Europäische Integration
Einführung aus ökonomischer Sicht. Mit eLearning-Kurs
0414
2025
978-3-8385-6249-0
978-3-8252-6249-5
UTB
Hans Adam
Peter Mayer
10.36198/9783838562490
Der ökologische Wandel, die wirtschaftlich-technologische Transformation und geopolitische Unsicherheiten: Die EU steht vor großen Herausforderungen. Die Autoren analysieren die zentralen europäischen Politikfelder in Theorie und Praxis und gehen konkret auf die Herausforderungen ein. Die Geschichte des Einigungsprozesses und die institutionelle Struktur der EU stellen sie zudem vor.
Jedes Kapitel zeichnet sich durch eLearning-Fragen, Lernziele, Zusammenfassungen und Literaturhinweise aus.
Ein Buch für Studierende der Volks- und Betriebswirtschaftslehre. Es ist auch für Studierende der Sozial- und der Politischen Wissenschaften empfehlenswert.
<?page no="0"?> Europäische Integration 4. A. Adam | Mayer Hans Adam | Peter Mayer Europäische Integration 4. Auflage Geht auf aktuelle Herausforderungen ein Der Europäische Binnenmarkt ist der größte der Welt. Das Wissen um die Europäische Integration ist deswegen für Studierende elementar. Hans Adam und Peter Mayer skizzieren die Geschichte des europäischen Einigungsprozesses und stellen die institutionelle Struktur der EU vor. Die zentralen europäischen Politikfelder analysieren sie jeweils in Theorie und Praxis. Auf die aktuellen Herausforderungen, die sich aus dem ökologischen Wandel, der wirtschaftlich-technologischen Transformation und den geopolitischen Unsicherheiten ergeben, gehen sie ein. Jedes Kapitel zeichnet sich durch Lernziele, eLearning und Zusammenfassungen aus. Das Lehrbuch richtet sich an Studierende der Volks- und Betriebswirtschaftslehre. Auch für Studierende der Sozial- und der Politischen Wissenschaften ist die Lektüre des Buches empfehlenswert. utb+ Das Lehrwerk mit dem digitalen Plus Wirtschaftswissenschaften Politikwissenschaft ISBN 978-3-8252-6249-5 Dies ist ein utb-Band aus dem UVK Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehr- und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem T itel mit eLearning- Kurs 2025-03-05_6249-5_Adam_Mayer_L_4110_PRINT.indd Alle Seiten 2025-03-05_6249-5_Adam_Mayer_L_4110_PRINT.indd Alle Seiten 05.03.25 13: 18 05.03.25 13: 18 <?page no="1"?> utb 4110 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Brill | Schöningh - Fink · Paderborn Brill | Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen - Böhlau · Wien · Köln Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Narr Francke Attempto Verlag - expert verlag · Tübingen Psychiatrie Verlag · Köln Psychosozial-Verlag · Gießen Ernst Reinhardt Verlag · München transcript Verlag · Bielefeld Verlag Eugen Ulmer · Stuttgart UVK Verlag · München Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld Wochenschau Verlag · Frankfurt am Main UTB (L) Impressum_01_25.indd 1 UTB (L) Impressum_01_25.indd 1 13.01.2025 11: 25: 53 13.01.2025 11: 25: 53 <?page no="2"?> Prof. Dr. Hans Adam lehrt Volkswirtschaftslehre an der Hochschule Osnabrück. Prof. Dr. Peter Mayer lehrt Volkswirtschaftslehre an der Hochschule Osnabrück. <?page no="3"?> Hans Adam / Peter Mayer Europäische Integration Einführung aus ökonomischer Sicht mit eLearning-Kurs 4., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage UVK Verlag <?page no="4"?> 4., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage 2025 3., überarbeitete und erweiterte Auflage 2020 2., überarbeitete und erweiterte Auflage 2015 1. Auflage 2014 - DOI: https: / / doi.org/ 10.36198/ 9783838562490 © UVK Verlag 2025 ‒ Ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: siegel konzeption | gestaltung Druck: Elanders Waiblingen GmbH utb-Nr. 4110 ISBN 978-3-8252-6249-5 (Print) ISBN 978-3-8385-6249-0 (ePDF) ISBN 978-3-8463-6249-5 (ePub) Umschlagabbildung: © rarrarorro ∙ iStock Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. <?page no="5"?> 12 14 15 17 1 18 1.1 18 1.2 18 1.3 20 1.3.1 20 1.3.2 22 1.3.3 26 1.3.4 27 1.3.5 29 1.3.6 31 1.3.7 35 1.3.8 37 1.3.9 41 1.4 44 46 46 49 2 50 2.1 50 2.2 50 2.3 55 2.3.1 55 2.3.2 58 Inhalt Daten und Fakten zur Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur zur Europäischen Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teil I ∙ Das Entstehen der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschichte der europäischen Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entwicklung Europas bis zur Mitte des 20.-Jahrhunderts . . . . . . . Die Entwicklung seit der Mitte des 20.-Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . Die unmittelbare Nachkriegszeit 1945-1950 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die 1950er-Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die 1960er-Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die 1970er-Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die 1980er-Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die 1990er-Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das erste Jahrzehnt des 21.-Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das zweite Jahrzehnt des 21.-Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die 2020er-Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ➲ Wichtige Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ➲ Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teil II ∙ Institutionelle Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Funktionsweise der Europäischen Union - Der rechtliche und institutionelle Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlegende Aspekte des Rechts der Europäischen Union . . . . . . . . Die Organe und Institutionen der Europäischen Union . . . . . . . . . . . Parlament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Europäischer Rat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 2.3.3 59 2.3.4 64 2.3.5 67 2.3.6 68 2.3.7 69 2.3.8 69 2.3.9 70 71 71 3 73 3.1 73 3.2 73 3.2.1 73 3.2.2 77 3.2.3 79 3.3 82 3.4 84 3.5 86 3.6 89 89 89 95 4 96 4.1 96 4.2 99 4.2.1 99 4.2.2 101 4.3 102 4.4 103 4.4.1 104 4.4.2 110 4.4.3 114 4.4.4 116 4.5 120 120 120 Rat der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Europäische Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Europäischer Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Europäischer Rechnungshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Europäische Zentralbank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der „Ausschuss der Regionen“ und der „Wirtschafts- und Sozialausschuss“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Einfluss von Interessengruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ➲ Wichtige Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ➲ Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Finanzverfassung der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Haushalt der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Haushaltsplanung in der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . Die Ausgabenseite des EU-Haushalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Einnahmeseite des EU-Haushalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mehrjähriger Finanzrahmen 2021-2027 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Aufbaufonds NextGenerationEU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Nettoposition der Mitgliedsländer innerhalb der EU . . . . . . . . . . . Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ➲ Wichtige Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ➲ Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teil III ∙ Der europäische Wirtschaftsraum - Handel und Wettbewerb . . . . . . . . . . Der europäische Binnenmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theoretische Begründung für die Schaffung eines Binnenmarktes . . Statische Effekte - Handelsschaffung und Handelsumlenkung . . . . . . Dynamische Effekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtsgrundlagen, Ziele, Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Vier Freiheiten - Die konkrete Umsetzung des Binnenmarktprojektes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Warenverkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Freier Dienstleistungsverkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenverkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitalverkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herausforderungen - anstehende Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ➲ Wichtige Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ➲ Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> 5 124 5.1 124 5.2 124 5.2.1 124 5.2.2 127 5.3 129 5.4 129 5.4.1 130 5.4.2 131 5.4.3 132 5.5 146 5.6 147 148 148 6 151 6.1 151 6.2 152 6.2.1 152 6.2.2 153 6.3 154 6.3.1 154 6.3.2 154 6.3.3 155 6.3.4 156 6.3.5 158 6.4 161 6.4.1 161 6.4.2 162 6.4.3 165 6.4.4 165 6.4.5 166 6.4.6 166 6.5 171 172 172 Wettbewerb und Wettbewerbspolitik in der Europäischen Union . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wettbewerbspolitik - theoretische Überlegungen zur Gestaltung der Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marktwirtschaft und Wettbewerb - Zur grundsätzlichen Vorteilhaftigkeit wettbewerblicher Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leitbilder der Wettbewerbspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussfolgerungen für die Wettbewerbspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wettbewerbspolitik der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschichte der europäischen Wettbewerbspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Wettbewerbsrecht der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . Die europäische Wettbewerbspolitik in der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . Verhältnis von Wettbewerbspolitik zu Industriepolitik . . . . . . . . . . . . Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ➲ Wichtige Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ➲ Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Handel und die Handelspolitik der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theoretische Grundlagen - Zur Vorteilhaftigkeit des Handels und den Implikationen für die Handelspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Überblick über die wichtigsten theoretischen Überlegungen zum internationalen Handel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Öffnung für die Integration in die internationale Arbeitsteilung . . . . Der Außenhandel der EU - Daten, Fakten, Trends . . . . . . . . . . . . . . . Die Rolle der EU im Welthandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Binnenhandel der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Handel mit Ländern außerhalb der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Güterstruktur der Exporte und Importe der EU . . . . . . . . . . . . . . . Die Bewertung der Handelsstruktur und der Handelsentwicklung . . Die Handelspolitik der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtsgrundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausrichtung der Handelspolitik und handelspolitische Optionen . . . . Handelspolitik und die Proliferation von Subventionen . . . . . . . . . . . . Handelspolitik in Zeiten geopolitischer Auseinandersetzungen . . . . . Handelspolitik und nicht-ökonomische Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Handelspolitik der EU in der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ➲ Wichtige Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ➲ Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 7 <?page no="8"?> 175 7 176 7.1 176 7.2 177 7.2.1 177 7.2.2 178 7.2.3 180 7.2.4 181 7.3 181 7.4 184 7.5 189 7.6 190 191 191 8 194 8.1 194 8.2 198 8.3 205 8.3.1 205 8.3.2 206 8.3.3 206 8.3.4 206 8.3.5 209 8.4 209 8.5 212 212 212 9 216 9.1 216 9.2 216 9.2.1 217 9.2.2 217 9.2.3 218 9.2.4 218 9.2.5 219 9.2.6 219 Teil IV ∙ EU-Politiken der nachhaltigen Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Gemeinsame Agrarpolitik der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtfertigungen für Eingriffe in den Agrarmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . Besonderheiten landwirtschaftlicher Güter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abweichende Produktionsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Externalitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gründe einer Zuordnung der Agrarpolitik auf die EU-Ebene . . . . . . . Ziele der GAP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Instrumente der GAP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachhaltiges Lebensmittelsystem - „Vom Hof auf den Tisch“ . . . . . . Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ➲ Wichtige Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ➲ Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kohäsion in der Europäischen Union und die Bedeutung der Regionalpolitik Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theoretische Überlegungen zur Kohäsion in der Union . . . . . . . . . . . . Kohäsion und Regionalpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Politische Interessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Regionalpolitik und Do-no-harm-to-Cohesion-Ansatz . . . . . . . . . . . . Gezielte Regionalpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturfonds und Konditionalitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Evaluation der Kohäsionspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ➲ Wichtige Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ➲ Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Umweltpolitik der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theoretische Grundlagen der europäischen Umweltpolitik . . . . . . . . . Transnationale externe Effekte als Herausforderung für die Politik . . Klimaschutz als öffentliches Gut und die Trittbrettfahrerproblematik Internationaler Handel, Carbon Leakage und die Schaffung eines Klima-Clubs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die ökonomisch optimale Bepreisung von Verschmutzung . . . . . . . . . Informationsasymmetrien auf Märkten und umweltgerechtes Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Kontroverse um das Wirtschaftsmodell der Zukunft . . . . . . . . . . . 8 Inhalt <?page no="9"?> 9.3 220 9.3.1 220 9.3.2 221 9.4 221 9.4.1 221 9.4.2 222 9.5 222 9.5.1 222 9.5.2 225 9.6 225 9.6.1 225 9.6.2 227 9.6.3 229 9.6.4 229 9.6.5 230 9.7 230 231 231 235 10 236 10.1 236 10.2 236 10.3 240 10.4 241 10.5 243 10.6 245 10.6.1 245 10.6.2 247 10.7 250 250 250 Die vertragliche Verankerung der Umweltpolitik der EU . . . . . . . . . . . Die Institutionalisierung der Umweltpolitik in der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Multi-Level Governance in der Umweltpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Instrumente der Europäischen Umweltpolitik - ein Überblick . . . . . . Strukturierung umweltpolitischer Instrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Umweltpolitik als Querschnittaufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Neuausrichtung der Umweltpolitik seit 2019 . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein europäischer Grüner Deal - der Versuch einer umfassenden Berücksichtigung von Umweltaspekten in der Politik der EU . . . . . . . Ein Grüner Industrieplan als Weiterentwicklung des Grünen Deal . . Die Bewertung des Instrumenteneinsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klimaschutz als globale Herausforderung - europäische Wege zum kollektiven Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Einsatz von Emissionszertifikaten in der europäischen Umweltpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Schaffung eines CO 2 -Grenzausgleichssystems . . . . . . . . . . . . . . . . Berichtspflichten als Instrument zur Erhöhung der Transparenz . . . . Europa und die Reform des Wirtschaftsmodells . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ➲ Wichtige Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ➲ Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teil V ∙ Die Wirtschafts- und Währungsunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Währungspolitik und Europas Weg vom Bretton-Woods-System bis zum Europäischen Währungssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Wahl des Währungsregimes - feste versus flexible Wechselkurse Das Bretton-Woods-Regime - eine einfache Lösung für die Währungszusammenarbeit der europäischen Nationen . . . . . . . . . . . . Auf der Suche nach einer europäischen Nachfolgeregelung für das Bretton-Woods-Regime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Europäische Währungssystem von 1979-1989 - Europas Präferenz für feste Wechselkurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entscheidung für eine Währungsunion in Europa . . . . . . . . . . . . . Die Theorie optimaler Währungsräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Kriterien für den Beitritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ➲ Wichtige Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ➲ Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 9 <?page no="10"?> 11 251 11.1 251 11.2 251 11.3 252 11.4 257 11.5 257 11.5.1 257 11.5.2 259 11.5.3 259 11.5.4 260 11.5.5 261 11.5.6 262 11.6 263 11.7 267 11.7.1 267 11.7.2 273 11.7.3 274 11.8 274 274 275 12 277 12.1 277 12.2 277 12.3 280 12.3.1 280 12.3.2 283 12.3.3 287 12.3.4 289 12.3.5 291 12.4 291 293 293 Die Geldpolitik in der Europäischen Währungsunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der institutionelle Rahmen zur Durchführung der einheitlichen Geld- und Währungspolitik in der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . Die Geldpolitik des Eurosystems - Ziele und Instrumente . . . . . . . . . Die Wechselkurspolitik der Eurozone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Geld- und Währungspolitik der EZB in der Praxis - Themen und Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entscheidungsstruktur des Euro-Währungssystems . . . . . . . . . . . Das Mandat der EZB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Ziel der Preisstabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Außenwert des Euro . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Rolle des Euro im Weltwährungssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das außenwirtschaftliche Gleichgewicht des Euro-Währungsgebietes Exkurs: Die Finanzkrise in Europa - Eurokrise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einheitliche Geldpolitik für das Euro-Währungsgebiet . . . . . . . . . . . . Geldpolitische Strategie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Grenzen der Geldpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die EZB als „Lender of Last Resort“ - Liquiditätsgeber der letzten Instanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ➲ Wichtige Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ➲ Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Wirtschaftsunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Währungsunion und Wirtschaftsunion - die zwei Seiten einer Medaille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Anforderungen der Koordinierung der Wirtschaftspolitik - Vier Themenfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Europäische Semester als Instrument der Koordination . . . . . . . . Verantwortungsvolle Haushaltspolitik und die Begrenzung der Staatsverschuldung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Koordinierung der allgemeinen Wirtschaftspolitik - Stabile Wirtschaftssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Stabilisierung der Finanzmärkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fiskalpolitik in der Wirtschafts- und Währungsunion - die Aufgabe der Koordinierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herausforderungen der wirtschaftspolitischen Koordinierung . . . . . . ➲ Wichtige Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ➲ Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Inhalt <?page no="11"?> 297 13 298 306 306 309 Teil VI ∙ Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herausforderungen und Perspektiven der europäischen Integration . . . . . . ➲ Wichtige Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ➲ Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 11 <?page no="12"?> Daten und Fakten zur Europäischen Union Karte: © Peter Hermes Furian (iStock) <?page no="13"?> Land Hauptstadt Beitritt Bevölkerung am 1.-Januar (in Mio.) (Stand: 11.7.2024) Pro-Kopf-Einkom‐ men in KKS (EU-27 = 100) (Stand: 8.8.2024) Belgien Brüssel 1952 11,8 117,8 Bulgarien Sofia 2007 6,4 64,4 Dänemark Kopenhagen 1973 6,0 127,7 Deutschland Berlin 1952 83,4 115,4 Estland Tallinn 2004 1,4 81,6 Finnland Helsinki 1995 5,6 108,2 Frankreich Paris 1952 68,4 101,1 Griechenland Athen 1981 10,4 67,3 Irland Dublin 1973 5,3 210,9 Italien Rom 1952 59,0 97,3 Kroatien Zagreb 2013 3,9 76,3 Lettland Riga 2004 1,9 70,7 Litauen Vilnius 2004 2,9 86,4 Luxemburg Luxemburg 1952 0,7 238,8 Malta Valletta 2004 0,6 105,1 Niederlande Amsterdam 1952 17,9 130,1 Österreich Wien 1995 9,2 122,9 Polen Warschau 2004 36,6 80,1 Portugal Lissabon 1986 10,6 82,7 Rumänien Bukarest 2007 19,4 79,8 Schweden Stockholm 1995 10,6 114,4 Slowakei Bratislava 2004 5,4 72,9 Slowenien Ljubljana 2004 2,1 91,5 Spanien Madrid 1986 48,6 88,0 Tschechische Republik Prag 2004 10,9 91,0 Ungarn Budapest 2004 9,6 76,3 Zypern Nikosia 2004 0,9 95,2 Quelle: Eurostat 2024 Daten und Fakten zur Europäischen Union 13 <?page no="14"?> Vorwort Die 20er-Jahre dieses Jahrhunderts sind durch umfassende Veränderungen geprägt. Die Auswirkungen des Klimawandels werden deutlich und lassen die Forderungen nach entschiedenem Handeln lauter werden. Der Aufstieg Chinas und Indiens stellt die alte Weltordnung in Frage. Der kriegerische Konflikt zwischen Russland und der Ukraine und damit dem Westen erschüttert vermeintliche Gewissheiten und verändert das Vertrauen in Institutionen der Kooperation, die nach dem Fall der Berliner Mauer weiterentwickelt wurden. Wirtschaftspolitisch sind neue Fragen zu beantworten: Wie muss die Wettbewerbspolitik ausgestaltet werden, welche Rolle spielt die Industriepolitik, wie kann der Binnenmarkt gestärkt werden, welche interna‐ tionalen Handelsbeziehungen sind zukunftsfähig, wie sieht eine kluge Haushaltspolitik aus, welche Geldpolitik ist angemessen? Die Mitgliedstaaten der EU und die EU-Organe müssen auf diese und andere Herausforderungen Antworten finden. Die Diskussion über die europäische Politik ist intensiv, kontrovers und spannend. Vor dem Hintergrund solcher Veränderungen wurde diese vierte Auflage grundlegend überarbeitet. Ein Kapitel zur Klimapolitik wurde neu aufgenommen. Osnabrück, im Herbst 2024 Hans Adam und Peter Mayer <?page no="15"?> Weiterführende Literatur zur Europäischen Integration Lehrbücher Mit der Thematik der Europäischen Integration beschäftigen sich zahlreiche Lehrbü‐ cher unterschiedlichen Anspruchsniveaus und Erklärungsumfangs, die als ergänzende Literatur in Lehrveranstaltungen herangezogen werden können. Dazu zählen: Baldwin, Richard/ Wyplosz, Charles (2022): The Economics of European Integration, 7. Auflage, London, McGraw-Hill Borchardt, Klaus-Dieter (2023): Abc des EU-Rechts, Luxemburg Brasche, Ulrich (2017): Europäische Integration. Wirtschaft, Erweiterung und regionale Effekte, 4. Auflage, München, Oldenbourg Verlag De Grauwe, Paul (2022): Economics of Monetary Union, 14. Auflage, Oxford University Press Kühnhardt, Ludger (2022): Das politische Denken der Europäischen Union. Supranational und zukunftsoffen, Brill Fink, Paderborn, utb McCormick, John (2021): Understanding the European Union - A Concise Introduction, 8. Auflage, Palgrave-Macmillan Nugent, Neill (2017): The Government and Politics of the European Union, 8. Auflage, Pal‐ grave-Macmillan Ranacher, Christian/ Staudigl, Fritz/ Frischhut, Markus (Hrsg.) (2015): Einführung in das EU-Recht - Institutionen, Recht und Politiken der Europäischen Union, 3. Auflage, Wien, facultas Wagener, Hans-Jürgen/ Eger, Thomas (2014): Europäische Integration. Wirtschaft und Recht, Geschichte und Politik, 3. Auflage, München, Verlag Franz Vahlen Weidenfeld, Werner (2021): Die europäische Union, 6. Auflage, Brill-Fink, Paderborn, utb Weidenfeld, Werner/ Wessels, Wolfgang (Hrsg.) (2024): Jahrbuch der Europäischen Integration 2024, Baden-Baden, Nomos Verlag (laufender Jahrgang) Wurzel, Eckhard (2024): Europäische Integration - die ökonomischen Zusammenhänge. Wirt‐ schafts-, Finanz- und Geldpolitik sowie Reformansätze, 2. Auflage, Stuttgart, Verlag W. Kohlhammer Wichtige Internetquellen EU: 🔗 www.europa.eu Eurostat: 🔗 www.eurostat.eu <?page no="17"?> Teil I ∙ Das Entstehen der Europäischen Union <?page no="18"?> 1 Geschichte der europäischen Integration eLearning | zu diesem Kapitel finden Sie einen eLearning-Kurs online. Folgen Sie dem Link oder nutzen Sie den QR-Code. 🔗 https: / / narr.kwaest.io/ s/ 1338 Leitfragen • Welche politischen Entwicklungen und Ereignisse haben die europäische Einigung geprägt? • Wie hat sich die europäische Wirtschaft seit Beginn der europäischen Integra‐ tion verändert? • Welche idealtypischen Vorstellungen haben die Diskussion über die Zukunft Europas bestimmt? 1.1 Einführung Die europäische Einigung seit Mitte des 20. Jahrhunderts ist ein einzigartiger Prozess, mit dem sich das Zusammenleben der Völker Europas gegenüber den vorherigen Jahrhunderten fundamental geändert hat. Aus einem Kontinent des Krieges wurde ein Kontinent des Friedens, wie es in der Erklärung des Nobelpreiskomitees anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises an die Europäische Union im Jahr 2012 noch hieß. Die Entwicklung der europäischen Einigung der letzten Jahrzehnte war stets eng verbunden mit Veränderungen der weltpolitischen und weltwirtschaftlichen Rahmen‐ daten. Im folgenden Kapitel wird die Verknüpfung dieser Entwicklungstrends heraus‐ gearbeitet. 1.2 Die Entwicklung Europas bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts Die europäische Einigung war von Anfang an ein von politischen Motiven geprägter Prozess. Sie war eine Antwort auf die Jahrhunderte alte Realität ständig wiederkeh‐ render Kriege auf europäischem Boden. Eine Auswahl aus der langen Liste der innereuropäischen militärischen Auseinandersetzungen zeigt die Dimensionen (vgl. Simms 2013): England und Frankreich bekriegten sich im Hundertjährigen Krieg 1337- 1453. In den Italienischen Kriegen 1494-1559 kämpften unter anderem italienische, französische und habsburgische Truppen. Russische und schwedische Truppen standen sich wiederholt in den Rus‐ sisch-Schwedischen Kriegen 1495-1497, 1590-1595 und 1611-1617 gegenüber. Im <?page no="19"?> Dreißigjährigen Krieg 1618-1648 waren unter anderem deutsche, schwedische, spani‐ sche, niederländische und französische Truppen beteiligt. Im Großen Nordischen Krieg 1700-1721 kämpften Truppen aus Russland, Schweden und Polen. Der Siebenjährige Krieg 1756-1763 war ein internationaler Konflikt auf deutschem Boden mit Beteiligung Englands, Frankreichs und Österreichs. In den napoleonischen Kriegen 1803-1815 waren mehr als 20 Kriegsparteien einbezogen. Der Deutsch-Französische Krieg 1870/ 71 war eine Auseinandersetzung zwischen Deutschland und Frankreich. Im Ersten Welt‐ krieg 1914-1918 waren rund 40 Staaten involviert, 17-20 Millionen Menschen verloren ihr Leben. Schließlich kamen in dem von den Nationalsozialisten ausgelösten Zweiten Weltkrieg 1939-1945 allein in Europa mehr als 50 Millionen Menschen um. Die Verluste an Menschenleben all dieser Kriege waren hoch und wuchsen mit der Entwicklung der Technik, die Lebensgrundlage der Menschen wurde wiederholt vernichtet. Am Ende des Zweiten Weltkrieges war das Bedürfnis groß, die gewaltsamen Aus‐ einandersetzungen zwischen den Völkern Europas und die Machtpolitik europäischer Nationen zulasten anderer europäischer Nationen hinter sich zu lassen und eine Ordnung für ein friedliches Zusammenleben, für Völkerverständigung, für Demokratie und die Beachtung der Menschenrechte zu finden. Die Gründung der Europäischen Gemeinschaft kann nur vor diesem historischen Hintergrund verstanden werden. Und auch die vielen Veränderungen innerhalb der Europäischen Union, die Erweiterung der Gemeinschaft von sechs Mitgliedern auf 28 und später 27 Mitgliedsländer waren ganz wesentlich von politischen Motiven geprägt, dem Ende der Diktaturen im Süden Europas, der Auseinandersetzung im Kalten Krieg und den Umwälzungen in Osteuropa am Ende des 20.-Jahrhunderts. Wirtschaftlich war Europa in vielerlei Hinsicht bis in das 19. Jahrhundert frag‐ mentiert: Hohe Transportkosten begünstigten die lokale Produktion. Verschiedene Maßsysteme und unterschiedliche Währungen machten den Handel beschwerlich. Die für den Tausch erforderlichen Informationen über Angebot und Nachfrage auf der Seite des Handelspartners waren nur begrenzt verfügbar. Selbst der Handel zwischen Regionen und Städten innerhalb der Staaten war durch Zölle und Abgaben für Güter belastet. Die im Mittelalter dominierende Philosophie des Merkantilismus sah den wirtschaftlichen Austausch generell nicht als für beide Seiten nutzbringend an. Warenaustausch zwischen den Nationen war über Jahrhunderte auf wenige Güter und Dienstleistungen beschränkt. Die Migration der Menschen war in Friedenszeiten durch das Feudalsystem begrenzt. Erst mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert wandelten sich die wirtschaftspo‐ litischen Vorstellungen, Handel wurde nicht als ein „Null-Summen-Spiel“ begriffen, sondern als potenziell vorteilhaft für exportierende und importierende Staaten. Die wirtschaftlichen Rahmbedingungen änderten sich, Transportkosten sanken, Informa‐ tionen standen schneller zur Verfügung. Der Anteil der Exporte am Bruttoinlandspro‐ dukt europäischer Länder, im Jahr 1810 auf 3-% geschätzt, stieg auf 16-% im Jahr 1913. Dieser Wert fiel aber wieder auf 6 % im Jahr 1938 (vgl. Molle 2006), die Entwicklung in Europa in der ersten Hälfe des 20. Jahrhunderts war durch Desintegration geprägt. 1.2 Die Entwicklung Europas bis zur Mitte des 20.-Jahrhunderts 19 <?page no="20"?> Niedrige Wachstumsraten und hohe Arbeitslosigkeit waren die wirtschaftlichen Fol‐ gen, die Neigung der Bevölkerung, totalitäre Systeme zu unterstützen eine andere verheerende Konsequenz. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von 15 europäischen Ländern, welches 1913 noch 57 % des Wertes der USA betragen hatte, sank auf 47 % im Jahr 1950 ab (vgl. Eichengreen 2007, S. 18). Obgleich die europäischen Völker aufgrund der politischen und wirtschaftlichen Parzellierung durchaus eigenständige kulturelle Gewohnheiten entwickelten, war Europa gleichwohl ein gemeinsamer Kulturraum (vgl. Thiede 2010). Ein wesentlicher Grund waren die verbindenden religiösen und philosophischen Wurzeln. Die griechi‐ sche und römische Philosophie hat Europa nachhaltig geprägt. Auch die Baukunst der Antike strahlte Jahrhunderte in ganz Europa aus. Der christliche Glaube fand seinen Weg in alle europäischen Länder und mit ihm auch die christlich geprägte Kultur. Die engen Beziehungen der europäischen Aristokratie trugen zu einem Austausch der kulturellen Werte bei. Die meist kriegs- und verfolgungsbedingte Migration brachte kulturelle Vorstellungen in andere Länder. Philosophen, Musiker, Literaten des 18. und 19. Jahrhunderts suchten europaweit den Austausch. Die Gedanken der Französischen Revolution und Aufklärung verbreiteten sich schnell und beeinflussten die geistige Entwicklung in ganz Europa. Vor diesem Hintergrund wurden immer wieder Ideen zur europäischen Einigung entwickelt: Das Reich Karls des Großen kann als Versuch der Herstellung eines geein‐ ten Europas interpretiert werden. Der Jurist Pierre Dubois schlug im Jahr 1306 eine regelmäßige „Zusammenkunft des europäischen Adels“ vor, der Quäker William Penn veröffentlichte 1693 eine Schrift mit der Forderung für ein europäisches Parlament, der Philosoph Jeremy Bentham regte eine „Europäische Versammlung“ an. Der Abt Charles-Irénée Castel de Saint-Pierre schlug die Schaffung einer „europäischen Union“ vor. Jean-Jacques Rousseau entwickelte das Konzept einer „Europäischen Föderation“. Der Österreicher Richard Graf Coudenhove-Calergi forderte eine „Paneuropäische Bewegung“ (vgl. Eichengreen 2007, S. 41), der französische Premier und Außenminister Briand empfahl 1927 die Schaffung eines „föderativen Bandes unter den europäischen Nationen“. 1.3 Die Entwicklung seit der Mitte des 20.-Jahrhunderts 1.3.1 Die unmittelbare Nachkriegszeit 1945-1950 Die politische und wirtschaftliche Entwicklung in der Nachkriegszeit Die dem Ende des Zweiten Weltkriegs folgenden Jahre waren eine Zeit der umfas‐ senden Transformation der politischen Weltordnung. 1945 gründeten 51 Staaten die Vereinten Nationen, die zentrale der Erhaltung des Friedens und der Zusammenarbeit der Nationen verpflichtete internationale Organisation. Im gleichen Jahr schufen 29 Staaten den Internationalen Währungsfonds, der die Währungszusammenarbeit der Mitgliedsländer koordinieren sollte. Und mit der Unterzeichnung des „General Agree‐ 20 1 Geschichte der europäischen Integration <?page no="21"?> ment on Tariffs and Trade“ (GATT) im Jahr 1947 dokumentierten die wesentlichen Handelsnationen der damaligen Zeit ihre Bereitschaft, den internationalen Handel zu liberalisieren und gemeinsame Regeln zu beachten. Auch in Europa kam es zu einer politischen Neuordnung. Westeuropäische Staaten orientierten sich an Demokratie und Marktwirtschaft. In Osteuropa wurde eine kommunistische staatliche Ordnung eingeführt, wirtschaftspolitisch entschied man sich für zentralverwaltungswirtschaftliche Strukturen. Und da bereits die Besetzung der Tschechoslowakei durch sowjetische Truppen im Jahr 1948 signalisierte, dass die Politik der Sowjetunion auf Expansion angelegt war, betrachteten beide Seiten Europa (und andere Kontinente) im Kontext des Kampfes um Einflusssphären. Die Bipolarität, die sich bereits während des Zweiten Weltkrieges abgezeichnet hatte, mündete auf westlicher Seite in der Truman-Doktrin, die für die US-amerikanische Außenpolitik das Ziel formulierte, den „freien Völkern“ beizustehen, diese zu unterstützen, sich der „angestrebten Unterwerfung“ zu widersetzen (vgl. Brunn 2017). Angesichts dessen gründeten zwölf Staaten im April 1949 die „North Atlantic Treaty Organization“ (NATO), ein Bündnis europäischer und nordamerikanischer Staaten zur gegenseitigen Unterstützung im Verteidigungsfall. Im Jahr 1949 wurde der Europarat geschaffen, eine parlamentarische Versammlung zur Stärkung der demokratischen Entwicklung in den Mitgliedsländern (vgl. Brunn 2017). Die USA unterstützten den Aufbau marktwirtschaftlicher Strukturen in Westeuropa. Mit der Gründung der Organisation for European Economic Cooperation (OEEC) im Jahr 1948 wurde eine Institution geschaffen, die erhebliche Finanztransfers für den Wiederaufbau Europas bereitstellte. Vor dem Hintergrund der Bedrohung Westeuropas wurde die in den USA zunächst geführte Debatte, ob ein schwaches Deutschland im Interesse der USA liegen könne, schnell zugunsten eines stabilen demokratischen, prosperierenden, in europäische Strukturen eingebundenen Deutschlands beendet (vgl. Brunn 2017). In den Jahren unmittelbar nach Ende des Krieges 1945 war das wirtschaftliche Wachstum zunächst gering. Die Unsicherheit über die wirtschaftlichen Rahmenbe‐ dingungen war groß. Am Ende des Jahrzehnts änderte sich dies, die Eckdaten der neuen Wirtschaftsordnung wurden klarer. Die von den USA zur Verfügung gestellten Marshall-Plan-Mittel zeigten Wirkung, insbesondere die Auflagen, die mit den Mitteln verknüpft waren, führten zu einer besseren Ressourcenallokation. Die Reorganisation der Volkswirtschaften zugunsten ziviler Zwecke ermöglichte sichtbare Verbesserungen des Lebensstandards der Menschen in Europa. Die Anwendung der technologischen Neuerungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlaubte deutliche Fortschritte in der Arbeits- und Kapitalproduktivität. Zwischen 1947 und 1951 wuchs die Produktion in den Ländern Westeuropas, die Marshall-Plan-Mittel erhielten, um 55 % (vgl. Eichen‐ green 2007, S. 57). 1.3 Die Entwicklung seit der Mitte des 20.-Jahrhunderts 21 <?page no="22"?> Die Entwicklung der europäischen Einigung in der Nachkriegszeit In vielen europäischen Ländern mehrten sich die Stimmen, dass eine nachhaltige Lösung der wiederkehrenden Auseinandersetzungen in der Überwindung national‐ staatlicher Denkweisen besteht. Noch vor Ende des Krieges, im Jahr 1943, betonte einer der späteren Architekten der Europäischen Gemeinschaft, der Franzose Jean Monnet, dass die Staaten Europas einzeln nicht stark genug sein würden, Prosperität und soziale Entwicklung für die Menschen zu garantieren. Er forderte die Einigung Europas, die Schaffung eines gemeinsamen Marktes, er wünschte die Einführung einer föderalen politischen Ordnung (vgl. Gasteyger 2006, S. 52-85). Winston Churchill, von 1940-1945 und erneut von 1951-1955 Premierminister Großbritanniens, appellierte in einer Rede in Zürich 1946 an die europäischen Staaten, einen neuen Weg zu beschreiten und ein vereintes Europa zu schaffen. Churchill forderte die Etablierung „einer Art Vereinigte Staaten von Europa“ (vgl. Gasteyger 2006, S. 43-45). Frankreich und Deutschland sollten die wesentlichen Treiber der europäischen Einigung sein, Großbritannien sah er allerdings nicht als Teil eines solchen Bündnisses (vgl. Schmidt 2000, S.-123-124). Auch die Auseinandersetzung zwischen Ost und West förderte auf beiden Seiten des Atlantiks die Vorstellung, dass Westeuropa nur gemeinschaftlich die Zukunft gestalten kann: In Westeuropa wuchs die Angst vor der sowjetischen Bedrohung. Hinzu kam, dass kommunistische Parteien in vielen Ländern Westeuropas einflussreich waren. Vor diesem Hintergrund nahm auch in den USA die Unterstützung für ein europäisches Einigungsprojekt zu, sie wurde Teil der US-amerikanischen „Containment-Politik“. Die Idee einer europäischen Gemeinschaft gewann an Kraft und blieb doch umstrit‐ ten: Die Überwindung nationalstaatlicher Strukturen war (und ist) für Gesellschaften ein revolutionärer Schritt, zumal die Nationalstaaten meist mit einer gemeinsamen Sprache, einer gemeinsamen Geschichte, einer gemeinsamen Kultur verknüpft sind. Auch war völlig unklar, welche Form eine Gemeinschaft annehmen könnte. ⁈ Verständnisfrage | Welche Veränderungen der Weltordnung und der euro‐ päischen Ordnung unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges haben den Charakter der europäischen Einigung bestimmt? 1.3.2 Die 1950er-Jahre Die politische und wirtschaftliche Entwicklung in den 1950er-Jahren Gleich zu Beginn der 1950er-Jahre erinnerte der Koreakrieg von 1950 bis 1953 an die Herausforderungen, die aus der Konfrontation des Westens und Ostens erwuchsen. Die wachsende Bedrohung durch die militärische Macht der Sowjetunion wurde auch durch die Niederschlagung von Aufständen in der DDR im Jahr 1953 und in Ungarn im Jahr 1956 unterstrichen. Wirtschaftlich waren die 1950er-Jahre eine Zeit des Aufschwungs, eine Zeit der „goldenen Jahre“. Das durchschnittliche Produktivi‐ 22 1 Geschichte der europäischen Integration <?page no="23"?> tätswachstum je Arbeitnehmer in den europäischen Staaten war hoch, wie die folgende → Abb.-1 zeigt. 6,4 5,89 4,31 3,98 2,51 Deutschland Italien Frankreich Niederlande Großbritannien Abb.-1: Durchschnittliche jährliche Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität in Prozent, 1950-1960 | Quelle: Eichengreen 2007, S.-88 Bessere institutionelle Rahmenbedingungen und die Vorteile aus der grundsätzlich marktwirtschaftlichen Ressourcenallokation trugen ebenso zu dem Erfolg bei wie hohe private und öffentliche Investitionen, der Einsatz moderner Technologien und funktionsfähige industrielle Beziehungen (vgl. Eichengreen 2007, S.-85-88). Die Entwicklung der europäischen Einigung in den 1950er-Jahren Nach intensiven Vorarbeiten Jean Monnets schlug der französische Außenminister Robert Schuman am 9. Mai 1950, exakt fünf Jahre nach Kriegsende in Europa, eine europäische Gemeinschaft vor, die zunächst auf eine sektorale Zusammenarbeit be‐ schränkt werden sollte: Europa lasse sich, so seine Argumentation, nicht mit einem Schlage herstellen und auch nicht durch eine einfache Zusammenfassung. Es werde durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst eine Solidarität der Tat schaffen. Er forderte eine enge europäische Kooperation der Kohle- und Stahlindustrie. Damit sollte die europäische Zusammenarbeit in einem für die Energieversorgung und den Wiederaufbau wichtigen Sektor beginnen. Hinzu kam, dass damit auch eine multilaterale Kontrolle der Waffenproduktion in den Mitgliedstaaten möglich war, eine mit Blick auf eine etwaige Wiederbewaffnung Deutschlands wichtige Komponente. Am 18. April 1951 wurde in Paris von den sechs Staaten Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und Niederlande der Vertrag zur Gründung der Euro‐ päischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) unterzeichnet. Die EGKS, auch 1.3 Die Entwicklung seit der Mitte des 20.-Jahrhunderts 23 <?page no="24"?> als Montanunion bezeichnet, nahm offiziell am 01.01.1952 ihre Arbeit auf und sollte für die folgenden 50 Jahre die Rechtsbasis für die Zusammenarbeit in diesem Sektor regeln. Eine „Hohe Behörde“ und ein „Ministerrat“ waren mit der Beschlussfassung betraut, während eine Parlamentarische Versammlung beratende Funktion hatte. Die Mitglieder unterwarfen sich supranationaler Kontrolle, d. h. die geschaffenen Organe konnten verbindliche Beschlüsse fassen, denen sich die Mitgliedsländer beugen mussten. Nach diesem Erfolg der Integrationsbefürworter blieb der Weg zu weiteren aus‐ sichtsreichen Gemeinschaftsinitiativen jedoch beschwerlich: Im Jahr 1950 hatte Jean Monnet auch die Schaffung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft vorge‐ schlagen, eine von der französischen Regierung unterstützte Idee einer gemeinsamen europäischen Armee (während die Mitgliedsländer, mit Ausnahme Deutschlands, weiterhin das Recht haben sollten, eine eigene Armee zu stellen). Der Vertrag zur Gründung wurde im Jahr 1952 von denselben sechs Mitgliedstaaten unterzeichnet, die auch die EGKS gebildet hatten. Die Initiative scheiterte jedoch, als im Jahr 1954 die französische Nationalversammlung die Ratifizierung verweigerte (vgl. Bulmer/ Par‐ ker/ Bache u. a. 2020). Damit kam auch die Initiative zur Schaffung einer Europäischen Politischen Gemeinschaft zu einem abrupten Ende, ein von dem belgischen Außenmi‐ nister Paul-Henri Spaak vorangetriebenes und damals schon weitgediehenes Projekt. Dieses sollte die Europäische Verteidigungsgemeinschaft und die Europäischen Ge‐ meinschaft für Kohle und Stahl eng verknüpfen und sah die gemeinsame Zuständigkeit für außenpolitische Belange und die Errichtung eines Gerichtshofes vor. Erfolg beschieden war jedoch dem Projekt der Schaffung einer engen Kooperation in Wirtschaftsfragen. Im Jahr 1955 wurde im Rahmen einer Außenministerkonferenz in Messina auf Sizilien die Arbeit an einem Vertragswerk vereinbart, für das der belgische Außenminister Spaak verantwortlich zeichnete. Am 25. März 1957 wurde schließlich der Vertrag von Rom zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemein‐ schaft (EWG) unterzeichnet. Durch die Bildung eines Gemeinsamen Marktes und die schrittweise Annäherung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten sollten, so heißt es in Artikel 2 des Vertrages, eine harmonische Entwicklung des Wirtschaftslebens, eine ausgewogene Wirtschaftsentwicklung, eine größere Stabilität und eine Anhebung des Lebensstandards erreicht werden. Und weiter heißt es in Artikel 3, dass Zölle abge‐ schafft und Hindernisse für den freien Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr beseitigt werden sollen. Eine gemeinsame Politik auf dem Gebiet der Landwirtschaft wurde verabredet, so auch die Angleichung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften. Der Vertrag von Rom enthielt zahlreiche ambitionierte Zielvereinbarungen. Gleichzeitig und ebenfalls in Rom wurde in einem weiteren Vertrag die Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM) vereinbart. Die Mitgliedstaaten versprachen sich davon einen engen Austausch in Kernenergiefragen, höhere Versor‐ gungssicherheit und ein gemeinsames Schultern der hohen Kosten der Entwicklung der Nukleartechnologie. Auch hier spielte der Gedanke eine Rolle, durch die enge Kooperation einen Missbrauch der Technologie für militärische Zwecke zu verhindern. 24 1 Geschichte der europäischen Integration <?page no="25"?> Mit der Schaffung der EGKS, der EWG und der EURATOM wurde ein Prozess der „Europäisierung“ in Gang gesetzt: Die Verhaltensweisen in den Mitgliedstaaten nähern sich einem einheitlichen europäischen Standard an, den sie gemeinsam gestalten und prägen. Die Entwicklung Europas in den 1950er-Jahren zeigte gleichzeitig den beschwerli‐ chen Weg der europäischen Integration, der auch in den folgenden Jahrzehnten den Ausbau bestimmen sollte: Kräften für mehr Integration standen starke Kräfte gegen die Ausweitung der Zusammenarbeit entgegen, Schritten hin zu mehr Integration folgten Rückschläge. Integration war sowohl das Ergebnis internen Drucks als auch Ergebnis des Drucks von außen. Ob gewollt oder nicht, der Weg der europäischen Integration war durch Gradualismus gekennzeichnet. Hinzu kam, dass es keinen Konsens über die optimale Form der Kooperation gab. Box 1 | Idealtypische Vorstellungen über die Kooperation: ein föderales Europa oder intergouvernementale Zusammenarbeit europäischer Staaten Seit Beginn der europäischen Zusammenarbeit gibt es unterschiedliche Vorstel‐ lungen über die beste Form und Intensität der Kooperation, speziell über die Organisation der Hoheitsgewalt, d. h. die Kompetenzverteilung zwischen den Teileinheiten und dem sie umgreifenden Gesamtverband, welche mit dem Gegen‐ satzpaar Föderalismus und Intergouvernementalismus beschrieben wird. Der intergouvernementale Ansatz in der europäischen Integration sieht den Inte‐ grationsprozess als eine Zusammenarbeit von Staaten, bei der die Nationalstaaten im Mittelpunkt der Entscheidungsprozesse verbleiben. Entscheidungskompeten‐ zen werden nicht an die oberhalb der Staaten angesiedelte europäische Ebene abgegeben, die Hoheitsrechte verbleiben bei den Staaten. Die Nationalstaaten können gemeinsame Entscheidungen treffen, Entscheidungen müssen aber ein‐ stimmig fallen, die Souveränität wird nicht an die europäische Ebene delegiert. Es handelt sich hierbei nicht um einen Bundesstaat („federal state“), sondern um einen Staatenbund („federation“). In einem intergouvernemental gestalteten System treiben die Nationalstaaten die Entwicklung voran (vgl. Nugent 2017, Schmidt/ Schünemann 2013, S.-379-402). Der föderale Integrationsansatz zur europäischen Integration sieht hingegen das Ziel der Integration in einem europäischen Bundesstaat: Souveränität ist geteilt, einige staatliche Aufgaben werden von der europäischen, der dann „supranatio‐ nalen“ Ebene wahrgenommen und verantwortet, es kommt zu einer Abtretung ausgewählter Hoheitsrechte, andere verbleiben bei den Nationalstaaten. Eine fö‐ derale politische Ordnung von Staaten schreibt eine bestimmte Form der vertikalen Gewaltenteilung fest. In einer Verfassung oder einem ähnlichen Dokument wird die Aufgabenverteilung zwischen der supranationalen und der nationalstaatlichen Ebene niedergeschrieben. 1.3 Die Entwicklung seit der Mitte des 20.-Jahrhunderts 25 <?page no="26"?> Föderale Staaten wie Deutschland, die USA, Kanada oder die Schweiz haben die Aufgabenteilung zwischen den Ebenen sehr unterschiedlich geregelt. Allgemeine wirtschaftspolitische Aufgaben, außen- und sicherheitspolitische Aufgaben wer‐ den typischerweise von der übergeordneten Ebene verantwortet. Wie weit die Variabilität auf der zweiten Ebene geht, zeigen die unterschiedlichen Regelungen der Todesstrafe in den US-Staaten, Unterschiede in der Steuerpolitik, der Verkehrs- oder der Bildungspolitik der Gliedstaaten. Einige föderale Staaten waren das Ergebnis des Zusammenschlusses ursprünglich unabhängiger Staaten (z. B. Schweiz im Jahr 1848), in anderen Fällen sind sie das Ergebnis der gezielten Devolution wie etwa in Kanada oder Indien (vgl. Cini/ Pérez- Solórzano Borragán (Hrsg.) 2022). Schon die Gründerväter der Europäischen Gemeinschaft hatten unterschiedliche Vorstellungen, wie diese ausgestaltet werden sollte. Jean Monnet war expliziter Befür‐ worter eines föderalen Europas, die Überwindung nationalstaatlichen Denkens war ein wichtiges Motiv seines Handelns. Andere sahen die Zukunft Europas stets im Rahmen einer intergouvernementalen Zusammenarbeit. Die Verträge von Paris und Rom enthielten Elemente beider politischer Ordnungs‐ prinzipien. Dies gilt auch für die späteren Gemeinschaftsverträge. Die Europäische Union ist eine Institution „sui generis“. 1.3.3 Die 1960er-Jahre Die politische und wirtschaftliche Entwicklung in den 1960er-Jahren Auch die 1960er-Jahre waren durch den Ost-West-Konflikt geprägt. Im August 1961 wurde die Berliner Mauer gebaut, die Kubakrise 1962 brachte die Weltmächte an den Rand eines Atomkrieges, der Prager Frühling 1968 zeigte erneut, wie weit die Sowjet‐ union im Kampf um Dominanz in Osteuropa gehen würde, der Vietnamkrieg wurde als Stellvertreterkrieg verstanden, in Afrika und Asien kämpften die Großmächte mit Beginn der Dekolonialisierung um Einflusssphären (vgl. Laqueur 1992, S.-373-450). Gleichzeitig waren die 1960er-Jahre in Westeuropa weiter durch hohe Wachstums‐ raten geprägt, die Arbeitslosigkeit war in den Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft gering. Die Handelsverflechtung innerhalb der Gemeinschaft wuchs, auch der Handel mit den Ländern außerhalb der Gemeinschaft der sechs Staaten gewann an Bedeutung und ermöglichte erhebliche Wohlfahrtsgewinne. Die Entwicklung der europäischen Integration in den 1960er-Jahren Während erneute Initiativen zur Vertiefung der politischen Integration scheiterten (Fouchet-Plan von 1961), entschieden die sechs Mitgliedstaaten der EWG, EGKS und EURATOM, die institutionellen Strukturen der drei Gemeinschaften zusammenzufüh‐ 26 1 Geschichte der europäischen Integration <?page no="27"?> ren (vgl. van Meurs/ de Bruin/ van de Grift u. a. 2018). Am 8. April 1965 wurde in Brüssel der Vertrag zur Fusion der Exekutivorgane der drei Gemeinschaften unterzeichnet. Ein gemeinsamer Rat und eine gemeinsame Kommission wurden geschaffen, der Vertrag trat am 1. Juli 1967 in Kraft. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft bildete den Mittelpunkt der europäischen Zusammenarbeit. Eine große Rolle spielte dabei die gemeinsame Agrarpolitik. Ein zweiter Schwerpunkt der Arbeit der EWG war die Han‐ delspolitik: 1968 wurden zwei wichtige Etappen auf dem Weg zur Zollunion geschafft. Am 1. Juli 1968 entfielen die Binnenzölle und ermöglichten damit den Freihandel zwischen den Mitgliedstaaten. Und gleichzeitig wurden der gemeinsame Zolltarif und damit eine echte Zollunion eingeführt (siehe auch das Kapitel zur Handelspolitik). Von handelspolitischer Bedeutung war ebenfalls das Abkommen mit den 18 sogenannten AKP-Staaten (Afrika, Karibik, Pazifik) aus dem Jahr 1963, ein Schritt zur Vertiefung der Integration. Während Belgien, Deutschland, Italien, Frankreich, Luxemburg und die Niederlande, die Gründungsstaaten der drei Gemeinschaften EGKS, EWG und EURATOM, zuneh‐ mend anspruchsvollere Ziele formulierten, schlossen sich andere europäische Staaten zu einer Freihandelszone zusammen. Box 2 | Die Gründung der Europäischen Freihandelsassoziation (European Free Trade Association EFTA) Sieben europäische Staaten gründeten 1960 die Europäische Freihandelsassoziation (EFTA). Diese war dezidiert als reine Freihandelszone geplant. Zölle für den Handel zwischen den Mitgliedstaaten wurden abgeschafft, Außenzölle für den Handel mit Nichtmitgliedern blieben im Verantwortungsbereich der einzelnen Mitglied‐ staaten. Die Gründungsmitglieder waren Dänemark, Großbritannien, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden und die Schweiz, Finnland trat 1961 dem Bündnis bei, Island 1970. Irland, Großbritannien, Dänemark und Norwegen stellten 1961 bzw. 1962 den Antrag auf Mitgliedschaft in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Wegen grundsätzli‐ cher Bedenken von französischer Seite gegen eine Mitgliedschaft Großbritanniens kam es in den 1960er-Jahren allerdings nicht zu einem Beitritt. 1.3.4 Die 1970er-Jahre Die politische und wirtschaftliche Entwicklung in den 1970er-Jahren Die 1970er-Jahre bedeuteten für drei Länder Westeuropas eine Hinwendung zu einer demokratischen Ordnung. In Griechenland endete 1974 die sogenannte Obristenherr‐ schaft, eine ab 1967 regierende Militärdiktatur. Auch in Portugal verlor die autoritäre Regierung im Jahr 1974 die Macht, die Nelkenrevolution beendete die lange Phase des 1.3 Die Entwicklung seit der Mitte des 20.-Jahrhunderts 27 <?page no="28"?> sogenannten Salazar-Regimes (Salazar selbst war bereits 1970 gestorben). Und der Tod Francos 1975 machte auch in Spanien den Weg für eine demokratische Ordnung frei (vgl. Laqueur 1992, S.-515-537). Die drastische Begrenzung der Produktionsmengen durch die erdölexportierenden Länder im Nahen und Mittleren Osten in der Nachfolge zu dem Jom-Kippur-Krieg 1973 führten zu schweren Erschütterungen der Wirtschaft Westeuropas und Nordamerikas. Der Anstieg der Ölpreise traf die Volkswirtschaften unvorbereitet. Die Inflationsraten stiegen in ganz Europa (→ Abb. 2). Die Ölpreissteigerungen erklären einen Teil dieser Entwicklung, die Aufgabe der Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften in den meisten europäischen Ländern war ein weiterer wichtiger Grund. 5,5 6,7 6,9 8,7 11,8 13,2 10,8 8,9 9 7,9 11,5 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 Abb.-2: Inflationsrate in der Europäischen Union 1970-1980 in Westeuropa (BIP-Deflator) | Quelle: Darstellung auf Basis von Daten von UN Data (🔗 www.unstats.un.org) In den 1970er-Jahren schien das Wachstumsmodell Europas an seine Grenzen zu stoßen. Die hohen Kapitalrenditen der Nachkriegszeit, Ergebnis des Wiederaufbaus, der Bereitstellung zusätzlicher Produktionsfaktoren und des Einsatzes vorhandenen Wissens kamen genauso zu einem Ende wie die Lohnzurückhaltung der Arbeitnehmer und Gewerkschaften. Im Ergebnis flachte das Wachstum in den 1970er-Jahren deutlich ab. Während zwischen 1962 und 1969 die Volkswirtschaften der 15 europäischen Länder (Mitgliedsländer der EU seit 1995) durchschnittlich real um 4,8 % gewachsen waren, stieg die Leistung in der Zeit von 1970 bis 1982 im Jahresdurchschnitt nur um 2,8 %. Die Arbeitslosigkeit nahm zu: Noch in den 1960er-Jahren lag die Quote bei rund 2-% und stieg in den 1970er-Jahren sukzessive auf mehr als 5-% an. Die Entwicklung der europäischen Integration in den 1970er-Jahren 1973 kam es zur ersten Erweiterung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Großbritannien, Irland und Dänemark traten der Gemeinschaft bei. Auch Norwegen 28 1 Geschichte der europäischen Integration <?page no="29"?> hatte den Antrag gestellt, in einem Referendum lehnte allerdings die Bevölkerung des Landes die Mitgliedschaft mehrheitlich ab. Mit dem Beitritt wuchs die Gemeinschaft auf neun Mitgliedsländer. Damit kam die Mitgliedschaft Großbritanniens, Irlands und Dänemarks in der EFTA zu einem Ende, die Assoziation verlor als Alternativmodell zur europäischen Gemeinschaft an Bedeutung. In ausgewählten Bereichen kam es in den 1970er-Jahren zu einer Vertiefung der Zusammenarbeit. Gleichzeitig wurden der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft neue Aufgaben übertragen: Die EWG zeichnete fortan für umweltpolitische Fragen verantwortlich, ein Regionalfonds zur Förderung des Lebensstandards in unterentwi‐ ckelten Regionen war 1974 ein wichtiger Schritt zur Schaffung einer Regional- oder auch Kohäsionspolitik. Die Außenbeziehungen mit 46 Entwicklungsländern wurden im Rahmen des Lomé-Vertrages geregelt. Insbesondere im Bereich der Währungspolitik war die EWG gefordert, die Zusam‐ menarbeit neu zu ordnen. Der Zusammenbruch des über 25 Jahre währenden Systems fester Wechselkurse mit gegenüber dem US-$ fixierten Paritäten führte in Europa zu intensiven Diskussionen über Vorteile und Nachteile flexibler Kurse und Möglichkeiten einer europäischen Währungskooperation. Erste Ideen für eine einheitliche Währung wurden erarbeitet (Werner-Plan). Die Mitgliedsländer der Europäischen Wirtschafts‐ gemeinschaft entschieden sich 1972 für eine Koordination der Paritäten ihrer Wäh‐ rungen im Rahmen des Europäischen Wechselkursverbundes. Zentralbanken der beteiligten Länder garantierten die fest vereinbarten Paritäten und unterstützten sich gegenseitig bei den notwendigen Interventionen und der Verteidigung der Kurse. Dies mündete schließlich in der Errichtung des Europäischen Währungssystems im Jahr 1979. Die europäische Währungseinheit ECU wurde geschaffen und war Bezugspunkt für die Berechnung der Paritäten, von denen die Währungen im Normalfall um 2,25 % nach oben oder unten abweichen konnten, bevor Interventionen ausgelöst wurden. 