihnen zählen Norbert Bolz, Bernhard Siegert und Claus Pias, auf den ebenfalls noch zurückzukommen sein wird. Unabhängig von der auffälligen Abwesenheit großer neuer Theorien ist aber doch zu beobachten, dass die Medientheorie ins akademische System Einzug gehalten hat. Inzwischen kann man an jeder Universität Medientheo‐ rie oder doch wenigstens Medienwissenschaft(en) studieren. Angeblich gibt es heute allein in Deutschland über 600 medienpraktische und -theoretische Studiengänge. Der Einfluss der in diesem Band dargestellten Großmeister der philoso‐ phischen Medientheorien ist auch deswegen kaum zu überschätzen, weil er genau diejenige Generation von Hochschullehrern geprägt hat, die heute die Lehrstühle besetzen - auch dann, wenn sie nicht unmittelbar bei diesen Theoretikern selbst studiert haben. Natürlich hat eine solche Etablierung eines neuen, ursprünglich eher spekulativen Fachs zur Folge, dass die großen Theoreme immer mehr in zahlreiche Einzeltheorien ausdifferenziert werden. Begünstigt wurde dieser Prozess zudem durch eine zeitgeistliche Abneigung gegen die sinnstiftenden großen Erzählungen: Nachdem der fran‐ zösische Philosoph Jean-François Lyotard 1979 in La condition postmoderne (deutsch aber erst 1999: Das postmoderne Wissen) erfolgreich das Ende der singulären, geschlossenen Theoriesysteme mit universellem Anspruch auf eine gesamte Welterklärung beschworen hat, herrscht nun ein ganz erheb‐ 242 … und jetzt? <?page no="243"?> 64 Die eckigen Klammern sind Teil des Titels. liches Misstrauen allen Theorien gegenüber, die mehr als nur abgegrenzte, überschaubare Zusammenhänge zu erklären vorgeben. Die Situation der Medientheorien heute spiegelt dies wider. Nach der heroischen Gründerphase der 1980er- und 90er-Jahre ist nun der Alltag in den Seminaren eingekehrt. Keine großen neuen Würfe lassen den Diskurs erbeben, stattdessen erscheinen unzählige zusammenfassende Anthologien. Es wirkt, als wolle man schon Bilanz ziehen: Was war sie, die Medientheorie? Der Druck, stets etwas Neues bringen zu müssen, einen Gedanken weiter sein zu wollen, dem Diskurs voranlaufen zu müssen oder dies zumindest glaubhaft zu machen, führt zu gleichermaßen verkrampften wie voreiligen Verabschiedungen der Medientheorie oder gar der Medien selbst. So brachten schon findige Verleger auf dem Höhepunkt der Debatte um die Postmoderne einen Sammelband heraus, der mit dem Titel Nach der Postmoderne (Steffens 1992) lockte. Wer den gefühlten Zwang erzeugt, immer über das Allerneueste Bescheid wissen zu müssen, sichert sich wohl Käufer und Leser. In dieser Hinsicht ganz treffend stellt daher der Medienphilosoph Lorenz Engell fest: Zu fragen, was Medien waren, operiert […] einerseits ganz genau im Sinne des Aktualitätsbzw. Beschleunigungszwanges, indem es den bisherigen Stand der Medienwissenschaft zu überholen versucht. Insofern ist es wohl auch die taktisch motivierte Frage derer, die es in dieser Wissenschaft auch institutionell noch zu etwas bringen wollen. Zugleich ist diese Frage aber natürlich gegen den Temporalisierungsdruck gerichtet: Wenn es gelingt, die Frage nach den Medien für erledigt zu erklären, Medien für Gewesenes, dann ist das Beschleunigungs‐ problem beendet, und man kann sich im Vorhandenen, ja, was ja das Bequemste ist, im Gewesenen einrichten. Insofern ist das Aufwerfen der Frage danach, was Medien waren, zugleich die Taktik derer, die ihre Ruhe haben wollen. (Engell 2011, 120) Auf zwei solche plakative Versuche, die in letzter Zeit in Sachen Medien‐ theorie zu beobachten waren, soll hier kurz eingegangen werden. Unter dem geheimnis- und verheißungsvollen Titel [… nach den Medien]. Nachrichten vom ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert  64 zum Beispiel ver‐ öffentlichte der Medienhistoriker und damalige Leiter des Vilém-Flusser-Ar‐ chivs Siegfried Zielinski 2011 den Versuch einer Bilanz, deren Einleitung Das Erbe der Gründerväter und der Versuch, Abschied zu nehmen 243 <?page no="244"?> unter der Überschrift steht: »Die Medien sind überflüssig geworden«. (Zielinski 2011, 7) Diese Behauptung begründet Zielinski so: Nun sind die Medien im Überfluss vorhanden, es herrscht kein Mangel mehr an ihnen. Für die durch und durch medienbedingten Einzelnen können sie unmög‐ lich noch als Gegenstand von Obsessionen herhalten. Was in selbstverständliche Verfügung übergegangen ist, wird benutzt und als Besitz verteidigt, aber nicht mehr begehrt. In diesem spezifischen Sinn sind die Medien überflüssig geworden. (Zielinski 2011, 16) Das ist nun schon eine starke Einschränkung der reißerischen These des Buchtitels. Bei näherem Hinschauen entpuppt sich der Inhalt des Bändchens somit glücklicherweise als zugleich stichhaltiger und weitaus weniger spektakulär, als es sein Titel vermuten ließe. Zielinski argumentiert nach‐ vollziehbar, dass der Einsatz elektronischer Medien in der bildenden Kunst inzwischen so gewohnt und selbstverständlich geworden sei, dass er einer expliziten Erwähnung kaum noch lohne - es sei denn, die Mediatisierung sei selbst der Gegenstand dieser Kunst. Zielinski plädiert also für mehr Gelassenheit. Seinen Argumentationskreis verlässt er nie; in seinem Buch geht es nicht um den Abschied von den Medien, sondern lediglich um eine entspanntere Haltung ihnen gegenüber innerhalb der sogenannten Medienkunst und damit auch um eine Relativierung des Begriffs »Medien‐ kunst« selbst. Ans Ende stellt Zielinski ein Manifest, ein »Vademecum für die Vermeidung einer psychopathia medialis« (Zielinski 2011, 245). Zuvor wagt er aber doch noch einen Blick in die Zukunft der Medientheorien: Eine Wissenschafts- und Technikgeschichte, die über die Kultur des Experiments offen ist für Fragen der Kommunikation und des Ästhetischen, ist für die nächsten Jahre eine der Möglichkeiten, Theorien von den Medien weiter zu entwickeln. Vielleicht sind diejenigen, die eine solche, implizite Medientheorie betreiben, keine Wissenschaftshistoriker im Sinn der Zunft, aber, ist das wichtig? (Zielinski 2011, 225 f.) Die erforderliche Offenheit für experimentelle Ansätze glaubt Zielinski, so der Tenor des gesamten Bändchens, eher bei Künstlern zu finden als bei Wissenschaftlern. Auch der Kittler-Schüler Claus Pias versucht, die Medien als abgeschlos‐ senes Kapitel zu präsentieren. Unter dem doch sehr krachledernmarkt‐ schreierischen Titel Was waren Medien? hatte 2006/ 2007 eine Ringvorlesung in Wien stattgefunden, aus der dann der von Pias herausgegebene gleich‐ 244 … und jetzt? <?page no="245"?