Transformative Wirtschaftspolitik
Die Nachhaltigkeitswende gestalten
0429
2024
978-3-8385-6189-9
978-3-8252-6189-4
UTB
Lambert T. Koch
Hans A. Frambach
10.36198/9783838561899
Konzepte, Möglichkeiten und Grenzen kennen
Klimawandel, Pandemie und Krieg: Die Welt verändert sich rasant. Exogene Schocks zwingen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zum Umdenken. Der Ruf nach transformativer Politik wird immer lauter.
Lambert T. Koch und Hans A. Frambach stellen eine transformative Wirtschaftspolitik vor, die zentral für die Gestaltung der Nachhaltigkeitswende ist. Eindrucksvoll skizzieren sie Konzepte, Möglichkeiten und Grenzen. Auf die Interaktion von Gesellschaft, Kultur, Bildung, Innovation und Wirtschaft gehen sie explizit ein.
Das Buch richtet sich an die Politikberatung, Wissenschaft und Forschung und ist zudem für Studierende der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sowie der Politikwissenschaft eine spannende und zugleich aufschlussreiche Lektüre.
<?page no="0"?> Lambert T. Koch Hans A. Frambach Transformative Wirtschaftspolitik Die Nachhaltigkeitswende gestalten <?page no="1"?> utb 6189 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Brill | Schöningh - Fink · Paderborn Brill | Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen - Böhlau · Wien · Köln Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Narr Francke Attempto Verlag - expert verlag · Tübingen Psychiatrie Verlag · Köln Ernst Reinhardt Verlag · München transcript Verlag · Bielefeld Verlag Eugen Ulmer · Stuttgart UVK Verlag · München Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld Wochenschau Verlag · Frankfurt am Main UTB (L) Impressum_03_22.indd 1 UTB (L) Impressum_03_22.indd 1 23.03.2022 10: 19: 58 23.03.2022 10: 19: 58 <?page no="2"?> Prof. Dr. Dr. h.-c. Lambert T. Koch hat einen wirtschaftswissen‐ schaftlichen Lehrstuhl inne, war Rektor der Bergischen Universität Wuppertal und ist Präsident des Deutschen Hochschulverbands. Prof. Dr. Hans A. Frambach lehrt Volkswirtschaftslehre an der Bergischen Universität Wuppertal. <?page no="3"?> Lambert T. Koch / Hans A. Frambach Transformative Wirtschaftspolitik Die Nachhaltigkeitswende gestalten UVK Verlag · München <?page no="4"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.36198/ 9783838561899 © UVK Verlag 2024 ‒ ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: siegel konzeption | gestaltung CPI books GmbH, Leck utb-Nr. 6189 ISBN 978-3-8252-6189-4 (Print) ISBN 978-3-8385-6189-9 (ePDF) ISBN 978-3-8463-6189-4 (ePub) Umschlagabbildung: © by-studio · iStock Autorenbild Koch: © privat Autorenbild Frambach: © privat Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 11 1 13 2 17 17 22 28 3 31 31 38 47 4 51 51 58 64 5 67 67 74 78 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wissenswertes zu Beginn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wandel ∙ von der ökonomischen Evolution zur großen Transformation . . . Begrifflichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Logik geschichtlichen Wandels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ▻ Zwischenzusammenfassung und Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . Umwelt ∙ das verletzliche System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachhaltig überleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stoßrichtungen einer Zieloperationalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ▻ Zwischenzusammenfassung und Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mensch ∙ das wankelmütige Wesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Erosion des Wollens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Institutionen als Stabilisatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ▻ Zwischenzusammenfassung und Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . Innovation ∙ alles Leben ist Problemlösen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Innovation als Problemlösungskategorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Transformation als Phänomen der Beschleunigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ▻ Zwischenzusammenfassung und Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 6 81 81 86 91 7 93 93 99 106 8 109 109 116 122 9 125 125 129 133 10 135 135 140 143 11 147 147 151 154 12 157 Transformation ∙ Test für politische Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Demokratiefalle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Präferenzen und Knappheiten gestalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ▻ Zwischenzusammenfassung und Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . Degrowth ∙ ein Konzept zwischen Utopie und Missverständnis . . . . . . . . . . . Logik und Grenzen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung . . . . . . . . . . Ethisches Wachstum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ▻ Zwischenzusammenfassung und Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reale Transformationspolitik ∙ wahrgenommene Wirklichkeiten gestalten . Im Spannungsfeld zwischen Stabilität und Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Humanistische Transformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ▻ Zwischenzusammenfassung und Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildungspolitik ∙ Fundament einer Transformation von unten . . . . . . . . . . . Sensibilisierendes Systemwissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Befähigung zur mündigen Mitgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ▻ Zwischenzusammenfassung und Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unternehmen ∙ Transmissionsriemen politischer Impulse . . . . . . . . . . . . . . . Nachhaltigkeit als Managementdimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zirkuläre Ökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ▻ Zwischenzusammenfassung und Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . Globalität ∙ zur Interdependenz nationaler Politiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Bild des „gemeinsamen Bootes“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internationale Akteure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ▻ Zwischenzusammenfassung und Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> 159 167 173 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stichwörter und Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 7 <?page no="9"?> „Die Zukunft sollte man nicht voraussehen wollen, sondern möglich machen.“ Antoine de Saint-Exupéry <?page no="11"?> Vorwort Für die aktuelle Mandatsperiode hat der Rat für Nachhaltige Entwicklung (RNE), der in Deutschland Beiträge zur Nationalen Nachhaltigkeitsstrategie leistet, den gesell‐ schaftlichen Zusammenhalt zu einem Schwerpunktthema seines Arbeitsprogramms gemacht. Dies kommt nicht von ungefähr, denn im Zuge des begonnenen Umbaus der Gesellschaft hin zu klima-, umwelt- und ressourcenschonenderen Produktions- und Konsumstrukturen lassen sich in der Breite der Bevölkerung zunehmend Widerstände ausmachen. Vermehrte Demonstrationen, Protestaktionen und Wählerwanderungen hin zu Parteien, die am Rande des demokratischen Spektrums operieren, können als Indizien hierfür gelten. Motive für die Unzufriedenheit der Menschen sind Ängste, aus gewohnten Lebensabläufen herausgerissen zu werden, Wohlstandseinbußen hinneh‐ men zu müssen und mit einer zunehmend unsicheren Zukunft konfrontiert zu sein. Wichtig ist dabei zu sehen, dass die Ausbeutung fossiler Ressourcen und damit verbundene Risiken für Klima und Umwelt über einen Zeitraum von mehr als 200 Jah‐ ren Wirtschafts- und Sozialgeschichte hinweg entstanden sind. Die jetzt anstehenden Korrekturen dieser Entwicklung sollen hingegen innerhalb kürzester Zeit erfolgen. Hier drängt sich das Bild des Tankers auf, den man wie ein Schnellboot durch eine bevorstehende Meerenge manövrieren möchte. Inwieweit dies gelingen kann, hängt nicht nur von der Machart des Gefährts, sondern auch vom Geschick der Steuerleute ab. Benötigt werden Verantwortliche, die in der Lage sind, Bestehendes erfolgreich zu verwalten und behutsam zu verbessern. Sie müssen darüber hinaus imstande sein, Reformen zu planen, durchzusetzen und zu begleiten, für die, was Qualität und Quantität anbetrifft, keinerlei geschichtliches Vorbild existiert. Es gilt, eine Zukunft anzupeilen, für die es allenfalls eine grobe Marschzahl gibt. Das Wissen, das man nach und nach erwirbt, um die entscheidenden Nach- und Feinjustierungen auf der Fahrt vorzunehmen, ist in den Planungen kontinuierlich zu aktualisieren. Nicht zuletzt ist ein besonderes Geschick darin vonnöten, die Mitfahrenden auf dem Kurs in Richtung Nachhaltigkeit nicht zu verlieren - Stichwort „gesellschaftlicher Zusammenhalt“, siehe oben. Welcher Art von Politik bzw. Wirtschaftspolitik dies bedarf, ist das zentrale Thema des vorliegenden Werkes. Indem geschichtliche Vergleiche, systemische Ge‐ gebenheiten, die Eigenlogik von Wissens- und Innovationsentstehung sowie typische Merkmale menschlicher Konstitution einbezogen werden, wird Politik so vielschich‐ tig und damit realistisch betrachtet wie möglich. Auf diese Weise soll einerseits ideologiegetriebenen Machbarkeitsillusionen vorgebaut werden. Andererseits wird das Handwerkszeug zusammengetragen, das gerade in hochdynamischen Situationen gesellschaftlichen Wandels eine Politik ermöglicht, die gleichermaßen offen und doch zielgerichtet ist. Die Autoren danken vielen Menschen, deren Hinweise und Impulse in den Text eingeflossen sind. Ein ganz besonderer Dank gilt Wolfgang Kuhn für die inhaltliche <?page no="12"?> Genderhinweis | Die Autoren verzichten auf verkürzte Formen zur Kennzeich‐ nung mehrgeschlechtlicher Bezeichnungen im Wortinneren und verwenden in der Regel das generische Maskulinum. Mitgestaltung der „Kästen“ sowie Martina Gade und Franziska Hilger für ihren groß‐ artigen Einsatz bei der Erstellung der Grafiken. Auch die konstruktive Zusammenarbeit mit dem Verlag ist an dieser Stelle positiv zu erwähnen. Wuppertal, im Januar 2024 Lambert T. Koch und Hans A. Frambach 12 Vorwort <?page no="13"?> 1 Wissenswertes zu Beginn Zu allen Zeiten waren Gesellschaften, also die sie ausmachenden Individuen und Grup‐ pen, zufriedener oder weniger zufrieden mit ihrer Situation und ihren Zukunftsaus‐ sichten. Dies lehren uns historische Dokumente, Geschichtsbücher oder die Ergebnisse von Befragungen und umfangreichen empirischen Studien. Je größer und verbreiteter gesellschaftliche Unzufriedenheiten waren, desto mehr erhöhte sich der Druck auf Verantwortliche, entsprechenden Entwicklungen entgegenzuwirken. Dies ist heute nicht anders. Während Situationen der Prosperität und Sicherheit, die von der Mehrheit der Be‐ völkerung als solche empfunden werden, in der Regel kaum Anlass zu weitreichenden strukturellen Änderungen der Rahmenbedingungen des ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Handelns geben, kann dies im gegenteiligen Fall völlig anders sein. Je mehr schiefläuft oder zumindest außer Kontrolle zu geraten scheint, desto stärker erheben sich Menschen gegen eine Politik der vornehmlichen Erhaltung des Bestehenden. Rufe nach Veränderung und Reformen - und nicht selten auch nach einer Ablösung von Verantwortlichen - werden lauter. Ein nachhaltiges politisches Umsteuern kann zudem als zwingende Handlungsoption erscheinen, wenn schlim‐ mere exogene Schocks, also singuläre, in dieser Form von den Wirtschaftssubjekten nicht antizipierte Ereignisse auftreten. Dies können Naturereignisse, wie Erdbeben oder Flutkatastrophen, genauso sein, wie Aufstände oder Kriege mit all ihren Folgen. Das vorliegende Werk nimmt sich genau diese Art von Politik vor, die auf eine weitergehende Änderung des Bestehenden gerichtet ist. Es startet dabei mit definito‐ rischen Überlegungen. Besonders im Fokus steht die Wirtschaftseinschließlich der Innovationspolitik. Dabei soll nicht verkannt werden, wie essenziell die zunächst davon zu unterscheidenden Politiken des Sozialen und Kulturellen, der Bildung sowie der Umwelt etc. interagieren - und wie alle Teilpolitiken letztlich aufeinander angewiesen sind. Der Anlass für das Verfassen dieses Buches ist ein höchst aktueller: Seit geraumer Zeit werden in Deutschland und anderen Ländern Forderungen nach einer Großen Transformation lauter und vieles deutet darauf hin, dass sie bereits voll im Gange ist. Gemeint ist die weltweite Transformation zu klimaverträglicheren Gesellschaften, die die Erzeugung klimaschädlicher Gase vermeiden, die Nutzung fossiler Brennstoffe reduzieren und stattdessen erneuerbare Energien ausbauen sowie einen korrespon‐ dierenden Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft vorantreiben. Die Thematik als Ganzes bewegt wie kaum eine andere: junge Menschen, wie Studierende, ebenso ältere Mitbürgerinnen und Mitbürger, Akteure der „offiziellen“ Politik, Ehrenamtliche oder Aktivistinnen und Aktivisten. Bei Sichtung der Literatur zum großen Themenkreis rund um die Kernbegriffe Transformation und Nachhaltigkeit fallen zwei Schwerpunkte bei einer Mehrzahl der Quellen auf: <?page no="14"?> ■ Der eine (a) hat in seiner Begründung den Tenor, es bedürfe einer „großen Transformation“, wenn es auch nur so bleiben soll, wie es ist bzw. wenn es mit der Menschheit und ihrer Umwelt nicht rapide bergab gehen soll, ■ während sich der andere (b) darauf konzentriert, wie sich gesellschaftliche Struk‐ turen ändern müss(t)en, damit die Ziele einer klima- und umweltgerechteren Welt mit nachhaltigen (Über-)Lebenschancen auch für künftige Generationen erreichbar sind. Dabei argumentieren die Autoren, je nach Provenienz, eher ökonomisch, sozialwissen‐ schaftlich, naturwissenschaftlich oder technologiepolitisch. Diese beiden Schwerpunktsetzungen (a) und (b) sollen im Folgenden nicht im Mittel‐ punkt stehen. Zwar werden entsprechende Argumentationsstränge an verschiedenen Stellen aufgenommen, aber nicht, um sie zu wiederholen und ihre Begründungslinien zu hinterfragen, sondern um eine Anknüpfung zu dem hier im Vordergrund stehenden Interesse zu schaffen: Was genau ist eine transformative Politik oder speziell Wirt‐ schaftspolitik? Wie ist eine (Wirtschafts-)Politik geartet, die erhebliche Änderungen in eine von Teilen der Gesellschaft erwünschte Richtung in einem vergleichsweise kurzen Zeitraum bewirken soll? Was sind die Bedingungen und was die Grenzen ihres Möglichkeitsraums? Welche theoretischen und empirisch belegten Zusammenhänge stehen einerseits für das - jenseits ideologischen Wunschdenkens - Machbare, welche andererseits für seine Grenzen? Wenn der Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek (1899-1992) in seinem Werk an verschiedener Stelle betont, sozioökonomische Strukturen seien - retrospektiv - stets zwar das Ergebnis menschlichen Handelns, jedoch kaum Resultat eines umfas‐ senden menschlichen Entwurfs (bspw. Hayek 2013, S. 39 f.), lautet die spannende Frage, inwieweit dennoch Transformationen längerfristig nach einem „großen“ politischen Plan ablaufen können. Immerhin suggeriert manche aktuelle politische Agenda, die Überzeugungen und Verhaltensweisen der Mitglieder von Gesellschaften ließen sich dergestalt beeinflussen, dass daraus am Ende deutlich veränderte Nutzenfunktionen, Konsummuster, Interaktionen und somit Gesellschaftsstrukturen resultierten. Damit werden weitere Grundfragen der ökonomischen Theorie tangiert: In welchem Ausmaß dürfen, sollten oder müssen Staat und Politik, in welcher konkreten Ausge‐ staltung auch immer, Vorgaben machen oder einen Rahmen für das Handeln von Individuen setzen? Inwiefern lassen sich entsprechende Vorgaben mit der Maßgabe maximaler Freiheiten für die einzelnen Akteure verbinden? Oder inwieweit kann, dem Gedanken einer evolutorischen Verlaufsform folgend, auf eine sich sozusagen selbst einstellende Transformation, die einzig auf der Grundlage frei agierender Individuen steht, vertraut werden? Will man diesen Fragen nachgehen, so lohnt es sich, ausgehend von historischen Beispielen, Mechanismen der politischen Aktivierung von Individuen genauer anzu‐ sehen. Letztere werden verstanden als intrinsisch und extrinsisch motivierte Akteure, wobei der innere Handlungsantrieb stets mit positiven und negativen Anreizsetzungen von außen interagiert. Anschließend wird betrachtet, wie die kreativen Antworten 14 1 Wissenswertes zu Beginn <?page no="15"?> Handelnder insbesondere von institutionellen Settings ihrer Umgebung beeinflusst werden. Die Entstehung und Veränderung solcher institutionellen Settings ergeben sich in Demokratien infolge komplexer gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse. Nachdem diese näher unter die Lupe genommen worden sind, geht es im nächsten Schritt vor allem um die Frage, wie sich in „transformatorischer Absicht“ Präferenzen und Knappheiten gezielt beeinflussen lassen. Außerdem wird gefragt, inwieweit die beab‐ sichtigte Transformation zur Rettung von Klima und Umwelt notwendigerweise mit einer wachstumskritischen Konnotation verbunden sein muss. Hierfür erscheint es unerlässlich, sich auch mit dem Wachstumsbegriff als solchem kritisch auseinander‐ zusetzen. All diese Überlegungen münden in das, was aus der gewählten wirtschaftspoliti‐ schen Perspektive heraus als reale Transformationspolitik verstanden wird. Wie eng die verschiedenen Teildisziplinen einer solchen Transformationspolitik miteinan‐ der verwoben sind, lässt sich besonders nachdrücklich am Beispiel der Bildungspolitik verdeutlichen. Darin kommt einem Bildungsansatz, der nicht nur das interessierte und verstehende, sondern vor allem auch das Verantwortung übernehmende und gestaltende Individuum im Blick hat, eine Schlüsselrolle zu. Um das Bild abzurunden, wird in den beiden abschließenden Kapiteln die Bedeutung der Unternehmensebene wie auch des globalen Kontextes für das Konzept einer „trans‐ formativen Wirtschaftspolitik“, wie es hier genannt werden soll, herausgearbeitet. Mit dem vorliegenden Werk soll eine innovative Zusammenschau ganz unterschied‐ licher Einflussgrößen einer solchen Politik präsentiert werden. Dabei liegt auf der Hand, dass diese auf unzähligen wertvollen Vorarbeiten basiert, von denen daher am Ende jedes Kapitels exemplarisch einige genannt werden. Damit sich die Darstellung nicht nur als Basis für weiterführende interdisziplinäre Forschungsbemühungen, sondern auch für Lehre und Politikberatung eignet, gibt es zudem immer wieder Zwischenzusammenfassungen und „Kästen“, die kurz und prägnant Beispiele bzw. Konzepte, d. h. Modelle oder Begriffe, herausgreifen und so den Lesefluss des Haupt‐ textes nicht stören. 1 Wissenswertes zu Beginn 15 <?page no="17"?> 2 Wandel ∙ von der ökonomischen Evolution zur großen Transformation Begrifflichkeiten Wenden wir uns also im ersten Schritt einigen einschlägigen Begrifflichkeiten zu. Der Terminus Transformation, Teil des Titels des vorliegenden Werkes, soll an dieser Stelle auch Ausgangspunkt der Überlegungen sein. Was Recherchen schnell erkennen lassen, ist seine Vieldeutigkeit: In nahezu allen Disziplinen spielt er in dem einen oder anderen Zusammenhang eine Rolle. Das gilt für technisch-naturwissenschaftliche Fä‐ cher genauso wie für sozial- und geisteswissenschaftliche. Ausgehend vom lateinischen Ursprung des Wortes transformare, was sich mit umformen oder verwandeln übersetzen lässt, ist das Phänomen der „Veränderung“ gewissermaßen Bindeglied bei aller Unterschiedlichkeit der Bedeutung im Einzelnen. Auch in den Wirtschaftswissenschaften weist dieser Untersuchungsgegenstand, der sich immer neu in der Wirtschaftsgeschichte manifestiert, eine lange Tradition auf. Insbesondere firmiert er unter der Begrifflichkeit des Wandels und der Ent‐ wicklung, z. T. auch subsumiert unter (sozioökonomischer) Evolution. Bereits der berühmte französische Staatsmann und Ökonom Anne Robert Jaques Turgot (1727- 1781) befasste sich mit Fragen des wirtschaftlichen Wandels, wie die großen klassischen Nationalökonomen von Adam Smith (1723-1790) bis John Stuart Mill (1806-1873). David Ricardo (1772-1823) etwa arbeitete dezidiert zum Verhältnis von Profitrate, Kapitalakkumulation und volkswirtschaftlichem Wachstum mit langfristigen Wohl‐ standsveränderungen, was von Karl Marx (1818-1883) aufgenommen, kritisiert und in eine eigene (kritische) Theorie überführt wurde. Später war es vor allem Joseph Alois Schumpeter (1883-1950), den vor dem Hintergrund einer offensichtlich hoch dynamischen Wirtschaftsrealität das Thema Wandel ein Wissenschaftlerleben lang nicht losließ. In den letzten Jahrzehnten hat sich sogar ein eigenes - wenn auch in sich heterodoxes - Teilgebiet der Wirt‐ schaftswissenschaften herausgebildet. Unter dem Label Evolutorische Ökonomik (synonym: Evolutionsökonomik) hat es die Analyse und Erfassung wirtschaftli‐ chen Wandels, geeigneter Analysemethoden sowie die Untersuchung der Ursachen und besonderen Dynamiken sozioökonomischer Evolution zum konstitutiven Ge‐ genstand erhoben. Wertfrei betrachtet steht wirtschaftlicher Wandel danach für die „Veränderung der Formen und Inhalte der gesellschaftlichen Produktion und Konsumption von Waren und Dienstleistungen“ (Hesse/ Koch 1997, S. 499). Dies schließt Veränderung des Ressourceneinsatzes genauso mit ein wie technischen „Fortschritt“ und damit zusammenhängend Güterraum-Wandel. Der Begriff der wirtschaftlichen Entwick‐ <?page no="18"?> lung ist mit der weiter gefassten Bezeichnung des Wandels eng verwandt. „Während wirtschaftlicher Wandel nicht notwendig in eine erkennbare Richtung laufen muss, ist wirtschaftliche Entwicklung gerichteter Wandel: Von ihr sprechen wir dann, wenn die Veränderung von Werten einer Variable, mit deren Hilfe wir einen Zustand des wirtschaftlichen Alltags der Menschen beschreiben, eine Richtung aufweist“ (Hesse/ Koch 1997, S.-499). Es wird also deutlich: Wir müssen für die wissenschaftliche Beschreibung von Wandel und Entwicklung als Ausprägungen sozioökonomischer Evolution Varia‐ blen definieren, deren gemessene Werte sich in der realen Welt in die eine oder andere Richtung erkennbar verändern. Bekannte Kennzahlen sind beispielsweise jene zur Bevölkerungsentwicklung (Einwohnerzahl, Bevölkerungsdichte, Geburtenrate, Mortalität etc.), zur Messung des Wohlstands (Pro-Kopf-Einkommen, Human Deve‐ lopment Index, Genuine Progress Indicator etc.), zum technischen Fortschritt (Patent- Output, Innovations-Output, Arbeitsproduktivität, Automatisierung etc.) oder auch zur Veränderung des Ressourceneinsatzes (Domestic Material Consumption, Rohstoff‐ produktivität, Ressourceneffizienz etc.). Abb. 1: Übergang von der Industriezur Wissensgesellschaft (Beschäftigtenquoten in den vier ausgewiesenen Bereichen) zwischen 1882 und 2010 (in Anlehnung an Dostal 1995) 1900 1920 1940 1960 1980 2000 Produktion Information Dienstleistungen Landwirtschaft 0 60 20 10 30 40 50 1880 Anteil der Beschäftigten in % Abbildung 1: Übergang von der Industriezur Wissensgesellschaft (Beschäftigtenquoten in den vier ausgewiesenen Bereichen) zwischen 1882 und 2010 (in Anlehnung an Dostal 1995) Ein wirtschaftsgeschichtliches Beispiel zeigt → Abbildung 1. Man sieht die Verände‐ rung der Beschäftigungsstrukturen zwischen dem späten 19. und dem beginnenden 21. Jahrhundert. Klar erkennbar ist vor allem die kontinuierliche Abwanderung von Beschäftigten aus dem landwirtschaftlichen Sektor bei einer anhaltenden Entwicklung 18 2 Wandel ∙ von der ökonomischen Evolution zur großen Transformation <?page no="19"?> hin zur sogenannten Wissensgesellschaft. Der quantitative und qualitative Bedeu‐ tungszugewinn von Wissensgesellschaften ist dadurch gekennzeichnet, dass neben den traditionell definierten Dienstleistungsbereich über die Zeit ein immens wachsender Bereich getreten ist, für den der Umgang mit Wissen im Kontext digitaler Informati‐ onsverarbeitung maßgeblich ist. Dies gilt außerhalb des industriellen Kontexts ebenso wie innerhalb. Denn auch hier ist die Digitalisierung längst zum entscheidenden Wachstumstreiber geworden; was unabhängig von der Frage der genauen statistischen Zurechnung von Beschäftigtenanteilen zu den in der Grafik ausgewiesenen Bereichen zutrifft. Wenn wir der hier vorgeschlagenen Definition der Termini Wandel und Entwick‐ lung folgen, so komplettiert der Ausdruck „Transformation“ eine dreifache Klimax: von der (a) einfachen über die (b) gerichtete hin zur (c) geplanten Veränderung sozioökonomischer Strukturen. Transformation ist insofern ebenfalls ein Teilphäno‐ men sozioökonomischer Evolution im Sinne der evolutorischen Ökonomik. Bereits der etymologische Verweis auf die Bedeutungskomponente der „Umformung“ legt jedoch ein aktivisches Moment nahe. D. h., Transformation verbindet sich in dieser Auslegung mit gesellschaftlichen Vorstellungen von einem Zielzustand, der von einem Ausgangspunkt aus nach entsprechend zu gestaltenden Prozessen erreicht werden soll. Ihr kommt also ein (wirtschafts-)politisches Moment zu. Dieser Definition des Transformationsbegriffs, die im Folgenden zugrunde gelegt wird, ähneln Bedeutungen aus den Ingenieur- und Naturwissenschaften. Aus ökono‐ mischer bzw. sozialwissenschaftlicher Sicht ist dabei zunächst unerheblich, inwieweit im Verlaufe einer Transformation sozioökonomischer Strukturen am Ende noch die ursprüngliche Intention erkennbar ist. Unerheblich ist also auch, ob Entwicklungen aufgrund der unbeherrschbaren Komplexität parallel angestoßener bzw. autonom ablaufender sowie miteinander interagierender Prozesse eine gänzlich ungeplante Richtung einschlagen. An dieser Stelle sei nochmals an das Zitat von Friedrich August von Hayek aus dem einleitenden Abschnitt erinnert. Einen enormen Bedeutungszuwachs im Umfeld der wirtschafts- und gesellschaftswis‐ senschaftlichen Debatte hat der Begriff der Transformation im Rahmen der wachsenden Besorgnis über einen bald nicht mehr abzuwenden Kollaps unserer Umwelt erhalten. Im Hauptgutachten des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Um‐ weltveränderungen (WBGU) aus dem Jahre 2011 mit dem Titel „Welt im Wandel - Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“ heißt es dazu beispielsweise: „Bereits seit geraumer Zeit befindet sich das fossile ökonomische System international im Umbruch. Dieser Strukturwandel wird vom WBGU als Beginn einer ‚Großen Transformation‘ zur nachhaltigen Gesellschaft verstanden, die innerhalb der planetarischen Leitplanken der Nachhaltigkeit verlaufen muss. Langzeitstudien zeigen eindeutig, dass sich immer mehr Menschen weltweit einen Wandel in Richtung Langfristigkeit und Zukunftsfähigkeit wünschen“. Daher sei es „jetzt eine vordringliche politische Aufgabe, die Blockade einer solchen Transformation zu beenden und den Übergang zu beschleunigen“ (WBGU 2011). Begrifflichkeiten 19 <?page no="20"?> Schon diese wenigen Sätze aus einer der wichtigsten transformationspolitischen Schriften des letzten Jahrzehnts in Deutschland drücken unmissverständlich aus, dass mit Transformationen eine, z. T. weitreichende, gesellschaftliche und politische Wil‐ lensbildung einhergeht. Dass in diesem Fall sogar von einer „Großen“ Transformation die Rede ist, soll die epochale Relevanz und eine damit verbundene besonders hohe Häufigkeitsverdichtung (Osterhammel 2011) von Veränderungen des Geschehens unterstreichen. Vielfach wird in diesem Zusammenhang auf die vom ungarisch-öster‐ reichischen Wirtschaftssoziologen Karl Polanyi (1886-1964) im Jahr 1944 eingeführte Begrifflichkeit einer Great Transformation rekurriert. Er bezeichnete damit den tiefgreifenden Wandel der westlichen Gesellschaftsordnung im 19. und 20. Jahrhundert, wobei er zu zeigen versuchte, dass die Stabilisierung und Akzeptanz der modernen Industriegesellschaften erst durch die Einbettung der ungesteuerten Marktdynami‐ ken und Innovationsprozesse in Rechtsstaat, Demokratie und wohlfahrtsstaatliche Arrangements gelungen sei. Die Ausmaße der heute geforderten und definitionsge‐ mäß bereits angelaufenen neuen „Großen Transformation“ erscheinen keineswegs geringer als dieser Umbruch oder noch weiter zurückliegende Epochenumbrüche der Geschichte wie die neolithische Revolution. Auch dies kommt im erwähnten Gutachten des WBGU zum Ausdruck, wenn es heißt: „Diese ‚Große Transformation‘ ist also keineswegs ein Automatismus. Sie ist auf die ‚Gestal‐ tung des Unplanbaren‘ angewiesen, wenn sie in dem engen Zeitfenster gelingen soll, das zur Verfügung steht. Dies ist historisch einzigartig, denn die ‚großen Verwandlungen der Welt‘ ( Jürgen Osterhammel) (…) waren Ergebnisse allmählichen evolutionären Wandels. Fasst man die Anforderungen an die vor uns liegende Transformation zusammen, wird deutlich: Die anstehenden Veränderungen reichen über technologische und technokratische Reformen weit hinaus. Die Gesellschaften müssen auf eine neue ‚Geschäftsgrundlage‘ gestellt werden. Es geht um einen neuen Weltgesellschaftsvertrag für eine klimaverträgliche und nachhaltige Weltwirtschaftsordnung. Dessen zentrale Idee ist, dass Individuen und die Zivilgesellschaften, die Staaten und die Staatengemeinschaft sowie die Wirtschaft und die Wissenschaft kollektive Verantwortung für die Vermeidung gefährlichen Klimawandels und für die Abwendung anderer Gefährdungen der Menschheit als Teil des Erdsystems übernehmen (…) Ein zentrales Element in einem solchen Gesellschaftsvertrag ist der ‚ge‐ staltende Staat‘, der für die Transformation aktiv Prioritäten setzt, gleichzeitig erweiterte Partizipationsmöglichkeiten für seine Bürger bietet und der Wirtschaft Handlungsoptionen für Nachhaltigkeit eröffnet. Der Gesellschaftsvertrag umfasst auch neue Formen globaler Willensbildung und Kooperation“ (WBGU 2011). Aus diesen Worten lässt sich die Zielsetzung erkennen, dass man um jeden Preis handeln will und dafür auf möglichst weitreichende Commitments und Kooperationen setzt - auch wenn man sich der Herausforderungen, die mit einer entsprechenden Agenda verbunden sind, durchaus bewusst ist. Ihr Nährboden sind die international und generationenübergreifend massiv wachsenden Sorgen, die Welt könnte auf eine Katastrophe nicht mehr beherrschbaren Ausmaßes zusteuern. Daher nimmt es nicht 20 2 Wandel ∙ von der ökonomischen Evolution zur großen Transformation <?page no="21"?> Wunder, wenn auch in Richtung Wissenschaft, der man eine zentrale Rolle im Transformationsgeschehen zudenkt, Forderungen nach einem neuen Aufbruch mit einer gemeinsamen Fokussierung auf diese globalen Herausforderungen laut werden. Verlangt werden eine verstärkte Interdisziplinarität zwischen den Wissenschafts‐ feldern, eine höhere gesamtgesellschaftliche Partizipation am Prozess der Entstehung neuen Wissens und neuer Lösungen sowie - damit verbunden - effektivere Kommu‐ nikationsstrukturen für den laufenden Austausch zwischen Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. In diesem Zusammenhang wird vorgeschlagen, von Trans‐ formationsforschung dann zu sprechen, wenn sich die Wissenschaft mit im Zuge der Veränderungsprozesse interagierenden Teilsystemen befasst. Hierauf aufbauend soll sich transformative Forschung mit Ansätzen beschäftigen, die die Nachhaltigkeits‐ transformation konkret befördern. Nach dieser Logik geht es bei „Transformationsbil‐ dung“ tendenziell um die Vermittlung der Ergebnisse von Transformationsforschung sowie im Rahmen von „transformativer Bildung“ um die Schaffung eines breiten Verständnisses (mithin einer „Sensibilisierung“) für entsprechende subjekt- und objekt‐ bezogene Wirkungen, Handlungsoptionen und Lösungsansätze (WBGU 2011, S. 22 ff.). Neue Stoßrichtungen oder Disziplinen in der Wissenschaftsgeschichte haben sich selten allein deshalb formiert, weil dies von bestimmten Protagonisten so gefordert wurde. Dennoch ist es sinnvoll, sich auch im wissenschaftlichen Zusammenhang auf gewisse Label berufen zu können, wenn es um die Kennzeichnung eines gemeinsamen inter- und transdisziplinären Bezuges bestimmter Stoßrichtungen in Forschung und Bildung geht. Dieser Überlegung soll im Weiteren gefolgt werden. Der letzte hier noch zu klärende Kernbegriff ist, ganz in diesem Sinne, die trans‐ formative Wirtschaftspolitik, ebenfalls Teil des Titels dieses Buches. Darunter soll eine Politik verstanden werden, die auf Basis eines entsprechenden gesellschaftlichen Auftrags auf eine Veränderung sozioökonomischer Strukturen in Richtung eines Ziel‐ systems hinzuwirken sucht. Auch wenn sich der Begriff genauso im Kontext anderer Transformationen nutzen ließe, wird er im Folgenden auf die hier im Mittelpunkt stehenden Ziele einer Nachhaltigkeitstransformation bezogen. Unabhängig davon ist es im wissenschaftlichen Zusammenhang wichtig, sich be‐ wusst zu machen, wo es in der Vergangenheit dem aktuellen Untersuchungsgegenstand ähnliche Phänomene gab. Ein solches Vorgehen kann der Abgrenzung dienen, der Übertragung bereits vorhandener Erkenntnisse oder auch dem Zweck, mögliche An‐ sichten von der Erstmaligkeit und Einzigartigkeit erkannter aktueller Entwicklungen zumindest zu relativieren. Darum wird im folgenden Unterkapitel gezeigt, dass Gesell‐ schaften in einem bestimmten historischen Zusammenhang immer wieder Vorstellun‐ gen kreierten, Strukturen so zu verändern, dass bestimmte erwünschte Entwicklungen erreicht würden. Wie man sehen wird, sind derartige „Sozialexperimente“ selten so ausgegangen, wie sie sich ihre Urheber zunächst vorgestellt hatten. Begrifflichkeiten 21 <?page no="22"?> Zur Logik geschichtlichen Wandels „History doesn’t repeat itself, but it does rhyme“, lautet ein Bonmot, das wohl irrtümlich Samuel Langhorne Clemens („Mark Twain“, 1835-1910) zugeschrieben wird. In der Politik erfolgt der Rückgriff auf Geschichte nicht selten vor allem dann, wenn eine Neuorientierung eingeleitet werden soll. Gerne wird in solchen Fällen postuliert, man müsse doch aus der Vergangenheit lernen, um so zu vermeiden, gleiche oder ähnliche Fehler erneut zu begehen. Im Zuge einer solchen Argumentation kann es in der Tat angebracht sein, auch im Zusammenhang mit der aktuellen Diskussion um die Große Transformation im Vorfeld transformativer politischer Weichenstellungen die Geschichte zu bemühen. Allerdings werden - hier und generell - erhebliche methodische Herausforderungen und Stolpersteine sichtbar. Dies beginnt schon bei der Auswahl der Beispiele oder Fallstudien. Worauf ist zu achten? Welche Restriktionen begleiteten tatsächlich oder vermeintlich ähnliche Situationen in der Vergangenheit? Ab welchem Grad der gesell‐ schaftlichen Willensbildung und des politischen Eingreifens kann von Transformation im Sinne der hier gewählten Definition gesprochen werden? Denn danach wären etwa die bedeutenden historischen Umbrüche der neolithischen und später der industriellen Revolution, da nicht vorab im größeren Stil von Menschen geplant bzw. politisch betrieben, keine Transformationen im engeren Sinne gewesen. Abb. 2: Restriktionen als ermöglichende und limitierende Rahmenbedingungen des Agierens von Wirtschaftssubjekten (Hesse/ Koch 1997, S. 507) Invariante Restriktionen Variable Restriktionen Handeln von Wirtschaftssubjekten im Zeitablauf t Variable Restriktionen Invariante Restriktionen Abbildung 2: Restriktionen als ermöglichende und limitierende Rahmenbedingungen des Agierens von Wirtschaftssubjekten (Hesse/ Koch 1997, S.-507) Im Zusammenhang mit solch retrospektiven Überlegungen erscheint es hilfreich, eine sozioökonomische Evolution als Ausfluss bestimmter Variablenkonstellationen 22 2 Wandel ∙ von der ökonomischen Evolution zur großen Transformation <?page no="23"?> zu betrachten, die in wechselseitiger Abhängigkeit das jeweilige Handeln von Wirt‐ schaftssubjekten beeinflusst haben. Im Rahmen der evolutorischen Ökonomik wird hier auch von Restriktionen gesprochen, die - um das Sprachspiel der namensge‐ benden Evolutionsbiologie zu bemühen - „variierend und selektierend“ und damit richtungsgebend wirken. Dabei gibt es zum einen solche Selektionsfaktoren oder Re‐ striktionen, die für die Dauer eines Veränderungsbzw. Transformationsprozesses als (weitgehend) invariant betrachtet werden können. Wie → Abbildung 2 verdeutlichen möchte, bilden diese den äußeren Rand einer Restriktionshierarchie. Innerhalb dieser Hierarchie wirken dann zum anderen variablere - und aus politischer Sicht in dem betrachteten Zeitraum unterschiedlich beeinflussbare - Restriktionen. Als invariant für politisch relevante Spielräume können vor allem Restriktionen der belebten und unbelebten Natur, also beispielsweise der biologischen Konstitution des Homo sapiens, oder bestimmte geographische Spezifika, wie Ressourcenausstattung oder Klima, angesehen werden. Mit Blick auf die beiden letztgenannten Beispiele zeigt sich aber zugleich, dass längerfristig auch diese, kurzfristig als invariant zu betrachtenden Restriktionen, anthropogenen Veränderungen unterliegen. Die Anordnung von Restriktionen oder Selektionsfaktoren in dem hier vorgestell‐ ten Schema von invariant (limitierender Rand) zu variabel (Veränderungskorridor) folgt den Kriterien der Änderungskosten sowie des Zeitbedarfs gewünschter Verän‐ derungen, wobei beides aus politischer Sicht eine prohibitive Höhe annehmen kann (siehe u. a. Koch/ Grünhagen 2009). Historisch betrachtet, können in diesem Sinne auch soziokulturelle Restriktionen eine hohe Trägheit aufweisen und sich für politische Pläne als restringierend erweisen. Die im Kern politisch relevanten Selektionsfaktoren und damit Instrumente zur Bewirkung von Veränderung finden sich im Bereich der Ordnungs- und Regelsysteme, die menschliches Verhalten motivieren oder sanktionie‐ ren und damit entlang zeit- und kulturraumabhängiger Vorstellungen koordinieren bzw. „sozial kompatibel“ zu machen suchen. Über ihre Rolle und Wirkweise im Zusammenhang mit transformativer (Wirtschafts-)Politik wird im vorliegenden Werk noch zu sprechen sein. Denkt man die hier vorgestellte Logik sozioökonomischer Evolution weiter, so wird schnell verständlich, dass keine Transformation voraussetzungslos startet, sondern einer spezifischen Pfadabhängigkeit unterliegt (zu diesem Konzept Arthur 1994). Allein diese Tatsache schränkt die Vergleichbarkeit kleinerer oder größerer Transfor‐ mationen der Wirtschaftsgeschichte stark ein. Nicht nur die Frage, wie eine bestimmte Region oder Volkswirtschaft, die als Fall herangezogen wird, naturräumlich oder geostrategisch eingebettet ist und welche soziokulturellen Spezifika sie aufweist, ist entscheidend, sondern auch die hohe Interdependenz dieser und weiterer Selektions‐ faktoren. Ähnlichkeiten finden sich leichter in der Phase der Entstehung transformativer Vorhaben. Wie in der Einleitung erwähnt, sind dafür zumeist Unzufriedenheiten mit einer gegebenen Situation ausschlaggebend. Hierbei kann es sich um Ängste in der breiteren Bevölkerung handeln, zu denen häufig noch ein ausschlaggebendes Ereignis Zur Logik geschichtlichen Wandels 23 <?page no="24"?> hinzukommt, das die politische Agenda erst aktiviert. Als Beispiel für ein solches Trig‐ gering-Event kann, im Sinne eines exogenen Schocks, die Nuklearkatastrophe von Fukushima herhalten, die in Deutschland rückblickend als Auslöser für entscheidende Weichenstellungen im Rahmen der Energiewende und damit der Großen Transforma‐ tion gilt. Diese Art von extrem unwahrscheinlichen, meist disruptiven Ereignissen wird in der Literatur auch als Black Swan bezeichnet (siehe hierzu die Erläuterung im nachfolgenden Kasten). Eine ähnlich starke, richtungsverändernde Wirkung lässt sich dem folgenschweren Einfall Russlands in der Ukraine im Jahr 2022 zuschreiben. Mit dem unter anderem aus deutscher Sicht weitgehenden Wegfall russischer fossiler Rohstoffe war man quasi von heute auf morgen gezwungen, die gesamte nationale und europäische Energiepolitik grundlegend zu hinterfragen und viele Weichen völlig neu zu stellen. Konzept 1 | Von „schwarzen Schwänen“ als Triggering-Events „Und er kommt zu dem Ergebnis: Nur ein Traum war das Erlebnis. Weil, so schließt er messerscharf, nicht sein kann, was nicht sein darf.“ Dieses Apophthegma aus Christian Morgensterns (1871-1914) Gedicht „Die un‐ mögliche Tatsache“ illustriert die Entstehung eines „Schwarzen Schwans“: Nicht vorhersehbare, bisweilen sogar als unmöglich erachtete Ereignisse treten plötzlich doch ein. Der Begriff wird, zumindest in dieser Bedeutung, vor allem mit dem Es‐ sayisten und Finanzmathematiker Nassim Nicholas Taleb in Verbindung gebracht. Neben der Unvorhersehbarkeit sind schwarze Schwäne selten und entfalten häufig eine komplexe und nachhaltige Wirkung. Gelegentlich ist außerdem das Phänomen einer Ex-post-Adaptation nach dem Muster, „das hätte man auch schon vorher wissen können“, zu beobachten. Historische Beispiele für schwarze Schwäne sind etwa die Entdeckung Amerikas, disruptive Erfindungen, große Börsencrashs, Terroranschläge oder Naturkatastrophen. Gerade bei negativ kon‐ notierten schwarzen Schwänen entsteht mit hoher Geschwindigkeit das kollektive Gefühl, reagieren zu müssen. Politisch betrachtet, eröffnen sich somit plötzlich „Windows of Opportunity“, die vorher in dieser Form nicht denkbar gewesen wären. Dies spielt auch im Rahmen der hier interessierenden ökologischen Trans‐ formation eine Rolle, ist doch für die kommenden Jahre nicht auszuschließen, dass Umweltkatastrophen bisher nicht für möglich gehaltenen Ausmaßes auftreten. Wenn nach derartigen Schocks, Katastrophen, größeren Fehlentwicklungen oder an‐ deren disruptiven Vorkommnissen politische Transformationsentscheidungen fallen, liegt auf der Hand, dass zumeist damit, implizit oder explizit, Vorstellungen von einem Turnaround oder - etwas pathetischer formuliert - einer „besseren Welt“ verbunden werden: einer Welt, die weniger Risiken birgt, einen größeren Wohlstand ermöglicht bzw. allgemein die Zufriedenheit der Menschen befördert. Hierbei spielen vielfach 24 2 Wandel ∙ von der ökonomischen Evolution zur großen Transformation <?page no="25"?> wissenschaftliche Erkenntnisse eine Rolle, die Bildung unterschiedlichster Utopien oder historische Beispiele, die zu einer anderen Zeit oder an einem anderen Ort - vermeintlich oder nachweislich - zu geeigneteren Ergebnissen im Sinne des Erstrebten geführt haben. Sofern für eine weitgehende politische Umorientierung transformationsgeschichtli‐ che Beispiele bedeutsam sind, ist aus wissenschaftlicher Perspektive zu beachten, dass die Deutung von Gewesenem und der Versuch des Transfers in eine andere Zeit und an einen anderen Ort stets subjektiven Momenten unterliegen. Auf die Berücksichtigung der Einordnung von Geschehnissen in ihren jeweiligen historischen Kontext, deren Kultur, Denkart und Institutionen wurde in vielen Beiträgen zur ökonomischen und zur Ideen- und Theoriegeschichte immer wieder hingewiesen. Hierbei ist jedoch stets zu berücksichtigen, dass selbst die elaborierteste geschichtswissenschaftliche Methodik allzeit mit der Überkomplexität interagierender Variablen (Restriktionen), mit der hermeneutischen Unschärfe von Quellen und mit der zutreffenden Auswahl und Gewichtung sich nicht selten widersprechender Deutungen zu kämpfen hat. Interessante Beispiele finden sich etwa bei der Interpretation der Wohlfahrtswir‐ kungen des mittelalterlichen Zunftwesens, der Liberalisierung der Märkte im Indus‐ triezeitalter, beim Widerstreit um das „richtige“ Wirtschaftssystem oder im Rahmen der Dekolonisation, also der politischen Agenden, die zur Ablösung kolonialer Herrschaftssysteme und zur Erlangung staatlicher Unabhängigkeit führten. Interessant sind auch die zahlreichen und z. T. mit Entkolonialisierungsprozessen im Zusam‐ menhang stehenden Fälle nachholender Entwicklung. Gemeint ist ein tatsächlicher oder angestrebter Aufholprozess von (so genannten) Entwicklungsländern gegenüber Industrieländern, der im Bereich wichtiger sozialer, infrastruktureller und politischer Teilsysteme gewissermaßen die Abkürzung nimmt bzw. historische Um- und Irrwege der jeweiligen Vorbilder vermeiden soll. In diesem Fall liegen dem Annahmen zu‐ grunde, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg im Rahmen der Modernisierungstheo‐ rien aufkamen. Danach sollten ökonomische und politische Zustände in bestimmten Ländern als Entwicklungsvorbild für andere Länder gelten. Ein Fallbeispiel findet sich im folgenden Kasten. Beispiel 1 | Entwicklungsstrategie der nachholenden Entwicklung in Südkorea Südkorea gelang der Wandel von einem verarmten Land zu einer hochentwi‐ ckelten und industrialisierten Nation. Korea war von 1910 bis 1945 eine japanische Kolonie, die nach Japans Niederlage im Zweiten Weltkrieg von der Sowjetunion und den USA in zwei Besatzungszonen aufgeteilt wurde. Das unter dem Einfluss der USA 1948 als parlamentarische Demokratie gegründete Südkorea hat sich nach fast 40 Jahren unter verschiedenen Militärregierungen, nicht zuletzt durch die Unterstützung der USA und anderer westlicher Staaten, nach umfangreichen Modernisierungsprozessen seiner institutionellen Strukturen einschließlich einer massiven Transformation der Wirtschaft, zu einem der demokratischsten Zur Logik geschichtlichen Wandels 25 <?page no="26"?> Staaten des asiatischen Raumes entwickelt (Platz 24 weltweit; economist.com 2023) und einen Platz unter den 20 größten Volkswirtschaften der Welt erobert (Statista 2023). Das Beispiel Südkorea verdeutlicht nicht zuletzt die Abhängigkeit der ökonomischen Entwicklung eines Landes von seinen spezifischen histori‐ schen, kulturellen und geopolitischen Eigenarten. Die Entwicklung Südkoreas veranschaulicht einen Transformationsprozess, der die damit verbundenen Erwartungen an steigenden Wohlstand, stabile politische Bedin‐ gungen sowie einen Rückgang sozialer Probleme zunächst nur zögernd, dann jedoch umso konsequenter erfüllen konnte. Es gibt genügend Beispiele, bei denen die Erwar‐ tungen der westlichen „Unterstützer“ von denen der „Unterstützten“ abgewichen sind. Dies ist generell vor allem dann der Fall, wenn die unterschiedlichen kulturellen, historischen und sozialen Kontexte der jeweiligen Länder nicht berücksichtigt werden oder die Eigeninteressen des Auf- und Ausbaus eigener Absatzmärkte oder günstiger Faktoreinkäufe wie rein wirtschaftlicher Interessen seitens der „Geberländer“ domi‐ nieren. So stellten sich in manchen Ländern anstelle der gewünschten Ergebnisse sogar negative Folgen ein. Man denke etwa an Haiti oder die Demokratische Republik Kongo, wo trotz beträchtlicher Hilfen aus westlichen Ländern immer wieder massive Probleme im Zusammenhang mit Korruption, politischer Instabilität und fehlender effektiver Koordination zwischen Hilfsorganisationen auftauchten und bis heute existieren. Die Liste der Beispiele ließe sich ohne Weiteres mit Staaten wie dem Irak, Somalia, Simbabwe und anderen fortsetzen. Ein besonderes Beispiel stellt Indien dar (siehe folgender Kasten), das im Jahr 1947 nach fast zwei Jahrhunderten britischer Kolonialherrschaft seine staatliche Unabhän‐ gigkeit erlangte. Eine Angleichung der unterschiedlichen Interessen trat spätestens mit dem sich einstellenden Bewusstsein über die Vorteile von Gegenseitigkeit im Rahmen der zunehmenden Globalisierung und steigender wirtschaftlicher Prosperität ein. Im Ranking der 20 Länder mit dem höchsten Bruttoinlandsprodukt stand Indien im Jahr 2022 bereits an fünfter Stelle (Statista 2023). Beispiel 2 | Entwicklungsstrategie der nachholenden Entwicklung in Indien 1885 wurde der Indische Nationalkongress (INC) gegründet. Zunächst waren nur Veränderungen innerhalb des britischen Systems angestrebt, denen bald jedoch Forderungen nach Unabhängigkeit folgten. In der 1920 von Mahatma Gandhi (1869-1948) gegründeten Nichtkooperationsbewegung wurde die indi‐ sche Bevölkerung aufgefordert, britische Einrichtungen, Schulen und Produkte zu boykottieren. Ziel des friedlichen Widerstands war über eine Blockade der Kolonialverwaltung die Schärfung des öffentlichen Bewusstseins für die Unab‐ hängigkeitsvision. 1930 führte Gandhi die Bewegung des zivilen Ungehorsams an, bei der sich die Inder weigerten, Steuern zu zahlen sowie Salz zu produzieren, 26 2 Wandel ∙ von der ökonomischen Evolution zur großen Transformation <?page no="27"?> und gegen die repressive britische Gesetzgebung protestierten. 1942 rief Gandhi mit Gründung der Quit-India-Bewegung zum kollektiven Widerstand auf und forderte ein sofortiges Ende der britischen Herrschaft. 1947 erlangte Indien die Unabhängigkeit von der britischen Herrschaft. Das Unabhängigkeitsgesetz führte zur Teilung Indiens in zwei separate Staaten, Indien und Pakistan. Mit dem 1951 einsetzenden „Zeitalter der Fünfjahrespläne“ gelangen zunächst keine großen wirtschaftlichen Erfolge, was sich in den 1990er-Jahren („Ära der wirtschaftlichen Liberalisierung“) änderte, in denen umfangreiche Maßnahmen der Deregulie‐ rung, Privatisierung, Öffnung für ausländische Investitionen und der Abbau von Handelsschranken zum Tragen kamen. Infolge dieser prägnant transformativen Politik erlebte Indien eine Periode schnellen Wachstums und einschneidender Veränderungen seiner Gesellschaftsstrukturen. Das Wirtschaftswachstum in den späten 1990er- und frühen 2000er-Jahren wies zeitweise die höchsten Raten weltweit auf. Trotz weiterhin bestehender entwicklungspolitischer Herausforde‐ rungen und regionaler Ungleichgewichte entwickelte sich das Land so zu einem der wichtigsten Akteure in der Weltwirtschaft. Gänzlich anders in Verlauf und Dimensionierung stellte sich der große Transformati‐ onsprozess der ehemaligen Sowjetunion nach dem Fall des Eisernen Vorhangs dar. Heute wird der seinerzeit vor allem von Michail Gorbatschow (1931-2022) als prägender historischer Figur eingeleitete Transformationsprozess mit den Begriffen Perestroika, was so viel heißt wie Umbau, Umgestaltung oder Umstrukturierung, sowie Glasnost, womit eine größere Transparenz und Offenheit der Staatsführung gegenüber der Bevölkerung gemeint ist, verbunden. Wie die im nächsten Kasten zusammengefasste Übersicht erkennen lässt, handelt es sich hier jedoch wieder um ein anschauliches Beispiel transformativer Überforderung. Damit ist gemeint, dass sich viele der mit Optimismus verbundenen Ziele dieses gigantischen Transformationsvorhabens auch nicht annähernd erfüllen konnten. Beispiel 3 | Der Fall des Eisernen Vorhangs und seine Folgen Letztendlich, so ist aus heutiger Sicht mit Blick auf das „Transformations‐ experiment Sowjetunion“ zu konstatieren, standen den großen Hoffnungen auf politische Reformen hin zu stärkerer Demokratisierung, Gewährung von Freiheiten sowie einer Wiederbelebung und Modernisierung der Wirtschaft durch die Einführung von Marktmechanismen und einer größeren Offenheit zum Westen folgenreiche Enttäuschungen gegenüber. Zwar gewährten die Europäische Gemeinschaft (EG), die USA und Japan sowie Organisationen wie der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank von Beginn an verschiedenste Formen der Unterstützung. Dennoch ließen sich in der Folge diverse Verwerfungen, Störungen, Engpässe und inflationäre Tendenzen nicht Zur Logik geschichtlichen Wandels 27 <?page no="28"?