1.3.5 Die 1980er-Jahre Die politische und wirtschaftliche Entwicklung in den 1980er-Jahren Auch die 1980er-Jahre waren vom Kalten Krieg geprägt. Sowjetische Truppen waren im Dezember 1979 in Afghanistan einmarschiert. Die Rüstungsausgaben nahmen auf beiden Seiten des Ost-West-Konfliktes zu. In Polen zeigten sich mit der Gründung der Gewerkschaft Solidarnosc deutliche Spannungen des totalitären Systems. Ende des Jahrzehnts kam es schließlich zum Kollaps der kommunistischen Ordnung. Währenddessen war das Wirtschaftswachstum in Westeuropa weiter abgeflacht. Die durchschnittliche Wachstumsrate des Bruttoinlandsproduktes zwischen 1980 und 1990 lag bei 2,3 %, während jene Veränderungsraten für die USA und Japan deutlich höher lagen. Das Jahrzehnt war von der Diskussion über die Rolle des Staates geprägt: Mit Ronald Reagan in den USA und Margaret Thatcher in Großbritannien standen Personen an den Spitzen der beiden Länder, die umfassende Reformen der marktwirtschaftlichen 1.3 Die Entwicklung seit der Mitte des 20.-Jahrhunderts 29 <?page no="30"?> Ordnung einforderten. Weniger staatliche Koordinierung, Privatisierung öffentlicher Unternehmen, Senkung der Steuerlast waren wesentliche Themen der Debatte, mit erheblichen mittelfristigen Auswirkungen auf die Umgestaltung der Wirtschaftspolitik in westlichen Industrieländern. Die Entwicklung der europäischen Einigung in den 1980er-Jahren 1981 kam es zur zweiten Erweiterung der EWG. Griechenland wurde neues Mitglied. In der dritten Erweiterung kamen am 1. Januar 1986 Spanien und Portugal hinzu, die Zahl der Mitglieder war somit auf 12 angestiegen. Zwar hatten die Mitgliedstaaten der EWG den Freihandel auf den Gütermärkten grundsätzlich verwirklicht und auch die Zölle für den Warenverkehr mit Drittländern vereinheitlicht, die europäischen Länder hatten sich jedoch bereits im Vertrag von Rom anspruchsvollere Ziele gesteckt, die Kooperation sollte weit über eine Freihandelszone hinausgehen. Im Jahr 1986 verabredeten die Mitgliedsländer der Europäischen Wirtschaftsgemein‐ schaft in der „Einheitlichen Europäischen Akte“ einen echten Binnenmarkt zu schaffen, d. h. einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem die „vier Freiheiten“, der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital, gewährleistet sind. Das Zieldatum für die Erreichung dieser Freiheiten war der 31. Dezember 1992. Durch die Beseitigung aller Hemmnisse im innergemeinschaftlichen Handel sollten die nationalen und bis dahin fragmentierten Märkte zu einem einheitlichen gemeinsamen Markt verschmelzen. In der Folge wurden zahlreiche Maßnahmen beschlossen, physi‐ sche, technische und steuerliche Hindernisse wurden beseitigt. Verknüpft mit der Idee des freien Personenverkehrs war das Ziel der Abschaffung der Kontrollen an den Grenzen zwischen den Mitgliedstaaten. Am 14. Juni 1985 wurde in Schengen das nach dieser Stadt bezeichnete Schengen-Abkommen unterzeichnet, an dem sich einige, aber nicht alle Mitglieder der europäischen Gemeinschaft beteiligten. Das Abkommen gilt als ein Beispiel für ein Europa der zwei Geschwindigkeiten. Box 3-|-Europa der zwei Geschwindigkeiten Die Grundidee der Europäischen Gemeinschaft bestand in dem Aushandeln gemeinsamer Integrationsschritte, die von allen Mitgliedsländern grundsätzlich gleichzeitig vollzogen werden. Je mehr Länder Mitglieder einer Gemeinschaft und je heterogener die Gegebenheiten und Interessen sind, desto schwieriger ist es, Integrationsvorhaben zu verabreden, die den Präferenzen und Möglichkeiten aller Mitgliedsländer entsprechen. Seit den 1980er-Jahren mehren sich die Vorschläge, in ausgewählten Bereichen Mitgliedern der Gemeinschaft die Entscheidung zu über‐ lassen, einen Integrationsschritt später zu vollziehen, und damit zwei oder mehr Gruppen zu haben, welche die Integration mit unterschiedlicher Geschwindigkeit vollziehen. Das Schengen-Abkommen und die Einführung des Euros sind die 30 1 Geschichte der europäischen Integration <?page no="31"?> bekanntesten Beispiele für die Vereinbarung einer vertieften Integration, die aber zunächst nur von einer kleineren Gruppe umgesetzt wird. Getrennt davon handelt es sich bei dem Konzept „Europa à la carte“ um die Idee, dass Mitgliedstaaten auch dauerhaft unterschiedliche Integrationswege beschreiten. Statt stets gemeinsam voranzuschreiten, wählen Länder jene Bereiche aus, in denen die Integration gewollt wird. Die Heterogenität der wirtschaftlichen Entwicklung innerhalb der Europäischen Wirt‐ schaftsgemeinschaft, von Unterschieden in der Ausstattung mit Produktionsfaktoren, der Einbindung in die Weltwirtschaft und der wirtschaftspolitischen Ausrichtung hatte erhebliche Spannungen innerhalb des Europäischen Währungssystems zur Folge. Währungsparitäten wurden temporär ausgesetzt, Paritäten wurden wiederholt angepasst, Regierungen stritten über die richtige Wirtschaftspolitik, wie dies Anfang der 1980er-Jahre zwischen Deutschland und Frankreich der Fall war, bevor schließlich der Franc abwertete, die DM aufwertete und die französische Regierung zu einer fiskalisch konservativen austeritätsorientierten Politik wechselte (vgl. Eichengreen 2007, S.-286-290). ⁈ Verständnisfrage | Was sind die Vorteile eines Europas der zwei Geschwin‐ digkeiten, was sind die Nachteile? 1.3.6 Die 1990er-Jahre Die politische und wirtschaftliche Entwicklung in den 1990er-Jahren Die 1990er-Jahre waren durch die historische Umwälzung in Osteuropa geprägt (vgl. Delouche 2012, S. 416-430). Staaten, die bis dahin kommunistisch regiert wurden, erhielten die Freiheit, sich für Demokratie und Marktwirtschaft zu entscheiden. Am 3. Oktober 1990 wurde die deutsche Einheit vollzogen, die Zahl der Bürger der Gemeinschaft wuchs um 20 Millionen. In Polen wurde 1990 der ehemalige Gewerk‐ schaftsvorsitzende Lech Walesa zum Präsidenten des Landes gewählt. Auch Litauen, Lettland und Estland, die ihre Unabhängigkeit erlangt hatten, entschieden sich für Demokratie und Rechtsstaat. Die Tschechoslowakei spaltete sich 1993 in die Slowakei und die Tschechische Republik auf, beide Länder führten demokratische Strukturen ein. Ungarn ging einen friedlichen Weg zur Demokratie. Die Aufteilung Jugoslawiens verlief hingegen dramatisch. Nur nach heftigen kriegerischen Auseinandersetzungen, die auch die Außenpolitik der Europäischen Union an die Grenzen der damaligen Leistungsfähigkeit führte, entstanden schrittweise die Staaten Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Mazedonien, Montenegro, Serbien und Slowenien und mit großer zeitlicher Verzögerung Kosovo (vgl. Delouche 2012, S.-424-431). 1.3 Die Entwicklung seit der Mitte des 20.-Jahrhunderts 31 <?page no="32"?> Mit den Veränderungen in Osteuropa und dem Ende der sowjetischen Vorherrschaft in Osteuropa schien der Kalte Krieg beendet. Rüstungsausgaben wurden in allen Ländern zurückgefahren, der Anteil der Rüstungsausgaben am BIP sank in der Euro‐ päischen Union von 2,7-% im Jahr 1990 auf 1,9-% im Jahr 2000. Das Wachstum der Volkswirtschaften der Europäischen Union schwächte sich währenddessen weiter ab. Der Abstand zwischen den Ländern der EU und den USA weitete sich aus, die Wachstumsraten der USA waren in den 1970er-, 1980er- und 1990er-Jahren höher als in Westeuropa. In der Folge wurde in den 1990er-Jahren intensiv über die Zukunft des europäischen Wirtschafts- und Sozialmodells diskutiert. Box 4-|-Diskussion über „Spielarten der Marktwirtschaft“ Es gibt verschiedene Varianten der Marktwirtschaft. Sie unterscheiden sich hin‐ sichtlich ihrer Corporate-Governance-Systeme und des Selbstverständnisses des unternehmerischen Sektors, der industriellen Beziehungen, der wohlfahrtsstaatli‐ chen Absicherung, der Rolle des Finanzsystems, der Koordination zwischen dem Staat und der Zivilgesellschaft und anderes mehr. Der Franzose Albert brachte dies auf die häufig zitierte Formel „angelsächsische Form des Kapitalismus“ oder „Rheinischer Kapitalismus“ (vgl. Turowski 2006, S.-32-35). Das angelsächsische Modell basiert auf einer eindeutigen liberalen Orientierung. Ihm wird eine Offenheit für radikale Innovationen und schnelle strukturelle Ände‐ rungen zugeschrieben. Das Modell des „Rheinischen Kapitalismus“ hingegen wird als ein System beschrieben, welches gesellschaftliche Kompromisse aushandelt, durch eine stärkere wohlfahrtsstaatliche Orientierung geprägt ist und dem Staat und der Zivilgesellschaft eine wichtige Rolle in der Koordination der Politik zuweist. Ihm wird eine Neigung zu inkrementellen Innovationen nachgesagt (vgl. Eichengreen 2007). Eine andere Unterscheidung, die ebenfalls eine Dichotomie kapitalistischer Ord‐ nungen betont, stellt „liberale Marktwirtschaften“ wie die USA oder Großbritan‐ nien den „koordinierten Marktwirtschaften“ wie Deutschland, Frankreich oder Japan gegenüber. In dem „varieties of capitalism“-Konzept werden die vielfälti‐ gen Ausgestaltungsmöglichkeiten marktwirtschaftlicher Systeme untersucht (vgl. Hall/ Soskice 2001). Wichtig, aber gegenwärtig unbeantwortet, bleibt die Frage, ob es die generelle Überlegenheit des einen oder anderen Systems gibt, und wie die Systeme in Zeiten der Globalisierung mit den Herausforderungen umgehen (vgl. Hall 2015). Obgleich eine gewisse Konvergenz der Systeme unbestritten ist, bleibt offen, wie weit diese Konvergenz gehen soll bzw. gehen wird. 32 1 Geschichte der europäischen Integration <?page no="33"?> In Westeuropa war diese Diskussion Ergebnis der Wachstumsraten der Volkswirt‐ schaften, der Arbeitslosigkeit in vielen Ländern und wachsender Belastungen für öffentliche Haushalte (vgl. Eichengreen 2007, S. 382-384). In Osteuropa mussten sich die Staaten nach der Öffnung entscheiden, wie sie ihre Sozialsysteme, Unternehmens‐ verfassungen, Finanzsysteme und ihr Staatswesen ordnen wollten. Die staatlichen Strukturen waren grundlegend diskreditiert (gleichwohl in vielen Ländern weiterhin sehr einflussreich) und wurden von der Bevölkerung mit großer Skepsis gesehen. Andererseits waren die Erwartungen an die soziale Absicherung in vielen Ländern groß, zumal das Pro-Kopf-Einkommen im Vergleich zu westeuropäischen Ländern im Durchschnitt weniger als 30 % betrug und durch die Transformation zunächst weiter einbrach. Die Entwicklung der europäischen Einigung in den 1990er-Jahren Das Binnenmarktprojekt, das Mitte der 1980er-Jahre gestartet wurde, zeigte Erfolge, der Abbau weiterer Hemmnisse, die Umsetzung der vier Freiheiten kam voran und wurde offiziell als erreicht verkündet (vgl. Brunn 2017). Die Länder der Europäischen Gemeinschaft reagierten auf die politischen Umwäl‐ zungen in Europa mit einer umfassenden Reform der Institution. In dem Vertrag von Maastricht, der am 7. Februar 1992 unterzeichnet wurde und 1993 in Kraft trat, wurde das Spektrum der gemeinschaftlich verantworteten Politikfelder ausgeweitet. Die Kooperation im Bereich Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) wurde ebenso wie jene im Bereich der Innenpolitik und Justiz in den Aufgabenkatalog des Integrations‐ bündnisses aufgenommen („Drei-Säulen-Struktur“). Mit dem Vertrag von Maastricht wurde „Europäische Union“ der offizielle Name (vgl. Delouche 2012, S.-418-431). Der Maastricht-Vertrag enthielt auch den Beschluss, eine gemeinsame Währung zu etablieren. In kurzer Zeit wurde dieses anspruchsvolle Integrationsprojekt umge‐ setzt. Das Europäische Währungsinstitut und schließlich das Europäische System der Zentralbanken mit der Europäischen Zentralbank (EZB) wurden geschaffen und die gemeinsame Währung am 1. Januar 1999 eingefürt (vgl. Issing 2023). 1995 kam es zur vierten Erweiterungsrunde. Österreich, Finnland und Schweden wurden am 1. Januar 1995 Mitglieder der Europäischen Union. Vor dem Hintergrund der historischen Transformation in Osteuropa stellten zehn Länder Osteuropas in den Jahren 1994 bis 1996 Anträge auf Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Box 5-|-Gibt es eine optimale Größe der EU? Auch wenn ein numerischer Wert für die ökonomisch wünschenswerte Zahl an Mitgliedsländern der EU nicht a priori angegeben werden kann, können aus der Theorie der Clubs (vgl. Buchanan 1965) Hinweise abgeleitet werden, wie die optimale Größe einer Gemeinschaft bestimmt werden kann. 1.3 Die Entwicklung seit der Mitte des 20.-Jahrhunderts 33 <?page no="34"?> N, K N‘, K‘ Mitgliederzahl (M) Mitgliederzahl (M) N K M 0 M* M* K‘ N‘ Abb.-3: Clubtheorie - optimale Mitgliederzahl bei gegebener Clubgröße In → Abb. 3 wird dies am Beispiel eines Tennisvereins für eine gegebene Ausstat‐ tung (Clubhaus, Anzahl an Tennisplätzen) illustriert (vgl. Leach 2006, S. 188ff.). Ist die Mitgliederzahl (M) noch gering, wird sich der individuelle Nutzen (N) eines Clubmitglieds mit zunehmender Mitgliederzahl zunächst erhöhen, da die Chance steigt, geeignete Partner vergleichbarer Spielstärke zu finden. Bei Überschreiten eines bestimmten Schwellenwertes (M 0 ) für die Mitgliederzahl vermindert sich der Nutzen jedes Clubmitglieds, weil etwa Plätze zu den gewünschten Spielzei‐ ten schon reserviert sind. Für eine gegebene Anzahl an Vereinsmitgliedern gilt umgekehrt, dass der Nutzen jedes Mitglieds mit zunehmender Clubausstattung steigt: Ein Ausweichen auf weniger präferierte Termine ist nicht erforderlich, je mehr Tennisplätze zur Verfügung stehen. Der Nutzenzuwachs eines weiteren Tennisplatzes für ein Clubmitglied dürfte allerdings mit zunehmender Clubgröße abnehmen. Hängen die Kosten des Tennisclubs proportional von der Clubausstattung ab, gilt bei gleicher Aufteilung der Clubkosten auf die Mitgliederzahl, dass die auf jedes Mitglied entfallenden Kosten (K) mit zunehmender Mitgliederzahl sinken. 34 1 Geschichte der europäischen Integration <?page no="35"?> Die optimale Mitgliederzahl (M*) eines Clubs gegebener Größe ist erreicht, wenn die Differenz zwischen den individuellen Nutzen und Kosten maximal ist. Dies ist im Schnittpunkt von Grenznutzen (N') und Grenzkosten (K') der Fall (vgl. Klump 2020). Der Ansatz lässt sich modifiziert für die beiden Dimensionen optimale Mitglie‐ derzahl und optimale Integrationstiefe auf die EU übertragen. Die Union bietet Clubgüter (z. B. Handelsintegration) an, die ausschließlich den Mitgliedern zur Verfügung stehen. Die Vorteile der Bereitstellung dieser Güter sind umso ausge‐ prägter, je mehr Mitgliedsländer beteiligt sind. Ist die Handelsintegration schon weit fortgeschritten, dürften nur noch geringere Handelszuwächse aus einer Erweiterung der Union erwartet werden. Demgegenüber stehen die Kosten der Aufnahme weiterer Mitgliedsländer, da der Abstimmungsprozess innerhalb der EU komplizierter wird und die Entscheidungskosten umso höher sind, je stärker die Präferenzen der Mitgliedsländer divergieren. Da das Clubgut Handelsintegration die Form der Zollunion wie darüber hinaus auch des Binnenmarktes annehmen kann, lässt sich für alternative Vertiefungsgrade eine optimale Mitgliederzahl wie für alternative Mitgliederzahlen eine optimale Integrationstiefe bestimmen (vgl. Ohr 2007, Schemm-Gregory 2010). Die EU beschloss auf einem Gipfel in Dänemark die anzuwendenden Kriterien für die Aufnahme neuer Mitglieder, die „Kopenhagen-Kriterien“: Erfüllt sein müssen das • Politische Kriterium: institutionelle Stabilität als Garantie für eine demokrati‐ sche und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten. • Wirtschaftliche Kriterium: funktionsfähige Marktwirtschaft und die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der Union standzuhalten. • Acquis-Kriterium: Fähigkeit, die aus der Mitgliedschaft erwachsenden Verpflich‐ tungen zu übernehmen und sich die Ziele der politischen Union sowie der Wirtschafts- und Währungsunion zu eigen zu machen. Sogenannte Europaabkommen, die zwischen 1995 und 1998 in Kraft traten, regelten die Zusammenarbeit mit den Ländern Osteuropas und mit einer Vielzahl von Hilfspro‐ grammen begleitete die EU den Transformationsprozess. 1.3.7 Das erste Jahrzehnt des 21.-Jahrhunderts Die politische und wirtschaftliche Entwicklung im ersten Jahrzehnt des 21.-Jahrhunderts Das Jahrzehnt war eine Phase der Neuordnung. Staaten und Bündnisse suchten nach einem adäquaten Rollenverständnis. Dass aber nicht nur traditionelle militärische Konflikte, sondern auch terroristische Akte bedrohlich werden können, machte der 1.3 Die Entwicklung seit der Mitte des 20.-Jahrhunderts 35 <?page no="36"?> Anschlag am 11. September 2001 deutlich. Auch Europa war gefordert, die eigene Rolle in der Weltpolitik zu klären. Dies galt insbesondere für die eigenen Nachbarregionen wie Russland, Zentralasien, Naher Osten und Nordafrika. Die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise im Jahr 2008 führte zu den höchsten Rückgängen der Wirtschaftsleistung in den Industriestaaten seit der großen Depres‐ sion 1929. Die Wirtschaftsleistung in der EU-27 sank im Jahr 2009 gegenüber dem Vorjahr um 4,3 %, in den Ländern des Baltikums gar um mehr als 14 %. Allein Polen konnte eine positive Wachstumsrate verzeichnen. Die Rettung der Banken bzw. Bankensysteme, die Ausweitung fiskal- und sozialpolitischer Programme trieb die Staatsverschuldung in die Höhe. In zwölf Staaten der Europäischen Union lag die Staatsverschuldung im Jahr 2010 über dem Schwellenwert von 60-% des BIP. Die Entwicklung der europäischen Einigung in dem ersten Jahrzehnt des 21.-Jahrhunderts Die Europäische Union erkannte einen erheblichen Reformbedarf der Wirtschafts- und Sozialordnung an. Im Jahr 2000 wurde daher die „Lissabon-Strategie“ verabschiedet, ein Strategiepapier, das die Maßnahmenbereiche beschrieb, welche angegangen werden sollten, um die Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union zu erhöhen. Das Ziel war wenig bescheiden beschrieben (vgl. Europäischer Rat 2000): Die Union sollte zum „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt“ werden, ein Wirtschaftsraum sollte entstehen, „der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu erzielen“. Gleichzeitig enthielt die Lissabon-Strategie ein eindeutiges Bekenntnis zu einem Europa, welches grundsätzlich an den gewachsenen Wertvorstel‐ lungen und institutionellen Strukturen festhält, diese aber weiterentwickelt. Am 1. Mai 2004 schließlich erfolgte die große Osterweiterung der Europäischen Union. Die drei baltischen Staaten Estland, Lettland, Litauen, die fünf mitteleuropäi‐ schen Staaten Polen, Ungarn, Slowenien, die Slowakei und Tschechien und die beiden Mittelmeerstaaten Malta und Zypern wurden Mitglied der Europäischen Union. Im Jahr 2007 stießen die beiden osteuropäischen Staaten Bulgarien und Rumänien ebenfalls hinzu. Die EU umfasste damit 27 Mitgliedsländer, die Zahl der Einwohner betrug 500 Millionen. Die Reform der Europäischen Union im Rahmen des Vertrages von Nizza, am 26. Februar 2001 unterzeichnet und am 1. Februar 2003 in Kraft getreten, war nur ein kleiner, generell als unzureichend eingeschätzter Schritt auf dem Weg, die Europäische Union den neuen Herausforderungen anzupassen. Im Jahr 2003 entschieden sich die Mitglieder für die Einberufung eines Konvents zur Zukunft der Europäischen Union. Dieser schlug nach intensiven Beratungen eine Reform der Europäischen Union vor. Eine „Europäische Verfassung“ wurde von den Staats- und Regierungschefs unterzeichnet. Diese wurde jedoch in der Nachfolge in den zwei Gründerstaaten Frankreich und Niederlande von der Bevölkerung abgelehnt. Eine Überarbeitung der 36 1 Geschichte der europäischen Integration <?page no="37"?> geplanten Strukturen und Dokumente führte schließlich zum Lissabon-Vertrag, der unterzeichnet wurde und seit 2009 die rechtliche Grundlage für die Kooperation darstellt. Die Einführung des Euros wurde zu Beginn des Jahrzehnts als erfolgreich einge‐ schätzt, der Tenor der Feierlichkeiten anlässlich des zehnjährigen Jubiläums der Einführung im Jahr 2009 war überwiegend positiv. Die Inflationsrate in der Eurozone lag zwischen 2000 und 2010 stets unter 2,5 %. Auch der Außenwert erwies sich als stabil, die anfängliche Abwertung gegenüber dem US-$ im Jahr 2000 war von kurzer Dauer. Ende des Jahrzehnts zeigte sich jedoch, dass externe Schocks, die Mitgliedstaaten ganz unterschiedlich treffen, eine Zone mit einheitlicher Währung an die Grenzen ihrer Belastbarkeit führen. 1.3.8 Das zweite Jahrzehnt des 21.-Jahrhunderts Entwicklung der politischen und wirtschaftlichen Ordnung Im Zuge der Ukraine-Krise mit der russischen Invasion der Krim im März 2014 errei‐ chen die Ost-West-Beziehungen einen neuen Tiefpunkt. Wechselseitige Schuldzuwei‐ sungen, Visaverbote, Vermögenseinfrierungen, gegenseitige Wirtschaftssanktionen und weitere Schritte wie der Ausschluss Russlands von den G8-Treffen kennzeichnen das schwierige Verhältnis; vor einer Rückkehr zur Epoche des Kalten Krieges wird gewarnt. Box 6-|-Östliche Partnerschaft der EU Im Zuge der im Jahr 2009 beschlossenen „Östlichen Partnerschaft“ zwischen der EU und den Nachbarstaaten und ehemaligen Sowjetrepubliken Ukraine, Moldau, Georgien, Belarus, Armenien und Aserbaidschan kam es seit 2013 zu schweren Verwerfungen mit Russland. Der Verzicht auf die Unterzeichnung des Assoziierungs‐ abkommens zwischen der EU und der Ukraine nach russischer Einflussnahme führte dazu, dass sich in Kiew und den pro westlichen Landesteilen Widerstand gegen die Regierung formierte („Euromaidan“). Den Umsturz in der Ukraine nahm Russland zum Anlass, die Krim zu annektieren und durch Unterstützung der Separatisten die Ostukraine zu destabilisieren. Nach dem Scheitern der Friedensbemühungen auf der Grundlage des Protokolls von Minsk (Minsk I) wurde mit dem Abkommen vom 12. Februar 2015 (Minsk II) erneut vereinbart, den Kriegszustand in der Ostukraine zu beenden und eine politische Lösung des Konfliktes zu finden (vgl. Deutscher Bundestag 2022). Dieses Ziel wurde nicht erreicht. Mit der Östlichen Partnerschaft als Teil der Europäischen Nachbarschaftspolitik ist beabsichtigt, die politische Anbindung und wirtschaftliche Integration mit den Partnerländern in Osteuropa und im Südkaukasus voranzubringen (vgl. Europäi‐ scher Rat/ Rat der Europäischen Union 2024). 1.3 Die Entwicklung seit der Mitte des 20.-Jahrhunderts 37 <?page no="38"?> Durch den Bürgerkrieg in Syrien, die Unruhen in mehreren nordafrikanischen Län‐ dern, Unterdrückung und Gewalt in einigen Subsahara-Staaten und die Bedrohung durch die Terrormiliz „Islamischer Staat“ sah sich Europa wachsenden Flüchtlingsströ‐ men gegenüber. Die Flüchtlinge gelangten ungesteuert und unkontrolliert auf dem Landweg über die Türkei, Griechenland und über die Balkanroute in die Zielländer oder auf dem in Schlepperbooten lebensgefährlichen Seeweg über das Mittelmeer vor allem nach Italien und Malta. Unterschiedliche Interessen zwischen den östlichen und westlichen Mitgliedsländern der EU wie innerhalb der westlichen Staaten erschweren eine einvernehmliche und solidarische Lösung der Flüchtlingskrise (vgl. Mak 2020). Grenzziehungen und Grenzkontrollen innerhalb Europas bedrohen die Freizügigkeit des Personenverkehrs in der EU und fördern die Renationalisierung Europas. Mit dem Ziel, die Migration über die Ägäis nach Europa einzudämmen, wurde zwischen der EU und der Türkei ein Flüchtlingsabkommen (Erklärung EU-Türkei vom 18. März 2016) getroffen, das insbesondere Vereinbarungen zur Rückführung und Verteilung bzw. Austausch von Flüchtlingen enthält. Im Gegenzug wurden der Türkei Zugeständnisse bei Visa-Liberalisierungen sowie den EU-Beitrittsgesprächen in Aussicht gestellt und Finanzhilfen zur Versorgung der Menschen in den Flüchtlingslagern zugesichert. Für eine dauerhafte Bewältigung der Migrationskrise, die an den Fluchtursachen ansetzt, ist die Kooperation der EU mit den Herkunftsländern der Flüchtlinge und den Transitstaaten unerlässlich. In der Türkei scheitert Mitte des Jahres 2016 ein Putschversuch von Teilen des Militärs gegen die Regierung, der mit der Verhängung des Ausnahmezustands weit‐ reichende Durchgriffsrechte zur Verfügung stehen. Angesichts der massiven Verhaf‐ tungs- und Entlassungswelle in weiten Teilen der Gesellschaft wurde angemahnt, Rechtsstaatlichkeit und die Prinzipien der Europäischen Menschenrechtskonvention einzuhalten. Mit Annahme des Referendums zur Verfassungsänderung (16. April 2017) ist der Umbau des politischen Systems in der Türkei zu einem autokratischen Präsidi‐ alsystem beschlossen. Mit der Inauguration des amerikanischen Präsidenten Donald Trump im Januar 2017 war eine Wende in den transatlantischen Beziehungen verbunden. Dessen Strategie beinhaltete eine Absage des Präsidenten an eine enge Abstimmung mit Europa. Dies betraf sowohl die Positionen in der Außen- und Sicherheitspolitik, was die USA als globale Ordnungsmacht oder die Relativierung der NATO anging, als auch in der Wirtschaftspolitik, wenn anstelle von Freihandel mehr auf Isolation und Protektionis‐ mus gesetzt wurde. Auch in anderen Politikfeldern wie z. B. in der Klimapolitik mit dem temporären Ausscheren der USA aus dem Pariser Klimaabkommen wurde die internationale Zusammenarbeit erschwert. In Reaktion auf diese Entwicklungen wurde ein stärkerer Zusammenhalt in Europa beschworen. 38 1 Geschichte der europäischen Integration <?page no="39"?> Box 7 |-„America first“ We assembled here today are issuing a new decree to be heard in every city, in every foreign capital, and in every hall of power. From this day forward, a new vision will govern our land. From this moment on, it’s going to be America First. Every decision on trade, on taxes, on immigration, on foreign affairs, will be made to benefit American workers and American families. We must protect our borders from the ravages of other countries making our products, stealing our companies, and destroying our jobs. Protection will lead to great prosperity and strength. Quelle: The White House President Donald J. Trump 2017 Im Kampf gegen den weltweiten Klimawandel einigten sich 195 Vertragspartner im Übereinkommen von Paris darauf, langfristig den Anstieg der Erderwärmung auf deutlich unter 2 ° C (möglichst 1,5 ° C) zu begrenzen. Dies geht einher damit, den Ausstoß von Treibhausgasen wie Kohlendioxid zu reduzieren. So ist der Ausbau regenerativer Energien und eine effiziente Energieversorgung ebenso erforderlich wie Maßnahmen in den Sektoren Verkehr, Land- und Forstwirtschaft oder Bauwesen. Anders als die USA hat die EU im Vorfeld der Klimakonferenz 2019 in Madrid das Erreichen von Klimaneutralität (European Green Deal) bis Mitte des 21. Jahrhunderts angekündigt (vgl. Europäische Kommission 2019). Weltwirtschaftlich bildeten sich Staaten, die noch in den 1980er- und 1990er-Jahren durch Schuldenkrise, niedrige Wachstumsraten und Unterentwicklung geprägt waren, zu machtvollen Volkswirtschaften heraus. Besonders China ist bestrebt, mit seiner Stra‐ tegie der „Neuen Seidenstraße“ ein über Kontinente übergreifendes Handelsnetzwerk zwischen Asien, Afrika und Europa zu schaffen und seinen geopolitischen Einfluss auszubauen. Das Treffen der G8-/ G7-Staaten wurde um das Treffen der G20-Staaten ergänzt, da zunehmend internationale Übereinkommen nicht mehr ohne einige erfolgreiche Schwellenländer konsensfähig waren und sind. Währenddessen kämpften die westli‐ chen Industrieländer mit den Folgen der Wirtschaftskrise. In den USA gab es massive fiskalpolitische und geldpolitische Interventionen: Die Staatsverschuldung, gemessen am Bruttoinlandsprodukt wuchs stark an. Die Zentralbank der USA stützte mit umfangreichen Käufen von Staatsanleihen die konjunkturelle Entwicklung. In Europa war der fiskalpolitische Impuls geringer, auch die geldpolitische Intervention war zunächst deutlich zurückhaltender und änderte sich erst im Verlauf der Krise, die zu einer Krise der gemeinsamen Währung mutierte. Um der schnell weltweit erfolgten Ausbreitung des im Dezember 2019 in China erstmals beobachteten Corona-Virus (SARS-COV-2) zu begegnen, wurden in vielen Ländern einschneidende gesundheitspolitische Maßnahmen beschlossen, die eine allgemeine Einschränkung des sozialen Lebens („social distancing“) mit gravierenden Auswirkungen für die Volkswirtschaften zur Folge hatten. 1.3 Die Entwicklung seit der Mitte des 20.-Jahrhunderts 39 <?page no="40"?> Entwicklungen der europäischen Einigung Die siebte Erweiterungsrunde erfolgte im Jahr 2013 mit der Aufnahme Kroatiens. Die Staaten Albanien, die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien, Montenegro, Serbien und die Türkei haben Kandidatenstatus. Mit Montenegro, Serbien und der Türkei finden Verhandlungen statt. Bosnien-Herzegowina und Kosovo sind potenzielle Kandidaten, ihnen wurden Aussichten auf einen Beitritt bei Erfüllung bestimmter Be‐ dingungen zugesagt. Island zog den 2009 beantragten Beitritt zur EU am 12. März 2015 offiziell wieder zurück. Mit Albanien und insbesondere der Republik Nordmazedonien, die durch Umbenennung den langwierigen Namensstreit mit Griechenland beigelegt hat, wurde die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen im Frühjahr 2020 beschlossen. Die stärkste Zerreißprobe ihrer Geschichte erlebte die Union mit der Eurokrise die in der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 ihren Ausgangspunkt hatte, zunächst die Banksysteme mehrerer Länder erschütterte, und aufgrund der Rettung der Banken durch die Regierungen der betroffenen Staaten schließlich auch die Staaten in Bedrängnis brachte. Zweifel an der Zahlungsfähigkeit besonders hoch verschuldeter Länder führten zu Spekulationen über das Ende des Euros. Insbesondere die politische und ökonomische Entwicklung in Griechenland kulminierte in der Frage nach dem Austritt dieses Landes aus der Eurozone. Angesichts der Corona-Pandemie mit nationalen Alleingängen und Grenzschließungen zur Viruseindämmung zeigten sich Spannungen innerhalb der EU, die sich auch in der Auseinandersetzung um die Aufteilung der Krisenlasten („Corona-Bonds“) offenbaren. Da vor allem die Volkswirt‐ schaften in Südeuropa (Italien, Spanien, Griechenland) durch die Epidemie besonders hart betroffen waren, wurde eine starke Wirtschaftskrise befürchtet. Eine große Herausforderung für die Zukunft der Union stellt das Ausscheiden des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union (Brexit) zum 31. Januar 2020 dar. Grundlage dieser Entscheidung war ein Referendum, das am 23. Juni 2016 durch‐ geführt wurde und dessen Ergebnis mit 51,9 % Stimmenanteil zugunsten des Austritts („leave“) ausfiel. Mit Großbritannien verlor die EU ihre zweitgrößte Volkswirtschaft und das Land mit der drittgrößten Bevölkerung; das in der Folge vereinbarte Handels- und Kooperationsabkommen trat am 1. Mai 2021 endgültig in Kraft und mit der 2023 erzielten Einigung über den Windsor-Rahmen (Nordirland-Protokoll) wurde erreicht, eine harte Grenze auf der irischen Insel zu vermeiden und die Integrität des EU-Binnenmarkts zu gewährleisten (vgl. Europäische Kommission 2024). Das Vereinigte Königreich hat häufig den föderalen Vorstellungen der Weiterentwicklung skeptisch gegenübergestanden, ist aber gleichwohl den gemeinsamen europäischen Weg mitgegangen. Andere betonen, dass ohne den ständigen Widerstand der Briten gegen mehr Integration viele wichtige Integrationsschritte möglich gewesen wären, die mit den Briten unmöglich sind. 40 1 Geschichte der europäischen Integration <?page no="41"?> 1.3.9 Die 2020er-Jahre Die politische und wirtschaftliche Entwicklung in den 2020er-Jahren Die Corona-Pandemie prägte weltweit den Beginn der 20er-Jahre. Die hohe Zahl der Todesopfer und die Sorge über eine Überlastung der Gesundheitssysteme veran‐ lasste die Staaten der Welt, umfassende Kontaktbeschränkungen zu erlassen, mit erheblichen Konsequenzen für das gesellschaftliche Leben. Die Auswirkungen auf die Wirtschaft waren massiv. Probleme in den Lieferketten, ob national oder interna‐ tional, zeigten plötzlich die Fragilität der ausdifferenzierten Produktionsstrukturen für solche disruptiven Ereignisse. Die verzweigten Fertigungsprozesse waren zwar aus einer kurzfristigen Perspektive effizient, sie erwiesen sich aber nicht als resilient. Die Wirtschaftsleistung brach massiv ein: die durchschnittliche Wachstumsrate des Bruttoinlandsproduktes betrug im Jahr 2020 weltweit -2,9 Prozent, in der Europäischen Union gar -5,6 Prozent (Euroraum: -6,0 Prozent) (vgl. Weltbank 2024). Durch den Versuch der Invasion Ukraines durch russische Truppen, der am 24. Februar 2022 begann, kam es zu niemals erwarteten kriegerischen Handlungen auf europäischem Boden. Der Völkerrechtsbruch und die Wiederkehr des Krieges in Europa führten zu einer umfassenden Neubewertung der internationalen Beziehungen. Das Verhältnis des Westens zu Russland ist spätestens seit dieser Zeit durch offenen Konflikt, eine Vielzahl von Sanktionen, militärische Aufrüstung und Sorge um Eskala‐ tion und Ausweitung des territorial noch begrenzten Krieges geprägt. In der Folge wird in allen Ländern Europas intensiv die Stärkung der Verteidigungsfähigkeit diskutiert, die Militärausgaben wurden erhöht, die NATO wurde neu ausgerichtet und erweitert. Die zunehmend autoritäre innenpolitische Ausrichtung Chinas, die Politik gegen‐ über Taiwan und gegenüber Nachbarländern, die merkantilistisch geprägte handels‐ politische Strategie und die Rolle des Landes in internationalen Organisationen sorgten in vielen Ländern und Organisationen für einen neuen Blick auf China und ein Überdenken der Formen der Zusammenarbeit mit China. Auch die Beziehungen gegenüber den USA werden in vielen Ländern neu justiert. Die innenpolitische Polarisierung in Amerika, die außenpolitische und auch außen‐ wirtschaftliche Neuorientierung in Richtung Asien, der Verlust der Berechenbarkeit der amerikanischen Politik, deutlich erkennbar während der Amtszeit Donald Trumps, erschütterten das Vertrauen in die USA. Dieser neue Blick auf die USA veranlasste Staaten und Staatenbünde, ihre Strategien gegenüber den USA zu überdenken. Der Klimawandel stellt die Weltgemeinschaft vor erhebliche Probleme: Die Kosten für die Vermeidung eines weiteren globalen Temperaturanstiegs und die Kosten für die Anpassung an die bereits nicht mehr vermeidbaren Veränderungen steigen weltweit. Und gleichzeitig ist die Umsetzung einer klimagerechten Politik wegen der langfristigen und der universellen Natur der Kosten und der nicht nur nationalen Wirkungen eine große Herausforderung für die Politik aller Nationen. Wirtschaftspolitisch war der Beginn der 20er-Jahre eine Phase nicht-orthodoxer Maßnahmen: Die Reaktion auf die Corona-Pandemie erforderte das Beschreiten neuer 1.3 Die Entwicklung seit der Mitte des 20.-Jahrhunderts 41 <?page no="42"?> Wege im Bereich der Fiskal- und Geldpolitik und der Arbeitsmarktpolitik. Die Ausein‐ andersetzung mit Russland und die Durchsetzung von Sanktionen stärkten die Rolle des Staates in der Gestaltung des internationalen Handels. Und schließlich bedeutet die Förderung von Klimaprojekten in den Industrie- und Schwellenländern eine stärkere Offenheit für industriepolitische Interventionen. Die Entwicklung der europäischen Einigung in den 20er-Jahren Die Europäische Union reagierte auf die Herausforderung der Pandemie auf meh‐ reren Ebenen: Sie übernahm eine Koordinationsrolle für einige Maßnahmen zur Eindämmung und Bekämpfung der Infektionskrankheit und der damit einhergehenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufgaben der Mitgliedstaaten. Sie entwickelte eine Beschaffungsstrategie für Impfstoffe, schloss Beschaffungsverträge mit Impfstoff‐ herstellern und koordinierte die Verteilung der Vakzine an die EU-Mitgliedstaaten. Länder der EU übernahmen in Überlastungssituationen Patientinnen und Patienten aus Nachbarländern. Um den wirtschaftlichen Auswirkungen zu begegnen, verständigten sich die EU-In‐ stitutionen und die Mitgliedstaaten auf ein zeitlich befristetes Aufbau-Instrument, genannt NextGenerationEU (NGEU). Die EU stellte den Mitgliedstaaten insgesamt Kreditmittel im Umfang von 385,8 Mrd. Euro und Zuschüsse im Umfang von 421,1 Mrd. Euro bereit, um ihnen bei der Bewältigung der sozioökonomischen Auswirkungen der Corona-Pandemie zu helfen. Zur Finanzierung dieser Summe ging die EU neue Wege: Die Mitgliedstaaten ermächtigten die Kommission, entsprechende Mittel an den Kapi‐ talmärkten aufzunehmen. Aus Sicht keynesianischer Ökonomen war dies der längst überfällige Schritt hin zu einer europäischen kreditfinanzierten Konjunkturpolitik. Die globalen Veränderungen zwangen die EU zur außenpolitischen Neupositionie‐ rung. Dem russischen Überfall auf die Ukraine begegnete die EU mit zahlreichen Sanktionen. Die Mitgliedstaaten der EU leisteten umfangreiche Hilfe für die Ukraine und rüsteten militärisch auf. Im Jahr 2023 trat Finnland und im darauffolgenden Jahr Schweden (als 31. und 32. Mitgliedsland) der NATO bei. Die europäische Integration war von Beginn an ein Friedensprojekt. Die Wandlung hin zu einem Bündnis, welches die unterschiedlichen Sichtweisen auf Russland und andere potenzielle Aggressoren in eine gemeinsame Strategie einbindet, Militärhilfe koordiniert, gemeinsame Aufrüstung organisiert, im Bereich Verteidigung gemeinsame Positionen formuliert, ist schwierig und erfordert einen Mentalitätswandel und Ab‐ schied von den weltpolitischen Leitbildern, die noch die 90er-Jahre des 20. Jahrhunderts geprägt hatten. Im Verhältnis zu China wurden neue Strategiekonzepte entwickelt, welche eine Balance zwischen den Polen Kooperation, Wettbewerb und Rivalität suchten. Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen China und der EU sollen weiterhin eine wichtige Rolle spielen, die Abhängigkeiten von der Produktion und den Märkten in China 42 1 Geschichte der europäischen Integration <?page no="43"?> reduziert („De-risking“) werden. Eine vollständige Abkopplung („Decoupling“) wird jedoch nicht intendiert. Während der Amtszeit Donald Trumps wurde das traditionelle Vertrauen in die besondere Qualität der transatlantischen Beziehungen erschüttert. Die Amtszeit von Joe Biden sorgte zwar für eine Entspannung, sowohl in der Substanz als auch im Ton. Doch war auch während dieser Amtszeit erkennbar, dass die EU sowohl politisch, militärisch als auch wirtschaftlich auf mehr Eigenständigkeit setzen muss. Der Infla‐ tion Reduction Act mit seinem industriepolitischen Interventionismus zugunsten der US-amerikanischen Industrie und Beschäftigung war in der Essenz nicht weit entfernt von Trumps Losung „America First“. Auf die Herausforderung des Klimawandels reagiert die EU mit einem umfassenden Paket an Maßnahmen, mit dem Ziel der Klimaneutralität bis 2050. Die EU strebt die Entkopplung von Wachstum und Ressourcennutzung an. Die Emissionen sollen schrittweise gesenkt und die EU als Vorreiter im Kampf gegen den Klimawandel positioniert werden. Im Rahmen des europäischen Green Deals wurden zahlreiche Rechtsvorschriften erlassen, um die Reduktion der Treibhausgasemissionen tatsächlich zu erreichen. Das Emissionshandelssystem wurde aktualisiert, um die privaten Kosten der Umweltverschmutzung in Einklang mit den sozialen Kosten zu bringen. Ein Grenzausgleichssystem soll verhindern, dass die umweltbelastende Produktion in den Raum außerhalb der EU verlagert wird („Carbon Leakage“). Die erste Zeit der 20er-Jahre waren eine Herausforderung für die Gestaltung der Fiskal- und Geldpolitik. Während der Corona-Krise waren die Regierungen in besonderer Weise gefordert, die Wirtschaft zu stabilisieren. Auch in Reaktion auf den Krieg zwischen Russland und Ukraine sowie die Sanktionspolitik und damit verbunden die Umlenkung der Energieimporte agierten Regierungen mit stärkeren Interventionen als dies üblich war. Die industriepolitischen Maßnahmen in den USA und in China fordern die EU heraus, die eigene Rolle zu klären. Industriepolitik, seit Hamilton und List in der wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion stets als Option präsent, ist, wenn sie gelingt, mit großen Vorteilen verknüpft, und gleichzeitig bei einem Scheitern mit großen Nachteilen verbunden. Frankreich nimmt traditionell eine eher befürwortende Rolle ein, die traditionell skeptische Einstellung in Deutschland verliert an Kraft. Eine klare Positionierung der EU und eine Vorstellung, wie eine solche Politik umgesetzt werden kann, ist bisher nicht erkennbar. Viele Mitgliedstaaten der EU hatten in den 10er-Jahren und den ersten Jahren der 20er-Jahre mit innenpolitischen Herausforderungen zu kämpfen, die ähnlich wie in den USA mit Polarisierung beschrieben werden können. Der gesellschaftliche Umgang mit der irregulären Zuwanderung stellte eine besondere Aufgabe dar; neu beschlossene Regelungen zur europäischen Migrations- und Asylpolitik kommen spätestens Mitte 2026 zur Anwendung. Auch die Frage der Sicherung der Rechtsstaatlichkeit in Ländern wie Ungarn oder Polen erwies sich im Rahmen der europäischen Architektur der politischen Zusammenarbeit als schwierig. Schon zu Beginn des Integrationsprozesses in den 60er-Jahren gab es ein gewisses Maß an Heterogenität der Mitgliedstaaten. 1.3 Die Entwicklung seit der Mitte des 20.-Jahrhunderts 43 <?page no="44"?> Doch die Unterschiede sind heute stärker ausgeprägt als zu Beginn der Integration. Die Probleme der Einigung auf eine gemeinsame Linie würden noch stärker werden, wenn die EU tatsächlich der Mitgliedschaft aller oder mehrerer Staaten mit Kandidatenstatus final zustimmen würde. Die Aufnahme zusätzlicher Staaten mit kurzer demokratischer Erfahrung und niedrigem wirtschaftlichen Entwicklungsstand kann erfolgreich sein, wenn das institutionelle Gefüge und die vertraglichen Angelegenheiten der EU refor‐ miert werden. 1.4 Schlussbemerkung Die Entwicklung der heutigen Europäischen Union ist nur vor dem Hintergrund politischer und wirtschaftlicher Ereignisse und Trends zu verstehen. Box 8 |-Die schrittweise Entwicklung der Europäischen Union 1952/ 58 Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg, Niederlande 1973 Beitritt von Dänemark, Vereinigtes Königreich, Irland 1981 Beitritt von Griechenland 1986 Beitritt von Portugal und Spanien 1995 Beitritt von Finnland, Österreich und Schweden 2004 Beitritt von Litauen, Lettland, Estland, Polen, Ungarn, Slowenien, Slowakei, Tschechien, Zypern, Malta 2007 Beitritt von Bulgarien und Rumänien 2013 Beitritt von Kroatien 2020 EU-Austritt des Vereinigten Königreichs Politisch stand die Friedenssicherung in Europa im Vordergrund. Auch der größere weltpolitische Einfluss, der mit einem geeinten Europa einhergeht, die Stärkung der Verhandlungsposition der Europäer waren stets handlungsleitend. Gesellschafts‐ politische Ziele waren gleichfalls relevant: Die Union hat sich immer explizit zu gesellschaftlichen Werten und sozialen Zielen bekannt. Das Bekenntnis gegen die Todesstrafe, das Bekenntnis zur Freizügigkeit innerhalb der EU und der Schutz der sozialen Minderheiten stehen beispielhaft dafür. Wirtschaftlich hat der Binnenmarkt erhebliche Vorteile gebracht, die insbesondere für kleinere Länder mit starken Effizi‐ 44 1 Geschichte der europäischen Integration <?page no="45"?> enzgewinnen durch Spezialisierung und Skaleneffekte verknüpft waren. Der intensive Wettbewerb innerhalb Europas ist langfristig für Konsumenten und Produzenten von Vorteil, er regt Innovationen an. Der Prozess der Integration war nie einfach und schwer vorhersehbar. Viele Re‐ forminitiativen scheiterten zunächst, etwa die engere politische Zusammenarbeit, wurden aber später in anderer Form aufgegriffen und erfolgreich umgesetzt. In dem historischen Rückblick war die Entwicklung eine Abfolge vieler kleiner Schritte, die Entwicklung hin zu mehr Integration war meist eine graduelle („Gradualismus“) in Richtung Erweiterung und in Richtung Vertiefung der Kooperation. Die Politik orientierte sich an dem Erreichen kleiner Veränderungen („Inkrementalismus“). Innerhalb Europas gibt es keinen Konsens über die zukünftige Gestalt der EU, weder geografisch, politisch noch wirtschaftlich. Es gibt kein allgemein akzeptiertes Verständnis der „Finalität Europas“. Soll die EU auf mehr als 30 Mitglieder wachsen? Sind die USA ein Modell auch für Europa (Vereinigte Staaten von Europa)? Bedarf es klarerer und weiterreichender Befugnisse der supranationalen Ebene? Oder passt dies nicht angesichts der Heterogenität der gewachsenen europäischen Kulturen? Sollten weitere Bereiche vergemeinschaftet werden, soll also der Prozess der „Vertiefung“ wei‐ tergehen? Soll es mehr Bereiche geben, in denen Mehrheitsentscheidungen akzeptiert werden, oder ist es vorteilhaft für die Weiterentwicklung der europäischen Integration, wenn konsensuale Entscheidungen gefunden werden? Wäre ein Europa der „zwei Geschwindigkeiten“ besser? In einem Weißbuch der Europäischen Kommission (2017) zur Zukunft der Union sind fünf Szenarien vorgestellt, wie die Union aussehen könnte, je nachdem, welche Entscheidungen in Europa getroffen werden: • Weiter wie bisher: Die Europäische Union konzentriert sich auf die Umsetzung ihrer positiven Reformagenda. • Schwerpunkt Binnenmarkt: Die EU27 wird schrittweise wieder auf den Bin‐ nenmarkt zurückgeführt. • Wer mehr will, tut mehr: Die Europäische Union ermöglicht es Mitgliedstaaten, in bestimmten Bereichen mehr gemeinsam zu machen, wenn sie dies wünschen • Weniger, aber effizienter: Die EU27 fokussiert sich auf ausgewählte Politikbe‐ reiche, rascher mehr Ergebnisse zu erzielen, unternimmt in anderen Bereichen dafür weniger. • Viel mehr gemeinsames Handeln: Die Mitgliedstaaten beschließen, auf allen Politikfeldern ihr gemeinsames Handeln zu intensivieren. Während die Europaidee in der Nachkriegszeit in einigen Ländern Euphorie auslösen konnte, ist dies heute nicht mehr der Fall. Für den langfristigen Erfolg des Integrati‐ onsprojektes stellt dies eine Herausforderung dar, da ein Projekt dieser historischen Dimension der demokratischen Legitimation bedarf. 1.4 Schlussbemerkung 45 <?page no="46"?> ➲ Wichtige Begriffe EWG, EURATOM, Europarat, Vereinigte Staaten von Europa, Föderalismus, Intergou‐ vernementalismus, EFTA, EGKS, Werner-Plan, Europa der zwei Geschwindigkeiten, Spielarten der Marktwirtschaft, Clubtheorie, Kopenhagen-Kriterien, Europäische Ver‐ fassung, Friedensnobelpreis, Erweiterung, Vertiefung. ➲ Literatur Brunn, Gerhard (2017): Die Europäische Einigung von 1945 bis heute, 4. Auflage, Ditzingen, Stuttgart, Reclam Buchanan, James McGill (1965): „An Economic Theory of Clubs“, in: Economica, vol. 32, S. 1-14 Bulmer, Simon/ Parker, Owen/ Bache, Ian/ George, Stephen/ Burns, Charlotte (2020): Politics in the European Union, 5. Auflage, Oxford University Press Cini, Michelle/ Pérez-Solórzano Borragán, Nieves (Hrsg.) (2022): European Union Politics, 7. 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Folgen Sie dem Link oder nutzen Sie den QR-Code. 🔗 https: / / narr.kwaest.io/ s/ 1339 Leitfragen • Welches sind die zentralen Elemente des Europarechts? • Wie wirkt sich das Europarecht auf den Bürger und die Unternehmen in der Europäischen Union aus? • Welche Aufgaben haben die Organe der Europäischen Union und welche Stärken und Schwächen werden ihnen zugeschrieben? 2.1 Einführung Die Europäische Union ist durch eine besondere rechtliche Konstruktion geprägt. Die Unionsverträge bilden den zentralen Rahmen für die Zusammenarbeit der Mit‐ gliedstaaten. Die Verträge, früher Gemeinschaftsverträge genannt, welche seit 1951 bzw. 1957 immer wieder angepasst und aktualisiert wurden, inklusive ihrer Anhänge, Anlagen und Protokolle, sind das rechtliche Fundament der Europäischen Union, sie bilden in der jeweils gültigen Fassung das Primärrecht der Union (vgl. Borchardt 2023, S. 98-100). Auch die völkerrechtlichen Verträge, welche die Gemeinschaft und später die Union mit anderen Staaten unterzeichneten, und allgemeine Rechtsgrundsätze können dem Primärrecht zugeordnet werden. Zielsetzung, Organisation der Arbeit der Union, das konkrete Handeln der Organe und Institutionen der Europäischen Union müssen sich an dem Primärrecht ausrichten Auf Basis der im Primärrecht geregelten Rechte und Verfahren verabschieden die Organe der Union Vorschriften, die ebenso Teile des rechtlichen Rahmens innerhalb der Union sind und als „sekundäres Unions‐ recht“ bezeichnet werden. Diese Rechtsakte sind abgeleitetes Recht (vgl. Krimphove 2023, S.-20-35). 2.2 Grundlegende Aspekte des Rechts der Europäischen Union Der seit 2009 gültige „Vertrag von Lissabon“ besteht im Wesentlichen aus zwei rechtlich gleichrangigen Verträgen und deren Anhängen: In dem „Vertrag über die Europäische <?page no="51"?> Union (EUV)“ sind vor allem die demokratischen Grundsätze, die grundlegende recht‐ liche Ordnung der Union und das auswärtige Handeln der Union und die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik beschrieben. Der „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)“ behandelt insbesondere die internen Politiken der Union. Wesentliche Elemente des institutionellen Europarechts (Regelung der rechtlichen Ordnung, der Institution und Prozesse) finden sich somit im EUV, der Großteil des materiellen Europarechts (Vorschriften, die Politikfelder und Inhalte festlegen) findet sich im AEUV. → Abb. 4 zeigt die historische Entwicklung der zentralen Verträge seit 1951 (vgl. Borchardt 2023, S.-17-23, Europäische Union 2024a). Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) (Vertrag von Paris), unterzeichnet am 18. April 1951, in Kraft getreten am 23. Juli 1952 Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM) (Römische Verträge), unter‐ zeichnet am 25. März 1957, in Kraft getreten am 1. Januar 1958 Fusionsvertrag (Vertrag von Brüssel), unterzeichnet am 8. April 1965, in Kraft getreten am 1. Juli 1967 Einheitliche Europäische Akte (EEA), unterzeichnet am 17. und 28. Februar 1986, in Kraft getreten am 1.Juli 1987 Vertrag über die Europäische Union (Maastricht-Vertrag), unterzeichnet am 6. Februar 1992, in Kraft getreten am 1. November 1993 Vertrag von Amsterdam zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union, der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte (Vertrag von Amsterdam), unterzeichnet am 2. Oktober 1997, in Kraft getreten am 1. Mai 1999 Vertrag von Nizza zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union, der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte (Vertrag von Nizza), unterzeichnet am 26. Februar 2001, in Kraft getreten am 1. Februar 2003 Vertrag über die Europäische Union (EUV) und Vertrag über die Arbeitsweise der Europäi‐ schen Union (AEUV) (Vertrag von Lissabon), unterzeichnet am 13. Dezember 2007, in Kraft getreten am 1. Dezember 2009 Abb.-4: Chronologie der wichtigen Gemeinschaftsverträge Unter das sekundäre Unionsrecht subsumiert man vor allem die rechtskräftig verab‐ schiedeten Verordnungen, Richtlinien und Beschlüsse (vgl. Borchardt 2023, S. 100-102): • Eine Verordnung ist ein verbindlicher Rechtsakt. Sie hat allgemeine Geltung, ist in allen ihren Teilen verbindlich und regelt unmittelbar eine unbestimmte Zahl von Sachverhalten generell und abstrakt. Sie gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat (Artikel 288 AEUV). Es bedarf keiner weiteren Umsetzung in einzelstaatliches Recht. Verordnungen sind gewissermaßen europäische Gesetze. 2.2 Grundlegende Aspekte des Rechts der Europäischen Union 51 <?page no="52"?> • Eine Richtlinie ist für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet ist, in Bezug auf das zu erreichende Ziel verbindlich. Die Mitgliedstaaten sind allerdings in der Wahl der Form und Mittel, diese Ziele zu realisieren, frei (Artikel 288 AEUV). Mitgliedstaaten haben einen Regelungsspielraum, sie können selbst entscheiden, wie sie das verabredete Ziel erreichen. • Beschlüsse sind „in all ihren Teilen verbindlich. Sind sie an bestimmte Adressaten gerichtet, so sind sie nur für diese verbindlich“ (Artikel 288 AEUV). Die Organe der EU veröffentlichen „Empfehlungen“ und „Stellungnahmen“, die aber keine rechtliche Bindungswirkung haben. Inhalt, Grundsätze und Ziele der Verträge, die Rechtsvorschriften, die Erklärungen und andere rechtliche Regelungen bilden den „gemeinschaftlichen Besitzstand“ (Acquis Communautaire). Dieser umfasst alle Rechte und Pflichten, die für jedes Mitglied verbindlich sind. Box 9 |-Besonderheiten des Unionsrechts Direkter Effekt - Die unmittelbare Anwendbarkeit des Unionsrechts im nationalen Recht: Das Unionsrecht hat einen direkten Effekt für die Bürger. Staaten müssen die vertraglichen Verabredungen umsetzen, die Einhaltung ist ein‐ klagbar. Verträge haben die gleiche Wirkung wie Gesetze in den Mitgliedstaaten, Bürger können sich darauf berufen. Primat des Europäischen Rechts: Das europäische Recht hat Vorrang vor natio‐ nalem Recht. Im Fall einer Kollision zwischen europäischem und nationalem Recht gilt das europäische Recht. Der Vorrang des EU-Rechts ist einer der Grundpfeiler des Unionsrechts. Autonomie: Der Gerichtshof der Europäischen Union ist unabhängig von dem Gerichtssystem der Mitgliedsländer. Der Gerichtshof entscheidet eigenständig auf Basis der Rechtsordnung der Union, der Verträge und der allgemeinen Rechts‐ grundsätze (vgl. Borchardt 2023, S.-145-158). Mit der Schaffung einer eigenen Rechtsordnung hat die Europäische Union einen im internationalen Vergleich ungewöhnlichen Weg beschritten. Die Gesetzgebungshoheit der Staaten wurde beschränkt, aus dem Unionsrecht entstehen eindeutige Rechte für die Bürger der Union (direkter Effekt des Unionsrechts), das Unionsrecht hat Vorrang vor nationalem Recht (Primat des Unionsrechts) und schließlich ist der Gerichtshof der Europäischen Union unabhängig und autonom (Autonomie). Das Recht der Europäi‐ schen Union, welches im Lissabon-Vertrag formuliert ist, ist „supranationales Recht“: Es ist internationales Recht, welches die Mitgliedstaaten bindet. Nachdem sich die Mitgliedstaaten dem unterworfen haben, müssen sie Entscheidungen, die gemäß den Regeln des Vertrages zustande kommen, auch akzeptieren und beachten. 52 2 Funktionsweise der Europäischen Union - Der rechtliche und institutionelle Rahmen <?page no="53"?> Für das Verständnis der rechtlichen Struktur ist die im Vertrag von Lissabon expli‐ zit genannte Unterscheidung nach „ausschließlicher“ und „geteilter“ Zuständigkeit wichtig. „Übertragen die Verträge der Union für einen bestimmten Bereich eine ausschließliche Zuständigkeit, so kann nur die Union gesetzgeberisch tätig werden und verbindliche Rechtsakte erlassen“ (Artikel 2 AEUV). Die Union hat gemäß Artikel 3 des AEUV die ausschließliche Zuständigkeit für die Zollunion, für die Festlegung der für das Funktionieren des Binnenmarkts erforderlichen Wettbewerbsregeln, für die Währungspolitik, die Erhaltung der Meeresschätze, die gemeinsame Handelspoli‐ tik und bestimmte internationale Übereinkünfte. In anderen Politikfeldern teilt die Union die Zuständigkeit mit den Mitgliedstaaten, so z. B. für den Binnenmarkt, die Sozialpolitik, die wirtschaftliche, soziale und territoriale Zusammenarbeit, die Landwirtschaft und Fischerei, Umwelt, Verbraucherschutz, Verkehr, transeuropäische Netze und Energie (Artikel 4 AEUV). In diesen Bereichen können sowohl die Union als auch die Mitgliedstaaten gesetzgeberisch tätig werden. Und schließlich gilt gemäß Artikel 4 AEUV, dass alle in den Verträgen nicht übertragenen Zuständigkeiten bei den Mitgliedstaaten liegen. Diese vertraglich fixierten Aufgabenabgrenzungen dürfen nur die Mitgliedstaaten ändern, nur ihnen steht zu, die Kompetenzen der Union anders zu regeln, ein mit dem Begriff „Kompetenzkompetenz“ bezeichnetes Prinzip. Ein wichtiges Element der Rechtsordnung ist darüber hinaus der Grundsatz der Subsidiarität. Gemäß diesem Prinzip „wird die Union in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können“ (Artikel 5 EUV). Das Prinzip der Subsidiarität ist ein in der Sozialethik entwickeltes Prinzip, welches die Notwendigkeit der Selbstbestimmung und Selbstverantwortung betont: Das Indi‐ viduum ist zunächst für sich selbst verantwortlich, diese Selbstverantwortung ist Recht und Pflicht zugleich und gehört zur Menschenwürde. Die übergeordnete Einheit, z. B. die Familie, sollte nur dann eingreifen, wenn das Individuum zur Problemlösung nicht in der Lage ist. Reichen weder die Möglichkeiten des Einzelnen noch der Familie aus, so ist die Hilfestellung durch öffentliche Stellen sinnvoll und vertretbar. Bezogen auf ein politisches Mehrebenensystem bedeutet Subsidiarität, dass Leistungen der höheren Ebene nur dann erforderlich sind, wenn die tiefere hierarchische Ebene damit überfordert ist. In Politikfeldern, in denen die geteilte Zuständigkeit gilt, ist eine Regelung auf der EU-Ebene nur dann zulässig, wenn klare Kriterien zeigen, dass eine Regelung auf nationaler Ebene schlechter ist. Gemäß der Regelung im Primärrecht der Union können hierarchisch niedrigere Ebenen gegen die Union klagen, wenn eine EU-Regelung gegenüber einer Regelung auf nationaler oder regionaler Ebene keinen Mehrwert im Sinne eines Effizienzgewinns erbringt (vgl. Pelkmans 2006, S.