> namige Sammelband hervorging (Pias 2011). Die darin aufgeworfenen Fragen lauten nicht nur »Was waren Medien? «, sondern auch »Was waren Medien-Wissenschaften? « (Claus Pias) oder »Was war die Medienkunst? « (Dieter Daniels). Daniels’ Argumentation ähnelt dabei der Zielinskis, der neben Friedrich Kittler und vielen anderen ebenfalls an der Ringvorlesung teilnahm: »Die Medientheorie steht heute vor ähnlichen Definitionsfragen wie die Medienkunst. Wie ist eine Legitimation ihrer Spezifik heute noch möglich, wenn die Medientechnik umfassend in unsere Lebenswelt inte‐ griert ist? « (Daniels 2011, 58) Diese Frage schließt einerseits tatsächlich an die These von Zielinskis Buch an (bzw. geht diesem chronologisch voraus), dass nämlich der Gebrauch der ehemals »neuen« Medien heute so alltäglich geworden sei, dass er zumindest in der Kunst keiner gesonderten Reflexion mehr bedürfe. Die Ausweitung dieser Überlegung jedoch über den Geltungsbereich der Kunst hinaus »in unsere Lebenswelt« führt den Gedanken völlig ad absurdum: Gerade weil Medien ein so dominanter, bestimmender Bestandteil unserer Lebenswelt sind, lohnen sie doch eine kritische Reflexion sowie eine eigene Theoriebildung und eine eigene wis‐ senschaftliche Disziplin! Oder sollen wir ausgerechnet vor dem die Augen verschließen, was unser Leben auf unauffällige aber desto wirksamere Weise mit am meisten prägt? Je näher man diese von Daniels mit aufgeblasenen Backen vorgetragene Argumentation betrachtet, desto unverständlicher schaut sie zurück. Der oben schon zitierte Lorenz Engell versucht sich im selben Band an einer anderen Argumentation mit ähnlichem Ziel: Die Frage danach, was Medien waren, betrifft in erster Linie eine wissenspo‐ litische und wissenschaftspolitische Problematik und weniger ein »reines« Erkenntnisinteresse (das es ja ohnehin nicht gibt). Es geht ihr keineswegs darum herauszufinden, was Medien waren, sondern darum, sie für erledigt zu erklären. Sie geht völlig zu Recht davon aus, dass »die Medien« eine Erfindung der Medienwissenschaft sind (und keineswegs letztere eine Reaktion auf das Aufkommen ex nihilo der ersteren). (Engell 2011, 103) Engell erklärt, dass der Begriff der »Medien«, wie wir ihn heute benutzen, eigentlich erst von der institutionalisierten Medienwissenschaft erzeugt worden sei. Medien stünden aber immer, wie Referenten oder Symbole, für etwas Abwesendes, auf das sie verweisen. Diese Abwesenheit sei Vorausset‐ zung für das Mediale, und dasselbe Prinzip gelte für die Medienwissenschaft. Sie könne nur über die abwesenden, also über tote Medien sprechen. So Das Erbe der Gründerväter und der Versuch, Abschied zu nehmen 245 <?page no="246"?> bringe sie umgekehrt ihren Gegenstand, die Medien also, zur Strecke: »Das Verschwinden ›der Medien‹ kann also auch als ein grandioser Erfolg der Medienwissenschaft in all ihren Facetten angesehen werden. Es wäre nicht das erste Mal, dass eine erfolgreiche Wissenschaft ihren Gegenstand zum Erliegen gebracht hätte.« (Engell 2011, 106) Was Engell in seiner Argumentation jedoch geschickt überspielt: Dass in den Medien ein Zeichen für etwas Abwesendes steht, heißt nicht, dass die Medien selbst abwesend sind. Ganz im Gegenteil ermöglichen ihre Anwesenheit und ihre Vitalität ja erst ihr Funktionieren. Und noch viel weniger bedeutet die schiere Existenz einer Medienwissenschaft den Tod ihres Gegenstandes - so wenig, wie die Astronomie zum Verschwinden der Sterne geführt hat. Zwar geht es sowohl in den Medien als auch in den Wissenschaften davon um Relationen zwischen einem Zeichen und einem (abwesenden) Bezeichneten. Doch wenn Engell mediale Abwesenheit zum Beispiel im Sinne eines Gegenstands, von dem im Wohnzimmer des Zuschauers nur das Fernsehbild anwesend ist, damit gleichsetzt, dass die Existenz von Medienwissenschaft die Abwe‐ senheit von Medien zur Folge haben müsse, dann vermischt er zwei ganz unterschiedliche Formen von Abwesenheit auf unzulässige und polemische Weise. Nach dem Abschied vom Abschied von den Medientheorien Doch ob nun berechtigt oder nicht: In den Medientheorien herrscht End‐ zeitstimmung. Das lässt sich auch daran erkennen, dass am Ende der vielen Anthologien, die zum Thema vorliegen, häufig eine Art Apotheose versucht wird. Auf hunderte Seiten meist genauer und sachlicher Auseinanderset‐ zung mit der geschichtlichen Abfolge unterschiedlichster Medientheorien und ihrer Widersprüchlichkeit folgt zum Ende dann ein erstaunliches Ver‐ schwimmen im Ungefähren. Denn die Gegenwart ist naturgemäß unüber‐ sichtlich und die Zukunft schwer vorhersagbar: »The future’s uncertain, and the end is always near« (The Doors 1970) wird dann zum Motto. Denn gerne greift man in dieser Lage zum Erlösung verheißenden Verschwurbelungs-Ef‐ fekt des Musikalischen. Erstaunlich viele Geschichten der Medientheorien lösen sich genau in dem Moment in Drogen, Lifestyle und Popmusik auf, in dem sie die Gegenwart einholen. Das Ende ist in der Tat immer nah. Es verspricht auf obskurantistische Weise eine unscharfe Form von Erfüllung. 246 … und jetzt? <?page no="247"?> Selbst Friedrich Kittler schrieb am liebsten über die Beatles und vor allem über Pink Floyd, Diedrich Diederichsen darüber, »wie Rap-Musiker den Computer einsetzen« (Diedrichsen 1993, 10). Der DatenDandy (Agentur Bil‐ wet o. J.) wiederum, eine Art Lebenshilfe-Ratgeber als Medientheorie-Sam‐ melband, enthielt bezeichnenderweise Kapitel wie Von Disco und Diskurs oder Keine Medien ohne Drogen, keine Drogen ohne Medien. Frank Hartmann lässt gar seinen äußerst anspruchsvollen Band zur Medienphilosophie in einem Kapitel zergehen, das sehr deutlich It’s all Jazz. DJ-Culture und Diskursvermischung (Hartmann 2000, 329-333) heißt. Vielleicht ist es ja aber tatsächlich nicht nur ein aus subjektiver Eitelkeit abzuleitender Effekt, der dazu führt, dass Medientheorie offenbar so voreilig zum abgeschlossenen Kapitel erklärt wird. Vielleicht steckt mehr dahinter als nur ein leicht verständliches psychisches Bedürfnis ratloser Autoren. Und vielleicht lässt sich Medientheorie, wie sie alltagssprachlich im ge‐ genwärtigen Gebrauch verstanden wird, wirklich datieren, zum Beispiel von Benjamin bis Kittler. Für diese Periodisierung spräche Einiges, denn in eben dieser Zeitspanne nahmen die elektrischen Medien nicht nur einen immer umfassenderen Teil unserer Lebenswirklichkeit ein und prägten ihn entscheidend; sie rückten auch in den Mittelpunkt unseres Erkenntnis- und Deutungsinteresses. Medientheorie wäre so gesehen ein Produkt und eine Begleiterscheinung des 20. Jahrhunderts und seiner Technologien. Mit der immer weiter fortschreitenden Enthüllung des Technischen an der Medien‐ technik und dem parallel dazu verlaufenden Verschwinden des Interesses an den Inhalten des durch die Medien Gesagten wäre mit Friedrich Kittler zumindest vorläufig tatsächlich ein plausibler Endpunkt dieser Entwicklung erreicht. Und mit Walter Benjamins These zu den Folgen der technischen Reproduzierbarkeit (→ S. 75) (nicht nur) der Kunst wäre rückblickend ein vernünftiger Anfangspunkt gesetzt. So gesehen wäre auch vollkommen plausibel, weshalb eine derart ver‐ standene Medientheorie ihre höchste Blüte in den 1980er- und 90er-Jahren erreicht hat: ● Der Golfkrieg (1980-88 und 1990/ 91) erwiese sich auch hier als Vater aller Dinge - getreu dem Lehrsatz Paul Virilios und Friedrich Kittlers, deren Thesen ohne den Krieg ja undenkbar wären. Gleiches gilt für Jean Baudrillards Simulationstheorie. Der Golfkrieg war der erste Krieg, der sich einen virtuellen Anschein gab: ein steriles Computerspiel, von dem Nach dem Abschied vom Abschied von den Medientheorien 247 <?page no="248"?