> vermeiden. Die Liberalisierung der Wirtschaft fand mit hohem, im Nachhin‐ ein betrachtet: zu hohem Tempo statt, das sich in vielerlei Hinsicht vorgesehenen Kontrollmechanismen zu entziehen begann. Eine Anpassung des institutionel‐ len Rahmens an die neuen Gegebenheiten blieb im Reformwirrwarr stecken und viele Menschen fühlten sich überfordert bzw. nicht mehr mitgenommen. Ein für nicht wenige Transformationsprozesse typischer Kontrollverlust der Reformpolitik über Gesellschaft, Politik und Wirtschaft setzte ein, verstärkt durch aufkeimende, lange unterdrückte nationalistische Tendenzen, die sich nunmehr als unvorhergesehener Effekt der gestiegenen Offenheit und Freiheiten offenbarten. Die Legitimität des Sowjetregimes geriet zunehmend ins Wanken, und Forderungen nach Unabhängigkeit einzelner ehemaliger Republiken trugen schließlich zum Zerfall des Riesenreichs bei. Die Konflikte um die Umsetzung der Perestroika gipfelten 1991 in einem Putschversuch gegen Gorbatschow, der zwar scheiterte, jedoch den Zusammenbruch der Sowjetunion beschleunigte und schließlich noch im selben Jahr zu ihrer Auflösung führte. Die ausgewählten Beispiele belegen, wie anspruchsvoll und herausfordernd es ist, Transformationspläne vor dem Hintergrund historischer Beispiele sowie der Entwick‐ lung optimistischer Zielvorstellungen über einen längeren Zeitraum erfolgreich zu verfolgen. Dennoch zeichnet sich ab, dass trotz der Anforderungen, die die hohe Komplexität sozioökonomischer Wandlungsprozesse an die Handelnden stellt, die ent‐ sprechenden Vorhaben nicht notwendigerweise zum Scheitern verurteilt sein müssen. Diese Feststellung ist zugleich Ausgangspunkt für das dritte Kapitel, in dem wieder die Transformation zu mehr Nachhaltigkeit als Große Transformation unserer Tage in den Mittelpunkt rückt. Es wird betrachtet, wodurch Handlungsdruck entstanden ist, wie er sich weiter erhöht hat und welche Zielvorstellungen aus dieser historischen Situation abgeleitet werden. ▻ Zwischenzusammenfassung und Literaturhinweise Im zweiten Kapitel standen Begrifflichkeiten um den Topos Transformation im Mittel‐ punkt, deren Deutungsspektrum allein in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften kaum übersehbar ist. Grund dafür sind unterschiedlichste Vorstellungen und Erklä‐ rungsversuche von Phänomenen des Wandels und der Entwicklung einschließlich besonderer Dynamiken der gesellschaftlichen und besonders ökonomischen Evolution. Es wurde die konzeptuelle Idee starkgemacht, mit soziokultureller Transformation dezidiert ein politisches Momentum zu verknüpfen: In diesem Sinne liegen transforma‐ tive Entwicklungen dann vor, wenn vor dem Hintergrund veränderter gesellschaftli‐ cher Zielsetzungen politisch bzw. wirtschaftspolitisch in eine deutlich andere Richtung gesteuert wird als zuvor. Diese Definition geht über den Begriffsgebrauch bei Karl Polanyi hinaus, der im Zusammenhang mit der industriellen Revolution von einer 28 2 Wandel ∙ von der ökonomischen Evolution zur großen Transformation <?page no="29"?> Großen Transformation spricht. Zwar sind mit dieser langfristigen und - rückblickend - epochalen Entwicklung zahlreiche transformative Teilprozesse als Reaktion auf die mit der Industrialisierung einhergehenden neuen Herausforderungen verbunden. Doch anders als im Zusammenhang mit der heutigen Nachhaltigkeitstransformation, gab es zu Beginn der industriellen Revolution keine große Zukunftsvision. Mitte des 19. Jahrhunderts zeichnete die Politik nicht das Zielbild einer später einmal vollständig industrialisierten Welt - im Unterschied zu heutigen Akteuren, die vergleichsweise klar konturierte nachhaltige Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen zur Rettung unseres Planeten vor Augen haben. Eine Theorie transformativer Wirtschaftspolitik baut vor dem Hintergrund des Gesagten auf den Erkenntnissen von „Transformationsforschung“ als wissenschaftlichinterdisziplinärer Auseinandersetzung mit soziokulturellen Veränderungsprozessen auf. Sie befasst sich mit der Generierung von Zielen und der Suche nach Lösungen bzw. mit Lösungsstrategien für erkannte umfassende Herausforderungen der Nachhal‐ tigkeitstransformation. Insofern lässt sich eine Analogie zur „klassischen“ wirtschafts‐ wissenschaftlichen Unterteilung in Wirtschaftstheorie und -politik herstellen. Metho‐ dologisch folgt eine Theorie transformativer Wirtschaftspolitik der evolutorischen Ökonomik, in der Restriktionen als gleichermaßen ermöglichende wie limitierende Rahmenbedingungen des Agierens von Wirtschaftssubjekten aufgefasst werden. Da im vorliegenden Werk die Transformation in Richtung einer nachhaltigen Gesellschaft im Mittelpunkt steht, geht es im Folgenden um für dieses Geschehen relevante Re‐ striktionen - einerseits der natürlichen, andererseits der menschenbewirkten Umwelt, einschließlich der im Menschsein selbst liegenden Limitationen. D. h., diese Restrik‐ tionen werden als Movens und zugleich Begrenzungen der jeweils beobachtbaren politischen Prozesse verstanden. Als förderlich für eine realistische Einordnung der Gegenwart und damit verbundene Gestaltungsvorhaben erweist sich die Analyse historischer Beispiele. Sie hilft, aus der Vergangenheit zu lernen, begangene Fehler in Theorie und Praxis nicht zu wiederholen, voreilige Schlüsse zu vermeiden und eine Idee von der Komplexität sozioökonomischer Transformation zu erhalten. Beispiele traditioneller Entwicklungshilfe etwa haben gezeigt, wie gut gemeinte Unterstützung unbeabsichtigte Folgen nach sich ziehen kann und mitunter bestehende Probleme sogar eher verschärft werden. Koch, L. T. 1996. Evolutorische Wirtschaftspolitik - eine elementare Analyse mit entwick‐ lungspolitischen Beispielen, Tübingen. Ein geeigneter Einblick in Grundlagen der evo‐ lutorischen Ökonomik und in die Art und Weise, wir dort Phänomene des Wandels und der Entwicklung einer systematischen ökonomischen Analyse zugänglich gemacht werden. Osterhammel, J. 2009. Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19.-Jahrhunderts, München. Ein Werk zu markanten Umbrüchen als Phänomen wirtschaftlicher Evolu‐ tion. ▻ Zwischenzusammenfassung und Literaturhinweise 29 <?page no="30"?> Sen, A. 1999. Development as Freedom, Oxford / New York. Das Werk gilt als bahnbrechend auf dem Gebiet der Entwicklungsökonomie. Eine zentrale Rolle spielen einerseits Armut und Ungleichheit sowie andererseits Freiheit und ihre Relevanz für eine nachhaltige Entwicklung zum Wohl der Weltbevölkerung. 30 2 Wandel ∙ von der ökonomischen Evolution zur großen Transformation <?page no="31"?> 3 Umwelt ∙ das verletzliche System Nachhaltig überleben Wie wir gesehen haben, verstärkt sich der Wunsch nach einem - transformativ wirkenden - politischen Umsteuern in einer Gesellschaft meist dann, wenn Unzufrie‐ denheiten mit den vorherrschenden Verhältnissen zunehmen. Dies gilt erst recht, wenn so nicht vorhergesehene Ereignisse wie ein ungewollter Systemtest wirken und die kollektive Sensibilität dafür schärfen, dass relevante Rahmenbedingungen, wie sie bis‐ lang bestanden, dysfunktional oder gar kontraproduktiv zu sein scheinen. Ein breites Defizitempfinden kann sich rasch, jedoch auch über einen längeren Zeitraum aufbauen - je nach Fokus und Intensität der Betroffenheit sowie den Eigengesetzlichkeiten einer damit verbundenen gesellschaftlichen Debatte. Man kann sich gut vorstellen, wie im Zuge des 30-jährigen Krieges die Sehn‐ sucht nach Frieden (heute vielleicht: nach einer „Friedenstransformation“) oder im Zuge der Industrialisierung das Verlangen nach verbesserten Lebens- und Arbeitsbedingungen („Sozialtransformation“) gewachsen sind. Beide Entwicklungen ließen den Druck auf die Verantwortlichen steigen, entscheidende Weichenstellungen vorzunehmen. In unseren Tagen erhöhen sich in ähnlicher Weise die Erwartungen an Entscheider in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, die Weichen in Richtung Ver‐ meidung eines weitreichenden, möglicherweise irreversiblen Kollapses der globalen Ökosysteme zu stellen. Die hier schon eingeführte evolutorische Ökonomik und die für diese Denkrichtung inspirative Evolutionsbiologie lassen in ihren Argumentationsmustern grundlegende Unterschiede, jedoch auch interessante Schnittstellen erkennen. Während biologische Systeme im Kampf ums Überleben entweder aussterben (Selektion) oder neue ange‐ passte Varianten ausprägen (Kombinationen aus Retention und Variation), versucht der Mensch, seine Umgebung so zu gestalten, dass individuelles Wohlbefinden bzw. das Wohlergehen von Gruppen (Gesellschaften) gesteigert bzw. empfundenes Leid gemindert werden - dies übrigens in einer realitätsnäheren Auslegung von Vorstellun‐ gen der „herkömmlichen“ ökonomischen Theorie, welche von der Zielsetzung einer Maximierung des Wohlstands bzw. Minimierung des Leids ausgeht. Gleichwohl, in Analogie zu den biologischen Systemen scheint dieses vorteilsuchende Verhalten dem Menschen, zumindest als impliziter Zielhorizont, sozusagen in der DNA zu liegen. Es wird von ihm als Wirtschaftssubjekt in verschiedensten Rollen praktiziert: als Konsu‐ ment, als Produzent oder auch als Gestalter (z. B. Wissenschaftler, Aktivist, Politiker) gesellschaftlicher Umgebungen. An die Stelle des Überlebenskampfes in der Natur tritt der Wettbewerb der Ideen und umgesetzter Lösungen auf Märkten oder in anderen Arenen, wie etwa der nationalen und internationalen Politik (Systemwettbewerb). <?page no="32"?> Was als Wohlbefinden und Leid zu definieren ist, wird in intersubjektiven Prozessen immer neu ausgehandelt. Dabei sind sicherlich in die eine und andere Richtung Extrempunkte auszumachen, bei denen selbst in ansonsten heterogenen Gesellschaften relativ schnell Einigkeit zu erzielen ist (z. B. bestimmte allgemeine Menschenrechte). Die sich ergebenden Präferenzspektren haben zu allen Zeiten einen entscheidenden Einfluss auf das Ordnungsgefüge, also auf Verfassung, Gesetze und Regeln der betrach‐ teten Gesellschaftssysteme gehabt. Beide Entitäten beeinflussen sich wechselseitig: Einerseits generieren und stabilisieren vorherrschende Ordnungen gesellschaftliche Präferenzgefüge, andererseits unterliegen Letztere einem Wandel, der wiederum An‐ passungen des institutionellen Rahmens bewirken kann. Vertreter der evolutorischen Ökonomik sprechen hier auch von einem Prozess der Selbstorganisation, in dessen Rahmen sich Strukturen aus vorhergehenden Strukturen entwickeln, stabilisieren und wieder verändern. Dieser rückbezügliche Prozess erzeugt aus sich selbst heraus seine Randbedingungen, die wiederum den Prozess strukturieren; er ist zirkulär-kausal und irreversibel. Abläufe nach diesem Muster sehen wir beispielsweise im Zusammenhang mit der Umwelt- und Klimapolitik in Deutschland und anderen Ländern, wie in späteren Kapiteln noch deutlicher gemacht wird. Ein weiterer interessanter, von der evolutorischen Ökonomik hervorgehobener Aspekt, ist die hohe Relevanz multipler Trial-and-Error-Prozesse auf allen Ebenen der Gesellschaft: Prozesse, die für die Interdependenz zwischen stabilisierenden und verändernden Impulsen in sozioökonomischen Systemen entscheidend sind (siehe hierzu auch den nachfolgenden Kasten). Der Sozialphilosoph Karl Raimund Popper (1902-1994) betont in jenem Zusammenhang die Fähigkeit von Menschen, Ideen und Pläne an ihrer statt sterben zu lassen. Letzteres kann als weitreichender Überlebens‐ vorteil der menschlichen Art im Verlauf der langfristigen Entwicklung von Leben auf unserem Planeten verstanden werden. Konzept 2 | Multiple Trial-and-Error-Prozesse als evolutionärer Mechanismus „Sicher ist, dass nichts sicher ist. Selbst das nicht.“ In Reminiszenz an dieses von Joachim Ringelnatz (1883-1934) geschaffene sprachli‐ che Kleinod verrät uns ein Blick in die Natur, dass es auch dort keinen „Masterplan“ gibt. Vielmehr erklären sich Entwicklungspfade aus dem Prinzip von Trial-and- Error. D. h., auch der Natur sind „Irrtümer“ inhärent, die gemäß den natürlichen Prinzipien der Evolution (Variation, Selektion, Retention und im Ergebnis Adaption) mitverantwortlich sind für die Vielfalt der mehr oder weniger an ihre Umwelt angepassten Organismen. Im sozioökonomischen Kontext kommen Irrtümer und damit verbundene Unsicherheiten im Rahmen ähnlicher Prozesse vor. Der moderne Mensch hat experimentelle Vorgehensweisen bzw. Trial-an-Error- Verfahren in Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft immer weiter „kultiviert“, nicht zuletzt begünstigt durch die stark steigenden Speicher- und Simulationska‐ 32 3 Umwelt ∙ das verletzliche System <?page no="33"?> pazitäten einer zunehmend digitalisierten und vernetzten Welt. So bilden gerade in der Nachhaltigkeitsdebatte Dilemmata, Unsicherheiten und Irrtümer einen wich‐ tigen Ausgangspunkt für die hier diskutierten Transformationsagenden. Multipel sind die damit verbundenen Prozesse nicht nur aufgrund der hohen Zahl parallel und versetzt laufender Lösungsfindungen, Hinterfragungen, Neuorientierungen etc. innerhalb eines Bereichs (Firmen, Branchen, Teilsysteme der Gesellschaft, nationale Ökonomien). Viel mehr sind die Trial-and-Error-Prozesse wechselseitig aufeinander bezogen. Anpassungen in einem Bereich stoßen ständig solche in anderen Bereichen an. Man denke beispielsweise an das Mobilitätsverhalten im Zuge der Verknappung/ Verteuerung fossiler Rohstoffe oder die Anpassungen im Agrarsektor und der Lebensmittelproduktion aufgrund einer steigenden Zahl vegetarischer und veganer Konsumenten. Genau an dieser Stelle liegt einer der wichtigsten Berührungspunkte von biologischer und sozioökonomischer Evolution: Wenn es zutrifft, was im Mainstream der Natur‐ wissenschaften heute kaum mehr angezweifelt wird, dann ist infolge des Klimawandels zumindest längerfristig das Überleben der Menschheit als Ganzes gefährdet. Aufgrund der Veränderung komplexer Selektionsfaktoren der natürlichen Umwelt, die, nach allem, was man heute weiß, zu einem großen Teil anthropogen ist, werden Menschen in ihrer Umwelt immer weniger überlebensfähig sein. Doch auch wenn sie sich als Art, biologisch gesehen, wahrscheinlich nicht schnell genug anpassen können, geht man doch noch von Möglichkeiten aus, innerhalb der für sie relevanten Teilsysteme Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft, reagierend einzugreifen und ihr eigenes Aussterben durch ein Einwirken auf die Selektionsfaktoren abzuwenden. Mit anderen Worten: Die Eigengesetzmäßigkeiten der sozioökonomischen Evolution können in die eine oder andere Richtung die biologische Evolution entscheidend beeinflussen. Ob menschliches (Re-)Agieren die im wahrsten Sinne des Wortes „lebensgefährli‐ chen“ natürlichen Prozesse noch aufhalten kann, ist von mehrerlei abhängig: ■ Relevant sind vor allem die Eigengesetzlichkeiten dieser Prozesse selbst; sie bestimmen letztlich das natürliche Gefährdungspotenzial (zum hier relevanten Begriff der „Vulnerabilität“ siehe den nachfolgenden Kasten). ■ Ausgehend davon spielen die Möglichkeiten und Grenzen von menschlichem Planen und wissenschaftlichem (Vor-)Denken eine zentrale Rolle. Hierauf wird später noch einzugehen sein. ■ Abzuschätzen sind für die hier interessierenden Fragen außerdem die Auswirkun‐ gen des für den Menschen evolutionsbiologisch konstitutiven Eigeninteresses. Von Belang ist vor allem, in welchem Ausmaß sich die aktuell auf der Erde Lebenden (rechtzeitig) dazu animieren lassen, ihr alltägliches Agieren anzupassen, damit eine nachhaltige Veränderung von Umweltbedingungen in Richtung einer Verbesserung der globalen Überlebensvoraussetzungen auch für künftige Genera‐ tionen möglich wird. Hier lassen sich mikroökonomische Zusammenhänge, wie Nachhaltig überleben 33 <?page no="34"?> Zeitpräferenzraten, genauso diskutieren wie psychologische, ethische und andere Kontexte. Allgemeinpolitische und vor allem auch wirtschaftspolitische Überlegungen müssen sich in diesem Sinne damit befassen, wie die langfristigen Wirkungen gegenwärtiger Weichenstellungen systematischer und verbindlicher in die Entscheidungssysteme implementiert werden können. Es geht darum, Systemresilienz in der Hierarchie der Entscheidungskriterien höher zu gewichten. Gemeint ist das Ziel, die sozioökonomi‐ schen Strukturen auf eine bessere Widerstands- und Regenerationsfähigkeit der für das langfristige Überleben der Menschheit relevanten Ökosysteme hin zu gestalten. Dies unterstellt den natürlichen Systemen die Eigenschaft einer relativen Resilienz, d. h. die Fähigkeit, mit der ihr eigenen Funktionalität bis zu einem gewissen Ausmaß robust auf Schocks und Störungen reagieren bzw. nach einer vorübergehenden Störung die ursprünglichen Systemeigenschaften wieder herstellen zu können (Bounce Back). Beides beinhaltet zudem die Möglichkeit eines Systems zur produktiven Weiterent‐ wicklung, verbunden mit einer entsprechenden Lern- und Reorganisationsfähigkeit. Konzept 3 | Vulnerabilität und Resilienz als zwei Seiten einer Medaille „Wie manches Nehmen - gibt, Wie manches Zögern - eilet, Wie manches Zürnen - liebt, Wie manch’ Verwunden - heilet! “ Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf und Pottendorf (1700-1760), ein unruhiger und umstrittener Geist seiner Zeit, spricht in „Verborgene Wohltaten“ eine vermeintlich widersprüchliche Logik an, die aber dennoch in zahlreichen Prozessen der biolo‐ gischen wie der sozioökonomischen Welt aufscheint - besonders dann, wenn es um Verwundbarkeit oder, aus dem Lateinischen abgeleitet, Vulnerabilität einerseits und Widerstandsrespektive Gestaltungskraft (Resilienz) andererseits geht: Erst durch die Möglichkeit, verwundet zu werden oder zu erkranken, lassen sich Motive und Wege ersinnen, sich davor zu schützen - so wie bereits bestehende Wider‐ stands- oder Gestaltungskräfte aus der Androhung des Gefahreneintritts entstehen können. In der Medizin denkt man etwa an Prinzipien der Antikörperbildung, im psychologischen und sozioökonomischen Kontext an Resilienz-Phänomene. So unterscheidet z.-B. der Deutsche Ethikrat (2022) zwischen situativer Vulnerabilität von Personen und einer strukturellen Vulnerabilität von Institutionen. Zwischen beiden Dimensionen besteht ein Zusammenhang: Politisch lassen sich Regeln und Einrichtungen implementieren, die individuelle Risiken (körperlich, seelisch, materiell-sozial) von Wirtschaftssubjekten eindämmen sollen. Zugleich variieren diese Institutionen aber selbst in puncto Vulnerabilität bzw. Resilienz als Resultante der eingetretenen Veränderungen auf der individuellen Ebene. Exemplarisch sei auf die dramatischen Hochwasserereignisse der letzten Jahre in Deutschland 34 3 Umwelt ∙ das verletzliche System <?page no="35"?> und in anderen Regionen der Welt verwiesen: Die strukturelle Vulnerabilität versuchte man hier im Nachgang regelmäßig durch strengere Vorschriften im Bereich Frühwarnsysteme, technischer Hochwasserschutz oder auch ökonomische Risikovorsorge zu verringern, was in Abhängigkeit von der Qualität der Maßnah‐ men zugleich die situative Vulnerabilität reduzierte. In diesem Sinne ist Politik dann selbst umso resilienter, je proaktiver sie diese langfristigen Herausforderungen einbezieht bzw. aus Misserfolgen tiefgreifend lernt. Resilienz- und Nachhaltigkeitsbestrebungen können damit - in wechselseitiger Abhängigkeit - als konstitutive Merkmale transformativer Wirtschaftspolitik betrachtet werden. Allerdings ist stets die hohe Komplexität sozioökonomischer Systeme mit ihren ineinander ver‐ schachtelten Selektionsoder, um den oben eingeführten Begriff zu verwenden, Restrik‐ tionsszenarien zu beachten. Während bestimmte Elemente von Regel- und Zielsystemen stabil gehalten werden müssen, um transformative Prozesse in Gang zu setzen, sind andere unabdingbar zu ändern, um die dafür nötigen Impulse zu setzen. Pointiert hieße das, für das Gelingen des Transformationsvorhabens ist zum einen nachhaltiges und zielorientiertes Agieren in der Politik erforderlich, zum anderen muss eine Transformation stattfinden, um die gewünschten nachhaltigen Systemstrukturen überhaupt zu erreichen. Was jeweils einer relativen Stabilität oder einer hohen Variabilität bedarf, ist gleichermaßen von wissenschaftlichen Erkenntnissen wie von politischen Trial-and-Error-Prozessen ab‐ hängig. Auch auf diesen Aspekt wird weiter unten im Rahmen der Beschäftigung mit politischen Prozessen noch zurückzukommen sein. Wie schon angedeutet, ist die Zielformulierung im Rahmen der Nachhaltigkeitsdebatte auch deshalb so herausfordernd und in Teilen umstritten, weil die unerwünschten und da‐ her abzuwendenden Entwicklungen in Natur und Umwelt nicht-linearen, hochkomplexen Zusammenhängen unterliegen. Es ist daher schwer, Zeiträume und mögliche Kipppunkte zu prognostizieren. Kipppunkte oder Tipping Points sind kritische Grenzwerte, ab deren Erreichen plötzlich schon kleine zusätzliche Störungen eine sehr weitgehende und möglicherweise irreversible qualitative Änderung des Gesamtsystems herbeiführen. Letz‐ teres ist deshalb möglich, weil die relevanten Teilsysteme, auch Kippelemente genannt, multipel miteinander verknüpft sind. Aufgrund ihrer nichtlinearen Eigenschaften weiß man zwar einiges über die Risiken eines „Umkippens“, aber nichts darüber, wie weit genau wir von diesem Zeitpunkt noch entfernt sind. Stefan Rahmstorf und seine Mitautoren (2019) geben eine anschauliche Übersicht darüber, welche Kippelemente im Rahmen des Klimasystems unserer Erde unter anderem relevant sind. Ausgangspunkt ist die Erderwärmung, die infolge zunehmender Wetterextreme (Hitze, Dürren, Tropenstürme etc.) durch den Meeresspiegelanstieg sowie den Verlust von Ökosystemen immer größere Risiken für die Menschheit heraufbeschwört. „Diese Klimafolgen können zu Ernteausfällen mit Hunger, Ausbreitung von Krankheiten, zahlreichen Todesopfern, Massenmigration und im schlimmsten Fall zu internationalen Kon‐ Nachhaltig überleben 35 <?page no="36"?> flikten sowie zur Destabilisierung von Staaten führen. Die meisten dieser Risiken wachsen graduell mit der weiteren Erwärmung, ohne definierte Kipppunkte. Einige Teilsysteme des Klimasystems haben dagegen (…) kritische Schwellenwerte, bei deren Überschreiten es zu starken und teils unaufhaltsamen und unumkehrbaren Veränderungen kommt“ (Rahmstorf et al. 2019). Die folgende → Abbildung 3 zeigt für eine Reihe von Kippelementen die jeweils riskanten Bereiche der globalen Temperatur, bei denen das Risiko des Umkippens von „verschwindend gering“ bis auf „höchstwahrscheinlich“ ansteigt. Jeder Balken illustriert dabei einen Erwärmungsbereich. Abb. 3: Unsicherheitsbereiche wichtiger Kippelemente im Kontext der globalen Temperaturentwicklung seit dem Höhepunkt der letzten Eiszeit und für die Zukunft (in Anlehnung an Rahmstorf et al. 2019) Antarktis (marine Gebiete) Grönland Arktisches Sommer-Meereis Gebirgsgletscher Korallenriffe Sahelmonsun Amazonasregenwald Boreale Nadelwälder Atlantikzirkulation Permafrost Arktisches Winter-Meereis Antarktis (nicht-marin) Pariser Temperaturbereich Kipppunkt möglicherweise innerhalb des Pariser Temperaturbereiches Globale Erderwärmung (°C) -2 0 2 4 6 8 Jahr -20000 -15000 -10000 -5000 0 2000 2500 RCP 8.5 RCP 6.0 RCP 4.5 RCP 2.6 Abbildung 3: Unsicherheitsbereiche wichtiger Kippelemente im Kontext der globalen Temperaturent‐ wicklung (°C) und der Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre (RCP) seit dem Höhepunkt der letzten Eiszeit und für die Zukunft (in Anlehnung an Rahmstorf et al. 2009) An dieser Stelle geht es nicht darum, die Prognosegüte und Aktualität der hinter dieser Übersicht stehenden Experten-Einschätzungen tiefergehend zu diskutieren. Vielmehr soll vermittelt werden, wie komplex derartige Risikoanalysen aufgrund der angedeuteten Systemeigenschaften sind und wie herausfordernd es daher ist, auf dieser Grundlage politische Zielsysteme auf nationaler und internationaler Basis auszuhan‐ deln. Ersichtlich wird dies beispielsweise, wenn man sich vor Augen führt, dass einige der aktuell diskutierten Tipping Points in einem Temperaturbereich erwartet werden, der unterhalb der zwischen den einbezogenen Staaten vereinbarten Obergrenzen des Pariser Klimaabkommens liegt. In dem Abkommen heißt es ursprünglich, der weltweite Temperaturanstieg müsse, so weit es geht, auf 1,5 Grad Celsius, jedenfalls 36 3 Umwelt ∙ das verletzliche System <?page no="37"?> aber auf deutlich unter zwei Grad Celsius im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter beschränkt werden. Während → Abbildung 3 geografische Einheiten unterscheidet, die von möglichen, nicht mehr umkehrbaren und sich unkontrollierbar beschleunigenden Entwicklun‐ gen der Umweltzerstörung bedroht sind, werden in der nachfolgenden Darstellung anschaulich die anthropogenen Ursachen der Gefährdung von globalen Ökoteilsys‐ temen verdeutlicht. Sofern man der verwendeten Ampellogik folgt, die auf zahlreichen Studien beruht, sind auch hier für einige der unterschiedenen Bereiche die Belastungs‐ grenzen bald erreicht bzw. sogar bereits überschritten. Während für den Klimawandel vor allem die Emissionen im Zuge der Kohlendioxid freisetzenden Energienutzung bei Produktions-, Konsumtions- und Mobilitätsprozessen verantwortlich sind, stehen der Biodiversitätsverlust, der Eintrag von Stickstoff und Phosphor in die Biosphäre sowie die Landnutzungsänderungen insbesondere im Zusammenhang mit der Agrar- und Lebensmittelproduktion. Jüngste Studien gehen davon aus, dass möglicherweise bereits deutlich mehr Grenzwerte überschritten sind als bislang angenommen, sodass das Gefahrenpotenzial für das Kippen ökologischer Teilsysteme als nochmals höher einzuschätzen ist (Richardson et al. 2023). Abbildung 4: Planetare Belastungsgrenzen (in Anlehnung an Richardson et al. 2023) Nachhaltig überleben 37 <?page no="38"?> Aber, wie vorher, sind weniger konkrete Grenzwerte und ihre Berechtigung von Bedeutung - oder die Frage, ob diese bereits erreicht sind oder (noch) nicht (hierzu beispielsweise Richardson et al. 2023). Es sollte vielmehr zunächst eine Vorstellung davon entwickelt werden, wie differenziert sich die Herausforderungen der Nachhal‐ tigkeitstransformation darstellen. Da es im vorliegenden Werk schwerpunktmäßig um transformative Wirtschaftspolitik geht, interessieren die aufgrund dieser inhaltlichen Komplexität entstehenden Anforderungen für den politischen Alltag. Im folgenden Kapitel soll gezeigt werden, in welche Richtung bisherige Operationalisierungsversu‐ che weisen. Dabei kommen zunächst Ansätze auf globaler Ebene zur Sprache, d. h. Bemühungen der Weltgemeinschaft als Ganzes, das globale Ziel einer Eindämmung des Klimawandels und der Zerstörung wichtiger Ökosysteme auf möglichst operative Zielsysteme herunterzubrechen. Im nächsten Schritt werden dann einige Beispiele nationaler und regionaler Umsetzungsversuche aufgegriffen. Stoßrichtungen einer Zieloperationalisierung Im vorangegangenen Abschnitt wurden einige besonders charakteristische Treiber der aktuellen Nachhaltigkeitstransformation herausgearbeitet. Kern der Transforma‐ tionsbemühungen ist, den Lebensraum der Menschheit so zu nutzen und zu gestalten, dass dieser in einer Qualität überdauern kann, die seine Selbsterhaltungs- und Selbst‐ erneuerungsressourcen bewahrt (oder im Idealfall wieder verbessert) und zugleich künftigen Generationen ein lebenswertes Leben ermöglicht. Dabei wurde ebenfalls deutlich: Nicht nur der Begriff Nachhaltigkeit selbst ist als Zieldimension stark interpretationsbedürftig, sondern auch alle weiteren für seine Definition herangezo‐ genen Konstrukte sind es. Insbesondere die abzuleitenden Ansprüche hinsichtlich Lebensqualität (Mensch) einerseits und Lebensraumqualität (Umwelt) andererseits bedürfen in hohem Maße des wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurses. ■ Angesprochen sind damit zum einen die Eigengesetzlichkeiten unserer natürli‐ chen Umwelt, im vorherigen Absatz umschrieben mit „Selbsterhaltungs- und Selbsterneuerungsressourcen“, deren Funktionsweise fortwährend im Fokus wis‐ senschaftlicher Forschung steht. ■ Zum anderen ist gesellschaftlich immer wieder neu auszuhandeln, wie die jeweils gleichzeitig existierenden Generationen leben, arbeiten, konsumieren sowie ihre Freizeit gestalten möchten und wie sich dies unter simultaner Berücksichtigung von Nachhaltigkeits-, Freiheits-, Gerechtigkeits- und weiteren Gesichtspunkten realisieren lässt. ■ Für beide Stoßrichtungen - Lebenssowie Umweltqualität - gilt: Selbst, wenn ungefähre Vorstellungen davon existieren, bleibt es herausfordernd, die angestreb‐ ten Qualitäten intratemporal messen und intertemporal vergleichen zu wollen. Entsprechende Fragen werden später näher unter die Lupe zu nehmen sein. 38 3 Umwelt ∙ das verletzliche System <?page no="39"?> Es liegt auf der Hand, dass die im Mittelpunkt der Transformationsdebatte stehenden Klima- und Umweltsowie die damit verbundenen Überlebensherausforderungen (pauschal auch: „Nachhaltigkeitsherausforderungen“) eine globale bzw. planetare Di‐ mension haben. Es ist daher naheliegend, dass die Zielformulierung und die daraus ab‐ zuleitenden Bemühungen um eine Zieloperationalisierung ebenfalls grenzüberschrei‐ tender Handlungsabsichten und Abstimmungen bedürfen. Konkrete geostrategische, politökonomische und institutionelle Fragen, die sich in diesem Zusammenhang auftun, werden später einer differenzierteren Betrachtung unterzogen. In diesem Kapitel geht es zunächst darum, die Stoßrichtungen einer Operationalisierung der allgemeinen Zielsetzung, nachhaltig zu leben, mit Blick auf die angesprochenen Risiken, Gefährdungen und bereits erfolgten Schädigungen aufzuzeigen. Uwe Schneidewind (2018) macht hier - rund 50 Jahre nach dem Club-of-Rome-Bericht zu den „Grenzen des Wachstums“ und mehr als 25 Jahre nach der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro 1992 einen klaren Kompass für eine nachhaltige Zivilisation im 21.-Jahrhundert aus: Dieser „definiert sich über die 2015 verabschiedeten nachhaltigen Entwicklungsziele, die ‚Sustainable Development Goals‘ (SDGs), über die von Johan Rockström et al. formulierten ‚Planetaren Grenzen‘ sowie den von Kate Raworth postulierten ‚Donut‘ einer nachhaltigen Ökonomie (…). Er [der Kompass; d. A.] verknüpft ökologische und soziale Entwicklungsziele miteinander. Daraus ergeben sich sehr konkrete ökologische Aufgaben für das 21. Jahrhun‐ dert“ (Schneidewind 2018, S.-106). Mit den von Schneidewind angesprochenen, im Rahmen der Agenda 2030 propagierten 17 Nachhaltigkeitszielen (in Ablösung der so genannten „Millenniumsziele“) hat sich die Weltgemeinschaft unter dem Dach der Vereinten Nationen ein prägnantes Leitbild gegeben. „Leitbild der Agenda 2030 ist es, weltweit ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen und gleichzeitig die natürlichen Lebensgrundlagen dauerhaft zu bewahren. Dies umfasst ökonomische, ökologische und soziale Aspekte. Dabei unterstreicht die Agenda 2030 die ge‐ meinsame Verantwortung aller Akteure: Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Zivilgesellschaft - und jedes einzelnen Menschen“ (Bundesregierung 2023a). Die Vielschichtigkeit von Nachhaltigkeit sowie die konkrete Adressierung von Qua‐ litätsbereichen der natürlichen Umwelt und des darin eingebetteten (menschlichen) Lebens geben klare Hinweise für daraus abzuleitende Handlungsagenden auf inter‐ nationaler, nationaler und regionaler Ebene. Die deutsche Bundesregierung beispiels‐ weise stellt auf ihrer Homepage die 17 Ziele vor und führt exemplarisch zu jedem einzelnen Zielbereich aus, wo sie anzusetzen gedenkt bzw. bereits agiert, um zu einer weltumspannenden Nachhaltigkeitstransformation beizutragen. Aufgeführt werden etwa Kooperationen mit afrikanischen Staaten zur Armutsbekämpfung, Pro‐ gramme ökologischen Landbaus für eine nachhaltige Lebensmittelversorgung, die Mitfinanzierung der Bekämpfung von Seuchen in Krisengebieten, Bildungsinitiativen Stoßrichtungen einer Zieloperationalisierung 39 <?page no="40"?> im In- und Ausland, das Beispiel des Nationalen Aktionsplans Energieeffizienz, des Teil‐ habestärkungsgesetzes und des Sofortprogramms Saubere Luft oder auch die Beteiligung Deutschlands am Grünen Klimafonds. Abbildung 5: Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen (Bundesregierung 2023a) Mit den UN-Nachhaltigkeitszielen wurde kein abstrakter Forderungskatalog aufge‐ stellt. Vielmehr sind vor allem konkrete Bausteine und Details der Zielumsetzung benannt, die gleich in mehrfacher Hinsicht Wirkungspotenzial aufzeigen. So fungieren die Ziele nicht nur als Kompass für die Weltgemeinschaft auf dem Weg in eine nachhaltige und mithin lebenswerte Zukunft, sondern auch als Inspiration und somit Motor einer konkreten Umsetzung vor Ort. Erkennbar wird zugleich, ob sich einzelne Ziele weniger gut oder besser für ein unabhängiges Agieren nationaler bzw. regionaler Akteure eignen. Während sich etwa Bildungsprogramme vergleichsweise autonom einfacher umsetzen lassen, gilt dies für das Ziel der Erhaltung des Artenreichtums in den Weltmeeren offensichtlich weniger. Hier ist der internationale Kooperationsbedarf ungleich höher. Kein Staat dieser Welt kann sich mit validen Argumenten davon aus‐ nehmen, in mehreren der Zielbereiche „nationale Hausaufgaben“ machen zu müssen. Es entsteht der Eindruck, alle Staaten sind in gewisser Hinsicht „Entwicklungs‐ länder“, da sie zu kooperativem Verhalten veranlasst sind und/ oder jeder Staat für sich zur Umsetzung eines globalen Zielekanons aufgefordert ist. Greift man hier allerdings nochmals das Konstrukt der Vulnerabilität auf und zieht hierfür den sechsten Weltklimabericht zu Rate, so erkennt man, dass sich der Handlungsdruck - grob gesprochen - interkontinental erheblich unterscheidet. → Abbildung 6 verdeutlicht dies. Unterschieden nach Kontinenten gibt sie eine grobe Übersicht über die jeweiligen Risikoprofile für relevante Grundversorgungsaspekte. 40 3 Umwelt ∙ das verletzliche System <?page no="41"?> Afrika Australasien Asien Verschiedene Aspekte und Dimensionen der Gefährdung (regionale Durchschnittswerte) Nordamerika Zentral - & Südamerika Europa Kleine Inseln Relativ moderate Herausforderungen Gesundheitsstatus Zugang zu Gesundheitsvorsorge Relativ schwere Herausforderungen Relativ geringe Herausforderungen Governance Geschlechterungleichheit Nahrungsmittelsicherheit Extreme Armut Alphabetisierungsrate bei Erwachsenen Abhängigkeitsverhältnis Zugang zu Grundinfrastruktur Abbildung 6: Dimensionen der Gefährdung nach Weltregionen/ Kontinenten (Durchschnittswerte aus‐ gewählter Gefährdungsindikatoren) (IPCC 2022, S.-77) Während in Europa, Nordamerika und Australien für die Breite der Bevölkerung kaum unmittelbare Risiken für eine Unterversorgung mit elementaren Gütern des täglichen Bedarfs indiziert werden, sieht dies für viele Regionen des afrikanischen Kontinents, aber auch für Länder in Mittel- und Südamerika, für Teile Asiens sowie eine große Zahl von Inselgruppen in den Weltmeeren deutlich anders aus. In vielen der betroffenen Länder ist zumindest die gesellschaftliche Belastungsgrenze angesichts der dort herrschenden wirtschaftlichen und sozialen Situation schon erreicht oder überschritten. Jede zusätzliche Katastrophe aufgrund des „Kippens“ der natürlichen Umwelt wirkt darum ungleich verheerender und ist durch politisches Agieren nicht mehr oder nur noch viel schwerer aufzufangen. Erneut geht es um Fragen von Vulnerabilität und Resilienz - dieses Mal vor allem auch mit Blick auf die sozioökonomischen Systeme. Ähnlich prominent wie die Ziele der Vereinten Nationen und ebenfalls mit einem beachtlichen „Wirkungsgrad“ in die konkreten Politiken hinein war und ist die Zusam‐ menfassung einer Reihe essenzieller Erkenntnisse der modernen Umweltforschung zum schon erwähnten Konzept der planetaren Grenzen unter Federführung von Johan Rockström aus dem Jahre 2009 (Rockström et al. 2009a; 2009b). Weiter vorn ver‐ anschaulicht → Abbildung 4, ergänzt um einige neuere Erkenntnisse, die Grundidee, Stoßrichtungen einer Zieloperationalisierung 41 <?page no="42"?> nach der bei Überschreitung der (derzeit neun) Grenzen auch die Handlungsspielräume der Menschheit stark eingeschränkt sind. Dabei geht es nicht nur darum, ökologische Prozesse zu unterscheiden, die durch unangepasstes Agieren der menschlichen Zivi‐ lisation besonders gefährdet sind, sondern man kann durchaus eine Priorisierung ableiten. Bei aller Fallibilität der dahinterstehenden wissenschaftlichen Erkenntnisse lässt sich ersehen, wo der Handlungsdruck besonders hoch ist, z. B. beim Anstieg der Treibhausgasemissionen, dem Verlust der biologischen Vielfalt, der Übersäuerung der Ozeane und mittlerweile auch des Süßwassers, aber auch, wo möglicherweise bereits in die richtige Richtung agiert wurde, wie im Fall der international koordinierten Maßnahmen zum Schutz der Ozonschicht. Politisch betrachtet, erscheinen solche Quantifizierungsversuche attraktiv, weil sie es als konkrete planetarische Leitplanken leichter machen, Maßnahmen abzuleiten, denen man zutraut, eine Überschreitung der kritischen Grenzwerte zu verhindern. Der erwähnte Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) hat seinerzeit diesen Ansatz für Deutschland pro‐ minent gemacht. Das Grundprinzip besagt, statt einen wünschenswerten Zustand für eine nachhaltige Zukunft anzustreben, einen gesellschaftlichen Konsens dahin‐ gehend zu erreichen, welche Entwicklungen inakzeptabel und damit zu vermeiden sind. Wie sich dies mit Blick auf die suffiziente Nutzung globaler Gemeinschaftsgüter in Verbindung mit dem Schutz des Erdsystems und dem Erhalt unserer natürlichen Lebensgrundlagen operativ herunterbrechen lässt, deutet exemplarisch die folgende →-Abbildung-7 an. 42 3 Umwelt ∙ das verletzliche System <?page no="43"?> Planetarische Leitplanke Empfehlungen für SDG-Targets Empfehlungen für globale Institutionen Klimawandel auf 2° C begrenzen Die globalen CO₂ -Emissionen aus fossilen Quellen sollen bis etwa 2070 vollständig eingestellt werden • Zuständige Institution: UNFCCC (2° C-Grenze anerkannt) • CO₂ -Emissionsminderungen sollten mit nationalen Regelungen vereinbart werden • Targets der Initiative „Sustainable Energy for all“ übernehmen Ozeanversauerung auf 0,2 PH Einheiten begrenzen Die globalen CO₂ -Emissionen aus fossilen Quellen sollen bis etwa 2070 vollständig eingestellt werden • Fehlende globale Institution • Versauerungsleitplanke in der UNFCCC anerkennen • UNFCCC sollte CO₂ -Emissionsminderungen mit nationalen Regelungen vereinbaren Verlust von biologischer Vielfalt und Ökosystemleistungen stoppen Die unmittelbaren anthropogenen Treiber des Verlusts biologischer Vielfalt sollen bis spätestens 2050 zum Stillstand gebracht werden • Unterstützung der „Aichi-Targets“ sowie Umsetzung durch Mitgliedsstaaten der CBD • CBD sollte Länderstrategien mit nationalen Regelungen vereinbaren Land- und Bodendegradation stoppen Die Netto-Landdegradation soll bis 2030 weltweit und in allen Ländern gestoppt werden • Unzureichende Zuständigkeit der UNCCD • UNCCD sollte SDG-Target anerkennen und Länderstrategien mit nationalen Regelungen vereinbaren • Intergovernmental Panel on Land and Soils einrichten bzw. das FAO ITPS thematisch um Landdegradation erweitern Gefährdung durch langlebige anthropogene Schadstoffe (a-c) begrenzen a) Quecksilber Die substituierte Nutzung sowie die anthropogenen Quecksilberemissionen sollen bis 2050 gestoppt werden • Ist in der Minamata-Konvention geregelt • Ggf. verschärfen, um das Target durch Länderstrategien mit nationalen Regelungen erreichen zu können b) Plastik Die Freisetzung von Plastikabfall in die Umwelt soll bis 2050 gestoppt werden • Unzureichende Zuständigkeiten • Verschärfung und Verzahnung bestehender Konventionen zum Eintrag von Plastikabfall und zum Schutz der Meere • Ggf. spezifisches internationales Instrument einrichten c) Spaltbares Material Die Produktion von Kernbrennstoffen für den Einsatz in Kernwaffen und in zivil genutzten Kernreaktoren soll bis 2070 gestoppt werden • Unzureichende Zuständigkeiten • Vereinbarung des „Fissile Material Cutoff Treaty“ • Internationale Kontrolle von spaltbarem Material und Brennstoffkreislauf durch IAEA Verlust von Phosphor stoppen Die Freisetzung nicht rückgewinnbaren Phosphors soll bis 2050 gestoppt werden • Fehlende Zuständigkeiten • Aufforderung zur Erstellung eines Phosphor - Assessments • Ggf. spezifisches internationales Instrument einrichten Abbildung 7: Operationalisierung des Konzepts der Planetarischen Leitplanken (in Anlehnung an WBGU 2014, S.-21) Stoßrichtungen einer Zieloperationalisierung 43 <?page no="44"?> Ausgangspunkt sind wieder die Ziele der nachhaltigen Entwicklung (SDGs), wobei man dem Muster folgt, jeweils eine Planetarische Leitplanke zu formulieren, sodann eine Empfehlung für die aus dem SDG-Kodex abzuleitenden konkreten Targets sowie schließlich Hinweise für entsprechende globale Zuständigkeiten und den Grad ihrer Umsetzung nach dem Ampelsystem zum damaligen Zeitpunkt. Mittlerweile, knapp zehn Jahre später, hat sich vieles weiterentwickelt, doch die Herausforderung bleibt be‐ stehen, übergeordnete Leitbilder so herunterzubrechen, dass sie zu einem international koordinierten Handeln führen. Daher soll später gesondert auf die Schwierigkeiten einer Abstimmung auf globaler Ebene eingegangen werden. Abbildung 8: Donut-Modell (in Anlehnung an Raworth 2017, S.-51 und Lotfi 2021, S.-3) Die auf den bisherigen Überlegungen der planetaren Grenzen fußende Idee einer Donut-Ökonomie (→ Abbildung 8) nimmt vor allem die Multidimensionalität 44 3 Umwelt ∙ das verletzliche System <?page no="45"?> von nachhaltiger Entwicklung, die schon in den Millenniumszielen der Vereinten Nationen sowie ab 2015 in den Development Goals veranlagt ist, auf und konkretisiert sie. Als zentrale Aufgabenstellung für das 21. Jahrhundert werden die Bewahrung der Lebensgrundlagen für die Menschheit und die Sicherstellung der dafür nötigen lebenserhaltenden Systeme durch Wirtschaft und Gesellschaft postuliert. Kate Raworth (2012; 2017) geht dabei von natürlichen Grenzen der auf unserem Planeten verfügbaren Ressourcen - bildhaft als äußerer Kreis dargestellt - aus, innerhalb derer der Mensch seine wirtschaftlichen Ziele neu setzen muss. Die Ähnlichkeit mit einem Donut ergibt sich, wenn man im nächsten Schritt einen inneren Kreis definiert, der den Zusam‐ menhang zwischen sozialen Bedürfnissen und einer intersubjektiv zu bestimmenden sozialen Absicherung für die Menschheit ergänzt. Der Zwischenraum zwischen den beiden Kreisen repräsentiert in diesem Modell das Zielsystem, den multidimensionalen Raum, in dem ein nachhaltiges Überleben ermöglicht wird. Angesichts der die Umwelt repräsentierenden neun planetaren Grenzen - der äußere Rahmen - muss der Mensch seine durch Knappheitsbzw. Mangelzustände charakterisierten Zielvorstellungen - die zwölf Elemente des inneren Kerns - derart anpassen bzw. einschränken, dass ein so genanntes „sicheres und gerechtes Leben“ - der mittlere Ring - möglich ist. Raworth präsentiert also ein Optimierungsmodell im weiteren Sinne, das die bindenden Restriktionen im ökologisch Machbaren sieht. All diese aufeinander bezogenen Modelle und Ansätze finden sich mittlerweile in zahllosen internationalen Übereinkünften sowie nationalen und regionalen Ziel- und Maßnahmenkatalogen wieder. Die Europäische Union selbst hat zwar bislang keine eigene in sich geschlossene Nachhaltigkeitsstrategie, setzt sich aber regelmäßig und intensiv mit dem Thema Nachhaltigkeit auseinander. Auch hier sind es, wie in der deutschen Nachhaltigkeitspolitik, vor allem die Sustainable Development Goals (SDGs), entlang derer Bestandsaufnahmen und Nachjustierungen erfolgen. In einem 2019 erschienenen Reflexionspapier Auf dem Weg zu einem nachhaltigen Europa bis 2030 (European Commission 2019) stellt die EU-Kommission Vorarbeiten zu einer eigenen Nachhaltigkeitsstrategie vor. Dabei spielt der European Green Deal, ein Maßnahmenpaket, das die Nettoemission von Treibhausgasen bis zum Jahre 2050 auf null reduzieren soll, damit Europa auf diese Weise als erster Kontinent klimaneutral wäre, eine entscheidende Rolle. Die im Green Deal vereinbarten Maßnahmen beziehen sich namentlich auf die Bereiche Finanzmarktregulierung, Energieversorgung, Indus‐ trie, Verkehr und Handel sowie Land- und Forstwirtschaft. Sie sind als entscheidende Anstrengung auf dem Weg zur Erreichung des 2015 auf der Weltklimakonferenz in Paris beschlossenen Übereinkommens zur Beschränkung des Anstiegs der weltweiten Durchschnittstemperatur, zur Senkung der Emissionen und Anpassung an den Klima‐ wandel sowie zur Lenkung von Finanzmitteln im Einklang mit den Klimaschutzzielen zu verstehen. Betrachtet man im Vergleich zu Europa die USA, so galten diese viele Jahre als Nachzügler in Sachen Nachhaltigkeitspolitik. Vor allem in der Ära Trump gab es von Washington aus kaum maßgebliche Impulse, welche die internationale Gemeinschaft Stoßrichtungen einer Zieloperationalisierung 45 <?page no="46"?> als profunde Beteiligung an den gemeinsamen Anstrengungen in Richtung einer gro‐ ßen Transformation hätte verstehen können. Mit dem Inflation Reduction Act (IRA), den die Biden-Administration im Jahr 2022 auf den Weg gebracht hat, sind mittlerweile allerdings die Chancen für wieder substanziellere Beiträge zur globalen Klimaagenda gewachsen: Das Gesetz will die finanziellen und steuerlichen Rahmenbedingungen auf Bundesebene anpassen, um die Produktion von Wind- und Solarenergie, sauberem Wasserstoff sowie emissionsfreiem Atomstrom entscheidend voranzutreiben. Wenn man bedenkt, dass es bei diesem Gesetz zunächst vor allem um ein Nachkrisen- Programm zur Förderung von Investitionen, Wachstum und Widerstandsfähigkeit der US-amerikanischen Wirtschaft geht, sieht man auch hier wieder den Zusammenhang von Krise und Chance - in diesem Fall für die Ziele der Nachhaltigkeitstransformation. Auch auf regionaler Ebene haben in den letzten Jahren immer mehr Regionen und Städte in Deutschland, Europa und anderen Staaten Nachhaltigkeitsagenden entwickelt. Die deutsche Bundesregierung schreibt dazu: „Zu lebenswerten Städten gehört gute Arbeit, nachhaltige Infrastruktur und Mobilität, Gesundheit und Teilhabe der Menschen. Lebenswerte ländliche Räume und Dörfer mit guten Arbeitsplätzen und Infrastrukturen dämpfen den Drang in die Städte. Dazu bekennen sich Bundesregierung und die internationale Staatengemeinschaft. (…) Mit dem globalen Nach‐ haltigkeitsziel 11 verpflichten die Staaten sich erstmalig zu einer nachhaltigen, inklusiven Stadtentwicklung weltweit! Konkretisiert wurde dieses globale Ziel durch die Neue Urbane Agenda (2016). (…) Allgemeines Ziel ist es, Städte inklusiv, sicher, widerstandsfähig und nachhaltig zu machen. Konkret beinhaltet das unter anderem: Nachhaltige Nutzung der Flächen, sichere, bezahlbare und nachhaltige Mobilität in der Stadt und auf dem Land, senken der Umweltbelastung durch Städte, gesicherte Grundversorgung und digitale Anbindung ländlicher Gemeinden, bezahlbarer Wohnraum für alle“ (Bundesregierung 2023b). In dem Maße, in dem sich Städte als Ganzes - auf Basis entsprechender kommunalpo‐ litischer Konstellationen und exogener Anreizszenarien - transformationspolitisch auf den Weg machen, wird dies die Nachhaltigkeitswende beschleunigen: Dazu können in einem föderalen System nach einer Art von Gegenstromprinzip auf den höheren politischen Ebenen (für Deutschland: EU, Bund und Länder) die Rahmenbedingungen so justiert werden, dass die Motivation auf kommunaler und regionaler Ebene wächst, sich nachhaltiger aufzustellen. Im nachfolgenden Kasten finden sich zwei Beispiele für Städte, die bereits ein explizites Nachhaltigkeitskonzept initiiert haben. Beispiel 4 | Kommunale Nachhaltigkeitsstrategien in Stuttgart und Amsterdam Stuttgart wurde für seine Transformationsstrategie mit dem Deutschen Nach‐ haltigkeitspreis 2022 ausgezeichnet. In der Begründung zur Preisverleihung heißt es unter anderem: „Als Pilotkommune engagiert sich Stuttgart im Rahmen der ‚Agenda 2030‘, die die Generalversammlung der Vereinten Nationen 2015 verabschiedet hat. Das Ziel soll die Verbesserung hin zu einer Welt sein, in der 46 3 Umwelt ∙ das verletzliche System <?page no="47"?> jeder ökologisch verträglich, sozial gerecht und wirtschaftlich effektiv handelt.“ Hervorgehoben werden etwa der Bau städtischer Gebäude im Plusenergie-Stan‐ dard, der Einsatz eines CO 2 -Preises für Wirtschaftlichkeitsberechnungen und eine umfangreiche städtische Förderlandschaft für Energie und Klimaschutz. Darüber hinaus können Bürger über eine Online-Plattform Ideen und Vorschläge zu städ‐ tischen Finanzen in Haushaltsplanverfahren einbringen. Als „kinderfreundliche Kommune“ realisiert Stuttgart zudem Maßnahmen zur Stärkung der Rechte von Kindern in Einklang mit der UN-Kinderrechtskonvention. Auch Amsterdam ist ein Beispiel für eine besonders nachhaltigkeitsaktive Kommune, in diesem Fall auf europäischer Ebene. Als Leitidee dient das oben vorgestellte Donut- Konzept. Danach soll die Stadt in eine Kreislaufstadt verwandelt werden und Ziele einer sozialen und ökologischen Wende mit Blick auf den Umgang mit knappen Rohstoffen, einer klugen Abstimmung von nachhaltiger Produktion, eines ökologisch bewussten Konsums sowie der Schaffung humaner Arbeitsplätze verfolgen. Die Erarbeitung, demokratische Legitimierung und anschließende Umsetzung von städtischen Zukunftskonzepten für Nachhaltigkeit sind mit zahlreichen Herausforde‐ rungen verbunden. Angefangen bei der Aufgabe, politische Mehrheiten zu organi‐ sieren, die Bürger zu interessieren und zu überzeugen bis dahin, die unzähligen Partialinteressen von Individuen und Gruppen zu koordinieren. Zu berücksichtigen sind dabei die teilweise sehr unterschiedlichen Arbeits-, Bildungs- und Freizeitbedarfe von Senioren, Arbeitgebern und Arbeitnehmern, Familien, Eltern und Kindern. Einer solchen integrierenden Stadtentwicklungspolitik wohnt immer auch etwas von der bereits skizzierten Trial-and-Error-Logik sozioökonomischer Evolution inne. Viele handlungsnotwendige Informationen werden erst im Prozess der Transforma‐ tion generiert und müssen „online“ eingespeist werden, ohne dass sie zuvor hätten mitgeplant werden können. Aus den so beeinflussten Handlungen können wechselnde Interessenlagen, veränderte politische Mehrheiten und finanzielle Rahmenbedingun‐ gen entstehen, die ihrerseits wiederum auf die Handlungen zurückwirken, insgesamt also einen Transformationsprozess entweder abschwächen oder weiter verstärken. ▻ Zwischenzusammenfassung und Literaturhinweise Der Drang der Menschen nach Veränderung, die Tiefe menschlicher Eingriffe in die Natur und damit auch Notwendigkeiten zu einer korrigierenden Transformation haben im Laufe der Jahrhunderte im Zuge einer fortgesetzten Emanzipation und Individualisierung von Gesellschaften sowie ausgeweiteter technologischer Möglich‐ keiten zugenommen. Damit tritt zugleich die Verletzlichkeit des Erdsystems in seiner ganzen Komplexität immer deutlicher zutage. Mittlerweile steht, so belegen es natur‐ wissenschaftliche Erkenntnisse in der Breite, nichts Geringeres als der Fortbestand ▻ Zwischenzusammenfassung und Literaturhinweise 47 <?page no="48"?> von Lebensräumen für Menschen und andere Lebewesen auf unserem Planeten auf dem Spiel. Das Ausmaß anstehender Restrukturierungsaufgaben und Verhaltensände‐ rungen sowie die Transformationsdringlichkeit mit Blick auf die Domänen Natur und Umwelt sowie Wirtschaft und Soziales haben einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Mit der Analogie eines Wettbewerbs von Ideen und Lösungen (Variations-Selekti‐ ons-Schema) liefert die evolutorische Ökonomik einen Analyserahmen zur Einordnung von Bemühungen der Menschheit, ihre Umgebung zum eigenen Vorteil zu gestalten. Dieses Streben wird in der ökonomischen Theorie seit jeher mit den Zielen einer Steigerung des Wohlbefindens und der Minderung von Leid verbunden. Dabei hilft es, sich vor Augen zu führen, wie stark Vorstellungen intersubjektiv variieren und wie viel gesellschaftliches Konfliktpotenzial somit existiert, wenn es an die Konkretisierung dieser pauschalen Zielsetzungen auf der Maßnahmenebene geht. Die Herausforde‐ rung besteht darin, das höchst unterschiedliche Vorteilsstreben Einzelner möglichst kompatibel mit dem der Gesamtheit zu gestalten und resultierende Kompromisse in einem immer wieder neu zu justierenden Regelrahmen umzusetzen. In diesem Prozess demokratischer Aushandlung und politischer Umsetzung spielen Trial-and- Error-Lernen, die Art der Wissensaneignung und -weitergabe, aber auch Zufälle eine wichtige Rolle. Inwieweit die Menschheit in der Lage sein wird, den von ihr in weiten Teilen selbst verursachten existentiellen Bedrohungen zu begegnen, hängt ab von deren Ausmaß und Eigendynamik, von der gesellschaftlichen Wahrnehmung und dem Veränderungs‐ willen sowie der Eignung und Effektivität gewählter Lösungsansätze einschließlich ihres Durchsetzungspotenzials. Dabei spielt ebenfalls eine Rolle, welche Anstrengun‐ gen unternommen werden, um die Gefahren möglichst umfassend zu analysieren. Außerdem wird es entscheidend sein, Widerstands- und Regenerationsmechanismen der betroffenen Systeme zu erkennen und gleichzeitig aktiv die natürlichen Selbstor‐ ganisationskräfte zu stärken. Offensichtlich kommt hier der „Systemgestalterin“, der Politik, eine herausragende Funktion zu. Die übergeordnete Zielsetzung der Nachhaltigkeitstransformation ist also die dau‐ erhaftere Erhaltung des Lebensraums der Menschheit im Rahmen einer konstruktiven Koevolution sozialer und natürlicher Systeme. Ihre Erfolge hängen unter anderem davon ab, inwieweit es gelingt, Selbsterhaltungs- und Selbsterneuerungsressourcen des Erdsystems zu bewahren und zu verbessern. Ein zentrales Problem liegt allerdings auch hier wieder in der unterschiedlichen Wahrnehmung dessen, was unter Lebens- und Lebensraumqualität zu verstehen ist: Geht es z. B. „nur“ um die Sicherung des nackten Überlebens, um das bereits jetzt in manchen Regionen der Welt täglich gekämpft wird, oder um die Erhaltung und Steigerung „westlicher“ Lebensstandards? Wenngleich die internationale Gemeinschaft dahingehend noch weit von einem „globalen Konsens“ entfernt scheint, so gibt es zumindest vieldiskutierte Ansätze auf dem Weg dorthin, wie die Idee der Planetaren Grenzen und Planetarischen Leitplanken, das Konzept der Donat-Ökonomie und vor allem auch die 17 globalen Nachhaltigkeitsziele, mit denen der Weltgemeinschaft konkrete Kriterien für den Aufbau einer nachhaltigen und 48 3 Umwelt ∙ das verletzliche System <?page no="49"?