-36-52). Ob in einer Gemeinschaft eine einheitliche zentrale Lösung oder differenzierte dezentrale Lösungen sinnvoll sind, ist abhängig von einer Vielzahl von Faktoren (vgl. Berger/ Harendt/ Heinemann u. a. 2017, Stehn 2017). Die Berechenbarkeit und Verant‐ 2.2 Grundlegende Aspekte des Rechts der Europäischen Union 53 <?page no="54"?> wortlichkeit der politischen Ebene, das Vorliegen externer Effekte und Skaleneffekte bei der Gestaltung von Politik sind häufig wichtig. In der ökonomischen Theorie werden drei Aspekte besonders beleuchtet: die Heterogenität der Präferenzen, die Informationsasymmetrie und der Wettbewerb um Ideen. Box 10 | Ökonomische Argumente zur Entscheidung über die optimale Verant‐ wortungsebene Ein erstes Argument bezieht sich auf die Heterogenität der Präferenzen der Men‐ schen aufgrund unterschiedlicher wirtschaftlicher, politischer oder sozio-kul‐ tureller Bedingungen. Wenn diese Unterschiede erheblich sind, kann eine dezentralisierte und differenzierte Bereitstellung von öffentlichen Leistungen die gesamtwirtschaftliche Wohlfahrt erhöhen, eine zentral entschiedene und einheitlich angebotene staatliche Leistung würde umgekehrt in einigen Teilen ein zu hohes und in anderen Teilen ein zu geringes Angebot an staatlichen Leistungen erbringen. X Z X B GK, MZB Marginale Zahlungsbereitschaft (MZB), Grenzkosten (GK) A B E X A Menge des öffentlichen Gutes N A N Z N B C D GK Abb.-5: Wohlfahrtsgewinn durch Aufteilung eines Zentralstaats in zwei Regionen → Abb. 5 veranschaulicht das Dilemma. Es wird angenommen, dass die Bevöl‐ kerung der Region A eine hohe, durch die Nachfragekurve N A beschriebene Zahlungsbereitschaft (MZB) hat und die niedrige Zahlungsbereitschaft in Region B durch N B beschrieben werden kann. Wenn die Zentralebene das Angebot in der Union an der Nachfrage der Region A ausrichtet, ist dies aus Sicht der Bevölkerung 54 2 Funktionsweise der Europäischen Union - Der rechtliche und institutionelle Rahmen <?page no="55"?> in Region B ein Überangebot. Umgekehrt wäre eine Ausrichtung an der Nachfrage in der Region B aus Sicht der Region A unbefriedigend. Auch die Ausrichtung des Angebotes an einem Durchschnitt der Zahlungsbereitschaft (NZ) löst das Problem nicht, da für beide Teile der Bevölkerung (im Ausmaß der schraffierten Flächen) wohlfahrtssteigernde Lösungen möglich sind. Ein zweites wichtiges Argument basiert auf der Existenz asymmetrisch vorliegen‐ der Informationen. Die Zentrale und die dezentrale Ebene sind unterschiedlich gut informiert über die wirtschaftlichen, politischen und soziokulturellen Bedingun‐ gen und möglichen Handlungsalternativen. Wenn die dezentrale Ebene genauere Kenntnisse besitzt, kann sie mit ihrer Politik eher auf die besonderen Bedingungen der Region eingehen. Ein drittes, aus Sicht des Liberalismus besonders wichtiges Argument ist der Wettbewerb zwischen Regionen um die optimale Lösung gesellschaftlicher Pro‐ bleme oder Herausforderungen. Dezentrale Entscheidungskompetenz erlaubt es den Mitgliedstaaten oder Regionen, eigene Wege zu gehen, der Wettbewerb der Regionen produziert aus dieser Perspektive gesellschaftspolitische Innovationen. Wettbewerb ist nicht nur für Produzenten von privaten Gütern und Dienstleistun‐ gen, sondern auch für staatliche Institutionen ein sinnvoller kreativitäts- und produktivitätsfördernder Mechanismus. Die Frage der Subsidiarität stellt sich nicht nur auf der Ausgabenseite der Union oder der Mitgliedstaaten, sondern auch bezüglich der Besteuerung (vgl. Lipatov/ Weichen‐ rieder 2016). 2.3 Die Organe und Institutionen der Europäischen Union 2.3.1 Parlament Das Europäische Parlament ist zusammen mit dem Rat der Europäischen Union für die Gesetzgebung in der Europäischen Union zuständig (vgl. Borchardt 2023, S. 70-76, Nugent 2017, Part III, Bieber/ Epiney/ Haag u. a. 2021, S. 137-147). Das Parlament ist gemeinsam mit dem Rat für den Haushalt der EU verantwortlich und genehmigt am Ende des Haushaltsverfahrens den Gesamthaushalt. Das Parlament übt die politische Kontrolle über alle Organe der EU aus. Die Ernennung des Kommissionspräsidenten und der Mitglieder der Kommission bedarf der Zustimmung des Europäischen Parla‐ mentes (Artikel 14 EUV). 2.3 Die Organe und Institutionen der Europäischen Union 55 <?page no="56"?> Mitgliedstaat Anzahl der MdEP Anteil an allen MdEP in % Anteil an der EU-Bevölkerung in % Belgien 22 3,0 2,6 Bulgarien 17 2,4 1,4 Dänemark 15 2,1 1,3 Deutschland 96 13,3 18,8 Estland 7 1,0 0,3 Finnland 15 2,1 1,2 Frankreich 81 11,3 15,2 Griechenland 21 2,9 2,3 Irland 14 1,9 1,2 Italien 76 10,6 13,1 Kroatien 12 1,6 0,9 Lettland 9 1,3 0,4 Litauen 11 1,5 0,6 Luxemburg 6 0,8 0,1 Malta 6 0,8 0,1 Niederlande 31 4,3 4,0 Österreich 20 2,8 2,0 Polen 53 7,4 8,2 Portugal 21 2,9 2,3 Rumänien 33 4,6 4,2 Schweden 21 2,9 2,3 Slowakei 15 2,1 1,2 Slowenien 9 1,3 0,4 Spanien 61 8,5 10,7 Tschechien 21 2,9 2,4 Ungarn 21 2,9 2,1 Zypern 6 0,8 0,2 Insgesamt 720 100 100* Abb.-6: Anzahl der MdEP je Mitgliedstaat für die Wahlperiode 2024-2029 (* Rundung) | Quelle: Europäisches Parlament 2024 56 2 Funktionsweise der Europäischen Union - Der rechtliche und institutionelle Rahmen <?page no="57"?> Sitz des Europäischen Parlamentes ist Straßburg, dort finden die Plenarsitzungen statt. In Brüssel finden Sitzungen der Ausschüsse und Fraktionen und kürzere Plenarsitzun‐ gen statt und auch in Luxemburg sind parlamentsbezogene Aktivitäten angesiedelt. Die EU-Bürger wählen alle fünf Jahre die Abgeordneten des Parlamentes in freier direkter Wahl. Die Anzahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments darf 750 zuzüglich des Präsidenten nicht übersteigen. Ab dem Jahr 2024 hat das Parlament 720 Abgeordnete (Beschluss (EU) 2023/ 2061 des Europäischen Rats über die Zusam‐ mensetzung des Europäischen Parlaments). Die → Abb. 6 zeigt für die Wahlperiode 2024-2029 die Verteilung der Sitze im Europäischen Parlament je Mitgliedstaat, die in Anlehnung an den Bevölkerungsanteil der Mitgliedstaaten „degressiv proportional“ erfolgt, wobei jeder Mitgliedstaat mindestens sechs und maximal 96 Abgeordnete hat (Artikel 14 EUV). ⁈ Verständnisfrage | Was spricht für und gegen eine degressiv-proportionale Verteilung der Sitze im Europäischen Parlament? Parlamentarier bilden in der Regel zur Organisation ihrer Arbeit Fraktionen. Die größte Fraktion ist die Fraktion der Europäischen Volkspartei (die sich aus christlich-demo‐ kratischen und bürgerlich-konservativen Parteien zusammensetzt), gefolgt von der Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament und der Fraktion Patrioten für Europa. Das Europäische Parlament arbeitet mit den nationalen Parlamenten der Mitglied‐ staaten zusammen. Die Bedeutung der nationalen Parlamente für die Arbeit der Union wird im Artikel 12 EUV herausgehoben, dort wird die aktive Mitwirkung der nationalen Parlamente an der Arbeitsweise der Union betont. In einem gesonderten Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union wird das Ziel formuliert, eine stärkere Beteiligung der nationalen Parlamente an den Tätigkeiten der EU zu fördern. Regeln für die rechtzeitige Unterrichtung der Parlamente werden festgeschrieben. Box 11 |-Europäisches Parlament kontrovers Die positive Sicht: Durch den Lissabon-Vertrag wurde die Kompetenz des Par‐ lamentes gestärkt: In dem Gesetzgebungsverfahren hat das Parlament wichtige Rechte erhalten. Das Parlament, welches zunächst nur für wenige Arbeitsfelder Mitentscheidungsrechte hatte, hat heute umfassende Befugnisse über alle zentralen Arbeitsbereiche der Union, in 95 % aller Vorhaben ist das Parlament gleichbe‐ rechtigt mit dem Rat der Gesetzgeber. Es übt die demokratische Kontrolle nicht nur über die Kommission aus, sondern auch über andere Organe der EU. Auch viele internationale Abkommen erfordern die Zustimmung des Parlamentes. Das 2.3 Die Organe und Institutionen der Europäischen Union 57 <?page no="58"?> Parlament hat in den vergangenen Jahren seine Macht genutzt, um die Entwicklung der EU mitzugestalten. Die kritische Sicht: Aus Sicht der Kritiker fehlt dem Parlament noch immer die für Parlamente typische Macht, eigenständig Gesetzesinitiativen einzubringen (das „Initiativrecht“) und ist damit kein echter Gesetzgeber. Es wählt keine Regierung, ein wesentliches Recht der Parlamente in Demokratien. Das Parteiensystem ist nach wie vor national und nicht europäisch geprägt; transnationale Listen fehlen. Kritiker bemängeln die hohen Kosten für das Europäische Parlament, für die Sitzungen und Beratungen an drei Standorten (Straßburg, Brüssel, Luxemburg), für die hohe Zahl an Abgeordneten und deren Gehälter. Sie monieren, dass in den Wahlen zum Europäischen Parlament häufig eher weniger wichtige Politiker antreten. Die Anwendung unterschiedlicher Wahlsysteme in den Mitgliedstaaten wird als problematisch angesehen. Die Aufmerksamkeit für die Arbeit des Parla‐ mentes sei gering, die Wahlbeteiligung niedrig: 1979, bei der ersten Wahl zum Europaparlament lag die Wahlbeteiligung europaweit bei 63 % und sank bis zur Europawahl 2014 sukzessive bis auf knapp 43 %. Die EU-weite Wahlbeteiligung belief sich im Jahr 2019 allerdings auf 50,62 und 2024 auf 51,05 % (vgl. Europäisches Parlament 2024). Die regelmäßige Befragung der Bürger der Europäischen Union zur Wahrnehmung und Wertschätzung des Parlamentes zeigt, dass in vielen Ländern Vertrauen in die Institution und die Arbeit der Abgeordneten auf ein besorgniserregendes Niveau gesunken und daher der Reformbedarf groß ist. 2.3.2 Europäischer Rat Der Europäische Rat, der sich aus den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten sowie dem Präsidenten des Europäischen Rates und dem Präsidenten der Kommission zusammensetzt, ist das zentrale Organ für die politische Gestaltung der Integration (vgl. Borchardt 2023, S. 76-77, Nugent 2017, Part III, Bieber/ Epiney/ Haag u. a. 2021, S. 147- 149). Der Europäische Rat „gibt der Union die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse und legt die allgemeinen politischen Zielvorstellungen und Prioritäten hierfür fest“ (Artikel 15 EUV). Grundsätzliche strategische Entscheidungen werden im Euro‐ päischen Rat getroffen, obgleich dieses Organ selbst nicht gesetzgeberisch tätig wird. Der Europäische Rat kommt mindestens viermal pro Jahr zusammen („Gipfel-Treffen“). Entscheidungen fallen gemäß Artikel 15 EUV in der Regel im Konsens. Die Arbeit des Europäischen Rates wird von dessen Präsidenten koordiniert. Der Vertrag von Lissabon sah diese Neuerung vor, um die Arbeit dieses Organs und die Kontinuität der Arbeit zu stärken. Der Präsident wird für zweieinhalb Jahre gewählt und kann einmal wiedergewählt werden. 58 2 Funktionsweise der Europäischen Union - Der rechtliche und institutionelle Rahmen <?page no="59"?> Box 12 |-Der Europäische Rat kontrovers Die positive Sicht: Dem Europäischen Rat fällt im Integrationsprozess eine oder gar die zentrale Rolle zu, da die Staats- und Regierungschefs in ihren Heimat‐ ländern demokratisch legitimiert sind und damit das Mandat haben, Prioritäten der europäischen Einigung zu verabreden und die strategische Ausrichtung der Union festzulegen. Der Verzicht auf Souveränitätsrechte, ein der Entwicklung einer supranationalen Institution inhärenter Prozess, bedarf der Legitimation durch diese Repräsentanten der Mitgliedstaaten. Diese sind in der Lage, trag‐ fähige politische Kompromisse zu schmieden und in den Heimatländern zu vertreten. Die kritische Sicht: Aus Sicht der Kritiker sollten die zentralen Ideen im Parlament verhandelt werden und nicht im Europäischen Rat. Die Macht des Europäischen Rates sei ein Zeichen der wenig demokratischen Konstruktion der Union. Zudem wird darauf hingewiesen, dass das Treffen häufig von einigen wenigen Ländern, insbesondere Deutschland und Frankreich, dominiert werde (vgl. Menasse 2012, S. 57). Für Unmut sorgen Mitgliedstaaten, die ihre Verhand‐ lungs- und Vetomacht nutzen, um Vorteile für das eigene Land zu erzwingen, der in Ratssitzungen erstrittene Rabatt für Großbritannien oder Polens höheres Stimmgewicht im Rahmen der qualifizierten Mehrheit (bis 2014) stehen beispiels‐ weise für solche Kompromisse. Der Europäische Rat sei vielfach nichts anderes als ein Bollwerk der Verteidigung nationaler Interessen. Treffen stünden stets unter hohem Zeitdruck, die Beratungen und Entscheidungen ließen die Nähe zur Bevölkerung vermissen (vgl. Menasse 2012, S.-90-94). 2.3.3 Rat der Europäischen Union Der „Rat“ oder „Rat der Europäischen Union“, der in den Medien auch als „Ministerrat“ bezeichnet wird, ist gemeinsam mit dem Europäischen Parlament Gesetzgeber und Beschlussorgan der Union (vgl. Borchardt 2023, S. 77-81, Nugent 2017, Part III, Bie‐ ber/ Epiney/ Haag u. a. 2021, S. 149-157). Er ist für Haushaltsangelegenheiten der Union zuständig und genehmigt den Haushaltsplan der Union. Er koordiniert die Politik der Mitgliedstaaten in den Politikbereichen, in denen der Union die Zuständigkeit übertragen wurde. In der Außen- und Sicherheitspolitik, seit der Unterzeichnung des Maastricht-Ver‐ trages offiziell ein Bereich der gemeinsamen Zusammenarbeit, entwickelt er Vorgaben und Strategien. Der Rat schließt internationale Übereinkünfte ab. Der Rat der Europäischen Union besteht aus je einem Vertreter jedes Mitglied‐ staates auf Ministerebene. Der Rat tritt gegenwärtig (2024) in zehn Konstellationen zusammen: 2.3 Die Organe und Institutionen der Europäischen Union 59 <?page no="60"?> • Allgemeine Angelegenheiten, • Auswärtige Angelegenheiten, • Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz, • Bildung, Jugend, Kultur und Sport, • Justiz und Inneres, • Landwirtschaft und Fischerei, • Umwelt, • Verkehr, Telekommunikation und Energie, • Wettbewerbsfähigkeit (Binnenmarkt, Industrie, Forschung und Innovation, Raum‐ fahrt), • Wirtschaft und Finanzen (ECOFIN). Der Europäische Rat kann gemäß Artikel 236 AEUV andere Zusammensetzungen vorsehen. Formale Beschlüsse des Rates der Europäischen Union werden meistens mit Mehrheitsentscheidung getroffen. Bei einigen Fragen wie z. B. der Steuerpolitik ist Einstimmigkeit gefordert. Dies bedeutet, dass das Veto eines Landes, welches Nachteile aus einem Beschluss erwartet, ausreicht, eine zur Abstimmung stehende Maßnahme abzulehnen. Dem Vorteil der Einstimmigkeitsregel, eine Entscheidung nicht gegen die eigene Überzeugung mittragen zu müssen, steht der Nachteil gegenüber, dass bei häufiger Verwendung dieser Wahloption der Status quo dominiert und Fortschritte erschwert werden. In → Abb. 7 wird eine Ausgangssituation betrachtet, in der die Wohlfahrtsposition für zwei Länder mit Ū A und Ū B angegeben ist. Von X ausgehend sind Reformmaßnahmen nur auf und innerhalb der Begrenzungslinien des Quadranten I möglich, da dann mindestens ein Land bessergestellt wird, ohne dass das andere Land schlechter gestellt wird oder beide Länder Vorteile erzielen. In den anderen drei Quadranten erfährt mindestens ein Land eine Schlechterstellung, das Veto verschafft dem Land die Möglichkeit, das eigene eng definierte Interesse mit der Vetoandrohung zu verteidigen. Da es Reformen, die alle Länder nur begünstigen, im politischen Prozess aber kaum gibt, kommt es durch das Einstimmigkeitserfordernis zu einer Beibehaltung des Status quo. 60 2 Funktionsweise der Europäischen Union - Der rechtliche und institutionelle Rahmen <?page no="61"?> U A II III X IV I Ū A Ū B U B Abb.-7: Problematik der Einstimmigkeitsregel Pragmatisch-politisches Handeln setzt damit in vielen Bereichen einen Übergang von der Einstimmigkeitsregel zur Mehrheitswahl voraus. Box 13 |-Mehrheitswahl und Kosten der Entscheidungsfindung Bei der Mehrheitswahl muss festgelegt werden, mit welchem Zustimmungserfor‐ dernis (Quorum) die Entscheidungen getroffen werden sollen. Aus ökonomischer Sicht wird dasjenige Quorum (q*) bestimmt, bei dem die Kosten der Entscheidungs‐ findung am geringsten sind (→ Abb.-8). Mehrere Arten von Kosten werden unterschieden. Auf der einen Seite sind die Konsensfindungskosten (Zeitaufwand, Informationsbeschaffung, Kompromisssu‐ che) anzuführen, die mit der Höhe der notwendigen Mehrheit zunehmen. Das Einstimmigkeitserfordernis weist die höchsten Einigungskosten auf. Auf der anderen Seite sind die externen Kosten zu nennen, die dann auftreten, wenn eine Entscheidung gegen die eigenen Präferenzen erfolgt. In diesem Fall sind die Konsequenzen der Maßnahme mitzutragen, die man selbst so nicht getroffen hätte. Bei Einstimmigkeit sind die externen Kosten Null, da per Veto jede gegen die eigene Überzeugung gerichtete Entscheidung zu Fall gebracht werden kann. Je geringer das Zustimmungserfordernis zugunsten einer Maßnahme aber ist, desto höher sind die externen Kosten. Insgesamt ist das Quorum ausschlaggebend, bei dem die Summe aus Einigungskosten und externen Kosten ein Minimum aufweist (vgl. Frey/ Kirchgässner 2002, S.-46-48.) 2.3 Die Organe und Institutionen der Europäischen Union 61 <?page no="62"?> Kosten Kosten Kosten gesamt externe Kosten Einigungskosten Zustimmungserfordernis 0 % 100 % 50 % Einigungskosten Kosten Kosten Kosten gesamt externe Kosten Einigungskosten Zustimmungserfordernis 0 % 100 % q* Abb.-8: Minimale Kosten der Entscheidungsfindung bei absoluter Mehrheit Im Falle eines Zustimmungserfordernisses von unter 50 % können die Einigungs‐ kosten sehr hoch sein, da es infolge der Möglichkeit gleichzeitiger Annahme und Ablehnung einer Maßnahme zu widersprüchlichen Ergebnissen käme (→ 62 2 Funktionsweise der Europäischen Union - Der rechtliche und institutionelle Rahmen <?page no="63"?> Abb. 8). Nehmen die Einigungskosten bei einem Quorum von 50 % allerdings abrupt ab, weil inkonsistente Entscheidungen verhindert werden, so vermindern sich bei gegebenem Verlauf der externen Kosten entsprechend auch die gesamten Kosten der Entscheidungsfindung. Liegt das Kostenminimum gerade an dieser Sprungstelle, ist die Entscheidungsregel mit absoluter Mehrheit optimal (vgl. Weimann 2009). In der EU wird in der überwiegenden Zahl der Entscheidungen die Mehrheitswahl angewendet. Dabei ist nicht die relative oder absolute Mehrheit der Stimmen, sondern eine „qualifizierte Mehrheit“ notwendig. Eine qualifizierte Mehrheit, viele Jahrzehnte wegen der Stimmgewichte der Länder ein höchst kontroverses Thema, ist ab dem 1. November 2014 grundsätzlich dann gegeben, wenn 55 % der Mitglieder des Rates, deren Staaten mindestens 65 % der Gesamtbevölkerung der Union repräsentieren, einem Vorhaben zustimmen. Umgekehrt liegt eine Sperrminorität bei 45 % der Zahl der EU-Staaten und 35 % der zugehörigen Bevölkerung vor. Hinzu kommt, dass für eine Sperrminorität mindestens vier Mitglieder im Rat erforderlich sind (Artikel 16, Absatz 2 EUV). Während die „nordeuropäischen“ Länder Deutschland, Finnland, die Nieder‐ lande und Österreich zusammen mit dem Vereinigten Königreich den entsprechenden Bevölkerungsanteil gerade aufwiesen, ist die Sperrminorität durch das Ausscheiden Großbritanniens aus der EU verloren gegangen (vgl. Sinn 2016, S.-53-60). Box 14 |-Der Rat der Europäischen Union kontrovers Die positive Sicht: Der Rat der Europäischen Union ist das Fachgremium und arbeitet effektiv: In den verschiedenen Zusammensetzungen des Ministerrates werden die Rechtsakte der EU beschlossen. Mit der Einführung der doppelten Mehrheit in der Großzahl der behandelten Verfahren wird zukünftig die Arbeit entscheidend vereinfacht. Die Zusammenarbeit mit dem Europäischen Parlament funktioniert gut. Häufig wird der Rat zu Unrecht gescholten, vielfach treffen Regierungsvertreter in Brüssel auf der EU-Ebene Entscheidungen, die sie im eigenen Land kritisch bewerten (vgl. Fischer 2010, S.-3, Barroso 2014). Die kritische Sicht: Für Kritiker ist der Ministerrat eine Institution, in der die konkrete Politik wenig transparent gestaltet wird. Aus deren Sicht werden die nationalen Parlamente zu wenig und zu spät eingebunden. Die Effizienz der Arbeit ist häufig abhängig davon, welches Mitgliedsland die Präsidentschaft innehat. Für Föderalisten ist der Anteil der Entscheidungen, die einstimmig fallen müssen, zu hoch, für Vertreter des Konzeptes eines Staatenbundes ist er zu niedrig. Häufig würden im Ministerrat sachfremde politische Kompromisse geschmiedet: Die Zustimmung eines Landes zu einer Verordnung zur Regelung des Kapitalverkehrs wird beispielsweise mit der Zustimmung der anderen Länder zur Begünstigung 2.3 Die Organe und Institutionen der Europäischen Union 63 <?page no="64"?> eines Landes im Agrarbereich erkauft und ertrotzt, eine sachgerechte Politik sei kaum möglich. 2.3.4 Europäische Kommission Die Europäische Kommission ist das Exekutivorgan der Europäischen Union (vgl. Borchardt 2023, S. 81-87, Nugent 2017, Part III, Bieber/ Epiney/ Haag u. a. 2021, S. 158- 163). Die Kommission sorgt für die Anwendung der Verträge und der beschlossenen Maßnahmen, sie überwacht die Einhaltung der Vereinbarungen, Regelbrüche werden von ihr geahndet, wie beispielsweise die lange Liste der Vertragsverletzungsverfahren gegen Mitgliedstaaten zeigt. Die Kommission wird daher häufig als „Hüterin der Verträge“ bezeichnet. Sie verwaltet den Haushalt und vertritt die Europäische Union in der Welt. Die Kommission darf politische Initiativen ergreifen, um die Integration voranzu‐ bringen. Sie schlägt hierzu Rechtsvorschriften, Strategien und Programme vor und wird daher vielfach als „Motor der Integration“ gesehen. Sie ist bei ihrer Aufgabenerfüllung politisch unabhängig. Dies muss auch für die einzelnen Kommissare gelten, sie dürfen von Regierungen keine Weisungen entgegennehmen. Die Kommission besteht aus dem Kollegium der Kommissare, die aus allen Mitglied‐ staaten stammen. Artikel 17 EUV sieht vor, dass diese Zahl ab dem 1. November 2014 auf zwei Drittel der Zahl der Mitgliedstaaten reduziert wird (sofern nicht der Europäische Rat einstimmig eine andere Zahl beschließt). Die Kommission wird alle fünf Jahre neu zusammengesetzt. Dabei einigen sich die Regierungen zunächst auf einen Präsidenten der Kommission. Box 15 |-Kontroverse um die Wahl des Kommissionspräsidenten In der Nachfolge zur Wahl zum Europäischen Parlament 2014 wurde der Modus der Bestimmung des Kommissionspräsidenten kontrovers diskutiert. Im Lissabon-Ver‐ trag (EUV) heißt es in Artikel 17, Absatz 7: „Der Europäische Rat schlägt dem Europäischen Parlament nach entsprechenden Konsultationen mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission vor; dabei berücksichtigt er das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament“. Aus Sicht der Mehrheit der Parlamentarier bedeutet dies, dass der Spitzenkandidat der Fraktion, welcher die meisten Stimmen erhalten hat, zum Kommissionspräsidenten gewählt werden soll. Andere Europapolitiker argumentieren, dass eine solche Festlegung auf einen Spitzenkandidaten nicht verabredet wurde. Vielmehr kann vom Europäischen Rat auch eine andere Person vorgeschlagen werden, solange die Mehrheitsverhältnisse im Europaparlament dabei Beachtung finden. Im Jahr 2019 wurde das Spitzenkandidaten-Modell durchbrochen, da sich die Staats- und 64 2 Funktionsweise der Europäischen Union - Der rechtliche und institutionelle Rahmen <?page no="65"?> Regierungschefs und das EU-Parlament nicht auf einen der Spitzenkandidaten haben einigen können (vgl. Kotanidis 2023). Zur Europawahl 2024 wurde die Spitzenkandidaten-Regelung wieder aufgenommen. Dieser designierte Kommissionspräsident bzw. die Präsidentin sucht gemeinsam mit den Mitgliedstaaten die übrigen Mitglieder des Kollegiums aus. Die Kommission wird als Gesamtheit von dem Europäischen Parlament in einem Zustimmungsvotum gewählt und vom Europäischen Rat mit qualifizierter Mehrheit ernannt. Der Präsi‐ dent/ die Präsidentin der Europäischen Kommission hat eine zentrale Stellung in der Wahrnehmung der Arbeit der Europäischen Union. Jedes Mitglied des Kollegiums der Kommissare steht einer Generaldirektion oder einem Dienst vor. Die Gesamtheit aller Generaldirektionen und Dienste wird ebenfalls als „Kommission“ bezeichnet. Die Kommission hat ihren Hauptsitz in Brüssel, einige Dienststellen sind in Luxemburg angesiedelt. In der Kommission arbeiten insgesamt über 30.000 Mitarbeiter. Die Kommission ist gemeinsam mit dem Rat der Europäischen Union und dem Parlament der Europäischen Union an den Gesetzgebungsverfahren beteiligt. Dabei unterbreitet die Kommission dem Rat und dem Parlament einen Gesetzgebungsvor‐ schlag, der dem in der → Abb. 9 beschriebenen Ablauf folgend behandelt wird. Ein Gesetzgebungsvorhaben beginnt in der Regel mit einem Vorschlag der Kommission. Zunächst werden Stellungnahmen der nationalen Parlamente eingeholt. Im Anschluss erfolgt die erste Lesung, deren Ergebnisse an den Rat der Europäischen Union übermittelt werden. Wenn kein Dissens besteht und der Rat den vorgeschlagenen Änderungen zustimmt, ist der Rechtsakt erlassen. Kommt es zu Änderungsvorschlägen des Rates, erfolgt eine zweite Lesung im Parlament und nachfolgend eine zweite Lesung im Rat der Europäischen Union. Falls im Ministerrat die Änderungsvorschläge des Europäischen Parlamentes akzeptiert werden, gilt der Rechtsakt als erlassen. Andernfalls wird das Vorhaben im Vermittlungsausschuss beraten, entweder am Ende mit einem Kompromiss, der dann als erlassen gilt, oder ohne Kompromiss, womit das Vorhaben als gescheitert gilt. Dieses „ordentliche Gesetzgebungsverfahren“, welches früher „Mitentscheidungs‐ verfahren“ genannt wurde, gilt in der großen Mehrzahl der Gesetzgebungsverfahren. Darüber hinaus gibt es besondere Verfahren, das Konsultationsverfahren und das Zustimmungsverfahren. In einigen Fällen können der Rat und die Kommission allein Rechtsakte erlassen. 2.3 Die Organe und Institutionen der Europäischen Union 65 <?page no="66"?> 4. Erste Lesung des Europäischen Parlaments: Das Parlament legt seinen Standpunkt (mit Änderungsvorschlägen) fest. 7. Der Rat billigt den Standpunkt des Parlaments. Der Rechtsakt ist erlassen. 8. Rat und Parlament sind nicht einig über die Änderungsvorschläge. Der Rat legt seinen „Standpunkt in erster Lesung“ fest. 11. Zweite Lesung im Rat (*) 12. Der Rat billigte alle Änderungsvorschläge des Parlaments am“Standpunkt des Rates in erster Lesung“. Der Rechtsakt ist erlassen. 14. Der Vermittlungsausschuss wird einberufen. 15. Der Vermittlungsausschuss einigt sich auf einen gemeinsamen Text. 5. Die Kommission kann ihren Vorschlag entsprechend ändern. 16. Parlament und Rat stimmen dem Vorschlag des Vermittlungsausschusses zu: Der Rechtakt ist erlassen. 17. Parlament und/ oder Rat lehnen den Vorschlag des Vermittlungsausschusses ab: Der Rechtsakt ist nicht erlassen. 13. Der Rat und das Parlament sind sich nicht einig über die Vorschläge des Parlaments zur Änderung des „Standpunkts des Rates in erster Lesung“. 10. Stellungnahme der Kommission zu den Änderungsvorschlägen des Parlaments 9. Zweite Lesung des Europäischen Parlaments: Entweder billigt das Parlament den „Standpunkt des Rates in erster Lesung“ - der Rechtsakt ist dann in „früher zweiter Lesung“ erlassen - oder es schlägt Änderungen vor. 6. Erste Lesung im Rat (*) 3. (falls vorgeschrieben) Stellungnahmen des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses und/ oder des Ausschusses der Regionen 1. Vorschlag der Kommission 2. Stellungnahmen der nationalen Parlamente ERSTE LESUNG ZWEITE LESUNG VERMITTLUNGSVERFAHREN Abb.-9: Das ordentliche Gesetzgebungsverfahren | Quelle: Europäischer Rat/ Rat der Europäischen Union 2024 Box 16 |-Die Europäische Kommission kontrovers Die positive Sicht: Für die Vertreter eines föderalen Europas hat die Kommission in der Vergangenheit erfolgreich die Rolle der Hüterin der Verträge ausgefüllt. Sie hat das eigeninteressierte Handeln der Mitgliedstaaten korrigiert, die Vertragsver‐ letzungsverfahren, welche die Kommission angestrengt hat, sind unvermeidlich 66 2 Funktionsweise der Europäischen Union - Der rechtliche und institutionelle Rahmen <?page no="67"?> und positiv zu bewerten. Die Kommissionsmitarbeiter sind hochqualifiziert, es handelt sich um einen „aufgeklärten Beamtenapparat“, die Mitarbeiter sind idea‐ listisch und im wahren Sinne europäisch. Die Zahl der Mitarbeiter ist kleiner als die mancher Stadtverwaltungen in europäischen Hauptstädten (vgl. Menasse 2012, S.-26). Die kritische Sicht: Kritiker werfen der Kommission verschachtelte Strukturen, Intransparenz und eine überzogene Neigung zur Bürokratie vor. Das Kollegium der Kommissionsmitglieder mit jeweils einem Mitglied aus jedem der 27 Mitglied‐ staaten der EU sei zu groß. Der Kommission mangele es an Kostenbewusstsein, das Kostencontrolling sei schwach, nicht-erfolgreiche Programme würden fortgeführt statt beendet. Jene, die den Europäischen Rat im Zentrum der Politik sehen, wünschen sich die Kommission eher als eine Art Verwaltungsstelle des Rates und weniger als Motor der Integration. Im Zuge schuldenfinanzierter EU-Programme dient das Krisenmanagement direkt dazu, Einfluss und Macht der Kommission auszubauen. Aber auch indirekt wird ihre Position gestärkt, wenn Ergebnisse von Gesetzgebungsverhandlungen durch die Umsetzungsbefugnisse der Kommission dann im eigenen Sinn beeinflusst werden (vgl. Becker 2023). 2.3.5 Europäischer Gerichtshof Ein weiteres zentrales Organ der Europäischen Union ist der Gerichtshof der Europäi‐ schen Union (vgl. Borchardt 2023, S. 88-91). Dieser „sichert die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge“ (Artikel 19 EUV). Der Gerichtshof der Europäischen Union ist in Rechtsfragen, welche die EU betreffen, die höchste Instanz, er steht über den nationalen Gerichten. Der Gerichtshof der Europäischen Union, der seinen Sitz in Luxemburg hat, besteht aus zwei Hauptorganen, dem „Gerichtshof “, der für Vorabentscheidungsersuchen nationaler Gerichte, bestimmte Nichtigkeitsklagen und Rechtsmittelanträge zuständig ist, sowie dem „Gericht“, das in allen Nichtigkeits‐ klagen von Privatpersonen und Unternehmen sowie in bestimmten ähnlichen Klagen von Mitgliedstaaten entscheidet. Beide Organe setzen sich aus genauso vielen Richtern zusammen wie die EU-Mitgliedstaaten hat. Der Gerichtshof der EU gewährleistet, dass das europäische Recht einheitlich aus‐ gelegt und angewandt wird. Auf Ersuchen der nationalen Gerichte legt er das EU-Recht aus. Der Gerichtshof der Europäischen Union befasst sich mit vier Verfahrensarten: Vertragsverletzungsverfahren bei Verstößen von Mitgliedsländern gegen Vertragsver‐ pflichtungen; Nichtigkeitsklagen bei Klagen gegen Rechtsakte von Organen und Einrichtungen der EU; Untätigkeitsklagen bei Klagen gegen Organe der EU, wenn diese hätten tätig werden müssen; Dienstrechtsklagen bei Streitangelegenheiten zwischen Organen der EU und Bediensteten. 2.3 Die Organe und Institutionen der Europäischen Union 67 <?page no="68"?> Box 17 |-Der Europäische Gerichtshof kontrovers Die positive Sicht: Der Europäische Gerichtshof genießt von allen europäischen Organen die stärkste Zustimmung. Aus Sicht der Anhänger eines föderalen Europas war der Gerichtshof in der Vergangenheit ein mutiger Vertreter der europäischen Einigung und hat die Entwicklung der Union ganz wesentlich vorangebracht. Er wurde zum eigentlichen Wächter der Verträge (vgl. Brunn 2020). Die kritische Sicht: Kritiker bemängeln, dass der Gerichtshof in der Vergangen‐ heit häufig die Grenzen seiner Kompetenzen überschritten hat. Gesetzeslücken seien ohne ausdrückliches eigentliches Mandat geschlossen worden. 2.3.6 Europäischer Rechnungshof Der Europäische Rechnungshof mit Sitz in Luxemburg ist als Organ der Europäischen Union für die externe Rechnungsprüfung zuständig (vgl. Borchardt 2023, S. 92, Europäische Union 2024b). Er überprüft gemäß Artikel 285-287 AEUV, ob die Ausführung des Haushaltsplans ordnungsgemäß erfolgt ist. Dies beinhaltet die Über‐ prüfung der Ordnungsmäßigkeit der Einnahmen und Ausgaben, die Beachtung von Rechtsvorschriften und die Prüfung der Wirtschaftlichkeit der Mittelverwendung. Dazu überprüft er Zahlungsvorgänge und allgemein das Finanzmanagement der Organisationen der Union. „Der Rechnungshof legt dem Parlament und dem Rat eine Erklärung über die Zuverlässigkeit der Rechnungsführung sowie die Rechtmäßigkeit und Ordnungsmäßigkeit der zugrunde liegenden Vorgänge vor“ (Artikel 287 AEUV). Der Jahresbericht zum Gesamthaushaltsplan der Europäischen Union, besondere Jahresberichte zur Prüfung in einzelnen Organisationen der EU, Sonderberichte und Stellungnahmen gehören zu den Instrumenten, die dem Rechnungshof zur Verfügung stehen. Die Mitglieder des Rechnungshofes (ein Staatsangehöriger je Mitgliedstaat) üben ihre Aufgaben in voller Unabhängigkeit aus, sie dürfen während ihrer Tätigkeit für den Rechnungshof keinerlei Anweisungen von einer Regierung entgegennehmen, sie dürfen keine andere ent- oder unentgeltliche Berufstätigkeit ausüben (Artikel 285-286 AEUV). Box 18 |-Der Europäische Rechnungshof kontrovers Die positive Sicht: Der Rechnungshof ist ein zentraler Baustein in der Sicher‐ stellung verantwortlichen Regierungshandelns. Die Berichte des Rechnungshofs führen zu wichtigen Änderungen des Verwaltungshandelns, die Organisation genießt hohe Glaubwürdigkeit. Die kritische Sicht: Einige Male stand der Rechnungshof selbst in der Kritik, da dem Verdacht auf Fehlverwendung von öffentlichen Mitteln nicht hartnäckig 68 2 Funktionsweise der Europäischen Union - Der rechtliche und institutionelle Rahmen <?page no="69"?> nachgegangen wurde, es hätte eine Kultur des Verschweigens von Missständen gegeben. Die Abstimmung mit anderen Organisationen, die sich dem Thema der Berechenbarkeit („Accountability”) widmen, wie etwa dem Amt für Betrugs‐ bekämpfung, sei nicht optimal. 2.3.7 Europäische Zentralbank Die Europäische Zentralbank (EZB) bildet zusammen mit den nationalen Zentralban‐ ken der Mitgliedstaaten der EU das Europäische System der Zentralbanken (ESZB). Die Europäische Zentralbank und die nationalen Zentralbanken jener Staaten, die den Euro eingeführt haben, bilden das Eurosystem. Die vorrangige Aufgabe der EZB ist die Sicherung der Preisstabilität. Die EZB ist auch dazu verpflichtet, die allgemeine Wirtschaftspolitik der Union zu unterstützen (Artikel 282 AEUV). Box 19-|-Die Europäische Zentralbank kontrovers Die positive Sicht: Die Europäische Zentralbank hat die Geschicke des Euros erfolgreich gemeistert. Der Sachverstand ist hoch, die Ziele wurden erreicht. Die größte Krise der Währungsunion ließ die Zentralbank an den Herausforderungen wachsen. Die neuen Instrumente, die eingesetzt wurden, haben Wirkung gezeigt und das Instrumentarium der Geldpolitik erweitert. Die kritische Sicht: Die Zentralbank hat in der Krise ihr Mandat überschritten. Die Governance-Struktur lässt deutliche Defizite erkennen. Die demokratische Legitimation für die weitreichenden geldpolitischen Entscheidungen, welche die EZB insbesondere in der Krise getroffen hat, ist nicht vorhanden. 2.3.8 Der „Ausschuss der Regionen“ und der „Wirtschafts- und Sozialausschuss“ In die Entscheidungsprozesse der Organe der EU sind weitere Ausschüsse eingebun‐ den, die beratende Aufgaben übernehmen (vgl. Borchardt 2023, S. 92-94). Der „Aus‐ schuss der Regionen“ setzt sich zusammen aus Vertretern der regionalen und lokalen Gebietskörperschaften, der „Wirtschafts- und Sozialausschuss“ im Wesentlichen aus Vertretern der Organisationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Beide Ausschüsse haben höchstens 350 Mitglieder, sie sind in die sie betreffenden Gesetzgebungsverfah‐ ren eingebunden und können mit Stellungnahmen Beratungen beeinflussen. 2.3 Die Organe und Institutionen der Europäischen Union 69 <?page no="70"?> Box 20-|-Die Ausschüsse kontrovers Die positive Sicht: Regionen sind für die Identität der Menschen essenziell, insbesondere auch vor dem Hintergrund mehrerer europäischer Länder, in denen in Regionen mehr Autonomie eingefordert wird. Den Regionen mehr Gehör zu verschaffen, ist konsequent und verbessert die Arbeit der Union. Die Einbindung der Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter in Entscheidungsprozesse der EU reflektiert das europäische Modell industrieller Beziehungen, der Schaffung von Orten des Dialogs, der Suche nach sozialem Ausgleich. Die Beteiligung dieser beiden Ausschüsse dokumentiert das Streben der EU, demokratische Teilhabe zu ermöglichen. Die kritische Sicht: Aus Sicht der Kritiker ist die Arbeit der Ausschüsse wenig transparent. Die Schaffung ständig weiterer Einrichtungen der Europäischen Union verkompliziert die Abläufe. Statt die Qualität des Handelns der Union zu verbessern, kommt es zu schwierigen und langwierigen Prozessen der Kompro‐ misssuche. 2.3.9 Der Einfluss von Interessengruppen Planung und Umsetzung der Politiken erfolgen zunehmend unter Einbeziehung natio‐ naler und europäischer Interessengruppen. Dies entspricht dem Ziel der EU, mit der Öffentlichkeit und der Zivilgesellschaft über Europafragen stärker zu kommunizieren. Sie werden im Rahmen des als „Komitologie“ bezeichneten Systems der Ausschüsse aus Regierungsvertretern und Experten, die Initiativen der Union vorbereiten oder die Umsetzung begleiten, in die Arbeit der EU-Institutionen einbezogen. In einigen Fällen erfolgt die Mitarbeit fallbezogen („selektives Konsultationsmodell“), in anderen Fällen systematisch durch die institutionalisierte Einbindung („prozedurales Kommu‐ nikationsmodell“) (vgl. Knodt/ Corcaci 2012, S. 219-220). Ihre Mitwirkung soll die Legitimation des europäischen Regierens und den Rückhalt in der Bevölkerung erhö‐ hen. Box 21-|-Die Einbeziehung von Interessengruppen kontrovers Die positive Sicht: Die Öffnung der EU für die Zusammenarbeit mit Organi‐ sationen der Zivilgesellschaft gilt vielen als sinnvoll und notwendig und als positives Beispiel für die Offenheit der supranationalen Strukturen. Modernes Regierungshandeln erfordert aus dieser Perspektive neue Formen der Partizipation, die Legitimation der EU-Politik wird damit erhöht. Die Verbesserung der Qualität der Entscheidungen und Politiken sei auch dieser Öffnung zu verdanken. 70 2 Funktionsweise der Europäischen Union - Der rechtliche und institutionelle Rahmen <?page no="71"?> Die kritische Sicht: Kritiker verweisen darauf, Interessengruppen seien in der Lage, die Regulierungen zu ihren Gunsten zu verändern, das Gemeinwohlinte‐ resse bleibe häufig auf der Strecke. Die Macht der Lobbyorganisationen sei kontraproduktiv, die zunehmende Intransparenz der Arbeit der Ausschüsse sei in diesem Zusammenhang der Legitimation der Politik abträglich. Kleine gut organisierte Gruppen wären, wie die Neue Politische Ökonomie zeigt, im Vorteil, die nicht-symmetrische Interessenvertretung würde die Qualität der Arbeit der Union beeinträchtigen. Mit dem Vertrag von Lissabon wurde ein solides rechtliches Fundament für die Arbeit der Europäischen Union geschaffen. So wie in der Vergangenheit wird allerdings auch zukünftig die Anpassung der institutionellen Struktur erforderlich sein, um neuen Herausforderungen optimal zu begegnen (vgl. Deutsch-französische Arbeitsgruppe 2023, S.-23-39, Müller 2024). ➲ Wichtige Begriffe Lissabon-Vertrag, Europäische Verfassung, Primärrecht, Sekundärrecht, Verordnung, Richtlinie, Kommission, Europäischer Rat, Europäisches Parlament, Europäischer Ge‐ richtshof, Europäischer Rechnungshof, Ausschuss der Regionen, Wirtschafts- und So‐ zialausschuss, Europäische Zentralbank, Interessengruppen, Acquis Communautaire, ausschließliche Zuständigkeit, Subsidiarität, Einstimmigkeit, Mehrheitswahlrecht, Hü‐ terin der Verträge ➲ Literatur Barroso, José M. (2014): „Wer Entscheidungen trifft, muss auch dazu stehen“, in: Die Welt, 12. Dezember 2014 Becker, Stefan (2023): „Supranational Entrepreneurship Through the Administrative Backdoor: The Commission, the Green Deal and the CAP 2023-2027“, in: Journal of Common Market Studies, Vol. 63, Issue 3, S.-688-704 Berger, Melissa/ Harendt, Christoph/ Heinemann, Friedrich/ Moessinger Marc-Daniel/ Schwab, Thomas/ Weiss, Stefani (2017): How Europe can deliver: Optimising the division of compe‐ tences among the EU and its member states, Bertelsmann Stiftung, Gütersloh Bieber, Roland/ Epiney, Astrid/ Haag, Marcel/ Kotzur, Markus (2021): Die Europäische Union - Europarecht und Politik, 14. Auflage, Baden-Baden, Nomos Verlagsgesellschaft Borchardt, Klaus-Dieter (2023): Abc des EU-Rechts, Luxemburg Brunn, Gerhard (2020): Die europäische Einigung von 1945 bis heute, 5. Auflage, Ditzingen, Stuttgart, Reclam ➲ Wichtige Begriffe 71 <?page no="72"?> Deutsch-französische Arbeitsgruppe (2023): Unterwegs auf hoher See: Die EU für das 21.-Jahr‐ hundert reformieren und erweitern. Bericht der deutsch-französischen Arbeitsgruppe zu institutionellen Reformen der EU, Berlin, Paris Europäisches Parlament (2024): Ergebnisse der Europawahl 2024, Internet: https: / / results.electi ons.europa.eu/ de Europäischer Rat/ Rat der Europäischen Union (2024): Das ordentliche Gesetzgebungsverfahren, Internet: https: / / www.consilium.europa.eu/ de/ council-eu/ decision-making/ ordinary-legislat ive-procedure/ Europäische Union (2024a): Gründungsverträge, Internet: https: / / european-union.europa.eu/ pr inciples-countries-history/ principles-and-values/ founding-agreements_de Europäische Union (2024b): Europäischer Rechnungshof (EuRH), Internet: https: / / european -union.europa.eu/ institutions-law-budget/ institutions-and-bodies/ search-all-eu-institutions -and-bodies/ european-court-auditors-eca_de Fischer, Joschka (2010), “Europa 2030 - Global power or hamster on a wheel”, in: Benjamin, Daniel (Hrsg.): Europe 2030, Washington, Brookings Institute Press, S. 1-10 Frey, Bruno. S./ Kirchgässner, Gebhard. (2002): Demokratische Wirtschaftspolitik, 3. Auflage, München, Verlag Franz Vahlen Knodt, Michele/ Corcaci, Andreas (2012): Europäische Integration - Anleitung zur theoriegelei‐ teten Analyse, Konstanz/ München, UVK Verlagsgesellschaft Kotanidis, Silvia (2023): Spitzenkandidaten or the lead candidate process. Ways to Europeanise elections to the European Parliament, EPRS, European Parliament PE 749.776 Krimphove, Dieter (2023): Europarecht, 4. aktualisierte Auflage, Stuttgart, Kohlhammer Verlag Lipatov, Vilen/ Weichenrieder, Alfons (2016): A Decentralization Theorem of Taxation, CESifo Economic Studies, CESifo, vol. 62(2), S. 289-300 Menasse, Robert (2012): Der Europäische Landbote - Die Wut der Bürger und der Friede Europas, Wien, Paul Zsolnay Verlag Müller, Manuel (2024): Die EU demokratisch reformieren. Impulse für die EU-Reformdebatte, E-Paper, Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin Nugent, Neill (2017): The Government and Politics of the European Union, 8. Auflage, Palgrave Macmillan Pelkmans, Jacques (2006): European Integration. Methods and Economic Analysis, 3. Auflage, Essex, Pearson Sinn, Hans-Werner (2016): Der Schwarze Juni. Brexit, Flüchtlingswelle, Euro-Desaster - Wie die Neugründung Europas gelingt, Freiburg, Verlag Herder Stehn, Jürgen (2017): Das Kern-Problem der EU, Kiel Policy Brief, No. 106 Weimann, Joachim (2009): Wirtschaftspolitik. Allokation und kollektive Entscheidung, 5. Auf‐ lage, Berlin, Heidelberg, Springer-Verlag 72 2 Funktionsweise der Europäischen Union - Der rechtliche und institutionelle Rahmen <?page no="73"?> 3 Die Finanzverfassung der Europäischen Union eLearning | zu diesem Kapitel finden Sie einen eLearning-Kurs online. Folgen Sie dem Link oder nutzen Sie den QR-Code. 🔗 https: / / narr.kwaest.io/ s/ 1340 Leitfragen • Wie hoch ist das Volumen des EU-Haushalts? • Wofür werden die Ausgaben der EU getätigt? • Wie werden die Haushaltsmittel veranschlagt und der Haushalt der EU ge‐ plant? • Wie ist die Stellung des EU-Haushalts zum mehrjährigen Finanzrahmen? • Welche Einnahmen dienen der Finanzierung der EU-Ausgaben? • Wer ist Nettozahler und Nettoempfänger der EU? • Welchen Herausforderungen sieht sich der EU-Haushalt gegenüber? 3.1 Einführung Zentrales Instrument der Haushaltspolitik ist der Haushaltsplan, in dem für jedes Haus‐ haltsjahr sämtliche als erforderlich erachteten Ausgaben und erwarteten Einnahmen der Europäischen Union veranschlagt werden (vgl. Europäische Kommission 2019). Während in den Mitgliedstaaten der EU das Budgetrecht den nationalen Parlamenten zusteht, beschließen in der EU hingegen der Rat der Europäischen Union und das Eu‐ ropäische Parlament gemeinschaftlich über den Haushalt. Maßgeblich für die jährliche Haushaltsplanung ist der Mehrjährige Finanzrahmen, mit dem für einen mittelfristigen Zeitraum vorab die Haushaltsprioritäten festgelegt werden. 3.2 Der Haushalt der Europäischen Union 3.2.1 Die Haushaltsplanung in der Europäischen Union Die grundlegenden Normen für den Prozess der Erstellung, den Haushaltsvollzug, die Kontrolle und Prüfung des Haushaltes finden sich im Primärrecht der Europäischen Union (Lissabon-Vertrag) in den Artikeln 310 bis 324 des Vertrages über die Arbeits‐ weise der Europäischen Union (AEUV). Weitere Regeln finden sich im Sekundärrecht (Verordnungen und Richtlinien) der Union. Das Verfahren zur Aufstellung des Haus‐ haltsplans beginnt mit der Erstellung des jährlichen Haushaltsentwurfs durch die <?page no="74"?> Europäische Kommission, der vom Rat und Parlament als Haushaltsbehörde geprüft und über den nach weiteren Verhandlungen entschieden wird. Die Schrittfolge zur Abstimmung zwischen Parlament und Rat (→ Abb. 10) ist in Artikel 314 AEUV detailliert geregelt. Entwurf des Haushaltsplans Kommission * Die Kommission ist bestrebt, den Haushaltsentwurf vor Ende April/ Anfang Mai vorzulegen. ** Das heißt, das Parlament billigt den gemeinsamen Entwurf und beschließt binnen 14 Tagen nach der Ablehnung durch den Rat (mit der Mehrheit seiner Mitglieder und drei Fünftel der abgegebenen Stimmen), alle oder einige der Änderungen aus der ersten Lesung zu bestätigen. Haushaltsverfahren - Zeitplan 1. September* 1. Oktober Ratsposition zum Haushaltsentwurf Rat Abänderung des Europäischen Parlaments (EP) bzgl. Ratsposition Parlament 13. November (42 Tage) EP stimmt zu oder fasst keinen Beschluss (Mehrheit der abgegebenen Stimmen) EP verabschiedet Abänderungen (Mehrheit der dem Parlament angehörenden Mitglieder) Rat akzeptiert die Änderungen des Parlaments innerhalb von 10 Tagen Haushalt verabschiedet Vermittlungsverfahren 13. November bis 4. Dezember (21 Tage) Gemeinsamer Entwurf Parlament und Rat Ja innerhalb von 14 Tagen Nein innerhalb von 14 Tagen Haushalt verabschiedet Entwurf abgelehnt Kommission reicht neuen Entwurf ein. Parlament und Rat stimmen zu (oder treffen keinen Beschluss) Rat lehnt Entwurf ab. Parlament hat das letzte Wort.** Rat stimmt zu, Parlament lehnt ab. Rat und Parlament lehnen Entwurf ab. 18. Dezember (14 Tage) Abb.10: Das Haushaltsverfahren in der Europäischen Union | Quelle: Europäische Kommission 2018, 2023a, S.-47 Die Bedeutung des Haushaltsplanss ergibt sich aus den Funktionen, die dem öffentli‐ chen Haushalt zugewiesen werden (vgl. Zimmermann/ Henke/ Broer 2024, S. 210-213): 74 3 Die Finanzverfassung der Europäischen Union <?page no="75"?> • Die finanzwirtschaftliche Funktion: mit dem Haushalt soll die Sicherstellung des finanziellen Gleichgewichts durch Übereinstimmung von Ausgabenbedarf und Deckungsmitteln gewährleistet werden; • die administrative Lenkungsfunktion: der Haushalt stellt die Bewirtschaftungs‐ grundlage für das Handeln der Exekutive dar; • die Programmfunktion (parlamentarische Funktion): die politischen Ziele finden im Haushalt ihren budgetären Niederschlag; • die volkswirtschaftliche Funktion: der öffentliche Haushalt soll dazu beitragen, das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht zu realisieren. Über die automatische Stabi‐ lisierungswirkung hinaus kann diese Funktion vom EU-Haushalt allerdings nur eingeschränkt wahrgenommen werden. Um makroökonomischen, insbesondere asymmetrischen Schocks besser begegnen zu können, wird die Einrichtung einer europäischen Fiskalkapazität diskutiert (vgl. Europäische Kommission 2017). In der Haushaltsordnung sind die Vorschriften und Grundsätze (Einheit, Haushalts‐ wahrheit, Jährlichkeit, Haushaltsausgleich, Rechnungseinheit, Gesamtdeckung, Spe‐ zialität, Wirtschaftlichkeit und Transparenz) festgelegt. Im Einzelnen werden die Mittel nach Tätigkeitsbereichen differenziert aktivitätsbezogen veranschlagt („activity-based budgeting“). Die Forderung einer stärkeren Ergebnisorientierung („Performance bud‐ geting“) auch im EU-Haushaltssystem steht im Raum. Ziel ist es, den systematischen Einsatz von Leistungsangaben als Grundlage haushaltspolitischer Entscheidungen in der Union zu gewährleisten (vgl. Sapala 2018). Damit unterscheidet sich diese Art der Haushaltsaufstellung von einer tradierten inputorientierten Haushaltsplanung, die eine effiziente Mittelverwendung erschwert. Im Unterschied zum EU-Haushalt wird z. B. der deutsche Bundeshaushalt seit dem Jahr 2012 im Top-Down-Verfahren anstelle des bisherigen Bottom-up-Ansatzes geplant. Auf der Grundlage der projizierten mit‐ telfristigen Entwicklung der Gesamtwirtschaft und der Schätzung der zukünftigen Steuereinnahmen werden zu Beginn der regierungsinternen Haushaltsaufstellung (Eckwertebeschluss der Bundesregierung; für die Haushalte 2024 und 2025 durch ver‐ bindliche Plafondvorgaben ersetzt) eine Ausgabenobergrenze für den Bundeshaushalt und verbindliche Vorgaben für die Haushalte der Ministerien (Einzelpläne) festgelegt. Im Zuge des weiteren regierungsinternen Verfahrens haben die Ministerien einen beträchtlichen Spielraum („Schichtungsfreiheit“), die Haushaltseckwerte auf die ein‐ zelnen Ausgabetitel herunter zu brechen. Um die regierungsinterne Haushaltsplanung stärker inhaltlich auszurichten, ist die Einführung von einnahme- und ausgabeseitigen Haushaltsanalysen („Spending Reviews“) zu ausgewählten Politikbereichen vorgese‐ hen. Damit soll die Ziel- und Wirkungsorientierung der öffentlichen Haushaltsführung gestärkt werden (vgl. Bundesministerium der Finanzen 2024). 3.2 Der Haushalt der Europäischen Union 75 <?page no="76"?> Box 22-|-Die ethische Herausforderung: Rationalität der Haushaltsplanung Ineffizienz der Mittelverwendung im öffentlichen Sektor impliziert, dass der Gesellschaft erreichbare Möglichkeiten vorenthalten werden. Allerdings muss der Rahmen auch so gesetzt sein, dass wirtschaftliches Handeln prinzipiell machbar ist. Für die Haushaltsplanung bedeutet dies, anstelle der inputeine stärker ergebnisorientierte Steuerung der Ressourcen vorzunehmen, so dass Unwirtschaft‐ lichkeiten vermieden werden. Grundlage der inputorientierten Haushaltsplanung (vgl. Davis/ Dempster/ Wild‐ avsky 1966) für das Jahr t ist das Budget des Vorjahres B t-1 . Jeder Ressortminister versucht in den Haushaltsverhandlungen mit dem Finanzminister sein bisheriges Budgetvolumen mindestens zu halten. Wird erwartet, dass es zu einer Kürzung der Mittelforderungen kommen könnte, werden gegenüber dem laufenden Budget entsprechend höhere Mittel beantragt (B t *). Unter Berücksichtigung einer Zufalls‐ komponente (u t ) kann dieses Verhalten durch Gleichung (1) beschrieben werden: (1) B t * = α B t-1 +u t (mit α > 1). Werden die beantragten Mittelzuwächse für das Jahr t durch den Finanzminister wenigstens anteilig beschnitten, erhält man für die bewilligten Mittel (B t ) unter Einbeziehung der Zufallsgröße v t die Gleichung (2): (2) B t = β B t * + v t (mit β < 1). Nach Einsetzen von Gleichung (1) in Gleichung (2), Ersetzen des Produkts βα durch γ und Zusammenfassung der beiden Zufallsvariablen zu w t , erhält man Gleichung (3): (3) B t = γ B t-1 + w t . Wenn ausschließlich das Vorjahresbudget die Basis für die Mittelzuteilung des folgenden Jahres darstellt, ergibt sich für die Ressorts die Notwendigkeit, die einmal bewilligten Mittel auch ausgeben zu müssen, will man höhere Mittel im folgenden Jahr durchsetzen. Dies begünstigt ein verschwenderisches Verhalten im öffentlichen Sektor („Dezemberfieber“) (vgl. Siemroth 2022, Wirtschaftsdienst 2022). Der Haushaltsplan der Europäischen Union gliedert sich in den Gesamteinnahmenplan und in die Einnahmen und Ausgaben nach Einzelplänen für die Organe (ohne Euro‐ päische Zentralbank) und Einrichtungen der EU. Eine besondere Bedeutung kommt dem Einzelplan der Kommission zu, der 95-% aller Unionsausgaben enthält. Während des Haushaltsjahres kann es notwendig sein, dass die Kommission Be‐ richtigungshaushaltspläne zum Gesamthaushalt erstellt, wenn Veränderungen im Haushalt aufgrund neuer Informationen oder unerwarteter Ereignisse erforderlich werden. 76 3 Die Finanzverfassung der Europäischen Union <?page no="77"?> Die Kommission führt zusammen mit den Mitgliedstaaten den Haushaltsplan aus. Nach Abschluss der Haushaltsperiode und dem Haushaltvollzug muss das Europäische Parlament der Kommission (Artikel 319 AEUV) Entlastung erteilen (vgl. Mazur/ Kill‐ meyer 2024). 3.2.2 Die Ausgabenseite des EU-Haushalts In → Abb. 11 ist der Kommissionsentwurf für das Ausgabenvolumen des EU-Haushalts 2025 (vgl. Europäische Kommission 2024a) sowie der im Ausschuss der Ständigen Vertreter (COREPER) einvernehmlich erzielte Standpunkt des Rates zum Entwurf des Haushaltsplans 2025 (Europäischer Rat/ Rat der Europäischen Union 2024) wiedergege‐ ben. Die Mittel zum Eingehen von Verpflichtungen (Mf V) betragen über alle Rubriken gut 193 Mrd. € (Kommission) bzw. 191,5 Mrd. € (Rat); die Mittel für zu leistende Zahlungen (MfZ) belaufen sich auf 147,1 Mrd. € bzw. auf 146,2 Mrd. €. Dies entspricht 1,05 % (1,04 %) bzw. 0,80 % (0,79 %) des Bruttonationaleinkommens (BNE) der EU in Höhe von 18,4 Bill. €. Unter Berücksichtigung der besonderen Instrumente kommt der Haushaltsentwurf der Kommission für das Jahr 2025 auf Ausgaben von knapp 200 Mrd. € (Mf V) bzw. 152,6 Mrd. € (MfZ) insgesamt mit einem BNE-Anteil von 1,08 % bzw. 0,83-%. Ausgaben (in Mio. EUR) nach Rubriken Mf Va) MfZb) Mf Va) MfZb) Kommission Rat 1. Binnenmarkt, Inno‐ vation und Digitales 21 377,7 20 438,9 20 734,4 20 216,5 2. Zusammenhalt, Re‐ silienz und Werte 78 128,2 41 618,7 77 319,4 41 044,3 3. Natürliche Ressour‐ cen und Umwelt 57 275,0 52 682,4 57 271,1 52 680,3 4. Migration und Grenzmanagement 4 776,5 3 201,3 4 710,7 3 120,1 5. Sicherheit und Ver‐ teidigung 2 617,0 2 128,6 2 612,0 2 126,9 6. Nachbarschaft und die Welt 16 258,2 14 406,3 16 280,0 14 427,1 7. Europäische öffent‐ liche Verwaltung 12 614,4 12 614,4 12 599,4 12 599,4 Ausgaben nach Rubri‐ ken gesamt 193 046,9 147 090,5 191 527,0 146 214,6 in-% des BNE 1,05 0,80 1,04 0,79 3.2 Der Haushalt der Europäischen Union 77 <?page no="78"?> Ausgaben (in Mio. EUR) nach Rubriken Mf Va) MfZb) Mf Va) MfZb) Kommission Rat Besondere Instru‐ mente c) 6 669,9 5 593,6 - - Ausgaben insgesamt 199 716,8 152 684,1 - - in-% des BNE 1,08 0,83 - - a) Verpflichtungen sind rechtsverbindliche Zusagen über Ausgaben für Maßnahmen, die über mehrere Jahre hinweg durchgeführt werden. b) Zahlungen decken die Ausgaben, die sich aus Verpflichtungen ergeben, welche im laufen‐ den Jahr oder in Vorjahren eingegangen wurden. c) Europäische Solidaritätsreserve, Soforthilfereserve, Europäischer Fonds für die Anpassung an die Globalisierung, Brexit-Reserve und Ukraine-Reserve. Abb.