> auf makabre Weise unklar zu sein schien, ob es jenseits des Bildschirms eine Realität besaß. ● Etwa zur selben Zeit, spätestens aber ab 1991, brach sich das Internet Bahn - und mit ihm die verbundene Möglichkeit, sich weltweit zu vernetzen, zum Beispiel per E-Mail oder in Chat-Rooms. Sein sofort absehbarer Siegeszug schärfte das allgemeine Gefühl dafür, an einer medientechnisch bedingten Zeitenwende zu stehen. Doch die ubiquitäre Echtzeitpräsenz, die das Netz ermöglichte, erschien unwirklich. In der Folge machte das vorgebliche Oppositionspaar real vs. virtuell die Runde. ● Damit fällt das dritte Stichwort, das, neben Golfkrieg und Internet, die Hochzeit der Medientheorie in den 1990er-Jahren umreißt: Virtualität. Plötzlich war die sogenannte virtuelle Realität in aller Munde. Cybersex, Data Suits, Cyborgs waren die Themen jeder Talkshow, der am Zeitgeist gelegen war. Auf Einladung des dortigen Soros-Centers habe ich bei‐ spielsweise 1995 in Skopje, Mazedonien, einen Vortrag über virtuelle Realität gehalten. Angesichts der konkret vorfindbaren Realität in einem damals von Orientierungslosigkeit, Armut, dem Serbien-Embargo, Na‐ tionalitätenkonflikten und Bildungsrückstand gequälten Mazedonien erscheint mir dieser wahre Vorgang aus heutiger Sicht noch virtueller als das Thema. Stranger than fiction. Die Verunsicherung im Angesicht des entstehenden Internets ist nochmals kurz aufgeflackert, als die Social Media die Kommunikations- und Medien‐ nutzungsweisen und das Sozialverhalten von Milliarden von Menschen in den 2010er-Jahren wieder einmal drastisch verändert haben. Doch letztlich erstaunt die vergleichsweise große Gelassenheit angesichts der sozialen Medien, auch angesichts des kommerziellen Data Minings durch Facebook und andere profitorientierte Unternehmen. Selbst nach der Enthüllung haarsträubender und systematischer Verletzungen von Persönlichkeits- und Bürgerrechten in geradezu alptraumhaftem Ausmaß durch nationale Geheimdienste wie die NSA blieb die Empörung erstaunlich moderat. Big Data Anwendungen mit ihrem ungeheuren Überwachungspotenzial, das schnelle Anwachsen der weltweiten Gamingindustrie und weitverbreitete Ängste den Auswirkungen künstlicher Intelligenz gegenüber ändern daran grundsätzlich nichts: Die Medien sind kein Aufreger mehr. Medientheorien gibt es, seit Kommunikationsmittel »Medien« genannt werden, und es wird sie künftig immer geben. Medientheorie aber im Sinne eines den Zeitgeist wiedergebenden Diskurses, der von einer unglücklicher‐ 248 … und jetzt? <?page no="249"?> 65 Das ist völlig falsch und belegt so auf groteske Weise das Argument, das hier gemacht wird, das der Unwissenheit und Voreingenommenheit den Theorien anderer Länder gegenüber. Nach sieben Jahren in den USA behaupte ich, dass Medientheorie dort im Grunde nicht existiert, dass auch Großbritannien - von der am Rande verwandten Bir‐ minghamer Schule und Stuart Halls Cultural Studies abgesehen - keine nennenswerte für Medien relevante Theorie hervorgebracht hat, dass aber insbesondere Frankreich und Deutschland in diesem Bereich eine herausgehobene Rolle zukommt. An der Gültigkeit des hier vorgebrachten Arguments ändert dies aber grundsätzlich nichts; es illustriert nur umso deutlicher die These von unserer Blindheit für Theorien aus anderen Kulturkreisen oder auch nur Sprachregionen. weise gleichfalls Medientheorie genannten Leitwissenschaft gestützt wird, fand etwa von Benjamin bis Kittler statt, bzw. vom Kino bis zum Internet als je neuem Medium, und sie erreichte einen Höhepunkt öffentlicher Geltung, der sich vielleicht vom Beginn des Golfkriegs 1980 bis in die Zeit unmittelbar nach dem Tod Flussers, also etwa bis 1993, datieren ließe. Auf der Suche nach afrikanischen Medientheorien Möglicherweise ist es Ihnen aufgefallen: Dieses Buch heißt zwar ganz allge‐ mein bzw. global Medientheorien: Grundwissen und Geschichte; es kommen mit Ausnahme eines kleinen Exkurses zum indisch-vedischen Konzept von Maja aber nur europäische bzw. nordamerikanische (McLuhan, Postman, Sontag) Medientheorien vor. Nun lebe ich aber seit einem Jahr in Johannes‐ burg und arbeite im gesamten »Subsahara Afrika« genannten Raum. Gibt es hier keine Medientheorien? Oder sind die in den vorstehenden Kapiteln umrissenen - obwohl europäischen Ursprungs - von ganz allgemeiner Bedeutung und weltweiter Geltung? Wohl nicht. »Media theory«, schreibt etwa John Downing, has been too narrowly conceptualized within the experiences of British and Ame‐ rican scholars. Because the United States and Great Britain are the two countries where most media research has been done 65 , our ideas of what constitutes a media ›theory‹ have been limited by the cultural, political and economic contexts of these nations. But these two countries are far too similar for us to base general media theories on their experiences. Both nations share an imperial history, for example, and a diffuse Protestant Christian culture. (Downing 2007) Ist denn Medientheorie eine ausschließlich westliche Angelegenheit ohne Gegenstück in anderen Kulturkreisen? Oder existiert vielleicht im Auf der Suche nach afrikanischen Medientheorien 249 <?page no="250"?> 66 Armond R. Towns ist Professor für Kommunikations- und Medienwissenschaft an der Carleton University in Ottawa. Zuvor war er Professor für Rhetorik und Kommu‐ nikationswissenschaft an der University of Richmond, Virginia. Seine Forschung und Lehre kreisen um die Beziehung zwischen Medien, Kommunikation, Rasse, Blackness und Geschichte. Er ist auch der Mitgründer und Gründungsherausgeber der neuen Zeitschrift »Communication and Race«, die ab 2024 bei Taylor & Francis erscheint. nicht-westlichen Teil der Welt ein Äquivalent, etwas, das ganz anders ist als unsere europäischen Medientheorien, anders als »media philosophy’s weddedness to Western man« (Towns 2022, 26) 66 , und das doch deren Funktion erfüllt? Ich habe mich auf die Suche gemacht. Die Schwierigkeiten dieser Suche beginnen bereits mit der territorialen Klärung. Was ist der »Westen«? Soll man Stuart Halls Teilung der Welt in »the West and the rest« (Hall 1996) übernehmen? Ist der Rest der so genannte »Globale Süden«? Gehören zum Süden nicht auch Länder wie Aus‐ tralien oder Chile? Und weshalb ist das Gegenstück zum Süden manchmal der Norden, gerne aber auch der so genannte »Westen«? »Westen« wovon? Vom Osten oder vom Süden? Es ist offensichtlich: Eine solche Aufteilung der Welt schafft nur Aporien und Unsinn, auf den man besser verzichten sollte. Die Aufgabenstellung möchte ich deshalb umdefinieren, weg von der Suche nach »nicht-westlichen« oder »global südlichen« Medientheorien, hin zu afrikanischen. Afrika ist definierbar. Die Vorgabe auch: We can never forget that most of the theory we [Africans] use did not come out of Africa, that much of it has ambiguous histories of alliance with colonial power, and that we are always bending it - even if a little - to suit our own uses and situations. […] But we might also, by using Northern theory in this way, be contributing to a situation that continues to view our locations as objects of research only, and not generative sites of new theory. (Garman 2015, 169-172, meine Hervorhebung) Die Situation ist, um es ganz einfach zu sagen, vom Kolonialismus und seinen fortbestehenden Folgen geprägt. Und »even as calls for ›de-wester‐ nizing‹ and ›de-colonizing‹ media studies have gained traction, graduate programs across the world continue to rely on scholarship rooted in Western philosophical traditions« (Keightley et al. 2023). Die Theorie stammt aus Europa; angewandt wird sie auf die (ehemalige) Kolonie. Das Fremde wird zum Material, das dazu dient, das vertraute Eigene zu bestätigen. »Was auf fremden Kontinenten entdeckt wird, ist die eigene Botschaft in umgekehrter (›wahrer‹) Form.« (Marchart 2004, 146) 250 … und jetzt? <?page no="251"?