> lebenswerten Zukunft an die Hand gegeben sind. Bemühungen um eine auf diesen und anderen Zielen basierende Nachhaltigkeitstransformation sind, wie skizziert wurde, auf allen Ebenen, von Kommunen über Länder bis hin zu internationalen Aktivitäten zu beobachten. Bundesregierung 2023a. Nachhaltigkeitspolitik, Berlin. Das Papier bietet eine Darstellung der 17 globalen Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030, wie sie von den Vereinten Nationen verabschiedet wurden. Europäische Kommission 2019. Der europäische Grüne Deal, Brüssel. Hier lässt sich im Original nachlesen, wie die „neue Wachstumsstrategie“ konzipiert ist, mit der die Europäische Kommission bestehende klima- und umweltbedingte Herausforderungen angehen will. Rockström, J. et al. 2009a. Planetary boundaries: Exploring the safe operating space for humanity, Ecology and Society 14 (2). Mit diesem Beitrag wurde das Konzept der Planetaren Grenzen vorgestellt und bereits kurze Zeit später in einem Artikel des Wissenschaftsmagazins Nature (Rockström et al. 2009b) weiterverbreitet. ▻ Zwischenzusammenfassung und Literaturhinweise 49 <?page no="51"?> 4 Mensch ∙ das wankelmütige Wesen Von der Erosion des Wollens Bisher ging es um den Wandel unserer natürlichen und sozioökonomischen Welt sowie um übergeordnete Ziele, Programmatiken und Maßnahmenpakete, mit deren Hilfe man Entwicklungen in eine bestimmte Richtung lenken möchte. „Die Menschheit“ kam dabei zwar in Form der sie ausmachenden Wirtschaftssubjekte vor, wurde jedoch noch nicht systematisch - d. h. bis hin zur Dispositionslogik der Einzelentscheidung - in die Untersuchung einbezogen. Im Sinne des methodologischen Individualismus’ sind es indes stets einzelne Akteure und ihre wechselseitig aufeinander bezogenen Handlungen, aus denen ge‐ samtwirtschaftliche bzw. -gesellschaftliche Phänomene wie Wandel, Entwicklung und Transformation ihre Dynamik erfahren. Es erscheint für das Verständnis von transformativer Wirtschaftspolitik insofern fundamental, sich hier näher mit indivi‐ duellem Entscheiden, menschlicher Interaktion sowie den damit korrespondierenden Rahmenbedingungen zu befassen. Denn erst, wenn klarer ist, auf Basis welcher Dis‐ positionslogik individuelles Handeln eine Richtung erfährt, lassen sich auch Optionen seiner gezielten Beeinflussung analysieren. Abb. 9: Kognitionswissenschaftlich fundiertes Handlungsmodell (eigene Darstellung unter Bezug auf Hesse 1990, S. 60 und Koch 1995, S. 28 ff.) Determinanten bisheriger individueller Handlungsgrundlagen Spontane, intrapersonelle Vorgänge und intendierte wie auch nichtintendierte Konsequenzen aus eigenen und fremden Handlungen Determinanten anschließender eigener und fremder Handlungsgrundlagen (a) Handlungsgrundlagen zum Zeitpunkt der beobachteten Handlung Genetische Bedingungen, Wissen, Theorien, Handlungsrechte, Ziele, Ordnungstechniken A. Prinzip der kognitiven Kreation Kognitiv-emotionale Prozesse kreieren auf Basis der Gehirnfunktionen eine subjektabhängige Wirklichkeit (b) Mentale Situation Wahrnehmung und Beschreibung alternativer Handlungsmöglichkeiten einschließlich Alternativenordnung B. Rationalprinzip (c) Realisation einer gewählten Handlungsalternative t n-m t n+m t n Abbildung 9: Kognitionswissenschaftlich fundiertes Handlungsmodell (eigene Darstellung unter Bezug auf Hesse 1990, S.-60 und Koch 1995, S.-28-ff.) <?page no="52"?> Mit anderen Worten: Für das Nachdenken über Politik, ihre Möglichkeiten und Grenzen ist zunächst ein Modell menschlichen Handelns notwendig. Wie sich ein solches darstellen lässt, zeigt →-Abbildung-9. Das Modell erweitert das in den traditionellen Wirtschaftswissenschaften oftmals zugrunde gelegte Menschenbild vom Homo oeconomicus hin zum Homo evoluto‐ ricus (Koch 1996, S. 35). Unter Einbeziehung moderner kognitionswissenschaftlicher Erkenntnisse resultieren individuelle Handlungen nämlich nicht nur aus der optimalen Auswahl aus bereits bekannten Handlungsmöglichkeiten. Die optimale Handlungswahl wird im obigen Modell vielmehr als ein Baustein integriert - repräsentiert mittels der Verbindung von (b) und (c) durch das Rationalprinzip (B). Günter Hesse (1990, S. 59) nennt diesen Bestandteil des Modells den situationslogischen: In einem ersten Schritt werden Individuen die in einer bestimmten Situation wahrgenommenen Alternativen - beschreibbar durch Kombinationen aus handlungsleitenden Restriktionen, wie weiter oben erläutert - nach den ihnen bekannten Mustern in eine Präferenzordnung bringen und dann die am höchsten bewertete Option realisieren. Dabei gehen Ökonomen in Übereinstimmung mit dem im vorherigen Kapitel Gesagten davon aus, dass Individuen angesichts unzähliger denkbarer Ordnungsmuster doch „die Erhaltung und Förderung ihres persönlichen Wohlergehens (…) besonders am Herzen liegt“ (Hesse 1990, S. 58). Dieser Aspekt spielt bereits bei Adam Smith unter dem Eigennutzprinzip menschlichen Handelns eine wichtige Rolle, kann im Einzelnen indes mannigfaltigste - sozial verträg‐ lichere oder weniger verträgliche - Ausprägungen annehmen. Das aus theoretischer und empirischer Sicht spannende Element kommt in einem zweiten Schritt durch das (nicht zeitlich, aber erklärungslogisch) vorgelagerte Prin‐ zip der kognitiven Kreation ins Spiel. Dieses steht für spezifische Eigenschaften unseres Wahrnehmungsapparates. Demnach entstehen die wahrgenommenen Hand‐ lungsalternativen aus der Integration gespeicherter Erfahrungen und aktueller phy‐ siologischer Ereignisse, dieses notwendigerweise auch unter dem Einfluss autonomspontaner (nicht vorhersagbarer) sowie emotionaler Teilfunktionen. Das bedeutet, dass in ein und derselben Situation unterschiedliche Individuen ganz verschiedene Handlungsalternativen wahrnehmen können. Einmal abgesehen von hinzukommen‐ den kommunikativen Prozessen zwischen Individuen, haben wir es mit einer rein subjektabhängigen Wirklichkeit zu tun. Die Besonderheit des menschlichen Gehirns bedingt zudem, dass sogar ein und dasselbe Individuum in einer nahezu identischen Situation zu unterschiedlichen Zeitpunkten u. U. völlig abweichende Optionen wahrnimmt. Von der „emotionalen Ein‐ färbung“ jeder Handlungssituation sind auch die verbleibende Unvorhersehbarkeit des Entscheidungshandelns und die Reihung der letztlich wahrgenommenen Handlungsal‐ ternativen selbst betroffen. Diese Reihung kann je nach „Gestimmtheit“ variieren. Dies erklärt, warum externe Beobachter, für die diese subjektinternen Variations-Selektions- Prozesse allenfalls partiell nachvollziehbar sind, das Entscheidungsverhalten anderer als systematisch „unscharf “ wahrnehmen. 52 4 Mensch ∙ das wankelmütige Wesen <?page no="53"?> Für den hier verfolgten Zweck ist es nicht nötig, die Verarbeitung von Information im Rahmen von menschlichen Wahrnehmungs-, Denk- und Entscheidungsprozessen noch weiter zu vertiefen (an dieser Stelle sei beispielhaft auf die Arbeiten von Jonathan Baron 2007 und Daniel Kahneman 2012 hingewiesen). Für das Weitere genügt es, sich bewusst zu machen, dass Abweichungen vom Verhaltensmodell der neoklassischen Ökonomik vor diesem Hintergrund keine „Irrationalitäten“ sind, sondern reales Ver‐ halten rationaler Wirtschaftssubjekte, deren Kognitionen notwendigerweise immer emotional gefärbt sind und somit intersubjektiv variieren. Diese Überlegungen führen zu einer wichtigen Anschlussfrage: Wie stabil ist Verhal‐ ten, das im individuellen, aber auch im kollektiven Sinn als sinnvoll, hilfreich bzw. nützlich erkannt wurde? Dies zu fragen, ist deshalb bedeutsam, weil, vereinfacht ge‐ sagt, bei einer anzunehmenden längeren politikunabhängigen Verhaltensstabilität Gründe für die Sinnhaftigkeit eines angestrebten gesellschaftlichen „Gesamtzustandes“ lediglich hinreichend gut zu kommunizieren wären. Die Verhaltensänderung müsste dann attraktiv gestaltet werden, um zuverlässig von einem unerwünschten Zustand A zu diesem erwünschten Zustand B zu gelangen. Verhalten würde dann, sozusagen in Erin‐ nerung an das „Förderliche“, einfach nur abgerufen. Transformative (Wirtschafts-)Politik wäre in diesem Fall nach relativ kurzer Zeit planbar erledigt. Doch so einfach ist es nicht. Zieht man an dieser Stelle die globalen Transformationsziele auf dem Weg zu nachhaltigeren Gesellschaften heran (siehe z.-B. →-Abbildung-5 und→-Abbildung-7), so erscheint ihre Erreichbarkeit - heruntergebrochen auf die individuellen Lebenskon‐ texte der Menschen - zunächst nur mittels unzähliger konkreter Verhaltensänderun‐ gen umsetzbar. Beispiele finden sich in allen volkswirtschaftlichen Bereichen: dem Konsum, der Produktion oder auch im Kontext öffentlicher Verwaltungen. Wenn es etwa darum geht, CO 2 einzusparen, gilt es, schadstoffärmere PKW zu nutzen, unnötige Mobilität zu vermeiden, recycelbare Güter zu produzieren und zu konsumieren, Immobilien von vornherein ökologisch zu bauen bzw. entsprechend nachzurüsten und vieles mehr. Obwohl zahlreiche Individuen verstanden haben bzw. sich evidenzbasiert haben überzeugen lassen, dass und wie ihr entsprechendes Verhalten in die Ökobilanz der Makrostruktur einzahlt, scheint die oben gestellte Frage nach der politikunab‐ hängigen Stabilität eines einmal als sinnvoll und nützlich begriffenen Verhaltens trotzdem nicht hinreichend beantwortbar. Denn: Ein häufig und wiederholt auftretendes Phänomen ist der Intention-Beha‐ viour-Gap, d. h., die Handlungen einer Person und ihre ursprünglichen Absichten klaffen auseinander oder, wie es die Überschrift zu diesem Abschnitt ausdrückt: Es kommt zu einer Erosion des Wollens. Wie sich dies im menschlichen Alltag gestaltet, veranschaulichen einige Beispiele in der folgenden Box. Beispiel 5 | Intention-Behaviour-Gaps im Alltag „Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach“: Dieser Aphorismus aus dem Matthäus-Evangelium (26,41) wird Jesus zugeschrieben, der seine Jünger in der Von der Erosion des Wollens 53 <?page no="54"?> Stunde größter Gefahr schlafend vorfindet. Zugleich steht die Begebenheit für einen klassischen Intention-Behaviour-Gap, also für Situationen, in denen man nicht so handelt, wie man es sich vorgenommen hatte. Weitere Beispiele hierfür gibt es in Hülle und Fülle. Fast sprichwörtlich sind etwa die guten Vorsätze zu Neujahr, auf die hin Eingeweihte mit einer geradezu prophetischen Süffisanz Wetten darauf abschließen, an welchem Zeitpunkt der Vorsatz gebrochen werde. Es geht z. B. um Diätziele und/ oder um Pläne für sportliche Ertüchtigung, wobei entsprechende Vorhaben dann oftmals am ebenfalls sprichwörtlichen „inneren Schweinehund“ scheitern. Aber nicht nur auf der individuellen, sondern auch auf gesellschaftlicher Ebene ist das Phänomen des Intention-Behaviour-Gap verbreitet, wie es an einem Beispiel ökologisch ausgerichteter Transformations‐ bemühungen besonders deutlich gemacht werden kann. So stellte das WDR- Wissenschaftsmagazin Quarks fest, dass noch im Jahr 2019 in Deutschland aus Kostengründen mehr Plastikmüll verbrannt als recycelt worden ist, obwohl die Zielvorgaben der entsprechenden Nachhaltigkeitsagenda eine ganz andere Sprache sprechen. Die unintendierte Divergenz zwischen unternommenen Handlungen und ihren ur‐ sprünglichen Zielen tritt offenbar als ein sowohl individuell als auch kollektiv all‐ tägliches Phänomen auf. Dabei wird die Sinnhaftigkeit dieser Divergenz von den „Abweichlern“ auch weiterhin nicht infrage gestellt. Es erschließt sich also unmittelbar, warum der Intention-Behaviour-Gap auch bei der Planung politischer Agenden im Rahmen eines Transformationsprozesses berücksichtigt werden sollte. Hilfreich erscheint hier die Anwendung des folgenden Modells, das die Erklärung der Entste‐ hung individueller Wirklichkeiten, die ja, wie oben angedeutet, selbst als hochgradig komplexe kognitiv-emotionale Prozesse ablaufen, auf eine handhabbare Heuristik reduziert. Wie → Abbildung 10 des COM-B-Modells zeigt, lassen sich vereinfachend drei Kategorien von Faktoren unterscheiden, welche die Kluft zwischen ursprünglich angestrebtem und tatsächlichem Verhalten von Akteuren bedingen können: ■ Erstens die psychologischen, sozialen und physischen Möglichkeiten einer Person, also körperliche Fertigkeiten, etwas zu tun, sowie mentale und sozial vermittelte Fähigkeiten, Sachverhalte zu durchdringen etc. (im Modell: Capability). ■ Zweitens die wahrgenommenen Gelegenheiten, d. h. außerhalb des Individuums liegende Faktoren, die eine Anwendung bzw. Umsetzung des angestrebten neuen Verhaltens ermöglichen; dazu gehören unter anderem Restriktionen der belebten und unbelebten Natur, soziokulturelle Konstrukte wie etwa Traditionen, Sprache und soziale Milieus etc. (Opportunity). ■ Drittens die in einer Situation wirksame Motivation. Unreflektiert, also vom kognitiven Apparat gewissermaßen „automatisch“ bedingt, spielt hierbei die schon erwähnte emotionale Einfärbung der gerade relevanten Entscheidungssituationen 54 4 Mensch ∙ das wankelmütige Wesen <?page no="55"?> eine Rolle; reflektiert kommen die oben ebenfalls bereits erläuterten Prozesse der Alternativenabwägung hinzu (Motivation). Abb. 10: Einflussfaktoren des „Wollens“ und „Könnens“ im „COM-B Modell“ (in Anlehnung an Kollert 2017) Capability Physisches und soziales Umfeld, welches das Verhalten ermöglicht Opportunity Umfasst reflektierende und automatische Mechanismen, die das Verhalten erleichtern oder hemmen Motivation Psychische oder physische Fähigkeit, das Verhalten zu steuern, einschl. der erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten Target Behaviour Psychological Capability Physical Capability Physical Opportunity Social Opportunity Reflective Motivation Automatic Motivation Abbildung 10: Einflussfaktoren des „Wollens“ und „Könnens“ im „COM-B Modell“ (in Anlehnung an Kollert 2017) Die Pfeile zwischen den Faktor-Kategorien deuten an, dass es sich um ein hoch dynamisches System mit diversen Rückkopplungsschleifen sowie intrinsischen und extrinsischen Elementen handelt. Das COM-B-Modell baut auf den im obigen Hand‐ lungsmodell dargelegten kognitionswissenschaftlichen Zusammenhängen auf und legt zugleich einen Gestaltungskontext nahe, der die hier interessierenden Verhaltensins‐ tabilitäten fokussiert: Offensichtlich, so zeigt es die sozialpsychologische Forschung, kann gewolltes Handeln (in der Grafik: Target Behaviour) aufgrund nicht vorhande‐ ner Fähigkeiten, sich nicht bietender Möglichkeiten und/ oder nicht gegebener bzw. abhanden gekommener Motivation in seiner Umsetzung scheitern (siehe etwa Michie et al. 2011; Papies et al. 2022). Für ein besseres Verständnis der hohen Dynamik des Systems sollen neben den Größenordnungen der verschiedenen Einflussfaktoren sinnvollerweise auch deren Qualitäten berücksichtigt werden. Dazu gehören etwa der Grad der Betroffenheit durch ein mögliches unerwünschtes Verhalten, eine gewisse Vorstellung von der Wahrscheinlichkeit des Eintritts und vom zu erwartenden Eintrittszeitpunkt sowie außerdem das jeweilige Verhalten von Peer Groups, Vorbildern oder anderen rele‐ Von der Erosion des Wollens 55 <?page no="56"?> vanten Mitakteuren. Innerhalb der jeweiligen Akteursgruppen wiederum sind vorherr‐ schende Denkmuster, Moralvorstellungen sowie Intensitäten des Zusammenhalts von Bedeutung. In einer relevanten politischen Situation sind Gruppen mit ähnlichen Ausgangsbedingungen also zu identifizieren und mit Blick auf geeignete Maßnahmen voneinander zu unterscheiden. Bei der Nachhaltigkeitstransformation etwa spielt es eine Rolle, wie Menschen von den Änderungen der natürlichen und sozioökonomischen Umwelt jetzt schon betroffen sind oder - im Rahmen der oben skizzierten Prozesse des Aufschaukelns - möglicherweise bald betroffen sein werden. Es wurde gezeigt, dass der objektive Grad der Betroffenheit sehr unterschiedlich ist - je nachdem, in welcher Region der Welt Menschen leben, welcher sozialen Schicht sie angehören und ob sie schon unmittelbar von durch den Klimawandel ausgelösten Katastrophen heimgesucht wurden. Aber auch die subjektive Betroffenheit der Individuen kann je nach mentaler oder situativer Konstitution differieren und zudem von Faktoren wie der ideologischen Ausrichtung, dem Bildungsniveau oder generell dem Grad an Informiertheit abhängen. An letztere Überlegungen wird nachher noch anzuknüpfen sein. Zudem lassen sich diejenigen Akteure herausgreifen, die mit ihrem Handeln selbst unbewusst oder bewusst zur Veränderung der natürlichen und sozioökonomischen Rahmenbedingungen beitragen - als Konsumenten, Produzenten, Aktivisten oder Politiker. Dabei können die Individuen, ob sequenziell oder parallel, mehrere Rollen ausfüllen. So kann man gleichzeitig Handelnder und Betroffener sein; oder auch durch sein Konsumverhalten einerseits Umweltsünder, während man andererseits z. B. als gewählter Volksvertreter an der Umsetzung einer Nachhaltigkeitsstrategie mitwirkt. Bei allen am Prozess der Nachhaltigkeitstransformation beteiligten Akteuren wird zukünftig von verstärkten Veränderungsanforderungen an ihre individuellen Porte‐ feuilles mit Handlungs- und Entscheidungsoptionen auszugehen sein. Zumindest im Sinne einer Transformation, wie sie hier verstanden wird, impliziert dies, Gewohntes im Vergleich zu einer „nicht-transformativen Situation“ verstärkt aufzugeben. Stei‐ gende individuelle Vulnerabilitäten, Risiken von Fehlentscheidungen und Freiheits‐ grade künftiger Entwicklungsszenarien verstärken diesen Eindruck. Hier lässt sich bereits erkennen, wie bedeutsam die Wahrnehmung der Attraktivität intendierter Verhaltensänderungen und damit das Ausmaß ihrer Akzeptanz für die Planung transformativer Politik sind. Wie hoch ist die Gefahr, dass eine Person selbst oder deren nahes Umfeld von negativen Entwicklungen betroffen sind? Wie aufwendig und unbequem ist es, sich von lieb gewordenen Gütern, Umgebungen und Verhaltensweisen zu trennen? Operationalisieren lassen sich solche Überlegungen in Kosten-Nutzen-Größen, wobei die Individualität kognitiver Vorgänge, wie sie oben dargelegt wurden, zu erheblichen Unterschieden bei den jeweiligen „relativen“ Kosten und Nutzen einer Umorientierung der Subjekte führen kann. In den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften wird in diesem Zusammenhang oft die Dimension des moralischen Verhaltens thematisiert. Hierzu finden sich in der Literatur sehr unterschiedliche Konzepte, die einer gewissen Definitionsun‐ 56 4 Mensch ∙ das wankelmütige Wesen <?page no="57"?> schärfe unterliegen. Häufig wird die Unterscheidung zwischen egoistischem und altruistischem Verhalten angeführt. Demnach wäre es moralischer, unmittelbar egoistische Motive hinter solche zu stellen, die Mitmenschen von eigenem Verhalten profitieren lassen. Auf dem Weg in eine nachhaltige Ökonomie ergibt sich hier offensichtlich eine Dilemmastruktur, wie das folgende Beispiel zeigt: Weil nicht alle - etwa im globalen Süden und Norden - von umweltschädlichem Verhalten gleicher‐ maßen betroffen sind, sind auch die Anreize für eine Verhaltensänderung höchst verschieden. Moralisches Verhalten an den Tag zu legen, wäre hier mit zusätzlichen (Opportunitäts-)Kosten verbunden. Auch ist die notwendige kollektive Kohäsion der im Rahmen der Nachhaltigkeitstransformation relevanten Verhaltensänderungen problematisch, wie sich unter anderem spieltheoretisch zeigen lässt: Gerne wird ein Trittbrettfahrerverhalten an den Tag gelegt mit dem (eigennützigen) Kalkül, ohne eigene Anpassungen von den Anpassungen des Verhaltens der Allgemeinheit zu profitieren. Und selbst bei einer Einsicht in deren Notwendigkeit, überwiegt das Gefühl des persönlichen Vorteils durch Unterlassung; das eigene Handeln wird, bezogen auf das große Ganze, als nicht ausschlaggebend empfunden. Als Motivation für moralisches Verhalten kann hingegen der Wunsch wirken, von anderen positiv gesehen zu werden und auch sich selbst positiv zu betrachten. Auch kooperieren wir im Sinne einer gewissen Reziprozität lieber, wenn wir von einer Gruppe positiv aufgenommen werden und die kooperativen Momente von unserem Gegenüber erfahren (siehe u.-a. Falk 2022a; 2022b). Ein weiteres Phänomen, das dem Auseinanderfallen von Wollen und Verhalten ent‐ gegenwirkt, ist das pathologische Lernen. Demnach sind Einzelne und Gruppen bis hin zu ganzen Volkswirtschaften eher bereit, Verhalten grundlegend zu ändern, wenn der Leidensdruck hoch ist. Das pathologische Lernen lässt sich auf individueller wie auf kollektiver Ebene ausmachen. Verschiedene Beispiele finden sich im nachstehenden Kasten. Beispiel 6 | Pathologisches Lernen auf individueller und kollektiver Ebene In etwas weiterer Auslegung lässt sich pathologisches Lernen mit dem Sprich‐ wort „Wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, deckt man ihn zu“ recht gut umschreiben. Entwicklungen, die als schmerzhaft und leidvoll erfahren werden, führen nicht selten zu prompten und konsequenten Gegenmaßnahmen. Auf individueller Ebene kann man beispielsweise beobachten, dass eine ernsthafte Erkrankung manche Menschen dazu bewegt, ihren Lebensstil zu ändern, weniger schädliche Genussmittel zu konsumieren und mehr Sport zu treiben. Diese Ziele waren zwar vor der Krankheit immer wieder angestrebt, aber nie verwirklicht worden. Auch auf kollektiver Ebene sind es oftmals die eine ganze Region mit vielen Menschen betreffenden Katastrophen, die schließlich zur Umsetzung der Maßnahmen führen, die Experten zuvor immer wieder vergeblich gefordert hatten. Erinnert sei an die Sintflut im Ahrtal im Jahr 2022 oder an das schwere Von der Erosion des Wollens 57 <?page no="58"?> Erdbeben in der Türkei 2023. Erst im Nachhinein wurden Änderungen von Bebauungsplänen, Absicherungen von Hängen, erdbebensichere Baukonzepte, Frühwarnsysteme und vieles mehr veranlasst. Eine ganz ähnliche, wichtige Rolle spielt das pathologische Lernen bei der Nachhaltigkeitstransformation. Inwieweit es jedoch selbst nachhaltig wirkt, ist eine Frage, deren Beantwortung vom konkreten Beispiel und den jeweils ergriffenen Maßnahmen abhängt. Dass selbst infolge immerfort ähnlicher Katastrophen getroffene gute Vorsätze nicht von langer Dauer sein müssen, ist ebenfalls vielfach belegt. In den USA etwa kann ein wiederkehrendes Phänomen beobachtet werden: So führt der vergleichsweise leichte Zugang zu Handfeuerwaffen dort erschreckend häufig zu furchtbaren Amokläufen etwa an Schulen, denen fast reflexartig intensive politische Debatten um eine Ver‐ schärfung der Waffengesetze folgen. Mit wachsendem zeitlichem Abstand verlaufen sich diese Diskussionen - bis sie bei der nächsten Katastrophe wieder aufgenommen werden. Das letzte Beispiel verweist besonders gut auf den Zusammenhang zwischen psy‐ chologischen Konstrukten wie Leiden, Angst und Moral. Gefühlslagen vermischen sich mit Einstellungen, was der kognitiven Disposition des Menschen, wie oben gesehen, entspricht. Wenn es im Volksmund „Hemd ist näher wie Hose“ heißt, deutet das genau auf diese Schnittstelle hin: In bestimmten Situationen werden moralische Ansprüche hintangestellt; typischerweise dann, wenn Menschen den Eindruck haben, dass eigene Vermögenspositionen (im weitesten Sinne) unmittelbar bedroht sind. Nach den Überlegungen zur Instabilität von Verhalten aufgrund anthropologischer Grundkonstitutionen und zu solchen Faktoren, die eine Stabilisierung bewirken kön‐ nen, soll im folgenden Abschnitt die Funktionalität von Institutionen als Steuergrößen näher betrachtet werden. Dies entspricht dem besonderen Interesse des vorliegenden Werkes an politischen Grundlogiken. Institutionen als Stabilisatoren Die weiteren Überlegungen gehen von der Feststellung aus, dass es die wahrgenom‐ menen Anreizstrukturen sind, die ein politisch gewünschtes Verhalten begünstigen oder verhindern. Gemäß dem obigen Handlungsmodell handelt es sich bei den wahr‐ genommenen Anreizstrukturen genau genommen um nicht beobachtbare, nach dem Variations-Selektions-Prinzip verlaufende Akte der Deutung von Sinneseindrücken, die zunächst individuelle Wahrnehmungen produzieren (Prinzip der kognitiven Kreation). Im Verlauf der Kommunikation der subjektiven Erkenntnisprozesse der Individuen kann sich eine „gemeinsame“ Wahrnehmung im Sinne einer gesell‐ schaftlichen Wirklichkeit herausstellen, anders ausgedrückt: die Einzelkonstitutio‐ nen können auf dem Weg von Kommunikationsakten „gleichnamiger“ werden. In ihrem bahnbrechenden Werk The Social Construction of Reality von 1966 sprechen 58 4 Mensch ∙ das wankelmütige Wesen <?page no="59"?> Peter Ludwig Berger (1929-2017) und Thomas Luckmann (1927-2016) von der „inter‐ subjektiven Entstehung gesellschaftlich relevanter Wirklichkeiten“ (Berger/ Luckmann 1980, S. 139 ff.). Eine solche Intersubjektivierung von Wahrnehmungs‐ konstrukten führt mit Blick auf die hier interessierenden Anreizstrukturen zu ver‐ stärkten Ähnlichkeiten in der Wahrnehmung bestimmter Verhaltenselemente. Eine Kommunikation, die dies bewirkt, findet an der Basis statt (Bottom-up), kann aber auch über politisch implementierte Kommunikationsakte gezielt gesteuert werden (Top-down). Für beide Wirkrichtungen spielen heute im Übrigen Beschleunigungs- und Verstärkungsmechanismen im Rahmen der Nutzung sozialer Medien eine er‐ hebliche Rolle. So kann eine Angleichung individueller Wirklichkeiten etwa im Zuge des Phänomens der Filter Bubble (Pariser 2011) erfolgen, bei der Algorithmen auf der Suche nach bestimmten Wirklichkeitsdeutungen nach und nach genau diese Deutungen verfestigen. Die entscheidenden Steuergrößen, um einem Verhalten Richtung und Stabilität zu geben, lassen sich unter dem Begriff der Institutionen zusammenfassen, wie im Abschnitt zur Logik des geschichtlichen Wandels und der damit einhergehenden Bedeutung von Restriktionen bereits angedeutet wurde. Ausgehend vom obigen COM- B-Modell sind Institutionen in der Lage, alle drei Faktor-Dimensionen (Capability, Opportunity und Motivation) in die eine oder andere Richtung zu beeinflussen. Genauer gesagt, sollen unter Institutionen nunmehr Regel- und Ordnungssysteme verstanden werden, die das Agieren von Individuen sowie gesellschaftlichen Gruppen lenken und es damit im Interaktionszusammenhang aufeinander abstimmen und so kalkulierbarer machen. Douglass C. North (1920-2015) spricht in diesem Zusammen‐ hang auch von formellen und informellen Spielregeln einer Gesellschaft, welche die Anreizstrukturen für das Zusammenspiel in ihren verschiedenen Teilbereichen darstellen. → Abbildung 11 nimmt diese Unterscheidung auf und ergänzt sie um die Differenzierung in externe und interne Institutionen. Abb. 11: Institutionen als Steuergrößen von Verhalten (in Anlehnung an Budzinski 2000) Externe Institutionen (allgemeingesellschaftlich) Interne Institutionen (wirtschaftsbezogen) Formelle Institutionen Verfassung, Gesetze, Regeln des geschriebenen Rechts usw. Verträge, Geschäftsbedingungen, Qualitäts- und Umweltstandards usw. Informelle Institutionen Moral, Sitten, Gebräuche, Traditionen, Zeitgeist usw. Nationale und internationale Handelsbräuche usw. Abbildung 11: Institutionen als Steuergrößen von Verhalten (in Anlehnung an Budzinski 2000) Danach stellen Verfassungen, Gesetze, Satzungen und weitere Varianten geschriebenen Rechts formelle Institutionen dar, während Regeln für Moral, Sitten, Gebräuche, Institutionen als Stabilisatoren 59 <?page no="60"?> Traditionen und Zeitgeist als informelle Institutionen bezeichnet werden können. Von diesem allgemeingesellschaftlichen rechtlichen Rahmen (insofern „extern“) sind solche Institutionen zu unterscheiden, die auf jener Basis aus dem ökonomischen Interagieren von Individuen entstehen (d. h. „intern“ bzw. „wirtschaftsbezogen“). Hierbei handelt es sich um Verträge zwischen Marktakteuren, Handelsbräuche, All‐ gemeine Geschäftsbedingungen, Qualitäts- und Umweltstandards oder andere den ökonomischen Alltag standardisierende Vereinbarungen. Wenn zuvor Institutionen als wichtigste politische Steuergrößen des Verhaltens von Wirtschaftssubjekten bezeichnet wurden, so legt die in der Grafik dargestellte Differenzierung zugleich nahe, dass ihre politische Nutzbarmachung im Einzelnen recht unterschiedlich ausfällt. Zur Verdeutlichung hilft es, die Kategorien Kosten und Zeit, wie im Kapitel zur Logik des geschichtlichen Wandels ausgeführt, heran‐ zuziehen. ■ Nehmen wir zunächst das Beispiel eines Steuergesetzes, das implementiert wer‐ den soll, um die (nach vorherrschender naturwissenschaftlicher Meinung auch klimaschädliche) Nutzung eines Gutes in der Gesellschaft unattraktiver zu machen und damit zu reduzieren, auch als Demeritorisierung bezeichnet. In einer demokratisch-marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaft ließe sich eine solche Maßnahme - eine stabile politische Mehrheit vorausgesetzt - vergleichsweise einfach umsetzen. Je nach Höhe der erforderlichen Steuererhöhung sind zwar möglicherweise Widerstände bestimmter Interessengruppen zu erwarten, was aber innerhalb einer Legislaturperiode keine unüberwindbare Hürde darstellen sollte. ■ Viel aufwendiger dürfte sich hingegen ein Vorhaben wie die bundeseinheitliche Einführung bestimmter neuer curricularer Inhalte zur Nachhaltigkeit im schuli‐ schen Bildungskontext gestalten. Ohne an dieser Stelle zu sehr ins Detail gehen zu können, wäre die politische Herausforderung etwa in der Bundesrepublik Deutsch‐ land aufgrund der vorherrschenden föderalen Aufgabenteilung sowie langfristig gewachsener höchst komplexer Interessendivergenzen ungleich höher. Allein die Herstellung der Bundeszuständigkeit bedürfte einer Verfassungsänderung, zu der zahllose Akteure mit ins Boot geholt werden müssten. Der damit einhergehende Kosten- und Zeitaufwand wäre wahrscheinlich immens und innerhalb einer Legislaturperiode kaum zu bewältigen. ■ Als noch viel träger erweisen sich vielfach informelle Institutionen. Man denke an die in Indien aus ethisch-humanen ebenso wie aus ökonomischen Gründen vielfach unternommenen Versuche, das Kastenwesen abzuschaffen. Immer wieder liefen entsprechende Gesetzesinitiativen ins Leere, die das Praktizieren traditioneller Regeln der Kastenzugehörigkeit unter Strafe stellten, so dass bis heute speziell im ländlichen Raum die Ressourcenallokation im Bereich Humankapital stark beeinträchtigt ist. Die uralten religiös begründeten Regeln der sozialen Ab- und Ausgrenzung verdeutlichen die enorme Beharrlichkeit von informellen Institutio‐ 60 4 Mensch ∙ das wankelmütige Wesen <?page no="61"?> nen und von bestehenden Wirkungshierarchien zwischen den oben aufgezeigten verschiedenen institutionellen Kategorien. Das erste der drei Beispiele kann zumindest implizit auf einen weiteren wichtigen Zusammenhang der verhaltensstabilisierenden Wirkung von Institutionen hinweisen: den Grad der „Freiwilligkeit“ einer institutionell bewirkten Verhaltensänderung. Zu‐ nächst muss geprüft werden, wie die Anreizwirkung einer Regel im Einzelnen geartet ist. Vor allem ist zu fragen, was passiert, wenn die Regel nicht befolgt wird. Welche Sanktionierung ist damit verbunden? Folgt im Falle einer Gesetzesübertretung eine monetäre Strafe und beim Bruch einer sozialen Konvention die Ächtung seitens der relevanten Gemeinschaft? Wesentlich ist zudem, wie konsequent die Nichtbefolgung einer Regel kontrolliert und sanktioniert wird. Am Phänomen des Intention-Behaviour-Gaps sahen wir bereits, dass für die Verfolgung einer bestimmten internen oder externen Zielsetzung der Grad der Moti‐ vation entscheidend ist. Offensichtlich dabei: Das „Wollen“ ist umso stärker ausgeprägt, je größer die Einsicht in die Sinnhaftigkeit oder zumindest die Notwendigkeit des Unterfangens ausfällt. Wenn hingegen diese Qualität fehlt und nur eine drohende Sanktionierung von der Regelübertretung abhält, steht und fällt das politisch ange‐ strebte Verhalten der Wirtschaftssubjekte mit der Funktionalität des institutionellen Gesamtgefüges. Es ist also politisch sinnvoll, ein hohes Maß an Intrinsifizierung anzustreben und sich weg vom „erzwungenen Wollen“ (was landläufig einem Müssen entspricht) hin zum „freiwilligen Wollen“ zu bewegen. Intrinsifizierung ist somit Ausdruck für den ausgelösten sukzessiven Übergang von zunächst unfreiwillig übernommenem Verhalten hin zu freiwilligem Verhalten aufgrund einer Regeleinführung einschließ‐ lich der Sanktionierung bei Nichtbefolgung. Hierbei spielen Vorgänge wie Lernen, Entfaltung und Motivationsentstehung ebenso eine Rolle wie Gewöhnung und/ oder Präferenzverschiebung (vertiefend dazu Ryan/ Deci 2000). Ein Beispiel wäre das Verbot von Zigarettenwerbung oder die Erhöhung der Tabaksteuer, wobei sicherlich viele Verbraucher das aufgrund der Maßnahmen zwischenzeitlich eingestellte Rauchen im Nachhinein aus freien Stücken nicht wieder aufnehmen würden. Dieses Beispiel zeigt auch, dass es einen Unterschied darstellt, ob die angestrebte Verhaltensänderung durch Verbote bzw. Maßnahmen, die das unerwünschte Verhalten unattraktiver („teurer“) machen, oder lediglich durch Empfehlungen und Aufklärung erreicht wird. Folgt ein politischer Ansatz einer libertären Überzeugung, wird man gehalten sein, die Verhaltenssteuerung eher durch Vermeidung der ersten Variante vorzunehmen, worauf später noch zurückzukommen sein wird. Nicht selten gehen doktrinäre Überlegungen mit der Strategie des Nudgings einher. Tendenziell wird versucht, gänzlich auf ökonomische Anreize oder Zwänge zu verzichten, die als unzumutbare Freiheitseingriffe gesehen werden. Stattdessen setzt man auf psycholo‐ gische Mechanismen, wonach etwa die Alternativenwahl durch deren Darstellung, Anordnung, Reihenfolge etc. zu beeinflussen gesucht wird (Thaler/ Sunstein 2009). Indem Wissen über das Unterbewusste, Instinktive oder allzu Menschliche genutzt Institutionen als Stabilisatoren 61 <?page no="62"?> wird, lassen sich einerseits erstaunliche Verhaltenseffekte bewirken; Kritiker werfen andererseits ein, dass die Grenze zu moralisch fragwürdigen Manipulationstechniken beim Nudging fließend verläuft, was Zweifel an seiner allgemeinen Eignung als Strategie im Politikeinsatz aufwirft. Unabhängig davon zeigt sich beim Thema der Intrinsifizierung einmal mehr die überragende Bedeutung von Kommunikation in der politischen Sphäre. Insbeson‐ dere für die sozialen Vorgänge des Lernens und der Präferenzverschiebung spielt sie eine entscheidende Rolle, indem Zusammenhänge erläutert, Einsicht befördert und so die Mündigkeit für rationales Entscheiden erhöht wird. Hat eine neue Regel bei ihrer Einführung noch für Widerwillen bei vielen Betroffenen gesorgt, kann eine konstruktiv-sachgerechte Begleitkommunikation dazu beitragen, kognitive Disso‐ nanzen abzubauen, und auf diese Weise die Motivation befördern, das neue Verhalten dauerhaft in ein Repertoire bevorzugten Verhaltens zu übernehmen. Bereits die Art und Weise, wie Vorgaben und Regeln formuliert werden, kann einen riesigen Unterschied hinsichtlich ihrer Akzeptanz machen. Spätestens seit Daniel Kahnemans und Amos Tverskys Prospect-Theorie wissen wir, dass Menschen ihre Entscheidungen auch auf der Grundlage der wahrgenommenen Akzeptanz einer Aussicht treffen, die nicht nur die potenziellen Ergebnisse und den damit verbundenen Nutzen berücksichtigt, sondern auch, in welcher Form diese Ergebnisse dargestellt werden (siehe dazu auch den folgenden Kasten). Offensichtlich schwankt die Bereit‐ schaft zur Akzeptanz von Veränderungen im Einklang mit kognitiven Prozessen (Kahneman 2012). Dieser verhaltensökonomischen Perspektive von Akzeptanz können soziologische Erklärungsansätze der Akzeptanzforschung gegenübergestellt werden. So findet sich etwa bei Doris Lucke Akzeptanz definiert als „die Chance, für bestimmte Meinungen, Maßnahmen, Vorschläge und Entscheidungen bei einer identifizierbaren Personengruppe ausdrückliche oder stillschweigende Zustimmung zu finden und unter angebbaren Bedingungen aussichtsreich auf deren Einverständnis rechnen zu können“ (Lucke 1995, S.-104). Konzept 4 | Die Prospect-Theorie und Akzeptanz bei Kahneman und Tversky Der Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften von 2002, der Psychologie D. Kahneman, hat gemeinsam mit A. Tversky das Konzept der Prospect-Theorie entwickelt, in dem der Begriff der Akzeptanz eine zentrale Stellung einnimmt. Die Prospect-Theorie erläutert die Entscheidungsfindung von Menschen über die Einschätzung von Risiken. So wird unter anderem davon ausgegangen, dass Entscheidungen von der Aussicht auf einen potenziellen Gewinn oder Verlust, dem erwarteten prospect, abhängen und dabei die wahrgenommene Akzeptanz einer Aussicht nicht nur auf Nützlichkeitserwägungen, sondern auch darauf zurückge‐ führt werden kann, wie die Aussichten in Erscheinung treten oder dargestellt werden. Kahneman und Tversky haben z. B. festgestellt, dass Individuen dazu neigen, potenzielle Verluste stärker zu gewichten als entsprechende Gewinne 62 4 Mensch ∙ das wankelmütige Wesen <?page no="63"?> (Verlustaversion). Aufgrund verzerrter Wahrnehmungen werden die Individuen stärker durch Verluste als durch Gewinne motiviert, weshalb mehr Energie für die Vermeidung von Verlusten als die Erzielung von Gewinnen aufgebracht wird. Zusammengenommen ergibt sich: Institutionen funktionieren als politisches Steue‐ rungsinstrument nicht zeitpunktbezogen-mechanistisch, sondern prozessual-sozio‐ ökonomisch. Der Erfolg einer Regelsetzung - definiert als angestrebte nachhaltige Verhaltensänderung in einer Gruppe von Wirtschaftssubjekten - resultiert aus (a) der Qualität der Vorbereitung der Maßnahme, (b) der Regelqualität selbst sowie (c) der Qualität von Begleitmaßnahmen in der sich anschließenden Implementierungs‐ phase. Anknüpfend an das im vorherigen Abschnitt präsentierte COM-B-Modell werden diese Überlegungen nochmals in der nachfolgenden Grafik zusammengeführt. Ver‐ einfachend wird von einer grundsätzlichen Übereinstimmung des (gesellschafts-)po‐ litisch erwünschten Verhaltens - beispielsweise auf dem Weg zu einer nach‐ haltigeren, ressourcenschonenderen Lebensweise - mit den moralisch-ethischen Grundvorstellungen vieler Wirtschaftssubjekte ausgegangen. Dennoch können Di‐ lemmasituationen nicht ausgeschlossen werden, solange Anreize aus Gründen von Eigennutz oder vermeintlichem Selbstschutz ein nicht kooperatives Verhalten von Individuen angeraten sein lassen. Das ursprüngliche Wollen und das tatsächliche Handeln fallen somit auseinander. Für solche Fälle plädiert der Wirtschaftsethiker Karl Homann dafür, politstrategisch das „moralische Können“ in den Vordergrund zu stellen. Gemeint ist damit, anreizkompatible und sanktionsbewehrte Regelsetzungen in entsprechenden Dilemmasituationen nicht kooperativen Verhaltens schlicht un‐ attraktiv werden zu lassen bzw. deutlich zu machen, dass „Moral dem Einzelnen nachhaltig Vorteile bringt“ (Homann 2014, S. 221). In der Diktion des Modells wäre dies der Weg, die Divergenz zwischen Wollen und tatsächlichem Verhalten zu reduzieren. → Abbildung 12 hilft dabei, nachzuvollziehen, an welchen und wie vielen Schnittstellen institutionelle Lösungen ansetzen können: die Capability betreffend etwa an dem Wissens-, Fähigkeits- und Erfahrungsschatz der Individuen, mit Blick auf die Opportunities an dem großen Thema der gesellschaftlichen Partizipation und für die resultierende Motivation als Schlüsselgröße unmittelbar an den Präferenzordnungen der Einzelnen. Institutionen als Stabilisatoren 63 <?page no="64"?> Abb. 12: Bedeutung institutioneller Faktoren für das Ausmaß des Intention-Behaviour-Gaps (in Anlehnung an McDonagh 2018) Psychological Capability Physical Capability Physical Opportunity Social Opportunity Reflective Motivation Automatic Motivation Wissen, Erinnerung, Aufmerksamkeit, Entscheidungsprozesse, Verhaltenskontrolle Durch Praxis erworbene Fähigkeiten, Fertigkeiten und Können Umweltbezogener Kontext und Ressourcen Soziale Einflüsse wie Normen, Konformitätsgrad, sozialer Druck, soziale Inspiration Annahmen hinsichtlich Rollen, Identität, Absichten, Zielen, Fähigkeiten und Ergebnissen, Optimismus Emotionen und Verstärkungen wie Anreize in Form von Belohnung oder Bestrafung Abbildung 12: Bedeutung institutioneller Faktoren für das Ausmaß des Intention-Behaviour-Gaps (in Anlehnung an McDonagh 2018) Bei den thematisierten Effekten der Intrinsifizierung besteht in dem Maße, in welchem Verhalten nachhaltig, d. h. aus intrinsischen Motiven zum Normalfall wird, die Möglichkeit, ergriffene Maßnahmen und Regeln bzw. die Drohkulisse der sie begleitenden Sanktionen zurückzuführen oder abzuschwächen. Vielfach bietet sich auch an, Maßnahmen von Beginn an „degressiv“, also mit nachlassender Schärfe und mit Ablaufdatum zu konzeptualisieren. Inwieweit eine Intrinsifizierung des politisch angestrebten Verhaltens, etwa zur Vermeidung drohender Ausweitungen planetarer Gefährdungsprozesse, gelingen kann, hängt von zahllosen Faktoren ab. Wie noch zu zeigen sein wird, ist dabei auch von einem Trade off zwischen der Systemver‐ träglichkeit institutioneller Maßnahmen und (vermeintlichem oder tatsächlichem) politischem Handlungsdruck auszugehen. Anders formuliert: Die Berücksichtigung des prozessualen Charakters von Regelsetzung einschließlich der Einbeziehung sozia‐ ler und kultureller Begleitprozesse wird tendenziell dann zu kurz kommen, wenn politische Akteure davon ausgehen (müssen), dass die hierfür erforderliche Zeitspanne möglicherweise nicht mehr vorhanden ist. ▻ Zwischenzusammenfassung und Literaturhinweise Zur Erklärung menschlichen Verhaltens innerhalb von Transformationsprozessen wurde im vierten Kapitel ein kognitionswissenschaftlich gestütztes Handlungsmo‐ dell zugrunde gelegt, indem das in der Ökonomie bekannte, hier als „situationslo‐ 64 4 Mensch ∙ das wankelmütige Wesen <?page no="65"?> gisch“ bezeichnete Handlungsmodell um eine wahrnehmungstheoretisch begründ‐ bare kognitiv-kreative Einbettung erweitert wurde. Es wurde gezeigt, welche Faktorenkomplexe dafür maßgeblich sind, dass auf individueller und kollektiver Ebene das intendierte Verhalten von Akteuren in unterschiedlichem Ausmaß vom beobachtbaren abweicht. Diese evolutorisch-verhaltenswissenschaftliche Grundle‐ gung eröffnet den nötigen breiten Zugang für das Verständnis davon, welche politischen Bedarfe sich im Zuge einer Nachhaltigkeitstransformation ergeben, wenn also Menschen gefordert sind, sich von Gewohntem ab- und Neuem zuzuwenden. Dazu gehört die Einsicht, dass Veränderungsbereitschaft stets auch vom Grad persönlicher Betroffenheit und von einer Notwendigkeitsüberzeugung abhängt. Ist beides schwach ausgeprägt, besteht die Gefahr, dass erhoffte Verhaltensanpassungen ausbleiben bzw. zeitlich verzögert und möglicherweise nicht mit der erforderlichen Konsequenz erfolgen. Aus politischer Perspektive ist die Orchestrierung der fortwährenden gesellschaft‐ lichen Aushandlungsprozesse von entscheidender Bedeutung. Aus diesen Aushand‐ lungsprozessen ergibt sich, was als das Richtige bzw. im moralischen Sinne Gerecht‐ fertigte angesehen wird; und sie liefern Anhaltspunkte dafür, wie Menschen immer wieder neu dazu bewegt werden können, im Sinne eines übergreifenden Konsenses zu handeln. Als entscheidender (wirtschafts-)politischer Hebel kann allgemein der institutionelle Rahmen angesehen werden. Seine Bestandteile, die einzelnen höchst unterschiedlichen Regeln, von denen zahllose Anreize für individuelles Verhalten aus‐ gehen, sind mit Blick auf einen möglichst hohen Erreichungsgrad der gesellschaftlich gewünschten Zielvorstellungen zu gestalten. Die hier dargestellten kognitions- und kommunikationswissenschaftlichen Grundlagen vermitteln eine Vorstellung davon, wie eine hinreichend große Schnittmenge subjektiver Wirklichkeiten der Mitglieder einer Gesellschaft erreicht werden kann. Allerdings ist dabei stets das Trägheitsmo‐ ment institutionellen Wandels im Auge zu behalten, das bei informellen Institutionen im Allgemeinen höher als bei formellen ausfällt. Politisch ist es erstrebenswert, ein hohes Maß an Einsicht in die vorhandenen Problematiken und in die Unumgänglichkeit der zu treffenden Maßnahmen her‐ zustellen. Die daraus entstehende Intrinsifizierung von Entscheidungsverhalten erleichtert die Akzeptanz und damit die politische Durchführbarkeit von Transfor‐ mationsvorhaben, auch wenn sie vorübergehend mit Einschnitten für die Individuen verbunden sein mag. Politisch erfolgreich ist in diesem Sinne also, wem es gelingt, mit der Anpassung des institutionellen Rahmens einschließlich vorgesehener In‐ centivierungs- und Sanktionierungsmaßnahmen einen sukzessiven Übergang von zunächst unfreiwillig übernommenem hin zu freiwilligem Verhalten zu bewirken. Empirische Evidenz für die Bedeutung von Akzeptanz bei der menschlichen Ent‐ scheidungsfindung und somit für die Eignung von Institutionen als politischen Steuerungsinstrumenten liefern Kahneman und Tversky, aber auch soziologische Erklärungsansätze der Akzeptanzforschung. ▻ Zwischenzusammenfassung und Literaturhinweise 65 <?page no="66"?> Berger, P. L. / T. Luckmann, T. 1980. Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt. Das 1966 erschienene amerikanische Original avancierte zu einem der zentralen Werke des Sozialkonstruktivismus. Berger und Luckmann heben darin die Bedeutung sogenannten Alltagswissens für die Bestimmung von Wirklichkeit, die eben nicht objektiv gegeben, sondern sozial konstruiert ist, hervor. Kahneman, D. 2012. Schnelles Denken, Langsames Denken, München. Es wird erklärt, wie die verschiedenen Modi des Denkens funktionieren, interagieren und unsere Wahrnehmung, Urteile und Entscheidungen beeinflussen. Dabei werden auch kognitive Verzerrungen wie Überoptimismus und Verlustaversion etc. berücksichtigt. North, D. C. 1992. Institutionen, institutioneller Wandel und Wirtschaftsleistung, Tübingen. North, einer der Hauptvertreter der Neuen Institutionenökonomik, stellt in seinem Werk die zentrale Bedeutung von Institutionen für den gesellschaftlichen und wirtschaftli‐ chen Wandel heraus. Ein „must-have read“ mindestens für jeden Ökonomen. 66 4 Mensch ∙ das wankelmütige Wesen <?page no="67"?> 5 Innovation ∙ alles Leben ist Problemlösen Innovation als Problemlösungskategorie Die Perspektive der besonderen Fokussierung auf die in gesellschaftlichen Transfor‐ mationsprozessen handelnden und betroffenen Individuen soll auch im Weiteren beibehalten und vertieft werden. Ausgangspunkt ist die in der Einleitung getroffene Feststellung, dass politische Agenden der Transformation stets zu einem erheblichen Teil Ausfluss von Unzufriedenheit mit dem Bestehenden bzw. mit wahrgenommenen Drohkulissen zu sein scheinen. Bevor individuelle Problemsichtweisen, Unzufriedenheiten und Zukunftsängste die Ebene kollektiver Prozesse erreicht haben, sind ihnen schon komplexe Entstehungs‐ schritte subjektiver und intersubjektiver Problemwahrnehmung vorausgegangen. Vie‐ les deutet auf die bereits angesprochene Trial-and-Error-Heuristik als Bestandteil einer anthropologischen Grundkonstante hin, die der Menschheit in ihrer Geschichte bislang einen entscheidenden Überlebensvorteil gesichert hat: Bei dem Versuch, die alltäglichen und besonderen Herausforderungen des Lebens allein oder gemeinsam zu meistern, ergeben sich miteinander konkurrierende Lösungen, die selektiert werden oder im Fortgang der Suche einen iterativen Prozess der Optimierung durchlaufen, sofern sie sich im Vergleich als weniger leistungsfähig oder gar falsch herausstellen. Ebenso wie Trial-and-Error-Prozesse den Alltag von Individuen prägen, gehören sie insbesondere in den Forschungs- und Entwicklungsabteilungen von Unternehmen zum täglichen Brot und machen zudem das politische Agieren auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene aus. Folglich ist die Suche der Menschheit nach nachhaltigeren Lösungen zur Überlebenssicherung auf diesem Planeten insgesamt als ein höchst komplexer Trail-and-Error-Prozess zu verstehen, der sich seinerseits wieder aus zahlreichen ineinander verschachtelten und interdependenten Prozessen von Versuch und Irrtum zusammensetzt. Subsumiert man alle in einer bestimmten Bedingungskonstellation neuen Problem‐ lösungen unter dem Begriff der Innovation, so lässt sich im Sinne des Popperschen Diktums „Alles Leben ist Problemlösen“ (Popper 1996) das Innovieren als eine Grundkonstante menschlichen (Zusammen-)Lebens ausmachen. Transformative Poli‐ tik ist vor diesem Hintergrund in mehrfacher Hinsicht auch Innovationspolitik: Sie richtet sich darauf, Trial-and-Error-Prozesse der Innovationssuche dort anzuregen bzw. ihnen eine „Suchrichtung“ zu geben, wo gebräuchliche Lösungen etwa der Mobilität, der Stadtentwicklung, der Abfallvermeidung, der Ressourcengewinnung oder auch der Agrarwirtschaft mit den Erkenntnissen über das Funktionieren einer Nachhaltigkeitsökonomie nicht hinreichend übereinstimmen. Ferner kann man sie, wie noch eingehender besprochen wird, mit den Voraussetzungen für das kreative Suchen und Finden von Problemlösungen im Zuge von Erziehung und Bildung in <?page no="68"?> Gesellschaften bzw. den dafür vorzunehmenden Nachbesserungserfordernissen in Ver‐ bindung bringen. Das Abstraktum Innovation lässt sich dahingehend konkretisieren, dass sie Eigenschaften aufweisen muss, die „Dinge und Kräfte“ auf die Lösung eines Problems hin ausrichtet, indem es diese neu kombiniert und so durchzusetzen sucht. Dabei wird jede Innovation, ob sich deren Eigenschaften in einem organisatorischen Ergebnis, einer Dienstleistung oder einem Produkt kumulieren (zum definitorischen Zusammenhang Schumpeter 1997, S.-16-f.; 100 f.), ■ einerseits bekannte und andererseits zu einem Zeitpunkt noch unbekannte sowie ■ intendierte und nicht intendierte bzw. zugunsten ersterer in Kauf genommene Wirkungen zeitigen. Die Vorstellung, dass also definitionsgemäß auch jedes bestehende oder neue Produkt aus einer Summe von verbundenen Eigenschaften besteht, kann dazu beitragen, die Logik wirtschaftlicher und technologischer Entwicklung noch besser nachvollziehbar zu machen. Dies gilt vor allem dann, wenn wir diejenigen Eigenschaften destillieren, die in Verbindung mit dem Produkt Handlungsmöglichkeiten eröffnen und/ oder Handlungsfolgen implizie‐ ren. Die Logik menschlicher und insbesondere wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung bedingt, dass vorhandene Produkteigenschaften zu einem bestimmten Zeitpunkt mit erwünschten Handlungsmöglichkeiten verbunden sein können, während unerwünschte Folgen aus dem Gebrauch des entsprechenden Gutes noch unbekannt sind. Bei einem höchst komplexen Produkt wie etwa dem Dieselmotor haben zahlreiche seiner Eigenschaften über ein gutes Jahrhundert hinweg vielerlei positive Entwicklun‐ gen in Gang gebracht. Das Charakteristikum, unter anderem Fahrzeuge antreiben und damit den Herausforderungen des Transports von Mensch und Material über große Distanzen hinweg begegnen zu können, wird kaum jemand negativ bewerten. Andere Eigenschaften wie die Leistungsstärke, der Energieverbrauch und der Schadstoffaus‐ stoß wurden in jahrzehntelangen Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen in die jeweils gewünschte Richtung hin verändert. Trotzdem ist einer breiteren Öffent‐ lichkeit erst in jüngerer Zeit die negative Eigenschaft des Motors, krebserregende Stoffe zu emittieren, vollständig bewusst geworden. Obwohl der Dieselmotor für die gewerbliche Wirtschaft und damit für den Wohlstand heutiger Gesellschaften eine entscheidende Rolle spielt, wird er der politischen Beschlusslage zufolge zunehmend aus dem ökonomischen Alltag verbannt werden. Das Beispiel verdeutlicht Ambivalenz und Dynamik der Bewertung von Gü‐ tereigenschaften. Im Laufe der Zeit werden nicht nur neue Eigenschaften eines gebräuchlichen Gutes entdeckt, sondern auch die Bewertung bereits länger bekannter Funktionen verändert sich. So kann ein politischer Handlungsdruck entstehen, der mindestens Regelungen zur Eindämmung von negativen Folgen der Nutzung oder, je nachdem, auch ein komplettes Nutzungsverbot hervorbringt. Beim Dieselmotor wurde beispielsweise der Einbau von Katalysatorlösungen verpflichtend, für einige Innenstadtbereiche ein Verbot der Nutzung älterer Fahrzeuge mit entsprechender 68 5 Innovation ∙ alles Leben ist Problemlösen <?page no="69"?