-11: Ausgaben der EU 2025: Haushaltsentwurf der Europäischen Kommission und Standpunkt des Rates Die 1. Rubrik „Binnenmarkt, Innovation und Digitales“ umfasst solche Bereiche wie Forschung und Innovation, digitalen Wandel, strategische Infrastruktur und Binnenmarkt, deren Ausgaben der Erschließung zukünftiger Wachstumspotenziale dienen. Die nächste Rubrik “ Zusammenhalt, Resilienz und Werte“ enthält die Pro‐ grammausgaben, mit denen bestehende Ungleichheiten in den Regionen der EU verringert und Investitionen in Bildung und Gesundheit getätigt werden. Bei der 3. Rubrik „Natürliche Ressourcen und Umwelt“ geht es darum, die Nachhaltigkeit der Landwirtschaft zu steigern und einen Beitrag zu den angestrebten Umwelt- und Klimazielen in Europa zu leisten. Die Rubrik „Migration und Grenzmanagement“ stellt auf die Asyl- und Zuwanderungspolitik ab sowie auf die Maßnahmen zur Sicherung der Außengrenzen der EU, deren Gewährleistung für den freien Personenverkehr innerhalb Europas (Schengen-Abkommen) von Bedeutung ist. Die 5. Rubrik „Sicher‐ heit und Verteidigung“ enthält die Programme zur Stärkung der inneren Sicherheit (Terrorismus, organisierte Kriminalität, Cyberangriffe) und zur Abwehr externer Bedrohungen und Krisen. Unter der 6. Rubrik „Nachbarschaft und die Welt“ werden die Ausgaben für Europas Wirken international zusammengefasst. Die letzte Rubrik „Europäische öffentliche Verwaltung“ betrifft die Verwaltungsausgaben der jeweiligen Organe und Einrichtungen der EU (vgl. Europäische Kommission 2021). Um im Fall von Notsituationen bzw. unerwarteten wirtschaftlichen oder politischen Ereignissen flexibel reagieren zu können, stehen sog. „besondere Instrumente“ zur Verfügung. Den aktuell sechs thematischen Sonderinstrumenten (Europäische Solidaritätsreserve, Soforthilfereserve, Europäischer Fonds für die Anpassung an die Globalisierung, Brexit-Reserve, Ukraine-Reserve, EURI-Instrument), die zusätzliche Mittel für spezielle Zwecke oder bestimmte Ereignisse bereitstellen, stehen die zwei nicht-thematischen Sonderinstrumente (Flexibilitätsinstrument, Instrument für einen einzigen Spielraum) 78 3 Die Finanzverfassung der Europäischen Union <?page no="79"?> gegenüber, mit denen allgemeiner auf unvorhergesehene Umstände oder sich abzeich‐ nende Prioritäten reagiert werden kann (vgl. D’Alfonso/ Dobreva/ Kowald u. a. 2024, S.-23-30). Unter weiterer Einbeziehung der Mittel aus dem Aufbauprogramm NextGenerati‐ onEU (NGEU) in Höhe von 71,8 Mrd. € an MfZ steht der Union im Jahr 2025 ein Betrag von 224, 5 Mrd.-€ zur Verfügung (vgl. Europäische Kommission 2024a, S.-7). Box 23 |-EU-Haushalt und Common-pool-Problem Das Common-pool-Problem des EU-Haushalts verweist auf die Allmendeproble‐ matik der Überbeanspruchung einer gemeinsam genutzten Ressource. Nationale Repräsentanten haben Anreize, Ausgabenprogramme zugunsten der eigenen Re‐ gion zu beschließen, während die Finanzierung dieser Maßnahmen europaweit erfolgt. Dies begünstigt ineffiziente Allokationsentscheidungen (vgl. Heinemann 2006). Zur Absicherung der finanziellen Interessen der EU und zum Schutz des EU-Haushalts wurde mit Wirkung zum 1. Januar 2021 eine Rechtsstaatskonditionalität (Verordnung (EU, Euratom) 2020/ 2092) in Kraft gesetzt. Danach können EU-Zahlungen an Mit‐ gliedstaaten bei Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit (Unabhängigkeit der Justiz) und die demokratischen Grundwerte der EU (Art. 2 EUV) ausgesetzt werden. Die Entscheidung darüber wird vom Rat getroffen, der auf Vorschlag der Kommission über geeignete und verhältnismäßige Maßnahmen einen Durchführungsbeschluss fasst (vgl. D’Alfonso/ Dobreva/ Kowald u.-a. 2024, S.-65-68). 3.2.3 Die Einnahmeseite des EU-Haushalts Abgesehen von den übrigen Einnahmen (Steuern und sonstige Abzüge von den Ge‐ hältern der EU-Bediensteten, Saldo aus dem vorhergehenden Haushaltsjahr, Beiträge von Drittländern zu bestimmten EU-Programmen etc.) erfolgt die Finanzierung der EU-Ausgaben über das System der Eigenmittel, das mit dem Eigenmittelbeschluss des Rates vom 21. April 1970 eingeführt wurde und in der Zwischenzeit verschiedene Änderungen erfahren hat (vgl. D’Alfonso 2021). Die aktuellen Regelungen finden sich im Beschluss (EU, Euratom) 2020/ 2053 des Rates über das Eigenmittelsystem der Europäischen Union vom 14 Dezember 2020. In → Abb. 12 sind die (geschätzten) Einnahmen der EU für das Jahr 2025 ausgewiesen (vgl. Europäische Kommission 2024a). 3.2 Der Haushalt der Europäischen Union 79 <?page no="80"?> Einnahmen in Mio. EUR in % 1. Eigenmittel 148 351,9 97,2 Traditionelle Eigenmittel 21 082,0 13,8 Mehrwertsteuer-Eigenmittel 24 394,6 16,0 Kunststoff-Eigenmittel 7 121,5 4,7 Bruttonationaleinkommen- Eigenmittel 95 753,7 62,7 2. Übrige Einnahmen 4 332,2 2,8 Insgesamt* 152 684,1 100,0 Abb.-12: Projektion der EU-Einnahmen 2025 (* Rundung) Die traditionellen Eigenmittel, bei denen es sich nach Wegfall der Zuckerabgaben im Jahr 2017 im Wesentlichen um die EU-weit einheitlichen Zölle auf Importe in den Binnenmarkt handelt, stellen originäre Einnahmen der EU dar, die mit der Bildung der Zollunion im Jahr 1968 gemeinschaftsrechtlich begründet sind. Für die Erhebung dieser Mittel zugunsten der EU behalten die Mitgliedstaaten einen Anteil von 25 % des Aufkommens ein. Im Jahr 2025 belaufen sich die traditionellen Eigenmittel auf knapp 14-% der Gesamteinnahmen der EU. Die Mehrwertsteuer-Eigenmittel bestimmen sich durch Anwendung eines für alle Mitgliedstaaten gleichen Abrufsatzes in Höhe von 0,3 % auf eine administrativ vereinfacht zu ermittelnde MwSt-Bemessungsgrundlage, die sich aus der Division des nationalen Aufkommens durch den gewichteten Durchschnittssteuersatz des Referenzjahres 2016 ergibt (vgl. Europäischer Rechnungshof 2020a, Europäische Kom‐ mission 2023b). Um die regressive Wirkung der MwSt für die ärmeren Mitgliedsländer zu begrenzen, die aus der Abnahme der durchschnittlichen Konsumquote mit höherem Wohlstand resultiert, wird die MwSt-Bemessungsgrundlage auf die Hälfte des Brutto‐ nationaleinkommens eines Mitgliedslandes begrenzt. Im Jahr 2025 macht der Anteil der MwSt-Eigenmittel an den Gesamteinnahmen der EU 16-% aus. Die mit dem Ziel einer ökologischen Lenkungswirkung seit dem Jahr 2021 bestehen‐ den Kunststoff-Eigenmittel stellen Einnahmen dar, die auf nicht recycelte Plastik-Ver‐ packungsabfälle mit einem Abrufsatz von 0,80 € pro Kilogramm anfallen. Länder mit einem unterdurchschnittlichen Einkommensniveau erhalten eine pauschale Ermäßi‐ gung, die einem Betrag von 3,8 kg Kunststoffabfall pro Kopf entspricht. Die Finanzie‐ rung dieser neuen Eigenmittel bleibt den einzelnen Mitgliedstaaten überlassen. Das Aufkommen der Kunststoff-Eigenmittel beziffert sich für 2025 auf einen Anteil von 4,7-% der EU-Einnahmen. In Höhe von 62,7 % der Einnahmen insgesamt tragen die Bruttonationaleinkom‐ men-Eigenmittel im Jahr 2025 wesentlich zur Deckung der EU-Ausgaben bei. Mit dem BNE-Bezug ist eine Orientierung an der Wirtschaftskraft der Mitgliedsländer 80 3 Die Finanzverfassung der Europäischen Union <?page no="81"?> gegeben. Zur Ermittlung der BNE-Einnahmen wird das Bruttonationaleinkommen jedes Mitgliedslandes mit einem einheitlichen Prozentsatz multipliziert, der im Zuge der jährlichen Haushaltsplanung aus der Differenz zwischen den EU-Ausgaben und den anderen Einnahmearten in Relation zum Bruttonationaleinkommen der EU be‐ stimmt wird und in aufeinanderfolgenden Haushaltsjahren variieren kann. Durch diese abschließend ermittelten BNE-Einnahmen wird gewährleistet, dass der EU-Haushalt immer ausgeglichen ist. ⁈ Verständnisfrage | Wie ist das Bruttonationaleinkommen gemäß volkswirt‐ schaftlicher Gesamtrechnung definiert? Zum Eigenmittelsystem der EU gehören auch die für einige Mitgliedstaaten geltenden Ausnahmeregelungen. So werden im Zeitraum 2021-2027 die Länder Österreich, Dänemark, Deutschland, Niederlande und Schweden durch Pauschalabzüge bei den BNE-Eigenmitteln begünstigt. Im Jahr 2025 beträgt der Anteil der Eigenmittel am BNE 0,80 % (148,4 Mrd. €/ 18.445,0 Mrd. €). Damit wird die (dauerhafte) EU-Eigenmittelobergrenze der jährlichen Mittel für Zahlungen in Höhe von 1,40 % der Summe der Bruttonationaleinkommen aller Mit‐ gliedstaaten eingehalten. Ausnahmsweise und vorübergehend ist die Eigenmittelober‐ grenze um 0,6 Prozentpunkte auf 2 % des EU-Bruttonationaleinkommens angehoben worden, um vor dem Hintergrund der ökonomischen Folgen der Covid-19-Pandemie die Finanzierung des Aufbauinstruments NextGenerationEU abzusichern. Die Erhebung eigener Steuern („EU-Steuer“) zur Finanzierung des EU-Haushalts ist der Union nicht gestattet; die Steuerhoheit liegt weitgehend in den Händen der Mitgliedstaaten. Hervorzuheben ist, dass der EU die öffentliche Verschuldung als Instrument der allgemeinen Haushaltsfinanzierung prinzipiell nicht zusteht. Nach Artikel 311 AEUV sind die Ausgaben der EU unbeschadet der sonstigen Einnahmen vollständig aus Eigenmitteln zu finanzieren. Zwar kann die Kommission ermächtigt werden, im Namen der EU auf den Kapitalmärkten in begrenztem Umfang Kredite aufzunehmen. Die Mittel dienen etwa dazu, Darlehen zur Stützung der Zahlungsbilanzen an Mitgliedstaaten außerhalb der Eurozone zu gewähren sowie Makrofinanzhilfen an Drittstaaten zu leisten, die der EU nahestehen. Allerdings erfolgte eine massive Ausweitung der EU-Schuldenfinanzierung im Zuge der Krisenbewältigung (Eurokrise, Corona-Pande‐ mie) in Europa. Anzuführen sind etwa (vgl. Deutsche Bundesbank 2020a, 2020b): • die Schulden des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), der als Sicherheits‐ netz für Euro-Länder mit schwerwiegenden Finanzierungsproblemen eingerichtet wurde (Volumen: bis zu 240 Mrd.-€); 3.2 Der Haushalt der Europäischen Union 81 <?page no="82"?> • die Kredite aus dem SURE-Programm (Support to mitigate Unemployment Risks in an Emergency), um die Mitgliedstaaten bei der Bewältigung ihrer pandemiebe‐ dingten Arbeitsmarktrisiken zu unterstützen (Kreditfazilität: 100 Mrd.-€); • die EU-Schulden aus dem Wiederaufbaupaket NGEU für einen nachhaltigen wirtschaftlichen Aufschwung in Europa (Volumen: 750 Mrd. € in Preisen von 2018; 809,6 Mrd.-€ in laufenden Preisen). Die Verschuldung wird unterschiedlich bewertet. Dies reicht von der Ablehnung der Verschuldung bis zu deren Befürwortung als längst fälliger Schritt des gemeinschaft‐ lichen Handelns in Krisen. 3.3 Mehrjähriger Finanzrahmen 2021-2027 Für die Haushaltsplanung der EU ist der Mehrjährige Finanzrahmen (MFR) als Rah‐ menplan für die jährlichen EU-Haushalte verbindlich, der die politischen Prioritäten der Union über einen mindestens fünfjährigen Zeitraum reflektiert (Artikel 312 AEUV). Mit dem MFR werden Obergrenzen für die Ausgaben insgesamt und je Politikbereich (Rubrik) vorgegeben. Es handelt sich um eine Verordnung, die vom Rat nach Zustim‐ mung des Europäischen Parlaments mit der Mehrheit seiner Mitglieder einstimmig beschlossen wird. Aus → Abb. 13 ist die an das Jahr 2025 angepasste Gesamtstruktur des MFR 2021-2027 zu entnehmen (vgl. Europäische Kommission 2024b). Vor allem die mit Verordnung (EU, Euratom) 2024/ 765 des Rates vom 29. Februar 2024 einhergehende Überarbeitung des MFR war erforderlich, um den Mehrbedarf aus den seit 2020 eingetretenen unerwarteten Entwicklungen decken zu können. Die Mittelaufstockung resultiert insbesondere aus den Folgen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine (Ukraine Fazilität bis zu 50 Mrd. € für 2024-2027) über eine Beschleunigung der In‐ flation mit Verteuerung der Kreditkosten (vgl. Schratzenstaller/ Scheiblecker/ Pekanov u. a. 2023) bis hin zu neuen Aufgaben im Zusammenhang mit den internen und externen Dimensionen der Migration sowie der Sicherung kritischer Technologien in Europa (Strategic Technologies for Europe Platform). Mittel für Verpflichtungen (in Mio. EUR) Preise von 2018 jeweilige Preise 1. Binnenmarkt, Innovation und Digitales 133-264 149-939 2. Zusammenhalt, Resilienz und Werte 378-497 429-825 2a. wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Zu‐ sammenhalt 327-791 372-174 2b. Resilienz und Werte 50-706 57-651 3. Natürliche Ressourcen und Umwelt 355-702 400-302 82 3 Die Finanzverfassung der Europäischen Union <?page no="83"?> davon: marktbezogene Ausgaben und Direkt‐ zahlungen 252-266 283-870 4. Migration und Grenzmanagement 24-900 28-333 5. Sicherheit und Verteidigung 14-473 16-425 6. Nachbarschaft und die Welt 101-085 113-697 7. Europäische öffentliche Verwaltung 73-102 82-474 davon: Verwaltungsausgaben der Organe 55-852 62-991 Mittel für Verpflichtungen insgesamt 1-081-023 1-220-995 in Prozent des BNE 1,02 1,02 Mittel für Zahlungen insgesamt 1-067-058 1-202-788 in Prozent des BNE 1,01 1,01 - - - nachrichtlich: Aufbaufonds NGEU 750.000 806.925 Abb.-13: Mehrjähriger Finanzrahmen 2021-2027, EU-27, angepasst an 2025 Wie jeder öffentliche Haushalt ist auch der EU-Haushalt Resultat eines politischen Ringens um Positionen, von wirtschaftspolitischen Überzeugungen und Zukunftser‐ wartungen, insbesondere wenn eine Einigung über den mehrjährigen Finanzrahmen gefunden werden muss. Die gegenüber dem vorangegangenen MFR 2014-2020 vorge‐ nommene Änderung der Nomenklatur der Rubriken sowie die Anhebung von fünf auf sieben Rubriken mit entsprechender Mittelzuweisung deutet an, stärker als bislang europaweite öffentliche Güter anzubieten und Leistungen mit einem europäischen Mehrwert zu erbringen (vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirt‐ schaftlichen Entwicklung 2016, Fuest/ Pisani-Ferry 2019, Europäischer Rechnungshof 2020b, Wyplosz 2024). Allerdings erschweren die Änderungen der Rubrikbezeichnun‐ gen und die Wahl von Begriffen wie „Zusammenhalt, Resilienz und Werte“ eine nüchterne Diskussion der Prioritätensetzung und der Umsetzungsrealität. Europaweite öffentliche Güter sind dadurch charakterisiert, dass keinem Mitgliedsland die Vorteile aus der Leistungserstellung vorenthalten werden kann und der Konsum solcher Güter nicht rivalisiert. Dies gilt für eine europäische Außen- und Sicherheitspolitik wie für eine gemeinsame Entwicklungspolitik. Ein europäischer Mehrwert liegt im Fall des Binnenmarktes, der Digitalisierung, von Forschung und Technologie oder der Wettbewerbs- und Umweltpolitik vor, soweit durch regionale Externalitäten ein positiver Effekt auch auf die Wohlfahrt der anderen Mitgliedstaaten auftritt. Diese Perspektive kommt insbesondere im Aufbaufonds NGEU zum Ausdruck. Inwieweit die Laufzeit des Mehrjährigen Finanzrahmens angepasst werden soll, steht zur Disposition. Eine Verkürzung der siebenjährigen Planungsperiode auf fünf 3.3 Mehrjähriger Finanzrahmen 2021-2027 83 <?page no="84"?> Jahre wäre mit der Wahlperiode des Europäischen Parlaments und der Amtsperiode der Kommission kompatibel. Alternativ könnte auf einen Zeitraum von 5+5-Jahre mit einer verpflichtenden Halbzeitbewertung übergegangen werden (vgl. Kengyel 2017). 3.4 Der Aufbaufonds NextGenerationEU In engem Kontext mit dem Beschluss zum mehrjährigen Finanzrahmen 2021-2027 (Verordnung (EU, Euratom) 2020/ 2093 des Rates vom 17. Dezember 2020) steht ein weiterer Beschluss zur Schaffung eines Aufbauinstruments NextGenerationEU (Ver‐ ordnung (EU) 2020/ 2094 des Rates vom 14. Dezember 2020), dessen Ziel über die Krisenbewältigung infolge der Corona-Pandemie hinaus darin besteht, zur Stärkung des nachhaltigen Wachstums in Europa beizutragen und den Übergang zur digitalen und grünen Wirtschaft zu forcieren (vgl. Bundesministerium der Finanzen 2020, Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 2020, S.-170-177, Europäische Kommission 2021). Das auf die Jahre 2021 bis 2023 befristete Aufbauprogramm der EU (→ Abb. 14) hat ein Volumen von 806,9 Mrd. € in laufenden Preisen (750 Mrd. € zu Preisen von 2018), die sich auf Darlehen in Höhe von 385,8 Mrd. € und auf nicht-rückzahlbare Unterstützung in Höhe von 421,1 Mrd. € aufteilen. Der weitaus größte Anteil dieser Mittel entfällt auf die Aufbau- und Resilienzfazilität (ARF) mit einem Betrag von 723,8 Mrd. €, der verbleibende Anteil (83,1 Mrd. €) steht für reguläre EU-Programme zur Verfügung. Die Mittel des ARF setzen sich aus den Zuschüssen im Umfang von 338,0 Mrd. € und dem Kreditvolumen des Aufbaufonds insgesamt zusammen. Um eine kurzfristige Programmwirkung zu erreichen, ist beabsichtigt, dass die bis 2023 vollständig zugeteilten Gelder bis zum Jahr 2026 verausgabt werden. Anders als für die Transfers, die gemäß einem festen Verteilungsschlüssel den Mitgliedstaaten zugewiesen werden, gilt dies für die Darlehensinanspruchnahme nicht, die maximal 6,8 % des Bruttonationaleinkommens eines jeden Mitgliedstaates nicht übersteigen soll. Länder, deren eigene Finanzierungskosten geringer sind als die Kreditkonditionen der EU, werden allerdings kaum auf die EU-Darlehen zurückgreifen. Für die Auszahlung der Mittel aus dem Aufbaufonds der EU sind von den Mitgliedstaaten Reform- und Investitionspläne zu erstellen, die von der Kommission bewertet werden und der Zustimmung des Rates der Europäischen Union bedürfen. Die Finanzierung von NGEU erfolgt über eine gemeinsame Kreditaufnahme am Kapitalmarkt. Dazu wurde die Kommission ermächtigt, erstmals zeitlich begrenzt (bis 2026) eigene Anleihen im Namen der Union zu emittieren. Bedient werden die Schulden, die im Zeitraum 2028 bis spätestens 2058 zu tilgen sind, zum einen durch die Rückzahlungen der EU-Länder, die Kredite aus dem Aufbaufonds erhalten haben; zum anderen müssen die schuldenfinanzierten Transfers über die EU-Haushalte in den späteren Perioden gedeckt werden. Schon jetzt sind die Zinszahlungen für die Kredite des NGEU-Extrahaushalts aus dem laufenden EU-Haushalt zu leisten. Um die Schuldenrückzahlung zu unterstützen und sicherzustellen, dass es zu keiner 84 3 Die Finanzverfassung der Europäischen Union <?page no="85"?> Ausgabenkürzung bei den Prioritäten der langfristigen Haushaltspläne oder zu einer übermäßigen Belastung der Mitgliedstaaten kommt, ist die Einführung neuer Eigenmit‐ tel („Eigenmittel der nächsten Generation“) geplant. Der 2021 präsentierte Vorschlag der Kommission (COM(2021) 566 final) enthält Einnahmen auf der Grundlage des Emissionshandelssystems (EHS), des CO 2 -Grenzausgleichssystems (Carbon Border Adjustment Mechanism) und des Anteils der sog. Residualgewinne der weltweit größten multinationalen Unternehmen, die den EU-Mitgliedsländern aus der Neuver‐ teilung der Besteuerungsrechte im Zuge der OECD/ G20-Reform der internationalen Steuerregeln zugewiesen werden. Im Jahr 2023 wurde dieses Eigenmittelsystem der nächsten Generation angepasst und um befristete Eigenmittel auf der Grundlage von Statistiken über Unternehmensgewinne ergänzt (COM(2023) 330 final). Ein Ersatz dieser Eigenmittel ist im Zusammenhang mit dem Konzept „Geschäftstätigkeit in Europa: ein Rahmen für die Unternehmensbesteuerung (BEFIT) vorgesehen, das allerdings noch nicht umgesetzt wurde. Horizon Europe: Forschungsförderung (5,4 Mrd. Euro) NGEU (806,9 Mrd. Euro) Darlehen (385,8 Mrd. Euro) Nicht-rückzahlbare Unterstützung (421,1 Mrd. Euro) Zweckgebundene Instrumente (83,1 Mrd. Euro) ARF (723,8 Mrd. Euro) Zuschuss 338 Mrd. Euro Just Transition Fund: ökologische Transformation (10,9 Mrd. Euro) React-EU: Aufstockung der Strukturfonds (50,6 Mrd. Euro) InvestEU: Unterstützung priv./ öff. Investitionen (6,1 Mrd. Euro) Rural Development: Ländliche Entwicklung (8,1 Mrd. Euro) RescEU: EU-Katastrophenschutz (2,0 Mrd. Euro) Darlehen 385,8 Mrd. Euro Abb.-14: Struktur des Aufbaufonds NGEU Die Diversifizierung der Einnahmequellen reduziert die Abhängigkeit insbesondere von den BNE-Eigenmitteln, die als nationale Beiträge zum EU-Haushalt dazu beitragen, die Union als „Kostgänger“ der Mitgliedstaaten wahrzunehmen. Zudem ist mit der Einführung neuer Eigenmittel ein stärkerer Bezug zu den Kompetenzen und Prioritäten der EU gegeben. Die unterschiedliche Belastungswirkung alternativer Einnahmearten (effektive Inzidenz) ist zu berücksichtigen. Mit dem Wiederaufbaufonds werden zukunftsweisende Reformprogramme ange‐ stoßen, welche die Ziele des europäischen Grünen Deal mit dem „Übergang zu einer modernen, ressourceneffizienten und wettbewerbsfähigen Wirtschaft“-unterstützen. Gleichwohl wird auf einige Probleme verwiesen (vgl. Begg/ LeCacheux/ Liscai u. a. 2023, König 2024), die mit dem NGEU-Aufbaufonds verbunden sind: So trägt auch 3.4 Der Aufbaufonds NextGenerationEU 85 <?page no="86"?> dieses Instrument mit seinen unterschiedlichen Fonds, Vorgaben und Finanzierungen dazu bei, die Komplexität der Regelungen rund um den EU-Haushalt zu erhöhen. Zudem steht etwa die Kreditfinanzierung im Rahmen von NGEU in Konkurrenz zum zwischenstaatlich begründeten Europäischen Stabilitätsmechanismus, der allerdings nur für die Länder der Eurozone konzipiert ist (vgl. Sachverständigenrat zur Begutach‐ tung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 2020, S. 174). Die Finanzlandschaft der EU wird als „Galaxie“ von Finanzierungsmechanismen (Europäisches Parlament) (vgl. High Level Group on Own Resources 2016, Annex IV) und als „Flickwerk“ (vgl. Euro‐ päischer Rechnungshof 2023) aus vielfältigen Elementen außerhalb des Kernhaushalts bezeichnet, das einer institutionellen Bereinigung bedarf. Mit der Fragmentierung des Finanzsystems wird die zentrale Stellung des MFR im Haushaltsprozess ausgehöhlt. Darüber hinaus ist die Entscheidungsfindung über die EU-Finanzen im Fall von „off-budget“-Maßnahmen mit Bezug auf Krisenreaktionen - wie die sich auf Art. 122 AEUV stützende Verordnung über das NGEU-Aufbauprogramm - institutionell auch unausgewogen. Danach beschließt der Rat der Europäischen Union über den Vorschlag der Kommission, während das Europäische Parlament über die Entscheidung lediglich unterrichtet werden muss. Dies untergräbt das Vorrecht des Parlaments, Haushaltsentscheidungen nach Art. 310 ff. gemeinsam mit dem Rat zu treffen. Auch wenn die Einmaligkeit und zeitliche Befristung von NGEU hervorgehoben wird, könnte die sehr enge Verknüpfung des Wiederaufbaufonds mit dem mehrjährigen Finanzrahmen zum Anlass genommen werden, zukünftig die Möglichkeit einer dau‐ erhaften Gemeinschaftsverschuldung in Aussicht zu stellen (vgl. Bundesrechnungshof 2021). Schließlich steht die Reform des fiskalpolitischen Rahmenwerks der EU mit einem gemeinsamen makroökonomischen Stabilisierungsmechanismus im Raum. Je nach Erfolgsbilanz von NGEU könnte es zur Etablierung einer auf Dauer angelegten europäischen Fiskalkapazität kommen (vgl. Freier/ Grynberg/ O’Connell u. a. 2022). Für eine anreizkompatible Gemeinschaftsverschuldung, die Haftung und Verantwortung im Gleichgewicht hält (vgl. Deutsche Bundesbank 2020a, S. 93, 2020c, S. 87), sind allerdings vertiefende Integrationsschritte mit Änderungen der EU-Verträge (vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 2020, S.-174, 193) erforderlich. 3.5 Die Nettoposition der Mitgliedsländer innerhalb der EU Aus den Regelungen auf der Ausgabenseite und den Bestimmungen auf der Einnah‐ meseite des EU-Haushalts resultiert die Nettoposition der Mitgliedstaaten gegenüber der EU. Nettoempfängerländer (Nettozahlerländer) weisen einen positiven (negativen) Saldo aus Mittelrückflüssen von der EU und finanziellen Leistungen an die EU auf. Zur Ermittlung der sog. operativen Haushaltssalden des EU-Haushalts werden einige Bereinigungen vorgenommen. Die Ausgabenseite wird ohne Verwaltungsausgaben („nicht zurechenbare Kollektivleistungen“) und zur Vermeidung von Doppelzählungen ab 2021 ohne die Ausgaben für den NGEU-Schuldendienst erfasst (vgl. Deutsche Bun‐ 86 3 Die Finanzverfassung der Europäischen Union <?page no="87"?> desbank 2023). Auch die Ausgaben in Drittstaaten bleiben unberücksichtigt, die nicht den einzelnen Mitgliedsländern zugewiesen werden können (vgl. Busch/ Kauder/ Sul‐ tan 2024, S. 5). Die Einnahmeseite enthält die Eigenmittel ohne die Zolleinnahmen („Rotterdam-Antwerpen-Effekt“). Damit die operativen Ausgaben und die nationalen Beiträge in ihren Summen übereinstimmen, erfolgt eine Anpassung, so dass sich der Gesamtsaldo aus den Nettopositionen aller Mitgliedsländer zu Null addiert (vgl. Asatryan/ Havlik/ Heinemann u. a. 2020). Die Summe aus den Nettozahlungen aller Mitgliedstaaten, die mit dem Betrag identisch ist, den die Empfängerländer insgesamt erhalten, stellt die budgetäre Umverteilung dar. In → Abb. 15 sind die operativen Haushaltssalden in absoluten Werten und in Prozent des Bruttonationaleinkommens für das Jahr 2023 wiedergegeben (vgl. Busch/ Kauder/ Sultan 2024, S.-17). - operativer Haushaltssaldo inkl. NGEU Mitgliedsländer in Mio. EUR Anteil am BNE Anteil am BNE Belgien (BE) 636,65 0,11 -0,24 Bulgarien (BG) 1.988,05 2,23 1,99 Dänemark (DK) -1.139,73 -0,30 -0,57 Deutschland (DE) -17.433,48 -0,41 -0,66 Estland (EE) 856,27 2,32 2,75 Finnland (FI) -839,62 -0,30 -0,62 Frankreich (FR) -8.957,14 -0,31 -0,26 Griechenland (EL) 4.102,61 1,89 3,20 Irland (IE) -1.250,25 -0,32 -0,68 Italien (IT) -4.504,37 -0,22 0,22 Kroatien (HR) 2.353,22 3,07 4,28 Lettland (LV) 1.132,07 2,84 2,89 Litauen (LT) 1.636,43 2,35 2,87 Luxemburg (LU) -107,30 -0,20 -0,45 Malta (MT) 108,55 0,65 0,80 Niederlande (NL) -3.382,04 -0,33 -0,68 Österreich (AT) -1.127,9 -0,24 -0,43 Polen (PL) 8.154,20 1,13 0,91 Portugal (PT) 2227,93 0,86 2,06 Rumänien (RO) 5.994,02 1,89 2,37 3.5 Die Nettoposition der Mitgliedsländer innerhalb der EU 87 <?page no="88"?> operativer Haushaltssaldo inkl. NGEU Mitgliedsländer in Mio. EUR Anteil am BNE Anteil am BNE Schweden (SE) -1.389,04 -0,24 -0,58 Slowakei (SK) 2.540,06 2,12 3,08 Slowenien (SI) 408,28 0,66 1,05 Spanien (ES) 311,06 0,02 0,28 Tschechische Repu‐ blik (CZ) 2.965,04 1,00 1,14 Ungarn (HU) 4.561,50 2,41 2,25 Zypern (CY) 154,96 0,58 0,49 Abb.-15: Operative Haushaltssalden inklusive NGEU, 2023 Die Umverteilung zwischen den Mitgliedstaaten beträgt im Jahr 2023 rund 40 Mrd. €. Bei Betrachtung der absoluten Zahlen ist Deutschland mit 17,4 Mrd. € der größte Nettozahler der EU gefolgt von Frankreich mit knapp 9 Mrd. € und von Italien mit 4,5 Mrd. €. Größtes Nettoempfängerland ist Polen (8,2 Mrd. €) vor Rumänien (6,0 Mrd. €) und Ungarn (4,6 Mrd. €). Werden die operativen Haushaltssalden in Prozent des Bruttonationaleinkommens herangezogen, liegen Deutschland (-0,41 %) und Niederlande (-0,33) als Zahlerländer vor Irland (-0,32 %) und Frankreich (-0,31 %), während Kroatien (+3,07 %) vor Lettland (+2,84 %) und Ungarn (+2,41 %) den höchsten Nettovorteil erreicht. Über den operativen Haushaltssaldo hinaus kann vorübergehend die Nettoposition der Mitgliedsländer unter Berücksichtigung des NGEU-Fonds bestimmt werden. Den kreditfinanzierten NGEU-Transfers an die Mitgliedstaaten werden fiktive Beiträge gegenübergestellt, die sich nach der Höhe ihrer BNE-Anteile richten. Damit wird unterstellt, dass die Mitgliedsländer die Zuschüsse anstelle Schulden schon im jewei‐ ligen Jahr über den normalen EU-Haushalt finanzieren (vgl. Deutsche Bundesbank 2023, S. 84-85, 2024). Wie aus → Abb. 15 entnommen werden kann, sind Irland und die Niederlande mit einem BNE-Anteil von jeweils 0,68 % größte Nettozahler vor Deutschland mit einem Anteil von 0,66 % am BNE. Die größten Nettoempfänger sind Kroatien und Griechenland mit Werten von 4,28 % und 3,20 % des jeweiligen BNE gefolgt von der Slowakei mit einem BNE-Anteil von 3,08 % (vgl. entsprechend Deutsche Bundesbank 2024). Die Feststellung der operativen Haushaltssalden begünstigt eine Juste retour-Men‐ talität auf Seiten der Mitgliedsländer (vgl. Heinemann/ Pilati/ Zuleeg 2020); ökonomisch bedeutsam sind vielmehr die mit den Freiheiten des Binnenmarktes einhergehenden Wohlfahrtswirkungen, die aus der EU-Mitgliedschaft resultieren (vgl. Europäische Kommission 2023c). 88 3 Die Finanzverfassung der Europäischen Union <?page no="89"?> 3.6 Ausblick Angesichts der Klima- und Umweltproblematik, wirtschaftlich-technologischer Ent‐ wicklungen, Gesundheitsschutz oder neuer Aufgaben, was die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik betrifft, sieht sich die EU zahlreichen Herausforderungen gegen‐ über, die die Agenda zur Zukunft des EU-Haushalts bestimmen werden. Spätestens mit dem nächsten Mehrjährigen Finanzrahmen ab dem Jahr 2028 müssen Entscheidungen getroffen worden sein, deren Planung schon jetzt in die Wege zu leiten sind. Dabei geht es nicht nur um die Klärung haushaltstechnischer Fragen, wie die eingegangenen Rück‐ zahlungsverpflichtungen aus der NGEU-Schuldenfinanzierung bis spätestens 2058 bedient werden. Viel weitergehender sind die Rückwirkungen auf den Haushalt der EU, wenn in absehbarer Zeit weitere Staaten in die europäische Union aufgenommen werden, die große Teile des gemeinsamen Agrarhaushalts und der Kohäsionsmittel absorbieren. Wie kann die finanzielle Balance zwischen den Mitgliedsländern dann gehalten werden? Auch für die Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU stellen sich solche Fragen, wenn autonomes Handeln und Stärkung der Verteidigungsindustrie zum Schutz der Bevölkerung und der europäischen Werte angestrebt werden (vgl. D’Alfonso/ Dobreva/ Kowald u.-a. 2024, S.-30-33). Eine Reform des Haushaltssystems (vgl. von der Leyen 2024, S. 40-41) gelingt nur dann, wenn die politischen Verhältnisse eine solche Änderung zulassen. Kommission, Rat und Parlament müssen sich daher abstimmen, um für die nächsten Jahre eine gemeinsam tragfähige Position zu finden. Der Reformdruck ist hoch, die Zeit ist reif, die politische Gesamtlage ist im Blick zu behalten. ➲ Wichtige Begriffe Haushaltsplan, mehrjähriger Finanzrahmen, Rubriken, Ausgabenprioritäten, Ausga‐ bentransparenz, Eigenmittel, Haushaltskorrekturmechanismus, EU-Steuer, Nettozah‐ lerposition, NextGenerationEU ➲ Literatur Asatryan, Zareh/ Havlik, Annika/ Heinemann, Friedrich/ Nover, Justus/ Pilat, Marta (2020): Net‐ tohaushaltssalden: Varianten, neue Zahlen und Geschichte, PE 648.183, Brüssel Begg, Iain/ LeCacheux, Jacques/ Liscai, Alessandro/ Rispal, Nicolas/ Benedetto, Giacomo (2023): Options for a stronger and more agile EU budget, PE 755.099, Brüssel Bundesministerium der Finanzen (2020): „Wiederaufbaupaket und Mehrjähriger Finanzrahmen der Europäischen Union 2021-2027“, in: BMF-Monatsbericht August 2020, Berlin, S.-8-13 Bundesministerium der Finanzen (2024): „Verbesserung der Wirkungsorientierung im Bundes‐ haushalt mit einem Schwerpunkt Nachhaltigkeit“, in: BMF-Monatsbericht April 2024, Berlin, S. 31-35 3.6 Ausblick 89 <?page no="90"?> Bundesrechnungshof (2021): Bericht nach § 99 BHO zu den möglichen Auswirkungen der gemeinschaftlichen Kreditaufnahme der Mitgliedstaaten der Europäischen Union auf den Bundeshaushalt (Wiederaufbaufonds), Bonn Busch, Berthold/ Kauder, Björn/ Sultan, Samina (2024): Die EU und das Geld: Wer zahlt, wer bekommt? Nettozahler und Nettoempfänger in der EU, IW-Report 34/ 2024, Köln D'Alfonso, Alessandro (2021): Own resources of the European Union. Reforming the EU's financing system, EPRS, European Parliament, PE 630.265 D’Alfonso, Alessandro/ Dobreva, Alina/ Kowald, Karoline/ Mileisnic, Marin/ Mazur, Sidonia/ Pe‐ ters, Tim/ Pari, Marianna/ Toft, Søren (2024): Budgetary Outlook for the European Union 2024, EPRS, European Parliament, PE 762.296 Davis, Otto A./ Dempster, Michael A. H./ Wildavsky, Aaron (1966): „A Theory of the Budgetary Process“, in: The American Political Science Review, vol. 60, No. 3, S. 529-547 Deutsche Bundesbank (2020a): „Zur aktuellen Entwicklung der öffentlichen Finanzen im Euroraum“, in: Monatsbericht Mai 2020, S.-88-93 Deutsche Bundesbank (2020b): „Zur Aussagekraft nationaler Fiskalkennzahlen bei Verschul‐ dung auf der europäischen Ebene“, in: Monatsbericht Dezember 2020, S.-39-49 Deutsche Bundesbank (2020c): „EU-Haushalt: Einigung auf Mehrjährigen Finanzrahmen 2021 bis 2027 und coronabedingten Extrahaushalt „Next Generation EU“, in: Monatsbericht August 2020, S.-83-87 Deutsche Bundesbank (2023): „Finanzbeziehungen der Mitgliedstaaten zu EU-Haushalt und Extrahaushalt Next Generation EU im Jahr 2022“, in: Monatsbericht September 2023, S. 83-90 Deutsche Bundesbank (2024): „EU-Haushalt und Extrahaushalt Next Generation EU: Finanzbe‐ ziehungen der Mitgliedstaaten im Jahr 2023“, in: Monatsbericht September 2024, S.-156-173 Europäische Kommission (2017): Reflexionspapier zur Vertiefung der Wirtschafts- und Wäh‐ rungsunion, COM(2017) 291, 31.5.2017, Brüssel Europäische Kommission (2018): Haushaltsverfahren. 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Preparation of the 2025 draft budget, SEC(2024) 250 - June 2024, Luxemburg Europäische Kommission (2024b): Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat. Technische Anpassung des mehrjährigen Finanzrahmens für 2025 gemäß Artikel 90 3 Die Finanzverfassung der Europäischen Union <?page no="91"?> 4 der Verordnung (EU, Euratom) 2020/ 2093 des Rates zur Festlegung des mehrjährigen Finanzrahmens für die Jahre 2021 bis 2027, COM(2024) 120 final, Brüssel Europäischer Rat/ Rat der Europäischen Union (2024): EU-Haushaltsplan für 2025: Rat einigt sich auf seinen Standpunkt zum Entwurf des Haushaltsplans, Pressemitteilung, 17. Juli 2024 Europäischer Rechnungshof (2020a): Stellungnahme Nr. 11/ 2020 zu dem Entwurf einer Verordnung des Rates (EU, Euratom) zur Änderung der Verordnung (EWG, Euratom) Nr.-1553/ 89 über die endgültige einheitliche Regelung für die Erhebung der Mehrwertsteuereigenmittel, 2021/ C 26/ 01 Europäischer Rechnungshof (2020b): Realising European added value, ECA Journal, No. 3, 2020 Europäischer Rechnungshof (2023): Die Finanzlandschaft der EU: ein Flickwerk, das weitere Vereinfachung und mehr Rechenschaftspflicht erfordert, Sonderbericht 05, Luxemburg Freier, Maximilian/ Grynberg, Charlotte/ O’Connell, Marguerite/ Rodriguez-Vives, Marta/ Zoreli, Nico (2022): „Next Generation EU in der Perspektive des Euro-Währungsgebiets“, in: Euro‐ päische Zentralbank, Wirtschaftsbericht, Ausgabe 1/ 2022, S.-107-129 Fuest, Clemens/ Pisany-Ferry, Jean (2019): A Primer on Developing European Public Goods. A report to Ministers Bruno Le Maire and Olaf Scholz, EconPol Policy Report 16/ 2019, vol. 3 Heinemann, Friedrich (2006): „Das common pool-Problem in der EU-Finanzverfassung“, in: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften, Bd. 4, H. 2, S. 188-213 Heinemann, Friedrich/ Pilati, Marta/ Zuleeg, Fabian (2020): How to overcome the „juste retour“ obsession, European Parliament, PE 648.763 High Level Group on Own Resources (2016): Future Financing of the EU. Final report and recommendations of the High Level Group on Own Resources, December 2016, Internet: ht tps: / / commission.europa.eu/ system/ files/ 2018-10/ future-financing-hlgor-final-report_2016_ en.pdf Kengyel, Ákos (2017): The next Multiannual Financial Framework (MFF) and its Duration, PE 603.798, Brüssel König, Jörg (2024): Europas Sehnsucht nach EU-Schulden, Stiftung Marktwirtschaft, Berlin Mazur, Sidonia/ Graphics: Killmeyer, Lucille (2024): Annual EU budgetary procedure. Introduc‐ tion to the steps in the European Parliament, EPRS, European Parliament, PE 762.376 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2016): Zeit für Reformen, Jahresgutachten 2016/ 17, Wiesbaden Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2020): Co‐ rona-Krise gemeinsam bewältigen, Resilienz und Wachstum stärken, Jahresgutachten 2020/ 21, Wiesbaden Sapala, Magdalena (2018): Performance budgeting. A means to improve EU spending, EPRS, European Parliament, PE 608.724 Schratzenstaller, Margit/ Scheiblecker, Marcus/ Pekanov, Atanas/ Kubeková, Veronika (2023): The impacts of recent inflation developments on the EU finances, PE 756.629, Brüssel Siemroth, Christoph (2022): „Dezemberfieber senken: Vermeidung von verschwenderischen Jahresendausgaben“, in: Wirtschaftsdienst, 102. Jg., H. 6, S.-461-464 von der Leyen, Ursula (2024): Europa hat die Wahl. Politische Leitlinien für die nächste Europäische Kommission 2024-2029, Straßburg ➲ Literatur 91 <?page no="92"?> Wirtschaftsdienst (2022): Verschwendung der Jahresendausgaben im öffentlichen Sektor: Replik und Erwiderung, 102. Jg., H. 8, S.-649-651 Wyplosz, Charles (2024): Which European Public Goods? , PE 755.722, Brüssel Zimmermann, Horst/ Henke, Klaus-Dirk/ Broer, Michael (2024): Finanzwissenschaft. Eine Ein‐ führung in die Staatsfinanzen, 14. Auflage, München, Franz Vahlen Verlag 92 3 Die Finanzverfassung der Europäischen Union <?page no="95"?> Teil III ∙ Der europäische Wirtschaftsraum - Handel und Wettbewerb <?page no="96"?> 4 Der europäische Binnenmarkt eLearning | zu diesem Kapitel finden Sie einen eLearning-Kurs online. Folgen Sie dem Link oder nutzen Sie den QR-Code. 🔗 https: / / narr.kwaest.io/ s/ 1341 Leitfragen • Welche Argumente liefert die Handelstheorie zur Analyse von Zollunionen? • Warum wird der Binnenmarkt als „Herzstück der Integration“ bezeichnet? • Welche Schwierigkeiten stellen sich bei der Umsetzung der vier Freiheiten des Binnenmarktes? 4.1 Einführung Bereits im Gründungsvertrag der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft wurde in Artikel 2 als erste Aufgabe der Gemeinschaft die Errichtung eines gemeinsamen Marktes genannt. Und in Artikel 3 folgt die Konkretisierung dieses Ziels: Freihandel innerhalb der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft soll ebenso gewährleistet werden wie die Beseitigung der Hindernisse für den freien Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr. Der Prozess der Abschaffung der Binnenzölle und der Einführung eines gemeinsa‐ men Außenzolls war bis 1968 abgeschlossen. Allerdings blieben Exporte und Importe innerhalb der Gemeinschaft deutlich komplizierter als der Handel innerhalb eines Landes. Quantitative Beschränkungen, unterschiedliche technische Normen, gesund‐ heitliche Vorschriften, Umweltauflagen und weitere Regelungen erschwerten den Handel. Auch von einem freien Dienstleistungs-, Personen- und Kapitalverkehr wie in einem Binnenmarkt waren die Mitgliedstaaten noch weit entfernt: Die Arbeitsauf‐ nahme in einem anderen Mitgliedsland als dem Heimatland war vielfältig beschränkt, grenzüberschreitende Kapitalbewegungen wurden streng kontrolliert. In den 1970er-Jahren gab es vor dem Hintergrund makroökonomischer Krisen in den Mitgliedstaaten keine wesentlichen Fortschritte mit Blick auf eine Öffnung der nationalen Märkte. Im Zuge der in den 1980er-Jahren geführten Diskussion über die nachlassende Wettbewerbsfähigkeit Europas wuchs die Offenheit für neue Initiativen. Das Weißbuch der Union, welches 1985 den Weg zur Vollendung eines echten Binnenmarktes aufzeigte, wurde positiv aufgenommen. <?page no="97"?> Box 24 |-Grünbücher und Weißbücher der Union Die Kommission veröffentlicht in wichtigen Bereichen sogenannte „Grünbü‐ cher“: Dokumente, die einen europaweiten Diskurs zu einem spezifischen Thema anregen sollen. Sie sind in der Regel der erste Schritt in einem strukturierten Konsultationsprozess. Diesem folgt häufig die Vorlage eines „Weißbuches“, in dem denkbare Rechtsvorschriften vorgestellt und erläutert werden. Im Anschluss kann es dann zu gesetzgeberischen Maßnahmen oder Aktionsprogrammen der Union kommen. In dem Weißbuch zum Binnenmarkt und in einem von der Union in Auftrag gegebenen Bericht (dem „Cecchini-Report“) wurden die wirtschaftlichen Vorteile aus der Fortführung der Integration, der Reduzierung der Kosten der Bürokratie, der Beseitigung des Protektionismus im öffentlichen Auftragswesen, der Abschaf‐ fung der Barrieren für grenzüberschreitende Unternehmenstätigkeit, der Beseiti‐ gung der Probleme infolge abweichender technischer Normen und Vorschriften aufgezeigt (vgl. Cecchini 1988). Dem damaligen Kommissionspräsidenten Delors gelang es, die Mitgliedstaaten für eine gemeinsame Anstrengung zur Schaffung eines echten Binnenmarktes zu gewinnen, die Einheitliche Europäische Akte zeugte von der Entschiedenheit der Mitgliedstaaten, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen (vgl. Brunn 2020). Bis zum 31. Dezember 1992 sollte die Mobilität der Produktionsfaktoren vollständig gewährleistet werden und der Handel zwischen den Mitgliedstaaten wie der Handel innerhalb eines Landes funktionieren. Damit unternahm die Gemeinschaft einen weiteren Schritt im stufenweise vollzogenen Prozess des wirtschaftlichen Zusammenschlusses. Der negativen Integration mit dem Abbau von Hindernissen steht die positive Integration mit der Abstimmung und Koordinierung gemeinsamer politischer Maßnahmen in Schlüsselbereichen der Politik gegenüber. Die → Abb. 16 zeigt die schematisierte Abfolge von Integrationsschritten von der Freihandelszone zur Wirtschafts- und Währungsunion: 4.1 Einführung 97 <?page no="98"?> freier Bin‐ nenhandel gemein‐ same Au‐ ßenzölle Mobilität der Produktionsfak‐ toren, Abbau ad‐ ministrativer Be‐ schränkungen gemein‐ same Wirt‐ schaftspoli‐ tik gemeinsame Wirtschaftspo‐ litik und ge‐ meinsame Währungspoli‐ tik Freihandels‐ zone ● - - - - Zollunion ● ● - - - Binnen‐ markt ● ● ● - - Wirtschafts‐ union ● ● ● ● - Wirtschafts- und Wäh‐ rungsunion ● ● ● ● ● Abb.-16: Stufen der Integration Nach umfangreichen Arbeiten und Hunderten von Einzelmaßnahmen wurde 1993 die erste große Etappe auf dem Weg zur Schaffung eines Binnenmarktes als erreicht bezeichnet. Da jedoch auch weiterhin Beschränkungen den Handel erschwerten, wur‐ den regelmäßig Strategien und Maßnahmen identifiziert, um wirtschaftliche Hürden für den gemeinsamen Markt zu beseitigen (vgl. Europäische Kommission 2011, 2012, 2015c). Im Zuge der Covid-19-Pandemie mit Grenzschließungen, Lieferengpässen und Versorgungsdefiziten im Fall grundlegender (z. B. medizinischer) Güter zeigten sich be‐ sondere Herausforderungen für das Funktionieren des gemeinsamen Marktes. Mit dem Notfallinstrument für den Binnenmarkt (Internal Market Emergency and Resilience Act) wird eine bessere Krisenreaktion der EU angestrebt und ihre Handlungsfähigkeit in zukünftigen Krisen gestärkt. Neben den EU-Mitgliedstaaten sind mit dem 1992 geschlossenen (1994 in Kraft getretenen) Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) auch die drei EFTA-Länder Island, Liechtenstein und Norwegen Bestandteil des Binnenmarktes. Die Schweiz ist durch bilaterale Verträge mit der EU verbunden. Die Festigung und Vertiefung des Binnenmarktes, der Kern des Integrationspro‐ zesses, bleibt das zentrale wirtschaftliche Projekt der Europäischen Union (vgl. Eu‐ ropäische Kommission 2023a). Angesichts sich ändernder weltwirtschaftlicher und geopolitischer Rahmenbedingungen bedarf es allerdings einer strategischeren Ausrich‐ tung des gemeinsamen Marktes. In dem vom Europäischen Rat initiierten Bericht zur Zukunft des EU-Binnenmarktes werden als übergeordnete Prioritäten aufgeführt (vgl. Letta 2024, S. 7f.): das Engagement und die Finanzierung der fairen, grünen und digitalen Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft, die zielgerichtete und zeitlich abgestimmte Fortführung des EU-Erweiterungsprozesses und die Entwicklung eines 98 4 Der europäische Binnenmarkt <?page no="99"?> „Gemeinsamen Marktes für die Sicherheits- und Verteidigungsindustrie“. Auch im Report von Draghi (2024) werden die Herausforderungen adressiert, denen sich die eu‐ ropäische Wirtschaft gegenübersieht: Schließen der Produktivitätslücke vor allem im Technologiesektor, Beachtung der Balance von Dekarbonisierung der Wirtschaft und Wirtschaftswachstum, Abbau kritischer Abhängigkeiten und Erhöhung der Sicherheit in Europa. 4.2 Theoretische Begründung für die Schaffung eines Binnenmarktes Der Schaffung eines Binnenmarktes werden mehrere Effekte zugeschrieben, die sich unter anderem nach wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen, nach kurz- und langfristigen, einmaligen und dauerhaften, mikro- und makroökonomischen, statischen und dynamischen Effekten vielfältig unterscheiden lassen und für eine genaue Analyse wichtig sind. Die Vor- und Nachteile des europäischen Binnenmarktes wurden intensiv diskutiert, eine Vielzahl empirischer Studien wurde erstellt. Dabei spielten die statischen und dynamischen wirtschaftlichen Effekte infolge des vermehrten Handels innerhalb der Gemeinschaft in der öffentlichen Debatte eine besondere Rolle. 4.2.1 Statische Effekte - Handelsschaffung und Handelsumlenkung Als „statische Effekte“ bezeichnet man in der Handelstheorie jene Wohlfahrtswir‐ kungen, die entstehen, wenn durch Veränderungen der Rahmenbedingungen eine ineffiziente Allokation von Ressourcen beseitigt wird. Die messbaren Effekte der Veränderung der Produktion, des Konsums und der Terms of Trade werden hierunter erfasst (vgl. Ohr 2013, S.-49). Durch die Schaffung einer Zollunion wird einerseits in der Regel der Handel zwi‐ schen den Mitgliedern der Zollunion zunehmen, ein als Handelsschaffung bezeichneter Prozess. Andererseits kommt es durch die Begünstigung der Produzenten innerhalb der Zollunion zu einer Verdrängung der Produzenten von außerhalb der Zollunion, ein als Handelsumlenkung bezeichneter Prozess. Welcher der beiden Effekte dominiert, ist abhängig von den konkreten Umständen. Eine Zollunion kann in der Summe sowohl positive als auch negative statische Wohlfahrtseffekte für die Wirtschaftssubjekte innerhalb der Zollunion haben. In → Abb. 17 sind die Wohlfahrtseffekte für den Fall eines Landes A veranschaulicht, das ein bestimmtes Produkt nicht selbst erstellt und es zum jeweils festen Preis P aus dem Land B bzw. dem Land C (mit P C -<-P B ) beziehen kann. Erhebt Land A in der Ausgangssituation einen identischen Außenzoll (Z) auf die Importe aus beiden Ländern, wird wegen des geringeren Preises (P C + Z) die Menge X C ′ aus Land C nachgefragt. Die soziale Wohlfahrt besteht für Land A aus der Konsumentenrente (Fläche 1) und dem Zollaufkommen (Flächen 2 und 4). 4.2 Theoretische Begründung für die Schaffung eines Binnenmarktes 99 <?page no="100"?> 1 2 3 4 5 6 P X P C + Z X C X B X c P B P C P B + Z N A Abb.-17: Zollunion und Wohlfahrtsgewinn Entschließt sich Land A, mit dem Land C eine Zollunion zu bilden, wird der Zoll gegenüber dem Partnerland abgebaut. Beim Preis P C steigen die Importe auf die Menge X C an. Im Ausmaß dieser Handelsschaffung erhöht sich die soziale Wohlfahrt, die bei Wegfall des ursprünglichen Zollaufkommens der gesamten Konsumentenrente (Flächen 1 bis 6) entspricht. Eine Handelsumlenkung findet statt, wenn Land A mit Land B eine Zollunion eingeht. Im Vergleich zur Ausgangssituation importiert Land A aufgrund P B < P C + Z die Menge X B nun aus dem Land B. Der Nettowohlfahrtseffekt für das Land A ist positiv, wenn die Zunahme an Konsumentenrente (Flächen 2 und 3) den Verlust an Zolleinnahmen (Flächen 2 und 4) übersteigt und per Saldo Fläche 3 daher größer ist als Fläche 4. ⁈ Verständnisfrage | Prüfen Sie die Wohlfahrtsänderungen einer Zollunion zwischen Land A und Land B, wenn in Land A eine klassisch verlaufende Angebotsfunktion (eigenes Angebot) vorliegt. Die Senkung der Bürokratiekosten grenzüberschreitender Handelsströme Schließlich erleichtert die Schaffung eines Binnenmarktes auch die Beseitigung büro‐ kratischer Hindernisse: Die volkswirtschaftlichen Ressourcen, die für Zollformalitäten, für Wartezeiten beim Zoll und damit zusammenhängende Kosten entstehen, können eingespart werden. 100 4 Der europäische Binnenmarkt <?page no="101"?> 4.2.2 Dynamische Effekte Als „dynamische Effekte“ werden jene Effekte bezeichnet, welche die Marktdynamik verändern, also nicht nur einen einmaligen Wachstumsschub implizieren. Die Wirkung positiver Skalenerträge Durch die Realisierung eines Binnenmarktes tritt ein einheitlicher Markt an die Stelle der einzelnen abgegrenzten Volkswirtschaften. Unternehmen innerhalb des Binnenmarktes haben damit ein größeres Absatzpotenzial. Ist die Produktion durch positive Skalenerträge und damit Einsparungen bei der Massenproduktion infolge von Fließbandproduktion, verbesserter Organisationsabläufe, wachsender Erfahrungen der Arbeitnehmer oder Fixkostendegression gekennzeichnet, dann können zusätzliche Wohlfahrtseffekte der Zollunion auftreten (vgl. Hitiris 2002). X P X P Land B Land A 1 2 4 3 5 6 8 7 X A X‘ A X‘‘ A X‘‘ B X‘ B X B X‘‘ A + X‘‘ B X‘ A + X‘ B P A = P w + Z A P U P W N A + N B N A DK P B = P w + Z B P U P W N A Abb.-18: Skalenerträge in einer Zollunion Die → Abb. 18 zeigt die jeweiligen Nachfragefunktionen nach einem Gut in den beiden Ländern A und B sowie deren aggregierte Nachfrage N A + N B . Im Unterschied zu Land A ohne eigenes inländisches Angebot erfolgt die Produktion im Land B zu fallenden Durchschnittskosten, die durch die Kurve DK repräsentiert werden. Der gegebene Weltmarktpreis für dieses Gut beträgt P W , so dass bei Freihandel die nachgefragten Mengen X'' A -+-X'' B durch Einfuhren gedeckt werden können. In der Ausgangssituation ohne Zollunion sei angenommen, dass Land A einen Mengenzoll (Z A ) erhebt, der zu einem Inlandspreis für das Gut von P A und einer Importmenge in Höhe von X A führt. Im Land B wird der Zoll gerade so gesetzt, dass die Nachfrage nach dem Gut exakt mit der inländischen Produktion übereinstimmt und bei Stückkostenkalkulation die Preis-Mengen-Kombination P B , X B realisiert wird. 4.2 Theoretische Begründung für die Schaffung eines Binnenmarktes 101 <?page no="102"?> Bilden die Länder A und B eine Zollunion, in der sich der unionsinterne Produktpreis P U (mit P W < P U < P B ) herausbildet, so kann die Gesamtnachfrage X' A + X' B durch die Produktion in Land B vollständig gedeckt werden. Über den Nettowohlfahrts‐ effekt für das Land A (Fläche 3 abzüglich Fläche 4) aus Handelsumlenkung (X A ) und Handelsschaffung (X A X' A ) hinaus kommt es im Land B zu einer Zunahme der Konsumentenrente (Flächen 6 und 7), die auf die Preissenkung infolge der positiven Skalenerträge zurückzuführen ist. Die Fläche 8 im Land B, die den beiden Flächen 4 und 5 im Land A entspricht, stellt einen Vorteil („Transfer“) zugunsten von Land B dar, da für die Importmenge X' A des Landes A der höhere unionsinterne Preis anstelle des geringeren Weltmarktpreises gilt. Höherer Wettbewerb und die Beseitigung der X-Ineffizienz Die Schaffung einer Zollunion erweitert den Markt und die Wettbewerbsintensität. In der neoklassischen Theorie wird angenommen, dass Unternehmen auch in geschützten Märkten mit geringer Wettbewerbsintensität mit gegebenen Inputs den maximalen Output produzieren, die Unternehmen technisch effiziente Lösungen realisieren. Das Konzept der X-Effizienz basiert demgegenüber auf der Annahme, dass in Märkten mit geringem Wettbewerbsdruck Unternehmen häufig ineffiziente Lösungen realisieren, Verbesserungsmöglichkeiten nicht konsequent gesucht und Ressourcen verschwendet werden (vgl. Leibenstein 1978). Solche Ineffizienzen (X-Ineffizienzen) können durch erhöhten Wettbewerbsdruck beseitigt werden. Sinkt beispielsweise der Außenschutz eines Marktes oder steigt die Zahl der Unternehmen in einem Markt und damit die Wettbewerbsintensität, werden Unternehmen effizienter wirtschaften, es kommt nicht mehr zu einer Verschwendung volkswirtschaftlicher Ressourcen. Die Bedeutung der statischen und dynamischen Effekte Die konkreten wirtschaftlichen Auswirkungen der Schaffung eines Binnenmarktes sind abhängig von spezifischen Bedingungen wie der Größe der Märkte, der Han‐ delsverflechtung der einzelnen Märkte miteinander und mit dem Rest der Welt, der Spezialisierung vor Öffnung des Binnenmarktes und der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen der beteiligten Länder (vgl. Europäische Kommission 2023b). 4.3 Rechtsgrundlagen, Ziele, Institutionen In Artikel 3, Absatz 3 des EUV heißt es, dass die Union einen Binnenmarkt errichtet. Im AEUV werden die Binnenmarktziele konkretisiert. Die Union hat das Funktionieren des Binnenmarktes zu gewährleisten, der als ein Raum beschrieben wird „ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen der Verträge gewährleistet ist“ (Artikel 26, Absatz 2 des AEUV). Damit sind die vier Freiheiten benannt, die seit Mitte der 102 4 Der europäische Binnenmarkt <?page no="103"?> 1980er-Jahre im Mittelpunkt der Binnenmarktpolitik stehen. Die Artikel 26-66 des AEUV spezifizieren die Politik der Union in diesem Bereich. Artikel 28-37 befassen sich mit dem freien Warenverkehr und Artikel 45-66 mit der Freizügigkeit, dem freien Dienstleistungsverkehr und dem Kapitalverkehr. Im Zuge der umfangreichen Maßnahmen zur Schaffung des Binnenmarktes haben die Organe der Union gegenüber nationalen Institutionen an Bedeutung gewonnen. Dies galt zunächst für den Europäischen Rat, der das politische Ziel der Schaffung und Weiterentwicklung des Binnenmarktes vertrat und über die prioritären Schritte ent‐ schied. Mit dem Binnenmarktprojekt gewann auch die Kommission an Macht, die mit konkreten Vorschlägen für die Entwürfe der Verordnungen, Richtlinien und Initiativen verantwortlich zeichnete. In dem nachfolgenden Gesetzgebungsprozess bestimmen der Ministerrat und das Parlament die konkrete Ausgestaltung der Vorhaben. In der Umset‐ zung spielt die Kommission wiederum eine zentrale Rolle: Sie überwacht die Einhaltung der verabredeten Regeln, die Verfahren gegen Mitgliedsländer zeigen beispielhaft ihre Rolle als „Hüterin der Verträge“. Besondere Bedeutung für die Binnenmarktpolitik hatte stets auch der Gerichtshof, der in seinen Entscheidungen häufig nationalen Interessen entgegentrat und Wege zur Weiterentwicklung der Integration aufzeigte. Die nationalen Behörden und nationalen Parlamente hingegen gaben faktisch Macht an die europäischen Institutionen ab. Das Binnenmarktprojekt steht sinnbildlich für den Prozess der „Europäisierung“. Für die nationalen Akteure bedeutete dies gleichzeitig, dass neue Wege der Einflussnahme auf die Gesetzgebungsprozesse und Verfahren der Erarbeitung neuer Initiativen sukzessive etabliert werden mussten. 4.4 Die Vier Freiheiten - Die konkrete Umsetzung des Binnenmarktprojektes Die Ziele der Binnenmarktpolitik wurden öffentlichkeitswirksam stets mit Bezug auf die Realisierung der „vier Freiheiten“ und dem damit verbundenen gesamtgesellschaft‐ lichen Nettonutzen kommuniziert. Diverse empirische Studien dokumentieren einen positiven Wachstumsbeitrag (vgl. Deutsche Bank 2013, Bertelsmann-Stiftung 2014, in’t Veld 2019, Mion/ Ponattu 2019, Saulnier 2022). Dennoch werden von Unternehmen (I) und Verbrauchern (II) einige Binnenmarkthemmnisse angeführt, die in → Abb. 19 aufgelistet sind (vgl. Europäische Kommission 2020, S. 12-13, siehe auch Deutsche Industrie- und Handelskammer 2024): 1 Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Informationen I, II 2 Komplexe Verwaltungsverfahren beim grenzüberschreitenden Verkauf von Waren oder Dienstleistungen I 3 Ungleicher Zugang zur Vergabe öffentlicher Aufträge I 4 Ineffizienzen aufgrund zusätzlicher technischer Anforderungen, Standards und anderer Vorschriften in bestimmten Branchen auf nationaler Ebene I 4.4 Die Vier Freiheiten - Die konkrete Umsetzung des Binnenmarktprojektes 103 <?page no="104"?> 5 Fragen im Zusammenhang mit den Zugangsvoraussetzungen und Ausübungs‐ anforderungen (im Dienstleistungssektor) I 6 Abgelehnte oder weitergeleitete Anträge auf grenzüberschreitende Käufe I, II 7 Geringeres Vertrauen in grenzüberschreitende Online-Käufe II 8 Zielscheibe von Betrug mit grenzüberschreitendem Ursprung II 9 Aufwendige Verfahren aufgrund unterschiedlicher Steuersysteme und -ver‐ waltungen I 10 Probleme bei der Beilegung von Handelsstreitigkeiten/ zivilrechtlichen Strei‐ tigkeiten und beim Inkasso I 11 Probleme bei der Registrierung einer Geschäftstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat I 12 Probleme durch Qualifikationsdefizite und Missverhältnisse zwischen Quali‐ fikationsangebot und -nachfrage I 13 Sprachbarrieren I, II Abb.-19: Gemeldete Binnenmarkthemmnisse Würde das Potenzial des Binnenmarktes durch Beseitigung der Hindernisse voll ausgeschöpft, könnte es nach einer Untersuchung für das Europäische Parlament (2019) zu einem Anstieg der Wirtschaftsleistung um 713 Mrd. € bzw. knapp 5 % bis 2029 führen. Würden weitergehend die Vorschläge des Europäischen Parlaments in insgesamt 10 Po‐ litikfeldern realisiert, könnte in Europa insgesamt eine „2-Billionen-Euro-Dividende“ erzielt werden. Nach aktualisierten Ergebnissen (vgl. Europäisches Parlament 2024) ließen sich innerhalb des kommenden Zehnjahreszeitraums sogar deutlich höhere Vorteile von bis zu 3 Billionen € pro Jahr realisieren, was einem Wert von rund 18 v. H. des Bruttoinlandsprodukts der EU bzw. von 6.700 € pro Bürger und Jahr entspricht. Auch wenn die Schätzungen angesichts der komplexen Wirkungen und den damit einhergehenden Problemen der Unsicherheit nicht unabhängig von den zugrundeliegenden Annahmen der Modelle sind, zeigen sie doch die Bedeutung auf, die einer kontinuierlichen Fortentwicklung des Binnenmarktes zukommt. 