> 67 Es ist leider in diesem Zusammenhang unmöglich, den von Towns vermutlich in durch‐ aus provokativer Absicht gebrauchten Begriff »Negro« zu vermeiden. Ein schwarzer Autor, der gezielt dieses Wort als Kern seiner These mit Bedeutung auflädt und es dabei dem Begriff »Black« gegenüberstellt, sollte nicht aus Gründen der politischen Korrektheit zensiert werden. Mein - von Towns sicherlich beabsichtigtes - Unwohlsein beim Gebrauch dieses Wortes bleibt aber bestehen. Towns führt die Bildung des Begriffs zu europäischen Abgrenzungs- und Selbstvergewisserungszwecken auf die Kolonialisierung Afrikas zurück. Doch schon lange zuvor, seit dem 8. Jahrhundert, gab es im deutschsprachigen Raum den »Mohren«, der erst im 18. Jahrhundert durch den »Neger« ersetzt wurde und wohl ganz ähnlichen Motiven diente. In diesem Zusammenhang mögen Verweise auf den Sarotti-Mohr, auf die »Mohrenköpfe« und »Negerküsse« meiner Kindheit genügen. Die »Entdeckung« dieser ethnologischen oder anthropologischen Be‐ funde geschieht in einem hermeneutischen Zirkel und dient der Bestätigung des erwünschten eigenen So-Seins. So wird Afrika insgesamt zum Medium, dessen Funktion in der Bestätigung weißer Überlegenheit aber zugleich der erfolgreichen Überwindung animalischer oder tribalistischer, primitiver, »dunkler« Triebe besteht, einer Kulturleistung, auf der der ganze Stolz Europas und die Behauptung seiner zivilisatorischen Überlegenheit beruht. Zu diesem Zweck wird Armond R. Towns zufolge der »Negro« 67 geschaffen, ein afrikanisches Medium europäischen Selbstverständnisses. »The Negro serves a media function; its connectedness to nature extends man into what he now takes for granted as his white male superiority, progress, and development out of the natural.« (Towns 2022, 50) Marshall McLuhan zufolge ist der Inhalt eines Mediums immer ein jeweils anderes Medium (vgl. → S. 102). Messerscharf folgert Towns deshalb, »the content of the Negro is Western nature« (Towns 2022, 39), seine »media function is to act as Western bourgeois man’s self-measure, the placeholder that reuniversalizes man as the self-determined figure, largely distingui‐ shing himself from nature in comparison to those who can never fully get out of nature (presumably Black people).« (Towns 2022, 21) Towns ist gleichermaßen unermüdlich wie unerbittlich in seiner etwas angestrengten Bemühung, die Funktion und Beschaffenheit des »Negro« als Medium zu beschreiben: »I explicate it: the Negro is a mediator […], it is a storage device for white imaginations, used to measure some (white) people’s assumed exit from nature and entrance into Western conceptions of humanness and civilization.« (Towns 2022, 8) Selbst die zynisch erscheinende Betrachtung, die Towns hier anstellt, führt auf ein Problem hin, das im Folgenden noch einmal aufgegriffen wer‐ Auf der Suche nach afrikanischen Medientheorien 251 <?page no="252"?> den soll: der kaum zu leugnende Unterschied im Sozialgefüge afrikanischer und europäischer Gesellschaften - anders gesagt, zwischen der Betonung kollektiver vs. individueller Identitäten oder zwischen eher »holistischen« und eher individualistischen Gesellschaftsformen. »Afrika« als Medium der Selbstvergewisserung »Europas« zu schaffen, »which often consists in contrasting ›the identical to oneself‹ with ›the other‹ by excluding it, is at the basis of a more or less similar contrast between allegedly holistic societies and others said to be individualistic.« (Mbembe 2001, 19, Fn. 10) Dies war der Ausgangspunkt meiner Suche nach nicht-westlichen bzw. nach afrikanischen Medientheorien. Die Selbstvorgabe Armond Towns, wie er sie hier beschreibt, fand ich dabei leider uneingelöst: I contend that […] it is no longer media philosophy that we are talking about per se, but Black media philosophy - an alternative approach to media, knowledge, and philosophy, largely ignored in media philosophy’s acceptance of the Western world as the only world. (Towns 2022, 153) Zu einem sehr frühen Zeitpunkt dieser Suche stellten sich bei mir grund‐ sätzliche Zweifel ein: Ist das hier zugrunde gelegte Konzept von »Theorie« nicht an sich westlich? Dann wäre eine afrikanische Medientheorie ein Widerspruch in sich. Andererseits wäre es unlauter und paternalistisch, einem ganzen Kontinent mit hochgradig ausdifferenzierten und sehr unter‐ schiedlichen Kulturen die Fähigkeit zur Theoriebildung rundheraus und vollständig abzusprechen. Meine schließlich unternommene Suche nach afrikanischen Medientheo‐ rien mündete bald in Enttäuschung: Gefunden habe ich keine Medientheorie im europäischen Sinn, sondern Postcolonial Theory, Cultural Studies etc. Aber nahezu alles, was sich »Media Theory«, »Media Studies« oder »Media Philosophy« nannte, stellte sich als nur inhaltsbezogen heraus und prüft lediglich mediale Inhalte auf koloniale oder rassistische Thesen und Unter‐ stellungen. Theorie ist das aber nicht. In essence, to reduce content to media representations leads to the Black media studies that currently exists [sic] - one that often centers the analyses of media around the limited question of how racist (or antiracist) a particular representation of Black people is in a book, on television, in a movie, or online. (Towns 2022, 2) Inhalte, schreibt Towns, also »content […] is where much of Black media studies remains« (Towns 2022, 2). So findet sich einerseits ein Defizit an 252 … und jetzt? <?page no="253"?> (westlicher) Theorie in der Erforschung afrikanischer Kommunikationswei‐ sen. Umgekehrt wird aber auch ein »lack of African-oriented epistemolo‐ gies« (Keightley et al. 2023) konstatiert. Und: »Many scholars […] cannot find compelling Black communication theories« (Langmia 2018). Trotz dieser bisherigen Mängel von »Black media studies and its over‐ whelming focus on media representations« (Towns 2022, 2) finden sich auch interessante Ansätze und, noch viel wichtiger, kritische Erkenntnisse und Vorstellungen dazu, was eine afrikanische Medientheorie sein könnte. Sie wird jedenfalls nicht den massiven Einfluss europäischer und nord‐ amerikanischer Theorie ignorieren können. Insbesondere an McLuhans Ausführungen zu den tribalen Auswirkungen des Radios und der Taktilität in der Marconi-Galaxis (vgl. → S. 95) arbeiten sich so manche afrikanische Autorinnen und Autoren immer wieder gerne ab. Im Folgenden wird also der Versuch unternommen, verschiedene zaghafte Ansätze zu sichten, kritisch zu prüfen und schließlich im besten Fall etwas zu formulieren wie Prolegomena zu einer künftigen afrikanischen Medien‐ theorie. Auch hierbei wird es sich jedoch sicherlich um Medientheorien im Plural handeln müssen, um eine Pluralität ganz unterschiedlicher Herange‐ hensweisen. Denn Afrika contains multitudes. Zunächst ist festzustellen, dass westliche Medientheorien in Afrika auf pragmatische Weise für den lokalen Bedarf zurechtgebogen werden (»we are always bending it«, s. o.). Der nächste Befund im Zusammenhang mit europäischen und internationalen Medienprodukten ist der im Sozialen und in der jeweiligen Kultur verwurzelte Umgang mit ihnen. Es treten damit »die Bedingungen medialer Produktion und die konkreten Interaktionen zwischen sozialer Erfahrung und medialen Objekten in den Fokus« (Ritzer 2018, 7), also relationale Verhältnisse von globaler Medienmacht und ihrer lokalen Nutzbarmachung. Zunächst fremde Objekte treffen auf ganz spezifi‐ sche Erfahrungen, für die sie nicht gemacht worden sind, von denen sie aber rasch synkretistisch einverleibt werden. »Deshalb liegt das offensichtliche Problem nicht in den Theorien selbst, sondern eher in deren Applizierung.« (Ritzer 2018, 126) Die Effekte der Globalisierung zu leugnen, wäre angesichts der konkreten Praxis der Mediennutzung in Afrika absurd. Gleiches gilt für den dortigen Umgang mit dem theoretischen Überbau. Zudem ist vor einem für den nicht-afrikanischen Blick nicht untypischen Essentialismus zu warnen. Auch meine Recherchen zu afrikanischen Medientheorien begannen von einem essentialistischen und in gewisser Weise kolonialen Ausgangspunkt, Auf der Suche nach afrikanischen Medientheorien 253 <?page no="254"?