> Schadstoffklasse ausgesprochen und für einige europäische Länder ist ein komplettes Nutzungsverbot für die Zukunft bereits beschlossene Sache. Vorschriften und Regelungen können somit die Richtung der ökonomischen Ent‐ wicklung entscheidend bestimmen. Dabei unterliegen die Lösungen nicht nur den Kategorien Kosten und Zeit, also der Frage, ob und wie schnell sich eine neue Problemlösung durchsetzt, sondern auch der Verlässlichkeit der Vorgaben. Wenn eine Rendite erzielt werden soll, ist es weniger attraktiv, etwa eine Antriebstechnologie zu fertigen, die zwar bestimmte Standards erfüllt, deren Nutzung aber absehbar in immer mehr Ländern unsicher wird. Das gilt selbst dann, wenn Expertisen bestätigen, dass diese Technologie in puncto Energieverbrauch und Leistungsstärke nach wie vor hervorragend für die Lösung bestimmter „Probleme“ geeignet ist. Zur Untersuchung der Entstehung und Handhabung von Neben- und Folgewirkungen von Produkten und Verfahren wird in den Wirtschaftswissenschaften das Konzept der externen Effekte oder auch Externalitäten verwendet, wobei im Folgenden damit techno‐ logische und nicht pekuniäre externe Effekte gemeint sind. Das Konzept vergegenwärtigt die Wirkung des Gebrauchs bzw. der Anwendung von Produkten und Verfahren auf unbeteiligte Dritte. Allgemein liegt ein externer Effekt vor, „wenn die Handlungen eines Akteurs auf andere Akteure einwirken, indem sie etwa deren Nutzen oder Gewinne beeinflussen, ohne dass dieser Einfluss über den Preismechanismus ausgeübt wird“ (Frambach 2019, S. 202). Im Fall eines negativen externen Effektes - „klassische“ Beispiele finden sich im Bereich der Umweltverschmutzung - wird z. B. die Gesundheit von Personen, die in der Nähe eines Verkehrsknotenpunktes leben, durch die ausgestoßenen Schadpartikel von Dieselmotoren beeinträchtigt, obgleich sie selbst mit dem entspre‐ chenden Betrieb dieser Motoren nichts zu tun haben. Auf der Verursacherseite, also bei den Betreibern der Fahrzeuge, ist die schädigende Wirkung für Unbeteiligte nicht berücksichtigt, denn in den Preisen, Betriebs- und Unterhaltskosten der Fahrzeuge sind die Behandlungskosten für durch Schadpartikel verursachte Erkrankungen nicht enthalten (d.-h. die externen Kosten sind nicht internalisiert). Auch im Zusammenhang mit den Waldschädigungen vergangener Jahrzehnte wurde immer wieder argumentiert, die nicht internalisierten Externalitäten des Straßenver‐ kehrs seien über entsprechende gesetzliche Regelungen wie einen Aufschlag auf die Mineralölsteuer derart auf die Verursacher umzulegen, dass damit theoretisch alle Maßnahmen zur Behebung der Schäden kompensierbar wären. Auch wenn solche Berechnungen aufgrund der hohen Komplexität der realen Situation und der nicht immer exakten Zuordenbarkeit von Schädigungen auf verursachende Ereignisse, beispielsweise durch unpräzise Messungen, stets fallibel bleiben, ist die Stoßrichtung für die Korrektur von Marktversagen ein probates Mittel. Im Kontext der Nachhaltigkeitsdebatte steht die Internalisierung externer Ef‐ fekte vor allem bei deren negativer Ausprägung im Vordergrund, also im Falle der Generierung zusätzlicher Kosten durch Abgase, Abwässer, Abfälle etc. Dies trifft insbesondere im Zusammenhang mit der Übernutzung sogenannter Allmendegüter, also frei zugänglicher, jedoch beschränkt nutzbarer Güter, zu. Aufgrund ihrer Eigen‐ Innovation als Problemlösungskategorie 69 <?page no="70"?> schaften wird sich unter den Nachfragern eine hohe Rivalität einstellen; denn eine Möglichkeit, jemanden auszuschließen, ist nicht gegeben. Dies gilt z. B. für nicht kostenpflichtige Straßen, frei zugängliche Wälder und Grünflächen sowie offene Gewässer, bei deren Nutzung es zu Ereignissen wie Verkehrsinfarkt, Waldsterben, Überjagung, Überweidung und Überfischung kommen kann. Um solche und andere negative Externalitäten zu internalisieren, werden in der Li‐ teratur unterschiedlichste Optionen diskutiert, die in verschiedensten Varianten in der Praxis angewendet werden. Dazu zählen insbesondere Auflagen für die Vermeidung der schädigenden Effekte (beispielsweise Filteranlagen im Falle von Industrieemissi‐ onen), privatwirtschaftliche oder staatlich geregelte Verhandlungsmechanismen zur Kompensation zwischen Verursacher und Betroffenen sowie die Einrichtung von Märkten, über welche die verbriefte Erlaubnis für Schädigungen in einem bestimmten Ausmaß gehandelt werden (z. B. CO 2 -Emissionsberechtigungen bzw. -zertifikate). Über derartige Maßnahmen sollen Fehlallokationen von Ressourcen im freien Spiel der Marktkräfte korrigiert werden. Frühe grundlegende Arbeiten in diese Richtung stammen etwa von Arthur Cecil Pigou (1877-1959) und Ronald Harry Coase (1910-2013) (siehe folgender Kasten). Konzept 5-|-Die Beiträge von Coase und Pigou zur Internalisierung externer Effekte Für den Umgang mit Externalitäten, bei denen ex definitione die „wahren“ Kosten eines Schadens für Dritte unberücksichtigt bleiben, entwarf Arthur Cecil Pigou die Vorstellung, einen Steuersatz zu erheben, der exakt diese „wahren“ Kosten - man spricht auch von sozialen im Gegensatz zu privaten Kosten - abbildet. Durch Erhebung einer solchen Pigou-Steuer wird der Verkaufspreis des Gutes gesteigert, wodurch die Nachfrage nach dem Gut und schließlich auch die Produk‐ tionsmenge sinken. Folglich wird die Schadensmenge verringert und letztlich genau diejenige Menge des Gutes (und damit des Schadenausstoßes) ermittelt, die von der Gesellschaft gewünscht bzw. getragen wird. Es handelt sich hier schließlich um die Menge, bei der die sozialen Kosten vollständig berücksichtigt sind: Die Wirtschaftssubjekte zahlen die „wahren“ Preise. Freilich stellt die Pigou-Steuer zunächst ein theoretisches Konstrukt dar, dem in der Umsetzung klare Grenzen gesetzt sind. Beispielsweise kann der Staat für die Erhebung einer Steuer die Scha‐ densfolgen oftmals weder eindeutig bestimmen noch zuordnen, was die Festlegung ihrer Bemessungsgrundlage erschwert. Dennoch lieferte dieser Ansatz brauchbare Impulse für die Entwicklung umweltpolitischer Eingriffe. Eine ganz ohne staatliche Eingriffe auskommende Lösung für die Internalisierung externer Effekte schlug Ronald Harry Coase, Nobelpreisträger der Wirtschaftswissen‐ schaften von 1991, vor. Sein „rein ökonomischer“ Weg besteht in einer Verhand‐ lungslösung, bei der sich alle Beteiligten (Schädiger und Geschädigte) an einen Tisch setzen. Theoretisch besteht die Möglichkeit, dass die Geschädigten den oder die Schädiger dafür bezahlen, weniger zu produzieren (und somit weniger zu schädigen). 70 5 Innovation ∙ alles Leben ist Problemlösen <?page no="71"?> Entscheidend bei Coase: Jenseits administrativer Eingriffe und unabhängig von jeglichen Schuld- und Haftungsfragen („wer schädigt eigentlich wen? “) können die Verhandlungsparteien allein durch den Austausch eine effiziente Lösung finden. Auch hier sind die Voraussetzungen (Transaktionskosten von null, vollständige Informationen, keinerlei Verhandlungsmacht) eher theoretischer Natur. Dennoch erscheint das Konzept geeignet, politische Initiativen, etwa zur Förderung außerge‐ richtlicher Verhandlungslösungen in der Umweltpolitik, zu motivieren. Auch im Zusammenhang mit solchen Politikansätzen zur Behebung von Marktversagen ist es wichtig, prozessuale Phänomene mit einzubeziehen. Es ist zu unterscheiden, ob zur Vermeidung von gesellschaftlich als unerwünscht eingestuften Neben- und Folge‐ wirkungen aus dem Gebrauch eines Produktes oder der Anwendung eines Verfahrens zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Kompensationszahlung gesetzlich verpflichtend fixiert oder deren Höhe absehbar nur schrittweise gesteigert wird. Im zweiten Fall haben Verursacher die Möglichkeit, zwischenzeitlich nach kreativen technologischen Lösungen zu trachten, etwa durch den Austausch von Komponenten, die beispielsweise einem unerwünschten Schadstoffausstoß entgegenwirken. Aus innovationspolitischer Sicht ist die Gewährung solcher Anpassungszeiträume mit einer schrittweisen Verteuerung unerwünschten Verhaltens zu präferieren. Zum einen werden benötigte Anpassungen so zeitlich ermöglicht, zum anderen lassen sich in der Vergangenheit getätigte Investitionen konstruktiv nutzen und sie regen insgesamt den technologischen Fortschritt an. Kommt es hingegen zu umfangreichen Regelungen bis hin zu Ge- und Verboten ohne hinreichende Vorlauf- und damit Anpassungszeit für die betroffenen Wirtschaftssubjekte, steigt das Risiko destruktiver Marktreaktionen, die zur massiven Verlagerung oder gar vollständigen Herausnahme eingesetzter Ressourcen mit zum Teil schwerwiegenden ökonomischen Strukturproblemen führen können. Marktwirtschaftlich orientierte Instrumente zur Vermeidung und Reduzierung von Umweltschäden setzen somit stärker auf die Anreizwirkung für menschliches Handeln und versuchen, Ziele und Mittel effizient zu koordinieren. Die Emission von Umweltzertifikaten etwa weist den Vorteil auf, das gewünschte Umweltziel über die Herausbildung „echter“ Preise zu erreichen und dabei Härten zu vermeiden, wie sie bei Verboten auftreten. Allerdings wird die Allokation über den Preismechanismus wiederum Zeit in Anspruch nehmen, während strikte regulative Maßnahmen im Zweifel „sofort“ umgesetzt werden können. Vor dem Hintergrund des Zustandekommens politischer Entscheidungen auf dem Wege demokratischer Meinungs‐ bildung weist jedoch der „marktwirtschaftliche“ Weg viele Vorteile auf. Unter anderem ergibt sich, wie das Beispiel der Umweltzertifikate zeigt, mit Blick auf die jeweilige Betrachterperspektive ein doppelter Anpassungspfad: 1. Die betroffenen Schadensverursacher (CO 2 -Emittenten) können das Erreichen ihres Umweltziels im Zuge einer Grenzkostenabwägung stets überprüfen, indem sie die Kosteneinsparung bei der Reduktion ihrer Emissionen mit denjenigen für den Zertifikatekauf vergleichen. Innovation als Problemlösungskategorie 71 <?page no="72"?> 2. Eine Politik, die Anpassungsleistungen der Emissionsverursacher beispielsweise in Form der Umsetzung technologischer Verbesserungen zu beobachten in der Lage ist, kann eine höchstmögliche marktweite Emissionsvermeidung über die Anreizwirkun‐ gen erreichen, indem sie etwa schrittweise Zertifikate aus dem Markt nimmt. Aus prozessualer Sicht könnte man solchermaßen marktwirtschaftlich ausgerichtete Problemlösungen bzw. Innovationen als politisch incentiviert bezeichnen. In der Tendenz führen sie dazu, den technologischen Fortschritt zu beschleunigen, worauf im nächsten Abschnitt einzugehen sein wird. Werden die Zeitfenster für die politisch intendierten Anpassungsprozesse also groß genug gewählt, steigt die Wahrscheinlichkeit für die Realisierung innovativer Anpassungsreaktionen. Dabei spielen ineinandergrei‐ fende Netzwerkmechanismen der Verstärkung eine wichtige Rolle: Ein Beispiel ist der Wissenstransfer zwischen universitärer bzw. außeruniversitärer Forschung einerseits und industrieller Forschung, Entwicklung und marktlicher Anwendung andererseits. Vielfach treten zudem Lernbzw. Spillover-Effekte über Branchen- und nationale Grenzen hinweg auf, deren Eigendynamik es aus politischer Sicht ebenfalls zu berücksichtigen gilt. Ein Pionier der Innovationsforschung war Joseph Alois Schumpeter. Er befasste sich intensiv mit der wechselseitigen Abhängigkeit der Entstehung von kleineren und größeren Problemlösungen im Sinne von Innovationen. Unter Bezugnahme auf einen von Nikolai Dmitrijewitsch Kondratjew (1892-1938) im Jahr 1926 veröffentlichten Aufsatz über Die Langen Wellen der Konjunktur versuchte er zu zeigen, wie in größe‐ ren Abständen sogenannte Basisinnovationen zu regelrechten Paradigmenwechseln führen, indem ganze Branchen und Märkte einschließlich ihrer Produktions- und Konsumstrukturen vollständig verändert werden (Kondratjew 1926; Schumpeter 1961). Die jeweils auslösende neue Technologie führt zu einer Innovationsverdichtung und langanhaltendem wirtschaftlichen Aufschwung mit anschließendem kürzerem Ab‐ schwung. Innerhalb dieses großen Zyklus laufen wiederum kleinere, sich überlagernde zyklische Schwankungen ab (Schumpeter 1961, Bd. 1, S. 174-184, 222-230). Dabei zeigt sich, dass alle einer Basisinnovation folgenden kleineren und größeren Innovationen im Gesamtbild der langfristigen Entwicklung gleichzeitig Ursache und Wirkung für die beobachtbare Dynamik der Prozesse und für begleitende Wohlstandseffekte darstellen. Letzteres bedeutet auch, dass konstruktiven Momenten der Generierung neuer Pro‐ blemlösungen Momente der Destruktion überkommener Lösungen folgen. Schumpeter spricht hier von schöpferischer Zerstörung. Diese Idee entwickelte er bereits 1912 in der Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung und expressis verbis 1942 in Capitalism, Socialism, and Democracy (Schumpeter 2020, S. 103-137). Der Grundzusammenhang der innovationsbedingten Entwertung des Vorhandenen bedingt im Aufschwung immer wieder kleinere und größere „Dellen“, die mit der erzwungenen Umorientierung von Unternehmen und ganzen Branchen verbunden sein können. → Abbildung 13 zeigt schematisch die Abfolge von sechs langen Wellen, wobei die ursprünglichen zunächst drei Wellen, die Kondratjew identifizierte, bis in die Gegenwart hinein ergänzt wurden. Als Maßgröße für Wachstum werden die rollierenden 10-Jahres-Renditen des S&P 500-Indexes herangezogen. 72 5 Innovation ∙ alles Leben ist Problemlösen <?page no="73"?> Abb. 13: Sechs Kondratjew-Zyklen - stilisiert (in Anlehnung an Naumer 2020) 1. Kondratieff 1780-1830 Dampfmaschine, Textilindustrie, u.a. 2. Kondratieff 1830-1880 Eisenbahn, Stahl, u.a. 3. Kondratieff 1880-1930 Elektrotechnik, Chemie, u.a. 4. Kondratieff 1930-1970 Automobil, Petrochemie, u.a. 5. Kondratieff 1970-2010 Informationstechnik, Raumfahrt, u.a. 6. Kondratieff ab 2010 GreenGrowth, KI, u.a. Panik von 1837 1837-1843 Gründerkrise 1873-1879 Weltwirtschaftskrise 1929-1939 1. & 2. Ölkrise 1974-1980 Finanz-/ Schuldenkrise 2008-2011 0 % -2 % - 4 % - 6 % - 8 % 2 % 4 % 6 % 8 % 10 % 12 % 14 % 16 % 18 % 1934 2014 2004 1994 1984 1974 1964 1954 1944 1924 1914 1904 1894 1884 1874 1864 1854 1844 1834 1824 S&P 500 Rollierende 10-Jahres-Rendite Abbildung 13: Sechs Kondratjew-Zyklen - stilisiert (in Anlehnung an Naumer 2020) Innovation als Problemlösungskategorie 73 <?page no="74"?> Lenkt man den Blick von dieser Innovationslogik wieder auf den politischen Umgang mit Prozessen der gesellschaftlichen Problementstehung und den Versuch, innovative Lösungen anzuregen bzw. der Lösungssuche eine Richtung zu geben, kommt man nicht umhin, sozialpsychologische Erkenntnisse einzubeziehen. Dazu gehört die These Ulrich Becks (1944-2015), moderne, hochdifferenzierte und -vernetzte Gesellschaften würden dazu neigen, immer mehr Risiken im Sinne von Problemen wahrzunehmen und über die Aktivierung von Interessengruppen auf die politische Agenda zu bringen. Im Zuge einer fortschreitenden Komplexität der die Menschen umgebenden Welt nähmen Gefühle der Überforderung und Bedrohung zu (Beck 1986, S.-76-ff.). Solche Entwicklungen vermitteln den Eindruck eines ebenfalls zunehmend erratischen Agierens der politisch Verantwortlichen bei der Suche nach Antworten. Mobilisierbare Lösungsressourcen werden - im Sinne einer Relevanzabstufung - nicht absteigend nach Schadenspotenzial, Reichweite bzw. Bedrohlichkeit mobilisiert, sondern entlang der Fähigkeit der jeweiligen Akteure, sich mit den eigenen Anliegen bemerkbar zu machen. Das längerfristige zuständigkeitsübergreifende Planen umfassender Problemlö‐ sungen wird so erheblich erschwert. Abgesehen davon, dass sich mit der Verdichtung innovativer Antworten auf als problematisch erkannte Herausforderungen die politische Aufmerksamkeit „entfokussiert“, ruft jede Innovation Neben- und Folgeeffekte hervor, die ihrerseits wieder auf die Notwendigkeit neuer Regelungen hin zu diskutieren sind und somit politische Aufmerksamkeit absorbieren. Wie sich die Intensivierung der Problemwahrnehmung in der Nachhaltigkeitsdiskussion und der daraus folgende Ruf nach vermehrten innovativen Antworten auswirken, soll als nächstes untersucht werden. Transformation als Phänomen der Beschleunigung Wie bereits erwähnt, bilden breit wahrgenommene Bedrohungsszenarien oder bereits eingetretene Notsituationen in der Geschichte häufig den Ausgangspunkt großer Transformationsprozesse. Bei der Nachhaltigkeitstransformation sind es die beschriebenen Tipping Points, die, wenn man einschlägigen wissenschaftlichen Erkenntnissen folgt, sogar unsere globale Lebenssituation massiv bedrohen. Viele Indizien wie das Abschmelzen der Eisschicht in den Polarregionen, die Häufung extremer Hitze und Unwetterphänomene, der Anstieg der Wassertemperatur in den Weltmeeren, das Austrocknen von Flüssen, die Ausbreitung von Wüsten und damit die Degradation von Lebensräumen oder das Artensterben zeichnen ein deutliches Bild von der akuten Bedrohungslage. Diese wird nicht nur durch immer neue und intensiver auftretende Phänomene des Wandels, sondern zusätzlich durch ein sich selbst verstärkendes Wandlungstempo erhöht. Folglich kann es kaum verwundern, wenn auf den politischen Ebenen in immer mehr Staaten der Welt der Druck wächst, alle erdenklichen Maßnahmen, ob symbolischer oder realer Natur, zur Abwendung noch schlimmerer Entwicklungen zu ergreifen. 74 5 Innovation ∙ alles Leben ist Problemlösen <?page no="75"?> (a) (b) Abbildung 14: Alternative Transformationspfade in Abhängigkeit von der politischen Reaktionsge‐ schwindigkeit (IPCC 2023, S.-26) Transformation als Phänomen der Beschleunigung 75 <?page no="76"?> → Abbildung 14 knüpft an die mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen hinter‐ legten Kipppunkt-Simulationen an, wie sie in Kapitel 3 behandelt wurden. Die im mittleren Teil der Grafik erkennbare Bifurkation alternativer Entwicklungspfade repräsentiert den sich aufbauenden Handlungsdruck, der letztlich als Akzelerator im Transformationsgeschehen wirkt: In Abhängigkeit von der Entschlossenheit und Zielgerichtetheit politisch-gesellschaftlicher Reaktionen lässt sich das System, so die Annahme, entweder (a) noch in einen nachhaltig stabilen Zustand überführen oder aber (b) das Bedrohungsszenario einer irreversibel kollabierenden Umwelt, für das die genannten Naturphänomene gewissermaßen Vorboten darstellen, nimmt seinen Lauf (vgl. rechtes Feld in →-Abbildung-14). Das Wissen um Bedrohungslagen, die bis zum Worst-Case-Szenario einer globalen Ökoapokalypse reichen können, und die sich intensivierende Kommunikation, auch über mögliche Handlungsoptionen zu ihrer Abwehr, erzeugen sozialpsychologisch erklärbare Ansteckungseffekte in die Breite der globalen Gesellschaft hinein. Damit vervielfältigen sich Anzahl und Reichweite unterschiedlichster Neben- und Folge‐ wirkungen, zu denen nicht nur proaktive Reaktionen, sondern auch Proteste und Gegenmaßnahmen zählen, die unter anderem aus der Verschiebung sozialer Positionen bzw. der Veränderung der kulturellen Einbettung von Betroffenen resultieren können. Popper bemerkte passend hierzu: „Man kann keine politische Reform durchführen, ohne dadurch Rückwirkungen zu verur‐ sachen, die vom Standpunkt der angestrebten Zwecke unerwünscht sind (…). Man kann keine politische Reform durchführen, ohne die Gegenkräfte zu stärken, und zwar wachsen sie annähernd in demselben Maße wie der Umfang der Reform. (Dies kann man als das technologische Korollar des Satzes ‚Es gibt immer Gruppen, die am status quo interessiert sind‘ betrachten)“ (Miller 1945/ 1995, S.-296). Dieses Aufeinandertreffen von Bewirkungs- und Verhinderungskräften erhöht seiner‐ seits die Turbulenz des Geschehens und kann zusätzliche Kipppunkte auch im sozia‐ len Zusammenhang insbesondere dann erzeugen, wenn Individuen, gesellschaftliche Gruppen und Regionen von den negativen Auswirkungen der Phänomene des Wandels unterschiedlich betroffen sind (zur experimentellen Evidenz sozialer Kipppunkte siehe Centola et al. 2018). Das linke und das mittlere Feld in der obenstehenden Grafik mögen einen konkreten Eindruck davon vermitteln, wie im Falle der Nachhal‐ tigkeitstransformation „Treiber und Gegentreiber“ das Gesamtsystem in Aufruhr versetzen können. Ein allgemeineres Bild einer krisengetriebenen Beschleunigung als wiederkehrendes geschichtliches Phänomen skizziert Odo Marquard (1928-2015) in seinem Essay Universalgeschichte und Multiversalgeschichte: „Geschichtliche Krisen sind (…) ‚beschleunigte Prozesse‘: also muss die moderne Welt, wo sie insgesamt zur geschichtlichen Krise wird, insgesamt als beschleunigter Prozess verstan‐ den werden. Ihre Wandlungsgeschwindigkeit steigt, ihr Innovations- und Veraltungstempo wächst, ihre Komplizierungsrasanz nimmt zu; das Änderungstempo der Lebensverhältnisse - des Abbaus von Vertrautheit und der Produktion von Fremdheit - zieht an: alles fließt, 76 5 Innovation ∙ alles Leben ist Problemlösen <?page no="77"?> und zwar immer schneller. Das verlangt nach Beschleunigungsbewältigung“ (Marquard 1986, S.-60-f.). Wenn hier von Abbau von Vertrautheit und Produktion von Fremdheit die Rede ist, so sind dies sozialpsychologische Phänomene, die eng mit dem zuvor ange‐ sprochenen Gegendruck zu tun haben, der im Transformationsgeschehen mit seiner verdichteten Neuerungsdynamik generiert wird. Schumpeter sieht entsprechende Be‐ harrungskräfte als Hindernis für das innovative Agieren von Entrepreneuren - sei es im unternehmerischen oder auch politischen Kontext (Schumpeter 1997, S. 117-131; 2020, S. 111 f., 172-175, 265, 339-344). Welche Relevanz ihnen im politischen Zusammenhang demokratischer Strukturen, wie sie heute vorherrschend sind, zukommt, wird nachher noch zu betrachten sein. Um dies vorzubereiten, soll hier zunächst nochmals auf die Bedeutung der aus dem Transformationsgeschehen heraus logisch resultierenden Verdichtung von Neben- und Folgewirkungen eingegangen werden. Wichtig erscheint die Beobachtung, dass bei den unintendierten Folgewirkungen transformativer Politik sowohl kalkulierte Nachteile für Teile der Bevölkerung (i. S. v. „das geringere Übel“) als auch negative Ent‐ wicklungen hervorgehen, die schlicht aus Varianten einer Komplexitätsüberforderung bzw. einer nicht mehr ausreichend leistbaren Beschleunigungsbewältigung resultieren. Wie eine zunehmende Komplexität in sozioökonomischen Systemen die Risiken folgenschwerer Fehlentscheidungen der Politik erhöhen kann, lässt sich experimentell belegen. So zeigt sich unter anderem, dass Entscheider unter starkem Handlungsdruck bei zugleich hohem Wandlungstempo dazu neigen, ■ die Wirkung einzelner Größen angesichts sehr vieler zur Systemdynamik beitra‐ gender Variablen zu überschätzen und sich bei der Wahl und Dosierung der Maßnahmen zu einseitig auf damit verbundene Wirkungszusammenhänge zu konzentrieren, ■ als relevant eingeschätzte Maßnahmen überzudosieren, weil die nichtlineare Wirkungsentfaltung mit zeitverzögertem Start fehlkalkuliert und so einer später extrem überschießenden Veränderung der Boden bereitet wurde, ■ Neben- und Folgewirkungen aufgrund des hochvernetzten Geschehens zu unter‐ schätzen und damit auch die Problematik kontradiktorischer Maßnahmenplanun‐ gen nicht ausreichend zu berücksichtigen, ■ den Beitrag eigener Entscheidungen im Zuge erster Erfolge überzubewerten, hier‐ durch beratungsresistenter zu werden und schließlich Tendenzen zu autoritärem Verhalten zu zeigen (siehe u.-a. Dörner 1993). Auch aus diesen Überlegungen folgt, transformative Politik müsste den Nutzen des für sie konstitutiven radikalen Umsteuerns den „Irrtumskosten“ gegenüberstellen, deren Erwartungswert mit der wachsenden Komplexität eines beschleunigten Wandels aus den genannten Gründen automatisch überproportional steigt. Popper entwickelte genau vor diesem Hintergrund seine Argumentation für die Vorzüge einer Sozial‐ Transformation als Phänomen der Beschleunigung 77 <?page no="78"?> technologie des Piecemeal Engineerings, eine Reformpolitik der kleinen Schritte, welche radikalen Reformen gegenüber vorzuziehen sei. Im Original klingt das so: „Wie Sokrates weiß der Stückwerk-Ingenieur, wie wenig er weiß. Er weiß, dass wir nur aus unseren Fehlern lernen können. Daher wird er nur Schritt für Schritt vorgehen und die erwarteten Resultate stets sorgfältig mit den tatsächlich erreichten vergleichen, immer auf der Hut vor den bei jeder Reform unweigerlich auftretenden unerwünschten Nebenwirkungen. Er wird sich auch davor hüten, Reformen von solcher Komplexität und Tragweite zu unternehmen, daß es ihm unmöglich wird, Ursachen und Wirkungen zu entwirren und zu wissen, was er eigentlich tut. Ein solches ‚Herumbasteln‘ entspricht nicht dem politischen Temperament vieler ‚Aktivisten‘. Ihr Programm, welches ebenfalls als ein Programm der ‚Sozialtechnik‘ bezeichnet worden ist, kann man ‚holistische‘ oder ‚utopistische‘ Sozialtech‐ nik nennen“ (Miller 1945/ 1995, S.-298-f.). Heutige Aktivisten würden Popper und seinen Epigonen tendenziell vorwerfen, sein Plädoyer für eine „Stückwerk-Technik“ sei angesichts des existenziellen Ausmaßes der aktuellen Bedrohungslage nicht haltbar. Zwar sieht es Popper als einen überragen‐ den Überlebensvorteil der menschlichen Spezies an, Theorien an ihrer statt sterben zu lassen, indem sie im Sinne einer schrittweisen Trial-and-Error-Politik vorgeht. Doch könnte man argumentieren, die Schlussfolgerung, heute bliebe keine Zeit mehr für diese Art des Vorgehens, erscheine trotz der komplexitätsbedingten Unübersichtlich‐ keit der Lage rational. Die Fehlbarkeit menschlichen Wissens, Bewertens und Handelns wäre also als Risiko hinzunehmen. Bei derartigen Überlegungen ist allerdings zu berücksichtigen, dass es bei der Entscheidung für eine Sozialtechnik im Popperschen Sinne nicht notwendigerweise um ein „Entweder-oder“ geht, wie er selbst betont. Reale Politik in komplexen Ge‐ sellschaften vollzieht sich in verschachtelten Bezügen, und Anpassungsprozesse an langfristige Vorgaben lassen sich in schrittweisen Trial-and-Error-Verfahren umsetzen. Man denke zum einen an das Konzept der Planetaren Leitplanken und zum anderen an die große Bandbreite nationaler und regionaler Umsetzungsstrategien, welche ganz unterschiedlichen Politikansätzen entspringen. Hier spielen die Verfasstheit von Ländern, kulturelle und soziale Traditionen, politische Koalitionen bis hin zum persönlichen Stil einzelner Politikerinnen und Politiker eine wichtige Rolle. Auch dieser Gedanke wird später nochmals aufzunehmen sein. Im Folgenden geht es jedoch, wie angekündigt, zunächst um die Bi- oder Multipolarität von Kräften, wie sie durch transformative Politik freigesetzt werden und sich in demokratischen Gesellschaftsstrukturen Bahn brechen. ▻ Zwischenzusammenfassung und Literaturhinweise Im fünften Kapitel wurden menschliches Wirtschaften, Politik allgemein sowie trans‐ formative Wirtschaftspolitik als fortdauernder Prozess der Suche nach Problemlösun‐ gen betrachtet. Dabei wurde davon ausgegangen, dass die aus Problemlagen und den sie 78 5 Innovation ∙ alles Leben ist Problemlösen <?page no="79"?> begleitenden Unsicherheiten und Unzufriedenheiten hervorgehenden Bestrebungen nach Veränderung ursächlich für die Entstehung von Neuem sind. Neues wurde hier in Übereinstimmung mit der Schumpeterschen Auslegung von Innovation - Dinge und Kräfte neu zu kombinieren und durchzusetzen - gedeutet. Aus evolutorischer Perspektive haben sich im Zuge der Generierung von Lösungen zur Bewältigung des gesellschaftlichen Alltags im Laufe der Menschheitsgeschichte immer wieder vielschichtig interagierende Trial-and-Error-Prozeduren ergeben. Deren Ergebnisse waren und sind dabei zumeist einem wettbewerblichen Vergleich ausgesetzt, an dessen Ende die im Lichte der einbezogenen Kriterien erfolgreicher erscheinenden Lösungen im Sinne eines „survival of the fittest“ überleben. Diese Einsicht passt zu der verbreiteten Auffassung, Probleme fungierten als Urheber für die Herausbildung individueller Fähigkeiten und Fertigkeiten, was sich mit dem Popperschen Diktum vom Leben selbst als umfassendem Vorgang des Problemlösens deckt. Dabei wird sozio-ökonomische Evolution als „unruhiger“ Prozess mit einer über die Zeit ambivalenten Wirkweise charakterisiert. Zentrale Triebfeder für ihr Fortschrei‐ ten ist die Rivalität der Akteure einschließlich der von ihnen ins Spiel gebrachten Innovationen. Im Innovationswettlauf treten neben erhofften Resultaten in aller Regel auch nicht antizipierte bis ungewollte Effekte auf. Zu den entscheidenden politischen Herausforderungen zählt es daher, die Kreativkraft der Akteure in die gesellschaftlich gewünschte Richtung zu lenken, ohne das Innovationspotenzial der aus der freiheit‐ lich-marktwirtschaftlichen Konkurrenz resultierenden schöpferischen Zerstörung, wie es Schumpeter ausdrückt, einzudämmen. Konkret gilt es, als umweltschädlich erkannte Externalitäten möglichst mit wettbewerbskonformen Mitteln zu internalisieren. D. h., das Ausmaß politischen Erfolgs hängt auch davon ab, inwieweit es gelingt, zum richtigen Zeitpunkt, in geeigneter Abfolge, in der je richtigen Dosierung und damit Belastungswirkung einen zielgerichteten Maßnahmen-Mix umzusetzen. Die Fülle der zur Verfügung stehenden Maßnahmen ist groß und reicht von rechtlich nicht binden‐ den Formen wie Ratschlägen und Empfehlungen über anreizorientierte Instrumente wie Lenkungsabgaben oder einem Umweltzertifikatehandel bis hin zu strikten Ge- und Verboten. Für den hier vorgeschlagenen Ansatz gilt, dass transformative Wirtschaftspolitik mit ihren Weichenstellungen nicht nur natürliche, technische und ökonomische Risiken abzuschätzen hat, sondern auch sozialpsychologische Zusammenhänge, wie sie in der Bevölkerung eine Rolle spielen können. Dazu gehören unter anderem Überfor‐ derungsgefühle, Unsicherheiten und Ängste. Hier birgt die Nachhaltigkeitswende offensichtlich eine besonders risikoreiche Trade-off-Beziehung: Auf der einen Seite steht die Zuspitzung der Bedrohungslagen mit sich verengenden Zeiträumen für das Ergreifen adäquater Maßnahmen. Auf der anderen Seite sind diese Maßnahmen in der Tendenz meist unbeliebt und erfordern gerade aufgrund der mutmaßlich geringen verbleibenden Zeit eine Beschleunigung, was wiederum den Widerwillen oder gar den aktiven Widerstand weiter erhöht. ▻ Zwischenzusammenfassung und Literaturhinweise 79 <?page no="80"?> Als einer der wichtigsten Auswege aus dieser hochkomplexen Dilemmasituation für eine transformative Politik ist die sorgfältige Bestandsaufnahme der Beweggründe aller beteiligten Akteure zu nennen. Ihr folgen Maßnahmen gemäß einem undogmatisch und schrittweise vorzunehmenden Trial-and-Error-Verfahren, die sich mit dem Kon‐ zept der Planetaren Leitplanken und anderen supranationalen Rahmensetzungen in Einklang bringen lassen. Auch wenn die längere Dauer einer solchen Vorgehensweise gegenüber einer auf schnell(er)e und mithin drastische und radikalere Maßnahmen setzenden Politik leicht als zögerlich, unentschlossener, weniger wirksam usw. charak‐ terisiert werden könnte, bietet sie zumindest den Vorteil, auf jeder Stufe hinsichtlich ihrer Wirksamkeit und Kostenlastigkeit kalkulierbarer zu sein. Darüber hinaus trägt sie der Einsicht Rechnung, dass sich reale Politik in modernen Gesellschaften stets innerhalb komplexer sozialpsychologischer Bezüge abspielt. Dörner, D. 1993. Die Logik des Misslingens - strategisches Denken in komplexen Situationen, Reinbek. In dem Buch werden Charakteristika des menschlichen Denkens und Handelns im Umgang mit komplexen und dynamischen Problemen analysiert und dabei insbe‐ sondere psychologische Basisphänomene einbezogen. So wird unter anderem erklärt, warum nicht selten gut gemeinte Vorhaben das Gegenteil des Beabsichtigten bewirken. Popper, K. R. 1996. Alles Leben ist Problemlösen: über Erkenntnis, Geschichte und Politik, München / Zürich. Hier handelt es sich um eine Sammlung von Beiträgen des großen Denkers des 20.-Jahrhunderts zu Themen, die für das Miteinander in unserer Gesell‐ schaft von bleibender Relevanz sind. Dazu zählen die Bedeutung und Funktionsweise von Demokratien und offenen Gesellschaften, von Frieden, Freiheit und Verantwortung, vom Marxismus, von der Beschränktheit der Wissenschaft etc. Schumpeter, J. A. 2020. Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Tübingen. Das Buch führt die wichtigsten Ergebnisse seiner sozialwissenschaftlichen Forschungen zusam‐ men. Es zeichnet sich nicht zuletzt durch seine unerschrockene und originelle Heran‐ gehensweise an Themen und den für Schumpeter „typischen Schreibstil“ aus. 80 5 Innovation ∙ alles Leben ist Problemlösen <?page no="81"?> 6 Transformation ∙ Test für politische Systeme Die Demokratiefalle Die Bedeutung institutioneller Restriktionen einschließlich ihrer teils tiefen Verwur‐ zelung in sozialen und kulturellen Traditionen einer Gesellschaft für die praktische Funktionsweise transformativer politischer Aktivitäten liegt auf der Hand. Entschei‐ dend ist dabei vor allem die konstitutionelle Verfasstheit von Nationalstaaten. Von ihr hängt es ab, wie unmittelbar oder aber in allen denkbaren Abstufungen mittelbar Zufriedenheit oder Unzufriedenheiten, Gestaltungswünsche oder -impulse zwischen der Ebene der Bürger sowie derjenigen der politisch Verantwortlichen wirksam werden. Die folgende Grafik zeigt ein stark vereinfachtes Feedbackmodell, an dem sich gleichwohl erkennen lässt, wie der Impulstransport zwischen der individuellen, kollektiven und politischen Ebene abläuft. Abb. 15: Wirkmechanismen politischer Mobilisierung (in Anlehnung an Meyer / Slembeck 1994, S. 49) Änderungen in Umwelt und Gesellschaft Politische Ebene Wirtschaftslage und -entwicklung Ordnungsvorstellungen Mobilisierung, Sinngebung Politische Entscheidung Implementation Individuelle Ebene | „Mental Models“ Kollektive Ebene | „Public Opinion“ Politische Rückwirkungen Unzufriedenheit Unsicherheit Reale Effekte Virtuelle Effekte Medien Medien Medien Abbildung 15: Wirkmechanismen politischer Mobilisierung (in Anlehnung an Meyer/ Slembeck 1994, S.-49) <?page no="82"?> Ausgangspunkt ist die Ebene des Individuums. Sie ist geprägt vom jeweils vorherr‐ schenden mentalen Modell, das für die Weltsicht, die Ordnungsvorstellungen und damit die subjektiven Einschätzungen wahrgenommener Veränderungen der sozialen und natürlichen Umwelt steht. Wie schon an früherer Stelle thematisiert, sind in der Folge kommunikative Akte ausschlaggebend dafür, wie sich Perspektiven angleichen. Am sprichwörtlichen „Stammtisch“ werden die auf den individuellen Sichtweisen beruhenden Wertungen ausgetauscht und gleichen sich so in vielen Fällen partiell an. Dies kann sich auf die Zufriedenheit mit der aktuellen Situation genauso beziehen, wie auf eine aufkommende Verdrossenheit. Auf die Rolle sozialer Medien, die heute die Funktion von „Stammtischen“ und „Kaffeekränzchen“ für die Annäherung individuel‐ ler Sichtweisen resp. Unzufriedenheiten ergänzen, wurde bereits im vierten Kapitel hingewiesen. Insgesamt hilft das Verständnis dieser Zusammenhänge, um sich bewusst zu machen, dass „politische Probleme“ nicht a priori in der Welt sind, sondern über individuelle Wahrnehmung und eine anschließende „Teilhomogenisierung“ auf dem Wege der Kommunikation entstehen. Sind Breite und Macht einer Unzufriedenheitssituation groß genug, beginnt sie der öffentlichen Meinung in relevanter Weise eine Richtung zu geben. Ein Transmissionsriemen bei diesem Ebenenwechsel sind die Medien, die wahrgenommene Unzufriedenheiten bzw. Problemlagen aufgreifen, verstärken und so dazu beitragen, den Handlungsdruck auf der politischen Ebene zu erhöhen. Ab einem bestimmten Zeitpunkt kommen die politischen Entscheider nicht mehr umhin, eine entsprechende Thematik auf ihre Agenda zu nehmen. „Die Definitionsmacht für Probleme und Prioritäten, die sich unter diesen Bedingungen ent‐ wickeln kann (…), beruht in ihrem Kern sicherlich auf Auflagenhöhen und Einschaltquoten und der daraus resultierenden Tatsache, dass die Politiksphäre nur unter der Gefahr des Ver‐ lustes von Wählerstimmen die publizierte öffentliche Meinung ignorieren kann. Sie wird (…) verstärkt und stabilisiert durch Fernsehgewohnheiten und neue Informationstechnologien (…) die Konsequenz für die Politik ist: Über Nacht in die Schlagzeilen katapultierte Meldungen von Giftfunden auf Müllkippen verändern die politische Tagesordnung. Die durchgesetzte öffentliche Meinung: der Wald stirbt, erzwingt neue Prioritäten. Wo auf europäischer Ebene wissenschaftlich erhärtet wurde, dass Formaldehyd nun doch krebserzeugend wird, droht die bisherige Chemiepolitik zusammenzubrechen. Auf alles dies muss mit politischen Inszenierungen - sei es Argumenten, sei es Rechtsvorlagen oder Finanzplanungen - reagiert werden“ (bereits Beck 1986, S.-320-f.). Je nachdem, für wie „gefährlich“ der aufkommende Druck im politischen Lager medienunterstützt eingeschätzt wird, werden Maßnahmen ergriffen, die auf eine Befriedung der Situation bzw. auf eine Problemlösung abzielen. Diese verbinden sich gleichermaßen mit virtuellen wie realen Effekten, die dann meist wiederum medial aufgegriffen werden. Es schließt sich der Kreis, indem es auf individueller Ebene zu einer Neueinschätzung der Situation kommt. Ob eine Lösung auch als solche wahrgenommen oder aber die Lage weiterhin unzufriedenstellend oder gar als 82 6 Transformation ∙ Test für politische Systeme <?page no="83"?> verschlechtert eingestuft wird, hängt von den mentalen Modellen bei den Individuen ab. Dabei bleibt es nicht aus, dass sich individuelle kognitive Strukturen im Wandel der wahrgenommenen Rahmenbedingungen und der sozialen Kommunikation darüber selbst im Zeitablauf ändern. Hierin liegen zugleich Herausforderung und Chance für gezielte politische (Begleit-)Kommunikation bei der Umsetzung von Agenden. Je ausgeprägter demokratische Regeln der Mitbestimmung in einer Gesellschaft gestaltet sind, desto sensitiver reagiert das hier modellhaft abgebildete Geschehen auf neue Impulse - unabhängig davon, ob Bottom-up oder Top-down. Der Bottom-up- Fall ist die gerade geschilderte Variante der „Problementstehung“. Je eher aber die Verfasstheit eines Staates den politischen Kampf um Sinngebung sowie Meinungs- und Entscheidungsmacht zulässt, umso relevanter ist der umgekehrte Top-down- Fall: Hier werden Problemsichtweisen von einer Regierung oder Opposition gezielt „konstruiert“, um Aktivität, Expertise und Souveränität beweisen zu können oder aber der Gegenseite Inaktivität und Inkompetenz zu unterstellen. In solchen Fällen verläuft die Impulsgebung mithin von der politischen Ebene zurück auf die individuelle, um dort unter Umständen eine Anhängerschaft für die eigene Sichtweise zu generieren und so die Machtposition zu erhalten oder an die Macht zu kommen. Egon Erwin Kisch (1885-1948) meinte einmal, „dass nicht die bessere Sache den irdischen Sieg erficht, sondern die besser verfochtene Sache“ (Kisch 1923, S. 5). Diese Einsicht bringt die hier geschilderten Mechanismen auf den Punkt und nimmt auf, was sich aus dem obigen Modell ergibt: Anders als in einer Autokratie, in der eine Quasi-Wahrheit per Dekret gesetzt wird, ringen in Demokratien „Wahrheitsoptionen“ um die Vorherrschaft. Dies impliziert Begründungsangebote für mehrheitlich wahrge‐ nommene Problemlagen ebenso wie für vorgeschlagene Lösungswege. Wie sich nicht nur im Kontext der Nachhaltigkeitswende, sondern etwa auch im Zuge der weltweiten Corona-Pandemie zeigte, macht dieser Wahrheitsrelativismus in der gesellschaftlichen und politischen Bedeutungs- und Lösungsdebatte auch nicht vor wissenschaftlichem Input halt. Mit dieser Erkenntnis sind weitgehende Schlussfolgerungen für die Herangehens‐ weise selbst an solche Problemlagen verbunden, für die es mindestens mit Blick auf ihre Verursachung eine weithin geteilte Public Opinion gibt. Gerade der Anwendungsfall der Nachhaltigkeitstransformation bietet viel Anschauungsmaterial dafür, wie die demokratische Verfasstheit von Gesellschaften an dieser Stelle zur politischen Falle werden kann - zumindest dann, wenn die hier skizzierten Zusammenhänge nicht ausreichend beachtet werden. Im vorhergehenden Kapitel wurde die Beschleunigung des Wandels im Transfor‐ mationsgeschehen und seine Wirkung innerhalb der Gesellschaft behandelt. Die Zunahme der Geschwindigkeit, mit der sich die Welt verändert, löst bei vielen Über‐ forderungsmerkmale aus und lässt schnell Gefühle aufkommen, von der Entwicklung überrollt sowie aus der sozialen Verankerung gerissen zu werden und die wachsende Komplexität der eigenen Situation nicht mehr bewältigen zu können. „Wer tiefsitzende Gewohnheiten infrage stellt, muss also sehr behutsam vorgehen. Denn er rüttelt an Die Demokratiefalle 83 <?page no="84"?> den Grundfesten. Rund 30 bis 40 Prozent des menschlichen Alltags bestehen aus Gewohnheiten. Sie machen unsere Existenz erst möglich, denn sie schützen uns vor der Überforderung durch endlose Alltagsentscheidungen“ (Breier, zitiert nach Grimm 2023, S. 5). Die zur tatsächlichen oder gefühlten Komplexitätsüberforderung führende Nichtbeachtung dieses Zusammenhangs wird unter Umständen noch verstärkt, wenn die jeweilige Regierung den Eindruck erweckt, die Situation selbst nicht wirklich im Griff zu haben. Hier kann ein dem Trial-and-Error-Prinzip folgendes politisches „Durchwurschteln“ selbst dann zum Brandbeschleuniger werden, wenn es sich im Sinne des oben Gesagten um eine rationale politische Antwort auf überkomplexe Schwierigkeiten handelt. In diesem Fall liegt die Herausforderung darin, ohne ei‐ nem (nicht vorhandenen) ganzheitlich-langfristigen Plan folgen zu können, durch inkrementalistisches politisches Handeln und Kommunizieren trotzdem Sicherheit auszustrahlen. Ansonsten kann es passieren, dass immer neue Gesetzesvorhaben, die lieb ge‐ wordene Lebensgewohnheiten tangieren bzw. mit finanziellen Belastungen für eine Mehrzahl der Bürgerinnen und Bürger verbunden sind, eher als Angriffe denn als Verbesserungsversuche der Regierung aufgefasst werden. Dies führt zu einem Vertrau‐ ensverlust und eröffnet radikalen Gruppierungen in der Politik Spielräume, mit simp‐ lifizierten Botschaften Wählerinnen und Wähler zu gewinnen. Derartige Versprechen sind „so angenehm und verführerisch, dass der Gegenentwurf dazu, gesellschaftlicher Wandel, nicht nur unattraktiv wirkt, sondern wie eine Zumutung, eine Attacke auf die ohnehin belastete, eigene Lebenswirklichkeit“ (Ouassil/ Karig 2023, S. 308). Manche Agitatoren - als prominentes Beispiel sei der ehemalige US-Präsident Donald Trump erwähnt - gehen sogar noch weiter und inszenieren sich selbst als Opfer unliebsamer Veränderungen oder bewusster „Machenschaften“ der politischen Opponenten, die sie als Problemerzeuger identifizieren (Selbstviktimisierung). Am Beispiel Trumps lässt sich nachvollziehen, inwieweit hinreichend selbstbewusst vorgetragene Narrative, die noch dazu auf Begründungshorizonten fragwürdiger Verschwörungsmythen beruhen, bei der von Überforderungsängsten geplagten Anhängerschaft entsprechende kogni‐ tive Dissonanzen zu lösen imstande sind (siehe hierzu auch Stanley 2018). Hinzu kommt die Schwierigkeit einer gewissen Behäbigkeit politischer Narrative, die sich meist erst allmählich von der weitgehenden „Nacherzählung“ einer aktuellen gesellschaftlichen Situation lösen und verselbständigen. Ein geeignetes Beispiel liefert Deutschland in den 2020er-Jahren, wenn sich bereits in den seriösen Medien vermehrt kritische Kommentierungen finden lassen, wie vom „neopaternalistischen Geist“ der Nachhaltigkeitspolitik, „die den Verdacht nährt, dass nicht ein breiter gesellschaftlicher Konsens die Agenda in Klimafragen bestimmt, sondern die radikale Besserwisserei der letzten Generation. E-Autos und Wärmepumpen mögen für großstädtische Besserverdiener locker finanzierbar sein - für Millionen verunsicherte Normalbürger und -bürgerinnen sind sie es nicht (…). ‚Alle großen Ideen scheitern an den Leuten‘, seufzte einst Bertolt Brecht. Denn kein Vormarsch sei so schwer wie der ‚Zurück zur Vernunft‘. Aber Fürsorge und Bevormundung sind Geschwister. 84 6 Transformation ∙ Test für politische Systeme <?page no="85"?> Ein ‚Nanny-Staat‘, der tief in das Gefüge der menschlichen Entscheidungsarchitektur eingrei‐ fen will, riskiert viel. Wer freie Entscheidungen moralisch bewertet, entwertet gleichzeitig Lebensentwürfe. Das fördert Trotz und Widerstand (…) Gewiss ist der Mensch sich selbst (und dem Planeten Erde) der größte Feind. Doch Vernunft und Einsicht kann man nicht verordnen. Ob strenge Verbote oder sanfter Druck - wer übertreibt, verliert Akzeptanz“ (Grimm 2023, S.-5). Unabhängig davon, ob und bis zu welchem Grad sich diese Bewertung der transforma‐ tionspolitischen Agenda der Verantwortlichen als zutreffend erweisen mag, lassen sich dennoch Momente ausmachen, die durchaus Stoff für radikalere Deutungen seitens demokratiefeindlicher Kräfte bieten. Zu den Eigengesetzlichkeiten politischer Narra‐ tivbildungen gehört, wie gesagt, dass sie ab einem gewissen Zeitpunkt unabhängig von dem Bemühen weiterwirken, die Situation zu befrieden. Dann verfestigen sich ggf. gesellschaftliche Spaltungstendenzen in eine Wir-und-die-Atmosphäre - wir liegen richtig und die liegen falsch -, was das politische Agieren - auch angesichts fortwährender Wahlen auf den verschiedenen politischen Ebenen - immer schwieriger macht. Es drohen sich selbst verstärkende Effekte der Entstehung einer immer aggressi‐ veren Opposition. Aus der anfänglichen Gefährdungsbetroffenheit ist in einem solchen Aufschaukelungsprozess längst ein Leugnen aus sublimierter Angst geworden, wodurch sich die Irrationalität begleitender gesellschaftlicher Debatten verstärkt. Was zunächst wie ein Widerspruch in sich klingt, wird vor diesem Hintergrund zur Realität: Gerade eine fokussierte (oder, in den Augen mancher Kritiker, „überfokus‐ sierte“) Politik befördert im Kampf um politischen Machterhalt ihre Entfokussierung. Dies erklärt sich so: Um die Wählerschaft nicht zu verlieren, müssen die vielen tatsächlichen und gefühlten Verlierer im Transformationsprozess mit finanziellen Mitteln beruhigt werden. Die gemäß dieser Logik nach dem Gießkannenprinzip verteilten Ressourcen fehlen dann dort, wo sie ursprünglich hätten eingesetzt werden sollen, nämlich zur Verwirklichung der Transformationsvorhaben. Der Druck wächst, zusätzliche Anleihen auf die Zukunft aufzunehmen, womit sich die Schuldenlast zu Ungunsten nachfolgender Generationen ebenso erhöht wie die Kosten künftiger poli‐ tischer Handlungsfähigkeit. Wird nach solchem politischen Agieren eine Regierung abgewählt, liegt es für die Wahlgewinner nahe, den Transformationskurs zu verlassen oder zumindest stark abzumildern. Pointiert ausgedrückt, laufen Demokratien somit stets Gefahr, gerade aus Transformationsversuchen heraus künftige Transformations‐ politik massiv zu erschweren oder gar - zumindest für bestimmte Zeiträume - zu verunmöglichen. Vor diesem Hintergrund könnte man auf die Idee kommen, autokratischen Syste‐ men das Wort zu reden, weil sie entsprechende Maßnahmen ungehinderter und in ihrem sachlichen Zusammenhang systematischer durchzusetzen in der Lage wären. Streuverluste beim Ressourceneinsatz hielten sich in Grenzen, da der für Demokratien alltägliche Kampf verschiedenster politischer Gruppen um Macht und Wählerstimmen entfiele. Bei solchen Überlegungen dürfen allerdings nicht die schwerwiegenden Ge‐ fahren von Gesellschaften mit monokratischen Herrschaftsstrukturen wie Despotien, Die Demokratiefalle 85 <?page no="86"?> Tyranneien oder Diktaturen verkannt werden, die sich in erster Linie in massiven Einschränkungen von Freiheitsrechten ausdrücken. Auch hat die Empirie immer wieder gezeigt, dass, jenseits einer Demokratie, selbst die schönsten Hoffnungen in die Versprechungen und Bestrebungen von zunächst benevolenten Entscheidern, dau‐ erhaft das Beste für ihren Herrschaftsbereich erreichen zu wollen, allzu oft enttäuscht wurden. Angesichts der dahinterstehenden elementaren staatstheoretischen Zusam‐ menhänge, welche auch die Natur des Menschen und ihre Versuchungen einbeziehen, muss der Initialgedanke der Vorteilhaftigkeit einer autokratischen Lenkung wohl als rein theoretischer Natur eingestuft werden (vertiefend hierzu etwa Münkler 2018). Nicht zuletzt deshalb kam Winston Churchill (1874-1965) seinerzeit zu der viel zi‐ tierten Einsicht, Demokratie sei „die schlechteste aller Regierungsformen - abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind“ (Churchill 1947, Sp. 207; eigene Übers.). Dass er sie gleichwohl bewusst nicht als beste Variante bezeichnete, hat möglicherweise auch mit seinen eigenen Erfahrungen zu tun, für - im Sinne des Allgemeinwohls - als förderlich erachtete Pläne im demokratischen Alltag nicht konsequent und zur Gänze umsetzen zu können. Auch ihm müssen während des Zweiten Weltkriegs und in der Nachkriegsphase die Besonderheiten einer Transformationssituation mit all den Zumutungen rasant beschleunigten Wandels nur allzu bewusst gewesen sein. Die Gefahren einer solchen, alle Lebensbereiche erfassenden Beschleunigung für die Demokratie sieht Hartmut Rosa, wenn er ihr gar Anklänge einer neuen Form des Totalitarismus‘ attestiert. Er begründete dies so, dass die Menschen, wie in einem totalitären System, unter einem immensen Druck stünden, dem sie nicht ausweichen könnten, der sich nicht auf einzelne Gesellschaftssphären beschränke und den loszuwerden, unmöglich sei (Rosa 2014, S.-89). An dieser Stelle soll nicht weiter diskutiert werden, inwieweit man dieser sehr starken These folgen muss. Wie dieser Abschnitt aber zeigen konnte, gibt es Tendenzen in die skizzierte Richtung, die es im Zuge transformativer Politik, soll diese zielführend betrieben werden, unbedingt zu berücksichtigen gilt. In den folgenden Kapiteln wenden wir uns daher konkreteren Überlegungen dahingehend zu, welche politischen Ansatzpunkte sich, gerade im Angesicht dieser hochsensitiven Ausgangssituation, überhaupt anbieten, um gesellschaftliches Verhalten in eine Richtung zu lenken, die Stabilisierung in dem angestrebten Nachhaltigkeitskontext verspricht. Präferenzen und Knappheiten gestalten Die Herausforderungen transformativer Politik im Allgemeinen und damit einer transformativen Wirtschaftspolitik im Besonderen liegen, wie wir gesehen haben, nicht nur darin begründet, Entscheidungen in eine hochkomplexe und unsichere Zukunft hinein treffen zu müssen. Sie bestehen vielmehr auch im sozialen Gegendruck, der als Reaktion auf die definitionsgemäß erhöhte Geschwindigkeit der alle Bereiche des menschlichen Alltags betreffenden Veränderungen entsteht. Diese beiden interde‐ 86 6 Transformation ∙ Test für politische Systeme <?page no="87"?