4.4.1 Warenverkehr Freier Warenverkehr beinhaltet, dass die Mitgliedstaaten der Union neben der Grün‐ dung einer Zollunion und der Verfolgung einer gemeinsamen Zollpolitik gegenüber Drittländern keine Zölle und mengenmäßige Einfuhr- und Ausfuhrbeschränkungen für den Handel innerhalb der Union anwenden. Die Beseitigung der Zölle war Ende der 1960er-Jahre für den innergemeinschaftlichen Handel erfolgt. Mit der Realisierung eines wirklich freien Warenverkehrs und der Beseitigung der tarifären und nicht-tari‐ fären Beschränkungen sind Wohlfahrtsgewinne für die Gesellschaften verknüpft. In 104 4 Der europäische Binnenmarkt <?page no="105"?> → Abb. 20 lässt sich der Wohlfahrtseffekt aus der Abschaffung von Zöllen ablesen. Wird in dem betreffenden Land der Zoll Z abgeschafft, sinkt der inländische Preis von P W + Z auf P W , die Konsumentenrente steigt um die Flächen (1 + 2 + 3 + 4). Die Produzentenrente sinkt um die Fläche 1 und die Zolleinnahmen um die Fläche 3. Der Nettowohlfahrtsgewinn besteht in den beiden Dreiecken 2 und 4. 3 P 1 2 4 X N A P W P W + Z X A X‘ A X N X‘ N Abb.-20: Wohlfahrtseffekte der Abschaffung von Zöllen Vergleichbare Effekte wie bei dem Mengenzoll treten bei einer Importquote (I q ) auf, die zu einer Rechtsverlagerung der Angebotsfunktion von A nach A Iq führt (→ Abb. 21). Infolge der Mengenrestriktion ergibt sich beim Ausgangspreis P W ein Nachfrageüberhang (X N -- X' A ), der den Preis auf P Iq treibt. Entspricht dieser Anstieg in seiner Höhe dem Mengenzoll Z, vermindert sich bei Aufhebung der Importbeschränkung die Produzentenrente um die Fläche 1. Die Importeure, die die Ware zum Weltmarktpreis P W günstig kaufen und im Inland zum höheren Preis P Iq verkaufen, verlieren ihre Quotenrente (3a + 3b), die mit der Fläche des Zollaufkommens beim Mengenzoll identisch ist. Da die Konsumentenrente um die Fläche des Trapezes 1 bis 4 ansteigt, kommt es per Saldo auch hier zu einer Wohlfahrtssteigerung im Ausmaß der Teilflächen 2 und 4. 4.4 Die Vier Freiheiten - Die konkrete Umsetzung des Binnenmarktprojektes 105 <?page no="106"?> 1 3a 2 P 4 X N A P W P W + Iq X A X‘ A X N X‘ N A Iq 3b Iq Abb.-21: Wohlfahrtseffekte der Aufhebung einer Importquote Unter Vernachlässigung langfristiger und dynamischer Effekte, von Externalitäten und politischen Ökonomieaspekten ergibt die partialanalytische statische Betrachtung, dass die Öffnung der Märkte für Länder insgesamt einen Nettowohlfahrtsgewinn verspricht. In Artikel 28-37 des AEUV sind Fragen des freien Warenverkehrs geregelt. In Artikel 28 wird das Ziel der Schaffung einer Zollunion, der Abschaffung von Zöllen und Abgaben und der Einführung eines gemeinsamen Zolltarifs benannt. Mengenmäßige Einfuhr- und Ausfuhrbeschränkungen sind gemäß Artikel 34 und 35 AEUV verboten. Legitim und möglich sind jedoch in bestimmten Fällen Beschränkungen aus „Gründen der öffentlichen Sittlichkeit, Ordnung und Sicherheit, zum Schutze der Gesundheit und des Lebens von Menschen, Tieren oder Pflanzen, des nationalen Kulturguts von künstlerischem, geschichtlichem oder archäologischem Wert oder des gewerblichen und kommerziellen Eigentums“ (Artikel 36 AEUV). Die Ausnahmeregeln waren wichtig, um in konkreten Fällen wie z. B. bei Tier‐ seuchen vertragskonform notwendige Beschränkungen vorzunehmen. Gleichzeitig war die Regelung des Artikels 36 AEUV auch das Einfallstor für protektionistische Politik: Staaten widerstanden häufig nicht der Versuchung, die eigene Industrie mit wohlklingenden Argumenten zu schützen. Eine besondere Herausforderung für den Binnenmarkt ergibt sich aus der Existenz unterschiedlicher Steuersysteme. Dies gilt sowohl für direkte Steuern wie die Einkom‐ 106 4 Der europäische Binnenmarkt <?page no="107"?> men- und Körperschaftsteuer als auch für indirekte Steuern wie die Umsatzsteuer und die Verbrauchsteuern. Angesichts der den Mitgliedstaaten zustehenden Steuerhoheit verfügt die EU nur über begrenzte Steuerkompetenzen (Art. 110 bis 113 AEUV), die darauf gerichtet sind, steuerlich bedingte Hindernisse bei grenzüberschreitenden Transaktionen zu beseitigen, verzerrenden Steuerwettbewerb zwischen den Mitglied‐ staaten (Abwanderung nationaler Bemessungsgrundlagen) zu überwinden und Steu‐ erumgehung und Steuerhinterziehung zu verhindern (vgl. Europäisches Parlament 2024). Vor allem die Umsatzsteuer (Mehrwertsteuer) war dabei Gegenstand der Harmo‐ nisierungsbestrebungen (gemeinsames Mehrwertsteuersystem mit Vorsteuerabzug, Vereinheitlichung der Bemessungsgrundlage, Diskussion über Bandbreiten für den Normalsatz wie für den ermäßigten Satz der Mehrwertsteuer). Der Normalsatz der Mehrwertsteuer ist auf mindestens 15 v. H. festgelegt. Auf den Verkauf ausgewählter Güter und Dienstleistungen können maximal zwei ermäßigte Sätze in Höhe des Mindestsatzes von 5 v. H. angewandt werden. Daneben gibt es auf bestimmte Umsätze noch einige Sonder-Mehrwertsteuersätze (Richtlinie (EU) 2022/ 542 des Rates). Zu Beginn des Jahres 2024 lagen die geltenden Mehrwertsteuersätze in den Mitgliedstaaten der EU beim Normalsatz zwischen 17 v. H. und 27 v. H. und beim ermäßigten Steuersatz zwischen 5 v. H. und 18 v. H. (vgl. Europäische Kommission 2024a). Beim Ex- und Import von Gütern und Dienstleistungen stellt sich vor allem deswegen die Frage, ob ein Produkt mit der Mehrwertsteuer des Ursprungslandes oder des Bestimmungslandes belegt werden soll. Die Entscheidung für die konsequente Anwendung des einen oder anderen Systems ist noch nicht gefallen (vgl. Homburg 2015, S. 320-322). Mit der Absicht, einen einheitlichen europäischen Mehrwertsteuerraum zu schaffen, wurde von der Europäischen Kommission (2016) ein Aktionsplan präsentiert, um das gegenwärtige Mehrwertsteuersystem einfacher, weniger betrugsanfällig und un‐ ternehmensfreundlich zu gestalten. Nach den in der Folge vorgelegten Vorschlägen zum „endgültigen Mehrwertsteuersystem“ (vgl. Europäische Kommission 2017a, 2018) ist die Besteuerung des grenzüberschreitenden Handels nach dem Bestimmungsland‐ prinzip vorgesehen. Nicht zuletzt resultiert aus der digitalen Transformation der Wirtschaft die Aufgabe, die für den Binnenmarkt geltenden Mehrwertsteuervorschrif‐ ten entsprechend zu modernisieren, digitale Meldepflichten für grenzüberschreitende Umsätze (transaktionsbasierte Echtzeitmeldungen, elektronische Rechnungsstellung) im intra-EU-Handel vorzusehen und den Mehrwertsteuerrahmen der Plattformökono‐ mie anzupassen (vgl. Europäische Kommission 2022a). Box 25 |-Bestimmungsland- und Ursprungslandprinzip Bei der Anwendung des Bestimmungslandprinzips kommt die Umsatzsteuer des importierenden Landes zur Anwendung. Es kommt daher nicht zu einer Auswahl der Produkte nach dem niedrigeren Mehrwertsteuersatz des Erzeugerlandes und damit auch nicht zu einem Steuerwettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten. Mit 4.4 Die Vier Freiheiten - Die konkrete Umsetzung des Binnenmarktprojektes 107 <?page no="108"?> dem Bestimmungslandprinzip ist aus dieser Perspektive „Wettbewerbsneutralität“ verknüpft. Die Anwendung des Bestimmungslandprinzips ist allerdings adminis‐ trativ aufwändig. Gemäß dem Ursprungslandprinzip wird die Umsatzsteuer im Ex‐ portland erhoben und verbleibt dort. Kommt es zu erheblichen Ungleichgewichten im Handel, hat die Entscheidung für das eine oder andere System deutliche Aus‐ wirkungen auf die Verteilung der Steuereinnahmen. Darüber hinaus gilt, dass der Export jener Länder gefördert wird, deren Umsatzsteuersatz niedrig ist. Dies stellt einerseits eine Wettbewerbsverzerrung dar und erhöht andererseits den Druck auf die Mitgliedstaaten, sich an den niedrigen Umsatzsteuersätzen anderer EU-Staaten zu orientieren. Für Reisende und Lieferungen an den Endverbraucher gilt bei Einkäufen prinzipiell das Ursprungslandprinzip. Für den normalen gewerblichen Wirtschaftsverkehr gilt einstweilen grundsätzlich das Bestimmungslandprinzip. Neben der Mehrwertsteuer hat die EU auch die Verbrauchsteuern auf Alkohol und Tabak (partiell) harmonisiert. Darüber hinaus wurden nach Art. 192 AEUV Regelungen der Besteuerung von Energieerzeugnissen zum Schutz von Umwelt, Gesundheit und natürlichen Ressourcen (Art. 191 AEUV) vorgenommen. Im Rahmen der direkten Besteuerung geht es vor allem um eine Koordinierung der Unternehmensbesteuerung. Im Vordergrund steht die Harmonisierung der Kör‐ perschaftsteuer, für die es trotz mehrfacher Anläufe bisher nicht gelungen ist, die steuerliche Bemessungsgrundlage in der EU zu vereinheitlichen. Im Jahr 2023 wurde von der Europäischen Kommission ein „Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Schaffung eines Rahmens für die Unternehmensbesteuerung in Europa (BEFIT)“ vor‐ gelegt (COM(2023) 532 final), mit dem das zuvor diskutierte Konzept der Gemeinsamen Konsolidierten Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (GKKB) ersetzt wird. Ziel von BEFIT (Business in Europe: Framework for Income Taxation) ist es, Verzerrungen bei Investitions- und Finanzierungsentscheidungen und die Compliance-Kosten der Unternehmen zu senken. Eine weitere Herausforderung für den Binnenhandel war die Existenz verschiedener technischer Vorschriften und Normen, die meist in unterschiedlichen Regelungstradi‐ tionen ihren Ursprung hatten und faktisch eine Behinderung des Handels darstellten. Eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs sorgte hier für Klarheit. Box 26 |-Das Cassis-de-Dijon-Urteil Das Cassis-de-Dijon-Urteil des Europäischen Gerichtshofs aus dem Jahr 1979 hatte für die Entwicklung des freien Warenverkehrs wegweisende Bedeutung. Das deutsche Unternehmen Rewe-Zentral AG hatte gegen ein Importverbot von Cassis, einem in Frankreich regulär gehandelten Likör, geklagt, nachdem deutsche Behörden die fehlende Beachtung der deutschen Branntweinverordnung bemän‐ gelt und die Einfuhr bzw. den Verkauf in Deutschland untersagt hatten. Der 108 4 Der europäische Binnenmarkt <?page no="109"?> Europäische Gerichtshof entschied, dass ein Gut, welches in einem Land zugelassen ist, in einem anderen Mitgliedstaat ebenfalls in den Verkehr gebracht werden darf und eine differenzierte Behandlung der Güter innerhalb der Gemeinschaft somit grundsätzlich nicht statthaft ist (vgl. Urteil des Gerichtshofes der Europäi‐ schen Gemeinschaften (EuGH) vom 20. Februar 1979 in der Rechtssache 120/ 78, Rewe-Zentral-AG/ Bundesmonopolverwaltung für Branntwein). In der Union setzte sich somit das „Prinzip der gegenseitigen Anerkennung im Binnenmarkt“ durch, welches für die Mehrzahl der Warengruppen Anwendung findet. Dank dieses Prinzips ist die Harmonisierung der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften, ein aufwändiger Prozess, wenn es in den Mitgliedstaaten bereits Regelungen gibt, nicht erforderlich. Vorschriften eines anderen EU-Landes oder eines Mitglieds des Europäischen Wirtschaftsraumes müssen von den anderen Mitgliedstaaten der EU anerkannt werden. Ausnahmeregelungen gibt es nur für jene Bereiche, in denen der Schutz der Gesundheit, besondere schutzwürdige Interessen der Verbraucher oder Umweltfragen berührt werden. Für neue Regelungen allerdings gilt, dass eine Vereinheitlichung der technischen Produktanforderungen angestrebt wird. Mit der Verordnung (EU) 2019/ 515 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. März 2019 ist der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung weiter präzisiert worden, um den freien Verkehr von Waren, die in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig in Verkehr gebracht worden sind, zu gewährleisten. Auch gemeinsame Normen und Standards begünstigen den grenzüberschreitenden Austausch von Waren und Dienstleistungen und sind für ein störungsfreies Funktio‐ nieren des Binnenmarktes essentiell. Die Harmonisierung europäischer Normen trägt dazu bei, die Interoperabilität von Produkten und Dienstleistungen sicherzustellen, Kosten zu reduzieren, die Produktqualität und -sicherheit zu gewährleisten und Innovationen zu fördern (vgl. Europäische Kommission 2022b). Mit der von der Kommission im Jahr 2022 vorgelegten neuen EU-Strategie für Normung (COM(2022) 31 final) soll die globale Wettbewerbsfähigkeit der EU gestärkt und der Binnenmarkt widerstandsfähiger, grüner und digitaler gestaltet werden. Box 27 |-Pro und Kontra Öffnung des öffentlichen Auftragswesens Angesichts der Größe des staatlichen Sektors ist die Öffnung des öffentlichen Auftragswesens auch für Anbieter aus anderen EU-Ländern ein besonderes Anlie‐ gen der Binnenmarktpolitik. Immerhin beläuft sich das öffentliche Auftragswesen EU-weit auf rd. 16 % des BIP Ziel der öffentlichen Auftragsvergabe ist es, das wirtschaftlich günstigste Angebot bei der wettbewerblichen Beschaffung von Bau‐ leistungen, Waren und Dienstleistungen zu finden. Neben dem Preis sind weitere Kriterien wie Qualität, Umwelt, Nachhaltigkeit und Innovation zu berücksichtigen (vgl. Martinello 2024). Eine Untersuchung durch den Europäischen Rechnungshof 4.4 Die Vier Freiheiten - Die konkrete Umsetzung des Binnenmarktprojektes 109 <?page no="110"?> (2023) kommt zu dem Ergebnis, dass im Zeitraum 2011-2021 der Wettbewerb bei der Vergabe öffentlicher Aufträge im EU-Binnenmarkt zurückgegangen ist. Natio‐ nale Anbieter dominieren bei der Vergabe öffentlicher Aufträge; nur rund 5 v. H. der öffentlichen Aufträge entfallen auf die direkten grenzüberschreitenden Aufträge an Unternehmen, die außerhalb des betreffenden Mitgliedstaates ansässig waren. Höhere Werte liegen im Fall indirekter grenzüberschreitender Auftragsvergabe vor, wenn Partnerunternehmen (Konsortien) aus verschiedenen Mitgliedstaaten oder lokale Tochtergesellschaften ausländischer Unternehmen den Zuschlag erhal‐ ten. Bei 15,8 v. H. aller von den Mitgliedstaaten gemeldeten Vergabeverfahren im EU-Binnenmarkt fand keine Ausschreibung statt. Bei Verfahren mit nur einem Anbieter ist der Anteil von 23,5 % (2011) auf 41,8 % (2021) angestiegen; die Zahl der Bieter pro Verfahren sank entsprechend von durchschnittlich 5,7 auf 3,2 Bieter. Vergaberichtlinien definieren Schwellenwerte für öffentliche Aufträge, ab deren Erreichen eine EU-weite Bekanntmachung des Auftrags erforderlich ist. Für be‐ stimmte Sektoren („Sektorenrichtlinien“) sind genaue prozedurale Anforderungen formuliert, um den Zugang ausländischer Anbieter zu sichern. Pro Öffnung: Die Ausschreibung öffentlicher Aufträge in Europa ist konsequent und notwendig, um den Binnenmarkt zu vollenden. Der niedrige Anteil der an ausländische Unternehmen vergebenen Aufträge weist auf das Potenzial hin, Kosten für den öffentlichen Sektor und damit für die Steuerzahler zu sparen. Eine größere Offenheit würde eine Reallokation von Ressourcen bewirken, die Europa zugutekäme. Kontra Öffnung: Die europaweite Ausschreibung von Aufträgen ist häufig nicht zielführend. Die Komplexität der EU-weiten Ausschreibung verursacht hohe Kosten und erhebliche Verzögerungen. Die regionale Nähe der Anbieter und Nachfrager hat zahlreiche Vorteile, die nicht übersehen werden dürfen und bei einer eng definierten Kostenbetrachtung keine ausreichende Beachtung finden. Die Binnenmarktpolitik hat den Offenheitsgrad der Volkswirtschaften im Warenhandel erhöht; die Produktvielfalt hat zugenommen, das wirtschaftliche Wachstum wurde gestärkt. Mit der weiteren ökonomischen Entwicklung verknüpft ist die Aufgabe, die soziale Dimension des EU-Binnenmarktes zu stärken (vgl. Europäische Kommission 2017b, Letta 2024). 4.4.2 Freier Dienstleistungsverkehr Die Öffnung der nationalen Dienstleistungsmärkte für ausländische Anbieter soll wie auch im Bereich des Güterhandels zu einer Erhöhung des Lebensstandards führen. Der freie Verkehr von Dienstleistungen umfasst eine große Heterogenität wirtschaftlicher Aktivitäten. Übergeordnet lassen sich verschiedene Arten unterscheiden: 110 4 Der europäische Binnenmarkt <?page no="111"?> • personenbezogene Dienstleistungen, die direkt an einer Person oder gemeinsam mit ihr erbracht werden (Friseur, Arzt), • sachbezogene Dienstleistungen, die für eine Person erbracht werden (Banken, Kfz-Werkstatt), • produktbegleitende Dienstleistungen, die ergänzend zu materiellen Gütern bereit‐ gestellt werden (Beratung, Wartung), • originäre Dienstleistungen, die ausschließlich Leistungen darstellen, ohne im engeren Sinn Güter zu produzieren (Reinigungsdienste, Leistungen von Freiberuf‐ lern). In den meisten Mitgliedstaaten trägt der Dienstleistungssektor 70 v.H. und mehr zu BIP und Beschäftigung bei, das Wachstumspotenzial vieler Dienstleistungsbranchen wird als hoch eingeschätzt, die Bedeutung des grenzüberschreitenden Handels mit Dienst‐ leistungen hat zugenommen. Die Öffnung des europäischen Dienstleistungssektors ist daher ein zentrales Politikfeld der Binnenmarktpolitik. In den Artikeln 49-62 AEUV und einer großen Zahl von Verordnungen und Richtlinien finden sich die grundlegen‐ den Regelungen zur Freiheit des Dienstleistungsverkehrs. Vor dem Hintergrund der Natur vieler Dienstleistungen, welche die Anwesenheit des Dienstleistungserbringers im Land des Nutzers der Dienstleistung erfordert, spielt die Niederlassungsfreiheit eine besondere Rolle: Die Mitgliedstaaten garantieren Dienstleistungserbringern aus anderen EU-Ländern das Recht, Dienstleistungen in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen ihrer Niederlassung zu erbringen. Angehörige eines Mitgliedstaates können sich gemäß Artikel 49 AEUV in einem anderen Mitgliedstaat niederlassen. Die Niederlassungsfreiheit umfasst die Aufnahme und Ausübung selbstständiger Erwerbs‐ tätigkeiten sowie die Gründung und Leitung von Unternehmen. Gewerbliche, kauf‐ männische, handwerkliche und freiberufliche Tätigkeiten können von dem Leistenden zwecks Erbringung seiner Leistungen vorübergehend in dem Mitgliedstaat ausgeübt werden, in dem die Leistung erbracht wird, „und zwar unter den Voraussetzungen, welche dieser Mitgliedstaat für seine eigenen Angehörigen vorschreibt“ (Artikel 57 AEUV). Viele Dienstleistungen werden in regulierten Sektoren erbracht (vgl. Deutsche Bundesbank 2019, S. 88-89, Pelkmans 2024, S. 23-38). Regulierungskonzepte und -traditionen unterscheiden sich in europäischen Ländern. Die Öffnung für grenzüber‐ schreitende Dienstleistungen wirft daher die Frage auf, ob die Regulierung aus dem Herkunftsland des Anbieters oder dem Land des Nachfragers der Dienstleistung anzuwenden ist. Grundsätzlich gilt auch im Dienstleistungssektor das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung im Binnenmarkt. Von der relativen Klarheit der Regelun‐ gen im Warenverkehr ist der Dienstleistungsverkehr jedoch entfernt. Die Liste der Ausnahmen, die von der für die Öffnung des Dienstleistungssektors zentralen Dienst‐ leistungsrichtlinie 2006/ 123/ EG nicht abgedeckt werden (→ Abb. 22), weist beispielhaft auf die Komplexität des Dienstleistungssektors hin: Wenn Dienstleistungen von allge‐ meinem wirtschaftlichen Interesse, wenn die kulturelle oder sprachliche Vielfalt, der Medienpluralismus oder wenn bestimmte arbeitsrechtliche Fragen tangiert sind, dann 4.4 Die Vier Freiheiten - Die konkrete Umsetzung des Binnenmarktprojektes 111 <?page no="112"?> greifen die auf Liberalisierung ausgerichteten Regelungen der Dienstleistungsrichtlinie nicht und Sonderregelungen kommen zum Tragen. Dienstleistungen, die unter die Dienstleistungsrichtlinie fallen Dienstleistungen, die nicht unter die Dienst‐ leistungsrichtlinie fallen Baudienstleistungen und Handwerk Finanzdienstleistungen Handel einschließlich Einzelhandel und Großhandel mit Waren und Dienstleistungen elektronische Kommunikationsdienste in Be‐ zug auf Angelegenheiten, die unter andere EU-Rechtsakte fallen Tätigkeiten der meisten reglementierten Be‐ rufe wie Rechts- und Steuerberater, Archi‐ tekten, Ingenieure, Buchhalter oder Vermes‐ sungsingenieure Verkehrsdienstleistungen, die in den Anwen‐ dungsbereich von Titel VI des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) fallen geschäftsbezogene Dienstleistungen wie Bü‐ rowartung, Unternehmensberatung, Veran‐ staltungsorganisation, Inkasso, Werbung und Personalvermittlung Gesundheitsdienstleistungen, die von An‐ gehörigen der Gesundheitsberufe erbracht werden, um den Gesundheitszustand der Patienten zu beurteilen, zu erhalten oder wie‐ derherzustellen, wenn diese Tätigkeiten ei‐ nem reglementierten Gesundheitsberuf vor‐ behalten sind Tourismusdienstleistungen wie Reisebüros Dienstleistungen von Zeitarbeitsfirmen Installation und Wartung von Geräten private Sicherheitsdienste Dienste der Informationsgesellschaft wie Ver‐ öffentlichungen für Print und Web, Nachrich‐ tenagenturen, Computerprogrammierung bestimmte soziale Dienstleistungen, die vom Staat, von staatlich beauftragten Anbietern oder von staatlich anerkannten Wohltätig‐ keitsorganisationen erbracht werden Beherbergungs- und Gaststättengewerbe wie Hotels, Restaurants und Caterer Dienstleistungen von Notaren und Gerichts‐ vollziehern, die durch einen amtlichen Akt der Regierung bestellt wurden Aus- und Weiterbildungsdienstleistungen Glücksspiel Vermietung und Leasing von Dienstleistun‐ gen einschließlich Autovermietung audiovisuelle Dienstleistungen Immobilien-Dienstleistungen - Haushaltsunterstützungsdienste wie Reini‐ gung, Gartenarbeit und private Kindermäd‐ chen - Freizeiteinrichtungen wie Sportzentren und Vergnügungsparks - Abb.-22: Anwendungsbereich der Dienstleistungsrichtlinie Ein weiteres Problem ergab sich durch die Regelung einiger Dienstleistungsbereiche in Form nationaler Monopole. Eine potenzielle Öffnung für Dienstleistungsangebote 112 4 Der europäische Binnenmarkt <?page no="113"?> aus dem Ausland erzwingt somit sowohl die Öffnung des Marktes für Wettbewerb als auch die Öffnung für internationale Anbieter. Die Märkte für Telekommunikations- und Postdienstleistungen, für den Lufttransport und für den Schienenpersonenverkehr oder für Energie sind beispielhaft zu nennen. Die EU war wesentlicher Treiber der Öffnung dieser Märkte. ⁈ Verständnisfrage | Weshalb stellt die Liberalisierung des Dienstleistungshan‐ dels innerhalb der Union eine besondere Herausforderung dar? Wichtig war die Richtlinie (96/ 71/ EG) zur Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen. Diese regelt, dass die Unternehmen ihren entsandten Arbeitnehmern bestimmte Schutzbestimmungen garantieren müssen, die in dem Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet sie tätig werden, verbindlich sind. Dies umfasst Arbeitszeitregelungen, Urlaubsregelungen, Mindestlohnbestimmungen, Arbeitsschutzbestimmungen und anderes mehr. Bedingt auch durch den EU-Beitritt weiterer Mitgliedsländer sind Entsendungen von Arbeitnehmern innerhalb der EU deutlich angestiegen, während sich die Arbeits- und Sozialordnungen in den Mitglied‐ staaten unterschiedlich entwickelt haben. Um Lohn- und Sozialdumping weitgehend auszuschließen, wurde 2018 eine Änderungsrichtlinie (EU) 2018/ 957 zur EU-Entsen‐ derichtlinie beschlossen, deren Umsetzung in nationales Recht bis zum 30. Juli 2020 erfolgen muss. Seit dem 1. August 2020 gilt bei Entsendungen in der EU daher der Grundsatz „gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“. Box 28 | Der digitale Binnenmarkt Angesichts der zunehmenden Verschmelzung von Informations- und Kommu‐ nikationstechnologien mit traditionellen Wirtschaftszweigen und der rasanten Digitalisierung aller Lebensbereiche sind in Europa Rahmenbedingungen zu schaf‐ fen, um die Chancen dieser Entwicklung nutzen zu können (vgl. Europäische Kommission 2015a). „Ein Europa für das digitale Zeitalter“ gehörte zu den sechs Prioritäten der Kommission 2019-2024. Aufgrund unterschiedlicher nationaler Verbraucherschutz- und Vertragsrechte bietet ein gemeinsamer Ordnungsrahmen für digital bereitgestellte und online vermittelte Leistungen den Verbrauchern stärkere Transparenz und Wahlfreiheit und den europäischen Unternehmen die Möglichkeit, die aus positiven Skalenerträgen resultierenden Vorteile auszuschöp‐ fen. Dies bedeutet aber auch, den Risiken aus mangelnder Datensicherheit und Cyberkriminalität vorzubeugen. Die beiden Gesetze über digitale Dienste (Verord‐ nung (EU) 2022/ 2065) und über digitale Märkte (Verordnung (EU) 2022/ 1925) zielen darauf ab, die Rechte von Nutzern online zu schützen und gleiche Wettbewerbs‐ bedingungen für digitale Unternehmen unabhängig von ihrer Größe zu schaffen. 4.4 Die Vier Freiheiten - Die konkrete Umsetzung des Binnenmarktprojektes 113 <?page no="114"?> Mit dem Gesetz über Künstliche Intelligenz (KI) von 2024 wird ein gemeinsames Regelwerk für die Nutzung und Bereitstellung dieser innovativen Technologien festgelegt. In Abhängigkeit von der Höhe des Risikos, das mit den Anwendungen verbunden ist, werden die KI-Systeme bewertet und unterliegen unterschiedlichen Anforderungen und Verpflichtungen. Trotz der erzielten Fortschritte im grenzüberschreitenden Handel mit Dienstleistun‐ gen ist ein kohärenter Binnenmarkt für Dienstleistungen noch nicht erreicht. Vor allem durch administrative Hürden der Mitgliedstaaten (Dokumentations- und Melde‐ pflichten, Genehmigungen, Versicherungsanforderungen, Anerkennung von berufli‐ chen Qualifizierungen usw.) werden insbesondere kleine und mittlere Unternehmen benachteiligt, die die Marktgröße der EU nur unzureichend nutzen können. Die fragmentierten Regulierungen begründen den zu beobachtenden „home bias“. Mit der weiteren Integration des Dienstleistungshandels im EU-Binnenmarkt können noch ungenutzte Wachstumspotenziale gehoben werden, die als bedeutender eingeschätzt werden als die Effekte einer umfassenden handelspolitischen Rückholung (Reshoring) von Produktionen nach Europa (vgl. Dorn/ Flach/ Gourevich 2024). 4.4.3 Personenverkehr Eine der vier Freiheiten ist die Freiheit des Personenverkehrs. Jenseits der kulturellen, sozialen und politischen Dimension dieser Freiheit werden von der Öffnung der Märkte für temporäre oder dauerhafte Migration auch wichtige wirtschaftliche Effekte erwar‐ tet: Die Migration zu dem Ort, an dem das Grenzprodukt der Arbeit maximal gesteigert werden kann, ist sowohl für den Arbeitnehmer als auch für die Volkswirtschaft als Ganzes vorteilhaft. Die Reallokation der Produktionsfaktoren erhöht den Output in der Union. Die Öffnung des Arbeitsmarktes ist mithin gesamtwohlfahrtssteigernd. Gemäß Artikel 45 AEUV ist die Freizügigkeit der Arbeitnehmer in der EU gewährleistet. Jede auf der Staatsangehörigkeit beruhende unterschiedliche Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbe‐ dingungen ist nicht zulässig (Artikel 45, Absatz 2 AEUV). Eine Ausnahmeregelung gilt für die Arbeitsaufnahme in der öffentlichen Verwaltung (Art. 45, Absatz 4 AEUV). Im Fall der Entsendung von Arbeitnehmern (Richtlinie (EU) 2018/ 957) nehmen nicht diese ihr Recht auf Freizügigkeit wahr, sondern die Arbeitgeber machen von ihrer Dienstleistungsfreiheit Gebrauch. Wesentlich für die Realisierung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer war die Lö‐ sung der Frage der Anerkennung der Berufsqualifikationen, die in einem anderen Mitgliedstaat erworben wurden (Richtlinie 2005/ 36/ EG; geändert durch Richtlinie 2013/ 55/ EU). Europäische Länder haben ganz unterschiedliche Berufsausbildungssys‐ teme. Die Akzeptanz der Berufsausbildung in einem anderen EU-Mitgliedsland als Grundlage der Aufnahme der Beschäftigung war daher stets kontrovers gesehen 114 4 Der europäische Binnenmarkt <?page no="115"?> worden. Trotz Maßnahmen wie der automatischen Anerkennung von Universitätsab‐ schlüssen, der Einrichtung eines europäischen Rahmens für reglementierte Berufe oder eines europäischen Berufsausweises ist das Hindernis für die Arbeitskräftemobilität in Europa noch nicht vollständig ausgeräumt (vgl. Europäischer Rechnungshof 2018). Zur Verbesserung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit wurde 2019 die Euro‐ päische Arbeitsbehörde errichtet. Ein bedeutender praktischer Schritt auf dem Weg zur Freiheit des Personenverkehrs war auch die Einigung auf ein Abkommen zum Abbau der Grenzkontrollen für Per‐ sonen, dem sogenannten „Schengen-Abkommen“, welches 1985 unterzeichnet wurde und seit 1995 den Grenzübertritt zwischen den Unterzeichnerstaaten des Abkommens ohne Vorlage von Passdokumenten ermöglicht. Sukzessive traten weitere Länder dem Abkommen bei. Migration innerhalb der Europäischen Union zum Zweck der Arbeitsaufnahme in anderen Ländern hat es in Europa stets gegeben. In den 1970er-Jahren gab es eine erhebliche Migration von Arbeitskräften aus südeuropäischen Ländern in nordeuropäi‐ sche Länder. Mit der politischen Öffnung in Osteuropa verliefen die Migrationsströme von Ost nach West. In → Abb. 23 werden einige Daten zur Intra-EU-Mobilität ausgewiesen (vgl. Euro‐ päische Kommission 2024b, S. 16-17). Danach lebten im Jahr 2022 je nach Datenbasis 9,9 Mio. (8,4 Mio.) mobile Arbeitskräfte länger als ein Jahr („langfristig“) in einem anderen EU-Land als in dem ihrer Staatsangehörigkeit. Bei rund 260,5 Mio. (205 Mio.) Personen im erwerbsfähigen Alter innerhalb der EU beläuft sich der Anteil auf 3,8 v. H. (3,4 v. H.). 1,8 Millionen Personen arbeiten als Grenzgänger in einem anderen EU-Staat als in dem Land, in dem sie ihren Wohnsitz haben. Dies entspricht einem Anteil von circa 1,0 v. H. an den Beschäftigten in der EU insgesamt (184,5 Mio.). Die Anzahl der Entsendungen von 4,6 Mio. geht mit einer Zahl entsendeter Personen in Höhe von 3,1 Mio. einher. Mit 656.000 Personen im Jahr 2021 beträgt die Rückkehrmobilität in der EU rund 83-% des Zuzugs an mobilen Arbeitskräften im Jahr 2020. Art der Mobilität Umfang 1. Langfristig mobile EU-Arbeitskräfte in der EU im erwerbsfähigen Alter (20-64 Jahre) (in Mio.), 1. Januar 2022 (Eurostat Bevölkerungsstatistik) 9,9 2. Langfristig mobile EU-Arbeitskräfte in der EU im erwerbsfähigen Alter (20-64 Jahre) (in Mio.), Jahresdurchschnitt 2022 (EU-Arbeitskräfteerhebung) 8,4 3. EU-Grenzgänger (20-64 Jahre) (in Mio.), Jahresdurchschnitt 2022 1,8 4a. Anzahl der Entsendungen (beschäftigt und selbständig), alle Altersgruppen, (in Mio.), 2022 4,6 4b. Anzahl der entsendeten Personen (geschätzt), (in Mio.), 2022 3,1 5. Mobile Arbeitskräfte, die in ihr Heimatland zurückgekehrt sind (in Mio.), 2021 0,656 Abb.-23: Mobilität der Arbeitskräfte in der EU, 2021-2022 4.4 Die Vier Freiheiten - Die konkrete Umsetzung des Binnenmarktprojektes 115 <?page no="116"?> Die ökonomische Bewertung einer erheblichen Migration hängt davon ab, ob die Zunahme des Arbeitsangebotes substitutiver oder komplementärer Natur zu dem Arbeitsangebot im Inland ist (vgl. Ohr 2013, S. 73). Ist das Arbeitsangebot substitutiv, kommt es zu einer Absenkung der Löhne oder bei Erreichen eines Mindestlohnes zur Zunahme der Arbeitslosigkeit. Ist hingegen das Arbeitsangebot komplementär zu dem existierenden Arbeitsangebot bzw. Kapitalangebot, sind die Wohlfahrtseffekte der Zuwanderung anders zu beurteilen. Die heimischen Arbeitnehmer erleiden keinen Wohlfahrtsverlust, es kann gar durch die Zunahme der Arbeitsnachfrage zu einem Anstieg der Löhne kommen. Die Initiativen zur Anwerbung von hochqualifizierten Spezialisten aus aller Welt sind vor diesem Hintergrund zu sehen. Box 29 |-Pro und Kontra der Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU Befürworter heben die Vorteile der Immigration hervor. Industrieländer benöti‐ gen demografisch bedingt junge Einwanderer, Defizite in manchen Qualifikations‐ profilen sind nur durch Immigration kurz- und mittelfristig zu beheben. Auch aus der Perspektive der europäischen Solidarität ist dies für die Befürworter geboten. Hinzu kommt, dass durch die Rücküberweisung der Einkommen aus der Tätigkeit in reicheren Ländern wichtige Impulse im Heimatland der Migranten ermöglicht werden. Viele Migranten sammeln berufliche Erfahrung und gehen nach Jahren der Tätigkeit im Gastland wieder zurück in ihr Heimatland und transferieren wichtiges Know-how. Kritiker behaupten, dass der Anteil der Immigranten aus bestimmten Ländern, die keinen Arbeitsplatz finden oder annehmen, hoch ist. Die Integration mancher Bevölkerungsgruppen sei schwierig, deren Konzentration an manchen Orten behindere die Integration. Ihr Arbeitsangebot sei häufig substitutiv. Arbeitnehmer, die ohnehin aufgrund eines niedrigen Qualifikationsprofils Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt haben, werden verdrängt. Die Löhne in diesem Bereich werden auf ein sozial nicht akzeptables Niveau gedrängt, die Migration führt direkt oder indirekt zu einer erhöhten Zahlung von Sozialleistungen. Im Falle hochqualifizier‐ ter Arbeitskräfte kann es zu einem „Brain Drain“ im Heimatland kommen. Der Gesamtwohlfahrtseffekt der Migration lässt sich schwer bemessen, er ist öko‐ nomischer, politischer, sozialer und kultureller Natur, muss das Zielland und das Heimatland einschließen und muss wegen vielfältiger langfristiger Effekte lange Zeiträume umfassen. 4.4.4 Kapitalverkehr Die Kapitalverkehrsfreiheit soll die optimale Allokation der knappen Ressource Kapital ermöglichen. Beschränkungen des Kapital- und Zahlungsverkehrs innerhalb der Union 116 4 Der europäische Binnenmarkt <?page no="117"?> sind verboten. Dies betrifft sowohl Direktinvestitionen als auch Finanzkapital und ist unabhängig von der Nationalität des Eigentümers des Kapitals (vgl. Ranacher/ Stau‐ digl/ Frischhut (Hrsg.) 2015, S.-108-109). Die folgende → Abb. 24 beschreibt an einem einfachen Modell des Gleichgewichts von Kapitalnachfrage und -angebot den Wohlfahrtsgewinn aus der Öffnung des Binnenmarktes für Kapital (vgl. z.-B. Wagener/ Eger 2014). F G 4 E i* 5 o B i* i B 6 7 9 i AA i A o A i BB H C 10 8 3 1 2 D I Abb.-24: Wohlfahrtseffekte der Öffnung von zwei Kapitalmärkten Der Kapitalbestand in Land A beträgt O A G, in Land B entsprechend O B G. Die Nachfrage nach Kapital bestimmt sich gemäß der Funktion des (Wert-)Grenzprodukts CE in Land A und HI in Land B. Wenn die Märkte durch Kapitalverkehrskontrollen voneinander getrennt sind, ergibt sich in jedem Land der Zinssatz, der durch Gleichheit von Kapi‐ talnachfrage und -angebot charakterisiert ist. Im Land A liegt der Gleichgewichtszins bei i AA , in Land B bei i BB . Erfolgt die Güterproduktion unter Einsatz der beiden Faktoren Kapital und (konstanter) Arbeit, entspricht das Kapitaleinkommen in Land A den Flächen 1 und 2 und in Land B den Flächen 3 und 4. Das jeweilige Arbeitseinkommen wird durch die Flächen 5 bis 7 in Land A und durch die Fläche 8 in Land B dargestellt. Durch die Öffnung der beiden Kapitalmärkte, die für eine Reallokation der Ressour‐ cen im Ausmaß der Strecke FG zugunsten des Landes B sorgt, kommt es zu einem einheitlichen Gleichgewichtszinssatz in Höhe von i*. Die Investitionsprojekte aus Land A, die durch den mit DE bezeichneten Teil der Kapitalnachfragekurve des Landes A erfasst sind, werden nicht mehr durchgeführt. Stattdessen werden die Projekte des Landes B realisiert, die mit dem Segment ID der Kapitalnachfragekurve des Landes 4.4 Die Vier Freiheiten - Die konkrete Umsetzung des Binnenmarktprojektes 117 <?page no="118"?> B gekennzeichnet sind. Infolge der höheren Zinserträge auf das dem Land B zur Verfügung gestellte Kapital steigt das Nationaleinkommen im Land A an (Fläche 9), auch wenn das Inlandsprodukt sinkt (Flächen 2 und 7). Die höhere Produktion in Land B bewirkt eine Zunahme des Nationaleinkommens um die Fläche 10. In beiden Ländern ändert sich die Relation zwischen Arbeits- und Kapitaleinkommen zugunsten des Faktors Kapital in Land A und zugunsten des Faktors Arbeit in Land B. Insgesamt erlaubt die Öffnung der beiden Kapitalmärkte eine effizientere Nutzung des Faktors Kapital und führt zu Vorteilen (Flächen 9 und 10) für beide Länder. Der am Modell erläuterte Nutzen aus der Liberalisierung beschreibt die grundsätzli‐ che Rationalität der Öffnung der Kapitalmärkte: Wenn Portfolioinvestitionen, Direkt‐ investitionen und Kredite grenzüberschreitend getätigt werden können, gewinnt die Gesellschaft als Ganzes. Im Jahr 2015 wurde im Rahmen eines Grünbuches die Idee einer Kapitalmarktunion als „klassisches“ Element des Binnenmarktes vorgestellt (vgl. Europäische Kommission 2015b), um die in Europa noch überwiegend von den Banken abhängige Unternehmens‐ finanzierung stärker kapitalmarktgestützt auszurichten und durch Diversifizierung der Finanzierungsquellen zu einem stabileren Finanzsystem beizutragen (vgl. Direc‐ tion générale du Trésor 2024). Trotz der Bemühungen, eine Kapitalmarktunion zu etablieren, sind die europäischen Kapitalmärkte weiter stark national fragmentiert (vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 2023, S.-196-201, 2024). Die grundlegenden Regelungen für den Kapitalverkehr im Binnenmarkt finden sich in Artikel 63-75 AEUV. „Alle Beschränkungen des Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Ländern“ sind verboten (Artikel 63 AEUV). Tatsächlich wurden zahlreiche Schranken abgebaut, sowohl Portfolioanlagen als auch Direktinvestitionen sind heute im Binnenmarkt ohne wesentliche Beschränkungen möglich. Box 30 |-Kontroverse über Kapitalverkehrsfreiheit Die Öffnung der Märkte für Kapital in Europa wurde sowohl vor als auch nach erfolgter Liberalisierung kontrovers diskutiert. Die Politik der EU im Bereich der Finanzdienstleistungen umfasst Regelungen für den Banken-, den Versicherungs- und den Wertpapiersektor. Pro Öffnung: Vertreter der Öffnung erwarten davon eine Steigerung der Wettbe‐ werbsfähigkeit des europäischen Finanzsektors und einen Innovationsimpuls für den Binnenmarkt. Das Ende der Abschottung kleiner nationaler Märkte produziert deutliche Wohlfahrtsgewinne. Die regulativen Instrumente stehen zur Verfügung, um die Basis für einen wohlstandssteigernden Finanzsektor zu schaffen. Kontra Öffnung: Die Finanz- und Wirtschaftskrise zeigt, dass zahlreiche Effekte der Finanzmarktintegration nicht ausreichend berücksichtigt wurden. Die Finanz‐ 118 4 Der europäische Binnenmarkt <?page no="119"?> marktintegration erfordert vor dem Hintergrund der externen Effekte von Finanz‐ marktproblemen in europäischen Ländern funktionsfähige Aufsichtsstrukturen für Finanzintermediäre, gemeinsame Standards für den Umgang mit bestimmten Finanzprodukten oder Risiken. Die Entwicklung einer adäquaten Aufsicht ist ein komplexes Unterfangen. Der Verbraucherschutz fordert ebenso Vorsicht und Au‐ genmaß bei der Integration der Finanzmärkte wie das Anliegen, den Steuerzahler zu schützen, die in Krisen gefordert sind, den Zusammenbruch des Finanzsektors zu verhindern. Ein besonderes Problem der Öffnung des Binnenmarktes für Kapitalmobilität war und ist das Problem der Steuergestaltung und Steuerhinterziehung. In vielen Ländern wurde die Freiheit des Kapitalverkehrs missbraucht, um Steuern dem Heimatland vorzuenthalten. Die Regelungen des Lissabon-Vertrages als auch die besonderen Ver‐ ordnungen und Richtlinien erlauben es den Mitgliedstaaten, mit geeigneten Maßnah‐ men Zuwiderhandlungen gegen steuerrechtliche Vorgaben zu begegnen. Die Normen waren stets kontrovers, da in vielen Ländern der Finanzsektor genau auf die Zielgruppe abstellte. Box 31 |-Die Besteuerung von Zinseinkünften - das ethische Problem Die Besteuerung von Zinseinkünften stellt für viele Länder in der Union ein be‐ sonderes Problem dar, da die Kombination aus Kapitalverkehrsfreiheit und strikter Beachtung des Bankgeheimnisses in Ländern wie Luxemburg den Transfer von Geldern beflügelte. Welche Druckmechanismen sind legitim, um dieses Problem anzugehen? Ist der Kauf illegal gehandelter Daten-CDs akzeptabel, ist der Druck auf Aufweichung des Bankgeheimnisses sinnvoll, müssen Länder innerhalb der EU gezwungen werden, eine Mindestbesteuerung anzuwenden? ⁈ Verständnisfrage | Diskutieren Sie die Problematik des staatlichen Aufkaufs von Steuer-CDs und erstellen Sie eine Pro- und Kontra-Liste der Argumente für die Frage der Beschaffung illegal gehandelter Daten-CDs. Wie auch in den anderen Binnenmarktpolitikfeldern war eine Vielzahl von Verordnun‐ gen und Richtlinien erforderlich, um die Integrationsziele zu erreichen. Mit einer Richtlinie über Zahlungsdienste im Binnenmarkt aus dem Jahr 2007 zielte die EU auf die Erleichterung der Transaktionen innerhalb der EU ab. Durch den einheitlichen europäischen Zahlungsraum („Single Euro Payments Area“) wurde ein gemeinsamer Rechtsrahmen für bargeldlose Überweisungen geschaffen, der die 4.4 Die Vier Freiheiten - Die konkrete Umsetzung des Binnenmarktprojektes 119 <?page no="120"?> Durchführung von Zahlungsvorgängen beschleunigt und Standardisierungen im eu‐ ropaweiten Zahlungsverkehr ermöglicht. 4.5 Herausforderungen - anstehende Aufgaben Die Verwirklichung des Binnenmarktes bleibt die zentrale Aufgabe für die Union. Angesichts eines geänderten geopolitischen Umfeldes, des globalen Wettbewerbs und neuer wirtschaftlicher und technologischer Entwicklungen wird als Vision für die Zukunft die signifikante Transformation des Binnenmarktes in einen „echten europäi‐ schen Markt“ gefordert (vgl. Letta 2024, S. 7 und S. 15). Um dies zu erreichen, wird von Letta (2024, S. 7) vorgeschlagen, den vier Freiheiten des Binnenmarktes eine fünfte Freiheit hinzuzufügen, die Forschung, Innovation und Ausbildung im weitesten Sinn umfasst (vgl. auch Draghi 2024). Zur Bewältigung der künftigen Herausforderungen ist über öffentlichen Mitteleinsatz hinaus vor allem die Mobilisierung ausreichend privater Investitionen erforderlich, für die eine Vertiefung der Kapitalmarktunion („Spar- und Investitionsunion“) als wesentlich angesehen wird. Durch den Binnenmarkt ist die Realität des wirtschaftlichen Handelns in Europa in den vergangenen Jahrzehnten substanziell in die gewollte Richtung verändert worden. Die Binnenmarktpolitik ist häufig kontrovers gewesen und wird dies auch in Zukunft sein. Die Artikulation unterschiedlicher Interessen und Positionen, auch der Streit um den richtigen Weg, sind vielfach unvermeidlich. Der öffentliche Diskurs über Vorschläge der Kommission, die Suche nach guten Lösungen, das Aushandeln von Kompromissen, dies alles gehört zu dem demokratischen Prozess, dem sich die EU verschrieben hat. Und selbst wenn Reformen netto einen Wohlfahrtsgewinn für die Bürger der EU bringen, bedeutet dies nicht, dass es nicht auch gesellschaftliche Gruppen gibt, deren Wohlfahrt beeinträchtigt wird. Es ist Aufgabe der EU und der Mitgliedstaaten, Wege zu finden, damit sich der Binnenmarkt zum Nutzen der Gesellschaft weiterentwickeln kann. ➲ Wichtige Begriffe Integrationsstufen, Vier Freiheiten, Handelsschaffung, Handelsumlenkung, Skalener‐ träge, X-Ineffizienz, Bestimmungslandprinzip, Ursprungslandprinzip, Cassis-de-Di‐ jon-Urteil, öffentliches Auftragswesen, Dienstleistungsrichtlinie, Arbeitnehmerfreizü‐ gigkeit ➲ Literatur Angerer, Jost (2024): Allgemeine Steuerpolitik. Kurzdarstellungen zur Europäischen Union, Internet: https: / / www.europa.eu/ factsheets/ de 120 4 Der europäische Binnenmarkt <?page no="121"?> Bertelsmann Stiftung (2014): 20 Jahre Binnenmarkt - Wachstumseffekte der zunehmenden EU-Integration, Policy Brief 2014/ 02, Gütersloh Brunn, Gerhard (2020): Die Europäische Einigung von 1945 bis heute, 5. Auflage, Ditzingen, Stuttgart, Reclam Cecchini, Paolo (1988): Europa ‘92 - Der Vorteil des Binnenmarktes, Baden-Baden, Nomos Verlag Deutsche Bank (2013): Der EU-Binnenmarkt nach 20 Jahren. Erfolge, unerfüllte Erwartungen und Potenziale, EU-Monitor, 19. September 2013 Deutsche Bundesbank (2019): „Strukturreformen im Euroraum“, in: Monatsbericht Oktober 2019, S. 83-106 Deutsche Industrie- und Handelskammer (2024): DIHK-Umfrage zu Binnenmarkthindernissen 2024. 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April 2024, Internet: https: / / www.tresor.economie.gouv.fr/ Articles/ 2024/ 04/ 25/ developing-e uropean-capital-markets-to-finance-the-future Dorn, Florian/ Flach, Lisandra/ Gourevich, Isabella (2024): „EU-Binnenmarkt stärken: Die unge‐ nutzten Potenziale eines vertieften Dienstleistungshandels“, in: ifo Schnelldienst, 77, Nr.-05, S.-24-29 Draghi, Mario (2024): The future of European competitiveness Part A | A competitiveness strategy for Europe, und Part B | In-depth analysis and recommendations, Internet: https: / / commission.europa.eu/ document/ download/ 97e481fd-2dc3-412d-be4c-f152a8232961_en? fi lename=The%20future%20of%20European%20competitiveness%20_%20A%20competitivenes s%20strategy%20for%20Europe.pdf Europäische Kommission (2011): Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen - Binnenmarktakte. 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April 2017, Brüssel Europäische Kommission (2018): Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2006/ 112/ EG in Bezug auf die Einführung der detaillierten technischen Maßnahmen für die Anwendung des endgültigen Mehrwertsteuersystems für die Besteuerung des Handels zwischen Mitgliedstaaten COM/ 2018/ 329 final, 25.5.2018, Brüssel Europäische Kommission (2020): Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen, Hindernisse für den Binnenmarkt ermitteln und abbauen, COM(2020) 93 final, 10.3.2020, Brüssel Europäische Kommission (2022a): Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2006/ 112/ EG in Bezug auf die Mehrwertsteuervorschriften für das digitale Zeitalter, COM(2022) 701 final, 8.12.2022, Brüssel Europäische Kommission (2022b): Neue Normungsstrategie stärkt die weltweite Wettbewerbs‐ fähigkeit der Wirtschaft in der EU, Presseartikel, 2. Februar 2022 Europäische Kommission (2023a): Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regio‐ nen, 30 Jahre Binnenmarkt, COM(2023) 162 final, 16.3.2023, Brüssel Europäische Kommission (2023b): Annual Single Market Report 2023. Commission Staff Wor‐ king Document, SWD(2023) 26 final, 31.1.2023, Brüssel Europäische Kommission (2024a): Mehrwertsteuer, Internet: https: / / europa.eu/ youreurope/ bus iness/ taxation/ vat/ index_de.htm Europäische Kommission (2024b): Annual Report on Intra-EU Labour Mobility 2023, Luxemburg Europäisches Parlament (2019): Europe’s two trillion Euro dividend. Mapping the Cost of Non-Europe. 2019-24, European Added Value Unit, EPRS, PE 631.745, Brüssel Europäisches Parlament (2024): Ten ways that Europe could do more for you. Mapping the cost of non-Europe, European Added Value Unit, EPRS, PE 753.184, Brüssel Europäischer Rechnungshof (2018): Freizügigkeit der Arbeitnehmer-- die Grundfreiheit ist gewährleistet, eine bessere Zielausrichtung der EU-Mittel würde jedoch die Mobilität von Arbeitnehmern fördern, Sonderbericht Nr. 06, Luxemburg Europäischer Rechnungshof (2023): Öffentliches Auftragswesen in der EU: Weniger Wettbewerb bei der Vergabe von Aufträgen für Bauleistungen, Waren und Dienstleistungen im Zeitraum 2011-2021, Sonderbericht 28, Luxemburg in ‘t Veld, Jan (2019): Quantifying the Economic Effects of the Single Market in a Structural Macromodel, European Economy Discussion Paper 094, Luxemburg Hitiris, Theo (2003): European Union Economics, 5. Auflage, Pearson Education Limited 122 4 Der europäische Binnenmarkt <?page no="123"?> Homburg, Stefan (2015): Allgemeine Steuerlehre, 7. Auflage, München, Verlag Franz Vahlen Letta, Enrico (2024): Much more than a Market. Speed, Security, Solidarity. Empowering the Single Market to deliver a sustainable future and prosperity for all EU Citizens, Internet: htt ps: / / www.consilium.europa.eu/ media/ ny3j24sm/ much-more-than-a-market-report-by-enric o-letta.pdf Leibenstein, Harvey (1978): General X-Efficiency Theory and Economic Development, New York, Harvard University Press Martinello, Barbara (2024): Vergabe öffentlicher Aufträge. Kurzdarstellungen zur Europäischen Union, Internet: https: / / www.europa.eu/ factsheets Mion, Gicordano/ Ponattu Dominic (2019): Estimating economic benefits of the Single Market for European countries and regions, Bertelsmann Stiftung Policy Paper, Gütersloh Ohr, Renate (2013): Fit für die Prüfung: Europäische Integration - Lernbuch, Konstanz/ München, UVK-Lucius/ UTB Pelkmans, Jacques (2024): Empowering the single market. A 10-point plan to revive and deepen it, CEPS, Brüssel Ranacher, Christian/ Staudigl, Fritz/ Frischhut, Markus (Hrsg.) (2015): Einführung in das EU-Recht - Institutionen, Recht und Politik der Europäischen Union, 3. Auflage, Wien, facultas Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2023): Wachs‐ tumsschwäche überwinden - In die Zukunft investieren, Jahresgutachten 2023/ 2024, Wies‐ baden Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2024): Stär‐ kung der europäischen Kapitalmärkte, Policy Brief 2/ 2024, Wiesbaden Saulnier, Jérôme (2022): Completing the single market for goods, European Added Value Unit, EPRS, PE 730.320 Wagener, Hans-Jürgen/ Eger, Thomas (2014): Europäische Integration. Wirtschaft und Recht, Geschichte und Politik, 3. Auflage, München, Verlag Franz Vahlen ➲ Literatur 123 <?page no="124"?> 5 Wettbewerb und Wettbewerbspolitik in der Europäischen Union eLearning | zu diesem Kapitel finden Sie einen eLearning-Kurs online. Folgen Sie dem Link oder nutzen Sie den QR-Code. 🔗 https: / / narr.kwaest.io/ s/ 1342 Leitfragen • Welche Vorteile verspricht sich die Gesellschaft von wettbewerblich organi‐ sierten Märkten? • Welche Leitbilder des Wettbewerbs prägen die europäische Wettbewerbspoli‐ tik? • Welches sind die grundlegenden Instrumente der europäischen Wettbewerbs‐ politik? • Welchen besonderen Herausforderungen sieht sich die europäische Wettbe‐ werbspolitik gegenüber? 5.1 Einführung In den Medien wird regelmäßig über wettbewerbspolitische Maßnahmen der Europäi‐ schen Union berichtet: „Razzia bei der …“, „Umstrittene Beihilfe - EU-Wettbewerbshü‐ ter stoßen sich an …“, „EU verhängt Millionenstrafe gegen …“, „EU erwartet Milliarden‐ ersparnis bei Wegfall der Monopole im Bereich …“. Die Schlagzeilen beleuchten die Breite und Bedeutung der in Brüssel verantworteten Wettbewerbspolitik. Zunächst werden die theoretischen Grundlagen der Wettbewerbspolitik erläutert, um anschließend die konkreten rechtlichen Instrumente der europäischen Wettbe‐ werbspolitik vorzustellen und zu diskutieren. 5.2 Wettbewerbspolitik - theoretische Überlegungen zur Gestaltung der Politik 5.2.1 Marktwirtschaft und Wettbewerb - Zur grundsätzlichen Vorteilhaftigkeit wettbewerblicher Verfahren Der Preismechanismus ist ein leistungsfähiges Instrument zur Allokation knapper Güter. Eine dezentral organisierte Volkswirtschaft mit wettbewerblich organisierten Märkten ermöglicht in der Regel wirtschaftliche Ergebnisse, die alternativen Verfahren <?page no="125"?> der Koordination der Produktions- und Konsumentscheidungen für private Güter deutlich überlegen sind. Unternehmen müssen sich an den Präferenzen der Verbrau‐ cher orientieren, diese bestimmen über ihre Nachfrage auch über das Güterangebot. Konsumenten genießen die Freiheit, sich gemäß ihren Vorstellungen für Produkte und Dienstleistungen zu entscheiden („Konsumentensouveränität“). Die Preise, die sich in Wettbewerbsmärkten ergeben, werden durch die Konkurrenz der Unternehmen um Konsumenten niedrig gehalten. Box 32 |-Polypol versus Monopol Anhand → Abb. 25 lassen sich die Vorzüge des Wettbewerbs im Kontrast zwischen Polypol und Monopol illustrieren. Auf dem Wettbewerbsmarkt ist der Preis für ein Unternehmen ein Datum (Preisnehmerverhalten), so dass bei Gewinnmaximierung die Optimalbedingung Preis = Grenzkosten realisiert wird. Auf dem Markt ergibt sich die Preis-Mengen-Kombination (p W , x W ) im Schnittpunkt von Nachfrage- und Angebotsfunktion. Demgegenüber ermittelt der Monopolist (Preissetzer) seine gewinnmaximale Preis-Mengen-Kombination gemäß der Bedingung Grenzumsatz = Grenzkosten und realisiert den Cournotschen Punkt (p M , x M ). Der Preis im Monopol ist höher als der Wettbewerbspreis (p M > p W ) und die Menge, die der Monopolist bereitstellt, ist geringer als die Wettbewerbsmenge (x M- <-x W ). U' X W P W P M X A = K' P b c a e d N X M Abb.-25: Vergleich Wettbewerb und Monopol Gegenüber dem Wettbewerb vermindert sich die Konsumentenrente im Monopol infolge des gestiegenen Preises und der Mengenreduktion um die Flächen b + c. 5.2 Wettbewerbspolitik - theoretische Überlegungen zur Gestaltung der Politik 125 <?page no="126"?> Die Produzentenrente im Monopol steigt um die Fläche b (Umverteilung) und sinkt um die Fläche d (suboptimaler Output). Insgesamt ergibt sich ein Wohlfahrtsver‐ lust („deadweight-loss“) durch das Monopol gegenüber dem Wettbewerb um die Flächen c-+-d, der allokative Ineffizienz widerspiegelt. Um die Marktmacht eines Unternehmens zu erfassen, ist vorgeschlagen worden, Lerners Monopolgrad zu bestimmen: L = (p - K')/ p = - 1/ ε x,p . Je kleiner der Preissetzungsspielraum eines Unternehmens als Abweichung des Preises von den Grenzkosten relativ zum Preis des Produktes ist bzw. je elastischer die nachgefragte Menge auf Preisveränderungen reagiert, desto geringer ist die Markt‐ macht eines Unternehmens. Auf den Lerner-Index wird in empirischen Studien zunehmend zurückgegriffen, um die Wettbewerbsintensität in einer Branche zu beschreiben (vgl. Monopolkommission 2014, S. 242-245). Entsprechend lassen sich auch Preisaufschläge bzw. ökonomische Gewinnmargen als Spanne zwischen den Grenzkosten der Erstellung eines Gutes und dessen Preis erfassen: µ = P/ K'. Je höher der Preisaufschlag ist, desto eher ist Marktmacht zu vermuten (vgl. Monopolkommission 2018, S.-164-176). Der Wettbewerb der Anbieter hat positive Wirkungen auf die Vielfalt und Qualität der angebotenen Produkte. Die Produktionsfaktoren werden dort eingesetzt, wo sie die höchsten wirtschaftlichen Vorteile erbringen: Die Allokation der Produktionsfaktoren ist effizient. Unternehmen passen die Produktion und die Produktionskapazitäten an die sich ständig ändernde Nachfragestruktur und Produktionstechnik an, es bedarf hierzu keiner staatlichen Eingriffe, die „unsichtbare Hand“ des Marktes lenkt die Produktionsfaktoren (Anpassungsflexibilität). Unternehmen sind ständig gezwungen, durch Innovationen ihre Marktpräsenz und ihren Markterfolg zu verteidigen, der Markt ist der Treiber von technischem und sozialem Fortschritt. Der Wettbewerb belohnt produktive und innovative Unternehmen. Diese dem Wettbewerb zugeschriebenen Vorteile und die grundsätzliche Überlegen‐ heit des Marktes bei der Steuerung der Produktion und Verteilung von Gütern und Dienstleistungen können jedoch nur unter bestimmten Bedingungen realisiert werden: • Der Wettbewerb ist nur dann ein taugliches Instrument, wenn es sich nicht um das Angebot öffentlicher Güter handelt. Das Ausschlussprinzip und das Rivalitäts‐ prinzip müssen gelten. • Positive oder negative externe Effekte auf der Konsum- oder der Produktionsseite dürfen nicht zu einer Fehlallokation der Ressourcen führen. • Die Steuerung durch den Markt erfordert die Fähigkeit des Verbrauchers, Aspekte wie Produktsicherheit adäquat einschätzen zu können. Informationsasymmetrie kann zu suboptimalen Ergebnissen führen. • Anbieter stehen im Wettbewerb und konkurrieren um Nachfrager. Es liegt weder ein natürliches Monopol vor noch wird der Wettbewerb durch Unternehmen ausgeschaltet. 126 5 Wettbewerb und Wettbewerbspolitik in der Europäischen Union <?page no="127"?