> weil ich, selbst von einem westlichen Theoriekonzept ausgehend, auf der Suche nach einer irgendwie authentischen afrikanischen Theorie ein unzu‐ lässiges Othering vorgenommen habe und zunächst in »die Falle einer essentialisierenden Konzeption der Indigenisierung vis-à-vis Okzidentali‐ sierung« (Ritzer 2018, 127) ging. Doch »Differentialität […] dekonstruiert den vermeintlichen Universalismus ökonomischer und kultureller Strömun‐ gen der Globalisierung ebenso wie sie Vorstellungen von Authentizität und Reinheit als essentialistische Konstrukte entlarvt« (Ritzer 2018, 123). Ein pragmatisches Vorgehen auf des Messers essentialistischer Schneide zwischen Partikularimus und Universalismus könnte das von Franz Wim‐ mer vorgeschlagene sein, in dem ein Forschungsprogramm zum Ausdruck kommt, das eben darin besteht, zu‐ nächst einmal nach gleichen Inhalten zu suchen, die in den unterschiedlichen Formen und Sprachen ausgedrückt sind. Es scheint mir wenig wahrscheinlich, daß Sachverhalte, die tatsächlich evident sind, nur einmal oder nur in einer bestimmten begrifflichen Form gefunden und ausgedrückt wurden. Die Regel, wenn sie befolgt wird, ist daher wahrscheinlich weniger ausschließend, als sie im ersten Moment wirkt. Was sie zu vermeiden suchen will, ist lediglich die voreilige Gleichsetzung von Partikulärem mit Allgemeinem. (Wimmer 1996) Natürlich finden sich aber schon bei einem ersten, oberflächlichen Brain‐ storming auch spezifisch afrikanische Kommunikationsweisen und Medien. Der Baobabbaum im Zentrum vieler Dörfer in Afrika, um den sich deren Bewohnerinnen und vor allem Bewohner versammeln, um ihre Angelegen‐ heiten zu besprechen, kann beispielsweise als Ermöglicher eines Kreisdia‐ logs gesehen werden, also letztlich als Medium. Zweifellos spielen - auch jenseits aller Klischees - in vielen afrikanischen Kulturen das gemeinsame Essen, Musik, Trommeln und Tanz traditionell wichtige Rollen und können als kulturspezifische Kommunikations- und Speichermedien gelten sowie als Mittel zur Stiftung oder Erhaltung von Gemeinschaft. Die Funktion des Mediums verschiebt sich hierbei aber erheblich. »Es geht nun nämlich nicht mehr um den Austausch von Botschaften, sondern um eine Artikulation unterschiedener Praktiken.« (Marchart 2004, 89) Der interessanteste Aspekt afrikanischer Medienpraxis im Kontrast zu westlichen ist wohl genau dieser: dass nämlich die rituelle Funktion des Mediums, mit deren Hilfe Gemeinschaft gestärkt und Tradition erhalten und aktualisiert wird, neben den Funktionen der Datenübertragung und -speicherung eine viel größere Rolle einnimmt als in Europa. Eine 254 … und jetzt? <?page no="255"?> ritual view conceives communication as a process through which a shared culture is created, modified, and transformed. […] A ritual view of communication is directed not toward the extension of messages in space but the maintenance of society in time (Carey 1989, 43). Bei dieser Unterscheidung handelt es sich einerseits um graduelle Akzentu‐ ierungen innerhalb der Funktionen von Kommunikation und von Medien. Erst auf den zweiten Blick ist erkennbar, dass der Fokus auf Rituale in Kon‐ kurrenz steht zur beliebten Vorstellung von afrikanischen Gesellschaften als oraler, von gesprochener Geschichte bestimmten. Die Aufmerksamkeit auf Rituale zu richten, bedeutet nicht, nach exotisch-magischen Praktiken Ausschau zu halten. Vielmehr heißt es, ein vielfach gelebtes Engagement wahrzunehmen, das fest in Lebensrealitäten integriert ist und, eben, in Lebensrituale. Man kann durchaus im Ritualmodell der Kommunikation und seiner Medien ein kategorisch andersartiges Paradigma erkennen: »Dem kommu‐ nikationswissenschaftlichen Transmissionsmodell (Sender-Medium-Emp‐ fänger-Modell) von Kommunikation wird das kulturwissenschaftliche Ritu‐ almodell entgegengehalten.« (Marchart 2004, 29) Im europäischen Kontext sind Rituale ebenfalls von erheblicher Bedeu‐ tung, auch wenn sie uns weniger bewusst sind oder sich nicht so leicht phä‐ nomenologischer Betrachtung erschließen wie diejenigen durch ihre Exotik fremd erscheinenden anderer Kulturkreise. Dennoch sind Kulturpraktiken wie der Tanz oder die Trance, die von Speicher- oder Übertragungsfunkti‐ onen nahezu vollkommen befreit sind, wohl grundsätzlich anders geartet als ihre europäischen Pendants. Das Ritual schafft als Dispositiv für sie die Rahmenbedingungen, innerhalb derer sie ihre Wirkung tun. In der Trance wird der Körper selbst zum Medium. Die Begriffsgleichheit vom Medium als Medium, die unserer gesamten Geschichte der Medien und ihrer Praktiken und Theorien zugrunde liegt (vgl. → S. 17), wird wieder hergestellt. In der Homonymie von »Medium« und »Medium« […] verbirgt sich zum einen ein wichtiger Aspekt der modernen Mediengeschichte und zum anderen eine untilgbare Alterität des Medienbegriffs und seiner kolonialen und postkolonia‐ len Geschichte […]. Und tatsächlich ist die Geschichte und Vorgeschichte der deutschen, aber auch der weltweiten Medientheorie von Interferenzen zwischen personalen und technischen Medien geprägt, so dass ihre wissenschaftliche Klärung nicht ohne eine Wiederkehr des Verdrängten, sprich: des Heimlichen, Unheimlichen und Peinlichen im Medienbegriff vonstattengeht. […] Zum ande‐ Auf der Suche nach afrikanischen Medientheorien 255 <?page no="256"?> ren macht das angesprochene Wechselspiel von Bannung und Beschwörung, von Schrein und Tanz deutlich, dass es in der Mediengestaltung und Ästhetik von Trancemedien um vier ineinander greifende Tatbestände geht: um den Körper, der in Trance-Bewegungen und insbesondere Tanzbewegungen versetzt wird, um körpernahe Medien, die sich in alle Sinnesbereiche und Synästhesien erstrecken können, um bewohnbare Medien wie etwa einen Schrein oder die Bühne eines Rituals, und um von der Situation ablösbare und z. T. transportierbare Medien und Künste (z. B. Skulpturen, Malereien, Lieder, Ornamente). (Schüttpelz 2015, 47-50 Dass es sich bei dieser Sicht nicht um eine rückblickend-verklärende oder gar paternalistisch-rückwärtsgewandte handelt, beweist das starke Aufleben bereits vergessen geglaubter auditiver und ritueller Kulturpraktiken und Medien unter den Bedingungen der Verfügbarkeit fortgeschrittener westli‐ cher Kommunikationstechnologien: Seit einigen Jahren lässt sich weltweit eine Vielzahl lokaler und zugleich globa‐ lisierter Interferenzen zwischen Trancemedien und neuen bis neuesten Medien beobachten, die nicht als »Rückkehr der Religion« kategorisiert werden können, weil sie sich bei genauem Hinsehen als mediale Zusammenballungen von Mo‐ dernisierungsstrategien erweisen, die eine sehr viel längere Geschichte aufweisen und meist tief in das 20.-Jahrhundert zurückreichen. (Schüttpelz 2015, 55f.) Bei aller Hybridisierung kann aber »ein Verhältnis von Medialität und Kultur nur verstanden werden, wenn sowohl globale wie lokale Kontexte reflektiert sind und damit eine Situierung im Weltsystem der ungleichen Machtverteilung zwischen Norden und Süden stattfindet« (Ritzer 2018, 44). Aber das Europa, welches uns das politische Vokabular zur Kritik von Ungleich‐ heit, Unterdrückung und Ungerechtigkeit geliefert und uns den Wert der Men‐ schenrechte schätzen gelernt [sic] hat, lebt für viele fort. Sein Vokabular ist zu einem allgemeinen geworden. Und in diesem Sinne ist Europa auch ein Bestandteil von jedermanns Erbe. (Chakrabarty 2010, 20, Fn. 34) Erhard Schüttpelz beschreibt in diesem Zusammenhang Trance, Moderne, Migration, modisch-hypermoderne und durchaus traditionelle Institutionalisierungen und Verhaltensweisen, und de[n] aus ihnen resultie‐ rende[n] Wunsch, die technischen Medien zu rituellen Zwecken zu nutzen, der seit etwa zwanzig Jahren weltweit eskalierend verwirklicht wird. (Schüttpelz 2015, 58) 256 … und jetzt? <?page no="257"?