> pendenten empirischen Tatbestände erschweren das politische Geschäft erheblich und steigern die ohnehin schon bestehenden Gefahren des Scheiterns. In Erweiterung der an früherer Stelle getroffenen Überlegungen zur Umgestaltung von Regeln des Ordnungsrahmens als ein entscheidendes institutionelles Handwerks‐ zeug für die Erzeugung von Verhaltensänderungen soll nunmehr der Einfluss solcher Regeländerungen auf die (relativen) Knappheiten von Gütern und Dienstleistungen jeglicher Art einer näheren Betrachtung unterzogen werden. Nehmen wir nochmals das Beispiel einer Steuereinführung oder -erhöhung als Instrument zur Internalisierung externer Effekte. Die Produzenten des betroffenen („schadenverursachenden“) Pro‐ dukts werden die zusätzliche Belastung in ihre Kalkulationen aufnehmen und durch erhöhte Preise an die Konsumenten weitergeben, die wiederum, entsprechend ihrer Preiselastizitäten, die nachgefragte Menge reduzieren. Ein Rückgang der Produktion und damit angebotenen Menge des Gutes wird folgen. Im Ergebnis ist das Gut, dessen Mengeneinschränkung Ziel der politischen Maßnahme war, - in Umkehr der autono‐ men Marktpreisbildung - infolge der künstlichen Verteuerung verknappt worden. Es handelt sich um eine intendierte Wirkung im Transformationsprozess. Produkte oder Konsumgewohnheiten, die einem ressourcen- und umweltschonenden Verhalten oder einer solchen Produktionsweise zuwiderlaufen, werden (wie im Beispiel) über einen marktkonformen Mechanismus gesteuert. Dieser Wirkmechanismus veränderter Knappheitsrelationen ist eine Reaktion auf die erfolgte Preisänderung, von der jedoch auch Signale in Form von Innovationsim‐ pulsen auf die verstärkte Produktion substitutiver Güter ausgehen. Bestehen die der Nachfrage zugrundeliegenden Bedürfnisse weiterhin, etwa wenn es sich um einen grundlegenden Mobilitätsbedarf handelt, werden sich auch die Anreize erhöhen, diesen auf eine der veränderten institutionellen Situation hin angepassten Art und Weise zu befriedigen. Ein Beispiel wären die erhöhten Kosten des Einsatzes von Verbrennungsmotoren gegenüber denjenigen eines Elektroantriebs. Im Sinne der oben eingeführten Restriktionslogik, wie sie insbesondere die evo‐ lutorische Ökonomik kennt, bedeutet dies, dass über den Weg institutioneller Adjustierungen Preise als Restriktionen im Sinne von Anreizsetzungen wirken, um Verhaltensanpassungen im Zuge der Nachhaltigkeitstransformation adressieren zu können. Dies kann sich nicht nur auf die Produktion und den Konsum rein privater Produkte und Dienstleistungen beziehen, sondern auch auf öffentliche und meritori‐ sche Güter: ■ Indem etwa der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) zu günstigeren Preisen bei mindestens gleichbleibender Leistung angeboten wird, führt dies zu einer relativen Verteuerung des Individualverkehrs. ■ Eine Meritorisierung liegt vor, wenn der Staat preisreduzierend in den Marktme‐ chanismus eingreift, weil in der Einschätzung der Entscheidungsträger das private Angebot und die private Nachfrage hinter dem politisch gewünschten Ausmaß zurückbleiben (z. B. in Form einer Förderung privatwirtschaftlich angebotener und genutzter Anlagen zur Erzeugung erneuerbarer Energien). Präferenzen und Knappheiten gestalten 87 <?page no="88"?> ■ Umgekehrt wird bei der politikinduzierten Attraktivitätssenkung eines angebote‐ nen Produktes, wie schon erwähnt, von Demeritorisierung gesprochen. Die Option einer erhöhten Besteuerung von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor wurde bereits genannt. Die beschriebenen Maßnahmen zur „künstlichen“ Veränderung von Preisen und Knappheiten wirken sich im Sinne des oben Diskutierten auf Lebensgewohnheiten und ggf. auch Vermögenspositionen aus. Was die damit potenziell verbundene Erzeugung von sozialem Gegendruck anbetrifft, kommt es auf die Dosierung des politischen Eingriffs in quantitativer und qualitativer Hinsicht an. Die Wirkung des politischen Eingriffs hängt also davon ab, ■ wie stark sich daraufhin Preise und Kosten ändern, ■ in welchem Umfang sich die Änderungen bei den Wirtschaftssubjekten in Abhän‐ gigkeit von der Alltagsbedeutung des jeweiligen Gutes bemerkbar machen, ■ inwieweit Ausweichmöglichkeiten etwa in Form anderer Produkte bereitstehen ■ und wie viele derartiger Entscheidungen in welchem Zeitraum getroffen werden. Außerdem spielt eine wichtige Rolle, welche alternativen Maßnahmen in welcher Intensität öffentlich diskutiert wurden. Angesichts in der Bevölkerung bestehender sehr unterschiedlicher Bereitschaften, sich z. B. im Zuge politikinduzierter Preiser‐ höhungen auf Veränderungen einzulassen oder aber (mit gesteigerter Unzufriedenheit) in eingeübten Konsumgewohnheiten zu verharren, gewinnen der Zeitpunkt sowie die Art und Weise der Informationsübermittlung bzw. begleitenden Aufklärungsarbeit an Bedeutung. Dies gilt verstärkt für die Einführung von Ge- und Verboten: Die sanktionsbewehrte Vorgabe, nur noch bestimmte Produkte oder Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen und andere nicht, wird normalerweise als noch weitergehender Eingriff in individuelle Freiheiten aufgefasst, womit ein noch höheres Risiko des Protestes verbunden ist. Steht beides vorab in der politischen Diskussion, wird man sich ggf. am Ende mit „dem geringeren Übel“ noch vergleichsweise gut bedient sehen. Die zeitliche Planung politischer Markteingriffe ist vor allem auch mit Blick auf das schon angesprochene Phänomen einer Intrinsifizierung der auf politische Vorgaben hin angepassten Lebensgewohnheiten bedeutsam. Wie am Beispiel der Demeritorisierung des Zigarettenkonsums deutlich wird, sind dabei individuelles und soziales Lernen bzw. Umgewöhnungseffekte zentral. Entsprechend muss der Zeitbedarf einschließlich der Überlegung berücksichtigt werden, wie viele solcher adaptiven Prozesse im Alltag der Betroffenen „verkraftbar“ sind. Genau an dieser Stelle kommen verstärkt die Präferenzen ins Spiel. Während eine Verhaltensänderung, die allein einer Anpassung an Preisvariationen entspringt, nicht mit einer strukturellen Anpassung individueller Nutzenfunktionen einhergeht, bedeutet Intrinsifizierung genau dies. Ohne sie könnte das Konsumverhalten nach Wegfall der auslösenden preislichen Restriktionen rasch wieder in den Status quo ante zurückfallen. Die politische Herausforderung besteht also darin, unter Zeitdruck Verhaltensän‐ derungen zu bewirken, die in der öffentlichen Wahrnehmung nicht mehr auf die 88 6 Transformation ∙ Test für politische Systeme <?page no="89"?> ungeliebten staatlichen Eingriffe zurückgeführt werden und damit im Zusammenspiel mit weiteren Eingriffen die Unzufriedenheit in der Gesellschaft steigern. Um daher einen Präferenzwandel in die gewünschte Richtung zu befördern (also eine Intrinsifizierung), bedarf es begleitender kommunikativer und bildungsbezogener Maßnahmen. Während Letztere, auf die in einem eigenen Kapitel später einzugehen ist, mittelbis längerfristiger Natur sind, bezogen auf deren politische Wirkung, stellt Kommunikation ein kurzfristig-komplementäres Mittel moderner Politik in freiheitlich-demokratischen und multioptional-marktwirtschaftlichen Systemen dar, ohne dass reale Maßnahmen unter ihrem theoretischen Wirkungspotenzial bleiben müssen. Zu einer im Sinne der intendierten Zielerreichung wirkungsvollen Kommunika‐ tionspolitik gehören vor allem nach Zielgruppen differenzierte verständliche Infor‐ mationen darüber, ■ welche Entwicklungen für die jeweilige Maßnahme erforderlich sind, ■ welche gesellschaftlich lohnenden Wirkungen erwartet werden und ■ wie und in welchem Zeitraum mögliche Nachteile für Einzelne und Gruppen der Gesellschaft sich relativieren bzw. kompensieren lassen. Dabei muss es sich gleichermaßen um Maßnahmen der vorlaufenden, begleitenden und nacharbeitenden Kommunikation handeln. Zu jedem Zeitpunkt ist zudem deren Qualität in puncto Empathievermögen, Glaubhaftigkeit und Transparenz äußerst erfolgsrelevant. Um diese abstrakteren Überlegungen anschaulich zu machen, führt die nachfolgende Tabelle mit Blick auf den Anwendungsfall der Nachhaltigkeitstransformation konkret auf, für welche Bereiche des gesellschaftlichen Lebens und der sozioökonomischen Interaktion politische Eingriffe zum Zwecke der Veränderung von Produktion und Konsum als notwendig erachtet werden. Die Tabelle erhellt noch einmal, was schon mehrfach als Grund für die enorme Dimension der anstehenden Herausforderungen genannt wurde: Nahezu alle relevanten Lebensbereiche werden tangiert. Dazu zählen ■ Energieproduktion und Energieverbrauch, ■ Mobilität, ■ Landnutzung, Wasser, Sanitärversorgung, Hygiene und Ernährung, ■ Stadtentwicklung und Infrastruktur einschließlich Gesundheit, Lebensvorsorge und Risikomanagement. All diese Handlungsfelder stellen Querschnittsfunktionen dar, die weit in die Struktu‐ ren und Prozesse sämtlicher gesellschaftlicher Subsysteme hineinreichen. Die linke Spalte der Tabelle zählt Anpassungsoptionen auf, die auf ihre Durchführbarkeit in diesem Jahrzehnt und bis zu einer globalen Erwärmung von 1,5° Celsius hin bewertet werden. Dafür werden sechs Machbarkeitsdimensionen (wirtschaftlich, technologisch, institutionell, sozial, ökologisch, geophysikalisch) und drei Abstufungen der Realisier‐ barkeit zugrunde gelegt (IPCC 2023, S.-28-ff.). Präferenzen und Knappheiten gestalten 89 <?page no="90"?> Optionen des Ausbaus von Klimamaßnahmen Kosten sind geringer als die Referenz 0-20 (USD pro t CO 2 Äq) 20-50 (USD pro t CO 2 Äq) 50-100 (USD pro t CO 2 Äq) 100-200 (USD pro t CO 2 Äq) Kosten aufgrund hoher Variabilität oder Mangel an Daten nicht zugeordnet Nettokosten der Optionen bezogen auf die Lebensdauer: Machbarkeitsniveau und Synergien mit Minderung Unzureichende Belege Vertrauensniveau bezüglich potenzieller Machbarkeit und Synergien mit Minderung mittel hoch gering a) Machbarkeit von Maßnahmen in Reaktion auf den Klimawandel und von Anpassung sowie das Potenzial von Optionen zur Minderung des Klimawandels in der nahen Zukunft hoch mittel gering Synergien mit Minderung nicht bewertet 0 1 2 3 4 5 Potenzieller Beitrag zur Nettoemissionsreduktion, 2030 Kohlendioxidabscheidung und -nutzung (CCU) und CCS Materiale zienz Verstärktes Recycling Ersatz von Baumaterialien Energiee zienz Windenergie Solarenergie weniger Methan und N 2 O in der Landwirtschaft weniger Nahrungsmittelverluste und -verschwendung Geothermie und Wasserkraft Kohlensto bindung in der Landwirtschaft weniger Umwandlung natürlicher Ökosysteme Kernkraft weniger CH 4 -Emissionen aus Kohle, Öl & Gas Strom aus Biomasse (inklusive BECCS) Kohlendioxidabscheidung und -speicherung (CCS) bei fossilen Brennsto en Wiederherstellung von Ökosystemen, (Wieder-)Au orstung Wechsel zu anderen Energieträgern Reduktion der Emission uorierter Gase Reduktion der CH 4 -Emissionen aus Abfall/ Abwasser Verbessertes nachhaltiges Forstmanagement Maßnahmen in Reaktion auf den Klimawandel und Anpassungsoptionen Optionen zur Minderung des Klimawandels Gt CO 2 Äq pro Jahr Verbesserte Gesundheitsdienste (z. B. WASH, Nährsto versorgung und Ernährung) Grüne Infrastruktur und Ökosystemleistungen Nachhaltige Landnutzung und Stadtplanung Nachhaltiges städtisches Wassermanagement Klimadienste, einschließlich Frühwarnsysteme Diversi zierung von Existenzgrundlagen Katastrophenrisikomanagement Soziale Sicherheitsnetze Risikostreuung und -teilung Geplante Umsiedlung und Neuansiedlung Migration Agroforstwirtschaft Nachhaltige Aquakultur und Fischerei E ziente Tierhaltungssysteme Biodiversitätsmanagement und Ökosystemvernetzung Integriertes Küstenzonenmanagement Wassernutzungse zienz und Wasserressourcenmanagement Verbessertes Ackerlandmanagement Küstenschutz und -befestigung Waldbasierte Anpassung Resiliente Stromnetze Energiezuverlässigkeit (z. B. Diversi zierung, Zugang, Stabilität) Verbesserung der Wassernutzungse zienz Potenzielle Machbarkeit bis zu 1,5 °C ENERGIEVERSORGUNG LAND, WASSER, ERNÄHRUNG GESUND- HEIT SIEDLUNGEN UND INFRASTRUKTUR GESELLSCHAFT, EXISTENZ- GRUNDLAGEN UND WIRTSCHAFT INDUSTRIE UND ABFALL 20 10 0 20 10 0 Elektrizität Landverkehr Gebäude Industrie Ernährung 67 % 66 % 29 % 44% 73 % Reduktion (vor zusätzlicher Elektri zierung) Zusätzliche Elektri zierung (+60 %) Gt CO 2 Äq pro Jahr Gt CO 2 Äq pro Jahr Legende Gesamtemissionen (2050) mögliche Reduktion in Prozent Nachfrageseitiges Minderungspotenzial Bandbreite des Potenzials % E ziente Beleuchtung, Haushaltsgeräte und Ausrüstung E zienter Schi s- und Luftverkehr Nachfrage nach Energiedienstleistungen vermeiden E ziente Gebäude Elektrisch betriebene Fahrzeuge Ö entlicher Verkehr und Fahrradfahren Biokraftsto e für den Verkehr Erneuerbare Energien vor Ort Kraftsto e ziente Fahrzeuge Umstellung auf nachhaltige gesunde Ernährung Optionen, die höchstens 100 USD pro t CO 2 Äq kosten, könnten die globalen Emissionen bis 2030 um mindestens die Hälfte gegenüber dem 2019-Niveau b) Potenzial nachfrageseitiger Minderungsoptionen bis 2050 Die Bandbreite des THG-Emissionsreduktionspotenzials beträgt in Abbildung 16: Maßnahmen der Nachhaltigkeitstransformation nach Bereich, Machbarkeitseinschät‐ zung und grober Kostenprognose (IPCC 2023, S.-28) 90 6 Transformation ∙ Test für politische Systeme <?page no="91"?> Die rechte Tabellenspalte gibt einen Überblick über geschätzte Wirkungspotenziale und deren mögliche Kosten (in Form von diskontierten Nettokosten der vermiedenen THG-Emissionen im Vergleich zu einer Referenztechnologie). Allmähliche Farbüber‐ gänge weisen auf besonders starke Unsicherheiten in den Schätzungen hin. Neben der Eingriffstiefe der insgesamt avisierten Transformationsmaßnahmen gewährt die Tabelle einen groben Überblick darüber, wie herausfordernd es sein wird, diesen Wandel in die Gesellschaft hinein zu moderieren, zu erklären, positiv zu konnotieren sowie zur Vermeidung einer überforderungsbedingten Transformations‐ müdigkeit bis hin zur Totalblockade das richtige Timing und Sequencing zu wählen. Zwar variieren die für die mutmaßlich intensivste Phase der Transformation genannten Zeiträume bislang erheblich, was angesichts des Umfangs des Vorhabens nicht verwun‐ derlich ist. Doch, realitätsnah betrachtet, dürfte die Nachhaltigkeitstransformation mindestens 30 Jahre dauern. Da diese Zeitspanne ohne zwischenzeitliche Erfolge politisch nicht haltbar sein dürfte, muss auf die Erreichung und Kommunikation von Etappenzielen hingearbeitet werden. Diese sollten realistisch gewählt werden, um das Vertrauen der Bürger zu erhalten. Flankierend müssen Versprechen von Entlastungen und sukzessiven diesbezüglichen Belegen hinzukommen. Nur so lassen sich die erwähnten Narrative der Gegner entkräften, die sonst mit jedem ausbleibenden Erfolg weiter gestärkt werden. ▻ Zwischenzusammenfassung und Literaturhinweise Mitentscheidend für den Verlauf transformativer politischer Vorhaben ist die konsti‐ tutionelle Verfasstheit einer Gesellschaft. Gerade Demokratien laufen aufgrund des systembedingten Zulassens einer großen Meinungsvielfalt Gefahr, sich in Situationen, in denen es schneller politischer Entscheidungen bedarf, in langwierigen Meinungs‐ bildungsprozessen zu verzetteln. Diese Gefahr darf auch deshalb nicht unterschätzt werden, weil mit wachsenden Partizipationsmöglichkeiten ebenso die Sensitivität für neue Situationen bzw. die damit einhergehenden Problemwahrnehmungen zuneh‐ men. Diese Problematik wurde im sechsten Kapitel mithilfe eines Feedbackmodells untersucht, das die für die gesellschaftliche Wahrnehmung von Problemen einschließ‐ lich ihrer Lösungsfindung unabdingbaren kommunikativen Interaktionsmechanismen zwischen individueller, kollektiver und politischer Ebene berücksichtigt. Die Art der Vermittlung von Botschaften, d. h., das Wie der Kommunikation, wird zum entscheidenden Erfolgsfaktor, wenn Mehrheiten generiert werden sollen, die für eine längerfristig tragfähige Umsetzung der Nachhaltigkeitstransformation zwingend erforderlich erscheinen. Die Eigenlogiken der unterschiedlichsten Vermittlungswege, entlang von Bottom-up- und Top-down-Pfaden, gilt es ebenso zu berücksichtigen wie den konstruktiven Umgang mit Kritik und Widerständen, die sich aus dem Infragestellen gelebter Gewohnheiten und vermeintlicher Grundfeste ergeben. Hinzu kommen die Eigengesetzlichkeiten des Einsatzes politischer Narrative, die angesichts einer immer schwieriger zu bewältigenden Informations- und Meinungskomplexität ▻ Zwischenzusammenfassung und Literaturhinweise 91 <?page no="92"?> an Bedeutung gewinnen. Eine Erscheinungsform ist die verstärkte Herausbildung und Pflege einer „Wir-und-die-Weltsicht“, durch die Wähler gewonnen und gehalten wer‐ den sollen. Trotz der diskutierten Probleme bei der politischen Entscheidungsfindung und -durchsetzung in demokratisch-freiheitlich organisierten Gesellschaften wurde die These verworfen, monokratische Systeme könnten dauerhaft einen Vorteil im Transformationsgeschehen haben - auch und gerade vor dem Hintergrund einer ganz‐ heitlichen Vorstellung von gesellschaftlicher Wohlfahrt und längerfristiger Stabilität. Im Weiteren ging es darum, wie eine transformative Wirtschaftspolitik unter Nut‐ zung bewährter Markt- und Preismechanismen institutionelle Rahmenbedingungen anpasst, um gewünschte Verhaltensänderungen zu erreichen. Im Sinne evolutionsbzw. institutionenökonomischer Zusammenhänge wurde gezeigt, dass gezielte Regel‐ änderungen, etwa in Form von Preisanpassungen bei besonders „umweltsensiblen“ Gütern, Anreize zum Erreichen von Nachhaltigkeitszielen generieren können. Um Menschen für entsprechende Vorhaben zu gewinnen, genügt nicht allein der über ein gesetztes Anreizschema „verordnete“ Druck. Vielmehr müssen Vermittlung und Überzeugung priorisiert werden, um bei den Adressaten eine Intrinsifizierung zu erreichen. An dieser Stelle kommen gleichermaßen kommunikationswie auch bil‐ dungspolitische Maßnahmen ins Spiel. Beck, U. 1986. Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.-M. Hierbei handelt es sich um einen Klassiker des Soziologen Ulrich Beck. Unter die Lupe genommen werden Individualisierungstendenzen der modernen Gesellschaft und mit ihnen der Rückgang traditioneller Formen wie Klasse, Familie, Geschlechterrollen usw. sowie die Zunahme diverser Risiken. Koch, L. T. 2005. Economic policy - a process of communication, in: Dopfer, K. (ed.), Economics, Evolution and the State, Cheltenham, UK, S.-168-189. Aus der Perspektive der evolutorischen Ökonomik wird in diesem Aufsatz dargestellt, welche Bedeutung dem Entstehungskontext einer wirtschaftspolitischen Situation und im Zuge dessen der Berücksichtigung individueller wie gesellschaftlicher Wahrnehmungs- und Kommuni‐ kationsprozesse zukommt. Samoilenko, S. A. / J. Cook 2023. Developing an Ad Hominem typology for classifying climate misinformation, Climate Policy 2023, S.-1-14. Der Beitrag befasst sich auf empirischer Basis mit rhetorischen Taktiken im Kampf um die Deutungshoheit in der Klimadebatte. Ad-hominem-Argumente, die weg von der inhaltlichen hin zu einer persönlichen Ebene führen, sind dabei ein häufig zu beobachtendes Mittel. 92 6 Transformation ∙ Test für politische Systeme <?page no="93"?> 7 Degrowth ∙ ein Konzept zwischen Utopie und Missverständnis Logik und Grenzen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung Bisher wurden die Hintergründe, Ursachen, Möglichkeiten und (politischen) Risiken der laufenden großen Transformation mit dem postulierten Leitziel, das „Überleben der Menschheit mittels der Stabilisierung globaler Umweltsysteme“ zu sichern, diskutiert. Noch nicht ausdrücklich zur Sprache kam die Frage, wie und ob diese Transformation, wenn sie denn gelingen kann, unser Wohlstandsniveau tangiert. Wenn der zu diesem Zeitpunkt amtierende deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz im Jahr 2023 davon sprach, sein Land stehe wegen der Investitionen in die Dekarbonisierung vor einer Zeit hoher Wachstumsraten, ähnlich wie in den Jahren des Wirtschaftswunders (Fuest 2023), sind mit dieser Aussage eine ganze Reihe von Annahmen verbunden, die es im Folgenden aufzugreifen gilt. Üblicherweise werden Konstrukte, die hinter der Vorstellung von Wohlstand und derjenigen von Wachstum stehen, miteinander verknüpft. Spricht man von wachsen‐ dem oder steigendem Wohlstand, meint man landläufig, dass es einem individuell, als soziale Gemeinschaft oder als Volkswirtschaft besser geht. Im deutschen Grundgesetz wird beispielsweise die Formulierung „Wohl des Volkes“ verwendet. Verantwortliche Politiker müssen sich im Rahmen ihres Amtseides explizit darauf verpflichten, wobei das „Wohl der Allgemeinheit“ Ziel unterschiedlichster politischer Handlungsermächti‐ gungen ist. Zugleich existiert in Deutschland seit dem Jahr 1967 das Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft. In § 1 heißt es dort: „Bund und Länder haben bei ihren wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen die Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu beachten. Die Maßnahmen sind so zu treffen, daß sie im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig zur Stabilität des Preisniveaus, zu einem hohen Beschäftigungsstand und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum beitragen“ (§ 1 StabG). Es gibt mithin unmissverständliche, institutionell verankerte normative Bezüge zu den Leitzielen Wohlstand und Wachstum, die sich in Deutschland und anderen Ländern ähnlich finden, jedoch in der Transformationsbzw. Nachhaltigkeitsdebatte innerhalb eines breiten Spektrums an Argumenten hinterfragt werden. So umfassen die Forderungen moderate Anpassungen vorherrschender Überzeugungen bis hin zur radikalen Ablehnung jeglichen auf Wachstum gründenden Wohlstands. Als Schlagwort ist in diesem Zusammenhang das Degrowth zu nennen. Als Begründer der Degrowthbzw. wachstumskritischen Bewegung gilt Serge Latouche. Er richtet sich mit sei‐ nem Ansatz gegen die ökonomistische, entwicklungsfixierte und fortschrittsgläubige Denktradition der herkömmlichen Wirtschaftswissenschaften (u. a. Latouche 2015). <?page no="94"?> Gefordert wird, dass Volkswirtschaften absichtlich schrumpfen sollten. Anhänger dieser Auffassung gehen - in unterschiedlich radikaler Auslegung - davon aus, ein solches Gesundschrumpfen könnte die ökonomische Sphäre in unseren Gesellschaften durch eine Verringerung von Konsum, Produktion und damit auch des Sozialprodukts zu mehr sozialer Gerechtigkeit, ökologischer Nachhaltigkeit und Wohlbefinden führen. „Jede Form von zusätzlichem Wirtschaftswachstum, sei es [auch] nachhaltiger, grüner oder sozialer, legitimiere die Fortführung des Status Quo und lenke vom Widerspruch ab, dass BIP- Wachstum und eine Renaturierung auf ein nachhaltiges Niveau nicht miteinander vereinbar sind. Die Vision einer Degrowth-Gesellschaft beinhaltet eine Relokalisierung der Wirtschaft, die gerechtere Verteilung von Einkommen und Ressourcen, neue demokratischere Institutio‐ nen, Suffizienz und soziale und technische Innovationen, die ein konviviales und frugales Leben fördern. Wohlbefinden speist sich in dieser Vision aus vielen nicht konsumabhängigen Dingen - Räume für soziale Interaktionen, mehr Zeit mit Freunden und der Familie, mehr Einfachheit im Leben, Nachbarschaftshilfe, die gerechtere Verteilung von Arbeit und weniger materieller Konsum“ (Lexikon der Nachhaltigkeit 2015). Um diese Kritik am herkömmlichen Wachstumsparadigma einzuschätzen, ist es sinn‐ voll, sich zunächst mit den damit häufig implizit einhergehenden Vorannahmen auseinanderzusetzen. Dazu gehört die Vorstellung, Wohlstandswachstum ließe sich in quantitative Kategorien umsetzen. Grundlegend für die statistische Erfassung ist zunächst die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR), deren Ziel es ist, das Wirtschaftsgeschehen möglichst umfassend quantitativ abzubilden. Die für Aussagen über das Wirtschaftswachstum geläufigste Kennzahl ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP), welches den aggregierten Wert der gesamten in einer Periode geschaffenen Wertschöpfung - das ist der Wert aller produzierten Endprodukte und erbrachten Dienstleistungen unter Abzug der dafür erforderlichen Vorleistungen - ausweist. Anschließend an diese Bemessung von Wertschöpfung werden Entwicklungsaussagen in der Form verknüpft, dass positive Veränderungen der Wirtschaftsleistung über die Zeit Wachstum und damit eine Wohlstandssteigerung indizieren. So sachlich und augenscheinlich logisch sich diese Konstruktion auch darstellt, so berechtigt sind zugleich die vielen Ansätze der Kritik daran. Vorgehalten wird dem Messkonzept des Bruttoinlandsprodukts, ■ es erfasse kaum nicht-marktbezogene Aktivitäten und unterschätze damit die Wohl‐ fahrt eines Landes. Exemplarisch wird auf Arbeit im Haushalt, Nachbarschaftshilfe, ehrenamtliche Tätigkeiten und Schattenwirtschaft (siehe hierzu den nachfolgenden Kasten) bis hin zu Prostitution und illegalem Drogenhandel verwiesen; ■ es vernachlässige weiterhin die Bedeutung der Einkommensverteilung. So könnte es sein, dass Bürger in einem Land mit egalitärerer Einkommensverteilung zufrie‐ dener sind als die in einem Land mit unterschiedlicherer Verteilung, obwohl nach der VGR der Wohlstand in beiden Beispielländern gleich ist; ■ es gebe volkswirtschaftlichen Wohlstand aufgrund verzerrter Preise, insbesondere auch im Vergleich zwischen unterschiedlichen Ländern, nicht korrekt wieder. Mit 94 7 Degrowth ∙ ein Konzept zwischen Utopie und Missverständnis <?page no="95"?> Blick auf die Transformationsdebatte spielen hier vor allem nicht internalisierte externe Effekte eine Rolle, die zu einer Überbeanspruchung natürlicher Ressourcen führen; zu nennen sind neben der vielfältigen Ressourcenausbeutung die Müllent‐ sorgung und die damit einhergehende Verschmutzung der Weltmeere oder auch der Rückgang der Artenvielfalt; je nach Erfassung der Aktivitäten, so die Kritik, würde die Umweltschädigung sogar wachstumssteigernd zu Buche schlagen; ■ das so periodenübergreifend gemessene Wachstum gehe auch aufgrund der vorheri‐ gen Kritikpunkte nicht notwendigerweise mit einer Wohlergehens-, Nutzen- oder Glückssteigerung bei den Menschen in den betreffenden Volkswirtschaften einher. Konzept 6 | Informeller Sektor oder Schattenökonomie Neben dem BIP gibt es viele andere Messgrößen, mit denen die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit erfasst wird, beispielsweise der Produktionswert, die Brutto‐ wertschöpfung, das Brutto- und Nettosozialprodukt (zu Marktpreisen oder zu Faktorkosten) bzw. Brutto- und Nettonationaleinkommen, das aggregierte Ein‐ kommen der Haushalte und das verfügbare Einkommen. In diesen Größen ist die informelle Wirtschaft oder auch Schattenwirtschaft nicht enthalten. Im Jahr 2019 schätzte die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), dass fast zwei Milliarden Menschen in irgendeiner Form informell beschäftigt waren, was einem Anteil von 60 Prozent der Beschäftigten weltweit entsprach, wobei der größte Anteil von 47-Prozent der informell Beschäftigten auf Selbstständige entfiel (ILO 2023, S.-15). Der Begriff der informellen Ökonomie oder des informellen Sektors ent‐ stammt der Soziologie (Döhrn 1990, S. 22). Er sollte auf die Existenz eines Wirt‐ schaftssektors hinweisen, der insbesondere für das Überleben vieler Menschen in der „Dritten Welt“ entscheidend ist. Von einer regelrechten „babylonischen Sprachverwirrung“ war hinsichtlich der Uneinheitlichkeit der Bestimmung des informellen Sektors in den 1980er- und 1990er-Jahren die Rede. Einer Systema‐ tik folgend, werden drei Modellrichtungen unterschieden, mit denen sich die informelle Ökonomie erfassen lässt: die entwicklungstheoretischen, die dualöko‐ nomischen und die schattenwirtschaftlichen Ansätze (Frambach 1999, S. 338). Um einen ersten Eindruck von der tatsächlichen Begriffsvielfalt zu vermitteln, seien nur die entwicklungstheoretischen Ansätze benannt, die sich weiter in die Drei- Sektoren-Hypothese von Jean Fourastié (1907-1990), die Selbstbedienungsgesell‐ schaft von Jonathan Gershuny oder die Dienstbotengesellschaft nach André Gorz (1923-2007), wie er sie in seiner Kritik der ökonomischen Vernunft ausgeführt hat, aufteilen lassen. In modernen ökonomischen Arbeiten trifft man häufig auf eine, vor allem auch für die empirische Forschung zugängliche Definition der Schattenwirtschaft. Nach Friedrich Schneider et al. umfasst die Schattenwirtschaft oder informelle Ökonomie demnach „die gesamte marktbasierte, legale Produk‐ tion von Waren und Dienstleistungen (…), die aus einem der folgenden Gründe bewusst vor den öffentlichen Behörden verborgen wird: (1) um die Zahlung von Logik und Grenzen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung 95 <?page no="96"?> Einkommens-, Mehrwert- oder anderen Steuern zu vermeiden, (2) um die Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen zu vermeiden, (3) um die Einhaltung bestimm‐ ter gesetzlicher Arbeitsmarktstandards wie Mindestlöhne, Höchstarbeitszeiten, Sicherheitsstandards usw. zu vermeiden, und (4) um die Einhaltung bestimmter Verwaltungsverfahren wie das Ausfüllen statistischer Fragebögen oder anderer Verwaltungsformulare zu vermeiden“ (Schneider et al. 2010, S.-5; eigene Übers.). Diese offensichtlichen Erfassungsmängel der Volkswirtschaftlichen Gesamtrech‐ nung werfen die Frage auf, ob das aus ihr hervorgehende BIP als Indikator der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und Wohlfahrtsentwicklung von Volkswirtschaf‐ ten ausgedient haben könnte. Hierauf gibt es zwar die klare Antwort, dass das BIP als Wohlstandsmaß bis auf Weiteres unverzichtbar bleibt. Es sind allerdings konzeptionelle Ergänzungen nötig, wenn man es im Rahmen der Wirkungsanalyse transformativer Wirtschaftspolitik im Nachhaltigkeitskontext sinnvoll einsetzen will. Diese Ergänzungen finden sich im Folgeabschnitt „Ethisches Wachstum“. Die vorläufig unverzichtbaren Vorteile des Sozialprodukts liegen aus technischer Sicht vor allem in seiner tiefstrukturierten Quantifizierungslogik, die unzählige über Markt‐ preise abgedeckte Verflechtungen des Wirtschaftsgeschehens erfasst. Für das hierfür existierende nicht nur nationale, sondern weltweite Erfassungsnetz der höchst komplexen, vielschichtigen Interaktionen von Milliarden von Wirtschaftssubjekten ist bislang keine auch nur annähernd ähnlich (a) leistungsfähige, (b) in sich konsistente und (c) weithin durchsetzbare bzw. realistisch implementierbare Alternative vorgestellt worden. Andere Wohlstandsindikatoren, die an den offensichtlichen Schwachpunkten der VGR ansetzen, eignen sich freilich in Teilen sehr wohl als wichtiges Korrektiv, nicht aber als Ersatz. Die substanzielle Bedeutung des aus der VGR abgeleiteten Wachstumskonzepts betreffend betont beispielsweise der Abschlussbericht einer Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zum Thema „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität - Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft“ aus dem Jahre 2013: „(…) dass Wachstum kein Ziel an sich sei, jedoch als Mittel zur Erreichung anderer Ziele hohe Bedeutung“ habe (Bundeszentrale für po‐ litische Bildung 2013, S. 24). So schaffen etwa Mehrerlöse bzw. steigende Gewinne von Unternehmen zusätzliche Arbeitsplätze. Im Falle eines Wachstumsrückgangs hingegen würde nicht nur dieser Effekt ausbleiben, sondern es würden infolgedessen zusätzlich Entlassungen drohen. Ähnliches gilt für die Wirkungen der aus Wirtschaftswachstum resultierenden Steuermehreinnahmen. Sie ermöglichen staatliche Aktivitäten, die je nach Politikansatz z. B. unmittelbare transformative Maßnahmen zur Verbesserung der Umweltqualität oder - im Sinne mittelbarer Maßnahmen - den Ausbau von Forschung und Entwicklung zur Förderung der Suche nach innovativen Lösungen im Nachhaltigkeitskontext betreffen können. Solche Politikansätze hätten bzw. haben dann zur Folge, dass auch ein zentrales Argument der Wachstumskritik abgeschwächt wird, da der Ressourcenverbrauch und 96 7 Degrowth ∙ ein Konzept zwischen Utopie und Missverständnis <?page no="97"?> das Ausmaß der Umweltschädigungen nicht mehr im mindestens gleichen Ausmaß wie die Wirtschaft, gemessen am BIP, wachsen, sondern unterproportional zunehmen oder gar absolut sinken. Im ersten Fall spricht man daher auch von relativer Entkopplung der Umweltbelastung vom Wirtschaftswachstum. Sie resultiert unter anderem aus einem effizienteren Ressourceneinsatz einschließlich der Abfallvermeidung durch Recycling und anderen Methoden einer zirkulären Ökonomie. Der zweite Fall, in dem die Umweltbelas‐ tung höchstens konstant bleibt oder gar absolut sinkt, wird als absolute Entkopplung bezeichnet. Die folgende Grafik veranschaulicht diese Effekte vereinfacht. Abb. 17: Absolute und relative Entkopplung (eigene Darstellung) 200 150 100 50 (indexiert) Zeit Ökonomische Aktivität (BIP) Relative Entkopplung Absolute Entkopplung Abbildung 17: Absolute und relative Entkopplung der Umweltbelastung (eigene Darstellung) Bei allem, was bislang einschränkend zur Degrowth-Argumentation gesagt wurde, ist trotzdem noch einmal zu betonen, dass eine kritische Sicht auf das Wirtschaftswachs‐ tum im herkömmlichen makroökonomischen Sinne auch historisch betrachtet ihre Berechtigung hat. Seit jeher versuchen Ökonomen, die wirtschaftliche Leistungsfähig‐ keit einer Volkswirtschaft in Zahlen auszudrücken, was sich an vielen Beispielen der großen klassischen Nationalökonomen bis hin zu heutigen Fachvertretern belegen lässt. Je mehr produziert wurde, je besser Menschen versorgt werden konnten, desto höher wurde und wird auch das Wohlstandsniveau eingeschätzt. Aus heutiger Sicht ist diese Denkweise schon deshalb gut nachvollziehbar, weil die aus dem Wirtschafts‐ wachstum entstehenden Vorteile von Mehrproduktion und erhöhten Einkommen für den Einzelnen greifbar und erlebbar sind. Als problematisch sind hingegen die teils menschenunwürdigen Arbeitsbedingun‐ gen anzusehen, wie sie sich vor allem mit dem Zeitalter der Frühindustrialisierung in den großen Industriestandorten entwickelten. Ein gewiss nicht minder hoher „Preis“ für das Wirtschaftswachstum der westlichen industrialisierten Welt wurde während Logik und Grenzen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung 97 <?page no="98"?> der Kolonialisierung des afrikanischen Kontinents von der dortigen Bevölkerung gezahlt. Deren Ausbeutung betrifft dabei keineswegs nur die Hochphase des Imperia‐ lismus, sondern reicht bis in die Gegenwart hinein mit Stichworten wie Mülltourismus, Unterlaufen von Umweltstandards und Umgehung von Sicherheitsvorschriften. Poin‐ tiert lässt sich formulieren: Je größer und wohlhabender soziale Gemeinschaften waren, desto intensiver beuteten sie zugleich ihre Umwelt sowie teils auch Mitmenschen aus und hinterließen entsprechend zerstörerische Spuren. Auf der anderen Seite spricht vieles dafür, dass eine auf soziale, organisatorische, designbezogene und technologische Innovationen zur Verbesserung nachhaltigen Wirtschaftens ausgerichtete Politik eine zumindest teilweise Entkopplung der bishe‐ rigen Wirtschaftsweise von der Umweltbelastung erreichen kann. → Abbildung 18 zeigt anhand eines Wirkungsdiagramms, welche Einflussfaktoren im Sinne der oben skizzierten wachsenden „Druckszenarien“ für eine effizientere materielle Produktivität relevant sein können. Abb. 18: Einflussfaktoren verbesserter materieller Produktivität (in Anlehnung an Dittrich et al. 2012, S. 50) Weniger Extraktion Weniger Verbrauch Milderung der Umweltbelastung Substitution von umfangreicher inländischer Materialgewinnung oder -produktion durch Importe Erhöhung der Extraktion oder Produktion im Ausland Steigende Rohstoffpreise Mehr Extraktion Verschärfung der Umweltbelastung Verbesserung der Materialproduktivität Politische Krise inkl. Krieg und Transformation von Systemen Ressourcenkrise/ -knappheit (z.B. Verknappung von Öl auf dem Weltmarkt) Substitution von ineffizient verwendetem Material Effizientere Nutzung von Materialien Mehr Verbrauch Abbildung 18: Einflussfaktoren verbesserter materieller Produktivität (in Anlehnung an Dittrich et al. 2012, S.-50) 98 7 Degrowth ∙ ein Konzept zwischen Utopie und Missverständnis <?page no="99"?> Inwieweit die in der Grafik ebenfalls dargestellte Option von Rebound-Effekten infolge einer Überkompensation relativ oder absolut eingesparter Ressourcenbzw. Schädigungsvermeidung bei vergleichsweise stabilen Konsumpräferenzen relevant ist, hängt wiederum vom Erfolg solcher politischen Maßnahmen ab, die auf eine Intrinsifizierung erreichter Einstellungs- und Verhaltensänderungen abzielt. Werden also beispielsweise durch Effizienzsteigerungen ermöglichte Einsparungen realisiert, die wiederum zu absolut gesehen höheren Verbräuchen (als vor der Einsparung) führen, kommt es entscheidend auf die bewusste Wahrnehmung aller Beteiligten und den Umfang der Intrinsifizierung an, um diese negativen (Rebound-)Effekte vermeiden zu wollen. Mit diesen Überlegungen sind die Möglichkeiten und Grenzen von Wohlstands- und Wachstumsaussagen im Kontext gesellschaftlichen Wandels zumindest grob abgesteckt. Immerhin erlaubt das herkömmliche Instrumentarium der Volkswirt‐ schaftlichen Gesamtrechnung dezidierte Aussagen darüber, in welcher Größen‐ ordnung die Produktion und der Konsum von Waren und Dienstleistungen über die verschiedenen Bereiche der Wirtschaft hinweg zu- oder abgenommen haben. Die Kritik, dass längst nicht alle relevanten produktiven und konsumierenden Akti‐ vitäten in Volkswirtschaften erfasst werden, bleibt davon unberührt. Es ist jedoch in relevantem Ausmaß leistbar, auch sich verändernde Relationen von nachhaltig‐ keitsschädlichen sowie -zuträglichen Aktivitäten nachzuvollziehen, vorausgesetzt sie werden über Märkte erfasst. Auf diese Weise lassen sich dann unter anderem wichtige Aussagen zur Entwicklung der volkswirtschaftlichen Ressourceneffizienz, differenziert nach Branchen, machen. Der damit einhergehende Datenfundus bietet eine wichtige Grundlage, um den Erfolg transformativer Wirtschaftspolitik zu be‐ werten. Den ergänzenden Einsichten und Voraussetzungen für diese Feststellung widmet sich der folgende Abschnitt. Ethisches Wachstum Die Überschrift „ethisches Wachstum“ verkennt keinesfalls die dieser Wortkombina‐ tion inhärente Widersprüchlichkeit. Gemeint ist die Verknüpfung herkömmlicher wachstumspolitischer Überzeugungen mit der zum Mainstream werdenden Einsicht, es gehöre schon allein aus Eigeninteresse zur Verantwortung der Menschheit, ihren Lebensraum nachhaltig zu erhalten. Ob man die faktische Wahrnehmung dieser Verantwortung mit dem Etikett „ethisch“ kennzeichnen möchte oder nicht, ist eher eine abstrakt-normative Frage, die hier nicht weiterverfolgt wird. Viel wichtiger ist an dieser Stelle, die Ansatzpunkte zu nennen, die aus einem Regime umweltbelastenden Wachstums ein auf Teilentkopplung basierendes Regime nachhaltigen Wachstums werden lassen. Ein erster Ansatzpunkt ergibt sich unmittelbar aus den vorigen Überlegungen. Die Nichterfassung zahlreicher externer Effekte, mit denen sich eine nicht kosten- und damit preismäßig ausgedrückte (Über-)Beanspruchung der Umwelt verbindet, ist dabei Ethisches Wachstum 99 <?page no="100"?> zunächst nicht als Versagen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung selbst oder des überlieferten Wachstumsparadigmas aufzufassen. Lange fehlten vielmehr eine Sensibilisierung für die Problematik, der politische Handlungsdruck und teilweise auch technologische Möglichkeiten für eine wirksame Internalisierung. Wie gezeigt wurde, stehen für letztere Aufgabe politische Instrumente bereit, die Anreize so setzen, dass schädliche ökonomische Aktivitäten unterbleiben oder reduziert bzw. durch umweltverträglichere substituiert werden. Dass in diesem Kontext auch die technologische Seite angesprochen wird, verweist einmal mehr auf die Bedeutung von Fortschritt und Innovation. Zum einen bedarf es immer neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse, um eine Verbindung zwischen wirt‐ schaftlicher Aktivität und möglicher Umweltgefährdung feststellen zu können. Zum anderen sind immer wieder neue technische Lösungen von Nöten, um erkannte faktische Schädigungen zu messen und via Zurechnung zu den Verursachern zu leistbaren Kosten abgelten zu können. Ein zeitgemäßes Beispiel für Fortschritte in diesem Bereich sind etwa verbesserte Optionen des Road Pricings, über das dem Straßenverkehr heute deutlich leichter verursachungsgemäß die von ihm hervorgeru‐ fenen Umweltschädigungen angelastet werden können. Ein weiterer Ansatzpunkt, über den herkömmlich gemessenes Wachstum nachhal‐ tiger ausfallen kann, ergibt sich ebenfalls bereits aus der Eigenlogik der Berechnung des BIP und verbindet sich zugleich mit schon diskutierten transformativen Politik‐ maßnahmen. Hierfür betrachten wir die nachstehende, stark vereinfachte Darstellung der Berechnung des Sozialprodukts. Abstrahiert wird von der Berücksichtigung von Vorleistungen, Steuern, Subventionen sowie der Verflechtung der ökonomischen Aktivität mit dem Ausland. Was seine Entstehungsseite anbetrifft, lässt es sich dann als die Summe aller mit den jeweiligen Einzelpreisen gewichteten, in einer Periode produzierten Güter und Dienstleistungen verstehen. Konzept 7 | Vereinfachte Darstellung der Sozialproduktberechnung Y n = P 1 ⋅ Q 1 + P 2 ⋅ Q 2 + … + P n ⋅ Q n = ∑ i = 1 n P i ⋅ Q i mit den Gütern-i = 1, …, n; Q i -als Menge des Gutes-i-und-P i -als dessen Preis Betrachten wir für eine weitere Vereinfachung im ersten Schritt lediglich ein Gut 1 mit dem Preis P 1 und der produzierten Menge Q 1 . Wird dieses Gut und/ oder seine Produk‐ tionsweise vor dem Hintergrund wissenschaftlicher Erkenntnisse als umweltbelastend eingestuft, bieten sich der Politik die skizzierten Möglichkeiten, über eine Erhöhung des Preises die nachgefragte Menge und damit den Konsum zu reduzieren. Dies führt zunächst zu einer Minderung des Sozialprodukts. Die eingenommenen Steuern und Abgaben lassen sich jedoch dafür einsetzen, den Preis eines anderen Produktes, P 2 , das 100 7 Degrowth ∙ ein Konzept zwischen Utopie und Missverständnis <?page no="101"?> als nachhaltigkeitsförderlich gilt, durch entsprechende politische Maßnahmen zu re‐ duzieren, sodass sich Q 2 erhöht. Zugleich ergeben sich aus der staatlichen Behandlung der Güter 1 und 2 wichtige Marktsignale. Innovative Unternehmer werden im Sinne von Schumpeter zur Veränderung des Güterraums in der betrachteten Volkswirtschaft in Richtung der politischen Signalsetzung beitragen, damit am Ende die reduzierte Nachfrage nach umweltbelastenden Gütern durch eine verstärkte Produktion und eine darüber generierte neue Nachfrage nach veränderten und innovativen Produkten überkompensiert werden kann. Zweifellos spielen heute für die Wahrscheinlichkeit der immer wieder neuen Generierung solcher Vorsprungsgewinne und ihr Ausmaß nicht nur die Beherztheit politischer Rahmensetzungen vor Ort, sondern auch die starke internationale Verflechtung des politischen und marktlichen Wettbewerbs eine essenzielle Rolle. Bereits dieses vereinfachte Beispiel relativiert die These von der Unvereinbarkeit von Wachstum und Nachhaltigkeitsparadigma. Entscheidend ist, was sich hinter „n“, also der Gesamtheit der jeweiligen Produkte und Dienstleistungen verbirgt. Denn sind deren (insbesondere schädigende) Eigenschaften bekannt, besteht die Möglichkeit, mittels institutioneller Maßnahmen eine zielgerichtete Substitutions‐ wirkung über den Preismechanismus herbeizuführen. Ob Wachstum in einer Volkswirtschaft also „ethisch“ bzw. nachhaltig ausfällt, hängt von der Gestaltung ihrer Rahmenordnung ab. Hier muss einschränkend nochmals an die Zusammen‐ hänge zwischen dem Wandlungstempo und dem Erfolg einer entsprechenden Politik des gerichteten Wandels erinnert werden. Der Weg von einem umweltbelastenden Wachstumsgeschehen hin zu einer „ethischen Wachstumspolitik“ im Sinne einer auf Nachhaltigkeit orientierten Verantwortungsethik gestaltet sich insofern aufwendig. Ein dritter Ansatzpunkt, über den Volkswirtschaften auf einen Pfad nachhaltiger wirtschaftlicher Entwicklung gelangen können, ohne auf die aus ökonomischem Wachstum resultierenden Optionen verzichten zu müssen, liegt in der Berücksichti‐ gung zusätzlicher Indikatoren. Ausgangspunkt dafür ist die Kritik an den Schwach‐ stellen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, insbesondere wenn man im Sinne der SDGs der Vereinten Nationen mit einer nachhaltigen Entwicklung von Ge‐ sellschaften nicht nur ökonomische und ökologische, sondern auch soziale Aspekte wie Ernährung, Gesundheit, Bildung und Sicherheit verknüpft. Da der Kompaktindikator BIP aufgrund der genannten Erfassungsschwächen ■ existierende Probleme an dieser Stelle nicht oder nicht ausreichend erkennen lässt, ■ im Staatenvergleich zu Fehlschlüssen führen kann, ■ eine vorschnelle Gleichsetzung von ökonomischer Prosperität einerseits sowie Zufriedenheit und Glück andererseits suggerieren kann und somit ■ längst nicht alle im Kontext transformativer (Wirtschafts-)Politik benötigten Kennzahlen liefert, Ethisches Wachstum 101 <?page no="102"?> bedarf es einer Ergänzung. Dazu kann man auf zahlreiche Konzepte zurückgreifen, die gleichwohl unterschiedlich umfassend und praktikabel ausfallen. Grundlegende Schwierigkeiten, aber auch Chancen, die mit der Suche nach multidimensionalen Erfolgsmaßen und ihrer Verwendung für das Wirtschaften in Gesellschaften verbunden sind, ergeben sich aus dem folgenden Zitat des schon erwähnten Schlussberichts einer 2013 dem Bundestag berichtenden Enquete-Kommission: „Die Suche nach einem guten Maß für den Wohlstand stellte zahlreiche Herausforderun‐ gen. Schwierigkeiten ergaben sich bereits aus der Frage, welche Aspekte eindeutig zum Wohlstand gehören. Unterschiedliche Werturteile, Weltanschauungen und Interessenla‐ gen von Individuen führen dazu, dass die Definition, was das ‚erfüllte menschliche Leben‘ ist, naturgemäß höchst unterschiedlich beantwortet wird. Jede Auswahl von Aspekten ist normativ und damit diskussionswürdig. Leitgedanke der Abgeordneten und Sachver‐ ständigen war vor diesem Hintergrund die Frage, was Menschen - auch die folgenden Generationen - für die Verwirklichung eines individuell guten, gelingenden Lebens benötigen. Dabei gab es übergreifend politisch und ethisch große Übereinstimmungen. Bei der Entscheidung, welche dieser Aspekte schließlich in das Wohlstandsmaß einfließen sollen, tat sich indes ein Zielkonflikt auf: Dieser bestand zwischen dem Wunsch einerseits, die Komplexität des Phänomens ‚Wohlstand/ Lebensqualität‘ durch geeignete Indikatoren umfassend abzubilden und dem Anspruch andererseits, so wenige Variablen wie möglich auszuwählen, damit der Wohlstands-Indikatorensatz kommunizierbar bleibt. Schließlich waren auch aufgrund fehlender Statistiken nicht alle Überlegungen tatsächlich umsetzbar. So wird beispielsweise die zweifellos wohlstandssteigernde unbezahlte Produktion in Privathaushalten nicht regelmäßig und international vergleichbar gemessen, ebenso fehlt eine seriöse, international verfügbare Maßzahl für die Artenvielfalt. Die Projektgruppe 2 hat nach zweijähriger Arbeit ein ‚erweitertes BIP‘ vorgelegt, das aus zehn Leitindikatoren besteht und neben dem Materiellen auch die Wohlstandsdimensionen Soziales/ Teilhabe und Ökologie abbildet. Dem Deutschen Bundestag wird mit diesem Indikatorensatz empfohlen, dass gleichberechtigt neben der materiellen Dimension des Wohlstands andere Aspekte stehen. Der Erhalt von Freiheit und Demokratie, soziale Inklusion durch einen guten Bildungsabschluss und Arbeit für möglichst viele sowie Gesundheit spielen künftig eine Rolle, wenn die Gesellschaft prüft, wie es um den eigenen Wohlstand steht. Zugleich zeigt das neue breitere Wohlstandsmaß, ob dieser Wohlstand nachhaltig ist, indem Um‐ weltqualität und Staatsverschuldung einbezogen werden. Die zehn Indikatoren werden Anstöße liefern, auf einer breiten, soliden Informationsbasis öffentlich und prominent Verbesserungen oder Verschlechterungen in einzelnen Wohlstandsbereichen zu diskutie‐ ren. Zielkonflikte werden in Zukunft deutlicher sichtbar und die gesellschaftliche Debatte wird dadurch beflügelt. Auch der Vergleich mit anderen Ländern wird sich qualitativ ändern: Volkswirtschaften mit hohen Wachstumsraten wie China oder Indien sieht der Betrachter mit anderen Augen, wenn in einem Atemzug auch über Umweltqualität, soziale Inklusion oder Freiheitsrechte berichtet wird. Das neue Wohlstandsmaß wird neue Fragen aufwerfen. Beispielsweise wird es die deutlich niedrigere Lebenserwartung von US-Ame‐ rikanern im Unterschied zum Rest der industrialisierten Welt deutlich machen, wenn der 102 7 Degrowth ∙ ein Konzept zwischen Utopie und Missverständnis <?page no="103"?> US-Wohlstand etwa mit dem deutschen Wohlstand verglichen wird. Zusammenfassend lautet die zentrale Aussage der Kommission: Ein Mehr an Gütern, ein Mehr an materiellem Wohlstand ist nicht (mehr) das Maß aller Dinge“ (Bundeszentrale für Politische Bildung 2013, S.-24-f.). Man kann aus dieser Schilderung herauslesen, dass sich die Hoffnung, ein kurz und bündig formuliertes einheitliches Wohlstandsmaß zu erhalten, um all die komplexen Handlungsdesiderata auf dem Weg in eine nachhaltigere Gesellschaft erfassen und entsprechende Impulse setzen zu können, auch mit geballter Expertise nicht erfüllen lässt. Sehr wohl besteht aber die in dem Bericht empfohlene Mög‐ lichkeit, verschiedene Indikatoren heranzuziehen, um im Transformationsprozess ergänzende wichtige Informationen zu den Daten der Volkswirtschaftlichen Ge‐ samtrechnung zu erhalten. Zugleich bedarf es solcher Maßstäbe ganz offensichtlich auch im globalen Vergleich, etwa wenn es darum geht, in internationalen Abkom‐ men Etappenziele auf dem Weg abzustecken und im Ländervergleich aufzuzeigen, wer als Vorbild gelten kann und wo die Hausaufgaben noch besonders gründlich zu erledigen sind. Die vier folgenden Zahlenwerke stehen lediglich exemplarisch für andere Versuche, die Vielschichtigkeit menschlich-sozialer Entwicklung zu „objektivieren“: ■ So vereint der Index of Sustainable Economic Welfare Messwerte für privaten Konsum, Einkommensungleichheit, unbezahlte Arbeit, öffentliche Ausgaben, Bil‐ dung, Umweltverschmutzung, Ressourcenverbrauch und Klimawandel. ■ Der Human Development Index, der vom Entwicklungsprogramm der Verein‐ ten Nationen (UNDP) erhoben wird, aggregiert Pro-Kopf-Einkommen, Lebenser‐ wartung und Bildung, letztere gemessen an Schuljahren pro Person. ■ Der Gross National Well-being Index fasst Größen zusammen, die für mentales, soziales politisches und physisches Wohlergehen, Arbeitsverhältnisse, Wohlstand und ökologische Aspekte stehen. ■ Und das Recoupling Dashboard konzentriert ökologische Größen, das BIP, Solidarität und Selbstwirksamkeit, wobei wie im vorherigen Beispiel objektive Messwerte und Umfrageergebnisse miteinander kombiniert werden. Die nachfolgende Übersicht fasst die vier Beispiele nochmals zusammen. Sie unter‐ scheidet nach den jeweils abgedeckten Bereichen, der Dimensionalität sowie dem konkreten Input der Messung: Ethisches Wachstum 103 <?page no="104"?> Konzept 8 | Exemplarischer Überblick über alternative Vorschläge zur Wohl‐ standsmessung (SMC 2022, S.-5) Indikator abgedeckte Bereiche Dimension Messweise Was misst er? Index of Sustainable Economic Welfare Ökonomie, Ökologie, Sozial Eindimensio‐ nal / Mess‐ werte werden ag‐ gregiert Objektive Messwerte Messwerte für priva‐ ten Konsum, Einkom‐ mensungleichheit, unbezahlte Arbeit, öf‐ fentliche Ausgaben, Bildung, Umweltver‐ schmutzung, Ressour‐ cenverbrauch, Klima‐ wandel Human Development Index Ökonomie, Sozial Eindimensio‐ nal / Mess‐ werte werden ag‐ gregiert Objektive Messwerte Pro-Kopf-Einkom‐ men, Lebenserwar‐ tung, durchschnittli‐ che Bildungsjahre Gross National Well-being Ökonomie, Ökologie, Sozial, Gesundheit Eindimensio‐ nal / Mess‐ werte werden ag‐ gregiert Objektive Messwerte und Umfra‐ gen Mentales, soziales, po‐ litisches und physi‐ sches Wohlergehen, Arbeitsverhältnisse, Wohlstand und ökolo‐ gische Messwerte Recoupling Dashboard Ökonomie, Ökologie, Sozial Mehrdimen‐ sional (vier unab‐ hängige Messwerte) Objektive Messwerte und Umfra‐ gen Ökologische Mess‐ werte, BIP, Solidari‐ tät, Selbstwirksamkeit („Agency“) Wie eine differenziertere Aussage zum Vergleich des Entwicklungsstandes verschie‐ dener Volkswirtschaften mithilfe des vierten der Indikatorsysteme, dem Recoupling Dashboard, entstehen kann, soll eine Anwendung auf die Länder Frankreich und Südkorea mit Werten aus dem Jahr 2020 konkretisieren. Das Dashboard arbeitet mit den sozialen Dimensionen Solidarität und Selbstwirksamkeit, die über Umfragen bestimmt werden, weiterhin mit dem BIP pro Kopf für die ökonomische Dimension 104 7 Degrowth ∙ ein Konzept zwischen Utopie und Missverständnis <?page no="105"?