> 5.2.2 Leitbilder der Wettbewerbspolitik Wenn auch weitgehend Übereinstimmung über die grundsätzliche Vorteilhaftigkeit des Wettbewerbs herrscht, so bleibt zu klären, ob dieser durch eine besondere Markt‐ struktur gekennzeichnet ist und des Schutzes durch den Staat bedarf. Die theoretische Befassung mit den systemischen Bedingungen für Wettbewerb, mit den Charakteris‐ tika wettbewerblichen Verhaltens und den Ergebnissen wettbewerblicher Prozesse führte in der Wettbewerbstheorie zu der Entwicklung von „Leitbildern“, die einen geschlossenen und in sich widerspruchsfreien Zusammenhang von wettbewerbspolitischen Zielen sowie zielkonformen Instrumenten und Trägern der Wirtschafts‐ politik beschreiben (vgl. Schmidt/ Haucap 2013). Drei Leitbilder sind von besonderer Bedeutung für das Verständnis der realen Wettbewerbspolitik in Europa: das Leitbild des vollkommenen Marktes, das Leitbild des funktionsfähigen Wettbewerbs und das Leitbild der Konsumentenwohlfahrt (die Chicago School of Anti-Trust Analysis). Das Leitbild der vollständigen Konkurrenz Die „Soziale Marktwirtschaft“, welche Deutschland seit dem Ende des Zweiten Welt‐ krieges prägt, ist eng mit der Idee des Wettbewerbs, also der Konkurrenz einer Vielzahl von Unternehmen, und gleichzeitig dem aktiven Schutz und der Förderung des Wett‐ bewerbs verknüpft. Walter Eucken, Alfred Müller-Armack und andere entwickelten die wettbewerbspolitische Konzeption, die mit dem „Leitbild der vollständigen Kon‐ kurrenz“ beschrieben werden kann, vor dem Hintergrund der wirtschaftspolitischen Erfahrung Deutschlands vor 1945. Die gezielte Ausschaltung des Wettbewerbs gehörte zum Alltag in Deutschland. Wettbewerbspolitik muss nach Müller-Armack (1966) Wett‐ bewerbsbeschränkungen unterbinden, Marktkontrolle durch Unternehmen, Marktab‐ sprachen durch Oligopole und Kartelle verhindern und den Wettbewerb im Sinne des Verbrauchers schützen. Ein funktionsfähiges Preissystem und vollständige Kon‐ kurrenz wurden zum „wirtschaftsverfassungsrechtlichen Grundprinzip“ erklärt, eine umfassende und konsequente staatliche Wettbewerbspolitik wurde als erforderlich erachtet. Das Idealbild der vollständigen Konkurrenz prägte somit die Konzeption der Wettbewerbspolitik. Die Argumentation ist Teil des Ordoliberalismus, der von der Freiburger Schule vertreten wurde. Das Leitbild des funktionsfähigen Wettbewerbs Das in den USA von John Maurice Clark entwickelte und bald in Deutschland und Europa aufgegriffene Leitbild des „funktionsfähigen Wettbewerbs“ („workable compe‐ tition“) stellte das Leitbild des vollkommenen Wettbewerbs grundsätzlich infrage (vgl. Clark 1961). Marktunvollkommenheiten, die aus Sicht des Leitbilds der vollständigen Konkurrenz zu beseitigen sind, können aus dieser Perspektive sogar den Wettbewerb beleben. Wettbewerb ist nicht nur in der Marktstruktur des Polypols anzutreffen, auch in Oligopolen kann die Wettbewerbsintensität hoch sein. Für die Beurteilung, ob Wett‐ 5.2 Wettbewerbspolitik - theoretische Überlegungen zur Gestaltung der Politik 127 <?page no="128"?> bewerb stattfindet, reicht aus Sicht dieses Leitbildes der Blick auf die Marktstruktur nicht aus. Vielmehr sind die Marktstruktur, das Marktverhalten und das Marktergebnis zu würdigen. Die in der Realität beobachteten Wettbewerbsprozesse sollen anhand konkreter Kriterien beurteilt werden. Die Marktstruktur kann beispielsweise anhand der Zahl und der relativen Größe der Anbieter und Nachfrager, dem Ausmaß der Produktdifferenzierung, dem Grad der Markttransparenz und dem Vorhandensein von Marktzutrittsbeschränkungen beurteilt werden. Das Marktverhalten lässt sich durch die Beobachtung der Preisstrategien und Innovationsaktivitäten bewerten. Das Marktergebnis kann durch die Analyse der allokativen und produktiven Effizienz, des technischen Fortschritts und weiterer Größen erfasst werden. Gemäß diesem Modell ist beispielsweise ein Markt mit wenigen Anbietern, aber sehr konkurrenzori‐ entiertem Verhalten der Unternehmen, mit vielen Innovationen, niedrigen Preisen und Gewinnen als wettbewerbsorientiert zu beschreiben und wettbewerbspolitisch nicht zu bekämpfen. Das Konzept beeinflusste die Gesetzgebung in vielen Ländern. Die Wettbewerbspolitik ist vorsichtiger, sie muss differenzierter argumentieren, die Einschätzung von Wettbewerbssituationen ist nicht mehr rein marktformorientiert. Das Leitbild einer Steigerung der Konsumentenwohlfahrt - Die Chicago School Das Leitbild der Steigerung der Konsumentenwohlfahrt, das auch als Konzept der „Chicago School“ oder auch „Chicago School of Antitrust Analysis“ bekannt ist, ist durch ein stärkeres Grundvertrauen in die Kräfte des Marktes geprägt und skeptisch gegenüber dem Staat. Aus Sicht der Chicago School muss Wettbewerbspolitik durch große Zurückhaltung des Staates geprägt sein. Wettbewerbsfreiheit ist erforderlich, das Vertrauen des Staates in die Marktkräfte ist geboten, der reflexartige Blick vieler Wirtschaftspolitiker auf die Marktstruktur führt in die Irre. Wenn Unternehmen Skalenvorteile ausnutzen, ihre produktive Effizienz erhöhen und in der Folge der Konzentrationsgrad steigt, ist dies aus dieser Perspektive nicht grundsätzlich negativ zu beurteilen und soll von Wettbewerbsbehörden nicht unterbunden werden. Pionier‐ gewinne sind gut, sie stellen Anreize für Innovationen dar und locken Wettbewerber an. Eine Bestrafung kreativer und erfolgreicher Unternehmen, die für eine gewisse Zeit eine Monopolstellung einnehmen und entsprechende Monopolgewinne erwirtschaf‐ ten, ist nicht nur nicht nötig, sondern kontraproduktiv. Ein Nachlassen der produktiven Effizienz im Monopol, also X-Ineffizienz, werde von anderen Unternehmen, welche die Marktchancen erkennen, bestraft. Der Staat soll nur bei klaren fortdauernden wettbewerbsbeschränkenden Maßnahmen eingreifen. Solange ein Markt „bestreitbar“ („contestable“) ist, kann davon ausgegangen werden, dass die Wohlfahrt der Konsu‐ menten gesteigert wird. Grundsätzlich ist nicht der Eingriff in Marktprozesse, sondern Entbürokratisierung, Liberalisierung und Deregulierung die prioritäre Aufgabe der Wettbewerbspolitik. Eine großzügige Einstellung gegenüber Zusammenschlüssen und Monopolen ist die aus diesem Leitbild abgeleitete Empfehlung. Eng damit verknüpft 128 5 Wettbewerb und Wettbewerbspolitik in der Europäischen Union <?page no="129"?> ist auch die Argumentation des Nobelpreisträgers Friedrich A. von Hayek (2005), der die Rolle des Marktes als Ort des Entdeckens von Wissen beschrieb. Das Ergebnis des Entdeckungsprozesses sei nicht bekannt. Im Vergleich zu dem Privatsektor habe der Staat kein besseres Wissen. Im Vergleich zum Marktversagen sei das Staatsversagen die größere Gefahr. Der Staat sei nicht allwissend und unterliege Fehlanreizen, die zur Vorsicht gegenüber öffentlicher Beaufsichtigung mahnen. Auch die politische Di‐ mension der Freiheit spielte eine wichtige Rolle, Freiheit von staatlicher Einmischung, Anordnung und Bevormundung sei ein wesentliches Ziel einer Wirtschaftsordnung, Wettbewerb erfordert Selbstverantwortung und schafft Selbstachtung. ⁈ Verständnisfrage | Erörtern Sie, welche Aufgaben dem Staat in dem jeweili‐ gen wettbewerbspolitischen Leitbild zukommen. 5.3 Schlussfolgerungen für die Wettbewerbspolitik Die Leitbilder prägen grundsätzlich die Sicht auf das Marktgeschehen, auf die Markt‐ formen und das Vertrauen in die Dynamik der Märkte. Allen Leitbildern gemeinsam ist die Überzeugung, dass der Staat einheitliche Rahmenbedingungen für den Wettbewerb („level playing field“) schaffen muss. Das Leitbild des vollkommenen Marktes empfiehlt jedoch für den Staat eine starke wettbewerbsschützende Rolle, während das Leitbild der Chicago School auf der anderen Seite des Kontinuums der Handlungsoptionen angesiedelt ist und dem Staat größte Zurückhaltung nahelegt. Das Leitbild des funk‐ tionsfähigen Wettbewerbs nimmt diesbezüglich eine Zwischenposition ein. Heute besteht Konsens, dass der alleinige Blick auf die Marktstruktur zu kurz greift. 5.4 Wettbewerbspolitik der EU Die EU bekennt sich im Vertrag von Lissabon zur Schaffung einer wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft, die „economic governance“ der EU beruht auf dem Prinzip einer wettbewerbsorientierten Wirtschaft. Eine marktwirtschaftliche Ordnung wird als Grundlage für Wachstum und hohen Lebensstandard für die Bevölkerung gesehen. Die Union verpflichtet sich zur Unterstützung des Wettbewerbsprozesses im Binnenmarkt, innerhalb dessen der Wettbewerb unverfälscht sein soll. Die Unternehmen sollen zu einem wettbewerbsorientierten Verhalten veranlasst werden, womit dynamisches, effizienzsteigerndes Verhalten und Innovation verknüpft wird. Wettbewerbspolitik, d. h. die Gesamtheit der rechtlichen Regeln und staatlichen Maßnahmen, die Wettbewerbsbeschränkungen verhindern sollen, kann verschieden weit beschrieben werden: Wettbewerbspolitik im weiteren Sinne umfasst zunächst die Definition von Spielregeln und die Schaffung von Rahmenbedingungen für das Handeln der Unternehmen. Wettbewerbspolitik im engeren Sinne beinhaltet die Politik 5.3 Schlussfolgerungen für die Wettbewerbspolitik 129 <?page no="130"?> gegenüber Monopolen, die Verhinderung von wettbewerbsbedrohenden Unterneh‐ mensübernahmen und Zusammenschlüssen, und die Politik gegenüber Kartellen und Absprachen der Unternehmen. Da staatliche Beihilfen den Wettbewerb zwischen Unternehmen verzerren können, ist die Wettbewerbspolitik auch mit der Schaffung fairer Bedingungen hinsichtlich der selektiven Eingriffe des Staates befasst. Die Wettbewerbspolitik muss schließlich auch die Frage beantworten, wann die Begrenzung des Wettbewerbes in Form von Patenten und Markenschutz legitim und angezeigt sein kann (vgl. Schmidt 2001). Das vorherrschende Paradigma der Wettbewerbspolitik der EU war lange Zeit das Konzept des funktionsfähigen Wettbewerbs, das mehr und mehr vom Leitbild der Chicago School abgelöst wurde. Zu Beginn der 2000er-Jahre entwickelte sich unter dem Begriff des „more economic approach“ ein neues Verständnis der Wettbewerbspolitik (die „Neue Wettbewerbspolitik“): Die Dynamik der Märkte, die Berücksichtigung auch potenziellen Wettbewerbs, die Betrachtung der langfristigen Wirkungen der Marktprozesse, die Konsequenzen für die gesamte Wohlfahrt der Gesellschaft finden stärker Beachtung als dies zuvor der Fall war (vgl. Monopolkommission 2008, S. 341- 394, Christiansen 2010). Box 33 |-Die Ziele der europäischen Wettbewerbspolitik Die Wettbewerbspolitik trägt zu einer effizienten Ressourcenallokation, techni‐ schem und sozialen Fortschritt und damit zu einem hohen Lebensstandard bei. Neben diesem wirtschaftlichen Ziel ist Wettbewerbspolitik aber auch ein Instru‐ ment zur Sicherung der Freiheit der Wirtschaftssubjekte und der Etablierung einer durch dezentrale Entscheidungen geprägten Gesellschaft (vgl. Europäische Kommission 2023a). 5.4.1 Geschichte der europäischen Wettbewerbspolitik Zu Beginn der europäischen Einigung existierten in den Mitgliedstaaten der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft sehr unterschiedliche Vorstellungen, wie die Wettbewerbspolitik gestaltet werden soll. In Deutschland gab es die von dem Ordoli‐ beralismus geprägte Wettbewerbspolitik, sie war ein zentrales Element der „Sozialen Marktwirtschaft“. Auch Frankreich blickte auf eine Tradition wettbewerbspolitischer Maßnahmen zurück und verfügte in der Nachkriegszeit über ein wettbewerbspoliti‐ sches Instrumentarium, allerdings mit einer stärkeren industriepolitischen Akzentset‐ zung als in Deutschland: Der Staat sollte durch wettbewerbspolitische Eingriffe die Restrukturierung der Wirtschaft begleiten oder gestalten. Der 1952 in Kraft getretene Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl enthielt klare Regeln für den Wettbewerb innerhalb der Ge‐ meinschaft. Und der 1958 in Kraft getretene Vertrag von Rom betonte das Ziel der Einführung eines gemeinsamen Marktes mit einheitlichen Vorgaben. Damit war der 130 5 Wettbewerb und Wettbewerbspolitik in der Europäischen Union <?page no="131"?> Grundstein für eine gemeinsame Wettbewerbspolitik gelegt. Bis in die 1970er-Jahre war die Wettbewerbspolitik der Gemeinschaft jedoch kein zentrales Politikfeld. Die nationalen wettbewerbspolitischen Konzeptionen dominierten. Dies änderte sich erst mit der Entwicklung eines echten Binnenmarktes, dem Abbau diverser Barrieren für den Handel in der Gemeinschaft, dem Wachstum der grenzüberschreitenden Investitionen innerhalb Europas und damit der verstärkten Notwendigkeit, innerhalb der Union faire Bedingungen zu schaffen. Die Wettbewerbspolitik ist zunehmend in das Zentrum des wirtschaftspolitischen Instrumentariums der Gemeinschaft bzw. Union gerückt, sie gehört heute zu den wichtigsten Politikfeldern der Union. Zentrale Instanz für die Ausführung der Wettbe‐ werbspolitik ist die Generaldirektion Wettbewerb der Europäischen Kommission. Auch Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs haben das wettbewerbspolitische Handeln der Union wesentlich beeinflusst. 5.4.2 Das Wettbewerbsrecht der Europäischen Union Die Mitgliedstaaten haben im Vertrag von Lissabon die ausschließliche Zuständigkeit für die „Festlegung der für das Funktionieren des Binnenmarktes erforderlichen Wett‐ bewerbsregeln“ (Artikel 3 AEUV) an die Union übertragen. Nur die Europäische Union kann gesetzgeberisch tätig werden, insofern Wettbewerbsregeln bestimmt werden, die für den Binnenmarkt gültig sind. Die Kompetenzübertragung an die Union ist eindeutig, die Union hat die ausschließliche Kompetenz, allerdings beschränkt auf jenen Wettbewerbsbereich, der für das Funktionieren des Binnenmarktes relevant ist. Wettbewerbsfragen, die eine rein nationale Bedeutung haben, verbleiben im Kompetenzbereich der Mitgliedstaaten, die mittlerweile alle über nationale wettbe‐ werbsrechtliche Regeln verfügen. Die Union folgt damit dem Prinzip der Subsidiarität. Die zentralen primärrechtlichen Regelungen finden sich in Artikel 3 EUV und Artikel 101-109 AEUV: • In Artikel 3 des EUV wird als zentrales Ziel der Union formuliert: „Die Union errich‐ tet einen Binnenmarkt“. Im dritten Teil des AEUV (Titel I-IV) werden hierzu detail‐ lierte Regeln bezüglich des freien Verkehrs von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital (die „vier Freiheiten“) festgeschrieben. Für das Grundverständnis der Wettbewerbspolitik ist diese Verpflichtung zur Öffnung der nationalen Märkte der Mitgliedstaaten der Union von herausragender Bedeutung: Die Sicherung des Wettbewerbs ist für das Funktionieren des Binnenmarktes essenziell. Nationale Märkte sollen geöffnet und bestehende Wettbewerbsbeschränkungen abgebaut werden. • In den Artikeln 101-109 des AEUV finden sich die Regeln zur Förderung des wirk‐ samen Wettbewerbs in der Union. Das Kapitel ist in Vorschriften für Unternehmen (Abschnitt I) und für staatliche Beihilfen (Abschnitt II) unterteilt. - Verboten sind gemäß Artikel 101 alle Vereinbarungen zwischen Unterneh‐ men, „welche den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen 5.4 Wettbewerbspolitik der EU 131 <?page no="132"?> geeignet sind und eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarkts bezwecken oder bewirken“. Absprachen über An- oder Verkaufspreise, Vereinbarungen über die Absatz‐ mengen, die Aufteilung von Märkten sind nicht zulässig. Gemäß Artikel 102 ist die missbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung auf dem Binnenmarkt oder auf einem wesentlichen Teil desselben verboten. - Auch öffentliche Unternehmen und Unternehmen, denen in einem Mit‐ gliedsland besondere Rechte gewährt werden, müssen sich an den Wettbe‐ werbsregeln des Lissabon-Vertrages orientieren. Dies gilt auch für Unterneh‐ men, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut sind. - Die Artikel 107-109 AEUV regeln die Gewährung staatlicher Beihilfen. Grundsätzlich sind staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen mit dem Binnenmarkt unvereinbar, wenn sie den Wettbewerb im Binnen‐ markt zu verfälschen drohen. Absatz 2 und 3 des Artikels 107 regeln eine Reihe von Ausnahmetatbeständen. • Neben diesen im Primärrecht festgeschriebenen Standards sind drei sekundär‐ rechtliche Regelungen von besonderer Bedeutung. - Die Verordnung (EG) Nr. 139/ 2004 des Rates über die Kontrolle von Unter‐ nehmenszusammenschlüssen (EG-Fusionskontrollverordnung) regelt den Umgang der Union mit Zusammenschlüssen und Unternehmensübernah‐ men - Die Verordnung (EU) 2022/ 1925 des Europäischen Parlamentes und des Rates über bestreitbare und faire Märkte im digitalen Sektor („Digital Markets Act“) schafft den Rechtsrahmen für den Umgang mit den großen digitalen Konzernen. - Die Verordnung (EU) 2022/ 2560 des Europäischen Parlamentes und des Rates über den Binnenmarkt verzerrende drittstaatliche Subventionen regelt den Umgang mit Zuschüssen für Unternehmen, insofern sie den Wettbewerb im Binnenmarkt gefährden. 5.4.3 Die europäische Wettbewerbspolitik in der Praxis Öffnung der Märkte Die Wettbewerbssituation in Europa wird ganz entscheidend von der Offenheit der nationalen Märkte beeinflusst. Die Handelspolitik der EU und die Binnenmarktpolitik tragen dazu bei, eine hohe Wettbewerbsintensität auf den europäischen Märkten zu sichern. Größere, offene Märkte mindern tendenziell das Problem der Konzentration und Marktmacht. 132 5 Wettbewerb und Wettbewerbspolitik in der Europäischen Union <?page no="133"?> Wettbewerbsbeschränkungen Ein zentrales Aktionsfeld der Wettbewerbspolitik ist die Bekämpfung von Absprachen zwischen Unternehmen, gleichgültig ob diese in schriftlicher oder mündlicher Form, direkt oder nur indirekt, sehr konkret oder nur lose erfolgen. Entscheidend für die Bewertung sind die Intention und die Wirkung der Absprachen. Im Mittelpunkt stehen die Vereinbarungen über Preise, Konditionen und Marktabgrenzungen. Dies gilt sowohl für Unternehmen auf horizontaler Ebene, also Unternehmen, die auf der gleichen Produktionsstufe stehen, als auch für Unternehmen, die vertikal verbunden sind, also Unternehmen auf vor- oder nachgelagerten Produktionsstufen. Box 34 |-Kooperation versus Eigeninteresse im Duopol Absprachen zwischen Unternehmen etwa über den Preis des Produktes, die ange‐ botene Gesamtmenge und deren Aufteilung stellen wettbewerbsbeschränkende Maßnahmen dar. Die Spieltheorie bietet ein Instrument zur Analyse der Dynamik der Preissetzung im Oligopol. Gegeben sei der spezielle Fall eines Duopols, das aus den beiden Anbietern A und B besteht. Einigen sich die beiden Unternehmen auf die Produktion einer geringeren Menge, so sei ihr Gewinn jeweils 8.000 Geldeinheiten. Erstellen beide eine größere Menge, so betrage der Gewinn für jedes Unternehmen 7.000 Geldeinheiten. Produziert ein Unternehmen eine größere Menge als der Konkurrent, so sei der Gewinn 9.000 Geldeinheiten und der Gewinn des Unternehmens mit der kleineren Menge 6.000 Geldeinheiten. Die folgende Matrix beschreibt die Entscheidungssituation, die das Dilemma der Unternehmen verdeutlicht: das Spannungsverhältnis zwischen Kooperation und Wettbewerb (vgl. Bofinger 2019). - Anbieter B große Menge kleine Menge Anbieter A große Menge Gewinn A: 7.000 Gewinn B: 7.000 Gewinn A: 9.000 Gewinn B: 6.000 kleine Menge Gewinn A: 6.000 Gewinn B: 9.000 Gewinn A: 8.000 Gewinn B: 8.000 Verhalten sich beide Anbieter kooperativ, maximieren sie ihren Gesamtgewinn (16.000 Geldeinheiten). Die in der Spieltheorie als dominante Strategie bezeichnete Verhaltensweise, d. h. jene, die unter Berücksichtigung des Verhaltens der Gegen‐ seite optimal ist, ist jedoch die Produktion einer größeren Menge. Im Bestreben, den 5.4 Wettbewerbspolitik der EU 133 <?page no="134"?> individuellen Gewinn zu maximieren, kommt in diesem Fall das für die Duopolisten schlechtere Ergebnis zustande. Absprachen sind grundsätzlich verboten, allerdings regelt Artikel 101, Absatz 3 AEUV eine Reihe von Ausnahmen, die ökonomisch begründet und als gesellschaftlich vorteil‐ haft angesehen werden (können). In solchen Fällen sind Freistellungen von dem Verbot von Absprachen möglich, die in Form einer Einzelfreistellung oder häufig pauschal im Rahmen einer Gruppenfreistellung genehmigt werden. Wird das Vorliegen unzulässiger Kartelle nachgewiesen, kann die Europäische Kom‐ mission hohe Strafen verhängen und hat hierbei einen weiten Ermessensspielraum. Maßgeblich für die Festlegung der Geldbuße ist die Orientierung an dem Gesamtumsatz (bis zu 10 % des Jahresumsatzes), an der Dauer der Zuwiderhandlung und an dem Gedanken der Abschreckung. Wesentliche Merkmale, die bei der Bemessung der Strafe berücksichtigt werden, sind in der folgenden Abbildung beschrieben (vgl. Europäische Kommission 2011). Grundbetrag der Geldbuße prozentualer Anteil des relevanten Umsatzes - (0-%-30-%) × Dauer ( Jahre oder Zeiträume von weniger als einem Jahr) +15-% bis 25-% des relevanten Umsatzes: zusätzliche Abschreckung Erhöhung erschwerende Umstände - z. B. Rolle als Anführer oder Anstifter des Verstoßes, „Wiederholungstäter“, Behinderung der Ermittlungen Ermäßigung mildernde Umstände - z. B. geringfügige Beteiligung; Vorschriften oder Verhalten von Behörden, die die Zuwiderhandlung begünstigten Höchstbetrag 10-% des Umsatzes (pro Zuwiderhandlung) weitere mögli‐ che Ermäßigun‐ gen Kronzeugenregelung - 100-% für das Unternehmen, das als erster Kartellbeteiligter Beweismittel vorlegt; bis zu 50-% für das nächste Unternehmen, 20-% bis 30-% für das dritte Unternehmen und bis zu 20-% für alle weiteren Unternehmen Vergleichsverfahren: 10-% Ermäßigung bei Zahlungsunfähigkeit Abb.-26: Kriterien für die Bemessung von Kartellstrafen 134 5 Wettbewerb und Wettbewerbspolitik in der Europäischen Union <?page no="135"?> Die von der Kommission verhängten und in manchen Fällen von dem Europäischen Gerichtshof später angepassten Geldbußen sind in der Summe beträchtlich, wie die folgende Abbildung zeigt. Die höchsten Geldbußen wurden für Kartelle auf dem Markt für Lastkraftwagen, für Fremdwährungsgeschäfte und für Fernseh- und Computerbild‐ schirme ausgesprochen (vgl. Europäische Kommission 2023b) 344 271 3.157 7.863 7.605 8.238 2.312 1990-1994 1995-1999 2000-2004 2005-2009 2010-2014 2015-2019 2020-2023 Abb.-27: Kartellstrafen in Millionen Euro von 1990-2023 (nach Korrektur durch den Europäischen Gerichtshof) Strafzahlungen sollen geeignet sein, die rein ökonomische Kosten-Nutzen-Überlegung zu beeinflussen: Mit steigenden Strafzahlungen sinkt der aus ökonomischer Perspek‐ tive relevante Barwert der erwarteten Kartellgewinne minus der Aufdeckungswahr‐ scheinlichkeit multipliziert mit der Höhe der Geldbuße. Mit den hohen Strafzahlungen ist die Erwartung verbunden, dass der Nutzen der Teilnahme an Kartellen deutlich reduziert wird. Die Kommission untersucht auf eigene Veranlassung oder Hinweisen von Wettbe‐ werbern, Verbänden oder Verbrauchern ein Vorliegen von Absprachen. Häufig wurden auch Kartelle aufgrund der Kronzeugenregelung aufgedeckt, die Straffreiheit für jenes am Kartell beteiligte Unternehmen vorsieht, welches das Kartell der Kommission anzeigt. Um Absprachen zu erschweren, setzt die Kommission auch auf die Erhöhung der Transparenz auf Märkten. So veröffentlichte sie beispielsweise über viele Jahre Preisvergleiche für Personenkraftwagen in Europa, um Druck auf die Beendigung der Trennung der nationalen Märkte auszuüben. 5.4 Wettbewerbspolitik der EU 135 <?page no="136"?> Box 35 | Ethische Herausforderung: Die Kronzeugenregelung in der Wettbe‐ werbspolitik Die Kronzeugenregelung in der Wettbewerbspolitik wird kontrovers gesehen. Die Kronzeugenregelung ist richtig Die Regelung hat sich als effektives Instrument zur Beendigung der Kartellkultur erwiesen. Nur dank dieser Regelung konnten viele Kartelle nachgewiesen werden. Die Akzeptanz der Kronzeugenregelung im Wettbewerbsrecht ist hoch. Die Kronzeugenregelung ist falsch Die Kronzeugenregelung passt nicht in die Rechtstradition Europas. Die rechts‐ staatliche Absicherung ist nicht unumstritten. Die Straffreiheit für das Unterneh‐ men, welches das Kartell aufdeckt, ist ungerecht und führt zu illegitimen Vorteilen. Das Zusammenwirken des Staates mit den Unternehmen, die Verstöße gegen das Wettbewerbsrecht begangen haben, ist unmoralisch. Marktbeherrschung Artikel 102 AEUV verbietet die missbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschen‐ den Stellung auf dem Binnenmarkt. Nicht die Marktbeherrschung selbst ist verboten, sondern die Ausnutzung der Marktmacht für die Durchsetzung besonders hoher Preise (oder auch temporär besonders niedriger, um Wettbewerber aus dem Markt zu drängen). Verboten sind die Einschränkungen der Erzeugung bzw. des Absatzes und die Diskriminierung von Handelspartnern. Durch die Schaffung des Binnenmarktes ist die Konzentration in vielen Branchen im Vergleich zu den vorher national geprägten Märkten gesunken. Gleichwohl gibt es nach wie vor eine Reihe von Branchen mit hoher Konzentration (Flugzeugbau, Herstellung von Kraftfahrzeugen, Produktion von Computern). Box 36 | Messung der Branchenkonzentration - Die Konzentrationsrate und der Herfindahl-Hirschman-Index Zur Bestimmung der Marktbeherrschung ist die Erfassung der Konzentration in einer Branche wichtig. Die Konzentrationsrate CR n ist ein häufig genutzter und intuitiv eingängiger Ansatz: Die Summe der Marktanteile x der n größten Unternehmen wird berechnet: CR n = Σx i , mit x i = Marktanteil des Unternehmens i. Die Berechnung des CR1, CR3, CR4 und CR5 ist in der Literatur und der öffentlichen Diskussion gebräuchlich (im deutschen Kartellrecht wird von einer Marktbeherrschung ausgegangen, wenn der CR1 größer 33,3 %, wenn der CR3 größer 50 % und der CR5 größer als 66,67 % ist). 136 5 Wettbewerb und Wettbewerbspolitik in der Europäischen Union <?page no="137"?> Der Herfindahl-Hirschman-Index HHI ergibt sich aus der Summe der für alle Unternehmen quadrierten Marktanteile x i : HHI = Σx i2 . Für den Wertebereich gilt: 1/ n ≤ HHI ≤ 1 bzw. 0 ≤ HHI ≤ 10.000 (bezogen auf Prozent). In den Leitlinien der Kommission zur Bewertung horizontaler Zusammenschlüsse gelten Werte von unter 1000 als eindeutig unproblematisch (vgl. Europäische Kommission 2004). In den USA werden Werte von unter 1500 als unbedenklich angesehen. In den USA wird ab einem Wert oberhalb von 2500 von einer starken Konzentration ausgegangen (vgl. U.S. Department of Justice and the Federal Trade Commission 2010, S.-19). Die Verwendung quantitativer Indikatoren ist hilfreich, jedoch auch mit Schwä‐ chen behaftet. Die Messung wird ganz entscheidend von der Markt- und Pro‐ duktabgrenzung beeinflusst (vgl. Europäische Kommission 1997). Auch gibt es zahlreiche Branchen, in denen die größten n Unternehmen erhebliche Marktanteile hatten, die Unternehmen in dieser Gruppe im Zeitablauf aber wechselten. Der alleinige Blick auf einen gleichbleibend hohen Wert würde die Dynamik und den Wettbewerb auf einem solchen Markt ausblenden (vgl. Monopolkommission 2018, S.-162-178). Im Primärrecht der Union gibt es keine klare Spezifizierung der „beherrschenden Stellung“. In Verordnungen und Erläuterungen der Kommission wird verdeutlicht, welche Kriterien zur Beurteilung der „Marktbeherrschung“ herangezogen werden. Auch in Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes, der häufig angerufen wird, wird präzisiert, wann Marktbeherrschung angenommen wird. Ein CR1 von 40 % stellt einen wichtigen Schwellenwert für die Feststellung von Marktbeherrschung dar. Un‐ terhalb eines Marktanteils von 40 % ist aufgrund der Erfahrung der Vergangenheit von Ausnahmen abgesehen eine Dominanz des Unternehmens nicht anzunehmen. Auch der Herfindahl-Hirschman-Index wird zur Einschätzung einer Wettbewerbssituation genutzt. Bei einem HHI von weniger als 1000 wird nicht von einer Marktbeherrschung ausgegangen. Danach setzt eine differenzierte Bewertung unter Einbeziehung der Änderung des HHI (ΔHHI) ein. Die EU macht ihre konkrete Einschätzung der wettbe‐ werblichen Situation auch von weiteren Faktoren abhängig, z. B. der Verhandlungs‐ stärke der Konsumenten und der glaubwürdigen Existenz potenzieller Wettbewerber. Entscheidend ist, dass das marktbeherrschende Unternehmen in seiner Fähigkeit eingeschränkt ist, „unabhängig“ von anderen Wettbewerbern Preise zu setzen. Insofern Marktbeherrschung auf dem Binnenmarkt oder einem wesentlichen Teil desselben vorliegt, greift die Verhaltenskontrolle der marktbeherrschenden Unter‐ nehmen. Die Kommission kann die Änderung der Preis- oder Konditionenpolitik oder anderer Variablen erzwingen. Die auferlegten Geldbußen richten sich ähnlich wie bei den Absprachen nach mehreren Kriterien wie z. B. Umsatz der Unternehmen, der Dauer der Ausnutzung der Marktbeherrschung und der Notwendigkeit der Abschreckung. 5.4 Wettbewerbspolitik der EU 137 <?page no="138"?> Box 37 |-Die EU geht gegen die Marktbeherrschung von Google vor Mitte 2017 wurde gegen Google eine Geldbuße in Höhe von 2,42 Mrd. EUR wegen Missbrauchs der marktbeherrschenden Stellung der Google-Suchmaschine durch unzulässige Bevorzugung des eigenen Preisvergleichsdienstes ausgesprochen. Ein Jahr später wurde das Internetunternehmen mit einer Strafzahlung in Höhe von 4,34 Mrd. € belegt. Von den Herstellern von Android-Mobilgeräten und Mobilfunknetzbetreibern wurde als Bedingung für die Lizensierung von Apps wie Google Play verlangt, auf ihren Geräten die Anwendung Google-Suche und den Browser Google Chrome vorzuinstallieren. Anfang 2019 verhängte die Kommission gegen Google eine Geldbuße wegen des Missbrauchs von Marktmacht im Bereich der Suchmaschinenwerbung. Betreibern von Websites, die den Google-Dienst AdSense for Search nutzten, wurden ver‐ tragliche Beschränkungen auferlegt, um andere Unternehmen daran zu hindern, auf dem Markt für die Vermittlung von Suchmaschinenwerbung mit Google konkurrieren zu können (vgl. Europäische Kommission, Pressemitteilungen vom 27. Juni 2017, 18. Juli 2018 und 20. März 2019). Im September 2022 attestierte das Gericht der Europäischen Union bei leichter Absen‐ kung der Strafzahlung die Beurteilung des Verhaltens von Google als wettbewerbs‐ schädigend; im September 2024 wurde das Urteil vom Gerichtshof der Europäischen Union bestätigt. Fusionskontrolle Fusionen, d. h. Zusammenschlüsse von Unternehmen, bei denen zwei oder mehr bisher voneinander unabhängige Unternehmen oder Unternehmensteile fusionieren, waren in den letzten Jahrzehnten weltweit ein bestimmendes Thema im Wirtschaftsgesche‐ hen. Die EU begrüßt grundsätzlich den Strukturwandel und die Umstrukturierung der Unternehmen. Dies wird als Teil eines dynamischen Wirtschaftsgeschehens gesehen. Die Union muss allerdings sicherstellen, dass dieser Prozess nicht dauerhaft den Wettbewerb schädigt. Die europäische Wettbewerbspolitik hat daher Regelungen für Fusionen von gemeinschaftsweiter Bedeutung verabschiedet. Eine erste wichtige Regelung stammt aus dem Jahr 1989. Im Jahr 2004 trat die novellierte EG-Fusions‐ kontrollverordnung in Kraft. Auch hier greift das Subsidiaritätsprinzip: Fusionen von rein nationaler Bedeutung fallen in den Verantwortungsbereich der nationalen Wettbewerbsbehörden. Ein Zusammenschluss von gemeinschaftsweiter Bedeutung wird dann als gege‐ ben angesehen, wenn der Gesamtumsatz der beteiligten Unternehmen bestimmte Schwellenwerte überschreiten. So muss beispielsweise der weltweite Gesamtumsatz aller beteiligten Unternehmen zusammengenommen mehr als 5 Mrd. € und der gemeinschaftsweite Gesamtumsatz von mindestens zwei beteiligten Unternehmen 138 5 Wettbewerb und Wettbewerbspolitik in der Europäischen Union <?page no="139"?> mehr als 250 Millionen € betragen. Falls die beteiligten Unternehmen jeweils mehr als zwei Drittel ihres gemeinschaftsweiten Gesamtumsatzes in ein und demselben Mitgliedsland erzielen, greift die Verordnung nicht. Artikel 2, Absatz 3 der Fusionskontrollverordnung 2004 enthält die Verbotsregelung: „Zusammenschlüsse, durch die wirksamer Wettbewerb im Gemeinsamen Markt oder in einem wesentlichen Teil desselben erheblich behindert würde, insbesondere durch Be‐ gründung oder Verstärkung einer beherrschenden Stellung, sind für mit dem Gemein‐ samen Markt unvereinbar zu erklären.“ Die Beurteilung der „erheblichen Behinderung“ durch die Einführung des SIEC-Tests („significant impediment of effective competi‐ tion“) als materielles Untersagungskriterium hat die Effektivität der Fusionskontrolle auf EU-Ebene gestärkt (vgl. Europäische Kommission 2014, S. 4-5, Duso/ Szücs 2014). Explizit wird in den Erläuterungen zur Verordnung benannt, dass die Kommission nicht nur die aus einer Fusion erwachsenden möglichen Nachteile für die Verbraucher berücksichtigt, sondern auch die Effizienzvorteile eines Zusammenschlusses in die Entscheidung einfließen lässt. Das Trade-off-Modell von Oliver Williamson Aus wohlfahrtsökonomischer Sicht ist zunächst ein Zusammenschluss, wenn dieser zu Preiserhöhungen führt, wegen des Verlustes an gesamtgesellschaftlicher Wohlfahrt negativ zu beurteilen. Differenzierter fällt das Urteil aus, wenn durch den Zusammen‐ schluss Skaleneffekte der Produktion entstehen (vgl. Williamson 1968). → Abb. 28 zeigt für das „naive Trade-off-Modell“ den denkbaren Effekt eines Zusammenschlusses zweier Unternehmen mit der Folge größerer Marktmacht und der Möglichkeit zur Durchsetzung des höheren Monopolpreises. Im Wettbewerb, so sei angenommen, fordern die Unternehmen den Preis, der ihren (identischen) Grenzkosten entspricht. Nach dem Zusammenschluss wird ein höherer Preis gefordert: Dieser ergibt sich aus dem Schnittpunkt der Grenzerlös- und Grenzkostenkurve. Damit sind folgende Veränderungen der Wohlfahrt zu beob‐ achten: Die Fläche unterhalb des Preises im Monopol und oberhalb der (niedrigeren) Grenzkosten beschreibt den Gewinn an Produzentenrente. Die Konsumenten zahlten im Wettbewerb den niedrigeren Preis und zahlen nun einen höheren Monopolpreis. Damit verlieren sie die Konsumentenrente, die durch die Fläche (a + c) gekennzeichnet ist. Die Fläche a ist als Verlust der Konsumentenrente und gleichzeitiger Gewinn an Produzentenrente wohlfahrtsökonomisch neutral, so dass für die Beurteilung des Zusammenschlusses die beiden Felder b und c entscheidend sind: Ist die Fläche b größer als die Fläche c, also der Gewinn an produktiver Effizienz größer als der Verlust infolge der allokativen Ineffizienz, so ist der Zusammenschluss wohlfahrtssteigernd. 5.4 Wettbewerbspolitik der EU 139 <?page no="140"?> P Wettbewerb X p X m P Monopol X Grenzkosten nach Fusion Grenzkosten vor Fusion P Nachfrage Grenzerlös a b c Abb.-28: Wohlfahrtswirkung eines Zusammenschlusses Überträgt man diese theoretische Überlegung auf die praktische Politik, so folgt, dass die Union in konkreten Fusionsverfahren prüfen muss, welche Wohlfahrtswirkungen mit dem Zusammenschluss verbunden sind. Die Bedrohung des Wettbewerbs, die bei‐ spielsweise auch von der Offenheit des Marktes für Importe, von den Wahlmöglichkei‐ ten der Lieferanten und Abnehmer, dem Zugang zu Beschaffungs- und Absatzmärkten beeinflusst wird, und der potenzielle Effizienzgewinn werden gegenübergestellt. Die folgende → Abb. 29 zeigt eine Klassifikation von Branchen mit Blick auf potenzielle Effizienzgewinne und der Gefahr für den Wettbewerb (vgl. Hansen/ Nielsen 1997, S.-105-106). Gruppe 1: Industrien, in denen durch Fusionen wenig Effizienzgewinne realisiert werden und die Gefahr für den Wettbewerb erheblich ist. Gefahr reduzierten Wettbewerbs Gruppe 4: Industrien, in denen Fusionen Effizienzgewinne erwarten lassen, aber die Gefahr für den Wettbewerb erheblich ist. Gruppe 2: Industrien, in denen Fusionen wenig oder keine Effizienzgewinne erwarten lassen, und wenig Gefahr für den Wettbewerb gegeben ist. potenzielle Effizienzgewinne Gruppe 3: Industrien, in denen Fusionen Effizienzgewinne erwarten lassen, und die Gefahr für den Wettbewerb niedrig ist. stark schwach stark schwach Abb.-29: Effizienz und Wettbewerb infolge von Fusionen 140 5 Wettbewerb und Wettbewerbspolitik in der Europäischen Union <?page no="141"?> In diesem vereinfachten Schema wären Fusionen von Unternehmen in Gruppe 1 abzulehnen, bei Gruppe 2 wären sowohl positive als auch negative Entscheidungen vertretbar. Fusionen in Gruppe 3 wären akzeptabel, Fusionen in Gruppe 4 wären zu prüfen. Die Kommission kann eine Fusion von gemeinschaftsweiter Bedeutung, die bei der Kommission gemäß Artikel 4 der Fusionskontrollverordnung angemeldet werden muss, ohne weitere Vorgaben oder mit Auflagen genehmigen oder untersagen. Das Fusionskontrollverfahren ist mehrstufig. Häufig beginnt ein Verfahren mit einer vertraulichen Konsultation mit der Kommission, bevor die offizielle Mitteilung erfolgt und die erste Phase der Prüfung beginnt. Sowohl in der Vorphase als auch in der ersten Phase können Unternehmen im Fall möglicher Probleme Abhilfemaßnahmen vorschlagen, um eine Zustimmung der Kommission zur Fusion zu erlangen. Vier Entscheidungen der Kommission zeigen beispielhaft die Handlungsmöglichkei‐ ten: Die Kommission untersagte im Jahr 2019 die Fusion von Thyssen-Krupp und dem indischen Stahlkonzern Tata Steel und auch den Zusammenschluss der Zugsparten von Siemens und dem französischen Alstom. Die Kommission genehmigte 2024 den Aufkauf der ITA Airways durch die Lufthansa unter Auflagen. Sie genehmigte im Jahr 2013 mit Auflagen den Zusammenschluss von US Airways und der Holding AMR Corporation, die Eigentümer von American Airlines ist. Der zuletzt genannte Beschluss demonstriert, dass die Kommission auch Zusammenschlüsse von Unternehmen außer‐ halb der EU, die potenziell auf den europäischen Markt Auswirkungen haben, prüfen und untersagen kann („Auswirkungsprinzip“ = „effects doctrine“). Beihilfekontrolle Staatliche Beihilfen sind geeignet, den Wettbewerb der Unternehmen innerhalb des Binnenmarktes zu verzerren. Grundsätzlich sind „staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen gleich welcher Art, die durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen oder zu verfäl‐ schen drohen, mit dem Binnenmarkt unvereinbar“ (Artikel 107 AEUV). Allerdings gibt es eine umfangreiche Liste von Ausnahmen: Beihilfen sozialer Art, Beihilfen zur Beseitigung von Schäden, die durch Naturkatastrophen entstanden sind; Beihilfen für einzelne Regionen und ausgewählte Wirtschaftszweige sind beispielsweise unter bestimmten Umständen mit dem Binnenmarkt vereinbar. Beihilfen für die durch die Teilung Deutschlands betroffenen Gebiete sind im Vertrag explizit als weiterer Ausnahmebereich genannt. Und der Rat der Europäischen Union kann auf Vorschlag der Kommission weitere Arten von Beihilfen genehmigen (Artikel 107, Absatz 3 e). Liegen außergewöhnliche Umstände vor, kann der Rat einstimmig auf Antrag eines Mitgliedstaates eine geplante Beihilfe gestatten (Artikel 108, Absatz 2, AEUV). Die Kommission überprüft regelmäßig die Beihilferegelungen der Mitgliedstaaten. Kommt die Kommission zu dem Ergebnis, dass bestimmte Beihilfen mit dem Wettbe‐ werb im Binnenmarkt unvereinbar sind, kann sie die Staaten zwingen, die Beihilfen 5.4 Wettbewerbspolitik der EU 141 <?page no="142"?> zu beenden oder zu ändern. Die Union setzt teilweise auch auf die Substitution nationaler Hilfen durch EU-Hilfen und die Koordinierung und Harmonisierung der innerstaatlichen Beihilfepraxis. Die Schaffung eines fairen Wettbewerbs in der Union ist eine große Herausforderung für die Kommission, da Mitgliedstaaten häufig versuchen, auf die Entscheidung Einfluss zu nehmen, das Entscheidungsverfahren ist politisiert. Die „Neue Politische Ökonomie“, die die Eigeninteressen der Politiker und der Bürokratie in die Analyse einbezieht, wird verschiedentlich herangezogen, um die weiterhin bestehende Vielfalt an Beihilfen zu erklären; der diskretionäre Spielraum der Kommission bzw. des Rates, der auch mit Vorteilen verbunden sein kann, hat in diesem Bereich und aus dieser Perspektive seine Schattenseiten (vgl. Schmidt/ Schmidt 2006, S.-236-242). Regelungen für drittstaatliche Subventionen Nicht nur in der EU von Regierungen gewährte Vorteile sind ein Problem für den Wettbewerb auf dem Binnenmarkt, sondern auch Subventionen von Drittstaaten. „Drittstaatliche Subventionen“ sind finanzielle Zuwendungen, die in direkter oder in‐ direkter Form von einem Drittstaat gewährt werden und Unternehmen im Wettbewerb auf dem Binnenmarkt einen Vorteil verschaffen (Verordnung (EU) 2022/ 2560 des Eu‐ ropäischen Parlamentes und des Rates vom 14. Dezember 2022 über den Binnenmarkt verzerrende drittstaatliche Subventionen). Im Jahr 2022 entschied sich die EU für die Schaffung eines neuen wettbewerbspolitischen Instrumentes, um Verzerrungen auf dem Binnenmarkt aufgrund von in Drittstaaten gewährten Subventionen zu begegnen. Die Kommission kann auf der Basis dieses regulatorischen Instrumentes von den Unternehmen Auskunft verlangen, gestützt auf ein Indikatorenset die Vereinbarkeit einer Subvention mit dem Binnenmarkt prüfen und das Vorliegen einer Verzerrung feststellen. Sie hat die Möglichkeit, Abhilfemaßnahmen einzufordern. Die Kommission kann die Veräußerung von Kapazitäten oder auch die Rückzahlung der Subvention verlangen. Regelungen für mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betrauten Unternehmen In den Sektoren Energie, Post, Telekommunikation, Wasserversorgung und Transport sind häufig öffentliche Unternehmen mit der Erbringung der Dienstleistungen betraut. Der Lissabon-Vertrag verleiht der Union das Recht und die Pflicht, auch in diesem Bereich für die Beachtung von Regeln zu sorgen, die dem Wettbewerbsverständnis im Binnenmarkt nicht widersprechen. Der Lissabon-Vertrag ist neutral hinsichtlich privaten oder öffentlichen Eigentums, fordert aber Wettbewerbsneutralität, wenn ein Staat sich entscheidet, bestimmte Dienstleistungen durch öffentliche Unternehmen erbringen zu lassen. 142 5 Wettbewerb und Wettbewerbspolitik in der Europäischen Union <?page no="143"?> Die Kommission hat in den vergangenen Jahren in den genannten Bereichen die Liberalisierung der Märkte vorangebracht. Der Telekommunikationssektor ist ein Beispiel für das positive Wirken der Wettbewerbskräfte nach Öffnung des Marktes. Bei Postdiensten hat die Kommission mit eigenen Vorschlägen den Strukturwandel befördert. Im Bankensektor spielt die Kommission im Rahmen der Restrukturierung eine starke Rolle, insbesondere vor dem Hintergrund der häufigen staatlichen Beihilfen und Schutzmechanismen. Box 38 |-Natürliches Monopol Bei leitungsnetzabhängigen Gütern besteht eine Monopolisierungstendenz, weil die Stückkosten mit zunehmender Ausbringungsmenge sinken („natürliches Mo‐ nopol“). Ursächlich dafür können Größenvorteile (Fixkostendegression) oder Ver‐ bundvorteile (Kuppelproduktion) sein. X P N X‘ P* X* P‘ K/ X = (c/ X) + d K‘ = d Abb.-30: Natürliches Monopol Gegeben sei die normal verlaufende Nachfragefunktion N nach einem Gut, für dessen Erstellung die lineare Kostenfunktion K = c + d X gilt (mit c = Fixkosten, d-=-konstante variable Kosten/ Stück, X-=-Ausbringung). Die Ausdehnung der Produktion geht mit einem Fallen der Durchschnittskosten einher: K/ X = (c/ X) + d. Die effiziente Preis = Grenzkosten-Regel (P* = K´) versagt, da die Grenzkosten in diesem Fall stets kleiner als die Durchschnittskosten sind (K'-=-d-<-K/ X) und bei der Menge X* ein Defizit realisiert wird. Bei maximaler Konsumentenrente könnte von einem einzigen Unternehmen aller‐ dings die Menge X' zum niedrigst möglichen Preis P' angeboten werden, ohne dass ein Verlust erwirtschaftet wird. Um der Gefahr der Monopolpreisbildung (Cournotscher Punkt) entgegenzuwirken, ist eine Preisregulierung vorzunehmen. Im Übrigen ist sicherzustellen, dass die Leistungserbringung des Unternehmens auf 5.4 Wettbewerbspolitik der EU 143 <?page no="144"?> Qualitätssteigerung, Umsetzung des technischen Fortschritts und Ausschöpfung von Kostensenkungspotenzialen ausgerichtet bleibt. Wettbewerbsrahmen für die digitale Ökonomie Die rasante Entwicklung der Digitalisierung in der Wirtschaft und das Herausbil‐ den großer Internetkonzerne machten eine Anpassung der EU-Wettbewerbsregeln erforderlich. Digitale Güter zeichnen sich durch einige Besonderheiten aus (vgl. Mo‐ nopolkommission 2015, Cremer/ de Montjoye/ Schweitzer 2019, OECD 2022), zu denen extreme Skalenerträge und positive Feedback-Effekte gehören: Sinken die Stückkosten eines etablierten Unternehmens bei steigendem Output schneller als bei möglichen Wettbewerbern, kann dieses Unternehmen durch eine stärkere Preisreduktion sei‐ nen Marktanteil erhöhen, was mit einer weiteren Verminderung seiner Stückkosten einhergeht. Während die Wettbewerber Marktanteile verlieren, wird das etablierte Unternehmen in seiner Marktposition gestärkt. Im Ergebnis werden die Märkte in der Internetökonomie daher von wenigen Anbietern dominiert (vgl. Tirole 2017, S. 378- 400). Hinzu kommen Netzwerkeffekte, da das Gut für den Nutzer umso wertvoller ist, je mehr Mitglieder ein soziales Netzwerk aufweist. Solche Netzwerkexternalitäten wir‐ ken selbstverstärkend und begünstigen Konzentrationstendenzen. Dies gilt auch dann, wenn Nutzer nicht zwischen verschiedenen Netzwerken kommunizieren können oder digitale Güter vermehrt in Geschäftsprozesse von Unternehmen integriert werden. Die Kosten eines Anbieterwechsels sind hoch, da Kontakte und Inhalte nicht einfach transferiert werden können, was zu einem Lock-in-Effekt führt. Besondere Relevanz kommt in der Digitalökonomie den Daten zu, die in großen Mengen („big data“) gesammelt, gespeichert und wirtschaftlich verwertet werden. Auch wenn Leistungen im Internet unentgeltlich zur Verfügung gestellt werden, zahlen Nutzer für deren Inanspruchnahme, indem sie Daten von sich und ihrem Nutzungsverhalten offenbaren. Der Zugriff auf Daten, die als Inputs für Produkte und Dienste bedeutsam sind, ist zunehmend wettbewerbsrelevant. Angesichts der Marktdominanz der großen Digitalunternehmen hat die EU im Jahr 2022 die Verordnung (EU) 2022/ 1925 des Europäischen Parlamentes und des Rates über bestreitbare und faire Märkte im digitalen Sektor („Gesetz über digitale Märkte“) ver‐ abschiedet, um dem Missbrauch von Marktmacht zu begegnen. Klare Verhaltensregeln für die Unternehmen, welche eine Torwächter-Funktion haben und zentrale Plattform‐ dienste wie Online-Suchmaschinen, App-Stores und Messenger-Dienste anbieten (→ Abb. 31), sollen den vielfältigen Formen des potenziellen Missbrauchs der Marktmacht und der Verfügung über Daten Einhalt gebieten (vgl. Europäische Kommission 2024a). 144 5 Wettbewerb und Wettbewerbspolitik in der Europäischen Union <?page no="145"?> Torwächter Zentrale Plattformdienste Alphabet Inc. Ama‐ zon.com Inc. Apple Inc. Booking ByteDance Ltd. Meta Plat‐ forms, Inc. Microsoft Corporation Google Play Marketplace AppStore Boo‐ king.com TikTok Facebook Marketplace LinkedIn Google Maps Amazon Advertising iOS - - Facebook Windows PC OS Google Shopping - Safari - - Instagram - Google Search - iPadOS - - WhatsApp - YouTube - - - - Messenger - Android Mobile - - - - Meta Ads - Alphabet's online ad‐ vertising service - - - - - - Google Chrome - - - - - - Abb.-31: Torwächter und deren zentrale Plattformdienste | Quelle: Europäische Kommission 2024b Auch im Rahmen der Fusionskontrolle ist Sorge dafür zu tragen, dass der Aufkauf junger, dynamischer Unternehmen mit wirtschaftlichem Potenzial, die noch unterhalb der Umsatzschwellen des EU-Wettbewerbsrechts liegen, nicht dazu dient, die Macht‐ stellung der marktbeherrschenden Digitalunternehmen zu stärken (vgl. Bundesminis‐ terium für Wirtschaft und Energie 2019). Institutionelle Fragen Die Kommission arbeitet bei den wettbewerbspolitischen Fragen, die den Binnenmarkt betreffen, eng mit den nationalen Behörden zusammen. Mit der Richtlinie (EU) 2019/ 1 wurden neue Vorschriften erlassen, um sicherzustellen, dass die Wettbewerbsregeln des Art. 101 und 102 AEUV EU-weit einheitlich angewendet werden, um das rei‐ bungslose Funktionieren des Binnenmarkts zu gewährleisten. Dies soll durch die Stärkung der Unabhängigkeit, der Ressourcen und der Befugnisse der nationalen Wettbewerbsbehörden erreicht werden. Verschiedentlich wurde die Schaffung eines unabhängigen Kartellamtes und eines unabhängigen Subventionskontrollrates gefordert (vgl. Schmidt 2001, S. 408-410). Vor 5.4 Wettbewerbspolitik der EU 145 <?page no="146"?> dem Hintergrund der Politisierung der Entscheidungsverfahren wäre dies einerseits eine institutionelle Alternative zu dem jetzigen Verfahren. Andererseits haben sich die Mitgliedstaaten gezielt für ein Verfahren entschieden, welches Spielräume für diskretionäre Entscheidungen der Politik lässt, vielleicht bewusst und richtigerweise auf die schrittweise Entwicklung der Union setzend. Das kritisierte Do-ut-des-Prinzip mag theoretisch unbefriedigend, aber vielleicht angesichts der Herausforderungen für die Union die politökonomisch beste Vorgehensweise sein. 5.5 Verhältnis von Wettbewerbspolitik zu Industriepolitik Die Wettbewerbspolitik wird sich auch in Zukunft dem Spannungsfeld mit indus‐ triepolitischen Überzeugungen stellen müssen. Selektive industriepolitische Interven‐ tionen stellen Eingriffe in ein von privatwirtschaftlichen Interessen dominiertes Wettbewerbssystem dar. An vielen Stellen des Lissabon-Vertrages ist eine Offenheit für die Förderung bestimmter Industrien erkennbar: Kleine und mittlere Unternehmen, Unternehmen im Bereich Umwelt, Raumfahrt etc. finden explizit Erwähnung. Die europäische Unterstützung für den Aufbau von Airbus ist das Standardbeispiel für eine aktive Industriepolitik. Die Abwägung zwischen Wettbewerbsgrundsätzen und industriepolitischen Überle‐ gungen ist komplex (vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaft‐ lichen Entwicklung 2019, S. 140-197). Einerseits ist aus der kritischen Perspektive Industriepolitik ein Beispiel für die von Hayek kritisierte „Anmaßung des Wissens“ auf Seiten des Staates. Der Politik und der staatlichen Exekutive fehlt schlicht die Kompetenz zu der Identifikation der Innovationen, welche wichtig sind. Zudem ist in der Realität in vielen Ländern Industriepolitik nicht zukunftsorientiert, sondern auf Industriezweige ausgerichtet, die im Zuge des Strukturwandels stark gefährdet sind. Kritiker verweisen auch auf die Tendenz, eine Rent-seeking-Mentalität zu begünstigen, Lobbyaktivitäten zu fördern statt echte Innovationen zu unterstützen (vgl. Tirole 2017, S.-365-367). Box 39 |-Regeln für eine kluge Industriepolitik Der Nobelpreisträger Jean Tirole (2017, S. 370-374), welcher der Industriepolitik eher kritisch gegenübersteht, schlägt vor, dass Staaten, die sich auf dieses Instru‐ ment einlassen, sieben Regeln beachten: 1. Identifikation der Gründe für das Marktversagen, um möglichst effektiv handeln zu können, 2. Nutzung unabhängiger und ausreichend qualifizierter Experten, um Projekte zu identifizieren, 3. Beachtung des Angebotes an Forschern und der Nachfrage nach ihnen, 146 5 Wettbewerb und Wettbewerbspolitik in der Europäischen Union <?page no="147"?> 4. Verfolgung einer neutralen Industriepolitik, welche nicht zwischen einzelnen Unternehmen diskriminiert, 5. Evaluation der Intervention, nachdem sie erfolgt ist, und Veröffentlichung der Ergebnisse, 6. Involvierung des privaten Sektors in das Risiko, 7. Beachtung der Veränderung der Industriestruktur. Andererseits lassen sich industriepolitische Maßnahmen auch in der Theorie mit Marktunvollkommenheiten, Marktversagen und dynamischen Effekten im Bereich der Innovation begründen (vgl. Draghi 2024). So wird auf den Anteil industriepolitischer Initiativen am Gesamterfolg der Wirtschaft wie im Fall der USA verwiesen (vgl. Mazzucato 2014). Der beherzte Einsatz öffentlicher Mittel ist aus einer keynesianischen Perspektive voller Potenziale für die Wohlfahrt. Vor dem Hintergrund des Klimawan‐ dels und der Notwendigkeit der Entwicklung und Einführung neuer Technologien wird häufig darauf verwiesen, dass eine solche Politik geboten, gar alternativlos ist (vgl. Tagliapietra/ Veugelers (Hrsg.) 2023). Insbesondere die industriepolitisch motivierten Ausgaben in China (vgl. Wambach 2020) und den USA im Rahmen des Inflation Reduction Act (2022) und des Chips and Science Act (2022) haben die Diskussion über die Sinnhaftigkeit einer dezidierten Förderung bestimmter Industrien neu angefacht (vgl. European Court of Auditors 2024, Kuhanathan/ Gröschel 2024). Die EU verständigt sich seit vielen Jahren auf industriepolitisch ausgerichtete Strategien. Im Jahr 2012 wurde die Strategie für die Reindustrialisierung Europas aus dem Jahr 2012 veröffentlicht. Im Jahr 2017 setzte die EU mit einer Mitteilung zu „Investitionen in eine intelligente, innovative und nachhaltige Industrie - Eine neue Strategie für die Industriepolitik der EU“ wichtige Akzente. Die Strategische Agenda 2019-2024 und der Europäische Green Deal verknüpften die Industriepolitik mit dem Ziel der Klimaneutralität. Und im Jahr 2024 erfolgte die Ankündigung eines neuen Clean Industrial Deal. Für die EU gilt es, hier einen Kurs zu steuern, der den Prinzipien des Wettbewerbs verpflichtet ist und gleichzeitig die in der Realität bestehenden Marktunvollkom‐ menheiten angemessen berücksichtigt. Die Risiken der Industriepolitik bleiben eine Herausforderung, der Erfolg dieser Bemühungen ist ungewiss. Die Einschätzung im Economist (2023, S. 11) mag zu denken geben: „Subsidies and protection for industry will not boost economic growth. They will hinder it“. 5.6 Ausblick Vor dem Hintergrund der häufigen Verbote und Auflagen für Fusionen, der Geld‐ bußen wegen wettbewerbsbeschränkender Verhaltensweisen der Unternehmen, der 5.6 Ausblick 147 <?page no="148"?> kritischen Stellungnahmen gegenüber Regierungen ist es kaum verwunderlich, dass die Kommission in das Kreuzfeuer der Kritik gerät. Insgesamt wird ihr aber von Experten eine geradlinige und überzeugende Politik bescheinigt. Die Überprüfung mehrerer Entscheidungen durch den Gerichtshof, die dazu beigetragen hat, das Wettbewerbs‐ recht weiterzuentwickeln, bedeutet nicht, die Arbeit der Kommission zu beanstanden. Die Urteile dienen dazu, die teils unbestimmten Rechtsbegriffe des Lissabon-Vertrages zu konkretisieren. Die Entscheidungen auf Basis des Auswirkungsprinzips gegen Zusammenschlüsse außerhalb der Europäischen Union sorgten in anderen Ländern gelegentlich für Irrita‐ tionen. Das Zusammenwachsen der Märkte fordert im Bereich der Wettbewerbspolitik eine intensive Zusammenarbeit der Wettbewerbsbehörden. Die Europäische Kommis‐ sion engagiert sich daher auch international, um die Kooperation zu erleichtern und die Entwicklung gemeinsamer wettbewerbspolitischer Vorstellungen voranzutreiben. ➲ Wichtige Begriffe Leitbilder der Wettbewerbspolitik, Ordoliberalismus, „more economic approach“, Kar‐ tellstrafen, Kronzeugenregelung, Branchenkonzentration, Herfindahl-Hirschman-In‐ dex, Fusionskontrolle, Trade-off-Modell, Beihilfekontrolle, Natürliches Monopol, Di‐ gitalisierung ➲ Literatur Bofinger, Peter (2019): Grundzüge der Volkswirtschaftslehre - Eine Einführung in die Wissen‐ schaft von Märkten, 5. Auflage, München, Pearson Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (Hrsg.) (2019): Ein neuer Wettbewerbsrahmen für die Digitalwirtschaft. Bericht der Kommission Wettbewerbsrecht 4.0, Berlin Christiansen, Arndt (2010): Der „More Economic Approach“ in der EU-Fusionskontrolle. Entwicklung, konzeptionelle Grundlagen und kritische Analyse, Frankfurt/ Main Clark, John Maurice (1961): Competition as a Dynamic Process, The Brookings Institution,Wa‐ shington, D.C. Crémer, Jacques/ de Montjoye, Yves-Alexandre/ Schweitzer, Heike (2019): Competition policy for the digital era. 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Juli 2023, S.-11-12 148 5 Wettbewerb und Wettbewerbspolitik in der Europäischen Union <?page no="149"?> European Court of Auditors (2024): EU Industrial Policy - the solution to various dilemmas? , ECA Journal, No. 2, 2024 Europäische Kommission (1997): Bekanntmachung der Kommission über die Definition des relevanten Marktes im Sinne des Wettbewerbsrechts der Gemeinschaft, ABl. C 372 vom 9.12.1997 Europäische Kommission (2004): Leitlinien zur Bewertung horizontaler Zusammenschlüsse gemäß der Ratsverordnung über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, ABl. C 31 vom 5.2.2004 Europäische Kommission (2011): Geldbußen bei Verstoß gegen das EU-Wettbewerbsrecht, Brüssel, Internet: https: / / competition-policy.ec.europa.eu/ document/ download/ 85df68c6-a8 db-4662-b988-08e3287a1936_de Europäische Kommission (2014): Weißbuch. Eine wirksamere EU-Fusionskontrolle, COM(2014) 449 final, 9.7.2014, Brüssel Europäische Kommission (2023a): Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen - Langfristige Wettbewerbsfähigkeit der EU: Blick über 2030 hinaus, 16.3.2023, Brüssel Europäische Kommission (2023b): Cartel statistics, Internet: https: / / ec.europa.eu/ competition/ c artels/ statistics/ statistics.pdf Europäische Kommission (2024a): Bericht der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament - Jährlicher Bericht über die Verordnung (EU) 2022/ 1925 des Europäischen Parlamentes und des Rates über bestreitbare und faire Märkte im digitalen Sektor und zur Änderung der Richtlinien (EU) 2019/ 1937 und (EU) 2020/ 1828 (Gesetz über digitale Märkte) Europäische Kommission (2024b): Gatekeepers, Internet: https: / / digital-markets-act.ec.europa. eu/ gatekeepers_en? prefLang=de Hansen, Jorgen Drud/ Nielsen, Jorgen Ulff-Moller (1997): An Economic Analysis of the EU, 2. 