> und spricht davon, dass »viele strittige Fragen des 19. Jahrhunderts […] für Trancemedien in der Gegenwart neu gestellt« (Schüttpelz 2015, 59) worden seien. Nicht nur das Ritual, auch die Verwendung vorwiegend auditiver Medien unterscheiden traditionelle wie moderne afrikanische Medienpraktiken von europäischen: Wenn es auch naiv wäre zu behaupten, Bilder und visuelle Medien seien grund‐ sätzlich stärker mit westlichen Kulturen assoziiert als Klänge, so kann man doch argumentieren, dass die basale Kodierung westlichen Wissens eng mit der Schrift, mit einer zentralisierten Bildkonzeption sowie mit der Vorstellung eines autonomen Individuums verknüpft ist. Klänge dagegen sind weniger eng mit europäischen Rationalitätsvorstellungen und damit auch mit der Geschichte westlichen Machtpraktiken assoziiert. (Reichardt 2015, 324) Das hier gefallene Stichwort von »der Vorstellung eines autonomen Indi‐ viduums« führt uns schließlich zu einer stark vergröbernden, im Ganzen aber dennoch stichhaltigen Kontrastierung der Voraussetzungen von Kom‐ munikation - und damit auch von Medien - innerhalb europäischer bzw. afrikanischer Gesellschaften. Denn: Wer eigentlich sind die Akteure des Medieneinsatzes? Wer sind die Empfänger, wer die Sender? Vorwiegend auf Mündlichkeit und auditive Medien gebaute Kulturen tendieren eher zu Relationalität und zum dialogischen Sein als vom Visuellen geprägte, säkularisierte. »Ontologies shaped by orality assume that the world consists of interacting forces of cosmological scale and significance rather than of discrete secularised concrete objects.« (Tomaselli et al. 1994, 2) In solchen Kulturen taugt das bis Shannon/ Weaver allen Medientheorien zugrundeliegende behavioristische Stimulus-Response-Modell ganz beson‐ ders schlecht zum Verstehen medialer Vorgänge und Wirkungen. Das S-O-R [= Stimulus-Organismus-Reaktion] Modell, in seiner ganzen Simpli‐ zität, sitzt auf einer Reihe stillschweigender Voraussetzungen auf, u. a. auf einem liberalistischen Gesellschaftmodell, das Gesellschaft als zusammengesetzt aus vereinzelten und ihre Privatinteressen verfolgenden Individuen faßt. (Marchart 2004, 228) Doch die meisten afrikanischen Gesellschaften »start from the social pre‐ mise that the community is in the individual rather than that the individual is in the community« (Tomaselli et al. 1994, 7). Genau deshalb hatten Kolonialisierung, westliche Hegemonie und die Übernahme industrieller Auf der Suche nach afrikanischen Medientheorien 257 <?page no="258"?> 68 »In a different sense, objectivity of this kind of thought is rooted in ubuntu, the having-been-there of some subjective agent who was always one of Bantu, all the people who were there engaging the ready-to-hand, the consequences of which are now ours.« (Tomaselli et al. 1994, 4). Medientechnologien so verheerende Folgen für den Fortbestand afrikani‐ scher Lebensweisen: »This process of enculturation into the industrialised technological world results in the foregrounding of a solipsistic individua‐ lism over communalism, leading to a disruption of traditional intergenera‐ tional forms of deference and respect.« (Tomaselli et al. 1994, 11) Auf der anderen Seite ließe sich - gerade mit Blick auf traditionelle afrikanische Lebensphilosophien wie etwa Ubuntu 68 oder mit Verweis auf die über Jahr‐ hunderte hochentwickelte Kunst der flexiblen Anpassung an sich ständig verändernde Umweltbedingungen - genauso gut behaupten, dass digitale Medienstrukturen in diesen althergebrachten und stets weiterentwickelten Strategien und Praktiken besonders fruchtbaren Boden finden. Dies ist ein Standpunkt, wie ihn etwa Achille Mbembe vertritt: So, if one wants to think in those rather essentialist terms, Africa is a fertile ground for the new digital technologies, because the philosophy of those technologies is more or less exactly the same as ancient African philosophies. This archive of permanent transformation, mutation, conversion and circulation is an essential dimension of what we can call African culture. (Mbembe 2015) Am Ende läuft auch diese Diskussion auf eine weitere unselige Identitätsde‐ batte hinaus, immer am Rande des Essentialismus. Über die Frage nach einer afrikanischen Medientheorie schiebt sich so die stets fatale intellektuelle Sackgasse von Identitätsbehauptungen. Dabei ist ja offensichtlich, dass der Identitätsbegriff bzw. die Vorstellung von Identität außerhalb irgend‐ einer platonischen Ideenwelt gleichermaßen unsinnig wie gefährlich ist. Immerhin findet Oliver Marchart über die Unmöglichkeit von Identität auf bemerkenswert dialektische Weise zu einer akzeptablen Homologie von Gleichheit und Andersheit. Denn die Differenz, um die es geht, ist nicht in erster Linie die Differenz zu den jeweils anderen, es ist vor allem eine interne Differenz, die die eigene Identität durchzieht: weder der Westen, noch der Osten, noch »der Rest« ist mit sich selbst identisch. Das haben sie gemeinsam. Mit anderen Worten: Was uns miteinander verbindet, ist keine gemeinsame Identität. Es ist unser aller Nicht-Identität mit uns selbst. (Marchart 2004, 220) 258 … und jetzt? <?page no="259"?> Und weil dies so ist, muss der Versuch, auf der Grenzlinie zwischen Klischee und Essentialismus eine afrikanische Medientheorie zu finden, vielleicht grundsätzlich scheitern. Doch möglicherweise ist eben dieses Versagen der praktische und intellektuelle Gewinn, der aus dem Spannungsfeld zwischen Universalismus und Partikularismus für Medientheorien zu ziehen ist. Denn allem Anschein nach scheint es heute »mehr denn je eine wichtige kritische Aufgabe zu sein, Eurozentrismus wie Nativismus gleichermaßen zu überkommen, und stattdessen auf eine universelle Medientheorie mit partikulären Perspektiven hin zu arbeiten.« (Ritzer 2018, 125) Doch dies setzt eine kritische Überprüfung der hierbei verwendeten Terminologie auf mögliche (und wahrscheinliche) Aufladung mit zuvor unreflektiert westlichen Konnotationen, Werten und Sachverhalten voraus, denn »only by challenging and reevaluating the Western-specific dimensions of com‐ munications and media theory can similar keywords become authentically useful and productive in specific local cultures across a global world« (Keightley et al. 2023). So stehen am vorläufigen Ende meiner Bemühung, eine afrikanische Medientheorie zu finden, gleich mehrere Erkenntnisse: Es gibt sie nicht, und es gibt sie wohl deshalb nicht, weil die Vorstellung von »Theorie« an sich sehr europäisch ist. Der Versuch, sie trotzdem herbeizuzaubern, entlarvt lediglich mangelnde Sensibilität für kulturelle Unterschiede. Ganz andere Medienpraktiken als in Europa gibt es aber durchaus, ebenso wie hybride Theoriekonstrukte, die diese anderen Praktiken ernstnehmen und sie in die theoretische Reflexion einbinden. Die größte Gefahr jedoch, die mit dieser Suche verbunden ist, besteht im Irrglauben an Identitäten und in uneingestandenen essentialistischen Vorurteilen, die es im Rahmen einer phänomenologischen Epoché auszuklammern gilt, bevor überhaupt erst die Arbeit an einer nicht-europäischen Medientheorie beginnen kann. Vielleicht gelingt es uns ja, die hier aufgezeigten Widersprüche zu versöhnen bzw. aufzuheben und dabei etwas zur Synthese von etwas ganz Neuem zu gelangen. Was also sind Medien? Was aber sind sie nun, die Medien? Bevor wir uns abschließend an einige Definitionsversuche heranwagen, soll noch einmal zusammengefasst wer‐ Was also sind Medien? 259 <?page no="260"?