> sowie einem Environmental Performance Index (EPI), stellvertretend für die ökologische Dimension. In → Abbildung 19 werden die einzelnen Dimensionen entlang von vier Achsen abgetragen. Für die Normierung der sozialen Dimensionen wird ein Wertebereich zwischen null und eins und für diejenige der ökologischen Dimension ein Bereich zwischen null und hundert verwendet. Die ökonomische Dimension wird durch das niedrigste bzw. das höchste Pro-Kopf-Einkommen der G20-Staaten (gemessen in US-Dollar, Basisjahr 2015, bei konstanter Kaufkraftparität) ausgedrückt. Es zeigt sich, dass eine Wohlstandsmessung lediglich anhand des Pro- Kopf-Einkommens zu dem Ergebnis käme, dass beide Länder 2020 gleichauf gewesen wären (orange und blaue Linien berühren sich). Die Werte des Dashboards belegen jedoch höhere Werte für Frankreich im Vergleich zu Südkorea in allen anderen Dimensionen, wobei die gestrichelten Linien den Durchschnitt der G20-Staaten im Jahr 2020 repräsentieren. Abb. 19: Entwicklungsvergleich zwischen Frankreich und Südkorea anhand des Recoupling Dashboards (in Anlehnung an SMC 2022, S. 7) Frankreich Südkorea Selbstwirksamkeitsindex 1 EPI 100 Solidaritätsindex 1 60235.73 BIP pro Kopf Abbildung 19: Entwicklungsvergleich zwischen Frankreich und Südkorea anhand des Recoupling Dash‐ boards (in Anlehnung an SMC 2022, S.-7) Auch dieses Beispiel belegt, wie hilfreich die Ergänzung der aus der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung ableitbaren Informationen um eine differenziertere Betrachtung vor allem auch der sozialen und ökologischen Dimension relevanter Transformationspro‐ zesse sein kann. Vor diesem Hintergrund lässt sich nachvollziehen, dass es auch in Ethisches Wachstum 105 <?page no="106"?> Deutschland bereits Diskussionen darum gab, das in mancherlei Hinsicht überholte Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft zeitgemäß zu modifizieren. So wäre es im Sinne der vorherigen Analyse folgerichtig, politische Entscheider dazu anzuhalten, in ihre wachstumsorientierten Überlegungen Indikatoren einer sozialen und ökologischen Nachhaltigkeitsmessung systematisch einzubeziehen. Die zu Beginn des Hauptkapitels zur Degrowth-Debatte aufgeworfene Frage, was eine Große Transformation für den Wohlstand der involvierten Gesellschaften bedeute, lässt sich mit den angestellten Überlegungen erwartungsgemäß nicht eindeutig beant‐ worten. Es sollte aber klar geworden sein, dass eine ideologiegetriebene Forderung nach einer gezielten Abkehr von Wachstum bzw. einer freiwilligen Entsagung äußerst kritisch zu sehen ist. Man würde dann nämlich freiwillig zentraler Handlungsspiel‐ räume und -anreize entsagen, die Gesellschaften und ihre Politik benötigen, um sich selbst angesichts fortwährend veränderter Problemlagen mit innovativen Lösungen zu erhalten und weiterzuentwickeln. Zuzustimmen ist jedoch Vorschlägen, die die eindimensionale Orientierung an einem allein auf Daten der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung beruhenden Wohlstands- und damit Wachstumskonzept abzulösen bzw. zu erweitern trachten. Transformative Wirtschaftspolitik kann, wie darge‐ legt, nicht darauf verzichten, weitere Dimensionen von Nachhaltigkeit einzubeziehen - auch wenn sie das angesichts der Inkommensurabilität und Widersprüchlichkeit damit verbundener Ziele nicht immer neuer Abwägungen enthebt. Ob sie am Ende Erfolg damit hat, Sozialproduktwachstum zu generieren und gleichzeitig Nachhaltigkeitsziele zu erreichen, hängt von verschiedensten Faktoren ab, die in den folgenden Kapiteln zusammengeführt werden sollen. ▻ Zwischenzusammenfassung und Literaturhinweise In diesem Kapitel wurde der Zusammenhang von Nachhaltigkeitstransformation und Wohlstandsniveau behandelt. Besondere Beachtung fanden sowohl die Fundamentalkri‐ tik an der bisherigen, über die „üblichen“ Indikatoren des Wirtschaftswachstums (BIP etc.), vorgenommenen Wohlstandsbestimmung und der darin enthaltene Vorwurf des Widerspruchs von Wachstum und nachhaltiger Wirtschaftsweise als auch die besonders wachstumskritische Degrowth-Auffassung. Nachdem hier einige grundlegende Zusam‐ menhänge dargelegt wurden zu dem, was aus den Daten der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen zur Erfassung des Wirtschaftsgeschehens statistisch dokumentiert wird, aber auch dazu, was unberücksichtigt bleibt, lautet das Fazit, dass auf volkswirt‐ schaftliche Kennziffern wie das BIP auch weiterhin nicht verzichtet werden kann. Sie vermögen eine große Vielzahl hochkomplexer Interaktionen von Milliarden von Wirt‐ schaftssubjekten in bislang alternativloser Weise abzubilden und erlauben es, belastbare Aussagen über die Größenordnung von Beständen und Veränderungen von Produktions- und Konsumvolumina von Gütern und Dienstleistungen zu treffen. Gleichwohl wurde die große Bedeutung ergänzender Wohlstandsindikatoren sowie ethischer Aspekte herausgestellt und Wachstum unter dem Blickwinkel betrachtet, wie 106 7 Degrowth ∙ ein Konzept zwischen Utopie und Missverständnis <?page no="107"?> sich Erfolge (und Misserfolge) auf dem Weg von einem umweltbelastenden zu einem nachhaltigen Wachstumsregime adäquat erfassen lassen. Ausgangspunkt bildete die Feststellung, die lange völlig unterschätzte Wahrnehmung der Umweltproblematik nicht einfach als „Systemfehler“ hinzunehmen, sondern zunächst mit statistischen Mitteln zu korrigieren, um so zugleich die empirische Basis für eine reale Transformationspolitik zu verbessern, die gesamtgesellschaftlichen Wohlstand als Zielgröße nicht negieren muss. Lösungswege eröffnen sich durch Erkenntnisse über die umweltgefährdenden Wir‐ kungen wirtschaftlicher Aktivitäten und deren Zurechnungsmöglichkeiten auf ihre jeweiligen Verursacher, vor allem aber auch über verbesserte Herstellungsverfahren so‐ wie neue (umweltverträglichere) Produkte und Verwertungsmöglichkeiten. Je genauer und damit unstrittiger die Wissensbasis, desto zielgerichteter und wirkungsvoller die politischen Maßnahmen. Ein verstärktes Umweltbewusstsein ist darüber hinaus erreichbar, wenn zusätzliche, die Lebensqualität der Menschen abbildende (soziale) Kriterien bei der Leistungserfassung einer Volkswirtschaft einbezogen werden. Da‐ durch lässt sich auch der Widerspruch zwischen Wachstum und Nachhaltigkeit weiter relativieren. Vielversprechende Ansätze, die internationale Vergleiche ermöglichen, finden sich etwa im Index of Sustainable Economic Welfare, dem Human Development Index, dem Gross National Well-being Index oder dem Recoupling Dashboard. Die Kritik an einer auf der herkömmlichen Wachstumslogik beruhenden Wohl‐ standsmessung wiegt zwar schwer, man kann ihr jedoch, wie gezeigt wurde, nicht mit einer völligen Abkehr vom damit verbundenen Standardinstrumentarium entgegen‐ treten. Stattdessen bedarf es einer klaren Identifizierung der Schwachpunkte und ihrer Korrektur im System. Die in der Transformationspraxis bislang unternommenen An‐ strengungen bewegen sich in die richtige Richtung und dürften sich mit zunehmendem Druck weiter ausdifferenzieren. Je erfolgreicher diese Versöhnung von Ökonomie und Ökologie gelingt, desto berechtigter erscheint es auch, von systemverträglichem (oder „ethischem“) Wachstum zu sprechen. Friedman, M. 2023. Schlaraffenland abgebrannt: Von der Angst vor einer neuen Zeit, Berlin. Ein lesenswertes „Nicht-Ökonomie-Buch“, das mit einer aufrüttelnden Beschreibung der unsere Welt derzeit bewegenden Probleme bestechende Argumente für die Notwen‐ digkeit einer transformativen Wirtschaftspolitik liefert. Goldschmidt, N. 2022. Wachstum oder Postwachstum? , Forschung & Lehre 7/ 22. In dem Artikel wird sehr allgemeinverständlich Kritik an den Voraussetzungen einer Post‐ wachstumsökonomie geäußert und es wird aufgezeigt, wie die soziale Marktwirtschaft mit den sozial-ökologischen Herausforderungen umgehen kann. Latouche, S. 2015. Es reicht! Abrechnung mit dem Wachstumswahn, München. Lohnenswert an der Lektüre dieser Schrift ist, einmal von einem der zentralen Vordenker des Degrowth-Ansatzes selbst, von Serge Latouche, über dessen vernichtende Kritik an der Wachstumsdoktrin einschließlich seiner Vorstellungen von einer Welt jenseits von Wachstum zu lesen. ▻ Zwischenzusammenfassung und Literaturhinweise 107 <?page no="109"?> 8 Reale Transformationspolitik ∙ wahrgenommene Wirklichkeiten gestalten Im Spannungsfeld zwischen Stabilität und Wandel Im Folgenden sollen einige der bisherigen Argumentationsstränge zusammengeführt werden, um zu konkretisieren, was eine transformative (Wirtschafts-)Politik rea‐ listischerweise vermag und wo sie an ihre Grenzen stößt. Ausgangspunkt ist auch hier das Konstrukt einer (inter-)subjektiv wahrgenommenen Wirklichkeit. Es gewinnt spätestens in dem Moment eine realpolitische Bedeutung, in dem sich Entscheidungs‐ träger im Rahmen der Planung ihrer Agenda (Parteiprogramm, Wahlkampfprogramm, Koalitionsvertrag etc.) einer gegebenen gesellschaftlichen Ausgangssituation anneh‐ men, um daraus Ziele und Maßnahmenpakete abzuleiten. Im vorher Beschriebenen wurde bereits das Bewusstsein für die irrige Annahme geschärft, wirtschaftspolitische „Probleme“ seien objektiv in der Welt und müssten nur identifiziert und gelöst werden. Was auf eine aktuelle politische Agenda gerät, entspringt komplexen Kommunikations- und Aushandlungsprozessen mit Bottomup- und Top-down-Elementen. Die Vorstellung, Politik müsse lediglich die gegebene Situation analysieren, die Differenz zu einem wünschenswerten Zustand bemessen und dann aus einem vorhandenen Werkzeugkasten die geeignetsten Instrumente zur Defizitbehebung auswählen, ist überkommen. Heutige kognitionswissenschaftliche Erkenntnisse unterstreichen, dass Politiker selbst endogene Bestandteile eines vieldi‐ mensionalen evolutorischen Prozesses sind. „Aus dieser Sicht somit lässt sich Wirtschaftspolitik als fortwährende wechselseitige Be‐ einflussung von Handlungsgrundlagen der Betroffenen einerseits und der Entscheider andererseits (…) begreifen. Dabei ist die ständige Veränderung fremder Handlungsgrundlagen bei Interdependenz der Veränderung eigener Handlungsgrundlagen in die Erwartungsbil‐ dung und damit in die Entscheidungsfindung einzubeziehen. Es wird dann verständlich, dass Mittel-Ziel-Zusammenhänge im sozio-ökonomischen System stets mit Unschärfen hinsichtlich ihrer Prognose behaftet sind. Ein objektiv bestehendes wirtschaftspolitisches Entscheidungsfeld gibt es für keine denkbare Situation. Jedes Entscheidungsfeld ist ein immer neues Produkt der ständigen Veränderungen gesellschaftlicher Strukturen und damit insbesondere intersubjektiver Erkenntnisse, Wissensbestandteile und Beurteilungen“ (Koch 1996, S.-119). Gerade mit Blick auf transformative Phasen in der Geschichte von Gesellschaften, für die definitionsgemäß ein mehrheitlich ausgemachter erhöhter Umsteuerungsbedarf besteht, spielen diese Feststellungen eine zentrale Rolle. Auch wenn in diesen Phasen häufig ein hohes Unzufriedenheits- und ggf. sogar Angstpotenzial in der Bevölkerung <?page no="110"?> festzustellen ist, so gibt es, wie im Zuge der Nachhaltigkeitswende nachzuvollziehen, dennoch sehr unterschiedliche Deutungen des Geschehens. Diese Interpretationsvari‐ anz wirkt sich unmittelbar auf die Vorstellungen von richtigen und falschen politischen Zielsetzungen sowie von einem Portfolio geeigneter Maßnahmen aus. Sie bestimmt die demokratische Auseinandersetzung um Vorsprünge in der Deutungshoheit und hierüber den Kampf um ein Mehr an Einfluss auf die Zukunftsgestaltung. Entscheidend für Erfolge in diesem Kampf ist somit die Überzeugungskraft, mit der die Inhalte vorgetragen werden. Diese Inhalte treffen auf Millionen individueller Wirk‐ lichkeiten der Individuen in einer Gesellschaft. Diese „Individualrealitäten“ wiederum unterliegen einem ständigen, grundsätzlich variablen Framing, wobei die Rahmung der jeweiligen Weltsichten, in Abhängigkeit von Persönlichkeits- und Sozialisations‐ merkmalen, eine höchst unterschiedliche Persistenz aufweist. Vor diesem Hintergrund können aus einer erkenntnisrelativistischen Sicht politische Mehrheiten für die eigene Position nicht allein schon gewonnen werden, indem man auf vermeintlich objektive wissenschaftliche oder andere Erkenntnisse pocht, an denen man diese Position festzumachen sucht. Vielmehr tritt als bedeutsamer Erfolgsfaktor neben die Inhalte die Qualität ihrer Kommunikation. Eine zentrale Rolle spielen die verwendeten Narrative, die geeignet sein müssen, Menschen empathisch in ihrer überkommenen Weltsicht „abzuholen“. Der Transport der jeweiligen Narrative erfolgt hierbei über die ganze Bandbreite verfügbarer Medien. Wie relevant bereits die Wahl der Begrifflichkeiten sein kann, belegt eine Debatte, die 2023 für Aufmerksamkeit sorgte. Auslöser war eine Positionierung im öffentlichrechtlichen Rundfunk. So veröffentlichte die Redaktion des WDR-Politmagazins Mo‐ nitor „ein kleines Lexikon“ unter der Überschrift „Verharmlosende Klima-Sprache“. Ganz im Sinne des oben Gesagten heißt es dort einleitend: „Sprache ist mächtig. Denn wie wir sprechen beeinflusst auch, wie wir denken. Wörter können Bilder, Erinnerung oder Emotionen wecken und sie so positiv oder negativ wirken lassen. Das gilt auch für unsere Sprache übers Klima (…). Statt Klimawandel sollte es nach Ansicht der Redaktion besser Klimakrise heißen. Wandel klinge zur sehr nach ‚einem sanften, natürlichen Prozess‘. Tatsächlich seien die Veränderungen aber heftig, gefährlich und menschengemacht. Statt von Klimaskeptikern sollte von Klimaleugnern geredet werden. Der Begriff Skeptiker würde suggerieren, dass es Nachdenken, Abwägen und Eigenständigkeit im Urteil gebe. ‚Es gibt aber keinen Zweifel an der menschengemachten Klimakrise‘, stellt ‚Monitor‘ apodiktisch fest. Als ebenfalls unzutreffende, weil verharmlosende Begriffe werden ‚Erderwärmung‘ und ‚Kernenergie‘ genannt“ (Sagatz 2023). Ebenso lehrreich ist die Reaktion auf diesen Vorstoß im Kampf um politische Deu‐ tungshoheit: Hier wären „Klimaideologen“ am Werk, denen es um „politische Indok‐ trination“ ginge, so der Vorwurf. Staatliches Fernsehen verkaufe „betreutes Denken als objektiven Journalismus“ (Schwartz 2023). Zugleich werde in den Medien insgesamt mit Manipulation, Emotionalisierung und „raffinierten Collagen“ gearbeitet, um den Konsumenten die eigenen moralischen Interpretationen des Geschehens nahezulegen 110 8 Reale Transformationspolitik ∙ wahrgenommene Wirklichkeiten gestalten <?page no="111"?> (Schwartz 2023). Für die hier relevante Thematik ist vor allem von Interesse zu sehen, wie entsprechende Begrifflichkeiten, Narrative und Bildsprachen auf beiden Seiten vielfach das Gegenteil von dem erreichen, was mutmaßlich beabsichtigt war. Wer beispielsweise angesichts der oben behandelten Kipppunkt-Theorien ge‐ betsmühlenartig Katastrophen-Narrative bemüht, bewirkt eben nicht die erhoffte Zustimmung zu radikalen Maßnahmen des Umsteuerns, sondern angstbesetzte Lethar‐ gie, gewöhnungsbedingten Fatalismus bzw. Desinteresse oder gar kontraintuitiven Widerstand. Demgegenüber lassen sich in der Transformationsrealität auch immer wieder Narrative ausmachen, die die Motivation zum Mitgehen aus dem Bild des Aufbruchs und der Rettung heraus zu generieren versuchen. Eine viel erwähnte Leitfigur im Rahmen der deutschen Nachhaltigkeitswende der 2020er-Jahre, Robert Habeck, sprach kurz nach seinem Amtsantritt als Vizekanzler und Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz von der Umgestaltung Deutschlands zum klimaneutralen Wirtschaftsstandort als zentraler Aufgabe der Nation. „Man habe einen drastischen Rückstand aufzuholen (…) Es komme jetzt darauf an, das Notwendige als Kraftquelle zu begreifen, das Unausweichliche entschlossen umzusetzen, und wer weiß, (…) vielleicht erzeuge die ‚beispiellose Transformation‘ des Landes ja sogar einen ideellen Energieüberschuss, ‚eine neue Art Stolz‘, einen ‚Veränderungspatriotismus‘ (…) - die Habeck-Deutschen sollen verliebt sein ins dynamisch Bewegte und transitorisch Gelingende! “ (Schnaas 2023, S.-17). Doch auch in diesem Beispiel zeigte sich im Fortgang, dass genau die aus jenem Narrativ des Aufbruchs abgeleitete Veränderungsdynamik zu Abnutzungs- und Über‐ forderungstendenzen in der Bevölkerung führte. „Die Transformationsbereitschaft der Deutschen schwindet, trotz aller Gaspreisbremsen, Ein‐ malzahlungen, Tankrabatte, Neun-Euro-Tickets, Lohnzuwächse.“ Aber steigen „die Chancen, dass die Innovationswette auf Wasserstoffterminals, Stromtrassen, Windräder und Fotovol‐ taikfelder aufgeht, wenn sich eine Industrienation aus freien Stücken unter Wohlstandsstress setzt? Was macht es für einen Unterschied, wenn Deutschland seine Klimaschutzziele erst 2050 statt 2045 erreicht? “ (Schnaas 2023, S.-17-f.). Wie es diese exemplarischen Originaltöne aus der gesellschaftlichen Transformations‐ debatte von 2023 unterstreichen, erweist sich die sensible Abstimmung der höchst kom‐ plexen Prozesse natürlicher, technischer sowie sozialer und kultureller Transformation als eine der größten Herausforderungen transformativer Wirtschaftspolitik. In der Koevolution dieser Prozesse kann es offensichtlich zu unbeabsichtigten (oder von den Transformationsgegnern sogar beabsichtigten), sich aufschaukelnden wechselseitigen Blockaden kommen. Während von einigen die naturwissenschaftlichen Indizien und Theorien für die existenzielle Bedrohung unseres Lebensraums infrage gestellt werden, bezweifeln andere, die aktuell gehandelten Nachhaltigkeitslösungen seien technisch geeignet. Wieder andere befassen sich kritisch mit der über Schulden finanzierten Kostenlast zur Sicherstellung der Handlungsfähigkeit künftiger Generationen. Diese Im Spannungsfeld zwischen Stabilität und Wandel 111 <?page no="112"?> Diskussionen retardieren Entwicklungen, beeinflussen technologische Entwicklungs‐ pfade (Trajektorien), verändern die Bedingungen an den Finanzmärkten und schaffen so zusätzliche Verunsicherungen und Belastungen. Für den Erfolg transformativer Wirtschaftspolitik erweist sich daher die Beant‐ wortung der Frage als essenziell, inwieweit es gelingt, über den Einsatz geeigneter Instrumente extrinsische Impulse zur Verhaltensanpassung so zu setzen, dass sich zugleich das Framing der betroffenen Wirtschaftssubjekte anpasst. Somit bedarf es im Hinblick auf die gesetzten Ziele und die zu ergreifenden Maßnahmen mindestens einer Notwendigkeits- und im besten Fall einer Machbarkeitsüberzeugung. Dieser oben mit dem Kunstwort der Intrinsifizierung bezeichnete Prozess bewirkt eine Relativierung und Reduzierung des Zwangscharakters der gewählten Maßnahmen, sowohl in der individuellen Wahrnehmung als auch de facto. Abb. 20: Prozess der „Intrinsifizierung“ nachhaltigen Verhaltens im Sinne der politischen Zielfunktion (eigene Darstellung) t Verpflichtende Maßnahmen Risiko-Kosten- Diktion Freiwillige Maßnahmen Chancen-Nutzen- Diktion Intrinsifizierung als zieladäquate Bewusstseins-Verhaltens- Anpassung Abbildung 20: Prozess der „Intrinsifizierung“ nachhaltigen Verhaltens im Sinne der politischen Zielfunk‐ tion (eigene Darstellung) Wie → Abbildung 20 veranschaulicht, würden verpflichtende Maßnahmen durch freiwillige Aktivität ergänzt werden, beispielsweise wenn es um das Mobilitäts- oder Ernährungsverhalten geht. Dies wiederum schafft politische Spielräume, um weitere Schritte einer als notwendig erachteten Transformation zu gehen. Während in der gesellschaftlichen Diskussion bezüglich der verpflichtenden Maßnahmen eine „Risiko-Kosten-Diktion“ dominiert, speist sich die schrittweise hinzukommende Freiwilligkeit aus einer „Chancen-Nutzen-Diktion“. Sobald erste Schritte der Begrün‐ dung und Aufklärung über potenzielle Gefahren und Belastungen des Umsteuerns gegangen sind und Gewöhnungseffekte eintreten, wird die Bevölkerung im Erfolgs‐ fall sukzessive auch weitere positive Effekte erkennen, für deren Erreichen es sich einzusetzen lohnt. Dies wiederum ermöglicht es, anfängliche Maßnahmen des extrinsischen Anstoßes schrittweise zurückzufahren. Bei diesen Abläufen sind wie gesagt Ereignisse, Bilder und deren Umsetzung in Narrative von höchster Bedeutung. Der deutsche Atomausstieg beispielsweise erwies sich seinerzeit als Exnovation, also als bewusst initiierte Beendigung einer technologischen Anwendung. Dies war ein Schritt, den viele Bürger angesichts des akuten Bedrohungsszenarios zunächst als folgerichtig ansahen. Daraus erwuchs rasch 112 8 Reale Transformationspolitik ∙ wahrgenommene Wirklichkeiten gestalten <?page no="113"?> die Bereitschaft, damit einhergehende Belastungen mitzutragen und die Chancen einer auf diese Weise sichereren Umwelt hoch zu bewerten. Zugleich verdeutlicht das Beispiel aber auch Erosionserscheinungen bei dem einmal erreichten breiten Konsens und hohen Intrinsifizierungsgrad. Mittlerweile haben neue Ereignisse und technologische Entwicklungen dazu geführt, dass die Überzeugung, der Atomausstieg sei, auch unter nachhaltigkeitspolitischen Erwägungen (siehe etwa die Diskussion um Carbon Capture, GES 2023), richtig gewesen, an Anhängern verliert. Dies führt zu einer weiteren Charakteristik realer Transformationspolitik: Sie steht im Spannungsfeld zwischen Stabilität und Wandel. Während es einerseits gilt, Rahmenbedingungen nicht durch Aktionismus zu destabilisieren, damit Wirtschafts‐ subjekte es als lohnend ansehen, sich einzubringen, müssen im Wandel der gesell‐ schaftlichen und vor allem der spezifischen wissenschaftlichen Erkenntnisbasis diese Veränderungen in die Politik einfließen. Das Beharren auf Positionen um ihrer selbst willen, unabhängig von der laufenden Debatte, lässt sich im Gegensatz zur realen als ideologische Transformationspolitik bezeichnen. Reale Transformationspolitik bezieht eine längerfristige politisch-ökonomische Vorstrukturierung der Gesellschaft mit ein. Heutzutage bedeutet dies für die große Mehrheit der vor den Herausforderungen einer Nachhaltigkeitswende stehenden Nationalstaaten das Agieren innerhalb demokratisch-marktwirtschaftlicher Struktu‐ ren. Eingedenk dieser großen historischen Errungenschaft bietet es sich an, den institutionell gewollten bzw. vorangelegten Wettbewerb von Ideen, Erkenntnissen, Meinungen und Lösungen mit Blick auf den eigenen Gestaltungswillen konstruktiv zu nutzen. Dazu gehört zunächst, aufgeschlossen gegenüber neuen Lösungen zu sein. Es liegt in der Eigenlogik von Innovationsprozessen, dass die Chancen und Risiken neuer Lösungen nicht sofort vollumfänglich zutage treten. Zudem bleiben ökonomische Anreize zur Verbesserung des eigenen Lösungsangebotes länger wirksam, wenn politische Maßnahmen nicht vorschnell einseitig einzelne Technologien bevorzugen und andere ausschließen. Der Erfolgsfaktor des richtigen Timings ist somit auch an dieser Stelle nicht zu unterschätzen. Wichtig für die Erfolgsaussicht politischer Maßnahmen bei der Einführung neuer Lösungen ist es, bestehende Pfadabhängigkeiten und Lock-in-Effekte, welche die Implementierung bestimmter Innovationen erschweren, zu berücksichtigen. Lock-in- Effekte beschreiben in diesem Fall, an bislang etablierten, nur vermeintlich optimalen Lösungen, die noch dazu über Vernetzungseffekte mit komplementären Prozessen rigide verwoben sind, festzuhalten. In einem solchen Fall bedarf es des expliziten politischen Anstoßes, um einen Innovationsprozess zu initiieren bzw. zu beschleuni‐ gen. Pfadabhängigkeiten und Lock-in-Effekten kommt aber auch mit Blick auf das politische System per se eine wichtige Rolle zu. So sieht beispielsweise in Deutschland die Verfassung Mechanismen vor, die als Lehren aus dem Scheitern der Weimarer Republik die Kontinuität und Stabilität des Systems sichern sollen. Beispiele hierzu sind dem folgenden Kasten zu entnehmen. Im Spannungsfeld zwischen Stabilität und Wandel 113 <?page no="114"?> Beispiel 7 | Lehren zum Schutz der Demokratie Wenngleich die Weimarer Reichsverfassung und das Grundgesetz der Bundesre‐ publik viele Gemeinsamkeiten aufweisen, unterscheiden sie sich vor allem durch in das Grundgesetz aufgenommene Regeln, die eine Unterwanderung der Demo‐ kratie erschweren sollen. Die sogenannte Ewigkeitsklausel in Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes stellt dabei den wohl rigorosesten Sicherungsmechanismus dar. Mit ihr hat der Parlamentarische Rat eine Bestandsgarantie geschaffen, welche neben der Menschenwürde vor allem die Strukturprinzipien der Bundesrepublik erfasst und künftigen Gesetzgebern damit den Zugriff auf diese verfassungspoli‐ tischen Grundsätze entzogen. Daneben wurde die Stellung des Bundespräsidenten, in Abkehr von den umfassen‐ den Kompetenzen des Reichspräsidenten in der Weimarer Republik, vornehmlich als eine repräsentative festgesetzt. Insbesondere auf Notstandsregelungen wie beispielsweise das Notverordnungsrecht des Reichspräsidenten in Art. 48 Abs. 2 der Weimarer Verfassung, mit dem die Gesetzgebungskompetenzen des Reichstages weitreichend untergraben wurden, hat man im Grundgesetz gänzlich verzichtet. Daraus folgend treten noch einmal die Schwierigkeiten bei der Herausbildung und Durchsetzung einer mehrheitlichen Entscheidungsfindung in unterschiedlichen demokra‐ tischen Systemen ans Licht. So ist es in manchen Systemen schwerer, für bestimmte Berei‐ che schnelle gesetzgeberische Entscheidungen über eine dynamisch agierende politische Pressure Group durchzusetzen. Besonders ausgeprägte föderalistische und intermediäre Strukturen erfordern in vielen Fällen langfristige Vorarbeiten sowie Abstimmungs- und Aushandlungsgprozesse - über das hinaus, was bereits zur Logik politischen Handelns ge‐ sagt wurde. D.-h., die Herausforderungen, in demokratischen Systemen transformative (Wirtschafts-)Politik zu betreiben, variieren auch in Abhängigkeit von der jeweiligen konstitutionellen Ausgestaltung des konkreten Systems. Während in diesem Abschnitt bislang vor allem Herausforderungen bedacht wurden, die regelmäßig im Zuge des Bemühens auftreten, auch diejenigen zu Mitakteuren einer politischen Agenda zu machen, die in dem sensiblen Spannungsfeld zwischen Stabilität und Wandel schwerer abzuholen sind, ist nunmehr ein zweiter Argumentationsstrang wieder aufzunehmen: Reale Transformationspolitik hat nämlich im zweiten Schritt auch die oben analysierte Tendenz zum Auseinanderfallen von Wollen und Können bei den Mitgliedern ihrer Gesellschaft zu berücksichtigen. Bezieht man das vorher Gesagte mit ein, entsteht ein anzustrebender Dreischritt vom (a) „Nicht-Wollen“ (der Nicht-Überzeugten) über das (b) „Wollen“ (der via Intrinsifizierung Gewonnenen) bis hin zum (c) „Mitagieren“ (nach Überwindung des Intention-Behaviour-Gap). Dieser Dreischritt ist für die Wahl der Instrumente realer Transformationspolitik entscheidend. Die folgende Tabelle kategorisiert unterschiedliche Gruppen von Instrumenten nach ihrer Wirkungsqualität in Bezug auf die Zielgruppen der Politik. Dabei sind die 114 8 Reale Transformationspolitik ∙ wahrgenommene Wirklichkeiten gestalten <?page no="115"?> einzelnen Maßnahmenkategorien alphabetisch sortiert. Unter Beachtung des gerade hergeleiteten Dreischritts realer Transformationspolitik lassen sich zusätzlich gezielte Eignungen oder Mindereignungen identifizieren. Um dies zu beurteilen, ist zunächst die Systemadäquanz einzubeziehen, d.-h. die Frage, wie die konstitutionellen Struktu‐ ren einer Gesellschaft geartet und welche ethisch-moralischen Traditionen prägend sind. Dann ist zu eruieren, wie hoch der Handlungsdruck ist, wie es um die Stimmung in einer Gesellschaft bestellt ist, welche Maßnahmenbündel möglicherweise bereits erfolgreich waren oder gescheitert sind, welche Interdependenzen zwischen parallel laufenden Maßnahmen auftreten und vieles mehr. Abb. 21: Wirtschaftspolitische Maßnahmenkategorien (eigene Zusammenstellung) Maßnahmenkategorie Charakteristik Beispiel Bildung Information- und Wissenszunahme/ Generierung von Einsicht und Verständnis Implementierung von Transformationswissen auf verschiedenen Bildungsstufen Demeritorisierung Monetäre oder anderweitige Benachteiligung privater Angebote, um deren Konsum einzudämmen (Zusätzliche) Besteuerung von Fahrzeugen hoher Schadstoffklassen Ermöglichung Schaffung infrastruktureller Vorbedingungen für erwünschte private Produktions- oder Konsumaktivitäten Bau von Fahrradwegen Incentivierung Generierung tatsächlicher oder zu erwartender Rückflüsse bei erwünschtem Verhalten Subventionen klimafreundlicher Lösungen Kommunikation Marketing/ Überredung/ Überzeugung Begründung politischer Programme/ Reden/ mediale Auftritte Marktsteuerung Nutzung des Marktmechanismus, um ein politisches Ziel zu erreichen CO 2 -Zertifikatehandel Meritorisierung Monetäre oder anderweitige Begünstigung privater Angebote, um deren Konsum zu erhöhen Subventionierung von „Green Technologies“ Öffentliche Güter Vergünstigte Bereitstellung von Gütern durch den Staat, um unerwünschte private Güternutzung zu substituieren Deutschlandticket Exnovation Verunmöglichung unerwünschten Verhaltens Abschaffung herkömmlicher Glühbirnen Zwang Bestrafung bei unerwünschtem Verhalten Geldbuße bei überhöhten Emissionen Abbildung 21: Wirtschaftspolitische Maßnahmenkategorien (eigene Zusammenstellung) Basierend auf diesen Überlegungen wird im Folgenden gefragt, welche moralischethischen Maßstäbe und sonstigen Maßgaben für die Gestaltung realer Transfor‐ Im Spannungsfeld zwischen Stabilität und Wandel 115 <?page no="116"?> mationspolitik folgerichtig erscheinen. Als erkenntnisleitend soll das Leitbild einer humanistischen Transformation in den Mittelpunkt gerückt werden. Humanistische Transformation In den vorherigen Kapiteln wurde bereits dargestellt, wie engmaschig verflochten heute die natürliche und soziale Evolution verlaufen. Es wurde gezeigt, dass es Restriktionen der belebten und unbelebten Natur gibt, die langfristig wirksam sind und an die sich der Mensch anpasst bzw. Lösungen zum Umgang mit ihnen entwickelt. Die wirtschaftsgeschichtliche Retrospektive ist bis zu einem gewissen Grad eine Leistungsschau darauf fußender Errungenschaften. Zugleich ist aber die Tendenz zu beobachten, dass die Menschheit - unintendiert sowie gezielt - Einfluss auf ihre natürliche Umwelt ausübt, ihr System verändert und es so möglicherweise irreversibel aus dem Gleichgewicht bringt. Dieses Faktum des zur geologischen Kraft gewordenen Menschen brachte die Erdsystemforscher Eugene F. Stoermer (1934-2012) und Paul J. Crutzen (1933-2021) dazu, das Zeitalter des Anthropozän auszurufen, welches das bislang dominierende Holozän als Zeitabschnitt der Erdgeschichte abgelöst habe (Haber et al. 2016, S. 8). Von allen systemischen Transformationsversuchen, die aus Ge‐ sellschaften einschließlich ihrer politischen Kaste bislang hervorgingen, unterstreicht jedenfalls die aktuell laufende Nachhaltigkeitstransformation am eindrucksvolls‐ ten oder in mancherlei Hinsicht auch am erschreckendsten, dass wir erdgeschichtlich im „Menschenzeitalter“ leben. In dem Maße, wie spätestens seit der industriellen Revolution die Auswirkungen der menschlichen Lebensweise die Umwelt in Mitleidenschaft gezogen haben und fossile Ressourcen ausgebeutet wurden, erwacht im Zuge fortschreitender wissenschaftlicher Erkenntnis einschließlich darauf basierender gesellschaftlicher Debatten bei vielen Menschen ein Bewusstsein planetarer Verantwortung. Aus dieser Verantwortung ent‐ springen denn auch die Zielsetzungen heutiger transformativer Politikansätze. Im Kern geht es darum, das entstandene Spannungsverhältnis von Ökologie und Humanität in eine Richtung aufzulösen, in der sich die konfliktträchtige Koevolution sozialer und natürlicher Teilsysteme wieder in eine nachhaltig-synergetische Koexistenz wandeln kann. Damit stellen sich aus politischer Perspektive automatisch Anfragen an die insti‐ tutionelle Verfasstheit unseres Zusammenlebens. Dazu gehört elementar die Frage, wie sich das Verhältnis der unantastbaren Würde des Menschen mit allen daraus ableitbaren Freiheitsrechten, wie sie in der deutschen Verfassung verbrieft sind, und einer Würde der Natur, die über eine reine Funktionalität als Lebensraum des Menschen hinausreicht, gestaltet. Die Beantwortung dieser ethischen Frage steckt den Rahmen transformativer Politik ab. In seinem Werk Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation machte sich der Philosoph Hans Jonas (1903-1993) daran, den Gedanken des Humanismus in ein neues Zeitalter hinein zu transformieren. In Anlehnung an Immanuel Kants (1724-1804) kategorischen 116 8 Reale Transformationspolitik ∙ wahrgenommene Wirklichkeiten gestalten <?page no="117"?> Imperativ formuliert er einen ethischen Imperativ, der die ökologische und damit zugleich eine intertemporale Dimension einbezieht: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden. Oder negativ ausgedrückt: Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung nicht zerstörerisch sind für die künftige Möglichkeit solchen Lebens“ ( Jonas 1979, S.-36). In diesem Sinne erweitern die Ideen eines ökologischen Humanismus die huma‐ nistische Grundüberzeugung, gemäß welcher der Mensch befähigt werden soll, ein gutes Leben anzustreben und sich über seine Lebensspanne in diese Richtung zu verwirklichen. Entscheidend ist aus dieser erweiterten Sicht: Humanistische Selbst‐ verwirklichung ist dauerhaft nur im Gefüge eines gesunden natürlichen Lebensraums möglich, woraus sich entsprechende Verantwortungsdimensionen ableiten. „Respekt vor menschlichem Leben schließt auch immer Ehrfurcht vor dem Leben der Natur ein und umgekehrt. Ethik des ökologischen Humanismus hat also ihren Geltungsbereich über den Kreis des Menschen hinaus. Sie trägt der Erkenntnis Rechnung, dass der Mensch sowohl Bestandteil als auch Gegenüber der Natur ist. Natur zu zerstören bedeutet dann auch Verletzung der menschlichen Identität“ (Hasenclever 2000, S.-153). Diese doppelte Verantwortung des Menschen für sich und seinen Lebensraum muss konsequenterweise aus politischer Sicht unmittelbar Folgen für die institutionellen Rahmenbedingungen seines Wirtschaftens haben. So wie die ursprüngliche Idee der sozialen Marktwirtschaft sich in einer Ethik des Auffangens der Schwachen und den dafür entwickelten Sozialsystemen manifestiert, bahnen sich aktuell (zusätzlich) Nachhaltigkeitspostulate ihren Weg in die Wirtschaft. Kontradiktorische Herausforderungen, die sich im Zuge einer neuen Wahrneh‐ mung von Verantwortung ergeben, dürfen jedoch nicht vernachlässigt werden. So können nachhaltigkeitspolitische Weichenstellungen gerade für die wenig Leistungs‐ fähigen einer Gesellschaft kaum tragbare und damit angstauslösende Belastungen mit sich bringen. Wie gezeigt wurde, birgt dies wiederum die Gefahr destabilisierender Entwicklungen und ruft aus einer ethischen Perspektive nach sozialpolitischer Verant‐ wortungsübernahme. Das Konzept der sozialen Marktwirtschaft erscheint damit nicht überholt, sondern es erweitert sich um eine zusätzliche Verantwortungsdimension. Auch dieser Gedanke findet Eingang in ein Konzept realer Transformationspo‐ litik, das auf einem erweiterten humanistischen Fundament aufbaut. Dabei geht es nicht nur darum, die Zielsysteme einer solchen Politik an einem humanistischen Wertekonsens auszurichten, sondern auch schon um den Weg zur Verwirklichung dieser Ziele. Die Idee der Maßnahmenplanung durch einen Dreischritt, beginnend mit extrinsischen Anstößen zur Verhaltensänderung in die vorgestellte Richtung, entspricht dem im Prinzip. Dahinter stehen die Werte Verantwortung und Freiheit. Indem Politik ihre Verantwortung wahrnimmt und im demokratisch ausgehandelten Humanistische Transformation 117 <?page no="118"?> Willensbildungsprozess generierte Ziele, in diesem Fall der Nachhaltigkeitstransfor‐ mation, verfolgt, hat sie zugleich die Freiheitsrechte der Bürger zu respektieren. In einem wertemäßig so aufgestellten Regime sind hinsichtlich der skizzierten Unterscheidung von Maßnahmenkategorien diejenigen vorzuziehen, die einen höhe‐ ren Grad an Entscheidungsfreiheit ermöglichen. Maßnahmen, welche die Kosten umweltschädigenden Verhaltens verursachungsgemäß zurechnen und es entsprechend höher bepreisen (Steuern, Zertifikatslösungen etc.), wären demnach gegenüber solchen zu präferieren, die das Spektrum für Verhaltensalternativen beschneiden (Ge- und Verbote, Exnovation etc.). Aber auch in einem demokratisch-marktwirtschaftlichen Begründungskontext stößt dieses Prinzip vor einem transformationspolitischen Hin‐ tergrund an seine Grenzen. Wesentlich ist, dass die Maßnahmen die Ziele in dem zur Verfügung stehenden Zeitraum erreichen können müssen. In Abhängigkeit von den befürchteten wissenschaftlich diskutierten Kipppunkten der globalen Ökoteilsysteme können sich hier Grenzen auftun, die dann doch für restriktivere Maßnahmen spre‐ chen. Im folgenden Kasten findet sich exemplarisch ein Anwendungsfall. Beispiel 8 | Anpassungsflexible vs. möglichkeitsbeschränkende wirtschaftspoli‐ tische Maßnahmen am Beispiel des Veggiedays Das Dilemma von der vermeintlichen Unvermeidbarkeit bestimmter Maßnahmen versus ihre radikale Ablehnung aufgrund ausgemachter Freiheitseinschränkun‐ gen lässt sich an vielen Beispielen ablesen. Wie autoritär oder libertär darf der Staat in der verantwortungsvollen Wahrnehmung seiner Aufgaben sein, welche Einschränkungen sind angesichts wissenschaftlich propagierten Hand‐ lungsdrucks unumgänglich? Nehmen wir das vergleichsweise „harmlose“ Beispiel des seinerzeit von den Grünen ins Spiel gebrachten Veggiedays. Dahinter steht die Idee, in Kantinen öffentlicher und privater Unternehmen einen Tag in der Woche nur vegetarische oder vegane Lebensmittel anzubieten. Für die Einführung sprächen, so die Befürworter, im Vergleich zur Fleischproduktion gesundheitliche Vorteile aus pflanzlicher Ernährung, weniger Tierleid, ein geringerer Kohlenstoff-Fußabdruck und Wasserverbrauch sowie geringere Herstellungskosten. Dagegen werden Ar‐ gumente ins Feld geführt wie die Umstellung von Ernährungsgewohnheiten, ver‐ bunden mit möglichen Nährstoffdefiziten bei unachtsamer Ernährungsplanung, aber auch Widersprüche zu bestehenden sozialen und kulturellen Praktiken. In welchem Ausmaß sollte sich Politik mit der Zielsetzung einer größtmöglichen Gesundheitsvorsoge für den Veggieday einsetzen, wenn man von der Validität wissenschaftlich belegter Pro-Argumente und von der Annahme ausgeht, dass breite Bevölkerungskreise gesundheitsbewusste Ernährung nicht ausreichend hochhalten? Wie weit darf eine Verhaltensbeeinflussung, oder englisch: Moral Suasion, in einem freiheitlich-demokratischen System gehen? Die Handlungs‐ optionen beginnen bei libertären Maßnahmen, wie allgemeine Aufklärungs‐ 118 8 Reale Transformationspolitik ∙ wahrgenommene Wirklichkeiten gestalten <?page no="119"?> arbeit, öffentliche Gesundheitskampagnen etc., mit denen Menschen ermutigt werden, verstärkt pflanzliche Kost zu konsumieren. Durch Maßnahmen wie die Subventionierung pflanzlicher und die Besteuerung tierischer Produkte würden Verhaltensanreize gesetzt, die bereits einen regulativeren Charakter aufwie‐ sen. Mit der Vorgabe von Ernährungsrichtlinien und Verpflichtungen, etwa in Schulkantinen und Restaurants, in bestimmtem Mindestumfang pflanzliche Kost auf die Speisepläne zu setzen, nähme der Staat die Rolle des sogenannten benevolenten Diktators und somit die höchste Form regulierender Bestimmung ein. Generell ist zu sagen, dass bei politischen Entscheidungen für oder gegen Instrumente zur Verhaltensbeeinflussung nicht selten Motive wie Erfolgsdruck, fehlendes Ein‐ schätzungsvermögen oder Geduldsdefizite für zeitkonsumierende Anpassungsbzw. Intrinsifizierungsprozesse und mangelnde Kreativität bei der Auswahl der Instrumente eine Rolle spielen, wie das Beispiel oben nahelegt. Im Sinne einer transformativen Wirtschaftspolitik sollte, wie gezeigt, tendenziell eher Lösungen im Rahmen einer professionellen begleitenden Kommunikationspolitik der Vorzug gegeben werden, wie die Abgabe von Empfehlungen und inhaltliche Aufklärung. Staatliche Zwangsmittel sollten hingegen weitgehend vermieden werden (zu dieser Diskussion etwa auch Krohn 2023, S. 195 ff.). Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit, den Weg entlang des Dreischritts von Nicht-Wollen über Wollen zum Mitagieren hin zu einer nachhaltigen Verhaltensänderung zu ebnen. Eine direkte Umsetzung per Dekret birgt dagegen meist die Gefahr, dass sich die Fronten verhärten und sich politische Gegner inklusive Lobbyistenvertretungen und anderer Pressure Groups in zäh verlaufenden Ausein‐ andersetzungen aufreiben. Beispiel 9 | SUV-Fahrzeuge und Waffengesetzgebung aus Sicht einer transfor‐ mativen Politik Ähnlich wie im Beispiel des Veggiedays lässt sich auch bei der Produktion von SUVs und anderen leistungsstarken PKW argumentieren. Hier erscheint der objektivierbare Nutzen für die breite Mehrheit aktueller Käufer gering zu sein, zumal die Energieverbräuche auch unter Berücksichtigung der CO 2 -Bilanz im Produktionsprozess verglichen mit anderen Fahrzeugen exorbitant hoch ausfal‐ len. Dennoch wäre ein striktes Verbot von SUVs politisch hinterfragbar und nur gegen massivsten Widerstand der Fahrzeugindustrie und potenzieller Nachfrager durchsetzbar. Wieder scheint der Prozess transparenter Überzeugungsarbeit die aussichtsreichere Option für eine nachhaltige Lösung zu sein. Ein drittes Beispiel soll die Problematik demokratisch legitimierter Mehrheitsbil‐ dung veranschaulichen: die für nach europäischen Maßstäben kaum nachvoll‐ ziehbare laxe Waffengesetzgebung in den USA. So sehr man sich dort aus Humanistische Transformation 119 <?page no="120"?> hiesiger Perspektive eine striktere Gesetzgebung wünschte, scheint sie derzeit nicht umsetzbar zu sein, wie die vielen gescheiterten Versuche belegen. Die in den USA mit dem Besitz von Waffen verbundene Wahrnehmung von Freiheitsrechten ist anders und ungleich stärker ausgeprägt als in anderen Ländern, so dass auch in den USA am ehesten eine sukzessive Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit, beginnend in den Schulen, als Variante einer transformativen Politik erfolgsver‐ sprechend erscheint. Die Auswahl des für eine Situation optimalen Maßnahmenbündels kann nur an dessen Angemessenheit für die Zielerreichung orientiert sein, wobei vor allem die erwartbare Dauerhaftigkeit des avisierten Erfolgs ein Kriterium sein muss. Die Beurteilung der Angemessenheit sollte daher anhand der Berücksichtigung 1. der belegbaren Notwendigkeit und Dringlichkeit der Ziele, 2. unverrückbarer systemischer Grenzen, wie allgemein akzeptierter moralischer Werte und Freiheitsrechte sowie 3. der Umsetzbarkeit in der aktuellen politischen „Großwetterlage“ vorgenommen werden. Die Machbarkeit ihrerseits ist in einem System demokratischer Entscheidungsfindung an die Akzeptanz der bestehenden Regeln geknüpft, die bei Verwendung der zur Verfügung stehenden Mittel einzuhalten sind. Für eine freiheit‐ lich-demokratische Marktwirtschaft gilt also prinzipiell die Faustformel libertär vor autoritär, die sich erst in besonderen Druck- und Katastrophensituationen bzw. im Angesicht sozialer oder ökologischer Kippszenarien partiell umkehren kann. Mit der Erweiterung der gesellschaftlichen Wertebasis in nahezu allen modernen Gesellschaften und den sich daraus ergebenden Zielkonflikten ist der Prozess der politischen Entscheidungsfindung nicht einfacher geworden. Entsprechend bedarf es angepasster Orientierungs- und Handlungsheuristiken, um den wirtschaftspoliti‐ schen Prozess nicht beliebig werden zu lassen. Dies schließt für die Bewertung auch die Neben- und Folgewirkungen des politischen Agierens ein, die aufgrund der beschriebenen Komplexität des Gesamtprozesses selbst bei verantwortungsvoller Planung immer nur rudimentär vorhersagbar sind (hierzu Rosa 2014, S.-146-ff.). So wie beispielsweise parallel zum Konzept des ökologischen Fußabdrucks Ansätze existieren, die wirkungsvolle Einbeziehung der ökologischen Komponente im Zeitver‐ lauf zu bewerten, muss auch die Erzeugung psychologischen und sozialen Stresses als Folge einer denkbaren transformationspolitischen Überforderung von Teilen der Gesellschaft messbar gemacht werden können. Frühwarnindikatoren hierfür ergeben sich aus den Ergebnissen entsprechender Befragungen. Sie einzubeziehen, gibt Hin‐ weise darauf, wann das Tempo zu drosseln ist bzw. wo ein Mehr an Kommunikation und sozialen Ausgleichsmaßnahmen nötig wird. Schließlich kann, drastisch formuliert, keinerlei Interesse daran bestehen, die Humanressource Mensch einer einseitigen Orientierung am Erhalt natürlicher Ressourcen zu opfern. In diesem Sinne wäre 120 8 Reale Transformationspolitik ∙ wahrgenommene Wirklichkeiten gestalten <?page no="121"?> also auch der Ansatz der Ressourceneffizienz um diese humanitäre Komponente zu erweitern. Dass jede kleinere und größere gesellschaftliche Transformation Chancen und Risiken birgt, ist zwar ein Allgemeinplatz. Mit dem zuvor Gesagten wurde aber gezeigt, wie sehr transformationspolitische Chancen davon abhängen, die Risiken rechtzeitig zu erkennen und einzubeziehen. Diese Feststellung verlangt unter anderem nach einer gründlichen Ex-ante-Analyse der Zielgruppen einschließlich ihrer von ihnen so empfundenen und der tatsächlichen Belastungen. Gerade im Zuge der Nachhaltigkeitswende erfordert dies etwa, einen Belastungsausgleich zwischen verschiedenen Generationen zu beachten. Ebenso wie eine Überforderung der aktuell verantwortlichen Jahrgänge zu vermeiden ist, dürfen kommenden Generationen nicht zu hohe finanzielle Belastungen aufgebürdet werden. Am Ende können so dann zwar Kipppunkte ökologischer Natur vermieden werden, ein zerstörerisches Kippen des sozialen Miteinanders allerdings erscheint dafür nicht ausgeschlossen. Wenn es der Wirkmächtigkeit eines transformationspolitischen Narrativs dienlich erscheint, das Ziel der Erhaltung unserer globalen Lebensräume in Richtung eines „kulturellen Menschheitsprojekts“ (Schneidewind 2019, S. 112) positiv aufzuladen, müsste die Einbeziehung der Humanressource Mensch umso mehr unbedingter Teil dieses Projektes sein. Nicht zuletzt ist es diese Ressource, der wir alle Erkenntnis, und sei sie noch so fehlerhaft, darüber verdanken, welche Bestandteile menschlichen Handelns der Umwelt schaden und welche ihr nutzen. Die Abhängigkeit solchen Wissens vom Stand der Forschung lässt viele Abwägungen dazu, welche kulturellen Verhaltensweisen wir uns noch leisten können und wollen, noch herausfordernder wirken als sie es ohnehin schon sind. Was ist im Sinne des Nachhaltigkeitsparadigmas nachhaltig erhaltenswert und was ist als Ballast über Bord zu werfen? Wer verant‐ wortet irreversible Entscheidungen mit hohem Schadenspotenzial, wenn diese sich im Nachhinein als falsch herausstellen? Diese Überlegungen deuten darauf hin, wie wichtig es ist, nicht nur monetäre Anpassungslasten, sondern auch die vorangehenden Anpassungsentscheidungen auf viele Schultern zu verteilen. Die Bedeutung von Forschung und Bildung hierfür wird im nachfolgenden Kapitel zu bedenken sein. Zusammengefasst heißt dies, dass der Ansatz einer humanistischen Transformation ältere Wertvorstellungen der humanistischen Tradition mit solchen Wertesystemen vereinigen will, die sich aus der aktuellen Nachhaltigkeitsdebatte ergeben. Essenziell erscheint das fortwährende Bemühen um einen Ausgleich der Ansprüche: Die Berück‐ sichtigung der Würde des Menschen verlangt nach freiheitlichen Entfaltungsräumen und evaluativer Souveränität; eine Würde der Natur (so der Titel eines Buches von Löhr 2023) anzuerkennen, heißt, einzusehen, dass wir als Spezies mindestens genauso von der Qualität unserer naturräumlichen Umgebung abhängen wie die Natur von uns. So ist das Konstrukt der Biodiversität aus Sicht der Menschheitsgeschichte sicherlich anders zu beurteilen als vor dem Hintergrund erdgeschichtlicher Dimensionen. Trans‐ formationspolitisch resultiert daraus ein Anspruch, Vielfalt sowie Selbsterhaltungs- Humanistische Transformation 121 <?page no="122"?> und -erneuerungskräfte auf beiden Seiten zu bewahren und zu fördern: für die Menschheit einerseits und ihre natürliche Umgebung andererseits. Hieraus ergibt sich das schon mehrfach erwähnte Primat der Freiwilligkeit vor dem Zwang. Zunächst hat reale Transformationspolitik die Bedingungen dafür zu schaffen, damit erforderliche Anpassungsleistungen, die der Kreativität vieler entspringen, möglich werden. Es kommen all solche Maßnahmen zum Tragen, die mit den modernen Begriffen Empowerment und Enabling erfasst werden. Motivierende Rahmensetzungen gehen insofern vor Demotivation. Maßnahmen zur Reduktion menschlicher Verwundbarkeit gehen vor solchen, die letztlich Verletzungen schaffen, weil sie die Würde des Menschen und damit die Conditio humana missachten. An dieser Schnittstelle trifft man auf innovationspolitische Begründungskontexte, die für die Erhaltung eines wettbewerblichen Level Playing Fields sprechen. Auf ihm werden aus eigenem Antrieb heraus kreative Lösungen generiert und weiterentwickelt. Die Intrinsifizierung ökologieverträglicher Maßstäbe im eigenen Handeln bedeutet dabei eine allmähliche, organische und somit in sich nachhaltige Veränderung von Konsum- und Produktionsmustern. Während das Konzept des ökologischen Fußab‐ drucks die negativen Umweltfolgen menschlicher Existenz betont, nimmt die Idee eines ökologischen Handabdrucks eine positive Konnotation auf: Wenn Überzeugung auf Basis eines angepassten Weltbildes Motivation hervorbringt, entstehen Handlungs‐ weisen und ein gesellschaftliches Engagement, das die Vereinbarkeit von Ökonomie und Ökologie zu vergrößern hilft (Germanwatch 2023). Hier setzen unmittelbar die nachfolgenden Überlegungen zur „Bildungspolitik als Fundament für eine Transfor‐ mation von unten“ an. ▻ Zwischenzusammenfassung und Literaturhinweise Wie Wirklichkeit wahrgenommen wird, unterscheidet sich von Individuum zu Indivi‐ duum; diese Einsicht macht sich transformative (Wirtschafts-)Politik zu eigen, wenn sie die bei der Nachhaltigkeitswende zu lösenden Probleme beschreiben und gesetzte Ziele mit geeigneten, über demokratische Prozesse zu bestimmende Maßnahmen erreichen will. Als wie bedeutend und veränderungswürdig aber wird das Problem wahrgenom‐ men und welches sind die geeigneten Mittel zu seiner Behebung? Die Antworten darauf hängen von den mannigfachen „Individualrealitäten“ ab, die miteinander konkurrieren und zwischen denen es abzuwägen und schließlich zu vermitteln gilt, um gesellschaftlich tragfähige Entscheidungen treffen zu können. Neben die Inhalte tritt dabei die Kommunikation als entscheidender Faktor. Es geht darum, Menschen von der Sinnhaftigkeit bestimmter Veränderungen einschließlich hinzunehmender Einschnitte zu überzeugen. Dafür müssen Begriffe, Bilder und Narrative gefunden werden, die den Erkenntnisgehalt des Arguments möglichst überzeugend transportieren, ohne den Verdacht versuchter Indoktrination und Ideologisierung aufkommen zu lassen. Erstre‐ benswert ist ein hoher Intrinsifizierungsgrad, also die sich selbst verstärkende Moti‐ vation nachhaltigen Verhaltens, um die gesteckten Ziele zu erreichen. Die Maßnahmen 122 8 Reale Transformationspolitik ∙ wahrgenommene Wirklichkeiten gestalten <?page no="123"?