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Aufl., München Oldenbourg Wissenschaftsverlag Tagliapietra, Simone/ Veugelers, Reinhilde, eds. (2023): Sparking Europe’s new industrial revo‐ lution. A policy for net zero, growth and resilience, Bruegel Blueprint Series 33, Brüssel Tirole, Jean (2017): Economics for the Common Good, Princeton and Oxford, Princeton University Press U.S. Department of Justice and the Federal Trade Commission (2010): Horizontal Merger Guidelines, Issued: August 19, 2019, Internet: https: / / www.ftc.gov/ sites/ default/ files/ attachm ents/ merger-review/ 100819hmg.pdf Wambach, Achim (2020): Europäische Wettbewerbspolitik - Faire Bedingungen im größten Wirtschaftsraum der Welt, WISO Direkt, Friedrich Ebert Stiftung Williamson, Oliver E. (1968): „Economies as an Antitrust Defense: The Welfare Tradeoffs“, in: American Economic Review, vol. 58, Nr. 1, S. 18-36 150 5 Wettbewerb und Wettbewerbspolitik in der Europäischen Union <?page no="151"?> 6 Der Handel und die Handelspolitik der Europäischen Union eLearning | zu diesem Kapitel finden Sie einen eLearning-Kurs online. Folgen Sie dem Link oder nutzen Sie den QR-Code. 🔗 https: / / narr.kwaest.io/ s/ 1343 Leitfragen • Warum ist der weltweite Austausch von Gütern und Dienstleistungen für den Wohlstand in Europa bedeutsam? • Mit welchen Gütern und Dienstleistungen handelt die EU? • Wer sind die zentralen Handelspartner der EU und wie haben sich die Han‐ delsströme entwickelt? • Wie ist die Struktur des Handels zu beurteilen? • Welche Wege beschreitet die EU, um die Liberalisierung des Handels voranzu‐ bringen? • Warum unterzeichnet die EU zunehmend Abkommen mit einzelnen Handels‐ partnern? • Wie verändern die neuen geopolitischen Herausforderungen die Handelspoli‐ tik der EU? 6.1 Einführung Der Wohlstand Europas ist ohne Handel nicht vorstellbar. Dies gilt sowohl für den Handel zwischen den Mitgliedstaaten der EU als auch für den Handel mit dem Rest der Welt. Schon in dem Vertrag von Rom wurde der Weg für offene Märkte geebnet. Die Europäische Gemeinschaft und später die Europäische Union wurde zur treibenden Kraft der Liberalisierung des Handels: Innerhalb der EU bedeutete dies die Realisierung des Binnenmarktes mit offenen Grenzen für Güter, Dienstleistungen, Kapital und den Faktor Arbeit. Die EU trat stets auch für die Liberalisierung des Welthandels ein. Geopolitische, umwelt- und industriepolitische Argumente und Werte gewinnen gegenwärtig an Bedeutung und beeinflussen die konkrete Handelspolitik der EU. <?page no="152"?> 6.2 Theoretische Grundlagen - Zur Vorteilhaftigkeit des Handels und den Implikationen für die Handelspolitik 6.2.1 Ein Überblick über die wichtigsten theoretischen Überlegungen zum internationalen Handel Die theoretische Begründung des Handels beschäftigt die Volkswirtschaftslehre seit Jahrhunderten. Bereits Adam Smith beschrieb in seinem berühmten Werk „Vom Wohlstand der Nationen“ eine wesentliche Grundlage des Handels: Solange ein Land einem anderen Land in der Produktion eines Gutes überlegen ist, ist es für dieses Land vorteilhaft, die Waren zu exportieren. Umgekehrt ist bei höheren Produktionskosten im eigenen Land der Import vorteilhaft. Länder können, so sein Postulat, von dem Handel wechselseitig profitieren, wenn sie sich auf die Produktion und den Export jener Güter oder Gütergruppe spezialisieren, die ein Land zu absolut niedrigeren Kosten, also mit „absoluten Kostenvorteilen“, herstellen kann. Wenige Jahrzehnte nach Adam Smith veröffentlichte der Engländer David Ricardo sein Grundlagenwerk „Über die Grundsätze der politischen Ökonomie und der Be‐ steuerung“, in dem er die Analyse weiterführte und zeigte, dass Länder auch dann wechselseitig vom Handel profitieren können, wenn ein Land in keinem Bereich über absolute Kostenvorteile verfügt (vgl. Krugman/ Obstfeld/ Melitz 2019). Zur Erläuterung der Überlegung, die als Theorie der komparativen Kostenvorteile bekannt geworden ist, wählte er die Länder Portugal und England und die Produktion von Wein und Tuch. Er zeigte, dass der Handel für England selbst dann vorteilhaft ist, wenn Portugal sowohl in der Produktion von Wein als auch in der Produktion von Tuch eine höhere Arbeitsproduktivität aufweist und damit im Sinne von Adam Smith einen absoluten Kostenvorteil bei der Produktion beider Güter hat. Das Land mit der niedrigeren Arbeitsproduktivität sollte sich dann auf die Produktion jener Güter spezialisieren, bei denen dieser Nachteil geringer ist, oder anders formuliert, es spezialisiert sich auf jenes Produkt, für dessen Produktion es weniger Mengeneinheiten des anderen Produktes aufgeben muss, d. h. die Opportunitätskosten niedriger sind. Dieser Gedanke, dass nicht absolute Kostenvorteile, sondern die relativen, die komparativen Kostenvorteile entscheidend sind, hat den Blick auf den Handel revolutioniert. Handel, so die klare Botschaft, ist kein Nullsummenspiel, sondern kann allen Seiten Vorteile bringen. Diese Überlegung wurde von den Ökonomen Eli Heckscher und Bertil Ohlin weitergeführt und um eine wichtige Perspektive ergänzt: Entscheidend für die kompa‐ rativen Kostenvorteile sind Unterschiede in der Faktorverfügbarkeit und der Intensität der Nutzung der Produktionsfaktoren für die Herstellung der Güter (Faktorproportio‐ nen-Theorem). Ein Land wird jene Güter exportieren, welches in der Produktion den reichhaltig vorhandenen Faktor stark nutzt (vgl. Krugman/ Obstfeld/ Melitz 2019). In den letzten Jahrzehnten rückten die Skaleneffekte stärker in den Fokus der Betrachtung. Dieses Phänomen lässt sich besonders in der Marktform der monopol‐ itischen Konkurrenz beobachten, dort also, wo es Unternehmen gelingt, aufgrund der Besonderheiten der Produkte und Marken einen Spielraum für eigenständige 152 6 Der Handel und die Handelspolitik der Europäischen Union <?page no="153"?> Preisgestaltung zu entwickeln. Aufgrund von positiven Skalenerträgen ergeben sich Kostenvorteile für Industrien, die in großen Märkten aktiv sind und auf eine lange Erfahrung in der Produktion bauen können. Dies kann sich in Exporterfolgen nieder‐ schlagen, während Skalenerträge eines nahen Wettbewerbers in einem anderen Land wiederum dort Exporte möglich machen. Unterscheiden kann man nach „internen Skalenerträgen“ und „externen Skalenerträgen“. Erstere liegen vor, wenn innerhalb des Unternehmens verortete Gründe die Senkung der Stückkosten ermöglichen. Bei externen Skalenerträgen profitiert ein Unternehmen davon, dass auch andere Unter‐ nehmen in der Region angesiedelt sind. Hierzu zählen Wissensexternalitäten oder ein Pool besonders qualifizierter Arbeitskräfte. So können positive Skalenerträge und die Herausbildung von Marken in Märkten mit monopolistischer Konkurrenz die Exis‐ tenz des intraindustriellen Handels erklären, der ein wesentlicher Teil des gesamten Handels ist (vgl. Krugman/ Obstfeld/ Melitz 2019). Beispielsweise exportieren deutsche Kfz-Produzenten Autos nach Frankreich und französische Produzenten liefern Autos nach Deutschland, ein Handel, der mit dem Faktorproportionentheorem nicht erklärt werden kann. Auch die Größe der Märkte der Handelspartner und die geografische Distanz und damit die Höhe der Kosten des Handels haben einen wesentlichen Einfluss auf den Güteraustausch. Dies wird mit Hilfe von Gravitationsmodellen beschrieben: die Entfernung zum Zielland und die „ökonomische Masse“ der Handelspartner werden als erklärende Variable für Handelsbeziehungen analysiert. Und schließlich spielen geschichtliche, politische, kulturelle und sprachliche Aspekte eine wichtige Rolle in der Erklärung von Handelsströmen. 6.2.2 Öffnung für die Integration in die internationale Arbeitsteilung Die Schlussfolgerung aus diesen und weiteren Überlegungen zu internationalem Han‐ del ist die grundsätzliche Empfehlung der wirtschaftswissenschaftlichen Theorie an Staaten, die internationale Arbeitsteilung als Chance für Wohlfahrtsgewinne zu nutzen. Dabei legt die Theorie nicht völlig unregulierten Freihandel ohne jegliche Aktivität des Staates nahe. Vielmehr schafft der Staat Bedingungen für erfolgreichen Handel; er kann eine wichtige Funktion im Aufbau komparativer Kostenvorteile wahrnehmen und bei der Abfederung sowie sozialen Begleitung erforderlicher Strukturreformen und dem Angebot notwendiger Qualifikationsmaßnahmen für den Produktionsfaktor Arbeit unterstützend tätig sein. In einigen Fällen kann es auch stichhaltige Begründungen für Protektion geben, zum Beispiel wenn Aspekte der nationalen Sicherheit betroffen sind oder substanzielle externe Effekte vorliegen. Der Schutz der heimischen Wirtschaft kann sinnvoll und erforderlich sein, wenn Subventionen einen fairen Wettbewerb verhindern. Unter bestimmten Bedingungen kann auch der Schutz einer noch jungen Industrie gegenüber ausländischem Wettbewerb ökonomisch vertretbar und auch empfehlenswert sein. 6.2 Theoretische Grundlagen 153 <?page no="154"?> 6.3 Der Außenhandel der EU - Daten, Fakten, Trends 6.3.1 Die Rolle der EU im Welthandel Die Europäische Union gehört zu den größten Akteuren im internationalen Handel (→ Abb. 32). Auf Basis aller grenzüberschreitenden Exporte und Importe von Gütern und Dienstleistungen (ohne den EU-Intrahandel) ist die EU 27 im Jahr 2022 mit einem Anteil von 16,2 % weltweit auf dem ersten Rang. Es folgt China mit 13,8 % und die USA mit 13,2-%. Diese Relation ändert sich auch im Jahr 2023 prinzipiell nicht. Auf die EU, China und die USA entfallen insgesamt 43,2 Prozent des Welthandels. Dies zeigt, wie wichtig ein gemeinsames Verständnis dieser drei Handelspartner für die weitere Ausgestaltung der Globalisierung und konkret der Lösung globaler Handelskonflikte ist. Rang Nation/ Bündnis Anteil am Welthandel im Jahr 2022 2023 1 EU 27 16,2 16,1 2 China 13,8 13,6 3 USA 13,2 13,5 Abb.-32: Anteil am Welthandel (Exporte und Importe von Gütern und Dienstleistungen) im Jahr 2022 und 2023 | Quelle: Europäische Kommission 2023, S. 22, 2024, S.-29-30 In den letzten Jahren ist der Anteil der EU am Welthandel gesunken. Zwar stieg das Handelsvolumen der EU von 2012 bis 2022 (2013 bis 2023) jährlich durchschnittlich um 5,5 % (5,1 %), doch der entsprechende Wert für China liegt bei 7,3 % (6,1 %). Die Verschiebung der Gewichte in der Weltwirtschaft, eine Folge der gestiegenen Produktivität, der wachsenden Einbindung in die weltweiten Wertschöpfungsketten und des wachsenden Wohlstands in Asien, ist eindeutig. Der Anteil von China, Hongkong, Japan und Südkorea am Welthandel liegt entsprechend bei über 23 %, weit höher als der Anteil der EU bzw. auch der Gesamtheit aller Länder Europas. Einige sehen dies als „Abstieg Europas und der westlichen Welt“, andere bezeichnen es als „Aufstieg der Anderen“ (vgl. Zakaria 2009). 6.3.2 Der Binnenhandel der EU Die Vorteile des freien Handels zwischen den Mitgliedsstaaten spielten in der Begrün‐ dung der europäischen Einigung von Anfang an eine wichtige Rolle. Der EU-Binnen‐ handel dominiert den Alltag des grenzüberschreitenden Handels der europäischen Län‐ der. Allerdings ist diese Binnenmarktorientierung unterschiedlich stark ausgeprägt. Der Anteil der Exporte plus Importe eines Landes in andere EU-Länder an allen Exporten plus Importen eines Landes ist ein geeigneter Indikator, um die Intensität 154 6 Der Handel und die Handelspolitik der Europäischen Union <?page no="155"?> der regionalen Integration zu beschreiben (→ Abb. 33). Nur für zwei Länder (Irland, Griechenland) ist der Güterhandel mit Ländern außerhalb der EU quantitativ wichtiger als der Intra-EU-Handel. Für Deutschland beträgt der Anteil des Binnenhandels mit anderen EU-Ländern 56,6 %; der entsprechende Wert für die EU 27 (→ Abb. 33, 1. Zeile) beläuft sich auf knapp 60-%. 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Luxemburg Lettland Tschechien Ungarn Rumänien Polen Belgien Finnland Bulgarien Schweden Spanien Malta Zypern Irland Anteil Intra-EU-Handel Anteil Extra-EU-Handel Abb.-33: Intra-EU und Extra-EU-Handel in Prozent, 2022 | Quelle: Europäische Kommission 2023, S. 51 Die Unterschiedlichkeit in der Ausrichtung des Handels der EU-Mitgliedsstaaten reflektiert ökonomische, aber auch politische, geografische und kulturelle Faktoren. So sind für Irland etwa die USA und Großbritannien, für Griechenland demgegenüber Italien, Bulgarien und die Türkei wichtige Handelspartner. 6.3.3 Der Handel mit Ländern außerhalb der EU Der wirtschaftliche Austausch mit Ländern außerhalb Europas hat seit Jahrhunderten das Leben der Menschen in Europa mitgeprägt. Das Römische Reich hatte umfangrei‐ che Handelsbeziehungen mit Ländern im Süden des großen Reiches. Portugal und Spanien eröffneten im 15. und 16. Jahrhundert mit ihren Flotten neue Wege des internationalen Handels, die Phase des Imperialismus im 19. Jahrhundert fügte ein neues Kapitel im wirtschaftlichen Austausch mit fern gelegenen Regionen hinzu. Der transatlantische Handel im 19. Jahrhundert war bedeutsam. Gemessen an der Summe aller Güterexporte und Güterimporte der EU mit anderen Ländern im Jahr 2022 sind die USA und China mit großem Abstand die wichtigsten 6.3 Der Außenhandel der EU - Daten, Fakten, Trends 155 <?page no="156"?> Handelspartner der EU, gefolgt von Großbritannien (GB), der Schweiz, Russland und Norwegen. Auf der Exportseite dominiert als wichtigstes Zielland der Exporte die USA mit fast einem Fünftel aller Exporte. Auf der Importseite kommen mehr als ein Fünftel aller Gütereinfuhren aus China. Güter-Ex- und Importe der EU Güterexporte der EU Güterimporte der EU Rang Partner Anteil Rang Partner Anteil Rang Partner Anteil 1 USA 15,6 1 USA 19,8 1 China 20,9 2 China 15,4 2 GB 12,8 2 USA 11,9 3 GB 9,8 3 China 9,0 3 GB 7,2 4 Schweiz 6,0 4 Schweiz 7,3 4 Russland 6,8 5 Russland 4,6 5 Türkei 3,9 5 Norwegen 5,3 6 Norwegen 4,1 6 Japan 2,8 6 Schweiz 4,8 Abb. 34: Die wichtigsten Handelspartner der EU im Güterhandel, in Prozent, 2022 | Quelle: Europäische Kommission 2023, S.-36 Die wirtschaftlichen Beziehungen mit Großbritannien sind historisch bedingt eng. Der Grad der Verknüpfung mit den kontinentaleuropäischen Ländern ist hoch, auch in Folge der mehr als 45-jährigen Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Trotz des Brexits bleibt Großbritannien ein zentraler Handelspartner für die Europäische Union. Speziell mit den drei europäischen Staaten Island, Liechtenstein und Norwegen gibt es ein besonderes rechtliches Arrangement: Diese Länder wenden im Rahmen des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) in weiten Teilen die Regeln des Binnenmarktes an. Der EU-Handel mit Russland hat sich anteilsmäßig mehr als halbiert und beträgt im Jahr 2023 noch 2 %. Aufgrund der verhängten Handelssanktionen wegen des Überfalls auf die Ukraine im Februar 2022 ist Russland auf Rang 10 im Güteraustausch mit der EU zurückgefallen. Rang 5 der wichtigsten Handelspartner der EU wird von der Türkei eingenommen (vgl. Europäische Kommission 2024, S.-6-7). 6.3.4 Die Güterstruktur der Exporte und Importe der EU Die Länder der EU exportieren vor allem Güter der Kategorie chemische Erzeugnisse (SITC-5), bearbeitete Waren (SITC-6), Maschinenbauerzeugnisse und Fahrzeuge (SITC-7) und Verschiedene Fertigwaren (SITC 8). Im Jahr 2022 waren dies mehr als 80 Prozent der Warenausfuhr in Länder außerhalb der EU. Dabei machten die Maschinenbauerzeugnisse und Fahrzeuge mehr als ein Drittel aller EU-Güterexporte aus. 156 6 Der Handel und die Handelspolitik der Europäischen Union <?page no="157"?> SITC 0 Nahrungsmittel und lebende Tiere; 6,2 SITC 3 Mineralische Brennstoffe; 7 SITC 5 Chemische Erzeugnisse; 21,5 SITC 6 Bearbeitete Waren; 10,7 SITC 7 Maschinenbauerzeugnisse; 37 SITC 8 Verschiedene Fertigwaren; 11,5 SITC 1, 2, 4 und 9; 5,1 SITC 0 Nahrungsmittel und lebende Tiere; 4,6 SITC 3 Mineralische Brennstoffe; 27,7 SITC 5 Chemische Erzeugnisse; 12,1 SITC 6 Bearbeitete Waren; 10,1 SITC 7 Maschinenbauerzeugnisse; 27,5 SITC 8 Verschiedene Fertigwaren; 11,9 SITC 1, 2, 4 und 9; 6,1 Abb.-35: EU-Warenexporte und Warenimporte in Prozent | Quelle: Europäische Kommission 2023, S.-31-34 6.3 Der Außenhandel der EU - Daten, Fakten, Trends 157 <?page no="158"?> Demgegenüber waren mehr als ein Viertel der Warenimporte Mineralische Brennstoffe (SITC 3). Die Einfuhr von Maschinenbauerzeugnissen und Fahrzeugen spielte eine vergleichbare starke Rolle (27,5 %). In der Gesamtbetrachtung hat die EU einen großen Importüberschuss bei mineralischen Brennstoffen und einen deutlichen Exportüber‐ schuss bei chemischen Erzeugnissen, Maschinenbauerzeugnissen und Fahrzeugen (vgl. Europäische Kommission 2023). 6.3.5 Die Bewertung der Handelsstruktur und der Handelsentwicklung Die Zahlungsbilanzperspektive Die Zahlungsbilanz, also die Erfassung der außenwirtschaftlichen Beziehungen eines Landes mit dem Rest der Welt, bietet einen wichtigen Anknüpfungspunkt für die Ana‐ lyse des Handels. Diese systematische Darstellung der wirtschaftlichen Transaktionen einer Volkswirtschaft mit der übrigen Welt über einen bestimmten Zeitraum folgt einem international abgestimmten Format. Die Leistungsbilanz enthält die Transak‐ tionen mit Gütern in der Handelsbilanz und den Handel mit Dienstleistungen in der Dienstleistungsbilanz. Der grenzüberschreitende Strom von Erwerbs- und Vermögens‐ einkommen wird in der Primäreinkommensbilanz und die laufenden Übertragungen werden in der Sekundäreinkommensbilanz erfasst. Die Vermögensänderungsbilanz, ein in der Regel quantitativ eher unbedeutender Posten, beinhaltet Vermögensübertragungen an das Ausland oder aus dem Ausland. Die Kapitalbilanz erfasst in separaten Teilbilanzen die Finanzströme im Zusammenhang mit Direktinvestitionen, Wertpa‐ pieranlagen, Finanzderivaten, dem übrigen Kapitalverkehr und den Währungsreser‐ ven. Schließlich ergibt sich aufgrund von Erfassungsproblemen und Problemen der Periodenzuordnung ein statistischer Restposten (vgl. Deutsche Bundesbank 2024a). Restposten Kapitalbilanz Finanzderivate Wertpapieranlagen Direktinvestitionen übriger Kapitalverkehr Währungsreserven + + = Vermögensänderungsbilanz nicht produzierte Sachvermögen Vermögensübertragungen Leistungsbilanz Warenhandel Dienstleistungen Sekundäreinkommen Primäreinkommen Abb.-36: Die Struktur der Zahlungsbilanz | Quelle: Deutsche Bundesbank 2024b 158 6 Der Handel und die Handelspolitik der Europäischen Union <?page no="159"?> Die Interpretation der Struktur und Entwicklung der Teilbilanzen ist komplex, hängt von der betrachteten Frist, von den Treibern der Entwicklung und der Wirtschafts‐ struktur eines Landes ab (vgl. Krugman/ Obstfeld/ Melitz 2019). Viele Autoren gehen davon aus, dass eine mittelfristig ausgeglichene Leistungsbilanz optimal ist. Diese grundsätzliche Perspektive fand auch in dem deutschen Stabilitäts- und Wachstums‐ gesetz aus dem Jahr 1967 ihren Niederschlag. Eine stark bzw. dauerhaft negative Leistungsbilanz ist mit einem Aufbau von Verbindlichkeiten gegenüber dem Rest der Welt verbunden. Dies hat historisch schon häufig zu schweren Krisen geführt, wenn Zinsen stiegen, Exporte einbrachen oder Importe plötzlich stark anstiegen. Eine umgekehrt dauerhaft überschüssige Leistungsbilanz bedeutet, dass das Überschussland mehr Güter und Dienstleistungen produziert als es selbst konsumiert. Damit ist ein Aufbau von Ansprüchen gegen den Rest der Welt und damit ein Kapitalexport ver‐ knüpft. Eine stark überschüssige Leistungsbilanz ist nicht nur aus Sicht anderer Länder problematisch, deren Verschuldung wächst. Das Leistungsbilanzungleichgewicht kann auch eine Reaktion auf unattraktive Investitionsbedingungen im eigenen Land sein. Im Fall der Analyse der Zahlungsbilanz ist sowohl die Entwicklung für die Gesamt‐ heit der EU-Länder als auch die Entwicklung der Bilanzen der Mitgliedstaaten der EU wichtig. Die Europäische Union und auch der Euroraum hatten seit vielen Jahren einen Leistungsbilanzüberschuss gegenüber dem Rest der Welt erzielt. Aufgrund des Anstiegs der Energiepreise in Folge des russischen Angriffs auf die Ukraine stiegen die Ausgaben für Energie stark an, so dass sich im Jahr 2022 ein Defizit einstellte. Im Jahr 2023 war jedoch die Leistungsbilanz wieder positiv. Den höchsten Überschuss wies die EU gegenüber Großbritannien auf; das Defizit war gegenüber China am größten. Die → Abb. 37 zeigt die Leistungsbilanzsalden der einzelnen EU-Staaten, geordnet nach dem prozentualen Überschuss bzw. Defizit. Die Länder Dänemark, Niederlande, Irland, Deutschland, Schweden und Luxemburg hatten Überschüsse mit Werten von 4 Prozent und mehr des jeweiligen nationalen Bruttoinlandsproduktes. Umgekehrt hatten Zypern, Rumänien und Griechenland Leistungsbilanzdefizite, welche 4 Prozent des jeweiligen BIP deutlich überstiegen. Dänemark 9,9 Bulgarien 0,1 Niederlande 7,6 Österreich 0 Irland 7,2 Kroatien -0,4 Deutschland 6,6 Finnland -0,9 Schweden 5,4 Frankreich -1,3 Luxemburg 4 Ungarn -1,6 Slowenien 3,8 Belgien -1,9 Estland 2,6 Lettland -2,4 6.3 Der Außenhandel der EU - Daten, Fakten, Trends 159 <?page no="160"?> Tschechische Republik 1,7 Malta -2,9 Spanien 2 Slowakei -4,0 Portugal 1,1 Griechenland -6,0 Italien 0,9 Rumänien -7,2 Litauen 0,9 Zypern -7,9 Polen 0,3 - - Abb.-37: Leistungsbilanzsalden der EU-Länder in Prozent des BIP im Jahr 2022 | Quelle: Eurostat 2024 (online) Insbesondere Deutschland wird seit Jahren von IWF, Weltbank, OECD und der EU aufgefordert, den hohen Leistungsbilanzüberschuss zu verringern. Dies ist allerdings bei einer gemeinsamen Währung kein leichtes Unterfangen. Hätte Deutschland noch immer eine eigene Währung, so könnte diese Währung aufgewertet werden; einge‐ bunden in den Euro ist dieser Weg verschlossen. Wirtschaftspolitische Alternativen zur Beeinflussung der Leistungsbilanz (wie Lohnpolitik, Kapitalbesteuerung, Umsatz‐ steuersenkung, Umsatzbesteuerung von Exporten) stehen nicht oder nur beschränkt zur Verfügung und sind nicht nebenwirkungsfrei (vgl. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie 2019). Die Perspektive der Faktorverfügbarkeit Für die Beurteilung des Handels der Europäischen Union bietet sich der Rückgriff auf das Faktorproportionentheorem an. Unterscheidet man die Produktionsfaktoren Land, einfache Arbeit, humankapitalintensive Arbeit und Kapital, so zeigt ein internationaler Vergleich, dass die EU insgesamt eher reichhaltig mit dem Faktor Kapital und gut qualifizierter Arbeit ausgestattet ist. Nimmt man nur Deutschland, Frankreich und England, so verfügten diese drei Länder 2007-2010 über 15 % des weltweit erfassten Produktionsfaktors Kapital, über 9 % des besonders hoch qualifizierten Humankapitals, aber nur über 2 % der landwirtschaftlich bewirtschaftbaren Fläche. Mit Blick auf das Faktorproportionen-Theorem ist daher eine Spezialisierung auf Güter, die mit kapital‐ intensiven Verfahren hergestellt werden, zu vermuten. Ebenso ist davon auszugehen, dass Produkte und Dienstleistungen, die humankapitalintensiv hergestellt werden und forschungsintensiv sind, in der Exportpalette stark vertreten sind. Auf der Importseite ist zu erwarten, dass Güter, bei denen einfache Arbeit und der Faktor Land dominieren, überproportional repräsentiert sind. Ein Ansatz zur empirischen Überprüfung der Spezialisierung gemäß den Knappheiten der Produktionsfaktoren wird als „Revealed Comparative Advantage-Ansatz bezeichnet. Er beruht zum Beispiel auf der Bestimmung des Weltexportanteils eines Landes bei einer Warengruppe bezogen auf den Weltexportanteil des Landes am 160 6 Der Handel und die Handelspolitik der Europäischen Union <?page no="161"?> Gesamthandel. Ein Wert größer 1 wird dann als Hinweis auf einen ausgewiesenen Wettbewerbsvorteil angesehen. Auf Basis der Bestimmung der RCA-Werte hat die EU komparative Vorteile bei forschungsintensiven und kapitalintensiv hergestellten Gütern und Dienstleistungen (vgl. Galar 2012) und bei Technologien des „Internet of Things“ (vgl. Europäische Kommission 2016, S.-11-19). Ein verwandter Ansatz bezieht sich auf den Erfolg bei dem Export wissens- und technologieintensiver Güter. Verschiedene Indikatoren können herangezogen werden. So kann man vermuten, dass ein hoher Anteil eines Landes an dem Weltmarkt für solche Güter eine starke Wettbewerbsfähigkeit signalisiert. Im Jahr 2022 war China mit 20,9 % des Weltmarktes für solche Güter der größte Exporteur, gefolgt von den USA mit 9,5 % und Deutschland mit 9,4 %. Nimmt man weitere europäische Länder wie Frankreich mit einem Anteil von 2,9 % und Italien mit 2,7 % dazu, zeigt sich eine starke Positionierung der EU als Gesamtheit (vgl. National Science Board 2022, S.-35). Die Perspektive der Resilienz Sowohl durch die Corona-Pandemie als auch durch geopolitische Veränderungen, insbesondere den Überfall Russlands auf die Ukraine und die nachfolgenden Einschrän‐ kungen der Handelsströme, geriet ein Kriterium in den Fokus, welches vorher wenig Beachtung fand: Die Resilienz der Ökonomien und der Handelsstrukturen. Resilienz im Kontext von internationalem Handel bedeutet, dass die wirtschaftlichen Auswir‐ kungen von ökonomischen wie politischen Schocks oder Naturkatastrophen begrenzt sind. Die Diversifizierung der Import- und Exportbeziehungen und die Reduktion der Abhängigkeit von einzelnen Akteuren ist aus dieser Perspektive wichtig und stärkt die Anpassungsfähigkeit und Widerstandskraft von Volkswirtschaften. ⁈ Verständnisfrage | Welche Indikatoren sind besonders geeignet, die Handels‐ struktur eines Landes zu beschreiben? 6.4 Die Handelspolitik der EU 6.4.1 Rechtsgrundlagen Der Vertrag über die Europäische Union beinhaltet ein klares Bekenntnis zur Offenheit Europas für den Handel mit Ländern außerhalb der Union. In Artikel 3, Absatz 5 EUV heißt es, die EU leistet einen Beitrag „zu freiem und gerechtem Handel“. Und in Artikel 21 des Vertrages über die Europäische Union wird dies konkretisiert: „Die Union legt die gemeinsame Politik sowie Maßnahmen fest, führt diese durch und setzt sich für ein hohes Maß an Zusammenarbeit auf allen Gebieten der internationalen Beziehungen ein“., um …. e) die Integration aller Länder in die Weltwirtschaft zu fördern, unter anderem auch durch den schrittweisen Abbau internationaler Handelshemmnisse.“ 6.4 Die Handelspolitik der EU 161 <?page no="162"?> Im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union ist in Artikel 3 (1) die Zuständigkeit der Europäischen Union für Angelegenheiten des internationalen Handels geregelt und ein umfassendes Verständnis der Handelspolitik festgeschrieben: Die EU fördert offene Märkte und ordnet gleichzeitig die Handelspolitik im Kontext politischer Ziele ein. Die EU hat die ausschließliche Zuständigkeit in den Bereichen Zollunion und gemeinsame Handelspolitik. Die Konkretisierung der Arbeitsweise erfolgt in dem Titel II „Der freie Warenverkehr“ mit den Kapiteln 28-37. Die EU ist für die Einführung eines gemeinsamen Zolltarifs zuständig (Artikel 28 AEUV). Der Rat ist für die Festlegung der Sätze des Gemeinsamen Zolltarifs (auf Vorschlag der Kommission) zuständig (Artikel 31 AEUV). Das Parlament und der Rat teilen sich die Zuständigkeiten für die Handelspolitik. Neue Handelsabkommen bedürfen der Zustimmung des Parlamentes. Die Verhand‐ lungsführung in internationalen Handelsgesprächen obliegt der Kommission, die mit der Generaldirektion Handel eine spezialisierte Behörde für Handelsfragen hat. Die Kommission muss das Parlament regelmäßig über wichtige Verhandlungsergebnisse unterrichten. Darüber hinaus ist die Kommission verpflichtet, bei Handelsfragen eng mit den Mitgliedsstaaten zusammenzuarbeiten. 6.4.2 Ausrichtung der Handelspolitik und handelspolitische Optionen Seit Beginn der europäischen Integration haben sich die Schwerpunkte der Handelspo‐ litik in Reaktion auf die politischen, ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen immer wieder verändert. Im Jahr 2021 veröffentlichte die Europäische Kommission (2021) ein Strategiedokument zur Neuadjustierung der Handelspolitik, die Ermögli‐ chung der Erholung und Transformation der Wirtschaft mit Blick auf den grünen und digitalen Wandel; die Einflussnahme auf die internationalen Handelsregeln unter Berücksichtigung der Nachhaltigkeit und Fairness. Und schließlich soll die EU ihre Fähigkeit stärken, ihre Interessen zu vertreten und die Rechte durchzusetzen. Die europäischen Länder und die EU insgesamt haben sich für die Integration Europas in die Weltwirtschaft entschieden. Dabei beschreitet die EU mehrere Wege, um das Ziel der Öffnung der Märkte zu erreichen. Wenn die Liberalisierung des Handels im globalen Rahmen erfolgt, dann handelt es sich um multilaterale Handelsliberalisie‐ rung. Erfolgt dies gemeinsam mit anderen regionalen Bündnissen, dann handelt es sich um inter-regionale Liberalisierung. Geht es um die Liberalisierung gegenüber einem Partner, dann wird dies als bilaterale Handelsliberalisierung bezeichnet. Und schließlich kann die Liberalisierung auch einseitig erfolgen, dann wird von unilateraler Liberalisierung gesprochen. Liberalisierung beginnt meist mit der Liberalisierung im Güterhandel, gefolgt von der Öffnung im Bereich Handel mit Dienstleistungen und der Öffnung für Menschen und Kapital. 162 6 Der Handel und die Handelspolitik der Europäischen Union <?page no="163"?> Multilaterale Übereinkommen und die Rolle der WTO Die multilaterale Handelsliberalisierung erfolgt im Rahmen der Welthandelsorgani‐ sation (World Trade Organization (WTO)), die am 01.01.1995 die Nachfolge des General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) antrat. Diese in Genf beheimatete Organisation, die im Jahr 2024 164 Mitglieder hat, die für 98 Prozent des Welthandels stehen, bietet ein Forum für die Aushandlung von Handelserleichterungen und schafft eine Struktur zur Lösung von Handelskonflikten. Das GATT von 1948 bis 1993 und seit 1995 die WTO haben ganz wesentlich zur Liberalisierung des Welthandels beigetragen. Zentral für den Erfolg der multilateralen Handelspolitik sind die fünf Arbeitsprinzipien, zu denen sich die WTO-Mitglieder verpflichtet haben. Box 40 |-Die fünf Prinzipien der Welthandelsorganisation 1. Meistbegünstigung: Die größtmöglichen Vorteile, die ein Mitgliedsland ei‐ nem anderen Mitgliedsland gewährt, werden im Zuge der Gleichberechtigung automatisch auch anderen Mitgliedsländern gewährt. 2. Nichtdiskriminierung oder Prinzip der Gleichbehandlung: Importierte Güter und Dienstleistungen müssen nach dem Überschreiten der Grenze wie inländische Güter und Dienstleistungen behandelt werden. 3. Reziprozität: Die Mitgliedsländer räumen sich gleichwertige Zugeständnisse ein. 4. Transparenz: Die Mitgliedsstaaten verpflichten sich, Regelungen, Bedingun‐ gen, Beschränkungen des Handels offen zu legen. 5. Konsens: Veränderungen im System der Zollsätze sollen von allen Mitglied‐ staaten einstimmig verabschiedet werden. Die Welthandelsorganisation, die sich dem Abbau aller Hindernisse des weltweiten Handels verschrieben hat, ist zuständig für die Formulierung und Umsetzung gemein‐ samer Regeln für den internationalen Handel (vgl. World Trade Organization 2023). Dies betrifft den Handel mit Gütern, mit Dienstleistungen und den Handel mit geistigem Eigentum. Die den Güterhandel betreffenden Regeln sind im Rahmen des so‐ genannten „General Agreement on Tariffs and Trade“ (GATT) enthalten. Das „General Agreement on Trade in Services“ (GATS) erfasst die Regeln zum Dienstleistungshandel. Der Schutz des geistigen Eigentums ist im Rahmen des Übereinkommens über handels‐ bezogene Rechte des geistigen Eigentums (TRIPS) geregelt. Daneben schafft die WTO durch ihre regelmäßigen öffentlich zugänglichen Bewertungen der Handelspolitik der Mitgliedsländer, den sogenannten „trade policy reviews“, Transparenz. Und schließlich stellt die Welthandelsorganisation eine institutionelle Struktur bereit, die bei handels‐ politischen Streitigkeiten Lösungen anbietet, das Streitschlichtungsverfahren. Aufgrund des erfolgreichen Arbeitens im Rahmen der multilateralen Handelslibe‐ ralisierung wurden Zölle und nicht-tarifäre Handelshemmnisse in den vergangenen 6.4 Die Handelspolitik der EU 163 <?page no="164"?> Jahrzehnten substanziell reduziert. Darüber hinaus sorgte der institutionalisierte Streitschlichtungsmechanismus für eine geregelte Form der Austragung von Konflik‐ ten. Über viele Jahre war die Regelbeachtung seitens der Mitglieder der WTO ein‐ drucksvoll, die Bereitschaft der Staaten, auch im eigenen Land schwer zu vermittelnde Entscheidungen zu akzeptieren, war wichtig für die Gestaltung der Globalisierung. Trotz der erfolgreichen Arbeit des GATT und der WTO über viele Jahrzehnte ist die WTO in der Krise, ein erfolgreicher Abschluss der im Jahr 2001 gestarteten Verhandlungsrunde (Doha-Runde) ist bisher nicht geglückt. Regionale und interregionale Zusammenarbeit im Handel - eine Alternative oder Ergänzung zu multilateralen Abkommen Regionale Integration bedeutet, dass in einer Region beheimatete Länder besondere Liberalisierungsschritte einleiten. Der EU-Binnenmarkt stellt ein solches Beispiel dar. Auch die Freihandelszone zwischen Kanada, den USA und Mexiko (USMCA) und der ASEAN-Pakt südostasiatischer Staaten sind Beispiele regionaler Integration. Hierbei werden für fest verabredete Güter- und Dienstleistungen Handelserleichterungen oder auch völlige Handelsfreiheit gewährt. Damit kommt es in diesen Ländern durch die Abschaffung von Hindernissen zu Handelsschaffung („trade creation“), und gleichzei‐ tig potenziell zu einer Handelsumlenkung („trade diversion“), da Länder außerhalb der Region, die möglicherweise günstiger produzieren, aufgrund der Zollschranken benachteiligt werden. Abkommen mit dem Ziel, die regionale Integration voranzu‐ treiben, haben einen Vorteil gegenüber multilateralen Versuchen der Integration, da aufgrund der kleineren Zahl und der in der Regel größeren politischen und kulturellen Homogenität Vereinbarungen leichter zu erzielen sind. Inter-regionale Integration liegt dann vor, wenn zwei regionale Bündnisse Abkommen zur Handelserleichterung unterzeichnen. Plurilaterale Kooperation Von plurilateraler Liberalisierung spricht man, wenn einige Staaten gemeinsam Libe‐ ralisierungsschritte einleiten. Es ist gewissermaßen eine Unterform der multilateralen Verabredung. Plurilaterale Vereinbarungen werden gegenwärtig für Dienstleistungen verhandelt. Das Übereinkommen über das öffentliche Beschaffungswesen ist ein Beispiel für diese Form der Liberalisierung. Bilaterale Zusammenarbeit - die neue Realität handelspolitischer Kooperation Eine bilaterale Handelsliberalisierung liegt dann vor, wenn ein Land (oder ein Bündnis wie die EU) mit einem anderen Land ein Präferenzbzw. Freihandelsabkommen unter‐ zeichnet. Ein solches Bündnis zielt auf positive Wohlfahrtseffekte in den involvierten 164 6 Der Handel und die Handelspolitik der Europäischen Union <?page no="165"?> Ländern ab. Häufig sind solche bilateralen Verabredungen mit anderen Themen poli‐ tischer, sozialer oder kultureller Natur verknüpft. Die Zahl der bilateralen Abkommen ist in den letzten Jahren stark gestiegen. Unilaterale Liberalisierung Von einer unilateralen Handelsliberalisierung spricht man dann, wenn faktisch eine Liberalisierung erfolgt, ohne dass andere Handelspartner zu eigenen Zugeständnissen verpflichtet werden. 6.4.3 Handelspolitik und die Proliferation von Subventionen Handelspolitik wird zunehmend von der Wahrnehmung geprägt, dass die grundle‐ gende Annahme der fairen Konkurrenz von Unternehmen aus marktwirtschaftlich orientierten Ländern nicht mehr die Norm und weitverbreitete Praxis darstellt: Wenn Länder selektiv Unternehmen subventionieren oder gezielt Märkte von ausländischem Wettbewerb abschotten, dann muss die Empfehlung zur Öffnung der Märkte hinter‐ fragt werden. Zwei Entwicklungen spielen in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle: Der Erfolg chinesischer Unternehmen auf internationalen Märkten, der häufig als das Ergebnis umfassender Interventionen des Staates interpretiert wird. Es gibt somit kein „level playing field“, keine fairen Wettbewerbsbedingungen zwischen den Unterneh‐ men. Hinzu kommt, dass in den westlichen Industrieländern das Potenzial staatlicher Interventionen zunehmend neu gedacht wird. Die Herausforderungen des Klimawan‐ dels, die Notwendigkeit großer Investitionen und schnellen Handelns werden hier vor allem als Begründung angeführt. Industriepolitik erlebt mit den Konzepten „Inflation Reduction Act“ in den USA und dem EU Green Deal eine Renaissance. Damit entsteht jedoch für die Handelspartner ein Problem der Wettbewerbsverzerrung. Instrumente zum Schutz gegen unfairen Wettbewerb gewinnen somit an Bedeutung. 6.4.4 Handelspolitik in Zeiten geopolitischer Auseinandersetzungen Die geopolitischen Veränderungen, insbesondere die zunehmende politische Konfron‐ tation zwischen China und den USA, auch zwischen Russland und dem Westen stellen eine weitere Herausforderung dar. Die Abkopplung der eigenen Volkswirtschaft von der des jeweiligen Systemkonkurrenten spielt sowohl in China als auch in den USA eine zentrale Rolle in der politischen Ausgestaltung der Handelsbeziehungen. Der Zugang zu bestimmten Gütern, Dienstleistungen und zu Wissen soll für den Systemrivalen be‐ grenzt werden. Aber auch die transatlantischen Handelsbeziehungen, die während der Amtszeit von Donald Trump einen Tiefpunkt erlebten, bleiben schwierig. Die Gefahr einer Fragmentierung der Welt ist real (vgl. Georgieva/ Okonjo-Iweala 2023, S. 10-11). Die EU sucht in diesem Zusammenhang nach einer eigenen Antwort. Eine Strategie 6.4 Die Handelspolitik der EU 165 <?page no="166"?> des „De-Risking“ als Abbau kritischer Importabhängigkeiten und Diversifizierung der globalen Wertschöpfungsketten wird angestrebt. 6.4.5 Handelspolitik und nicht-ökonomische Ziele Das umfassende Verständnis der EU in handelspolitischen Fragen wird durch die lange Liste der Unterpunkte in Artikel 3 (1) des Vertrages über die Arbeitsweise der EU deutlich: in (a) wird auf die Bedeutung von Werten, Sicherheit und Unabhängigkeit verwiesen, in (b) wird gefordert, zur Festigung der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und der Beachtung der Menschenrechte beizutragen, in (c) geht es um einen Beitrag zur Konfliktverhütung, in (d) wird auf die Bedeutung der Nachhaltigkeit Bezug genommen, in (e) geht es um den Abbau von Handelshemmnissen, in (f) wird die Handelspolitik verpflichtet, zum Verbesserung der Qualität der Umwelt und einer nachhaltigen Bewirtschaftung der weltweiten natürlichen Ressourcen beizutragen, in (g) geht es um Hilfe bei Naturkatastrophen, und in (h) wird gefordert, eine multilaterale Zusammenarbeit zu fördern. Diese Ziele gewinnen an Bedeutung, wenn es um die Aushandlung von Handels‐ abkommen geht oder wenn Änderungen der Regeln für Importe oder Exporte verab‐ schiedet werden (vgl. Borchert/ Conconi/ Di Ubaldo u. a. 2021). So ist es explizites Ziel der EU, die Beachtung des Paris Abkommens zum Klimawandel in Handelsabkommen zu integrieren (vgl. Europäische Kommission 2021, S. 12). Aus Sicht der Befürworter ist das die notwendige Ausrichtung auf wichtige Ziele, welche bereits im Lissabon-Vertrag festgeschrieben wurden, in der Vergangenheit aber zu wenig Beachtung fanden. Aus Sicht der Kritiker gehen diese Vorgaben zu weit, sie beschränken das souveräne Recht anderer Staaten, über ihre gesellschaftlichen Prioritäten und daraus abgeleiteten Maßnahmen selbst zu entscheiden. 6.4.6 Die Handelspolitik der EU in der Praxis Die Handelspolitik hat aufgrund der unterschiedlichen Ansätze, Ziele und Wege im Ergebnis zu einem vielschichtigen Netz an Abkommen und Vereinbarungen geführt. In der Konsequenz ist die Handelspolitik der EU komplex und in manchen Bereichen auch widersprüchlich (vgl. Bongardt/ Torres 2018). Europäische Union als Akteur im System der multilateralen Handelsliberalisierung Die Europäische Union verstand sich stets als aktiver Treiber der Liberalisierung im Rahmen des GATT und seit 1995 der WTO. Bedeutende Initiativen für Liberalisierung wurden von der EU eingebracht (vgl. Harte 2018). Im Rahmen der multilateralen Verhandlungen wurden die Zölle beträchtlich gesenkt. Gemessen an den Zollsätzen ist die EU eine offene Volkswirtschaft. Dies zeigen die 166 6 Der Handel und die Handelspolitik der Europäischen Union <?page no="167"?> durchschnittlichen Zollsätze, die allerdings höher sind als jene in den USA. Insbeson‐ dere landwirtschaftliche Güter werden in den USA mit einem deutlich niedrigeren Zollsatz belegt. - EU-27 USA Japan China durchschnittlicher Zollsatz auf alle Güter 6,5 4,8 6,3 7,1 davon landwirtschaftliche Güter 14,9 9,2 18,0 12,7 davon nicht-landwirtschaftliche Güter 4,3 4,0 3,4 6,2 Abb.-38: Durchschnittliche Zollsätze der führenden Welthandelsnationen | Quelle: World Trade Organi‐ zation 2024, verschiedene Trade Policy Reviews der EU, USA, China und Japan, jeweils letzte verfügbare Fassung Seit Beginn des Streitschlichtungsverfahrens 1995 haben die EU, die USA und China diesen Weg besonders häufig beschritten. Dies gilt auch für die Verfahren wegen Dumping und Subventionen. Das regelbasierte System der WTO steckt aus vielen Gründen in der Krise (vgl. Braml/ Felbermayr 2018). Die Konsensregel erfordert die Bereitschaft ausdrücklich aller Mitglieder, einen finalen Abschluss mitzutragen. Bei 164 Mitgliedern ist dies ein höchst schwieriges Unterfangen. Die Durchsetzung von Regeln gegenüber einzelnen Ländern stellt die WTO vor eine schwere Aufgabe. Und konzeptionell ist die Einbeziehung von Umweltaspekten, Beschäftigungsbedingungen und Wettbewerbspolitiken ungeklärt. Das wichtige Streitschlichtungsverfahren ist seit vielen Jahren nicht mehr in der Lage, seine Aufgabe zu übernehmen. Insbesondere die USA wirft dem Organ Kompe‐ tenzüberschreitung und überlange Verfahrensdauer vor und blockiert die Neubeset‐ zung der Schlichterrollen. Zwar einigte sich die EU gemeinsam mit ausgewählten Handelspartnern auf ein daran angelehntes Streitschlichtungsverfahren. Die Blockade durch die USA zeigt aber deutlich die Probleme der WTO, in dem geänderten geopoli‐ tischen Umfeld die ihr zugedachte Aufgabe zu erfüllen. Der Konflikt über die gegenwärtige und zukünftige Rolle der WTO ist daher ein inhaltlicher Konflikt über Vorstellungen, was die Rolle multilateraler Institutionen betrifft, über das Selbstverständnis von Nationen, über die notwendige Effektivität und Effizienz multilateraler Organisationen, über die Akzeptanz der Entscheidungen solcher Institutionen in der eigenen Bevölkerung und auch über die Vorstellungen von Fairness im internationalen Handel. Es besteht in den USA und Europa Einver‐ ständnis darüber, dass es gute Gründe für eine Reform der WTO gibt. Die EU, die ein zentrales Interesse an einer starken WTO hat, hat in den letzten Jahren wiederholt Reformvorschläge eingebracht, z. B. zu den Themen Verhandlungsführung, Streitschlichtungsverfahren oder den Umgang mit Subventionen. Andere Vorschläge 6.4 Die Handelspolitik der EU 167 <?page no="168"?> sehen eine flexiblere Architektur, z. B. eine WTO der zwei Geschwindigkeiten als sinnvolle Weiterentwicklung an. Der Abschluss von Freihandelsabkommen Unter anderem auch aufgrund mangelnder Fortschritte in der multilateralen Handels‐ liberalisierung wuchs in den letzten Jahren die Bedeutung bilateraler Handelsabkom‐ men. Die EU hat mittlerweile ein großes Netz von Freihandelsabkommen ausgehan‐ delt (vgl. Europäischer Rat/ Rat der Europäischen Union 2024). Sie werden formal bei der Welthandelsorganisation angemeldet und sind damit WTO-konform. Einige Abkommen fokussieren auf Handelsfragen („Handelsabkommen“ oder „Zollunion“), andere umfassen eine Vielzahl wirtschaftlicher Fragen („Wirtschaftspartnerschaftsab‐ kommen“). Darüber hinaus gibt es Assoziierungsabkommen bzw. Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen, die auch extensive politische Verabredungen beinhalten. Die in jüngster Zeit geschlossenen Abkommen enthalten weitergehende Regelun‐ gen als frühere Einigungen. Diese als „New Generation Free Trade Agreements“ bezeichneten Vereinbarungen gehen über Zollsenkungen hinaus und integrieren Ver‐ abredungen zum Dienstleistungshandel, zu dem öffentlichen Beschaffungswesen und Direktinvestitionen. Zunehmend werden auch weitere Themen wie Menschenrechte, Umweltrechte, Arbeitnehmerrechte, Schutz der Konsumenten bis hin zu Fragen der Korruptionsbekämpfung, Asylfragen und demokratischen Prinzipien integriert (vgl. Gonzales/ Bourgeois 2023, S. 51-55). Die Integration dieser Aspekte wird kontrovers diskutiert. Die EU fordert mit solchen Vereinbarungen zum Teil weitreichende Ände‐ rungen im politischen Handeln der Partnerländer. Befürworter wünschen sich dieses konsequente Eintreten für die Werte der Europäer. Aus Sicht der Kritiker insbesondere aus den betroffenen Ländern des globalen Südens ist dies eine Form des Kolonialismus. Aus deren Sicht kann von Dialog auf Augenhöhe keine Rede sein. Hinzu kommt der Vorwurf, es ginge im Grunde um den Schutz der eigenen Industrie. Box 41 |-Die ethische Herausforderung - Handel und Menschenrechte In internationalen Handelsverträgen verabredet die Europäische Union mit Han‐ delspartnern nicht nur rein ökonomische Fragen, sondern nimmt auch Regelungen zu Menschenrechten, Arbeitnehmerrechten und zum Umweltschutz auf. Wie ist dies zu beurteilen? Ist dies zu begrüßen oder abzulehnen? Pro: Die EU hat sich in Artikel 3 (5) AUV verpflichtet, einen Beitrag zum Schutz der Menschenrechte zu leisten. Bei den Menschenrechtsstandards, Arbeitnehmerrechten und Umweltstandards handelt es sich völlig unstrittig um ganz grundlegende Rechte, die zum Kernbe‐ stand der weltweit gültigen Grundrechte gehören. Die Bürger Europas, aber auch 168 6 Der Handel und die Handelspolitik der Europäischen Union <?page no="169"?> die häufig rechtlosen Arbeiter in anderen Ländern außerhalb Europas erwarten von Europa, Position zu beziehen. Kontra: Bei der Festlegung von Mindeststandards handelt es sich um eine ver‐ steckte Form des Protektionismus. Die EU hindert Entwicklungsländer daran, ihre Wettbewerbsvorteile zu nutzen. Arbeitsstandards und Umweltstandards waren auch in Europa oder anderen entwickelten Ländern zu Beginn ihrer Entwicklung auf einem niedrigen Niveau. Dies muss auch Entwicklungsländern zugestanden werden. Die Nutzung der Macht Europas schafft einen gefährlichen Präzedenzfall, es handelt sich um den Missbrauch von Macht, es stellt eine höchst problematische Form des Eurozentrismus dar. Schließlich wird auch darauf verwiesen, dass die geopolitische Konkurrenz mit China eine Zurückhaltung nahelegen würde. Eine besonders harte Haltung treibe die Länder in die Arme Chinas, das keine vergleichbaren Ansprüche formuliert. Es geht nicht um einseitige Vorteile zugunsten Europas, sondern um die Sicherung absolut grundlegender Mindeststandards. Von einer indirekten Form der Interven‐ tion kann keine Rede sein. Je länger die Krise der WTO andauert, umso dichter wird das Netz von Freihandels‐ abkommen werden. Angesichts der gegenwärtigen Zersplitterung der Welt und der Handelspolitik kann die EU auf diesen Weg des Abschlusses von Vereinbarungen nicht verzichten (vgl. Felbermayr 2019). Gleichzeitig besteht die Gefahr des Entstehens eines „diskriminierenden Regionalismus“, bei dem der handelsumlenkende Effekt stärker ist als der handelsschaffende Effekt. Die EU und der Abschluss von Abkommen mit Nachbarländern In Artikel 8 EUV werden gutnachbarschaftliche Beziehungen als zentrales Ziel benannt und der Weg für besondere Übereinkünfte eröffnet. Mit der Europäischen Freihandels‐ zone (EFTA) und deren Mitgliedern gibt es enge Verbindungen. Für den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) gelten die vier Grundfreiheiten und die Mehrzahl der Binnen‐ marktregeln der EU. In der Schweiz wurde in einem Referendum die Mitgliedschaft im EWR abgelehnt, es gibt jedoch gesonderte Regelungen. Mit Nachbarländern der EU, die eine Mitgliedschaft in der EU anstreben, handelt die Europäische Union Assoziierungsabkommen aus, die ein besonders enges wirtschaftli‐ ches Kooperationsverhältnis begründen und über reine handelspolitische Verabredun‐ gen hinausgehen. Mit den nordafrikanischen Staaten Algerien, Ägypten, Marokko und Tunesien wurden Assoziierungsabkommen unterzeichnet. Die Internetseite der European Union External Action mit allen Verträgen zeigt die Vielfalt der Abkommen. 6.4 Die Handelspolitik der EU 169 <?page no="170"?> Die EU und Abkommen mit anderen regionalen Verbünden Die EU hat mehrere inter-regionale Abkommen unterzeichnet: Mit den Ländern des südlichen Afrikas wurde ein Wirtschaftspartnerschaftsabkommen ausgehandelt, auch mit den Ländern der Karibik (CARIFORUM-Staaten) gibt es ein solches umfassendes Abkommen. Mit den Golfstaaten (GCC-Staaten) wurde ein Kooperationsabkommen unterzeichnet. Ein Bündnis mit den Mercosur-Staaten wird politisch umgesetzt. Präferenzen für Entwicklungsländer Seit 1971 ermöglicht die Europäische Gemeinschaft einer großen Zahl von Entwick‐ lungsländern den nicht-reziproken erleichterten Zugang zum europäischen Markt („Generelles Präferenzsystem“). Die meisten Produkte können zollfrei in die Europäi‐ sche Union eingeführt werden. Wichtige Ausnahmen sind jedoch Agrarprodukte und Textilien, hier gelten häufig erleichterte Bedingungen, aber keine Einfuhrfreiheit. Das „Generelle Präferenzsystem +“ bietet weitere Erleichterungen, falls die Länder sich verpflichten, internationale Arbeitnehmerstandards umzusetzen und bestimmte Good-Governance-Prinzipien zu beachten. Schließlich umfasst das Allgemeine Präfe‐ renzabkommen die unter dem Stichwort „Everything but arms“ (EBA) bekannt gewor‐ denen Regelungen. In gewisser Hinsicht können diese Vereinbarungen als unilaterale Liberalisierung verstanden werden. Allerdings suggeriert dies, dass es faktisch keine Gegenleistung für die Zollfreiheit gibt, was in einem weiteren politischen Sinne aber eher unrealistisch erscheint. Handelsschutzinstrumente zur Sicherstellung von Fairness Die WTO erlaubt die Einführung von Schutzzöllen (Antidumping- und Ausgleichsmaß‐ nahmen), wenn im Exportland eine unfaire Begünstigung der Produzenten nachgewie‐ sen werden kann. Dieser Weg wurde in der Vergangenheit häufig beschritten, erwies sich aber zunehmend als wenig effektiv. Angesichts der wachsenden Bedeutung von Subventionen reagierte die EU im Jahr 2023 mit der Verordnung über den Binnenmarkt verzerrende drittstaatliche Subventionen („Foreign Subsidies Regulation“). In der Begründung der Verordnung wird konstatiert: „Wenn öffentliche oder auch private Unternehmen der direkten oder indirekten Kontrolle eines Staates unterliegen, dann können Subventionen dazu führen, dass der Leistungswettbewerb mit Unternehmen in der EU ernsthaft gestört ist“. Die Verordnung gibt der Europäischen Union Instrumente zum Schutz der europäischen Wirtschaft an die Hand. Neben einer höheren Transpa‐ renz und der Überprüfung von vermuteten Benachteiligungen kann die EU Geldbußen und Zwangsgelder verhängen. Auch national wurden die außenwirtschaftsbezogenen Ordnungsregeln geschärft. 170 6 Der Handel und die Handelspolitik der Europäischen Union <?page no="171"?> Nachhaltigkeit und Umwelt In Handelsabkommen werden in der Regel Aspekte der Nachhaltigkeit direkt adres‐ siert. Der Handel soll im Einklang mit den internationalen Vereinbarungen zum Umweltschutz stehen und weiterentwickelt werden. In zahlreichen speziellen Regelungen integriert die EU ihre Vorstellungen zum Umwelt- und Klimaschutz und formuliert Bedingungen für den Import von Gütern. Die Verordnung EU (2023)/ 1115 über die Bereitstellung bestimmter Rohstoffe und Erzeugnisse, die mit Entwaldung und Waldschädigung in Verbindung stehen, ist ein Beispiel für dieses Bemühen der Union, Umweltschutz im Welthandel zu beachten. Auch mit der - hoch umstrittenen - Richtlinie (EU) 2024/ 1760 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Juni 2024 („europäisches Lieferkettengesetz“) müssen Unternehmen ab einer bestimmten Größe nachweisen, dass sie in ihrer Lieferkette schädliche Umweltveränderungen vermeiden und Beeinträchtigungen von Menschenrechten und Umwelt in ihren Lieferketten beachten (vgl. Grabosch 2024, S.-12-13). Die neue Realität der handelspolitischen Konfrontation Unter dem Oberbegriff der „offenen strategischen Autonomie“ reagiert die EU auf die weltpolitischen Spannungen und vor allem auf die Politik in China, Russland und auch den USA: Durchsetzungsfähigkeit und regelbasierte Kooperation, Resilienz und Wettbewerbsfähigkeit, Nachhaltigkeit und Fairness werden als Elemente der strategischen Orientierung genannt. Die EU veröffentlichte eine neue China-Strategie, in der China als Partner, Konkurrent und Systemrivale benannt wird. Die EU hat gemeinsam mit den USA zahlreiche Sanktionen gegen Russland auf den Weg gebracht. Weltweit ist eine Explosion der Zahl der Handelsrestriktionen zu beobachten (vgl. Bolhuis/ Chen/ Kett 2023, S.-36). Das Interesse, eine umfassende Fragmentierung des Handels und der Welt zu ver‐ hindern, ist stark ausgeprägt. Statt dem von einigen Politikern und Wissenschaftlern vor allem in den USA und China vertretenen De-Coupling findet sich in der EU bei vielen die Hoffnung, durch eine Reduktion der Abhängigkeit das Risiko von Krisen zu reduzieren, ohne dass Länder auf die Vorteile des internationalen Handels verzichten müssen. 6.5 Perspektiven Auch wenn sich die Gewichte im Welthandel verschoben haben und weiter verschieben werden, so bleibt die EU einer der wichtigsten, bedeutendsten und einflussreichsten Akteure im Welthandel. Wirtschaftliche Entwicklungen innerhalb der EU sind für den Welthandel ebenso bedeutsam wie handelspolitische Weichenstellungen der EU. 6.5 Perspektiven 171 <?page no="172"?> Die Handelsstruktur reflektiert teils die natürlichen Ausstattungsbedingungen: Eu‐ ropa wird ein Rohstoffimporteur bleiben. In Zukunft mag die Export- und Importstruk‐ tur stärker als in der Vergangenheit durch erworbene Ausstattungsvorteile geprägt sein: Europa ist bestrebt, im Bereich des Humankapitals die Faktorbedingungen - im Vergleich zu dem Rest der Welt - zu verbessern. Gelingt dies, wird mittelfristig die Außenhandelsstruktur stärker noch als gegenwärtig durch wissensintensive Exporte geprägt sein. Mit dem hohen Anteil am Welthandel ist Europa an klaren Welthandelsregeln interessiert. Die EU hat ein dezidiertes Interesse an einer starken WTO. Und doch muss die parallele Arbeit an einem Netz von bilateralen oder regionalen Abkommen weiterhin zur handelspolitischen Agenda der Union gehören. Auch hat in den letzten Jahren die Vorstellung an Bedeutung gewonnen, dass die EU als wichtiger Akteur im Welthandel gefordert ist, die regelbasierte Handelswelt aktiv mitzugestalten, gegen missbräuchliche Praktiken zu verteidigen. Die Einordnung der Handelspolitik in Europas Suche nach offener strategischer Autonomie zeigt diese Neuorientierung, die aller Voraussicht nach die nächsten Jahre prägen wird. ➲ Wichtige Begriffe Handelsanteile, Komparative Kostenvorteile, Spezialisierung, Revealed Comparative Advantage, Zahlungsbilanz, Leistungsbilanzsalden, Zollschutz, GATT, GATS, TRIPS, Dispute Settlement Body, Präferenzabkommen, Reziprozität, multilaterale Handelsli‐ beralisierung, Protektionismus, WTO, De-Risking ➲ Literatur Bongardt, Annette/ Torres, Francisco (2018): „What should be the EU‘s Approach to Global Trade? ”, in: Intereconomics, vol. 53 (5), S.-245-249 Borchert, Ingo/ Conconi, Paola/ Di Ubaldo, Mattia/ Herghelegiu, Cristina (2021): „The Pursuit of Non-Trade Policy Objectives in EU Trade Policy”, in: World Trade Review, Vol. 20 (5), S.-623-647 Bolhuis, Marijn A. / Chen Jiaqian / Kett, Benjamin (2023) „The Costs of Geoeconomic Fragmen‐ tation”, in: Finance & Development, Juni 2023, S.-35-37. Braml, Martin/ Felbermayr, Gabriel (2018): „Handelskrieg und seine Folgen: Ist die WTO am Ende? “, in: ifo Schnelldienst, 71. Jg., H. 11, S.-3-6 Deutsche Bundesbank (2024a): Zahlungsbilanzstatistik, April 2024. Deutsche Bundesbank (2024b): Zahlungsbilanz nach BPM6, Internet: https: / / www.bundesbank .de/ de/ statistiken/ aussenwirtschaft/ zahlungsbilanz/ methodische-erlaeuterungen-772308 Europäische Kommission (2016): Study on the EU Positioning: An Analysis of the International Positioning of the EU Using Revealed Comparative Advantages and the Control of Key Technologies - Final Report, Brüssel 172 6 Der Handel und die Handelspolitik der Europäischen Union <?page no="173"?