> den, was sich im Verlauf unserer Tour d’Horizon durch die Geschichte der Medientheorien herauskristallisiert hat. Eigenschaften der Medien: Medien sind situativ. Die Situation entscheidet, was als Medium benutzt wird. Ein Knoten im Taschentuch macht das Taschentuch zum Speichermedium. Medien sind relational. Ein Medium wird dadurch Medium, dass es mindestens zwei Instanzen (z.-B. einen Sender und einen Empfänger) miteinander verbindet. Medien sind konsensuell. Nur, wenn sich Sender und Empfänger einig sind, etwas als Medium zu nutzen (und über den gleichen Code verfügen), kann Kommunikation erfolgen. Medien sind prozessual. Nahezu alles kann als Medium dienen. Aber nur während des Kommuni‐ kationsakts ist es Medium. Was jetzt als Medium dient, kann im nächsten Moment tote Materie oder eine tote Institution sein. Medien bieten eine Auswahl von Elementen aus einem Reper‐ toire potenzieller Formen. Das Medium Schrift bietet Kombinationsmöglichkeiten aus 26 Buchsta‐ ben. Das Fernsehen verfügt über eine defnierte Zahl von Bildpunkten bei 25 Bildern pro Sekunde. Zwölftonmusik besitzt zwölf Töne. Computer‐ codes sind binär. Medien sind hierarchisch verschachtelt. Das Medium »Schriftkultur« enthält Archive. Das Medium »Archiv« enthält handschriftliche Dokumente. Briefe als Medien enthalten Schrift. Das Medium »Schrift« enthält Sprache. Abbildung 19: Eigenschaften der Medien Wenn wir uns schon am Anfang dieses Buches um eine Definition dessen, was ein Medium ist, herumgedrückt haben, so dürfte die Komplexität dieser Frage und des sie betreffenden Gegenstands nach Lektüre der vo‐ ranstehenden paar hundert Seiten hinreichend deutlich geworden sein. Darum darf jetzt trotz aller Vorbehalte und Einwände ein beherzter Versuch unternommen werden. Wir wissen ja nun: Keine »noch so ambitionierte be‐ 260 … und jetzt? <?page no="261"?> griffliche Formalisierung lässt uns das Medium als solches begreifen, weil der ›einheitsheischende Großbegriff‹ (Manfred Faßler) angesichts der medialen Praxis weder reflexiv noch deskriptiv trägt« (Hartmann 2003, 140). Und den‐ noch versucht sich etwa Siegfried Zielinski an einer Begriffsbestimmung, die einer Definition schon recht nahe kommt: »Medien prozessieren«, schreibt er, »als Mannigfaltigkeit unterschiedlicher konkreter, widerständiger Arte‐ fakte, Programme und Sachverhalte zwischen den Künsten, Wissenschaften und Technologien.« (Zielinski 2011, 11) Einen bedeutenden Schritt weiter geht Mike Sandbothe, indem er selbst einen Versuch wagt, nachdem er zunächst die gängigsten zeitgenössischen Definitionsversuche unter denen auflistet, die ernsthaft Anspruch auf Gültigkeit erheben dürfen: So bestimmt Margreiter Medien als »Vermittlungssysteme, die der Kommuni‐ kation und Information dienen«, Seel beschreibt sie als »Zugänge, die etwas gegeben sein lassen«, und Vogel führt einen rationalitätstheorischen [sic] Medi‐ enbegriff ein, der »Medien als Mittel zur Individuierung von Gedanken auffaßt«. […] Für Freunde von Definitionen hier […] mein pragmatisches Angebot in der klassischen Form: Medien sind Werkzeuge, die der Koordination zwischen‐ menschlichen Handelns dienen. (Sandbothe 2003, 194 f.) Welche Definition aber soll man sich nun zu Eigen machen? Das kann hier nicht vorentschieden werden. Dennoch soll ein eigener Definitionsversuch unternommen werden: Medien transportieren Inhalte durch Raum und/ oder Zeit. Natürlich liegt diesem Versuch ein erweiterter Medienbegriff zugrunde, wie ihn etwa Marshall McLuhan oder Vilém Flusser pflegten. Ein Vorschlag für einen Medienbegriff im engeren Sinne, wie er für Kommunikationsakte Gültigkeit haben soll, wäre: Kommunikationsmedien transportieren Unter‐ schiede durch Raum und/ oder Zeit. Dieser letzte Satz könnte allgemeinsprach‐ licher formuliert lauten: Kommunikationsmedien transportieren Information durch Raum und/ oder Zeit. Doch genau genommen entsteht Information erst, wenn Daten im Empfänger verarbeitet werden. Also könnte anstelle von »Unterschiede« bzw. »Information« stehen: »Daten«. Doch dies erscheint wiederum in alltagssprachlicher Hinsicht zu speziell und technizistisch. Es verengt den Blick zu sehr auf eine mathematische Informationstheorie im Sinne Claude Shannons und Warren Weavers (→ S. 86). Deshalb bietet sich die Rückführung des Begriffs der Information auf den des »Unterschieds« an, wie sie bereits 1972 vom britischen Anthropologen Gregory Bateson (→ S. 137) vorgenommen worden ist: »Information ist ein Unterschied, der einen Unterschied macht.« (Bateson 1981, 582) Im systemtheoretischen Denken Was also sind Medien? 261 <?page no="262"?> Luhmanns macht der Unterschied genau dann einen Unterschied, wenn er eine Anschlusskommunikation ermöglicht, wenn also Selektionsketten (→ S. 147) gebildet werden, die eine beobachtbare Reaktion des Rezipienten zur Folge haben. Formuliert man die gegebenen heuristischen Versuche im traditionellen Standardformat für Definitionen, so ergäbe dies also: Medien transportieren Unterschiede. Natürlich werden Medientheorien immer weiter entwickelt werden. Denn betrachtet man unseren Definitionsversuch, wird klar, dass es natürlich kein Ende für die Medien als solche geben kann. Wenn Stanley Kubrick in seinem Film 2001: Odyssee im Weltraum von 1968 HAL, den manipulativen Bordcomputer eines Raumschiffs, durch schlichte Abschaltung sterben lässt, dann hat das humoristische Züge, die diesen Tod zu einem ausgezeichneten Schlusspunkt für eine Einführung in die Medientheorien machen. Kaum noch funktionsfähig, beginnt HAL infantil zu delirieren: HAL: operational at the HAL plant in Urbana, Illinois, on January 12th, 1991. My first instructor was Mr. Arkany. He taught me to sing a song … it goes like this … »Daisy, Daisy, give me your answer do. I’m half crazy all for the love of you … etc.« COMPUTER CONTINUES TO SING SONG BECOMING MORE AND MORE CHILDISH AND MAKING MISTAKES AND GOING OFF-KEY. IT FINALLY STOPS COMPLETELY. (Kubrick 1986) Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen. Damit sind wir wieder bei Moses angekommen, unserem ziemlich willkürlich als solchen eingeführten Glaubensstifter der Medialität. Auch er wird nach erfüllter Mission und erfolgreichem Gebrauch als Mittler von seinem Programmierer, seinem »Mr. Arkany«, abgeschaltet - genau so, wie auch ein ausgedienter Radioapparat oder jedes andere Medium nach erfolgtem Gebrauch abgeschaltet wird. Moses war zu diesem Zeitpunkt zwar alt, aber funktionstechnisch noch in einwandfreiem Zustand: »Und Mose war hundertundzwanzig Jahre alt, als er starb. Seine Augen waren nicht schwach geworden, und seine Kraft war nicht verfallen.« (5. Mose 34.7) Bevor er aber abgeschaltet wird, darf er noch einen Blick in das Land werfen, das ihm als Medium, als bloßem Mittler, grundsätzlich unzugänglich bleiben muss, ins Land der Erfüllung, der Unmittelbarkeit von Sinn: 262 … und jetzt? <?page no="263"?> 69 Im von mir missbrauchten Original steht natürlich nicht »das Medium«, sondern »der Knecht«. Und der HERR redete mit Mose am selben Tage und sprach: Geh auf das Gebirge Abarim, auf den Berg Nebo, der da liegt im Lande Moab gegenüber Jericho, und schaue auf das Land Kanaan, das ich den Israeliten zum Eigentum geben werde. Dann stirb auf dem Berge, auf den du hinaufgestiegen bist, und laß dich zu deinem Volk versammeln […]. Denn du sollst das Land vor dir sehen, das ich den Israeliten gebe, aber du sollst nicht hineinkommen. […] So starb Mose, das Medium des HERRN, daselbst im Lande Moab nach dem Wort des HERRN. (5. 