> des hierfür vorgestellten Instrumentenkatalogs sind nach ihrer Wirkungsqualität auf die jeweiligen Zielgruppen aufgefächert. Betont wurde weiterhin die Offenheit für neue und damit tendenziell unerwartete Lösungen mit all ihren Chancen und Risiken. Sie hat im hier vertretenen Politikansatz Vorfahrt vor einer verfrühten Fixierung auf einzelne Technologien. Zum einen entzieht sich die Politik dadurch der Gefahr von Fehlinvestitionen im Falle unvorhergesehener negativer Entwicklungen, zum anderen einer möglichen gesteigerten Einflussnahme durch Lobbyistengruppen einschließlich damit einhergehenden unproduktiven Rentseekings. Als für eine reale Transformationspolitik zielführend wurde das Leitbild einer humanistischen Transformation ins Feld geführt. Dahinter steht die kontinuierlich gestiegene menschliche Einflussnahme auf die natürlichen Lebensbedingungen und die daraus erwachsene Verpflichtung zur Übernahme planetarer Verantwortung. Richtungsweisend für eine Politik der Nachhaltigkeitstransformation ist es, das Span‐ nungsverhältnis zwischen menschlicher Lebensweise und Qualitäten der Natur in eine nachhaltig-synergetische Koevolution zu überführen. Der Mensch trägt also eine doppelte Verantwortung: für sich und seinen Lebensraum. Dies ist eine Vorstellung, die sich in der Idee des ökologischen Humanismus manifestiert. Zu dessen Ausgestaltung bietet sich bei hinreichender Orientierung an verfassungsmäßig verbrieften Freiheits‐ zielen in Erweiterung des Ordnungsrahmens einer sozialen eine sozial-ökologische Marktwirtschaft an. Wenngleich in einer solchen Marktwirtschaft Maßnahmen libertäreren Charakters prinzipiell der Vorrang gegenüber Regulierungen oder gar Verboten eingeräumt wird, können in Fällen gebotener Dringlichkeit härtere Eingriffe unumgänglich sein. Gleich‐ wohl ist zu berücksichtigen, dass sich solche wegen fehlender politischer Mehrheiten trotzdem in vielen Fällen nicht umsetzen lassen. Attfield, R. 2018. Environmental Ethics: A Very Short Introduction, Oxford. Der Autor gibt einen kurzen und übersichtlichen Einstieg in Themen der Umweltethik und geht dabei insbesondere auf Werte ein, die mit Schlagwörtern wie Klimawandel, Umweltverschmutzung, Verlust von Lebensräumen und Biodiversität verbunden sind. Haber, W. / M. Held / M. Vogt (Hrsg.) 2016. Die Welt im Anthropozän: Erkundungen im Spannungsfeld zwischen Ökologie und Humanität, München. Eine eindrucksvolle Beschreibung, wie der Mensch durch die technische Zivilisation die Erde derart verändert hat, dass er nicht mehr in der Lage ist, die daraus entstehenden Konsequenzen vollständig zu beherrschen. Rosa, H. 2014. Beschleunigung und Entfremdung, Berlin. Hartmut Rosa sucht nach Auswe‐ gen, wie wir im gegenwärtigen Zeitalter eines beschleunigten sozialen Lebens dieser Schnelligkeit und den damit einhergehenden Entfremdungsformen entrinnen und ein gutes Leben führen können. ▻ Zwischenzusammenfassung und Literaturhinweise 123 <?page no="125"?> 9 Bildungspolitik ∙ Fundament einer Transformation von unten Sensibilisierendes Systemwissen Friedrich dem Großen (1712-1786) wird das Zitat in den Mund gelegt, ein unterrich‐ tetes Volk lasse sich leichter regieren. Ohne sich an dieser Stelle an einer Exegese dahingehend zu versuchen, welcher genaue Begründungshorizont dem absolutisti‐ schen Aufklärer seinerzeit vor Augen stand, mag dieser Zusammenhang doch als Anknüpfungspunkt für die folgenden Überlegungen dienen. Startpunkt sind erneut die individuellen Weltsichten Betroffener in einem Transformationskontext. Sie stellen gewissermaßen das Ausgangsszenario dar, auf das die politische Transformations‐ agenda trifft. Werden die in dieser Agenda adressierten Defizite, Fehlentwicklungen, Bedrohungen und daraus abgeleiteten Ziele von den Bürgern ähnlich gesehen, stellt dies eine gute Voraussetzung für eine vergleichsweise umstandslose Intrinsifizierung nötiger Veränderungsimpulse dar. Anders verhält es sich in schon diskutierten Fällen, in denen keine Anpassungsbereitschaft besteht, wenn die „Zeichen der Zeit“ weithin anders gedeutet werden, man Risiken höher als Chancen gewichtet und somit keine Einsicht in die Notwendigkeit einer transformativen Politikagenda besteht. Die Gefahr hierfür steigt ■ in dem Maß, in dem die neue Politik vom eigenen Verständnishorizont abweicht, ■ mit wachsender Komplexität und Interdisziplinarität des für den Nachvollzug nötigen Wissens, ■ mit größer werdenden Ängsten dahingehend, was die eigene Rolle in der sich massiv verändernden Welt sein kann und, daraus abgeleitet, ■ mit Gefühlen von Ohnmacht und gesellschaftlicher Separierung. Bereits die von Wilhelm von Humboldt (1767-1835) betriebenen bildungspolitischen Weichenstellungen können als Indiz dafür gesehen werden, wie gegenwärtig dem großen Humanisten solche grundlegenden Zusammenhänge waren: ■ zum einen die grundlegende Erkenntnis des bedeutenden Beitrags von Bildung zur Persönlichkeitsentfaltung und darüber zur Entfaltung konstruktiver Gestaltungs‐ kräfte, ■ zum anderen die Pflicht des Staates, zuallererst auf das Wohl der Bürger bedacht zu sein und alles dafür zu tun, um die Selbstverwirklichung des Einzelnen einschließ‐ lich seiner Partizipation am gesellschaftlichen Ganzen und dessen Mitgestaltung zu ermöglichen. <?page no="126"?> Wenn man das zur korrespondierenden Würde von Mensch und Natur Gesagte ernst nimmt, dann ist aus heutiger Sicht die Bildungsperspektive Wilhelms von Humboldts um die Einsichten seines kongenialen Bruders Alexander von Humboldt (1769-1859) zu erweitern. Wie keinem anderen zu seiner Zeit ging es ihm um die Komplexität der natürlichen Umwelt und um ein disziplinübergreifendes Verständnis der hierbei maß‐ geblichen Zusammenhänge. Bereits damals sorgte er sich um die fehlende Sensibilität politischer Protagonisten für die Vulnerabilität der Natur. Spätestens an dieser Stelle kommt ins Spiel, dass Wissenschaft und Bildung zwei Seiten einer Medaille sind. So wie es Forschung und Entwicklung daran gelegen ist, Natur und Mensch in all ihren jeweiligen Facetten und wechselseitigen Abhän‐ gigkeiten zu verstehen, trägt Bildung die daraus resultierenden Erklärungsansätze zielgruppengemäß in die Gesellschaft hinein. Letzteres wird umso anspruchsvoller, je interdisziplinärer Phänomene sind. Im Kontext der Nachhaltigkeitswende treffen, grob geclustert, humanwissenschaftliche, naturwissenschaftliche und ingenieurwis‐ senschaftliche Erklärungswelten aufeinander. Dies stellt für die Forschung eine große Herausforderung dar, denn es müssen neue inter- und transdisziplinäre Organisati‐ onsformen, Formate und Methoden entwickelt werden, um die Voraussetzungen für eine aufeinander bezogene Erkenntnisgewinnung und ganzheitliche Lösungsansätze zu schaffen. Noch schwieriger gestaltet sich die Herausforderung für Bildungseinrichtungen, die mit der Vermittlung des gewonnenen Wissens betraut sind. Klassischerweise sind ihre Curricula disziplinär gegliedert, sodass Nachhaltigkeitsthemen in Schulen beispielsweise separat in den Sach-, Geographie-, Sozialkunde-, Chemie-, Physik- oder auch Biologieunterricht integriert werden können. Woran es aber mangelt, sind curriculare Orte, die eine Zusammenschau der Phänomenbereiche ermöglichen, die deskriptive, positive und normative Argumentationsstränge zusammenführen und die wechselseitigen Bezüge des transformativen Dreiklangs verstehen, vermitteln und gestalten transparent machen. → Abbildung 22 erfasst das im Rahmen der Nachhaltigkeitstransformation relevante Systemwissen nochmals kategorial-systematisch: ■ Zunächst gilt es demnach, die relevante Vergangenheit verstehen und interpre‐ tieren zu können. Die Einsicht, dass es ohne Retrospektive keine Perspektive gibt, verweist darauf, wie entscheidend es ist, jegliche Gestaltung der Zukunft auf dem Verständnis für zurückliegende Entwicklungen fußen zu lassen. Dazu zählen naturwissenschaftliche Erkenntnisse zur langfristigen Veränderung des Erdsystems und seiner Einflussfaktoren ebenso wie geschichts-, sozial- und wirt‐ schaftswissenschaftliche Ergebnisse zur Interaktion zwischen anthropogenen und natürlichen Einflüssen. ■ Hierauf fußen dann systematische Vorstellungen darüber, wie eine in jeder Hin‐ sicht tragfähige relevante Zukunft aussehen sollte. Hierfür ist es wichtig, zu wissen, welche in der Vergangenheit gemachten Fehler zu vermeiden sind und wie Gesellschaft, Wirtschaft und Umwelt sich in einer gedeihlichen Koevolution fort‐ 126 9 Bildungspolitik ∙ Fundament einer Transformation von unten <?page no="127"?> entwickeln können. Eine Rolle spielen neben den schon genannten Wissensfeldern auch ökonomische und philosophische Vorstellungen darüber, was gelingendes Leben, Wohlstand und Glück ausmacht. ■ Um aus der Gegenwart heraus gestalterische Impulse setzen zu können, die wirksam in Richtung der vorgestellten Zukunft weisen, ist schließlich die Trans‐ formationsphase von bildungspraktischer Bedeutung. Hier geht es darum, auf Basis des Wissens über die relevante Vergangenheit geeignete kurz-, mittel- und langfristige Maßnahmen herzuleiten und aufeinander abzustimmen. Dazu zählen ökonomische Anreizsetzungen, juristisches Wissen zur Implementierung von Regelsystemen sowie technische Lösungen unter Berücksichtigung ihrer Wechsel‐ wirkungen mit der Umwelt. Außerdem wird ein Verständnis davon benötigt, wie politische Motivation, Kommunikation und gesellschaftliche Wissensvermittlung funktionieren, womit Disziplinen wie Politikwissenschaft, Psychologie und Päd‐ agogik angesprochen sind. Abb. 22: Transformation sozioökonomischer Systeme verstehen, vermitteln, gestalten (Koch / Braukmann / Bartsch 2023, S. 6) Warum? Was? Was? Wie? Wohin? Insbes. Politikwissenschaft, Ingenieurwissenschaften, Informatik, Wirtschaftswissenschaft, Rechtswissenschaft, Soziologie, Kommunikationswissenschaft, Psychologie, Pädagogik u.a. Gesellschaft, Wirtschaft, Politik, Kultur Insbes. Naturwissenschaften, Sozialwissenschaften, Wirtschaftswissenschaft, Philosophie u.a. Insbes. Geschichtswissenschaft, Naturwissenschaften, Sozialwissenschaften, Wirtschaftswissenschaft u.a. Transformationsphase Relevante Vergangenheit Relevante Zukunft Abbildung 22: Transformation sozioökonomischer Systeme - verstehen, vermitteln, gestalten (Koch/ Braukmann/ Bartsch 2023, S.-153) Wenn gerade aus bildungspolitischer Sicht vom Dreiklang verstehen, vermitteln und gestalten als Voraussetzung und im weiteren Sinne sogar Teil transformati‐ ver Politik gesprochen wurde, so kommt es vor allem auf die Beziehung dieser drei Dimensionen zueinander an. Die Ursachen und Folgen des Klimawandels zu verstehen ist zunächst Aufgabe der Forschung. Im beschleunigten Umweltwandel und unter dem Zeitdruck politischer Agenden relevante Erkenntnisse entwickeln zu Sensibilisierendes Systemwissen 127 <?page no="128"?> müssen, erfordert aber auch ihren schnellen Eingang in die Bildungssphäre - vor allem im Rahmen der Qualifizierung von Vermittlern wie Lehrern, Journalisten und anderen gesellschaftlichen Multiplikatoren. Von der Qualität ihrer Vermittlung hängt es ab, ob sich Weltsichten bzw. das Framing ihrer jeweiligen Zielgruppe so verändern, dass aus Schülern und Lesern Mitgestalter des gesellschaftlichen Wandels werden können. In der nationalen und internationalen Nachhaltigkeitsdebatte ist der Zusammen‐ hang zwischen Bildung und ökosozialer Umgestaltung der Gesellschaft zur Bewahrung von natürlichen Ressourcen und Lebensräumen schon seit geraumer Zeit ein wichtiges Thema. So wurde Bildung bereits auf der Weltklimakonferenz 1992 in Rio de Janeiro im Zuge der sogenannten Agenda 21 als „unerlässliche Voraussetzung für die Förderung der nachhaltigen Entwicklung und die bessere Befähigung der Menschen, sich mit Um‐ welt- und Entwicklungsfragen auseinanderzusetzen“, bezeichnet (Vereinte Nationen 1992, S. 329). Mit Beschluss vom 20. Dezember 2002 wurden von der Vollversammlung der Vereinten Nationen die Jahre 2005 bis 2014 sogar zur UN-Dekade der Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) erklärt. Die Mitgliedsstaaten wurden aufgerufen, Bildungsaktivitäten auf allen Ebenen des Bildungssystems zu entwickeln, um so das Ziel der Staatengemeinschaft zu unterstützen, die Lebens- und Überlebensbedingungen für aktuelle und künftige Generationen zu sichern. In Deutschland wurde hierzu mit der Deutschen UNESCO-Kommission auch formell ein Abstimmungs- und Steuerungsgremium zur Koordination der rasch anwachsen‐ den BNE-Aktivitäten aus unterschiedlichsten Akteurskreisen eingesetzt (Koch/ Brauk‐ mann/ Bartsch 2023). In der Folge entstand dann eine Nationale Plattform Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE), die ihrerseits im Jahr 2017 einen Nationalen Aktions‐ plan (NAP BNE) vorstellte, der 130 kurz-, mittel- und langfristige Einzelziele umfasst sowie 349 konkretisierte Handlungsmaßnahmen formuliert. „Das übergreifende Ziel des Aktionsplans ist es, BNE in allen Bereichen des deutschen Bildungswesens struktu‐ rell zu verankern“ (Nationale Plattform Bildung für nachhaltige Entwicklung 2017, S. 3), d. h. in der frühkindlichen Bildung, in der allgemeinbildenden Schule, in der beruflichen Bildung, in der Hochschule wie auch im Bereich des nicht formalen Lernens. Trotz all dieser Anstrengungen ist zu konstatieren, dass eine umfassende spiral‐ curriculare Konzeption transformativer Bildung bislang nicht vorliegt. Insofern hat sich ein solch umfassender Ansatz weder im deutschen Bildungssystem noch in dem anderer Länder verankert. Schwerpunkte der zahlreichen Ansatzpunkte einer Bildung für nachhaltige Entwicklung auf allen Bildungsstufen befassen sich vor allem mit einer Sensibilisierung für die Klimakrise, mit der Zerstörung von Lebensräumen und dem Rückgang der Artenvielfalt. Gerade an den Hochschulen geht es auch viel um ökonomische und technische Lösungen zur Ressourcen- und Umweltschonung. Außerdem werden dort vor allem in geistes- und sozialwissenschaftlichen Studi‐ engängen kapitalismuskritische Themen und alternative Lebensentwurfsmodelle diskutiert. 128 9 Bildungspolitik ∙ Fundament einer Transformation von unten <?page no="129"?> Speziell an Schulen mangelt es jedoch an Ansätzen, die sich mit den Folgen trans‐ formativer Politik für die Betroffenen selbst und für die Gesellschaft auseinandersetzen. Wirtschafts-, sozial- und politikwissenschaftliches Handlungswissen ist Mangelware. Ebenso verhält es sich mit Blick auf eine systematische Bildung in Richtung Entschei‐ dungsmündigkeit einerseits und Gestaltungskompetenz andererseits. Zunächst zum Aspekt der Entscheidungsmündigkeit: Soll das, was hier als Intrinsifizierung bezeichnet wurde, längerfristig wirksam sein, wäre eine transformative Bildung auf genau diese Variante von Mündigkeit der Lernenden auszurichten. Dem entgegen steht, was der große Didaktiker der Naturwissenschaften, Martin Wagenschein (1896- 1986), Überwältigungspädagogik nannte (zitiert nach Kahl 2007, S. 2): Gemeint ist ein didaktisches Vorgehen, das Kindern, Heranwachsenden oder (im Weiterbil‐ dungskontext) auch Erwachsenen als „Bildungsnehmern“ kein ausreichendes Maß an Reflexion, an Auseinandersetzung mit Kritik an den vermittelten Ansätzen und somit freiheitlicher Findung einer eigenen Position ermöglicht. In diesem Sinne zeigen sich im Bereich derzeit praktizierter BNE hier und da Tendenzen entsprechend kontraindizierter Wirkungen, wenn die Vermittler der Inhalte mit einem Übermaß an ideologisch-manipulativer Vereinnahmung Denk- und Handlungsansätze als Wahrheit propagieren und damit Lernende „überwältigen“. Für die Lernenden können daraus Effekte einer „Strohfeuermotivation“ resultieren. Diese entsteht, wenn man mit einer nicht ausreichend reflektierten Überzeugung auf eine gesellschaftliche Wirklichkeit stößt, die aber ihrerseits in hohem Maße von Ambiguitäten und Ambivalenz geprägt ist und im besten Falle eine stetige Nachjustierung sowie Weiterentwicklung der eigenen Position erfordern würde. Im folgenden Abschnitt wird es um das zweite, gerade genannte Erfordernis der Vermittlung von Gestaltungskompetenz gehen. Befähigung zur mündigen Mitgestaltung Erziehung zur Entscheidungsmündigkeit und die Vermittlung von Gestaltungskom‐ petenz wurden bereits als wesentliche Qualitäten eines umfassenden Konzepts trans‐ formativer Bildung herausgestellt. Und um es nochmals auf den Punkt zu bringen, bedeutet Mündigkeit in diesem Fall, ■ Herausforderungen und Dilemmata einschließlich ihrer Genese und Zukunftsrisi‐ ken erkennen zu können, tendenziell verstanden zu haben bzw. nachvollziehen zu können, ■ Kritik an den vermittelten Ansätzen ernst zu nehmen, einordnen und ihr begegnen zu können sowie ■ alternative Lösungsansätze zu kennen und entlang objektivierbarer Kriterien einschließlich ihrer Vor- und Nachteile vergleichen zu können, um so zu eigenen Entscheidungen in der Lage zu sein. Für den Transformationskontext heißt dies, mithilfe des aufgenommenen Wissens seine eigene, passivere oder aktivere Befähigung zur mündigen Mitgestaltung 129 <?page no="130"?> Rolle aus freien Stücken zu definieren. Dies kann Entscheidungen im Privatleben wie im Berufsleben betreffen; es kann sich um rein persönliche Positionierungen handeln oder um solche, die in der sozialen Gemeinschaft geteilt werden, etwa auch, um eine Anhängerschaft bzw. Mitakteure zu gewinnen. Es gehört zur Eigenlogik der Nachhaltigkeitstransformation, dass ihr Erfolg - gemessen an den ausgegebenen Zielen - entscheidend von der Zahl gesellschaftlicher Mitakteure abhängt. Der Ausdruck Mitakteure bezieht sich dabei auf eine ganze Bandbreite: So kann etwa „nur“ eine Anpassung des eigenen Konsumverhaltens in puncto Ernährung, Wohnen, Mobilität und in anderen Bereichen des Alltags gemeint sein. Relevanter sind jedoch solche Akteure, die sich als Innovatoren, Intrapreneure und Entrepreneure kreativ für die Gestaltung des Wandels einsetzen und auf diese Weise ggf. selbst kollektive Folgeprozesse anstoßen. Diese Akteure eint die Fähigkeit, Defizite und Bedarfe nicht nur zu erkennen, sondern neue, wegweisende Lösungen organisatorischer, logistischer oder materielltechnischer Art zu entwickeln und in Märkte und Gesellschaft zu bringen. Dies erfordert Eigenschaften, Befähigungen und Kompetenzen, die sich ebenfalls im Bil‐ dungskontext aktivieren, entwickeln und fokussieren lassen. Hierfür wiederum bedarf es nicht nur der Vermittlung eines regelrechten Entrepreneurial Spirits an den Bildungseinrichtungen, sondern konkreter Inhalte, die sich auf die systematische Umsetzung von Ideen in Produkte, Dienstleistungen und organisatorische Lösungen bis hin zu deren Markterfolg beziehen. Der Global Entrepreneurship Monitor (GEM), eine internationale Studie zur Entre‐ preneurship Culture in 51 Ländern, vergleicht verschiedenste Rahmenbedingungen für die Entwicklung von Entrepreneurial Activity (Global Entrepreneurship Monitor 2022/ 2023). Dabei lässt sich feststellen, dass das Thema Entrepreneurship Education (EE) vielerorts noch Nachholbedarf hat, wobei Deutschland gerade im Bereich schuli‐ scher EE nach wie vor vergleichsweise defizitär abschneidet. Die folgende Grafik gibt einen Überblick über die hiesigen gründungsbezogenen Rahmenbedingungen, wie sie von den für die Studie befragten Experten bewertet werden. 130 9 Bildungspolitik ∙ Fundament einer Transformation von unten <?page no="131"?> Abb. 23: Expert*innen-Bewertung der Rahmenbedingungen einer „Entrepreneurial Culture“ in Deutschland (in Anlehnung an Global Entrepreneurship Monitor 2022/ 2023, S. 136) 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Gründungsfinanzierung Kapitalmarktzugang Politische Unterstützung und Relevanz Steuern und Bürokratie Staatliche Förderprogramme Schulische Entrepreneurship Education Unternehmerische Ausbildung nach der Schule Transfers von Forschung und Entwicklung Kommerzielle Infrastruktur Marktzutritt Belastungen und Regulierung Physische Infrastruktur Soziale und kulturelle Normen Germany Level A average EFC Skala: 0 = sehr unzureichender Zustand 10 = sehr angemessener Zustand (Rang in Klammern angegeben) Abbildung 23: Experten-Bewertung der Rahmenbedingungen einer „Entrepreneurial Culture“ in Deutschland (in Anlehnung an Global Entrepreneurship Monitor 2022/ 2023, S.-136) Befähigung zur mündigen Mitgestaltung 131 <?page no="132"?> Wie → Abbildung 23 zu entnehmen ist, liegen die Rahmenbedingungen für die unternehmerische Mitgestaltung in Wirtschaft und Gesellschaft in den Bereichen „Gründungsfinanzierung“, „Staatliche Förderprogramme“ sowie „Kommerzielle Infra‐ struktur“ über dem Durchschnitt der in der einbezogenen Gruppe vertretenen Länder, wohingegen es sich bei der „Schulischen Entrepreneurship Education“ um den am schlechtesten bewerteten Bereich handelt. Und tatsächlich lässt sich in Deutschland unter anderem „ein eigenständiges Unterrichtsfach Wirtschaft über alle Bundesländer und alle Schulformen hinweg (…) nicht ausmachen (…) Stattdessen sind in den meisten Bundesländern unterschiedliche Kombinations- und Verbundfächer, wie zum Beispiel Politik und Wirtschaft oder Wirtschaft und Recht, in den Stundentafeln der unterschiedlichen Schulformen auszumachen (…) Zu beurteilen, inwieweit de facto auch entrepreneuriale Inhalte integriert sind, bedarf dabei einer vertiefenden Analyse konstituierender Lehrpläne, Schulbücher und Lehrmaterialien. Im Ergebnis können insgesamt nur wenige inhaltliche Anknüpfungspunkte ausgewiesen werden. In der Mehrzahl der Lehrpläne und Schulbücher werden die relevanten Teilbereiche bis dato nicht oder höchstens randständig sowie fragmentiert berücksichtigt“ (Koch/ Braukmann/ Bartsch 2020, S.-41-f.). Zu den Gründen für das schlechte Abschneiden der schulischen EE scheinen auch Missverständnisse hinsichtlich der Bedeutung der mit diesem Bereich verbundenen Bildungsinhalte zu gehören. Immer wieder kam es in der Vergangenheit zu ideolo‐ gischen Schlagabtauschen, deren offener Ausgang eine systematische Verankerung gestaltungsorientierter und -befähigender Inhalte im Sinne von Elementen einer EE blockierte. Zu den impliziten und expliziten Vorwürfen der Verhinderer gehört, man wolle und dürfe Kinder und Heranwachsende nicht in eine kapitalistische Richtung indoktrinieren. Was hingegen viele Befürworter meinen, basiert auf der hier skizzierten neuhuma‐ nistischen Bildungsidee, nach der junge Menschen ideologiefrei für eine volle Entfal‐ tung ihrer Persönlichkeit befähigt werden müssen, eigenständig, eigenverantwortlich und damit mündig handeln und je nachdem auch Vorbildbzw. Führungsaufgaben übernehmen zu können. Handlungsleitend ist die Zielsetzung, von der eher passiven Aufnahme von Information und der Generierung von Wissen zu einer aktiv-kreativen Form der Wissensanwendung zu gelangen. Hierfür bedarf es eines pädagogischen Enablings, um in einer Umwelt, die sich heute dynamischer und komplexer verändert als in früheren Zeiten, nicht abgehängt zu werden, sondern im Rahmen einer gesunden Selbstwirksamkeitsüberzeugung einschließlich entsprechender Kompetenzen immer wieder neue relevante Aktivitätsräume für sich und andere erschließen zu können. Das Trio-Modell der Entrepreneurial Education, wie es im Erasmus-Programm der Europäischen Union entwickelt wurde, macht hierzu konkrete Vorschläge. „Es lässt sich in die drei Kernbereiche ‚Core Entrepreneurial Education‘ (Entwicklung und Umsetzung eigener Ideen für unternehmerische und private Herausforderungen), ‚Entrepreneurial Culture‘ (Förderung einer Kultur der Selbstständigkeit, der Offenheit für 132 9 Bildungspolitik ∙ Fundament einer Transformation von unten <?page no="133"?> Neuerungen, der Empathie und Nachhaltigkeit sowie einer ermutigenden Beziehungs- und Kommunikationskultur) sowie ‚Entrepreneurial Civic Education‘ (Stärkung einer Kultur der Mündigkeit, Autonomie und Verantwortung für gesellschaftliche Herausforderungen durch die Entwicklung von Ideen und das Engagement bei der Umsetzung) unterteilen“ (Hasenclever 2020, S.-536). Diese pädagogischen Ziele reichen weit über den Fokus einer Unternehmenssphäre hinaus, bei der es rein um Gewinnerzielungsabsichten geht. Relevant sind vielmehr sämtliche gesellschaftlichen Bereiche, in denen Eigeninitiative, Kreativität und somit selbstständiges Handeln gefragt sind. Im Zuge der gegenwärtigen Veränderungen des Arbeitslebens haben sich genau diese Kompetenzerfordernisse erheblich gesteigert. Es geht also verstärkt darum, Arbeitsinhalte, -ergebnisse und -kontexte nachhaltig zu ge‐ stalten und hierüber einen Beitrag zur gesamtgesellschaftlichen Nachhaltigkeitswende zu leisten. An welchen Stellen sich dafür speziell im Unternehmenskontext Ansätze finden, soll nun in einem eigenen Kapitel betrachtet werden; auch deshalb, weil Unternehmen in (sozialen) Marktwirtschaften eine zentrale Funktion als Transmissionsriemen poli‐ tischer Transformationsimpulse zukommt. ▻ Zwischenzusammenfassung und Literaturhinweise Entscheidend für den Erfolg einer Nachhaltigkeitswende, wie sie gerade in Deutschland und vielen anderen Staaten der Welt angestrebt wird, ist die Zusammenführung und Koordination eines möglichst breiten Spektrums konstruktiver Kräfte aus der Mitte der Gesellschaft heraus. Dabei ist Sorge zu tragen für ausreichende Spielräume zur Selbstverwirklichung der Einzelnen. Dies schließt auch Partizipations- und Mit‐ gestaltungsmöglichkeiten ein. Damit dies im Sinne der komplexen Zielsetzungen gelingen kann, ist eine breite und systematische Implementierung von Maßnahmen der Bildungs- und Forschungsförderung im interdisziplinären Maßstab zentral. Angesichts der Offenheit des Prozesses und des Angewiesenseins auf immer neue Problemlösungen sind die Methoden, Formate und Organisationsformen so zu konzi‐ pieren, dass innovative Forschungsergebnisse rasch Eingang in den wissenschaftlichen Bewertungsprozess und dann in die relevanten Bildungskontexte finden. Maßgeblich hierfür ist der transformative Dreiklang verstehen, vermitteln und gestalten. Im ersten Schritt wird die wissenschaftsgestützte Herausbildung eines gemeinsamen Verständ‐ nisses von Problemlagen angestrebt, in einem zweiten dessen Verbreitung sowie das Aufzeigen gangbarer Wege über Bildungsgänge. Drittens geht es um die Motivation, die Inhalte von Forschung, Entwicklung und Bildung in den Gestaltungsraum zu implementieren. Für Deutschland etwa kann die Nationale Plattform Bildung für nachhaltige Entwicklung von 2017 angeführt werden, die das Ziel hat, Bildung für Nachhaltige Entwicklung in allen Bereichen des deutschen Schul-, Hochschul- und Weiterbildungssystems zu verankern. ▻ Zwischenzusammenfassung und Literaturhinweise 133 <?page no="134"?> Zugleich mangelt es jedoch vielerorts an der Vermittlung von Gestaltungsmün‐ digkeit, also der Fähigkeit und intrinsischen Motivation, Problemsituationen nicht nur zu beschreiben und zu kritisieren, sondern auch Lösungen zu entwickeln und weiterzutragen. Die dazu erforderlichen Kompetenzen lassen sich ebenfalls im Bil‐ dungssystem entwickeln und aktivieren, ein Themenkomplex, der unter dem Stichwort der Entrepreneurship Education (EE) diskutiert wird. Diese ist nach wie vor im Bildungssystem und hier insbesondere in den Schulen nicht systematisch genug integriert. Dafür spielen teils auch ideologiegetriebene Missverständnisse über die Hintergründe und Möglichkeiten entsprechender Ansätze eine Rolle. Umso mehr liegt es im Interesse einer transformativen Wirtschaftspolitik, Schüler, Studierende und Erwachsene mittels ideologiefreier Lehr-Lern-Inhalte generell von einer eher passiven Informationsaufnahme und Wissensgenerierung hin zu einer aktiv-kreativeren Form der Wissenswendung zu bringen und sie somit zu Mitgestaltern der Nachhaltigkeits‐ transformation zu machen. Christensen, A. S. / T. Grammes 2020. The Beutelsbach Consensus - the German approach to controversial issues in an international context, Acta Didactica Norden 14 (4), S.-1-19. In diesem Beitrag wird verhandelt, wie es gelingen kann, jungen Menschen politischemotionale, teils kontroverse Themen so zu vermitteln, dass sie einerseits Kriterien einer demokratischen Erziehung entsprechen und andererseits Involvement motivieren. Koch, L. T. / U. Braukmann / D. Bartsch 2021. Schulische Entrepreneurship Education - quo vadis Deutschland? Plädoyer für einen Perspektivenwechsel, ZfKE - Zeitschrift für KMU und Entrepreneurship 69 (1), S.-37-58. Präsentiert wird ein Vorschlag, wie Entrepreneurship Education angesichts der sich verändernden gesellschaftlichen Be‐ dürfnisse und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen erfolgreich in das zukünftige deutsche Bildungssystem integriert werden kann. Nationale Plattform Bildung für nachhaltige Entwicklung 2017. Nationaler Aktionsplan Bildung für nachhaltige Entwicklung. Der deutsche Beitrag zum UNESCO-Weltaktionspro‐ gramm, Berlin. Hier geht es um einen möglichen Fahrplan, wie Deutschland anhand der 130 kurz-, mittel- und langfristigen Ziele des Nationalen Aktionsplans für nachhaltige Entwicklung sein Bildungssystem umgestalten könnte. 134 9 Bildungspolitik ∙ Fundament einer Transformation von unten <?page no="135"?> 10 Unternehmen ∙ Transmissionsriemen politischer Impulse Nachhaltigkeit als Managementdimension Für das Gelingen der Nachhaltigkeitswende kommt es, wie gezeigt wurde, darauf an, möglichst viele Akteure in allen Teilen der Gesellschaft davon zu überzeugen, aus ihrer jeweiligen Perspektive Verhaltensweisen so anzupassen, dass ökonomische, soziale und ökologische Ziele mit weniger Widerspruch erreicht werden können. Adressiert werden also Private und Gewerbetreibende genauso wie staatliche Ein‐ heiten und deren Funktionsträger. Dem Unternehmenssektor kommt deshalb eine besondere Rolle zu, weil der Hebel von in Unternehmen vorgenommenen transfor‐ mativen Weichenstellungen mit Blick auf deren Auswirkung für das Erreichen politischer Ziele, wie beispielsweise CO 2 -Einsparungen, besonders groß ist. Es sind schließlich die Unternehmen, die durch ihre Aktivitäten während der gesamten Produktions- und Distributionskette zur „ökologischen Qualität“ im Wirtschafts‐ kreislauf beitragen. Im Einzelnen können Nachhaltigkeitsziele Einfluss auf die Auswahl der produzierten Güter und Dienstleistungen, die verwendeten Technologien, die eingesetzten Rohstoffe und Vorprodukte oder auch, damit verbunden, die Organisation der Herstellungspro‐ zesse und die Nutzung der Infrastrukturen haben. Um diese Ziele zu implementieren, gibt es zahlreiche Geschäftsmodelle, die das bisherige Kerngeschäft von Unterneh‐ men mit neuen sozialen und ökologischen Aspekten verknüpfen und entlang von Kriterien der Nachhaltigkeit gar die Entwicklung völlig neuer Hauptgeschäfte ermög‐ lichen (Lüdeke-Freund 2022). Für den Unternehmenssektor und das verantwortliche Management gilt ebenso, was für die Eigenlogik von gesamtgesellschaftlichen Transformationsprozessen gesagt wurde: Relevant ist ein Ineinandergreifen von Verhaltensänderungen, die entspre‐ chend der vorgestellten politischen Maßnahmenkategorien freiwillig, incentiviert oder „erzwungen“ (Ge- und Verbote u. a.) sein können. Nicht selten sind hier bestimmte Abfolgen zu beobachten, d. h., Anpassungen, die zunächst aufgrund „harter“ Vorga‐ ben erfolgten, ziehen weitere unternehmerische Reorganisationsentscheidungen und Strategieanpassungen nach sich, die dann einen zunehmend freiwilligen Charakter annehmen. Beispiele für „harte“ Vorgaben finden sich im Bereich von Emissionsrichtlinien oder auch der Restriktionen für die Schadstoffvermeidung in Produkten. Die Industrieemissi‐ onsrichtlinie etwa ist eine EU-weit gültige Vorgabe für die Genehmigung, den Betrieb, die Überwachung sowie die Stilllegung besonders umweltrelevanter Industrieanlagen. Es werden nicht nur die Schadstoffemissionen in Luft, Erde und Wasser reguliert, <?page no="136"?> sondern auch sonstige Umweltbelastungen, welche die biologische Vielfalt gefährden, Menschen durch Lärm belasten, ein überhöhtes Abfallaufkommen verursachen etc. Die Maßnahmen können bis zur Stilllegung des Betriebs betroffener Unternehmen oder Unternehmensteile reichen. Eine Umsetzung in deutsches Recht führte beispielsweise zu entsprechenden Anpassungen im Bundes-Immissionsschutzgesetz (BImSchG), im Kreislaufwirtschaftsgesetz (KrwG) und im Wasserhaushaltsgesetz (WHG) (Umweltbun‐ desamt 2023a). Für die Vermeidung von Schadstoffen in Produkten sei die Chemikalien- Verbotsverordnung (ChemVerbotsV) angeführt, die in § 1 (Anwendungsbereich) „das Inverkehrbringen bestimmter gefährlicher Stoffe und Gemische sowie bestimmter Erzeugnisse, die diese freisetzen können oder enthalten, nach dem Chemikaliengesetz“ beschreibt. Durch Verbote und Beschränkungen zur Herstellung und Verwendung dieser Güter, Vorschriften zur Einstufung ihres Gefährdungspotenzials, zur Kennzeich‐ nung und Verpackung etc. gilt es, Mensch und Umwelt zu schützen (Bundesministe‐ rium für Justiz 2023). Weitere „harte“ Eingriffe in die Industriestruktur stellen für die Bundesrepublik Deutschland Entscheidungen wie die zum Kernenergieausstieg aus dem Jahr 2011 dar. Dieser betrifft nicht nur den Energiesektor, sondern, über Auswirkungen auf den Strompreis, den gesamten Produktionsstandort Deutschland. Lange Zeit wurde der Ausstieg aus der Kernenergie als wichtiger Teil der sogenannten Energiewende betrachtet. Er ist aber, wie schon erwähnt, aufgrund neuer geopolitischer Herausfor‐ derungen und technologischer Perspektiven umstrittener als noch vor Jahren. Auch das Ende der Stromgewinnung durch die Verbrennung von Kohle ist in Deutschland gel‐ tende Beschlusslage: Gemäß dem Kohleausstiegsgesetz soll das letzte Kohlekraftwerk im Jahr 2038 stillgelegt werden. Um im erzwungenermaßen folgenden Strukturwandel Anpassungen zu fördern und negative Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt gering zu halten, fließen bis dahin erhebliche Bundessubventionen in die betroffenen Regionen (Bundesregierung 2023c). All diese Regulierungen stellen das Management der betroffenen Unternehmen vor große Herausforderungen und fordern eine Vielzahl innerbetrieblicher strategi‐ scher und operativer Entscheidungen. Dennoch gibt es unzählige unternehmerische Beiträge „incentivierten“ und freiwilligen Charakters in Richtung einer nachhaltigen Entwicklung, die weit über die gesetzlichen Forderungen hinausgehen. Mittlerweile ist diese Kategorie transformativer Beiträge zur Nachhaltigkeitswende national und international als Corporate Social Responsibility (CSR) fest etabliert. Betrachtet man deren konkrete Umsetzung in unternehmerische Entscheidungen, so haben diese in der Praxis eine ökologische, eine ökonomische und eine soziale Dimension. Die nachfolgende Grafik veranschaulicht die Bedeutung dieser drei Dimensionen anhand von Beispielen. 136 10 Unternehmen ∙ Transmissionsriemen politischer Impulse <?page no="137"?> Abb. 25: Von der Linearwirtschaft zur Kreislaufwirtschaft (Wasserdreinull 2023) Nachhaltigkeitsrichtlinie für Lieferanten, Regelungen zu Personalthemen u.a. Ökologie Ökonomie Soziales • Abfallvermeidung • JobRad, e-Mobility, Grünstrom • Zieljahr X: Y % weniger CO 2 -Ausstoß • Vermeidung von Verschwendung (Strom, Wasser u.a.) • Spenden, Sponsoring, Patenschaft • Förderung von Gemeinnützigkeit • Open Source Contribution Beispiele Corporate Social Responsibility Mitarbeitende Bewerbende Kunden Rechtliche Rahmenbedingungen Abbildung 24: Dimensionen von unternehmerischer Corporate Social Responsibility mit Beispielen (in Anlehnung an MSG 2023) Zu den über gesetzliche Vorgaben hinausgehenden freiwilligen Verhaltensanpassun‐ gen in Unternehmen gehören Abfallvermeidung, CO 2 -Ausstoßreduktionen, die Ver‐ meidung von Ressourcenverschwendung etwa bei Strom und Wasser, die Förderung gemeinnütziger Aktionen sowie Nachhaltigkeitsrichtlinien für Lieferanten und andere Kooperationspartner. Hier lässt sich besonders gut nachvollziehen, wie entsprechende Management-Entscheidungen die Awareness für die Nachhaltigkeitsthematik bei Mitarbeitenden und Stakeholdern steigern und so über Einflüsse auf die Mindsets der Betroffenen eine Multiplikatorwirkung entsteht. Im Zusammenhang mit CRS wird oft die Frage diskutiert, ob bei entsprechenden Management-Entscheidungen tatsächlich sozialökologische Motive einer freiwilligen und unter Umständen kostenträchtigen Beteiligung an gesamtgesellschaftlichen Zielen im Vordergrund stehen oder ob ökonomische Aspekte den Ausschlag für die ökologi‐ schen und sozialen Maßnahmen geben. Als Beispiele seien hier die Hervorhebung umweltverantwortlichen Verhaltens in der Werbung zum Zwecke der Verbesserung des eigenen Images oder auch die Einführung damit verbundener Maßnahmen, um möglicherweise noch strengeren Maßnahmen des Gesetzgebers zuvorzukommen, genannt. Handelt es sich lediglich um Maßnahmen, die der Öffentlichkeit ein verant‐ wortungsvolles Image präsentieren sollen, ohne dies mit adäquaten und nachhaltig wirksamen Weichenstellungen zu hinterlegen, spricht man auch von Greenwashing. Damit ist verknüpft, dass es für Verbraucher und die Öffentlichkeit häufig nur schwer und erst nach intensiver Recherche erkennbar ist, wie umweltverantwortlich Unternehmen tatsächlich aufgestellt sind. Dies betrifft unter anderem die Herstellungs‐ prozesse und Eigenschaften angebotener Güter und Dienstleistungen. Ob beispiels‐ weise „Gemüse ökologisch angebaut wurde, ein Lebensmittelerzeugnis vegan ist, ein Nachhaltigkeit als Managementdimension 137 <?page no="138"?> Gerät wenig Strom benötigt, Farben gesundheitsgefährdende Stoffe enthalten oder Holz aus nachhaltig bewirtschafteten Wäldern stammt, sehen wir dem Produkt am Ver‐ kaufsort nicht an“ (Umweltbundesamt 2023b). Um Verbrauchern die Kaufentscheidung für ein Produkt zu erleichtern und ihren Informationsaufwand zu reduzieren - sowie dabei selbst Transaktionskosten für die Bereitstellung und den Vertrieb einzusparen -, signalisieren Unternehmen dem Markt häufig über Qualitäts- und Gütesiegel, Mar‐ kennamen, Qualitätsversprechen, Labeling etc., dass bestimmte, über die vom Ge‐ setzgeber auferlegten Pflichten hinausgehende Umweltstandards eingehalten wurden. Beispiele hierfür sind EU-Energielabel wie die EU-Energieverbrauchskennzeichnung (Elektrogeräte), Bio-Siegel (Lebensmittel), EU Ecolabel (verschiedene Alltagsprodukte), Blauer Engel (verschiedene Alltagsprodukte) oder auch Grüner Knopf (Bekleidung). Im folgenden Kasten werden einige Umweltlabel vorgestellt. Für die Wirksamkeit solchen Labelings kommt es stark auf die Seriosität, Unabhängigkeit und andere Qualitätskriterien des Label-Vergabeprozesses selbst an (Umweltbundesamt 2023b). Beispiel 10 | Umweltlabeling in der Praxis Das sogenannte Öko- oder Green Labeling ist eine Methode, um Verbrauchern Informationen über die Umweltauswirkungen eines Produkts oder einer Dienst‐ leistung zu vermitteln und ihnen dabei zu helfen, umweltbewusstere Entschei‐ dungen zu treffen. Der bereits im Jahr 1978 in Deutschland eingeführte Blaue Engel ist das älteste und mit ca. 12.000 mit diesem Label versehenen Produkten und Dienstleistungen das wohl weltweit bekannteste Umweltzeichen. Hinter dem Label steht die Jury Umweltzeichen, ein vom deutschen Bundesumweltminister berufenes, unabhängiges Beschlussgremium, das nach strengen Kriterien, und, um die Aktualität zu gewährleisten, in einem Drei-Jahres-Rhythmus über die Vergabe entscheidet. Ein weiteres bekanntes Beispiel für vertrauenswürdiges Umweltlabeling ist das Forest-Stewardship-Council-Siegel (FSC) zum Schutz der Wälder, das in den Produkten und Verpackungen den Ursprung der verwendeten Holzerzeugnisse aus nachhaltiger, kontrolliert und legal betriebener Waldwirtschaft anzeigt und somit die Verwendung von Materialien aus illegalem Raubbau, d. h. massenweiser und rücksichtsloser Holzernte, ausschließt. Das FSC „ist eine internationale, unabhängige, nichtöffentliche, gemeinnützige Organisation, die von Vertretern von Umwelt- und sozialen Organisationen sowie Waldbesitzern und Holzverar‐ beitern aus der ganzen Welt [mit dem Ziel; d. A.] gegründet wurde (…), eine umweltverträgliche, sozial vorteilhafte und wirtschaftlich tragfähige globale Waldbewirtschaftung zu fördern“ (FSC 2023). Beim FSC-Labeling werden noch‐ mals drei verschiedene Kennzeichen unterschieden: FSC Recycled für Produkte, die ausschließlich Recyclingmaterial beinhalten (meist Papier), FSC Mix, bei dem sowohl Materialien aus FSC-zertifizierten Wäldern und/ oder Recyclingmaterial als auch Rohstoffe aus kontrollierten Quellen verwendet wurden (Produkte wie 138 10 Unternehmen ∙ Transmissionsriemen politischer Impulse <?page no="139"?> Spanplatten und Getränkekartons), und FSC 100 %; hier stammt das Material vollständig aus FSC-zertifizierten Wäldern (etwa Möbel und Vollholzerzeugnisse). Lediglich zertifizierten Unternehmen ist es erlaubt, ihre Endprodukte mit einem der drei Umweltkennzeichen zu versehen. Über eine öffentliche Datenbank kann das hinter dem Produkt stehende zertifizierte Unternehmen bzw. die entspre‐ chende Organisation anhand einer Lizenznummer ermittelt werden. Neben solchen positiven Beispielen existiert eine Menge an Umweltkennzeich‐ nungen, die als negativ oder zweifelhaft zu bewerten sind und an dieser Stelle nicht namentlich benannt werden. Sie sind häufig eng mit dem erwähnten Green‐ washing verbunden. Vielfach handelt es sich um Produkte und Dienstleistungen, bei denen durch irreführende Etikettierung und Informationen Nachhaltigkeitsei‐ genschaften suggeriert werden, die tatsächlich aber nicht vorhanden sind. Immer wieder sind Kennzeichnungen unklar und mehrdeutig, eine vorgegebene Über‐ prüfung entbehrt klarer und verlässlicher Standards oder wurde nicht unabhängig durchgeführt. Eine besondere Bedeutung als Transmissionsriemen für politische Nachhaltigkeits‐ impulse im gewerblichen Bereich kommt dem Bankensektor zu, da ein Großteil unternehmerischer und privater Investitionen auf Finanzierungen durch Banken und Sparkassen angewiesen ist. Dadurch trägt der Bankensektor eine große Mitverantwor‐ tung, die vielfach in Form selbstverpflichtender Umwelt- und Klimaschutzrichtlinien unter dem Label Sustainable Finance wahrgenommen wird. Auch im Bankenbereich lassen sich in vielen Fällen ökologische, soziale und ökonomische Ziele gut vereinbaren. So gibt es mittlerweile einen großen Markt für nachhaltige Anlageprodukte. Die erwähnten Umstellungsprozesse bei Unternehmen vieler Branchen bedürfen diverser Beratungsleistungen, die von Banken und Sparkas‐ sen erbracht werden können. Schließlich bietet die Kreditvergabe Entscheidungsspiel‐ räume dafür, an welche Unternehmen und für welche Investitionsvorhaben bevorzugt Kredite ausgereicht werden. Um das Ziel zu erreichen, Europa bis zum Jahr 2050 als ersten Kontinent klimaneutral zu gestalten, sollen allein im Zuge des EU Green-Deals in diesem Jahrzehnt Investitionen in Höhe von einer Billion Euro mobilisiert werden, was einen engen Schulterschluss zwischen Politik, Wirtschaft und Finanzbranche unerlässlich erscheinen lässt (Bankenverband 2023). Ein Schritt in diese Richtung sind unter anderem die EU-weit immer wichtiger werdenden Vorgaben zur Umwelt- und Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unter‐ nehmen und Banken. Bereits seit 2017 gilt in der EU eine sogenannte nicht finanzielle Berichtspflicht für große Unternehmen. Nach Überarbeitung der entsprechenden EU- Richtlinie zur Corporate Sustainability Reporting Directive existieren nunmehr einheitliche Berichtsstandards, die nach und nach verpflichtend anzuwenden sind (Umweltbundesamt 2023c). Stichworte im Rahmen des Reportings sind etwa die Green Asset Ratio (GAR), also der Anteil an „nachhaltigen Krediten“, der die Kriterien der EU- Nachhaltigkeit als Managementdimension 139 <?page no="140"?> Taxonomie in Relation zu bilanziellen Bankbuchaktiva erfüllt, oder auch die Banking book Taxonomy Alignment Ratio (BTAR), eine noch weiter gefasste Berichtspflicht zu Nachhaltigkeitsaktivitäten und -risiken (ESG-Risiken). Wenn von Corporate Social Responsibility, Schulterschluss und damit Vernet‐ zung die Rede ist, so sind bei der Betrachtung unternehmerischer Handlungsfelder auf dem Weg in eine nachhaltigere Gesellschaft auch und vor allem kooperative Aktivitäten zur gemeinsamen Einsparung von Ressourcen zu thematisieren, was im folgenden Abschnitt erfolgt. Zirkuläre Ökonomie Vernetztes ökonomisches Agieren und Clusterwirtschaft sind Phänomene, die ange‐ sichts der fortschreitenden globalen Integration von Märkten und somit der gesteiger‐ ten Gefährdung der Wettbewerbsposition von Unternehmen über die vergangenen Jahrzehnte größeres Gewicht erlangt haben. Kooperationsbeziehungen gestalten sich verbindlicher, Leistungsaustausch und das Aufeinanderangewiesensein haben sich verstärkt. Dies sind geeignete Voraussetzungen für einen Nachhaltigkeitsansatz im Unternehmenssektor, der unter dem Stichwort zirkuläre Ökonomie diskutiert wird und erstmals bereits 1994 im deutschen Kreislaufwirtschaftsgesetz (KrWG) zur Abfall‐ vermeidung seinen regulativen Niederschlag gefunden hat. Eine zirkuläre Ökonomie oder Kreislaufwirtschaft (engl.: Circular Economy) „verwirklicht im umfassenden Sinne des Begriffs das Erfordernis, alle in der Wertschöpfung - von der Produktion über die Distribution bis zur Konsumtion - verwendeten Stoffe weitestgehend in einem Kreislauf zu halten. Mit Beginn des Wertschöpfungsprozesses haben diese Stoffe eine definierte Konfiguration. In dieser müssen sie am Ende des Prozesses noch verfügbar sein bzw. zurückgewonnen werden. Schon bevor der Prozess der Herstellung beginnt, muss sichergestellt sein, dass die stoffliche Rückgewinnung unter technologischen und naturwissenschaftlichen Prämissen auch tatsächlich möglich ist. Dies gilt dem Sinne nach für alle Arten von stoffwirtschaftlichen Kreisläufen: Für die feststofflichen Kreisläufe bei der Herstellung materieller Güter, für die biologischen Kreisläufe mit Schwerpunkt Nahrungs‐ aufnahme und -verwertung, für die energetischen Kreisläufe. Inkludiert sind im weiteren Sinne auch die Kreisläufe von Wasser, Böden und Luft, wobei diese in natürlicher Reinform kaum noch existieren“ (Schäfer 2023). Damit versucht die zirkuläre Ökonomie, lineare Produktionszusammenhänge, wie sie vielfach für das industrielle Zeitalter prägend waren, zu überwinden. Lineare Ökonomie meint in diesem Zusammenhang, dass die einzelnen Schritte von Produkti‐ onsprozess, Entnahme, Herstellung und Entsorgung nicht miteinander verbunden sind. Der Begriff der Wegwerfgesellschaft steht exemplarisch für eine solche Wirtschaft, in der Produkte nach ihrem einmaligen Gebrauch entsorgt werden und Abfälle nicht wieder Eingang in den Produktionsprozess finden. 140 10 Unternehmen ∙ Transmissionsriemen politischer Impulse <?page no="141"?> Abbildung 25: Von der Linearwirtschaft zur Kreislaufwirtschaft (Wasserdreinull 2023) Zirkuläre Ökonomie 141 <?page no="142"?> Die → Abbildung 25 versinnbildlicht drei unterschiedliche Prozessabfolgen: links die skizzierte Variante der Linearwirtschaft, in der Mitte eine unvollkommene Kreislaufwirtschaft, die hier als Recycling-Wirtschaft bezeichnet wird, und rechts die idealtypische Vorstellung einer vollständigen Kreislaufwirtschaft. Während es in der Recycling-Wirtschaft im Kern darum geht, aus Abfall gewonnene Sekundärroh‐ stoffe für die Produktion zu nutzen, um damit Primärrohstoffe zu ersetzen, ist es das Ziel einer reinen Kreislaufwirtschaft, Rohstoffe und Produkte längstmöglich zu nutzen und idealerweise eine Zero-Waste-Strategie umzusetzen. Ansätze einer unterschiedlich weitreichenden Kreislaufwirtschaft finden sich be‐ reits in vielen Branchen und werden im Zuge neuer digitaler Möglichkeiten von der technisch-planerischen Seite her durch den Einsatz von Künstlicher Intelli‐ genz (KI) beschleunigt. Zu nennen sind etwa die Automobilindustrie, Bauindustrie, Landwirtschaft, Möbelindustrie, Öl- und Gasindustrie sowie die Textilindustrie. Die einzelnen realtypischen Geschäftsmodelle mit Implikationen für die innerbetriebli‐ che Reorganisations- und eine Vernetzungsstrategie nach außen fallen gleichwohl je nach Branche sehr unterschiedlich aus. Zu unterscheiden sind Maßnahmen der Effizienzsteigerung (Verengung), der Nutzungsverlängerung (Verlangsamung), des Recyclings (Schließung) sowie der Substitution materieller durch Softwarelösungen (Dematerialisierung) (Bocken 2018). Neben dem erwähnten Kreislaufwirtschaftsgesetz der deutschen Bundesregierung gibt es auf europäischer Ebene eine zunehmende Zahl an Initiativen zur Förderung kreislaufwirtschaftlicher Ansätze und zur dafür nötigen Vernetzung potenzieller Ko‐ operationspartner. So legte die Europäische Kommission 2020 einen EU-Aktionsplan für die Kreislaufwirtschaft vor, der im Jahr 2022 in ein konkretes Paket mit Maßnahmen zur nachhaltigeren Produktgestaltung, zur Abfallvermeidung und zum Verbraucherschutz mündete. Darin finden sich beispielsweise Strategien für haltbare Textilien sowie deren Reparatur und Recycling und solche, die Bauprodukte beständiger, leichter reparierbar und besser recycelbar machen sollen (Europäisches Parlament 2023). Neben solchen politischen Top-down-Initiativen lassen sich auch für diesen Bereich Beispiele privater regionaler Initiativen aufzählen, die den erwähnten Schul‐ terschluss zwischen Unternehmen sowie wissenschaftlichen und politischen Akteuren voranbringen wollen. Ein Beispiel zeigt der nachfolgende Kasten. Es handelt sich um das Netzwerkprojekt Circular Valley, das Entrepreneure, Jungunternehmen, etablierte Unternehmen, Forscher und Politik zusammenbringt, um neue Vernetzungsansätze zur Weiterentwicklung von Kreislaufwirtschaft zu initiieren und zu begleiten. Beispiel 11 | Circular Valley Der Name der hier exemplarisch vorgestellten privatwirtschaftlich initiierten Initiative zur Förderung der Kreislaufwirtschaft ist an den Hotspot der Digitalwirt‐ schaft Silicon Valley angelehnt. Im Zentrum der Aktivitäten steht mit der Circular Economy Accelerator GmbH ein Programm zur Förderung und Vernetzung von 142 10 Unternehmen ∙ Transmissionsriemen politischer Impulse <?page no="143"?> Start-ups aus aller Welt, die innovative Beiträge zur Ermöglichung zirkularwirt‐ schaftlicher Ressourcennutzung liefern. „Die in Wuppertal ansässige Einrichtung bildet den Knotenpunkt eines Netzwerks, bei dem regionale Industrie und Wis‐ senschaft sowie Start-ups aus aller Welt den Großraum Rhein-Ruhr zu einem Zentrum der Kreislaufwirtschaft entwickeln sollen, das in seiner Bedeutung für den Umweltschutz nicht hinter jener des Silicon Valleys für die Plattform-Ökonomie zurücksteht. Viele Großunternehmen und Organisationen unterstützen [das; d. A.] Großprojekt, darunter Bayer und Evonik, Vorwerk und die Societé Générale, das World Economic Forum und Eurowings. NRW-Ministerien engagieren sich ebenso wie die Max-Planck-Gesellschaft“ (Boldt 2022). Was die angesprochenen Branchen betrifft, sind keine Grenzen gesetzt. Bewusst wurde ein Großraum gewählt, in dem der Anteil des industriellen Sektors noch vergleichsweise hoch ist. Somit sind einerseits eine differenzierte Expertise zu den zugrundeliegenden materiell basierten Herstellungsprozessen und andererseits ein hohes kreislaufwirtschaftli‐ ches Reorganisationspotenzial vorhanden. „Das Spektrum ist sehr breit, es reicht vom Recycling von Elektronikschrott und neuen Techniken zum Sammeln von Plastik in Flüssen bis hin zur Entwicklung alternativer Verpackungsstoffe, Repara‐ turlösungen für Haushaltsgeräte oder der Reduzierung von Lebensmittelabfällen“ (Boldt 2022). Was das Accelerator-Programm angeht, so unterstützt die Initiative über die Vernetzungsarbeit hinaus bei einer ganzen Palette von Bedürfnissen, wie sie für technologieorientierte Start-ups typisch sind; etwa bei Patentschutzfragen, der technischen Entwicklung, der Finanzierung oder dem Marketing. Nach diesen Überlegungen zur Bedeutung von Unternehmen und Kreislaufwirtschaft im Rahmen transformativer Wirtschaftspolitik soll im abschließenden Kapitel ein wei‐ terer zentraler Aspekt der Nachhaltigkeitswende nochmals eigens herausgegriffen werden, der ebenfalls mit Kooperation und Vernetzung zu tun hat: Die Interdependenz nationaler Politiken, die neue Ansätze der Kooperation geradezu herausfordert oder, anders ausgedrückt: unvermeidbar macht. ▻ Zwischenzusammenfassung und Literaturhinweise Im zehnten Kapitel wurden Unternehmen als zentrale Akteure bei der Umsetzung von Transformationszielen in den Blick genommen. Sie können in besonderer Weise soziale und ökologische Aspekte der Nachhaltigkeit über die Gesamtbreite der Wertschöp‐ fungskette in ihr Wirtschaften integrieren und somit als Transmissionsriemen zum Erreichen der Nachhaltigkeitsziele einer Volkswirtschaft beitragen. Da Unternehmen als besonders „rationale“ Akteure gelten, eignen sie sich vortrefflich zur Beobachtung des Ineinandergreifens von Verhaltensänderungen im Sinne einer positiven Lernkurve entlang der politischen Maßnahmenhierarchie von „erzwungen“ über „incentiviert“ bis „freiwillig“. Bemerkenswert ist, wie viele über die gesetzlichen Vorgaben hinaus‐ ▻ Zwischenzusammenfassung und Literaturhinweise 143 <?page no="144"?