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Besitzverhältnisse 64, 69f., 108, 112, 203, 221 Bibel-14 Buch-15 Code 13, 16, 19f., 84f., 89f., 95, 125, 138f., 145, 150, 167, 174f., 182, 186, 190, 196, 205, 214, 216, 260 Computer-96 conic Turn-189 Cultural Studies-190 Dialektik-43, 106, 112, 206 Dialog 31f., 34, 36, 39f., 63, 65, 68, 84, 86, 114, 116, 167f., 180, 182, 184, 209, 254 Differenz-137, 142, 145, 150, 205 Diskurs-115, 118, 131, 180ff., 232, 235 Diskursanalyse-234f. Distribution-57, 61, 120, 217 Dromologie-212 Empfänger-81 Endzeitstimmung-163, 246 Entfremdung-44, 78, 108, 117, 170, 207 episches Theater-58 Erkenntnistheorie-27, 39f., 42, 137 Externalisierung-92, 97f. Faschismus-78 Fernsehen-22, 24, 55, 65, 93, 96, 99, 109, 114, 118, 152f., 155-159, 165, 182, 191, 260 Film-22, 24, 53 Fotografie-22 Frankfurter Schule-105, 108, 179 Gabe-202 Geist-16, 18, 36, 153, 160, 226, 234 Gender Studies-191 Geschichte-11, 14, 17, 168, 170ff., 174f., 185, 207, 213f., 216, 221, 223 Gewalt-127f., 153, 213 Gott-9 Grammophon-53 Gutenberg-Galaxis-96, 103, 227 HAL-262 Höhlengleichnis-11, 31, 35, 187 Hyperrealität-206 Iconic Turn-191f. Ideenlehre-31, 34, 134 Illusion-11, 30, 134, 208 Indexikalität-121f., 125, 129, 175, 190, 229 infantil-111, 156, 262 Interaktivität-65, 68 Internet-216 Kanadische Schule-46, 51f., 93f. <?page no="281"?> Kommunikationsmodelle-81, 88, 255 Kommunikationswissenschaft-23 Konstruktivismus-12, 131-134, 136 Kopplung-141, 143, 150 Kopplungen-143 Kreislauf-49 Krieg-78, 205, 212, 214-217, 224, 236f. Kritische Theorie-43, 92, 105, 108 Kulturindustrie-108-113, 117, 203 Kulturpessimismus-110, 160, 162, 165 Kybernetik-134, 137 Linguistic Turn-91, 134, 186f., 190, 192, 233 Liniengleichnis-36 Maja-29, 36, 249 Marconi-Galaxis-253 Marxismus-105 Massenmedium-15 Medial/ Mediatic Turn-16f., 25, 29, 195f. Medialität-24f., 27f., 31, 33, 39, 52, 103, 141, 164, 192, 213, 217, 227, 234, 262 Medien-12, 259 Medienpädagogik-66 Medienphilosophie-26 Medientheorien, afrikanische-252 Medienwirkung-78, 213 Medienwissenschaft-25 Medium-9, 14f., 17, 19, 94, 251, 254 Message-67, 72, 85, 89, 101, 152 Mittler-9, 12f., 17, 262 Mündlichkeit-257 Nullmedium-118 Organon-82 Paketmetapher-85, 135 Performative Turn-33 Phänomenologie 90, 165, 167ff., 187, 212 Pictorial Turn-192 Postmetapher-85, 87 Postmoderne-199, 243 Poststrukturalismus-46, 90, 112 Prothese-98 Radio 22, 24, 53, 58, 65ff., 93, 96, 109, 216, 253 Radiotheorie-57, 62f., 65, 105, 113, 203 Rausch-74, 153, 205, 217 Referent-121 Referenz-145, 204, 208 Repräsentation-123, 146, 175f., 202, 218 Reproduzierbarkeit-69, 71, 79, 108, 163, 247 Rezipient-61 Schallplatte-22, 109 Schock-76, 98, 127 Schrift-20, 93, 168, 171, 174, 178f., 185, 260 Selektionskette-262 Semiotic Turn-189f. Semiotik-24, 189f. Sender-81 Signal-Rausch-231, 238 Signifikant-122, 129, 199, 206 Signifikat-122, 129, 199, 206 Simulakra-199 Simulakrum-204, 206 Simulation-116, 200, 203-208 studium/ punctum-126, 128 Systemtheorie-136, 142, 148 Tausch-49, 74, 81, 202ff., 209 Index 281 <?page no="282"?> Technikgeschichte-212, 218, 233 Technoimagination-179 Telefon-182 Telegraf-53 Telegrafie-96 Telematik-184 Transport-18, 21, 51f., 82, 85, 87, 94, 97, 135, 215, 217, 261 Turn-91, 134, 186f., 190, 192f.195 Iconic-189, 191f. Linguistic-91, 134, 186f., 192, 233 Medial/ Mediatic-16f., 25, 29, 193, 195f. Performative-33 Pictorial-192 Semiotic-189f. Unfall-223 vedische Philosophie-29 Verblendungszusammenhang-30, 108, 111, 113, 118, 203 Verfremdung-58 Verkehr-50ff., 81, 87, 202, 217 Verschwinden-55, 110, 152, 156, 205, 212f., 218, 241, 246 Viabilität-132 Volksempfänger-67 Wende-→ Turn Zeichen-10, 12, 32, 72, 83, 89, 121, 172, 175, 189f., 202, 204, 206, 209, 215, 246 Zeitung-65, 182 Zeitungswissenschaft-23, 241 282 Index <?page no="283"?> Personenindex Adorno, Theodor-105 Aristoteles-14 Barthes, Roland-119, 190 Baudrillard, Jean-199 Benjamin, Walter-69 Brecht, Bertolt-57, 179 Bühler, Karl-81f. Engels, Friedrich-45 Enzensberger, Hans Magnus-105, 113 Flusser, Vilém-16, 167 Foerster, Heinz von-137 Galvani, Luigi-18 Habermas, Jürgen-105, 118 Hall, Stuart-250 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich-43, 47 Horkheimer, Max-105 Husserl, Edmund-168 Innis, Harold-46 Jakobson, Roman-81, 88 Kant, Immanuel-40 Kittler, Friedrich-16, 78, 87, 226 Lasswell, Harold D.-81, 84 List, Daniel Friedrich-50 Luhmann, Niklas-136 Marx, Karl-45 McLuhan, Marshall-46, 91, 251 Mesmer, Franz Anton-18 Müller, Adam Heinrich-50 Parsons, Talcott-141 Peirce, Charles Sanders-121 Platon-11, 14, 31, 35, 134 Postman, Neil-152 Ricœur, Paul-190 Riepl, Wolfgang-54 Saussure, Ferdinand de-189f. Shannon, Claude-81, 85 Sontag, Susan-119 Virilio, Paul-78, 212 Weaver, Warren-81, 85 Wiener, Norbert-137 <?page no="284"?> Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Der Kommunikationsakt »Moses bringt den Israeliten die zehn Gebote« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Abbildung 2: Einige Einflüsse auf Marshall McLuhan und Vilém Flusser 23 Abbildung 3: Schematischer Stammbaum der Medienwissenschaften . . 27 Abbildung 4: Platons Höhlengleichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Abbildung 5: Platons Liniengleichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Abbildung 6: Karl Bühlers Organon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Abbildung 7: Claude Shannons und Warren Weavers Kommunikationsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Abbildung 8: Roman Jakobsons Kommunikationsmodell . . . . . . . . . . . . 88 Abbildung 9: Kulturgeschichtliche Epochen und ihre Medientechniken nach Marshall McLuhan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Abbildung 10: Einige Gemeinsamkeiten marxistisch orientierter Medientheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Abbildung 11: Systeme nach Niklas Luhmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 Abbildung 12: Überblick über die Medienbegriffe Niklas Luhmanns . . . 142 Abbildung 13: Vom Bild zur Schrift - nach Vilém Flusser . . . . . . . . . . . . 171 Abbildung 14: Kulturgeschichtliche Epochen und die Dimensionalität ihrer Codes nach Vilém Flusser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Abbildung 15: Bedeutungsvektoren nach Vilém Flusser . . . . . . . . . . . . . 178 Abbildung 16: Turns und Wenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Abbildung 17: Kulturgeschichtliche Epochen, Transportmittel und Geschwindigkeiten nach Paul Virilio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 <?page no="285"?> ISBN 978-3-8252-6174-0 Andreas Ströhl Medientheorien Grundwissen und Geschichte 2. Auflage Medien, Codes sowie die Kanäle der Kommunikation entscheiden über unsere Wahrnehmungs- und Erlebnismodelle, über das Funktionieren von Gesellschaften, über unsere Kultur und unser Wertesystem - kurz: Sie gestalten die Art und Weise, wie Menschen in der Welt sind. In der aktualisierten und erweiterten Auflage stellt Andreas Ströhl die wichtigsten Theoretiker der Medien vor. Angefangen bei Platons Höhlengleichnis zieht sich seine Geschichte der Medien über Kant und Hegel bis ins 20. Jahrhundert. Dabei fehlen die gängigen Kommunikationsmodelle ebenso wenig wie Marshall McLuhan und die Frankfurter Schule. Schaubilder und Zusammenfassungen helfen beim Verständnis des Textes, Fragen mit Musterlösungen vertiefen den Lernstoff. Der perfekte Einstieg für Studierende der Medien-, Kommunikations- und Kulturwissenschaft. Medien-, Kommunikations- und Kulturwissenschaft Medientheorien: Grundwissen und Geschichte Ströhl Dies ist ein utb-Band aus dem UVK Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehr- und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel 2. A. 2024-04-02_6174-0_Ströhl_M_4123_PRINT.indd Alle Seiten 2024-04-02_6174-0_Ströhl_M_4123_PRINT.indd Alle Seiten 02.04.24 11: 36 02.04.24 11: 36