> gehende Beiträge von Unternehmen zur Umsetzung der Nachhaltigkeitswende ausge‐ macht werden können. Hier handelt es sich um Entscheidungen und Maßnahmen, die sich unter dem Begriff der Corporate Social Responsibility subsumieren lassen. Zum Nachweis dieser Entwicklungen wurden verschiedene Kategorien unterschie‐ den und Beispiele angeführt, aber auch Scheinmotive der Nachhaltigkeitswende benannt, die sich unter Greenwashing zusammenfassen lassen. Außerdem ging es um solche Maßnahmen, die Konsumenten vor irreführenden Darstellungen schützen oder im Durcheinander der Informationsvielfalt rund um nachhaltige Produkte sowie Produktions- und Distributionsprozesse Orientierung geben. Zu diesen Maßnahmen zählen etwa die verschiedensten Umwelt-, Energie-, Eco- und Biolabel. Auch im Finanzsystem, das aufgrund seiner Business ermöglichenden Allokations‐ funktion für Investitionsmittel einen wichtigen Hebel darstellt, um Transformations‐ ziele zu erreichen, findet die Nachhaltigkeit unter dem Begriff Sustainable Finance Berücksichtigung. Sie bedeutet, dass hier insbesondere solche finanziellen Regelungen, Standards, Normen, Produkte und Entscheidungen adressiert werden, bei denen Umweltziele im Vordergrund stehen. Die gegenwärtigen Großereignisse auf der politischen Weltbühne haben die Bedeu‐ tung der Knappheit von wichtigen Ressourcen und fossilen Energieträgern noch einmal eindringlich vor Augen geführt und neue Sensibilisierungsimpulse für einen veränder‐ ten Umgang mit ihnen gegeben. In diesem Zusammenhang wurde die Aktualität von Konzepten wie dem einer zirkulären Ökonomie herausgestellt. Sie beabsichtigt die Minimierung von Ressourcenverbrauch, Abfallproduktion, Emissionen und Energie‐ verschwendung durch eine Abkehr von der Linear- oder Wegwerfwirtschaft hin zum Idealtypus der vollständigen Kreislaufwirtschaft. Den Unternehmen wird hier eine ganz besondere Verantwortung zugedacht, da sie den Kriterien einer zirkulären Ökono‐ mie durch eine nachhaltigere Gestaltung der Produkte und Produktionsprozesse, eine ressourcenschonende Vermarktung sowie möglichst weitreichende Abfallvermeidung unter Beachtung von Verbraucherschutzinteressen entsprechen sollen. Als Beispiele wurden genannt: das deutsche Kreislaufwirtschaftsgesetz als das zentrale Bundes‐ gesetz des deutschen Abfallrechts, der EU-Aktionsplan für die Kreislaufwirtschaft von 2020 und sich anschließende Maßnahmenpakete, aber auch Initiativen wie das Netzwerkprojekt Circular Valley. Bundesregierung 2023c. Von der Kohle zur Zukunft, Berlin. Ein Überblick über die Umset‐ zungsetappen des großen Strukturwandelvorhabens: die Stromgewinnung durch die Verbrennung von Kohle bis spätestens 2038 zu beenden. Darüber hinaus finden sich Informationen darüber, wie dieser Prozess ggfs. beschleunigt werden kann und welche Strukturhilfen für den Umbau gerade auch des Unternehmenssektors geplant sind. Umweltbundesamt 2023c. Umwelt- und Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen. Auf dieser Internetseite finden sich viele Informationen und Links zur Nachhaltigkeits‐ berichterstattung in Deutschland und der EU. 144 10 Unternehmen ∙ Transmissionsriemen politischer Impulse <?page no="145"?> Wasserdreinull 2023. Kreislaufwirtschaft: Intelligente Produktions-, Verwendungs- und Ab‐ fallwege für Umwelt und Gesellschaft. Die Wasser 3.0 GmbH ist ein Beispiel für ein Start-up, das als unabhängiges Non-Profit-Unternehmen seit 2020 mittels innovativer Wassertechnologie die Verschmutzung von Gewässern durch Mikroschadstoffe und Mikroplastik auf globaler Ebene bekämpfen möchte. ▻ Zwischenzusammenfassung und Literaturhinweise 145 <?page no="147"?> 11 Globalität ∙ zur Interdependenz nationaler Politiken Das Bild des „gemeinsamen Bootes“ Von Globalisierung war hier schon vielfach die Rede. Sie hat zahlreiche Facetten und lässt sich für alle gesellschaftlichen Teilbereiche beobachten. Pacemaker ist jedoch, damit untrennbar verbunden, die technologische und ökonomische Globalisierung. Da durch die Entwicklung neuer technologischer Möglichkeiten die Kosten für den Transport von Mensch, Material und Information über Jahrzehnte hinweg rasant gesunken sind, waren der weltweiten Integration von Märkten sowie Phänomenen einer tendenziellen Konvergenz sozialer und kultureller regionaler Disparitäten Tür und Tor geöffnet. Aus ökonomischer Sicht spielt aber vor allem eine Rolle, dass die Integration und damit wachsende Angreifbarkeit zunächst begrenzter und dann zunehmend weltumfassender Märkte die Wettbewerbsintensität auf verschiedenen Ebenen erhöht haben. Einerseits ist der Unternehmenswettbewerb gemeint: Mit Reduktion der Mobili‐ tätskosten wurde es immer einfacher, die Nachfrage global zu bedienen bzw. die unternehmerische Aktivität international zu verlagern und kontinuierlich flexibel anzupassen. Zusammen mit dem rasanten Wachstum ausländischer Direktinves‐ titionen (Foreign Direct Investment bzw. FDI) begünstigte dies die Entstehung multinationaler Unternehmen und einer weltumspannenden Plattformökono‐ mie, verbunden wiederum mit diversen regionalen Struktureffekten. Auf der ande‐ ren Seite beschleunigen diese Ausprägungen der Globalisierung die Verflechtung unterschiedlichster politischer Interessenlagen. Dies hat veränderte geostrategische Konstellationen politischen Wettbewerbs und daraus folgender Kooperationen zur Folge wie auch Konflikte bis hin zur militärischen Dimension. Angesichts der Verdichtung des internationalen ökonomischen und politischen Wettbe‐ werbs und der Komplexität eines sich überlagernden Interessengeflechts ist das Phänomen grenzüberschreitender externer Effekte von weitreichender Bedeutung. Politische Entscheidungen und ökonomische Tätigkeit verursachen nicht internalisierte Kosten jenseits der jeweiligen Landesgrenzen. Es kommt zu Schädigungen von Mensch und Umwelt, für welche die Verursacher nicht aufkommen. Beispiele finden sich im Produkti‐ onsbereich, im Bereich des internationalen Flugverkehrs, im Kontext der Verunreinigung und Überfischung der Weltmeere und in zahlreichen anderen Zusammenhängen. Auch Bau und Betrieb von Atommeilern lassen sich hier exemplarisch anführen. Daraus resultieren unter anderem internationale externe Effekte aus den nicht eingepreisten Risiken einer nuklearen Katastrophe, deren Auswirkungen nicht vor den jeweiligen Landesgrenzen haltmachen würden. Erinnert sei nur an die Katastrophe von Tschernobyl. Grenzüberschreitende externe Effekte sind, systematisch betrachtet, das zentrale Movens für internationale Kooperation und Koordinierung als Voraussetzung einer auf eine Nachhaltigkeitswende ausgerichteten transformativen Wirtschaftspolitik. Es drängt <?page no="148"?> sich das Bild des Bootes, in dem wir alle sitzen, auf, das es auf Kurs zu bringen und zu halten gilt. Zwar gibt es viele Teilphänomene der Umweltbelastung und -schädigung, für deren Rückführung auch autonome nationale, binationale oder trinationale Initiativen ausreichen. Doch die Erdsystemforschung belegt zugleich, wie komplex und damit aus der Betrachterperspektive subtil die einzelnen Teilsysteme miteinander verbunden sind und interagieren. An vielen Stellen bestehen supranationale Verantwortlichkeiten, wo sie vielleicht noch nicht hinreichend gesehen bzw. akzeptiert werden. Die folgende Grafik vermittelt einen Eindruck davon, wie viele verschiedene wis‐ senschaftliche Disziplinen beteiligt sein müssen, um das Ausmaß der Verquickung der Teilsysteme unseres Planeten und damit auch der Auswirkungen menschlichen Han‐ delns transparent zu machen. Bedenkt man in diesem Zusammenhang, dass Forschung in allen Bereichen ein nie abgeschlossener Prozess ist, so wird zugleich deutlich, warum das Thema der Akzeptanz wissenschaftlicher Erkenntnisse gerade an dieser Stelle immer wieder ein Politikum darstellt. Man denke nur an die Trump-Administration in den USA. Diese gab seinerzeit bevorzugt Kritikern ein Forum, die sich gegen Modelle einer vor allem anthropogenen Verursachung der heutigen Umweltprobleme stellten. Dahinter stand der Versuch, Sichtweisen der eigenen Bevölkerung so zu beeinflus‐ sen, dass die politischen Akteure sich leichter aus kooperativen umweltpolitischen Kontexten zurückziehen konnten. Dies wiederum war Teil einer neomerkantilistisch anmutenden Strategie, die bis heute ihre Nachwirkungen zeitigt. Abb. 26: Konzept eines Erdsystemmodells (in Anlehnung an Noreiks 2011) Physikalisches Klimasystem Biogeochemische Spurenstoffkreisläufe Externer Antrieb Sonne Vulkanismus Atmosphärische Physik/ Dynamik Boden Globaler Wasserkreislauf Wasser Terrestrischer Energie- + Wasserhaushalt Ozeandynamik Marine Biogeochemie Terristrische Ökosysteme Klimaänderung Stratosphärische Chemie/ Dynamik Treibhausgase Anthropogene Aktivitäten Landnutzung Troposphärische Chemie Spurenstoffe, Treibhausgase Abbildung 26: Konzept eines Erdsystemmodells (in Anlehnung an Noreiks 2011) 148 11 Globalität ∙ zur Interdependenz nationaler Politiken <?page no="149"?> Das Beispiel zeigt zugleich nochmals, wie vielschichtig und daher besonders herausfor‐ dernd die politischen Interessenlagen durch die erdsystem- und technologiebedingte Verbundenheit berührt sind. Unbeabsichtigte grenzüberschreitende Überwälzungen ökologischer Belastungen sind ebenso relevant wie sehenden Auges in Kauf genom‐ mene externe Effekte. Die Reduktion des Energiepreisniveaus durch die Beibehaltung atomarer Stromproduktion, teils sogar mit veralteter und darum gefahrenbehafteter Technologie, kann hier erneut als Beispiel dienen. Wenn Wirkmechanismen internationaler externer Effekte bewusst genutzt werden, um eigene klimapolitische Ziele unter Umständen auf Kosten der Klimaerfolge anderer Länder früher zu erreichen, führen lokale oder regionale Initiativen zur Einsparung von Treibhausgasen in vielen Fällen lediglich dazu, die entsprechende Emissionstätigkeit in von den Regulierungen nicht oder weniger stark betroffene Länder und Regionen zu verlagern. In Abhängigkeit von der Dynamik des jeweiligen Marktgeschehens kann ein solches politisches Greenwashing aus supranationaler Sicht nicht nur ein klimapolitisches Null-Summen-Spiel sein, sondern erhöhte Umweltschädigungen nach sich ziehen. Ein Beispiel für die Gefahr kontradiktorischer Politik stellt auch hier das angeführte Abschalten von Atommeilern dar, dann nämlich, wenn die dadurch wegfallende Energieproduktion längerfristig durch den Import anderer Energieträger, die an anderer Stelle die Klimabilanz verschlechtern, substituiert werden muss. Die systemische Vernetztheit des Umweltgeschehens und damit auch transforma‐ tiver (Wirtschafts-)Politiken wirft angesichts der nationalen, internationalen, intra‐ generativen und intergenerativen Lastenverteilung unmittelbar Gerechtigkeits- und Fairnessfragen auf. Intragenerativ steht vor allen Dingen im Vordergrund, welches Engagement von den reichen Industrieländern und welches von armen Entwicklungs‐ ländern erwartet werden kann. Um diese Frage zu beantworten, wird regelmäßig auf die besondere Verantwortung der Industrieländer als den historischen Verursachern langfristiger Umweltschädigungen im Zuge der industriellen Revolution und der Kolonialisierungsgeschichte verwiesen. Die intergenerative Perspektive ist eine retrospektive Ergänzung der Fragen, die hinsichtlich der Belastungen künftiger Gene‐ rationen durch mögliche heutige klimapolitische Versäumnisse diskutiert werden. Ihre Bedeutung wird durch die Beispiele im nachfolgenden Kasten nochmals unterstrichen. Beispiel 12 | Grenzüberschreitende externe Effekte Die häufig grenzüberschreitende Wirkung externer Effekte klang bereits mehr‐ fach an. Immer noch ist sie sowohl intergenerativ als auch international an dem zerstörerischen Erbe aus alter Zeit, etwa den Epochen der atlantischen Sklaverei, der Industrialisierung und des Kolonialismus, nachvollziehbar. Und meist waren es die reichen Staaten, die auf Kosten der armen profitierten. Hinzugekommen sind moderne Lasten, die für alle sichtbar und erlebbar sind - im Sinne des „Bootes, in dem wir alle sitzen“, wie es schon der Untertitel zu diesem Kapitel insinuiert. Das Bild des „gemeinsamen Bootes“ 149 <?page no="150"?> Beispielhaft genannt seien die Abholzung der Regenwälder und die Anlage von Monokulturen mit ihren jeweiligen Wirkungen auf das Klima. Ein wesent‐ licher Grund für diese Entwicklungen war und ist die immense Nachfrage nach verschiedensten Rohstoffen seitens der reichen Industriestaaten. Denn die massenhafte Abholzung liefert nicht nur den Rohstoff Holz, sondern eröffnet auch den Zugang zu weiteren wertvollen Ressourcen wie Mineralien und Öl. Die Umwandlung von Regenwäldern in Monokulturen mit Palmöl- und Sojafarmen oder auch die Produktion von Zuckerrohr und Mais erlauben den rohstoffreichen Ländern den Export großer Nahrungsmittelmengen. Diese werden in den reichen Ländern zur Fleischproduktion und Herstellung von Biokraftstoffen eingesetzt. In manchen Lieferländern führt dieses Vorgehen indes zu Ernährungsproblemen in der eigenen Bevölkerung. Reiche Länder können von einem umfangreichen und günstigen Angebot an Biokraftstoffen profitieren, die sie zur Deckung ihres Energiebedarfs oder zur Verringerung ihrer Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen nutzen können. Die „günstigen“ Beschaffungsquellen haben dort über Jahrzehnte zu einem Wirtschaftswachstum beigetragen. Dass die Weltbevölkerung insgesamt betroffen ist, drückt sich hingegen im Klima‐ wandel aus: Die Abholzung der Wälder befördert den Verlust von Lebensräumen, führt zum Rückgang der biologischen Vielfalt und setzt den in den Wäldern gespeicherten Kohlenstoff in für die gesamte Erde lebensfeindlicher Weise frei. Monokulturen verursachen Bodendegradation, erhöhten Pestizideinsatz und den Verlust von Ökosystemleistungen. Schwerwiegendere Naturkatastrophen häufen sich. Soziale Schieflagen bis hin zu schwerer Unterdrückung indigener Gemein‐ schaften sind bis heute an der Tagesordnung. Erst ganz allmählich beginnen sich Einsichten und Praktiken nachhaltigerer Landnutzung und des Erhalts von Regenwäldern zur Bewältigung des Klimawandels und zum Schutz der Artenvielfalt nicht nur punktuell, sondern in der Breite durchzusetzen. Mit den vorherigen Überlegungen ist ein komplexes Spannungsfeld abgesteckt, inner‐ halb dessen nationale Politiken mit dem Faktum konfrontiert sind, dass ihr Erfolg oder Misserfolg auch vom Agieren anderer abhängig ist. Wir alle sitzen in einem Boot: Das Bild bringt die Unausweichlichkeit und Unabwendbarkeit der aus den beschriebenen Entwicklungen entstandenen gemeinsamen Betroffenheit und das daraus bedingte Erfordernis des gemeinsamen Handelns deutlich zum Ausdruck. Hinzu kommen historische Pfadabhängigkeiten, mit denen oft Schuldzuweisungs- und Verantwortungsnarrative verknüpft werden, die Verhandlungssituationen bei der Abstimmung von Politik nicht gerade vereinfachen. Das Subsidiaritätsprinzip, das nicht nur den föderalen Aufbau Deutschlands prägt, sondern auch im Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) verankert ist, legt aus staatstheo‐ retisch nachvollziehbaren Gründen nahe, Aufgaben erst dann höheren staatlichen Instanzen zu übertragen, wenn diese auf den niedrigeren Ebenen nicht leistbar 150 11 Globalität ∙ zur Interdependenz nationaler Politiken <?page no="151"?> sind. Deutlich wurde, dass solche übergeordneten Verantwortlichkeiten im Zuge der Nachhaltigkeitstransformation für viele Handlungsfelder vonnöten sind. Mit den Herausforderungen, die sich hieraus ergeben, befasst sich der folgende Teilabschnitt. Internationale Akteure „Nachhaltigkeit steht und fällt mit der Befähigung zu globaler Solidarität (…). Es geht um die existenziellen Lebensbedingungen der Ärmsten in den Entwicklungsländern und der künftigen Generationen, deren Interessen in unserem politischen System nur schwach vertreten werden (…). Die Kraft und Entschlossenheit zu einer solchen Solidarität bringen Politik und Wirtschaft nicht von sich her auf. Hier braucht es intensive Unterstützung durch die Religionen, Hilfsorganisationen, Verbände und eine kritische Weltöffentlichkeit“ (Vogt 2009, S.-490). Dieses Zitat benennt normative Schlussfolgerungen aus dem, was zuvor zur systema‐ tischen Interdependenz nationaler Umweltpolitiken gesagt wurde. Es thematisiert außerdem die Asymmetrie des Aufeinanderangewiesenseins aufgrund der weltweit sehr unterschiedlichen Wohlstandspositionen und damit Handlungsoptionen. Soziale, ökologische und ökonomische Nachhaltigkeit erweisen sich als eng miteinander verknüpft. Dabei kann die geforderte Solidarität nicht nur als moralische Verpflich‐ tung gesehen werden, sondern angesichts der ökonomischen Schwierigkeiten der Entwicklungsländer, selbst eine wirksame Klima- und Umweltpolitik zu betreiben, auch als Gebot politischer Vernunft. Wieder verweist dies auf das Bild des Bootes, in dem alle gemeinsam sitzen. Gründe für mangelnde Solidarität und Kooperationsbereitschaft gibt es dennoch viele. Eine wichtige Rolle spielt hier, dass die Ausgangssituation und die gefühlten bzw. tatsächlichen Bedrohungslagen einschließlich der Vulnerabilität der betroffenen Menschen sehr verschieden ausfallen. In Teilen Afrikas, wo Dürreperioden und Überschwemmungen massiv zunehmen, ist der Handlungsdruck am höchsten und zugleich die politische Handlungsfähigkeit am schwächsten. Hungersnöte, zirkuläre Arbeitsmigration und Flüchtlingsbewegungen aus den betroffenen Regionen heraus sind die Folge. In Regionen, in denen die Auswirkungen des Klimawandels zwar schon spürbar, aber deren ökonomische Folgen noch wenig ausgeprägt sind, ist die Bereitschaft, gemeinsame Initiativen zu starten, geringer. Hinzu kommt, dass die Lager der hilfsbedürftigeren Staaten einerseits und der unterstützungsfähigeren auf der an‐ deren Seite durch Interessendivergenzen gespalten sind. Der neue Systemwettbewerb zwischen China und den USA, der zumindest reduzierte Zusammenhalt zwischen Europa und Amerika und diverse andere geopolitische Spannungsfelder erschweren die Konzentration auf eine wirksame supranationale Nachhaltigkeitspolitik. Schon 2007 fasste Franz Josef Radermacher die Situation folgendermaßen zusammen, wobei sich die Fronten seitdem eher noch verhärtet haben: Internationale Akteure 151 <?page no="152"?> „Das Gefangenendilemma ist komplett, weil die Schwellenländer ökonomisch aufholen wollen. Zwar sind die Industriestaaten zu Kompromissen bereit, aber, weil sie sich um ihre Wettbewerbsfähigkeit sorgen, nur innerhalb enger Grenzen (…) Das Problem ist systemischer Natur. Die Parteien sind gleichsam in einem bitterbösen Spiel verfangen, aus dem es kein Entrinnen gibt (…) Es braucht andere Spielregeln, um aus dieser verfahrenen Lage herauszufinden, aber diesen Spielregeln müssen alle zustimmen, und das ist keine gute Ausgangssituation“ (Radermacher 2007, S.-68-f.). Inwieweit vorhandene Organisationen, Initiativen und laufende Prozesse transforma‐ tiver Politikkoordination angesichts der multiplen spieltheoretischen Dilemmastruk‐ turen rechtzeitig im Sinne der Kipppunktdebatte ihre Wirksamkeit entfalten, bleibt vor diesem Hintergrund offen. Dabei sind die Problemstrukturen schon lange erkannt und Teil internationalen Austauschs. Schon 1972 wurde beispielsweise das Umweltpro‐ gramm der Vereinten Nationen gegründet. Seitdem wurde unter dem Dach des United Nations Environmental Program eine Vielzahl von multilateralen Umweltverträgen geschlossen. Zu nennen sind unter anderem das Montreal Protokoll zum Schutz der Ozonschicht, die Klimarahmenkonvention, das Übereinkommen über die Biologische Vielfalt, das Kyoto-Protokoll, das Washingtoner Artenschutzübereinkommen, das Baseler Übereinkommen zur Bekämpfung von Abfallexporten und das Stockholmer Übereinkom‐ men über persistente organische Schadstoffe (BMUV 2023). Auch die 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen müssen an dieser Stelle nochmals erwähnt werden. Sie stellen eine Art übergeordneten Zukunftsvertrag der Weltgemeinschaft dar, wobei ihre Verbindlichkeit eingeschränkt bleibt. Ausschlagge‐ bend ist auch hier die jeweilige Umsetzung der Programmatik in nationales Recht. Wie deutlich wurde, bedarf es für jedes der Ziele mit ihren 169 Unterzielen konkre‐ ter Detailprogramme und Maßnahmen sowie Mechanismen zur Überprüfung des Erreichungsfortschritts. Hier stellt sich heraus, dass das Tempo, in dem die Staaten der Weltgemeinschaft unterwegs sind, trotz aller Verpflichtungserklärungen, sehr unterschiedlich ist. Prioritäten zwischen den Zielen und abgeleiteten Maßnahmen variieren in hohem Maße und hängen von anderen politischen Interessenlagen ab. Um die angesprochenen internationalen Wettbewerbsverzerrungen als Hemmschuh für ein stringenteres gemeinsames Vorgehen zu reduzieren, bedürfte es komplemen‐ tär klarerer Regeln in Richtung eines wettbewerblichen Level Playing Fields. Entscheidend hierfür wären zunächst supranationale verbindliche Vereinbarungen über einheitliche Gültigkeitsdauern eines multiplen Regelwerks und angeschlossen Verursachungs- und daraus folgende Verpflichtungseinschließlich gewichteter Leis‐ tungsfähigkeitsrelationen für die Mitgliedsstaaten. Zwar wurden etwa auf Ebene der G7-Staaten (zwischenzeitlich G8) neue Anläufe in diese Richtung unternommen, und es wurde eine Ausweitung der Koordinationsanstrengungen auf immer mehr Staaten angestrebt. Doch auch hier sind die Fortschritte aus den genannten Gründen beschränkt. Festzuhalten bleibt, dass es aus internationaler Sicht weniger daran hapert, sich auf gemeinsame Ziele zu einigen. Hier waren über die verschiedenen UN-Klimakon‐ 152 11 Globalität ∙ zur Interdependenz nationaler Politiken <?page no="153"?> ferenzen hinweg durchaus Fortschritte zu verzeichnen. Exemplarisch genannt seien nur das „2°-“ und später das „1,5°-Ziel“. Doch besteht bis zum heutigen Tage generell ein Missverhältnis zwischen solchen gemeinsamen Zielen, unabhängig von der Dis‐ kussion, ob nicht auch diese noch nicht ambitioniert genug seien, und den vereinbarten Maßnahmen. Während die Ziele häufig sehr langfristig sind und zum Zeitpunkt ihrer Vereinbarung für die jeweils verantwortlichen Regierungen kein unmittelbarer Hand‐ lungsdruck besteht, sieht dies mit Blick auf konkrete Maßnahmenprogramme anders aus. So resultieren unter dem Strich Vereinbarungen, denen zumeist der Charakter von Selbstverpflichtungen ohne ausreichende Sanktionsbewehrung zukommt. Zu nennen sind hier unter anderem die auf der Pariser Klimakonferenz der Vereinten Nationen beschlossenen Intended Nationally Determined Contributions (INDC). Darin soll festgehalten und immer wieder aktualisiert werden, welche Beiträge zur Treib‐ hausgasreduktion die einzelnen Vertragsparteien bis zu bestimmten Zeitpunkten in der Zukunft zu leisten bereit wären. Innerhalb dieser Diskussion um eine institutionelle Basis für mehr Verbindlichkeit, koordinative Dynamik sowie Sanktionskompetenz zur Beschleunigung der internatio‐ nalen Klima- und Umweltpolitik rückt auch die internationale Handelsorganisation (WTO) ins Blickfeld. Sie ist neben dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank eine der drei maßgeblichen supranationalen Organisationen, der von der internationalen Staatengemeinschaft weitreichende Kompetenzen für eine internatio‐ nale Wirtschaftspolitik einschließlich von Währungs- und Finanzfragen übertragen wurden. Sie arbeitet auf der Basis verschiedener von den über 160 Mitgliedstaaten anerkannter Prinzipien, die bei der Verfolgung ihrer Kernaufgaben zum Abbau von Handelshemmnissen zu beachten sind; dies sind vor allem eine Orientierung am Lebensstandard, der Abbau von Diskriminierung, Multilateralismus und Reziprozität. Nicht einig ist man sich bei der Bewertung der Arbeit der WTO, inwiefern die Organisation internationalen transformationspolitischen Anstrengungen eher im Weg steht oder Teil einer Lösung für die aufgezeigten Probleme und Dilemmastrukturen werden könnte. Unbestritten überschneidet sich ihr Aufgabenbereich aber stark mit den hier diskutierten Themen und den Herausforderungen einer Koordination der internationalen transformativen Wirtschaftspolitik. Indem sie für den interna‐ tionalen Handel ein Level Playing Field gewährleistet, verfügt sie über benötigte Informationen zu den komplexen multiplen Handelsströmen zwischen ihren Mitglied‐ staaten. Prinzipiell könnte sie auch zu einem Überblick darüber gelangen, wie es bei den gehandelten Gütern um die Internalisierung externer Effekte steht, ob die Kosten der Beeinträchtigung von Klima und Umwelt nicht in die jeweilige Preisbildung einbezogen und andere soziale Standards nicht eingehalten werden. Gelänge es, ein sol‐ ches Informationsnetzwerk auf Basis bereits vorhandener Koordinationsmechanismen dichter und zuverlässiger zu gestalten, böte sich in Form der Welthandelsorganisation mit ihren massiven Sanktionsmöglichkeiten ein interessantes Instrumentarium zur Nutzung und Weiterentwicklung globaler Umwelt- und Klimapolitik. Vor diesem Hintergrund schlug Radermacher bereits 2007 vor, dass „der neue Gravitationspunkt Internationale Akteure 153 <?page no="154"?> der globalen Institutionen (…) ein Weltvertrag [sein könnte; d. A.], der die Vereinten Nationen (UN), die Welthandelsorganisation (WTO) und den Internationalen Wäh‐ rungsfonds (IWF) sowie die Weltbank (WB) stärker aneinander bindet und koordiniert“ (Radermacher 2007, S. 186). In diesem Vorschlag ist bis heute ein gangbarer Weg zu sehen. ▻ Zwischenzusammenfassung und Literaturhinweise Mit der Globalisierung sind einerseits die Chancen und Möglichkeiten von Unterneh‐ men gestiegen, ihren Aktivitätsradius zu erweitern. Andererseits ist das internationale Wettbewerbsumfeld härter geworden. Konkurrenzdruck und die Flexibilität von Gü‐ ter- und Faktorpreisen sind angewachsen, während die Verlässlichkeit der Rahmen‐ bedingungen wirtschaftlichen Agierens gesunken ist. Auch wurden viele negative Auswirkungen im Zuge der Globalisierung „internationalisiert“, denn Externalitäten wie Emissionen, Wasserverschmutzung etc. machen nicht vor Landesgrenzen halt. Die mit diesen Entwicklungen einhergehende Zunahme an globalen Verflechtungen und gesellschaftlicher Vulnerabilität hat insofern nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine politische Dimension. Für die Beschreibung der entstandenen Situation ist das Bild des „Bootes, in dem wir alle sitzen“ aussagekräftig, weshalb eine auf die Nachhaltigkeitswende gerichtete trans‐ formative Wirtschaftspolitik internationaler Koordinierungsmechanismen bedarf, um tatsächliche oder gefühlte „Ungerechtigkeiten“ auszugleichen und so alle zum Mitma‐ chen zu motivieren. Angesprochen sind Aspekte der Lastenverteilung zwischen den Staaten, auch vor dem Hintergrund historisch gewachsener Beziehungen. Nationalitä‐ tenübergreifend stellt vor allem die intertemporale bzw. intergenerative Verteilung von Ressourcen und Ressourcenzugängen eine gewaltige Herausforderung dar. Dabei steht unter anderem die Frage im Mittelpunkt, welche Belastungen künftigen Generationen durch heute begangene klimapolitische Versäumnisse zugemutet werden dürfen. In jedem Fall ist die wechselseitige Abhängigkeit der Länder in den vergangenen Jahrzehnten gestiegen. Das Aufeinanderangewiesensein ist nicht nur aus moralischer Gebotenheit, sondern auch aus Gründen ökonomischer und politischer Vernunft über‐ deutlich ans Licht getreten. Das Erfordernis eines verstärkten Interagierens nationaler Politiken über alle Grenzen hinweg unter gleichzeitiger Berücksichtigung ethischer, ökologischer und langfristiger wirtschaftlicher Aspekte erschließt sich unmittelbar. Zugleich handelt es sich jedoch nicht um ein einfaches Ansinnen. Schwierig ist die richtige Priorisierung bei der Unterstützung von Menschen und Ländern in unter‐ schiedlichen Betroffenheitssituationen. So ist angesichts existenzieller Bedrohungen wie Hungersnöte, Erdbeben, Kriegsverwüstungen etc. gewiss anders zu agieren als in Situationen, bei denen „lediglich“ transformationsbedingte Lastenausgleiche für Wachstumsdifferenzen zu verhandeln sind. Die entscheidende Frage lautet bei alldem, ob die vielen internationalen Bestrebun‐ gen, Maßnahmen und Abkommen rechtzeitig greifen, bevor natürliche und soziale 154 11 Globalität ∙ zur Interdependenz nationaler Politiken <?page no="155"?> Kipppunkte mit irreversiblen Folgen für die Weltbevölkerung überschritten sind. Vieles spricht dafür, dass es mehr bedarf als nur Zielvereinbarungen und immer noch vergleichsweise vager Maßnahmenplanungen. Rodrik, D. 2011. Das Globalisierungs-Paradox. Die Demokratie und die Zukunft der Weltwirt‐ schaft, München. In diesem einflussreichen Werk des Harvard-Ökonomen Dani Rodrik werden die These einer Unvereinbarkeit von Demokratie, nationaler Selbstbestimmung und wirtschaftlicher Globalisierung aufgestellt (Trilemmathese) und entsprechende Handlungsempfehlungen abgeleitet. Vogt, M. 2009. Prinzip Nachhaltigkeit. Ein Entwurf aus theologisch-ethischer Perspektive, München. Eine sozialethische, zwischen Schöpfungstheologie und Naturwissenschaf‐ ten vermittelnde Abhandlung, in der angesichts der großen weltweiten und intergene‐ rativen Verteilungskonflikte Hinweise für ein zukünftiges Zusammenleben gegeben werden. ▻ Zwischenzusammenfassung und Literaturhinweise 155 <?page no="157"?> 12 Resümee Im Mittelpunkt der Untersuchung stand das Konzept einer transformativen Wirt‐ schaftspolitik einschließlich der Betrachtung der Rahmenbedingungen, Chancen und Grenzen einer solchen Politik. Wesentlich war den Autoren, aufzuzeigen, wie stark eine realitätsnahe wissenschaftliche Analyse auf eine interdisziplinäre Herangehens‐ weise angewiesen ist. Politik und speziell Wirtschaftspolitik, die nicht allein den ökonomischen Alltag regeln und gestalten wollen, sondern den Anspruch hegen, eine große Wende einzuleiten und zu orchestrieren, haben zwar historische Vorläufer, wie skizziert wurde. Allerdings sind mit der heutigen klima- und umweltpolitischen Szenerie zugleich Charakteristika verknüpft, welche die Herausforderungen einer transformativen Politik, die sich einer Nachhaltigkeitswende verpflichtet, in ganz besonderer Weise singulär-irreversibel erscheinen lassen. An dieser Stelle kommen insbesondere drei Dimensionen zum Tragen: Zum ersten ist für alle denkbaren Handlungsoptionen und -begrenzungen eine so in der Menschheitsgeschichte noch nie dagewesene Verknüpfung sozialer, ökonomischer und ökologischer Entwicklungen ausschlaggebend (Koevolutionsdimension). Zweitens diktieren die Mechanismen und Dynamiken der globalen natürlichen Umwelt den Zeitrahmen und das Handlungsprogramm der politischen Anstrengungen für eine Nachhaltigkeitswende essenziell. Dabei ist ein wachsender exogener Handlungsdruck erkennbar (Zeitdimension). Drittens war möglicherweise noch niemals zuvor die welt‐ umspannende Interdependenz nationaler Politiken für einen noch dazu überdimensional großen Handlungsbereich so hoch. So ist man auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen, selbst wenn man dies aus mancherlei anderen politischen Interessenbzw. Konfliktlagen heraus vielfach lieber vernachlässigen würde (Abhängigkeitsdimension). Gezeigt werden konnte auch, wie individuelle Weltsichten, Dispositionen und Motiva‐ tionslagen mit Entwicklungen auf der kollektiven gesellschaftlichen Ebene interagieren. Die hierfür maßgeblichen psychologischen, sozialen und kommunikativen Zusammen‐ hänge spielen für den Erfolg oder Misserfolg transformativer Politik eine zentrale Rolle: Im gesellschaftlichen Alltag treffen nämlich stets Bottom-up- und Top-down-Impulse aufeinander. Dabei ist maßgeblich, wie es politischen Akteuren gelingt, die individuellen relevanten Wirklichkeiten der Wirtschaftssubjekte so zu beeinflussen, dass die angenom‐ mene Sinnhaftigkeit und Chancenperspektive des jeweiligen politischen Programms nachvollzogen werden und eigene Verhaltensanpassungen in die gewünschte Richtung nach sich ziehen. Zu den Herausforderungen einer solchen Politik, die kommunikative, symbolträchtige und reale Handlungskomponenten mit dem richtigen Timing und Sequencing synergetisch verwirklichen will, ist der allgegenwärtige Wettbewerb um Sinngebung und Macht zu nennen. In ihm geht es nicht etwa um die Konkurrenz nicht verhandelbarer Wahrheiten, sondern um intersubjektiv gehandelte Narrative, mal mehr, mal weniger wissenschaftlich hinterlegt, durch die die jeweiligen Gestaltungsansprüche durchgesetzt werden sollen. <?page no="158"?> Wer in diesem Wettbewerb politisch die Oberhand gewinnt, hängt davon ab, wie erfolgreich einerseits Chancen und Perspektiven verkauft und andererseits Risiken und Zumutungen abgefedert werden. Hierbei spielen Konstrukte wie Betroffenheit, Bedrohung, sozialer Zusammenhalt und emotionale Distanz eine wichtige Rolle. Zu beachten ist ferner, dass oft eine Kluft besteht zwischen Wollen und Können auf individueller und kollektiver Ebene. Hier sind institutionelle Arrangements wichtig, die einzel- und gesamtwirtschaftliches Verhalten stabilisieren und Konfliktpotenzial eindämmen können, ohne ihre Persistenz selbst zu einer negativen Restriktion für die politisch angestrebte Wende werden zu lassen. Der Gestaltung und fortgesetzten „Pflege“ von Regelsystemen im Spannungsfeld von Konstanz- und Anpassungserfor‐ dernissen hat ergo im Bereich der politischen Maßnahmenplanung ebenfalls ein besonderes Augenmerk zu gelten. Es ergibt sich kein Widerspruch aus der Feststellung, dass die Eigengesetzlichkeiten einer Nachhaltigkeitswende langfristiger Ziele bedürfen, wohingegen Realpolitik im Alltag nach einer hohen Anpassungsflexibilität verlangt. Ausschlaggebend ist, die nötigen Langfristziele, die per se Begrenzungswerte definieren - man denke etwa an die Deckelungsvereinbarungen für die Erderwärmung -, von vornherein und insbesondere auf den nachgelagerten Ebenen mit ausreichenden kreativen Freiräumen für immer wieder neue innovative Lösungsansätze auszustatten. Der auf diese Weise inszenierte Innovationswettbewerb beginnt auf der politischen Ebene und setzt von dort aus Impulse für die Unternehmensebene und andere zivilgesellschaftliche Akteure mit ihrem jeweiligen Kreativitätspotenzial. Was die internationale Dimension anbetrifft, so gelten im hier unterstellten Zu‐ sammenhang die Eigenlogiken einer dem Subsidiaritätsprinzip folgenden Verantwor‐ tungsschichtung. Allerdings verlangen - was unmittelbar aus der oben formulierten Abhängigkeitsdimension folgt -, erdsystembedingte und spieltheoretisch erklärbare Interessenverquickungen und -konkurrenzen nach verbindlichen globalen Oberzielen und einer gewissen Koordination der Maßnahmenumsetzung. Hierzu wurden bisherige Entwicklungen skizziert und Ideen für die Zukunft adressiert. Am Ende bleibt die Feststellung, dass transformative (Wirtschafts-)Politik kein utopisches Konstrukt ideologisch übersteigerten Wunschdenkens sein muss. Aller‐ dings wachsen mit dem Umfang und der zeitlichen Dimension eines so noch nie da gewesenen Generationenprojekts die Risiken zu scheitern. Auf der einen Seite ergeben sich diese aus der Fallibilität damit verbundener wissenschaftlicher Annahmen und Prognosen. Auf der anderen Seite stellt für diese Art der Politik sie selbst den größten Risikofaktor dar. Überdreht sie bzw. wählt sie Zeitpunkte oder die Reihenfolge ihrer Maßnahmen falsch, verliert sie die Bürger; vergisst sie im Taumel kurzlebiger Teiler‐ folge die ungeheure Bedeutung vermittelnder Begleitkommunikation, wird sie von den allgegenwärtigen demokratischen Grundmechanismen gestoppt. Ein weiteres Er‐ folgskriterium ist, wie sie unvorhergesehene Wendungen und Ereignisse zu adaptieren vermag, d. h., als wie anpassungsfähig oder evolutorisch sich ihre Handlungskonzepte erweisen, ohne ihre großen Ziele aus dem Auge zu verlieren. 158 12 Resümee <?page no="159"?> Literaturverzeichnis Arthur, W. B. 1994. 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Literaturverzeichnis 165 <?page no="167"?> Stichwörter und Personen Adaption-32 Agenda 2030-39 Agenda 21-128 Ahrtal-57 Aktivisten-13, 31, 56, 78 Allmendegüter-69 Amsterdam-47 Anreiz, Setzung-87 Anreiz, Wirkung-61 Anthropozän-116 Arbeitsbedingungen-31 Aufschaukelungsprozess-85 autoritär-118, 120 Bankensektor-139 Banking book Taxonomy Alignment Ratio-140 Baron, Jonathan-53 Baseler Übereinkommen zur Bekämpfung von Abfallexporten-152 Basisinnovationen-72 Beck, Ulrich-74 Belastung, Ausgleich-121 Belastung, empfundene und tatsächliche-121 Belastung, Grenze gesellschaftlich-41 benevolente Entscheider-86 benevolenter Diktator-119 Berger, Peter Ludwig-59 Betroffenheit, gemeinsame-150 Betroffenheit, objektive-56 Betroffenheit, subjektive-56 bildungsbezogene Maßnahmen-89 Bio-Siegel-138 Black Swan-24 Blauer Engel-138 Bottom-up-59, 83, 109 Bounce Back-34 Brecht, Berthold-84 Bruttoinlandsprodukt-94 Capability-54, 59, 63 Churchill, Winston-86 Circular Valley-142 Club-of-Rome-Bericht-39 CO 2 , Bilanz-119 CO 2 , Einsparung-135, 137 CO 2 , Emissionsberechtigung-70 CO 2 , Emittent-71 CO 2 , Preis-47 Coase, Ronald Harry-70f. COM-B-Modell-54f., 59, 63 Conditio humana-122 Corporate Social Responsibility-136, 140 Corporate Sustainability Reporting Directive-139 Degrowth-93, 97, 106 Dekolonisation-25 Demeritorisierung-60, 88 Demokratiefalle-81 Deutscher Ethikrat-34 Development Goals-45 Diktator, benevolenter-119 Direktinvestitionen, ausländische-147 Dissonanzen, kognitive-62, 84 Domestic Material Consumption-18 Donut-39, 45 Donut, Konzept-47 Donut, Ökonomie-44 Eigennutz-63 Eigennutz, Prinzip-52 Eiserner Vorhang-27 Empowerment-122 Enabling-122, 132 Entkopplung, absolute-97 Entkopplung, relative-97 Entrepreneurial Spirits-130 Entrepreneurship Culture-130 <?page no="168"?> Entrepreneurship Education-130, 132 Entscheider, benevolente-86 Environmental Performance Index-105 Erdsystemmodell-149 ESG-Risiken-140 Ethikrat-34 ethischer Imperativ-117 ethisches Wachstum-99 ethische Wachstumspolitik-101 EU-Energieverbrauchskennzeichnung-138 EU Green-Deals-139 Europäische Gemeinschaft-27 Europäische Union-45 European Green Deal-45 Evolution-17 Evolution, Biologie-31 Evolution, Ökonomik-17 Evolution, Prinzipien-32 Evolution, sozioökonomische-18f., 23, 33, 47 evolutorische Ökonomik-17, 19, 23, 31, 87 Ewigkeitsklausel-114 Exnovation-112 Externalitäten-70 externe Effekte-69, 149, 153 externe Effekte, grenzüberschreitende-147 externe Effekte, Internalisierung-69, 87 externe Effekte, internationale-149 Feedbackmodell-81 Filter Bubble-59 Folgewirkungen-120 Forest-Stewardship-Council-Siegel-138 Fourastié, Jean-95 Framing-110, 112, 128 Frieden-31 Friedrich der Große-125 FSC 100 %-139 FSC-Labeling-138 FSC Mix-138 G20-Staaten-105 G7-Staaten-152 G8-Staaten-152 Gandhi, Mahatma-26 Gebote-88 Genuine Progress Indicator-18 Gerechtigkeit-38, 94 Gershuny, Jonathan-95 Gießkannenprinzip-85 Glasnost-27 Global Entrepreneurship Monitor-130 Globalisierung-26, 147 Gorbatschow, Michail-27f. Gorz, André-95 Great Transformation-20 Green Asset Ratio-139 Green Deal-45 Green Labeling-138 Greenwashing-137, 139 Greenwashing, politisches-149 Grenzen des Wachstums-39 große Transformation-13, 24, 93, 106 Gross National Well-being-103 Grüner Klimafond-40 Grüner Knopf-138 Gütereigenschaften, Bewertung-68 Gütesiegel-138 Habeck, Robert-111 Haiti-26 Handlungsmodell-52, 55 Häufigkeitsverdichtung-20 Hesse, Günter-52 Homann, Karl-63 Homo evolutoricus-52 Homo oeconomicus-52 Homo sapien-23 Human Development Index-18, 103 humanistische Transformation-116 Humanität-116 Imperativ, ethischer-117 Imperativ, kategorischer-116 Impuls-127 168 Stichwörter und Personen <?page no="169"?> Impuls, Transport-81 Index of Sustainable Economic Welfare-103 Indien-26f. Inflation Reduction Act-46 informelle Ökonomie-95 informeller Sektor-95 Innovationen-68, 72, 74, 94, 98 Innovationen, Basis--72 Innovationen, Impulse-87 Innovationen, Logik-74 Innovationen, Politik-67 Innovationen, Prozess-20, 113 Innovationen, Wettbewerb-158 institutioneller Rahmen-32 Institutionen-59, 63 Institutionen, formelle-59 Institutionen, informelle-60 Intended Nationally Determined Contributions-153 Intention-Behaviour-Gap-53f., 61, 114 Interdisziplinarität-21 intergenerative Perspektive-149 Internationale Arbeitsorganisation-95 Internationale Handelsorganisation-153 Internationaler Währungsfonds-27, 153f. intersubjektive Entstehung gesellschaftlich relevanter Wirklichkeiten-59 Intragenerativ-149 Intrinsifizierung-61, 64, 88, 99, 112f., 125, 129 Irak-26 Japan-27 Jonas, Hans-116 Kahneman, Daniel-53, 62 Kant, Immanuel-116 kategorischer Imperativ-117 Kipppunkte-35f., 76 Kisch, Egon Erwin-83 Klima, Abkommen-36 Klima, Bilanz-149 Klima, Rahmenkonvention-152 Koevolution-116, 126, 157 Kommunikation-62, 89, 110 Kommunikationspolitik-89 kommunikative Maßnahmen-89 Kondratjew, Nikolai Dmitrijewitsch-72 Kongo, Demokratische Republik-26 Kreislaufwirtschaft-140, 142f. Künstliche Intelligenz-142 Kyoto-Protokoll-152 Labeling-138 lange Wellen-72 Lasten, moderne-149 Latouche, Serge-93 Lebensbedingungen-31 Lebensqualität-38 Lebensraumqualität-38 Leitbild-39, 44 Lerneffeke-72 Lernen, pathologisches-57 Level Playing Fields-122, 152f. Liberalisierung-28 libertär-118, 120 libertäre Maßnahmen-118 lineare Ökonomie-140 Lobbyisten-119 Lock-in-Effekte-113 Lucke, Doris-62 Luckmann, Thomas-59 Marktversagen-69, 71 Marktwirtschaft-60, 71f., 120, 133 Marktwirtschaft, soziale-117 Marquard, Odo-76 Mensch-120f., 126 Menschenrechte-32 Meritorisierung-87 methodologischer Individualismus-51 Mitakteure-130 Mitgestalter-128 Modell, mentales-82 Modell menschlichen Handelns-52 Stichwörter und Personen 169 <?page no="170"?> moderne Lasten-149 Modernisierungstheorien-25 Montreal Protokoll zum Schutz der Ozonschicht-152 Moral-56f. Moral Suasion-118 Morgenstern, Christian-24 Motivation-55, 63 multinationale Unternehmen-147 Nachhaltigkeit-13, 38, 45, 151 Nachhaltigkeit, Leben-39 Nachhaltigkeit, Paradigma-121 Nachhaltigkeit, Wachstum-99 Nachhaltigkeit, Ziele-39f., 106, 135, 152 Nachhaltigkeitstransformation-21, 38f., 56, 74, 76, 83, 87, 89, 91, 116, 118, 126, 130 Nachhaltigkeitswende-46, 83, 110, 126, 157f. Nachkrisen-Programm-46 Nachteile, kalkulierte-77 Narrativ-84, 110f., 121, 157 Narrativ, Bildung-85 Nationale Plattform Bildung für nachhaltige Entwicklung-128 Nationaler Aktionsplan Energieeffizienz-40 Natur-116, 121, 126 Nebenwirkungen-120 North, Douglass C.-59 Notstandsregelungen-114 Nudging-61f. Öko-Labeling-138 ökologischer Fußabdruck-122 ökologischer Handabdruck-122 ökologischer Humanismus-117 Ökonomie, informelle-95 Ökonomie, lineare-140 Ökonomie, zirkuläre-140 Ökonomik, evolutorische-23, 31, 87 Opportunities-54, 63 Pakistan-27 Paradigmenwechseln-72 Pariser Klimaabkommen-36 Pariser Klimakonferenz-153 pathologisches Lernen-57 Peer Groups-55 Perestroika-27 Pfadabhängigkeit-23, 113 Piecemeal Engineering-78 Pigou, Arthur Cecil-70 Pigou-Steuer-70 planetare Grenzen-41 planetare Leitplanken-42, 78 Plattformökonomie-147 Polanyi, Karl-20, 28 Politik, transformative-109, 114, 127 Popper, Karl-32, 67, 76ff. Preiserhöhung, politikinduziert-88 Pressure Group-114, 119 Prinzip der kognitiven Kreation-52, 58 Prospect-Theorie-62 Public Opinion-83 Radermacher, Franz Josef-151 Rahmstorf, Stefan-35 Rat für Nachhaltige Entwicklung-11 Rationalprinzip-52 Raworth, Kate-39, 45 Rebound-Effekte-99 Recoupling Dashboard-103f. Recycling-Wirtschaft-142 regulativer Charakter-119 Resilienz-34, 41 Restriktionen-23 Retention-31f. Ricardo, David-17 Ringelnatz, Joachim-32 Rio de Janeiro, UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung (1992)-39, 128 Road Pricing-100 Rockström, Johan-41 Rosa, Hartmut-86 170 Stichwörter und Personen <?page no="171"?> Schattenwirtschaft-95 Schneider, Friedrich-95 Schneidewind, Uwe-39 Scholz, Olaf-93 schöpferische Zerstörung-72 Schumpeter, Joseph Alois-17, 72, 77, 101 schwarze Schwäne-24 Sehnsucht nach Frieden-31 Selbstorganisation-32 Selbstverpflichtungen-153 Selbstverwirklichung-117 Selbstviktimisierung-84 Selbstwirksamkeit-104 Selektion-31f. Selektion, Faktoren-23 Selektionsfaktoren-23 Sequencing-91 Silicon Valley-142 Simbabwe-26 Smith, Adam-17, 52 Sokrates-78 Solidarität-104 Somalia-26 Sowjetunion-27 Soziale Marktwirtschaft-96, 117 sozialer Gegendruck-88 Sozialtransformation-31 sozioökonomische Evolution-18f., 23, 33, 47 Spillover-Effekte-72 Stabilität-53 Stockholmer Übereinkommen über persistente organische Schadstoffe-152 Stoermer, Eugene F.-116 Stückwerk-Technik-78 Stuttgart-46 Subsidiaritätsprinzip-150 Substitutionswirkung-101 Südkorea-25f. Sustainable Development Goals (SDGs) 39, 45 Sustainable Finance-139 System, Resilienz-34 System, Wettbewerb-31 Taleb, Nassim Nicholas-24 Target Behaviour-55 Teilhabestärkungsgesetz-40 Timing-91, 113 Tipping Points-35f., 74 Top-down-59, 83, 109, 142 Totalitarismus-86 Trajektorien-112 Transaktionskosten-71, 138 Transformation-13, 17, 19f., 56 Transformation, Experiment Sowjetunion-27 Transformation, Forschung-21 Transformation, große-20, 22, 24, 93, 106 Transformation, humanistische-116 Transformation, Prozesse-103 Transformation, Wirtschaft-25 Transformationspolitik, ideologische-113 Transformationspolitik, reale-15, 113f., 116f., 122 transformative Forschung-21 transformative Politik-109, 114, 127 transformative Wirtschaftspolitik-21, 35, 51, 86, 96, 106, 109, 111, 114, 119, 147, 157 Trial-and-Error-32, 35, 47, 67, 78, 84 Triggering-Event-24 Trittbrettfahrerverhalten-57 Trump, Donald-84 Turgot, Anne Robert Jaques-17 Türkei-58 Turnaround-24 Tversky, Amos-62 Twain, Mark-22 Übereinkommen über die Biologische Vielfalt-152 Überwältigungspädagogik-129 umweltbelastendes Wachstum-99 Umweltlabeling-138 Umweltpolitik-71, 151, 153 Umweltqualität-38, 96, 102 Umweltzeichen-138 Umweltzertifikate-71 Stichwörter und Personen 171 <?page no="172"?> United Nations Environmental Program-152 Unternehmer-101 Ursachen, anthropogene-37 USA-27, 58, 119 Variation-31f. Variations-Selektions-Prinzip-58 Variations-Selektions-Prozesse-52 Veggiedays-118 Verantwortung-117 Verbote-88 Vereinte Nationen-39, 41, 128, 152, 154 Verhalten, Modell-53 Verhalten, moralisches-56f. Verhalten, Stabilität-53 Verhandlungslösung-70 Verlustaversion-63 Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung 94, 96, 99, 101, 103, 105f. von Hayek, Friedrich August-14, 19 von Humboldt, Alexander-126 von Humboldt, Wilhelm-125f. von Zinzendorf, Nikolaus Ludwig-34 Vorsprungsgewinne-101 Vulnerabilität-34, 41, 126, 151 Wachstum-93 Wachstum, ethische Politik-101 Wachstum, ethisches-99 Wachstum, nachhaltiges-99 Wachstum, umweltbelastendes-99 wachstumskritische Bewegung-93 Waffengesetzgebung-119 Wagenschein, Martin-129 Wahrheitsrelativismus-83 Wandlungstempo-74 Washingtoner Artenschutzübereinkommen-152 Wegwerfgesellschaft-140 Weltbank-27 Welthandelsorganisation-153f. Windows of Opportunity-24 Wirklichkeit-109 wirtschaftliche Entwicklung-18 wirtschaftlicher Wandel-17 Wirtschaftspolitik-109 Wirtschaftspolitik, internationale transformative-153 Wirtschaftspolitik, transformative-21, 29, 35, 86, 96, 106, 111, 114, 119, 147, 157 Wir-und-die-Atmosphäre-85 Wissensgesellschaft-19 Wohlstand-18, 24, 31, 68, 93f., 97, 102f., 106, 127 Wohlstand, Niveau-93 Würde-116, 121f., 126 Zero-Waste-Strategie-142 Ziele der nachhaltigen Entwicklung (SDGs)-44 zirkuläre Ökonomie-140 Zukunft-126 Zunftwesen-25 172 Stichwörter und Personen <?page no="173"?> Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Übergang von der Industriezur Wissensgesellschaft (Beschäftigtenquoten in den vier ausgewiesenen Bereichen) zwischen 1882 und 2010 (in Anlehnung an Dostal 1995) . . . . . . 18 Abbildung 2: Restriktionen als ermöglichende und limitierende Rahmenbedingungen des Agierens von Wirtschaftssubjekten (Hesse/ Koch 1997, S.-507) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Abbildung 3: Unsicherheitsbereiche wichtiger Kippelemente im Kontext der globalen Temperaturentwicklung (°C) und der Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre (RCP) seit dem Höhepunkt der letzten Eiszeit und für die Zukunft (in Anlehnung an Rahmstorf et al. 2009) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Abbildung 4: Planetare Belastungsgrenzen (in Anlehnung an Richardson et al. 2023) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Abbildung 5: Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen (Bundesregierung 2023a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Abbildung 6: Dimensionen der Gefährdung nach Weltregionen/ Kontinenten (Durchschnittswerte ausgewählter Gefährdungsindikatoren) (IPCC 2022, S.-77) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Abbildung 7: Operationalisierung des Konzepts der Planetarischen Leitplanken (in Anlehnung an WBGU 2014, S.-21) . . . . . . . . . . . 43 Abbildung 8: Donut-Modell (in Anlehnung an Raworth 2017, S.-51 und Lotfi 2021, S.-3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Abbildung 9: Kognitionswissenschaftlich fundiertes Handlungsmodell (eigene Darstellung unter Bezug auf Hesse 1990, S. 60 und Koch 1995, S.-28-ff.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Abbildung 10: Einflussfaktoren des „Wollens“ und „Könnens“ im „COM-B Modell“ (in Anlehnung an Kollert 2017) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Abbildung 11: Institutionen als Steuergrößen von Verhalten (in Anlehnung an Budzinski 2000) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Abbildung 12: Bedeutung institutioneller Faktoren für das Ausmaß des Intention-Behaviour-Gaps (in Anlehnung an McDonagh 2018) 64 Abbildung 13: Sechs Kondratjew-Zyklen - stilisiert (in Anlehnung an Naumer 2020) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Abbildung 14: Alternative Transformationspfade in Abhängigkeit von der politischen Reaktionsgeschwindigkeit (IPCC 2023, S.-26) . . . . . . 75 Abbildung 15: Wirkmechanismen politischer Mobilisierung (in Anlehnung an Meyer/ Slembeck 1994, S.-49) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 <?page no="174"?> Abbildung 16: Maßnahmen der Nachhaltigkeitstransformation nach Bereich, Machbarkeitseinschätzung und grober Kostenprognose (IPCC 2023, S.-28) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Abbildung 17: Absolute und relative Entkopplung der Umweltbelastung (eigene Darstellung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Abbildung 18: Einflussfaktoren verbesserter materieller Produktivität (in Anlehnung an Dittrich et al. 2012, S.-50) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 Abbildung 19: Entwicklungsvergleich zwischen Frankreich und Südkorea anhand des Recoupling Dashboards (in Anlehnung an SMC 2022, S.-7) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Abbildung 20: Prozess der „Intrinsifizierung“ nachhaltigen Verhaltens im Sinne der politischen Zielfunktion (eigene Darstellung) . . . . . . . . . . . . 112 Abbildung 21: Wirtschaftspolitische Maßnahmenkategorien (eigene Zusammenstellung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Abbildung 22: Transformation sozioökonomischer Systeme - verstehen, vermitteln, gestalten (Koch/ Braukmann/ Bartsch 2023, S.-153) . . 127 Abbildung 23: Experten-Bewertung der Rahmenbedingungen einer „Entrepreneurial Culture“ in Deutschland (in Anlehnung an Global Entrepreneurship Monitor 2022/ 2023, S.-136) . . . . . . . . . 131 Abbildung 24: Dimensionen von unternehmerischer Corporate Social Responsibility mit Beispielen (in Anlehnung an MSG 2023) . . . 137 Abbildung 25: Von der Linearwirtschaft zur Kreislaufwirtschaft (Wasserdreinull 2023) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Abbildung 26: Konzept eines Erdsystemmodells (in Anlehnung an Noreiks 2011) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 174 Abbildungsverzeichnis <?page no="175"?> Dies ist ein utb-Band aus dem UVK Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehr- und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. Konzepte, Möglichkeiten und Grenzen kennen Klimawandel, Pandemie und Krieg: Die Welt verändert sich rasant. Exogene Schocks zwingen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zum Umdenken. Der Ruf nach transformativer Politik wird immer lauter. Lambert T. Koch und Hans A. Frambach stellen eine transformative Wirtschaftspolitik vor, die zentral für die Gestaltung der Nachhaltigkeitswende ist. Eindrucksvoll skizzieren sie Konzepte, Möglichkeiten und Grenzen. Auf die Interaktion von Gesellschaft, Kultur, Bildung, Innovation und Wirtschaft gehen sie explizit ein. Das Buch richtet sich an die Politikberatung, Wissenschaft und Forschung und ist zudem für Studierende der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sowie der Politikwissenschaft eine spannende und zugleich aufschlussreiche Lektüre. Wirtschafts- und Sozialwissenschaften Politikwissenschaft utb.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel ISBN 978-3-8252-6189-4 hochaktuell Dies ist ein utb-Band aus dem UVK Verlag.