> Europäische Kommission (2021): Trade Policy Review - An Open, Sustainable and Assertive Trade Policy, Communication from the Commission to the European Parliament, the Council, the European Economic and Social Committee and the Committee of the Regions, COM(2021) 66 final, Brüssel Europäische Kommission (2023), DG Trade Statistical Guide. August 2023, Luxemburg Europäische Kommission (2024): DG Trade Statistical Guide. August 2024, Luxemburg Europäischer Rat / Rat der Europäischen Union (2024): EU-Handelsabkommen, Internet: https: / / www.consilium.europa.eu/ de/ policies/ trade-policy/ trade-agreements/ Felbermayr, Gabriel (2019): „Bilaterale Handelsabkommen sind kein Ersatz für Multilateralis‐ mus“, in: Handelsblatt, 30.6.2019 Galar, Malgorzata (2012): „Competing within global value chains“, ECFIN Economic Brief, Issue 17 Georgieva, Kristalina/ Okonjo-Iweala Ngozi (2023): „World trade can still drive prosperity”, in: Finance & Development, June 2023, S.-10-11. Gonzales, Arancha / Yanis Bourgeois (2023): The Trade Handbook - Making trade work for prosperity, people and planet, Bonn, Dietz Verlag Grabosch, Robert (2024): Die EU-Lieferketten-Richtlinie. Weltweiter Schutz für Mensch und Umwelt, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn Harte, Roderick (2018): Multilateralism in international trade - Reforming the WTO, EPRS, European Parliament, PE 603.919 Krugman, Paul. R./ Obstfeld, Maurice/ Meltiz, Marc J. (2019): Internationale Wirtschaft: Theorie und Politik der Außenwirtschaft, 11. Auflage, Pearson Deutschland, Hallbergmoos National Science Board (2022): Science & Engineering Indicators 2022 - Production and Trade of Knowledge and Technology-Intensive Industries, Alexandria, Internet: https: / / ncses.nsf.g ov/ pubs/ nsb20247/ global-trade-in-knowledge-and-technology-intensive-output Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (2019): Wirt‐ schaftspolitische Probleme der deutschen Leistungsbilanz. Gutachten vom 7. Februar 2019, Berlin World Trade Organization (2023): World Trade Report 2023, Genf Zakaria, Fareed (2009): Der Aufstieg der Anderen, Band 764, Bonn ➲ Literatur 173 <?page no="175"?> Teil IV ∙ EU-Politiken der nachhaltigen Entwicklung <?page no="176"?> 7 Die Gemeinsame Agrarpolitik der Europäischen Union eLearning | zu diesem Kapitel finden Sie einen eLearning-Kurs online. Folgen Sie dem Link oder nutzen Sie den QR-Code. 🔗 https: / / narr.kwaest.io/ s/ 1344 Leitfragen • Welche Ziele verfolgt die Gemeinsame Agrarpolitik der EU? • Wie werden Eingriffe in den Agrarmarkt theoretisch gerechtfertigt? • Gibt es Vorteile einer Gemeinsamen Agrarpolitik gegenüber einer Agrarpoli‐ tik, die von den Mitgliedstaaten betrieben wird? • Welche Instrumente werden im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik ein‐ gesetzt? • Welche Probleme sind mit der Gemeinsamen Agrarpolitik verbunden? 7.1 Einführung Nach der Beendigung des Zweiten Weltkriegs war die Überwindung der Lebensmittel‐ knappheit in Europa und die Gewährleistung der Ernährungssicherheit der Bevölke‐ rung von essentieller Bedeutung. Hinzu kam, dass für die Landwirtschaft im Zuge der sektoralen Wirtschaftsentwicklung ein rückläufiger Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt und zur Gesamtbeschäftigung erwartet werden konnte (Drei-Sektoren-Hypothese von Clark und Fourastié). Politisch wurde mit der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) ein Interessenausgleich vor allem zwischen Deutschland und Frankreich vollzogen. Im Gegenzug für die Exporte landwirtschaftlicher Produkte aus Frankreich wurde der Marktzugang für die Industriegüter aus Deutschland geöffnet. Daher gehörte die GAP schon mit Beginn des Integrationsprozesses zu den zentralen Aufgabenbereichen der EU. Bereits im EWG-Vertrag von 1957 wurde in Artikel 3 die Einführung einer gemein‐ samen Politik auf dem Gebiet der Landwirtschaft verankert und dem Agrarsektor in den Artikeln 38 ff. ein eigener Abschnitt gewidmet. Nach Erarbeitung der Grundlinien für eine gemeinschaftliche Agrarpolitik auf der Konferenz von Stresa/ Italien (1958) trat die GAP mit der Marktorganisation für Getreide schließlich im Jahr 1962 in Kraft (vgl. Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft 2022a). Die im Laufe der Zeit mehrfach reformierte GAP basiert auf drei Prinzipien: <?page no="177"?> • Markteinheit: einheitliche Rahmenbedingungen auf dem gemeinsamen Agrar‐ markt ohne Beschränkungen im innergemeinschaftlichen Handel mit Agrarpro‐ dukten; • Gemeinschaftspräferenz: der landwirtschaftlichen Produktion innerhalb der EU wird gegenüber Produkten aus Drittländern der Vorrang eingeräumt; • Finanzielle Solidarität: gemeinschaftliche Finanzierung der GAP aus dem EU-Haushalt. Gemäß dem Mehrjährigen Finanzrahmen belaufen sich die GAP-Ausgaben für den Zeitraum 2021-2027 auf 378,5 Mrd. Euro; dies entspricht 31-Prozent des Gesamthaus‐ halts der EU. Unter Einbeziehung der zusätzlichen Mittel in Höhe von 8,1 Mrd. Euro aus dem NextGenerationEU-Programm („Rural Development“) stehen der GAP damit 386,6 Mrd. Euro zur Verfügung (vgl. Europäische Kommission 2021). 7.2 Rechtfertigungen für Eingriffe in den Agrarmarkt Gemäß der Theorie der Wirtschaftspolitik sind Eingriffe des Staates in den Marktpro‐ zess sorgfältig zu begründen (1. Hauptsatz der Wohlfahrtstheorie). Welche Rechtferti‐ gungsgründe für ein Marktversagen im Agrarsektor lassen sich anführen? (vgl. Köster 2016). 7.2.1 Besonderheiten landwirtschaftlicher Güter Agrarprodukte sind Güter mit einer geringen direkten Preis- und Einkommenselasti‐ zität der Nachfrage. Damit es zur Markträumung kommt, werden bei unelastischer Nachfrage (-1 ≤ ε x,p = (Δx/ x)/ (Δp/ p) ≤ 0) steigende Mengen eines Gutes nur nachgefragt, wenn der Preis des betrachteten Gutes überproportional sinkt. Dies geht mit Umsatz‐ einbußen in der Landwirtschaft einher. Demgegenüber bedeutet eine geringe Einkom‐ menselastizität der Nachfrage (0 ≤ ε x,Y = (Δx/ x)/ (ΔY/ Y) ≤ 1) eine unterproportionale Zunahme der Güternachfrage bei steigendem Einkommen. Bezogen auf die Ausgaben für Nahrungsmittel gilt nach dem Engelschen Gesetz, dass der Einkommensanteil, der für Ernährung verwandt wird, mit steigendem Einkommen sinkt. In → Abb. 39 ist das langfristige Gleichgewicht (p 0 x 0 ) auf dem Markt für Agrar‐ produkte im Schnittpunkt der Nachfragefunktion (N) und der Angebotsfunktion (A) dargestellt. 7.2 Rechtfertigungen für Eingriffe in den Agrarmarkt 177 <?page no="178"?> X 1 X 0 P 0 A A' X P N' N P 1 Abb.-39: Der Markt für Agrarprodukte Produktivitätssteigerungen durch Rationalisierung und Innovation im landwirtschaft‐ lichen Sektor („grüne Revolution“) führen zu einer Rechtsverschiebung der Ange‐ botsfunktion von A nach A'. Im Zuge des wirtschaftlichen Wachstums nimmt auch das gesamtwirtschaftliche Einkommen zu, so dass sich im Zeitablauf die Nachfra‐ gefunktion von N nach N' verlagert. Welche Auswirkungen davon auf die Preise der Agrarprodukte und damit auf die Umsätze der Landwirte ausgehen, hängt von den jeweiligen Elastizitäten ab. Verschiebt sich die Nachfragefunktion aufgrund der geringen Einkommenselastizität weniger stark als die Angebotsfunktion und wird gegebenenfalls sogar noch preisunelastischer, wird ein Preisdruck auftreten und der Preis von p 0 auf p 1 sinken. Entsprechend gehen die Umsätze von p 0 x 0 auf p 1 x 1 zurück. Bei fehlender Mobilität der eingesetzten Produktionsfaktoren vermindert sich das Pro-Kopf-Einkommen in der Landwirtschaft und bleibt hinter der Einkommensent‐ wicklung in anderen Wirtschaftssektoren zurück. 7.2.2 Abweichende Produktionsbedingungen Gegenüber der industriellen Fertigung hängt die landwirtschaftliche Erzeugung von Umweltfaktoren ab. Witterungseinflüsse und Schädlingsbefall können Outputschwan‐ kungen und Preisausschläge auf den Agrarmärkten verursachen. Aufgrund des Ernte‐ zyklus sind kurzfristige Produktionsanpassungen in der Landwirtschaft nicht möglich. Die → Abb. 40 enthält die Gleichgewichtssituationen auf dem Agrarmarkt für un‐ terschiedliche Witterungsverhältnisse. Bei gutem Wetter gilt die Preis-Mengen-Kom‐ 178 7 Die Gemeinsame Agrarpolitik der Europäischen Union <?page no="179"?> bination (p 0 , x 0 ), während sich bei schlechten Bedingungen eine geringere Menge und ein höherer Preis im Punkt (p 1 , x 1 ) einstellt. X'' - X' X' - X''' P' P 1 X A' P A P 0 X' X 0 X 1 X''' X'' N Abb.-40: Stabilisierung auf dem Agrarmarkt Prinzipiell könnte eine Marktstabilisierung durch wirtschaftspolitische Intervention erreicht werden, würde ein Preis p' = 1/ 2 (p 0 + p 1 ) für die Agrarprodukte genommen und eine Menge von x' bereitgestellt. Dies erfordert, dass Marktordnungsstellen das sich bei gutem Wetter ergebende Überschussangebot (x'' - x') aufkaufen, um damit den bei schlechtem Wetter auftretenden Nachfrageüberhang (x' - x''') auszugleichen. In der Konsequenz werden witterungsunabhängig gleichbleibende Umsätze (p'x') im Agrar‐ sektor realisiert. Neben der Lagerfähigkeit der landwirtschaftlichen Erzeugnisse wird stark vereinfachend auch Gleichverteilung für das Auftreten der unterschiedlichen Wetterkonstellationen vorausgesetzt. Um solcher Art von Risiken wie Hageleinschlag und Dürreschäden zu begegnen, könnte anstelle staatlicher Markteingriffe die Etablie‐ rung von Versicherungslösungen erwogen werden (vgl. Wissenschaftlicher Beirat für Agrarpolitik beim Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau‐ cherschutz 2010). Die Preisentwicklung auf den Agrarmärkten hängt aber auch von dem verstärkten Einsatz agrarischer Rohstoffe (Raps, Mais, Getreide als Energieträger (→ Box 42) und von der Spekulation mit Nahrungsmitteln durch Finanzinvestoren ab (vgl. Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft 2023a). Box 42 |-Teller-oder-Tank-Dilemma: Verwendung agrarischer Rohstoffe zur Nah‐ rungsmittelproduktion oder als Energieträger? Pro: Begrenzte Reichweite fossiler Energieträger erfordert klimafreundliche Al‐ ternativen der Energieproduktion. 7.2 Rechtfertigungen für Eingriffe in den Agrarmarkt 179 <?page no="180"?> Energiediversifizierung mindert die Importabhängigkeit und fördert Innovation und Beschäftigung im Agrarbereich. Kontra: Nahrungsmittelknappheit durch Bereitstellung von Ackerflächen zur Produktion energetisch verwendeter Agrargüter führt zu einem Anstieg der Lebensmittelpreise, was insbesondere die Bevölkerung in Entwicklungsländern trifft. Indirekte Klimaschädigung durch Abholzung von Regenwäldern für den Getrei‐ deanbau, weil auf den bisher zur Nahrungsmittelproduktion genutzten Flächen Energiepflanzen angebaut werden. 7.2.3 Externalitäten Landwirtschaftliche Produktion ist mit vielfältigen Auswirkungen auf das natürliche Umfeld verknüpft. Negativen externen Effekten eines Umweltverbrauchs stehen po‐ sitive externe Effekte gegenüber, die in der Schaffung naturnaher Lebensräume, der Bewahrung des Landschaftsbildes oder im Erhalt der biologischen Artenvielfalt bestehen. Soweit derartige Leistungen marktlich nicht berücksichtigt werden, bedarf es der Intervention in Form staatlicher Regulierung oder des Einsatzes von Steuern und öffentlicher Ausgaben zur Internalisierung dieser Effekte. So mag die Flächenbewirt‐ schaftung in einer Bergregion aus individueller Sicht nur begrenzt rentabel erscheinen; aus gesellschaftlicher Sicht trägt sie dazu bei, eine Bodenerosion zu verhindern, der Erdrutschgefahr vorzubeugen und das gewünschte Landschaftsbild zu erhalten („öffentliche Güter“). s P X X* X** K' E‘ ges E‘ priv Abb.-41: Positive externe Effekte im Agrarsektor 180 7 Die Gemeinsame Agrarpolitik der Europäischen Union <?page no="181"?> In → Abb. 41 werden die Konsequenzen einer positiven Externalität illustriert. Aus individueller Sicht wird die landwirtschaftliche Produktion im Ausmaß x* angestrebt, solange der private Grenzertrag (E' priv ) höher ist als die Grenzkosten (K'). Da bei dieser Ausbringung der gesellschaftliche Vorteil (E' ges ) den individuellen Vorteil übersteigt, ist eine Ausdehnung der Bewirtschaftung auf x** wünschenswert. Dies kann durch Gewährung einer Subventionszahlung in Höhe von s erreicht werden. 7.2.4 Gründe einer Zuordnung der Agrarpolitik auf die EU-Ebene Eine Akzeptanz wirtschaftspolitischer Interventionen in den Agrarmarkt reicht allein noch nicht aus, auch die Übertragung dieses Aufgabenbereichs auf die EU-Ebene schon zu rechtfertigen. Welcher Mehrwert resultiert aus einer gemeinschaftlichen Agrarpo‐ litik gegenüber einer Agrarpolitik, die von den Mitgliedstaaten selbst durchgeführt wird (vgl. Europäische Kommission 2009)? • Eine Re-Nationalisierung der Agrarpolitik würde mit einer Auflösung des Prinzips der Markteinheit einhergehen, wenn die Staaten jeweils eigene Instrumente einsetzen, um den landwirtschaftlichen Bereich zu fördern. Nicht auszuschließen wäre sogar ein Subventionswettlauf im Agrarsektor und eine Politik, die sich auf Kosten der Nachbarländer (Beggar-thy-neigbour-Politik) Vorteile zu verschaffen sucht. • Soweit der Einfluss starker nationaler Lobbyaktivitäten auf der EU-Ebene eher zurückgedrängt werden kann, wird durch die GAP sogar eine Ausgabeneinsparung auftreten. Unter Hinweis auf ein Common-pool-Problem (vgl. Kapitel 3) könnte dem allerdings entgegnet werden, dass die Finanzierung über einen gemeinsamen EU-Haushalt für die Mitgliedsländer Anreize setzt, höhere Ausgaben zu fordern als dies im Fall einer Mittelbereitstellung aus eigenen Budgets der Fall wäre (vgl. von Cramon-Taubadel/ Heinemann/ Misch u.-a. 2013). • Eine gemeinsame Politik, die den Zusammenhalt zwischen den Mitgliedstaaten fördert, ist insbesondere bei grenzüberschreitenden Problemen zielführend. Dies betrifft die Bereiche des Umweltschutzes, der Klimaveränderung, des Wasserma‐ nagements oder des Erhalts der biologischen Artenvielfalt, zu denen die GAP europäische Lösungsansätze beisteuern kann. 7.3 Ziele der GAP Die im EWG-Vertrag enthaltenen Ziele der GAP wurden auch im Lissabon-Vertrag in Artikel 39 AEUV aufgenommen. Danach soll die GAP: • die Produktivität der Landwirtschaft durch Förderung des technischen Fortschritts, Rationalisierung der Produktion und durch bestmöglichen Ressourceneinsatz vor allem der Arbeitskräfte steigern; 7.3 Ziele der GAP 181 <?page no="182"?> • auf diese Weise der landwirtschaftlichen Bevölkerung insbesondere durch Erhö‐ hung des Pro-Kopf-Einkommens der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft eine angemessene Lebenshaltung ermöglichen; • die Märkte stabilisieren; • die Versorgung sicherstellen; • angemessene Verbraucherpreise gewährleisten. ⁈ Verständnisfrage | Welche Zielbeziehungen bestehen zwischen den agrarpo‐ litischen Zielen? Ergänzend wird angeführt, dass für die Gestaltung der GAP drei Rahmenbedingungen zu beachten sind: • die besondere Eigenart der landwirtschaftlichen Tätigkeit (sozialer Aufbau der Landwirtschaft, strukturelle und naturbedingte Unterschiede der verschiedenen landwirtschaftlichen Gebiete); • das Erfordernis, Anpassungen im landwirtschaftlichen Sektor geeignet und stu‐ fenweise vorzunehmen; • die Erkenntnis, dass die Landwirtschaft einen Wirtschaftsbereich darstellt, der mit der Volkswirtschaft eng verflochten ist. Der Zielerreichung ist eine gemeinsame Organisation der Agrarmärkte zugrunde zu legen, die als Maßnahmen „insbesondere Preisregelungen, Beihilfen für die Erzeugung und die Verteilung der verschiedenen Erzeugnisse, Einlagerungs- und Ausgleichsmaß‐ nahmen, gemeinsame Einrichtungen zur Stabilisierung der Ein- oder Ausfuhr“ (Artikel 40 AEUV) umfassen. Als gemeinsame Organisation der Agrarmärkte wurden für zahlreiche landwirtschaftliche Erzeugnisse (von Bananen über Getreide, Milch, Reis, Obst und Gemüse bis hin zu Wein und Zucker) Marktordnungen eingerichtet, die mit der Verordnung „Einheitliche GMO“ (VO (EG) Nr. 1234/ 2007 zusammengeführt und gestrafft wurden. Die mit Wirkung vom 1. Januar 2014 in Kraft getretene Verordnung (EU) Nr. 1308/ 2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 über eine gemeinsame Marktorganisation für landwirtschaftliche Erzeugnisse ist durch die Verordnung (EU) 2021/ 2117 vom 2. Dezember 2021 geändert worden. Vor dem Hintergrund der allgemeinen Ziele stellen sich der GAP neue Herausforderungen, die aus dem Zusammenwachsen der Weltwirtschaft, der Bewältigung von Umwelt‐ problemen (Klimawandel, Bodenerosion, Wasserknappheit) wie aus der Entwicklung des ländlichen Raums resultieren (vgl. Europäische Kommission 2010, Europäischer Rat/ Rat der Europäischen Union 2023a). Im Wesentlichen drei Aufgabenbereiche waren für die GAP 2014-2020 (inclusive der Regelverlängerung für den Übergang bis zum Jahr 2022) prioritär: • Lebensmittelerzeugung: Infolge der Globalisierung und Liberalisierung des Handelssystems wird die Landwirtschaft der EU in zunehmendem Maße dem 182 7 Die Gemeinsame Agrarpolitik der Europäischen Union <?page no="183"?> Druck des internationalen Wettbewerbs ausgesetzt, während gleichzeitig in Eu‐ ropa hohe Anforderungen an die Produktqualität, die Lebensmittelsicherheit und das Erfüllen von Umwelt- und Tierschutzstandards gestellt werden. Angesichts des weltweit zunehmenden Nahrungsmittelbedarfs ist die Wettbewerbsfähigkeit des landwirtschaftlichen Sektors in der EU zu steigern, um die Ernährungssicherheit auch global erfüllen zu können (vgl. Wissenschaftlicher Beirat für Agrarpolitik beim Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz 2012). • Nachhaltige Bewirtschaftung der natürlichen Ressourcen: Die Landwirt‐ schaft beeinflusst die ländlichen Räume und trägt maßgeblich zur Landschaftsge‐ staltung („Kulturlandschaft“) bei. Die ökologische und nachhaltige Bewirtschaf‐ tung der natürlichen Ressourcen schützt die Biodiversität und hilft bei der Bewältigung des Klimawandels. Dessen negative Folgen für die Landwirtschaft können durch Förderung umweltgerechter Arbeitsmethoden und innovativer Technologien gemildert werden. • Ausgewogene räumliche Entwicklung: Strukturschwächen ländlicher Gebiete mit Landflucht und Überalterung der Bevölkerung ziehen einen Anpassungsbedarf bei Infrastruktur und Grundversorgungseinrichtungen nach sich, der sich nach‐ teilig auf das gesellschaftliche Zusammenleben auswirkt. Die Unterstützung der Landwirtschaft und der Ausbau der lokalen Märkte erleichtern den Erhalt und die Gestaltung zukunftsfähiger Dorfstrukturen und des sozialen Gefüges in den ländlichen Regionen. Strategische Bedeutung wird der GAP im Zuge der Umsetzung des europäischen Grü‐ nen Deals beigemessen (vgl. Europäische Kommission 2019a), der erste klimaneutrale Kontinent bis 2050 zu werden. Für den Förderzeitraum 2023-2027 liegen der GAP neun spezifische Ziele und ein Querschnittsziel zugrunde, die sich an den Nachhaltig‐ keitszielen (Sustainable Development Goals - SDG) der Vereinten Nationen (2015) orientieren (vgl. Europäische Kommission 2019b) und bei der Maßnahmenplanung durch die Mitgliedstaaten zu beachten sind (vgl. Europäische Kommission 2020a, Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft 2023b). Box 43 |-Ziele der GAP-Reform 2023-2027 Spezifische Ziele: • ein angemessenes Einkommen unterstützen, • die Wettbewerbsfähigkeit steigern, • die Machtverhältnisse in der Lebensmittelkette ausgleichen, • den Klimawandel bekämpfen, • den nachhaltigen Einsatz natürlicher Ressourcen fördern, • die biologische Vielfalt schützen, • den Generationenwechsel unterstützen, 7.3 Ziele der GAP 183 <?page no="184"?> • Arbeitsplätze und Wachstum fördern, • eine hohe Lebensmittelqualität gewährleisten. Querschnittsziel: Wissen, Innovation und Digitalisierung stärken. 7.4 Instrumente der GAP Zentraler Ansatzpunkt der gemeinschaftlichen Agrarpolitik war die Schaffung eines Preissystems, das in → Abb. 42 skizziert wird. Die EU garantierte, dass die landwirt‐ schaftliche Produktion zu einem politisch bestimmten Mindestpreis - dem Interven‐ tionspreis p I - abgenommen wird, der den Weltmarktpreis p W deutlich übertraf. Dies verschaffte dem landwirtschaftlichen Sektor Preis- und Planungssicherheit. Für Agrarimporte wurde ein über dem Interventionspreis liegender Schwellenpreis p S vorgegeben, der dem Weltmarktpreis einschließlich Abschöpfungen bzw. Zöllen (z) entsprach („Festung Europa“). Genau genommen gab es mit dem Richtpreis p R noch einen weiteren Preis, der über den Schwellenpreis hinaus die Vermarktungs- und Transportkosten enthielt. Dieser Preis entsprach dem Preisniveau, das in der EU nach Auffassung der Agrarbehörden gelten sollte. Lag der tatsächliche Marktpreis (Erzeugerpreis) für Agrarprodukte unterhalb des Interventionspreises p I , wurde die Preisstützung wirksam; übertraf der Marktpreis den Richtpreis, konnte auf Import‐ mengen vom Weltmarkt zurückgegriffen werden. Vereinfachend wird in → Abb. 42 die Gleichheit von p R und p S neben der Konstanz des Weltmarktpreises angenommen. ⁈ Verständnisfrage | Warum wird der Schwellenpreis stets höher als der Interventionspreis sein? In den Anfängen der GAP war die EU ein Nettoimporteur landwirtschaftlicher Güter (→ Abb. 42A). Beim Marktpreis gemäß p S wird die Menge x N nachgefragt, die durch die inländische Produktion x A und die Importe (x N - x A ) gedeckt wird. Im Vergleich zum Weltmarktpreis sinkt zwar die Konsumentenrente, aber beim Preis p S erhöht sich die Produzentenrente und die EU erzielt Zolleinnahmen in Höhe von (x N - x A ) z. Für die EU als Nettoimporteur war die Interventionsregelung daher nur von begrenzter Relevanz. Ihre Bedeutung ergab sich im Zuge der Entwicklung der EU zum Nettoex‐ porteur, als sich mit Ausdehnung der Produktion durch biologischen und technischen Fortschritt die Angebotsfunktion nach rechts verlagerte (→ Abb. 42B) und beim Preis p I Agrarüberschüsse (Getreide-, Rindfleisch-, Butterberge) erwirtschaftet wurden (AÜ). Um der Preissenkungstendenz entgegenzutreten, mussten die Mengen von der EU aufgekauft werden, was zu Interventionsausgaben von (x' A - x' N ) p I führte. Dies erklärt den enormen Anstieg des Agrarbudgets. Da durch das Preisstützungssystem 184 7 Die Gemeinsame Agrarpolitik der Europäischen Union <?page no="185"?> diejenigen Anbieter bevorteilt wurden, die viel produzierten, kam es zu einer stärker industrialisierten Nahrungsmittelerzeugung und zu einem Konzentrationsprozess, der große landwirtschaftliche Betriebe begünstigte. X A X N P X A N p S p I p W z A) EU als Nettoimporteur B) EU als Nettoexporteur p I p* I p W X N A‘ AÜ X* N X‘ A X* A X‘ N P Abb.-42: Das GAP-Preissystem Die vom Markt genommenen Überschüsse mussten von der EU gelagert bzw. bei fehlender Lagermöglichkeit vernichtet werden. Alternativ bestand die Möglichkeit, die Produktionsmengen über Exporterstattungen im Ausmaß der Differenz zwischen 7.4 Instrumente der GAP 185 <?page no="186"?> p I und p W je Mengeneinheit am Weltmarkt anzubieten, was allerdings mit einem Druck auf den Weltmarktpreis einherging und Nachteile insbesondere für Länder mit exportorientiertem Agrarsektor (z. B. USA) hervorrief. Auch mittels angebotsbe‐ zogener Maßnahmen wie Flächenstilllegungsprogrammen oder der Zuweisung von Produktionsquoten auf die Mitgliedsländer im Rahmen der Garantiemengenregelung (Milchmarkt) konnte das Problem der Überschussproduktion nicht gelöst werden. Eine Änderung der GAP war unvermeidlich. In → Abb.-43 werden die verschiedenen Reformetappen überblicksartig aufgelistet (vgl. Europäischer/ Rat der Europäischen Union 2023b, Weingarten 2023, Lakner/ Röder 2024). Im Zuge des Umgestaltungsprozesses der GAP erlangten die Direktzahlungen an die Landwirte zunehmende Bedeutung. Über diese Ausgaben im Rahmen der sog. 1. Säule der gemeinschaftlichen Agrarpolitik hinaus wurde mit der Entwicklung des ländlichen Raums die 2. Säule der GAP begründet. Anders als die 1. Säule der GAP, die vollständig aus dem EU-Haushalt finanziert wird, werden die Ausgaben der 2. Säule im Rahmen der geteilten Mittelverwaltung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten kofinanziert. Die frühen Jahre (1960er und 1970er) Nahrungsmittelsicherheit; verbesserte Produktivität; Marktstabilisie‐ rung; Einkommensunterstützung Die Krisenjahre (1980er) Überproduktion; ausufernde Ausgaben; internationale Reibungsmo‐ mente; strukturelle Maßnahmen GAP-Reform (1992) verringerte Überschüsse; Umwelt; Einkommensstabilisierung; Haus‐ haltsstabilisierung Agenda (2000) Vertiefung des Reformprozesses; Wettbewerbsfähigkeit; ländliche Entwicklung GAP-Reform (2003) Marktorientierung; Verbraucheranliegen; ländliche Entwicklung; Umwelt; Vereinfachung; WTO-Kompatibilität Gesundheitscheck (2008) Verstärkung der Reform 2003; neue Herausforderungen; Risikoma‐ nagement GAP-Reform (post 2013) Greening, stärkere Zielorientierung; Mittelumverteilung; Ende der Produktionsbeschränkungen; Nahrungsmittelketten; Forschung und Innovation GAP-Reform (2023) dezentralere Governance-Struktur; nationale Strategiepläne; „Grüne Architektur“ (Konditionalität, Öko-Regelungen, Agrarumwelt- und Klimamaßnahmen); stärkere Ergebnisevaluation Abb.-43: Reformen der GAP Um die Probleme durch das Preisstützungssystem in den Griff zu bekommen, wurden die Interventionspreise (z. B. für Getreide) abgesenkt, die sich den Weltmarktpreisen annäherten (→ Abb. 42B). Die Preisreduktion von p I auf p I* verringerte den Anreiz zur Überproduktion (x A * - x N *) und beseitigte weitgehend die Preisverzerrungen am Welt‐ 186 7 Die Gemeinsame Agrarpolitik der Europäischen Union <?page no="187"?> markt für Agrarprodukte. Damit verlor das Preisstützungssystem seine Bedeutung als zentrales Instrument der Agrarpolitik. Eine Entlastung des Agrarbudgets trat allerdings nicht ein, da mit der Verminderung der Interventionspreise eine Einkommensreduktion für die Landwirte einherging, die durch Direktzahlungen aus dem Agrarhaushalt aufgefangen wurde. Der Einkommensausgleich im Umfang von (p I - p I *)x' A übertraf sogar den Verlust an Produzentenrente (vgl. Köster/ El-Agraa 2011, S. 324) um 1/ 2 (p I - p I *)(x' A - x A *). Die anfänglich an die Erzeugung gebundenen Einkommensbeihilfen wurden mit der Reform von 2003 weitgehend entkoppelt und als von der Produktion unabhängige Betriebsprämien zur Grundsicherung des Einkommens gewährt. Diese Trennung erlaubte es, landwirtschaftliche Produktionsentscheidungen nicht mehr nach den gewährten Subventionen, sondern an den Marktbedürfnissen auszurichten. Die Marktausrichtung der gemeinschaftlichen Agrarpolitik wurde forciert. Um die Direktzahlungen der Öffentlichkeit gegenüber rechtfertigen zu können, wurde die Ge‐ währung von Einkommensbeihilfen an Verpflichtungen geknüpft (Cross-Compliance), bestimmte Grundanforderungen der landwirtschaftlichen Produktion für die öffentli‐ che Gesundheit, beim Umwelt- und Tierschutz, der Tier- und Pflanzengesundheit zu erfüllen. Um den erforderlichen Anpassungsprozess im Agrarsektor zu unterstützen und der Landwirtschaft neue Betätigungsfelder zu eröffnen, wurde mit den Beschlüssen der Agenda 2000 die Basis für die Entwicklung des ländlichen Raums gelegt (2. Säule der gemeinschaftlichen Agrarpolitik). Die Förderung betrifft Maßnahmen zur Verbes‐ serung der Wettbewerbsfähigkeit der Agrarwirtschaft (Humanressourcen, Produkti‐ onsbedingungen), zum Umweltschutz (Energieverbrauch, Emission) und zur Stärkung der ländlichen Strukturen (Dorferneuerung, Fremdenverkehr). Die Ressourcen wurden durch eine Mittelumschichtung aus der 1. Säule der GAP zugunsten der 2. Säule der gemeinschaftlichen Agrarpolitik (Modulation) gewonnen. Für die 1. Säule der GAP wurde institutionell der Europäische Garantiefonds für die Landwirtschaft (EGFL) und für die 2. Säule der Europäische Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) eingerichtet. Box 44 |-Problematik der Direktzahlungen Im Jahr 2023 entfallen 69 % der EU-Agrarausgaben auf auflagengebundene Direkt‐ zahlungen zur Einkommensunterstützung in der Landwirtschaft (vgl. Deutscher Bauernverband (Hrsg.) 2023, S. 141). Auffallend ist die starke Konzentration der Direktzahlungen auf die großen landwirtschaftlichen Betriebe, die mit der Konzentration des Bodens korreliert. Aus → Abb. 44 lässt sich die Verteilung der Direktzahlungen auf die Empfänger nach Größe der landwirtschaftlichen Betriebe für die EU bzw. Deutschland entnehmen (vgl. Europäische Kommission 2024, S. 8 und S.-20). 7.4 Instrumente der GAP 187 <?page no="188"?> Betriebs‐ größen‐ klasse (in Hektar) Begünstigte Fläche Direktzahlungen (%) EU D EU D EU D ≤ 5 48,4 21,1 4,7 1,1 5,5 1,2 5-250 50,4 75,8 68,0 62,7 71,6 65,0 ≥ 250 1,3 3,2 27,3 36,2 22,9 33,8 Abb.-44: Verteilung der Direktzahlungen auf die Empfänger in der EU und in Deutschland (D), 2022 Soweit sich die Förderung auf die von einem Betrieb bewirtschaftete Hektarfläche bezieht, können die der Landwirtschaft gesellschaftlich zugeschriebenen ökolo‐ gischen und sozialen Ziele durch diese Art der Direktzahlungen nicht erreicht werden (vgl. von Cramon-Taubadel 2o17, OECD 2023, S. 129ff.). Hinzu kommt, dass infolge der Kapitalisierung die Empfänger von Direktzahlungen nicht immer die tatsächlich Begünstigten sind. So finden Überwälzungen auf die Bodeneigen‐ tümer statt, wenn Pächter landwirtschaftlicher Flächen die Zahlungen über die Bodenpacht an die Verpächter weiterreichen müssen (vgl. Wissenschaftlicher Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft 2018, S.-26-42). Auch eine Überwälzung der Direktzahlungen auf die Bodenpreise kommt den Landeigentü‐ mern zugute (vgl. Forstner/ Duden/ Ellßel u.-a. 2018, S.-15-19, Balmann 2024). Kritiker dieser flächenbezogenen Direktzahlungen plädieren daher für deren schrittweise Abschaffung und eine konsequente Ausrichtung der Förderpolitik, die der landwirtschaftlichen Bereitstellung öffentlicher Güter dient (vgl. Zukunfts‐ kommission Landwirtschaft 2021, insbes. Kapitel 4, OECD 2023). Mit der Reform der GAP wird die Landwirtschaft für die Zeit ab 2023 ökologischer und nachhaltiger ausgerichtet, weitere Handlungsspielräume sind auszuloten. Mit dem Ziel einer ambitionierteren gemeinsamen Agrarpolitik insbesondere beim Umwelt- und Klimaschutz gilt für die GAP 2023-2027 ein neues Umsetzungsmodell, das den Mitgliedstaaten mehr Flexibilität gewährt und ihnen eine stärkere Verantwortung für den Einsatz der GAP-Mittel überträgt (vgl. Europäische Kommission 2022). Jeder Mitgliedstaat erstellt einen mit der Kommission abgestimmten Strategieplan zur Errei‐ chung der GAP-Ziele, in dem der jeweilige Handlungsbedarf und die vorgesehenen Interventionen (Fördermaßnahmen) niedergelegt und regelmäßig evaluiert werden. 188 7 Die Gemeinsame Agrarpolitik der Europäischen Union <?page no="189"?> Die Gewährung der Direktzahlungen wie zusätzlicher Fördermaßnahmen (Agrar‐ umwelt- und Klimamaßnahmen) werden an die Einhaltung bestimmter Bewirtschaf‐ tungsauflagen („erweiterte Konditionalität“) gebunden, welche die Ansprüche aus dem bisherigen Cross Compliance (Grundanforderungen der Betriebsführung, Standards für den guten landwirtschaftlichen und ökologischen Zustand von Flächen) anhebt; die verpflichtenden Regelungen über ökologische Vorrangflächen (Greening) wurden in die Konditionalität überführt. Ziel der Einführung einer sozialen Konditionalität in der EU-Agrarpolitik ist es, die Einhaltung arbeitsschutz- und arbeitsrechtlicher Vorschriften unionsweit zu gewährleisten (vgl. Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft 2023c). Daneben gehören zur neuen „Grünen Architektur“ die in der 1. Säule der GAP verankerten (einjährigen) Öko-Regelungen, die von den Mitgliedstaaten in ihren Stra‐ tegieplänen angeboten werden müssen, deren Inanspruchnahme allerdings freiwillig erfolgt. Hinzu kommen die Agrarumwelt- und Klimamaßnahmen der 2. Säule der GAP, die mehrjährig sind. In beiden Säulen der GAP werden erbrachte Leistungen für Klima und Umwelt besonders gefördert, deren Anforderungen über die erweiterte Konditionalität hinausgehen (vgl. Bundesministerium für Ernährung und Landwirt‐ schaft 2022b, Deutscher Bauernverband (Hrsg.) 2023, S.-139ff.). Zu forcieren bleibt die Abstimmung der nationalen GAP-Pläne mit dem Green Deal der EU (vgl. Europäischer Rechnungshof 2024). Die Politik der ländlichen Entwicklung im Rahmen der 2. Säule der GAP besteht im Erreichen langfristiger strategischer Ziele: Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft, nachhaltige Bewirtschaftung der natürlichen Ressourcen und Stärkung der Wirtschaftskraft in den ländlichen Regionen (vgl. Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft 2022b). 7.5 Nachhaltiges Lebensmittelsystem - „Vom Hof auf den Tisch“ Die Maßnahmen der GAP tragen maßgeblich dazu bei, ein belastbares und nachhaltiges Lebensmittelsystem zu etablieren, das gegen künftige Krisen wie die Covid-19-Pande‐ mie und zunehmend auftretende Naturkatastrophen (Dürren, Überschwemmungen, Waldbrände) resilient ist. Im Mittelpunkt der Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ steht die Wertschöpfungskette von der Lebensmittelerzeugung und -verarbeitung über den Transport und Vertrieb bis hin zur Vermarktung und dem Lebensmittelverzehr (vgl. Europäische Kommission 2020b). Als Ziele sollen erreicht werden: • Gewährleistung der Versorgung mit ausreichenden, erschwinglichen und nahrhaf‐ ten Lebensmitteln im Rahmen der Belastbarkeitsgrenzen des Planeten; • Halbierung des Einsatzes von Pestiziden und Düngemitteln und des Umsatzes antimikrobieller Mittel; • Erhöhung der für ökologische/ biologische Landwirtschaft genutzten Fläche; 7.5 Nachhaltiges Lebensmittelsystem - „Vom Hof auf den Tisch“ 189 <?page no="190"?> • Förderung eines nachhaltigeren Lebensmittelkonsumverhaltens und einer gesün‐ deren Ernährung; • Verringerung von Lebensmittelverlusten und -verschwendung; • Bekämpfung von Lebensmittelbetrug entlang der Versorgungskette; • Verbesserung des Tierwohls. Gemeinsam mit der EU-Biodiversitätsstrategie für 2030 (vgl. Europäischer Rat/ Rat der Europäischen Union 2023c) stellt die Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ ein Schlüsselelement des europäischen Grünen Deals dar. 7.6 Schlussbemerkung In → Box 45 werden zentrale Pro- und Contra-Argumente der EU-Agrarpolitik nochmals summarisch zusammengefasst. Zu finden bleibt eine Balance zwischen Ökonomie und Ökologie in der Landwirtschaft. Box 45 | Pro und Kontra der EU-Agrarpolitik Erfolgreiche EU-Agrarpolitik: Die Vertreter der europäischen Agrarpolitik betonen die Leistungen des Agrarsektors für die Wohlfahrt der Menschen in Europa und rechtfertigen damit den hohen Anteil der Agrarpolitik an den Ausgaben der EU. Quantität und Qualität der Nahrungsmittel sind aus ihrer Sicht und mit Blick auf den internationalen Vergleich vorbildhaft, die Produktionsmethoden tragen den modernen Erwartungen an Naturschutz und an nachhaltiger Bewirtschaftung Rechnung. Die Agrarstrukturpolitik hat aus dieser Perspektive den Strukturwandel erfolgreich begleitet, es kam zu einer maßvollen und die ökonomischen und ökologischen Rahmenbedingungen berücksichtigenden Veränderung der Betriebs‐ struktur. Die Pflege der Landschaften, die zunehmend in den Blickpunkt der Gesellschaft und der Politik gerückt ist, ist erfolgreich gewesen, die hohe Lebens‐ qualität in Europa ist auch dieser erfolgreichen Politik zu verdanken. Die Reform der Agrarförderung ist ein Beispiel für die Anpassungsfähigkeit europäischer Politik. Kritik an der Agrarpolitik: Die absolute Höhe der Zahlungen und ihr Anteil an den Gesamtausgaben der EU wird im In- und Ausland kritisiert. Im Ausland wird insbesondere die wettbewerbsverzerrende Wirkung der Agrarpolitik bemängelt, die EU-Agrarpolitik verdränge leistungsstarke Exporteure anderer Länder und substituiere einheimische Produktion in Entwicklungsländern. Die Kritik entzün‐ det sich auch daran, dass die EU noch immer zu wenig in Zukunftstechnologien investiert. Von der EU-Agrarpolitik wird eine stärkere Orientierung an Prinzipien der Nachhaltigkeit („Öffentliches Geld für öffentliche Umweltleistungen“) erwar‐ tet. Der Status quo der EU-Agrarpolitik sei der Macht der Agrarindustrie und der 190 7 Die Gemeinsame Agrarpolitik der Europäischen Union <?page no="191"?> häufig auf großbäuerliche Interessen ausgerichteten Bauernverbände geschuldet. Unter dem Druck europaweiter Proteste der Landwirte werden Umweltmaßnah‐ men zurückgenommen und Umweltauflagen abgeschwächt (Pestizidverordnung, Vorgaben zu Brachflächen, Fruchtfolgen). ➲ Wichtige Begriffe Marktorganisation, Gemeinschaftspräferenz, Produktivitätssteigerungen, Externalitä‐ ten, Marktordnung, Interventionspreis, Einkommensbeihilfen, Grüne Architektur, Biodiversität, räumliche Entwicklung ➲ Literatur Balmann, Alfons (2024): „Landwirtschaft im nationalen Wettbewerb und die Rolle des Boden‐ marktes“, in: Wirtschaftsdienst, 104. Jg., H. 3, S.-148-152 Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (2022a): Geschichte der Gemeinsamen Agrarpolitik, Stand: 3. November 2022, Internet: http: / / www.bmel.de/ DE/ themen/ landwirts chaft/ eu-agrarpolitik-und-foerderung/ gap/ gap-geschichte.html Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (2022b): Grundzüge der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) und ihrer Umsetzung in Deutschland, Stand: 23.1.2022, Internet: http: / / www.bmel.de/ DE/ themen/ landwirtschaft/ eu-agrarpolitik-und-foerderung/ gap/ gap-nationa le-umsetzung.html Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (2023a): Preisschwankungen (Volatilität) an den Warenterminmärkten für Agrarrohstoffe, Stand: 17. Mai 2023, Internet: http: / / www. bmel.de/ DE/ themen/ internationales/ aussenwirtschaftspolitik/ handel-und-export/ preisvolat ilitaet.html Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (2023b): Den Wandel gestalten! Zusam‐ menfassung zum GAP-Strategieplan 2023-2027, Bonn Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (2023c): Gesetzentwurf zur sozialen Konditionalität in der GAP geht in Länder- und Verbändeanhörung, Stand: 12. Dezember 2023, Internet: http: / / www.bmel.de/ SharedDocs/ Meldungen/ DE/ Presse/ 2023/ 231212-gap-so ziale-konditionalitaet.html Deutscher Bauernverband (Hrsg.) (2023): Situationsbericht 2023/ 24. Trends und Fakten zur Landwirtschaft, Berlin Europäische Kommission (2009): Why do we need a Common Agricultural Policy? Discussion Paper by DG Agriculture and Rural Development, Brüssel Europäische Kommission (2010): Die GAP bis 2020: Nahrungsmittel, natürliche Ressourcen und ländliche Gebiete - die künftigen Herausforderungen. Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen, KOM(2010) 672/ 5, Brüssel ➲ Wichtige Begriffe 191 <?page no="192"?> Europäische Kommission (2019a): Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen. Der europäische Grüne Deal, COM(2019) 640 final, Brüssel Europäische Kommission (2019b): Reflexionspapier. Auf dem Weg zu einem nachhaltigen Europa bis 2030, COM(2019) 22, Brüssel Europäische Kommission (2020a): Commission Staff Working Document. Analysis of links between CAP Reform and Green Deal, SWD(2020) 93 final, Brüssel Europäische Kommission (2020b): Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regio‐ nen, „Vom Hof auf den Tisch“ - eine Strategie für ein faires, gesundes und umweltfreundliches Lebensmittelsystem., COM (2020) 381 final Europäische Kommission (2021): The EU’s 2021-2027 long-term Budget and NextGenerationEU. Facts and Figures, Luxemburg Europäische Kommission (2022): Factsheet - a greener and fairer CAP, Internet: https: / / agricul ture.ec.europa.eu/ common-agricultural-policy/ cap-overview/ cap-2023-27_de ness_en_0.pdf Europäische Kommission (2024): Direct payments to agricultural producers - graphs and figures. Financial year 2022, Internet: https: / / agriculture.ec.europa.eu/ document/ download/ f00e2954 -94a3-405f-86ec-feb69751e0ab_en? filename=direct-aid-report-2022_en.pdf Europäischer Rat/ Rat der Europäischen Union (2023a): Feeding Europe. 60 years of common agricultural policy, Internet: https: / / www.consilium.europa.eu/ en/ 60-years-of-common-agri cultural-policy/ Europäischer Rat/ Rat der Europäischen Union (2023b): Zeitleiste - Geschichte der GAP, Internet https: / / www.consilium.europa.eu/ de/ policies/ cap-introduction/ timeline-history/ Europäischer Rat/ Rat der Europäischen Union (2023c): Biodiversität: So schützt die EU die Natur, Stand: 20. 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Auflage, Cambridge, Cambridge University Press, S.-373-410 Lakner, Sebastian/ Röder, Norbert (2024): „Die Gemeinsame Agrarpolitik der EU: Flaggschiff-Po‐ litik oder ewige Reformruine? “, in: Wirtschaftsdienst, 104. Jg., H. 3, S.-159-164 OECD (2023): Policies for the Future of Farming and Food in the European Union, OECD Agriculture and Food Policy Reviews. OECD Publishing, Paris 192 7 Die Gemeinsame Agrarpolitik der Europäischen Union <?page no="193"?> Vereinte Nationen (2015): A/ RES/ 70/ 1, Resolution der Generalversammlung, verabschiedet am 25. September 2015, Transformation unserer Welt: die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung, Internet: https: / / www.un.org/ depts/ german/ gv-70/ band1/ ar70001.pdf von Cramon-Taubadel, Stephan/ Heinemann, Friedrich/ Misch, Florian/ Weiss, Stefani (2013): „Does the CAP cap agricultural spending in the EU? “, in: Bertelsmann-Stiftung: The European Added Value of EU Spending: Can the EU Help its Member States to Save Money? Exploratory Study, Gütersloh, Brüssel, S.-36-55 von Cramon-Taubadel, Stephan (2017): The Agricultural Policy and the next EU budget, Reflection Paper No. 2: Re-adjusting the Goals of the CAP, Bertelsmann Stiftung, Gütersloh Weingarten, Peter (2023): Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik: eine unendliche Geschichte, Johann Heinrich von Thünen-Institut, Institut für Lebensverhältnisse in ländlichen Räumen, Braunschweig, Internet: https: / / www.thuenen.de/ de/ themenfelder/ langfristige-politikkonze pte/ reform-der-gemeinsamen-agrarpolitik-eine-unendliche-geschichte Wissenschaftlicher Beirat für Agrarpolitik beim Bundesministerium für Ernährung, Landwirt‐ schaft und Verbraucherschutz (2010): EU-Agrarpolitik nach 2013. Plädoyer für eine neue Politik für Ernährung, Landwirtschaft und ländliche Räume. Gutachten, Berlin Wissenschaftlicher Beirat für Agrarpolitik beim Bundesministerium für Ernährung, Landwirt‐ schaft und Verbraucherschutz (2012): Ernährungssicherung und nachhaltige Produktivitäts‐ steigerung. Stellungnahme, Berlin Wissenschaftlicher Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (2o18): Für eine gemeinwohlo‐ rientierte Gemeinsame Agrarpolitik der EU nach 2020: Grundsatzfragen und Empfehlungen. Stellungnahme, Berlin Zukunftskommission Landwirtschaft (2021): Zukunft Landwirtschaft. Eine gesamtgesellschaft‐ liche Aufgabe. Empfehlungen der Zukunftskommission Landwirtschaft, Berlin ➲ Literatur 193 <?page no="194"?> 8 Kohäsion in der Europäischen Union und die Bedeutung der Regionalpolitik eLearning | zu diesem Kapitel finden Sie einen eLearning-Kurs online. Folgen Sie dem Link oder nutzen Sie den QR-Code. 🔗 https: / / narr.kwaest.io/ s/ 1345 Leitfragen • Welche Empfehlung gibt die neoklassische Wirtschaftstheorie hinsichtlich der Kohäsion in Wirtschaftsräumen? • Wie begründet die EU die Notwendigkeit der Regionalpolitik in der EU? • Wie lässt sich die Architektur der Regionalpolitik beschreiben? • Welche kritischen Einwände gegen die Regionalpolitik werden diskutiert? 8.1 Einführung In der Präambel des Lissabon-Vertrages wird das Selbstverständnis der Union als Gemeinschaft mit Blick auf regionale Disparitäten deutlich artikuliert: Die EU will den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt, d. h. die Kohäsion in der Union, fördern. Eine harmonische Entwicklung der Union als Ganzes wird angestrebt. Die Lebensverhältnisse in der EU sollen durch geringe regionale Unterschiede des Entwicklungsstands gekennzeichnet sein, der Abstand zwischen den verschiedenen Regionen soll reduziert und eine konvergente wirtschaftliche Entwicklung erreicht werden; ein besonderes Augenmerk erhalten die am wenigsten begünstigten Gebiete. Die Union bekennt sich zur solidarischen Unterstützung der schwächsten Mitgliedstaa‐ ten. Auch in der Bundesrepublik Deutschland hat ein solches Bekenntnis Tradition. Im Grundgesetz wird auf die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse hingewiesen (Artikel 72, Absatz 2 GG). Wie → Abb. 45 zeigt, weist eine Politik der Konvergenz mehrere Dimensionen auf. Vor allem die Outcome-Konvergenz im Sinne einer realen Konvergenz steht im Vordergrund, wenn es darum geht, den Entwicklungsstand und die Qualität der Lebens‐ verhältnisse zu erfassen und vergleichbar zu machen, und damit Handlungsbedarf für die Union zu identifizieren. Die Inputkonvergenz bezieht sich darauf, auf gemeinsame Regeln in der EU hinzuarbeiten und die Regierungs- und Institutionenqualität zu stärken. Davon zu trennen ist die zyklische Konvergenz, die auf die Synchronizität des Konjunkturzyklus in den Euroländern abstellt (vgl. Dolls/ Fuest/ Krolage u. a. 2018, S.-18ff., Franks/ Barkbu/ Blavy u.-a. 2018). <?page no="195"?> Outcome-Konvergenz • Reale Konvergenz (BIP, Arbeitslosigkeit) • Monetäre Konvergenz (Preise, Zinssätze) Input-Konvergenz zyklische Konvergenz (Gleichlauf des Konjunkturzyklus in den Euro-Ländern) (Gemeinsame Regeln, Regierungs-/ Institutionenqualität) Abb.-45: Dimensionen der Konvergenz Die Betrachtung der Unterschiede des Bruttoinlandsproduktes pro Kopf ist trotz der Kritik an dem Konzept hilfreich und üblich. → Abb. 46 zeigt für ausgewählte Länder über den Zeitraum 2010-2022 die Entwicklung des durchschnittlichen Bruttoinlands‐ produktes pro Kopf. Die Werte sind im Vergleich zum EU-Durchschnitt angegeben und basieren auf den Daten, die um Kaufkraftunterschiede in den Ländern bereinigt wurden. Länder Jahr 2010 2012 2014 2016 2018 2020 2022 Deutschland 119 122 125 123 123 123 117 Frankreich 108 106 107 105 103 105 102 Italien 104 102 97 98 96 94 96 Spanien 95 89 89 91 90 83 82 Griechenland 83 70 71 67 66 62 68 Ungarn 65 66 68 68 71 75 78 Litauen 60 69 75 75 81 88 89 Polen 62 66 66 68 70 76 80 Rumänien 52 56 55 58 66 73 77 Bulgarien 44 46 47 49 51 55 59 Abb.-46: BIP pro Kopf in ausgewählten EU-Ländern in Prozent des mittleren BIP pro Kopf in der EU, kaufkraftbereinigt | Quelle: Eurostat (online Datencode: SDG_10_10), eigene Berechnung 8.1 Einführung 195 <?page no="196"?> Anders als die mittel- und osteuropäischen Staaten, die den Entwicklungsrückstand im Betrachtungszeitraum verringern konnten, fielen die von der Wirtschaftskrise 2009 be‐ sonders stark betroffenen südeuropäischen Länder im Vergleich zum EU-Durchschnitt zurück. Insgesamt bleiben die Diskrepanzen im Pro-Kopf-Einkommen substanziell; gemessen in Kaufkraftparitäten beträgt im Jahr 2023 das BIP pro Kopf in Luxemburg als dem reichsten EU-Land (89.800 €) mehr als das 3,5-fache des Wertes in Bulgarien (24.200-€) als einkommensschwächstes Land der EU. Ein anderer Indikator, der ein Schlaglicht auf die Lebensverhältnisse wirft und für die Bewertung des Zusammenhalts in der Union Verwendung findet, ist die Arbeitslo‐ senquote (Zahl der Arbeitslosen als prozentualer Anteil der Erwerbspersonen). Nach der historischen Umwälzung in Europa in den 1990er-Jahren war die Arbeitslosigkeit in osteuropäischen Ländern ein schwerwiegendes Problem. Hier kam es mittlerweile zu einer deutlichen Entspannung. Die Eurokrise hat seit 2008 zu einem erheblichen Anstieg der Arbeitslosigkeit vor allem in Ländern Südeuropas geführt. In vielen Ländern ist die Arbeitslosenquote zwischenzeitlich wieder gesunken. → Abb. 47 zeigt die (quartalsweise) Entwicklung der Arbeitslosigkeit im Zeitraum ab dem Jahr 2011. Im Juni 2024 lag die (saisonbereinigte) Arbeitslosenquote in der EU bei 6,0 % und im Euroraum bei 6,5 %. Die Mitgliedstaaten mit der höchsten Arbeitslosenquote sind Spanien (11,5 %) und Griechenland (9,6 %). Die Arbeitslosigkeit unter jungen Menschen war entsprechend mehr als doppelt so hoch wie im Durchschnitt aller Erwerbstätigen und belief sich im Juni 2024 auf 14,1-% (Euroraum) und 14,4-% (EU). Abb.-47: Arbeitslosenquote in Eurozone und EU, 2011 bis 2024 | Quelle: Eurostat (1. August 2024) 196 8 Kohäsion in der Europäischen Union und die Bedeutung der Regionalpolitik <?page no="197"?> Ein Indikator, der einen Hinweis auf die langfristigen Wachstumsperspektiven zu geben vermag, ist die Innovationsorientierung, die beispielsweise durch die Ausgaben (pro Kopf) für Forschung und Entwicklung oder die Zahl der Patentanmeldungen erfasst werden kann. Die Europäische Kommission (2024a) hat für das Jahr 2024 vier Länder als Innovationsführer identifiziert (Dänemark, Schweden, Finnland, Nie‐ derlande). Deutschland fällt in die zweite Gruppe der starken Innovatoren mit einer Innovationsleistung, die über oder nahe dem EU-Durchschnitt liegt. Der Gruppe der moderaten Innovatoren folgt die Schlussgruppe der aufstrebenden Innovatoren, in der sich sechs Mitgliedstaaten befinden mit Bulgarien und Rumänien am Ende der Skala. Gemäß den Annahmen der Wachstumstheorie ist ceteris paribus die Kohäsion für jene Länder, in denen Innovationsimpulse schwach ausgeprägt sind, auch mittelfristig gefährdet. Der Zusammenhalt in der Union kann nicht nur durch Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten, sondern auch durch Entwicklungsdivergenzen zwischen den Regionen der Mitgliedstaaten bedroht werden (vgl. Pina/ Sicari 2021). Länder Relation der regiona‐ len Einkommensdisparität Länder Relation der regiona‐ len Einkommensdisparität Rumänien 3,9 Dänemark 2,3 Tschechien 3,5 Frankreich* 2,3 Ungarn 3,2 Griechenland 2,2 Polen 3,0 Deutschland 2,0 Kroatien 2,9 Niederlande 1,9 Italien 2,8 Spanien 1,9 Slowakei 2,8 Österreich 1,7 Belgien 2,7 Schweden 1,6 Irland 2,7 Portugal 1,5 Bulgarien 2,3 Finnland 1,5 * ohne Überseegebiete; nur EU-Mitgliedsländer mit mehr als zwei NUTS2-Regionen Abb.-48: Verhältnis zwischen höchstem und niedrigstem Pro-Kopf-Einkommen innerhalb der EU-Mit‐ gliedstaaten nach Regionen, 2022, kaufkraftbereinigt, EU27=100 | Quelle: Eurostat (online Datencode: TGS00006), eigene Berechnung Die → Abb. 48 zeigt die Spannweite der durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen, demonstriert am Unterschied zwischen den Regionen eines Landes mit dem höchsten und dem niedrigsten Wert. Viele mit unterschiedlichen Messmethoden (Theil-Index, Gini-Index etc.) arbeitende empirische Studien belegen, dass die Ungleichheit der 8.1 Einführung 197 <?page no="198"?> Lebensverhältnisse innerhalb der Nationen der EU generell nicht abgenommen hat und von einer Konvergenz der Lebensverhältnisse in dieser Hinsicht nicht gesprochen werden kann. Insofern gibt es simultan eine Konvergenz zwischen den Ländern, ohne dass in den Ländern die Ungleichheit abnimmt. 8.2 Theoretische Überlegungen zur Kohäsion in der Union Kohäsion zählt zu den gemeinsam verabredeten Zielen der Union. Folgt man der Logik, dass Kohäsion abhängig von gleichen Lebensverhältnissen in allen Regionen der EU ist, ist nachfolgend zu klären, welche Handlungsempfehlungen daraus für die Wirtschaftspolitik abgeleitet werden können. Dabei kann die Frage, welches wirtschaftspolitische Handeln geeignet ist, um die Gleichheit der Lebensverhältnisse in einem Wirtschaftraum herbeizuführen, sehr unterschiedlich beantwortet werden. Die Antwort wird auch beeinflusst von der Einschätzung der Wirkungsweise der Märkte, der Potenz staatlichen Handelns und der als verantwortlich angesehenen Ebene. Die beste Kohäsionspolitik ist Ordnungspolitik und Vertrauen in die marktgetriebenen Prozesse Aus einer neoklassischen Sicht kann argumentiert werden, dass die wirtschaftlichen Anpassungsprozesse stark genug sind, zu einer Gleichheit der Lebensbedingungen zu führen (vgl. Heinemann 2009, S. 8, Heinemann/ Hagen/ Mohl u. a. 2010). Notwendig ist aus dieser Perspektive die Schaffung funktionierender Märkte, Zugänge zu Pro‐ duktionsfaktoren müssen ermöglicht werden, eine interventionistische auf Kohäsion ausgerichtete Politik ist nicht erforderlich. Kohäsion findet dort statt, wo Staaten die richtigen Anreize für die Wirtschaftsakteure setzen, verlässliche Grundlagen für Investitionen schaffen, Löhne die Produktivität der Arbeitnehmer widerspiegeln, wo Unternehmen die Möglichkeiten, die sich an den Standorten bieten, nutzen können. In funktionierenden Märkten, so die Überzeugung jener, die diese Position vertre‐ ten, kommt es zu Anpassungsprozessen bei Löhnen und damit den Einkommen. Die Theorie der komparativen Kostenvorteile und das Heckscher-Ohlin-Theorem beschreiben die Wirkungsweise der Marktmechanismen, welche die Attraktivität von zunächst unterentwickelten Regionen heben können und damit zur Kohäsion beitragen. Box 46 | Konvergenzkonzepte Konvergenz bedeutet, dass es zu einer Angleichung in der Wirtschaftskraft im Querschnitt der Mitgliedstaaten in der EU über die Zeit kommt. Mit der Sigma-Kon‐ vergenz und der Beta-Konvergenz liegen zwei Messkonzepte vor. 198 8 Kohäsion in der Europäischen Union und die Bedeutung der Regionalpolitik <?page no="199"?> Die → Abb. 49 zeigt schematisch, dass sich die Variation der realen Pro-Kopf-Ein‐ kommen (y) in den Mitgliedstaaten zwischen den beiden Zeitpunkten t und t + T verringert. Da die Streuung einer Größe anhand ihrer Standardabweichung (Symbol: σ) gemessen wird, liegt Sigma-Konvergenz vor. Abb.-49: Schematische Darstellung der Sigma-Konvergenz Soweit sich im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung auch der Durchschnittswert der Pro-Kopf-Einkommen verändert, wird auf den Variationskoeffizienten als Maß für die Streuung relativ zum Mittelwert zurückgegriffen. → Abb. 50 enthält den Variationskoeffizienten des realen BIP pro Kopf (kaufkraftbereinigt) für die EU-28 und die („alten“) EU-15-Staaten im Zeitraum zwischen 2000 und 2018. Während die Entwicklung der Einkommensdisparität bis zum Jahr 2009 eine sinkende Tendenz aufweist (EU-28), lässt sich ab diesem Zeitpunkt keine signifikante weitere Verbes‐ serung erkennen. Für die EU-15 ist demgegenüber ab 2009/ 2010 krisenbedingt ein starker Anstieg in der regionalen Disparität festzustellen. 8.2 Theoretische Überlegungen zur Kohäsion in der Union 199 <?page no="200"?> Abb.-50: Regionale Disparitäten (NUTS2), EU-28 und EU-15, BIP pro Kopf (kaufkraftbereinigt) | Quelle: Monfort 2020, S.-6 Was den Einfluss der Covid-19-Pandemie auf die Konvergenzentwicklung angeht, wird von Eurofound (2023, S. 51-61) angesichts steigender Werte für die Standard‐ abweichung im Pro-Kopf-Einkommen für die EU-27-Staaten im Jahr 2020 und besonders in 2021 von einer Sigma-Divergenz in der Einkommensentwicklung ausgegangen. Gegenüber der σ-Konvergenz stellt die Beta-Konvergenz auf die negative Korrela‐ tion zwischen den Wachstumsraten des BIP pro Kopf und dem Ausgangsniveau des BIP pro Kopf ab. Eine konvergente Entwicklung bedeutet, dass die Länder mit geringerem Pro-Kopf-Einkommen eine höhere Wachstumsrate aufweisen müssen als Länder mit einem höheren Pro-Kopf-Einkommen. In einer Gleichung mit der Wachstumsrate des BIP pro Kopf als abhängige Variable und dem (logarithmierten) BIP pro Kopf als unabhängige Variable werden Betrag und Vorzeichen des Regres‐ sionsparameters (Symbol: β) der unabhängigen Variablen geschätzt. In → Abb. 51 ist die entsprechende Regressionsgerade für die EU-28-Länder im Zeitraum 1995- 2017 ausgewiesen. Dokumentiert wird, dass der Konvergenzprozess vor allem durch die hohen (durchschnittlichen) Wachstumsraten in den osteuropäischen Mitgliedstaaten begründet wird. 200 8 Kohäsion in der Europäischen Union und die Bedeutung der Regionalpolitik <?page no="201"?> Abb. 51: Durchschnittliche Wachstumsrate des BIP pro Kopf der EU-28-Staaten zwischen 1995 und 2017 in Abhängigkeit vom Logarithmus des BIP pro Kopf 1995 | Quelle: Dolls/ Fuest/ Krolage u.-a. 2018, S.-11 Dieses Ergebnis wird auch in anderen Untersuchungen bestätigt (vgl. z.-B. Intere‐ conomics 2019, Alcidi/ Corti/ Georgosouli u. a. 2022, Fuest 2024, S. 11-12). Für die EU-27 zeigt sich der Einfluss von Covid-19 darin, dass sich im Vergleich der zwei Zeiträume von 2013-2019 und 2013-2021 die Steigung der Regressionsgeraden leicht ändert und eine Verlangsamung in der Beta-Konvergenz dokumentiert wird (vgl. Eurofound 2023, S.-59-61). Gemäß der Theorie spezialisieren sich Länder und auch Regionen auf jene Güter und Dienstleistungen, die von dem Produktionsfaktor Gebrauch machen, der reichhaltig vorhanden ist. Kommt es in einer weit vom Zentrum entfernten Region zu hoher Arbeitslosigkeit und nicht zur Migration der Arbeitskräfte, sinken tendenziell die Löhne und machen die Produktion von Gütern und Dienstleistungen, die diesen Produktionsfaktor einsetzen, wieder attraktiv. Unternehmen nutzen diese Kostenun‐ terschiede und sorgen mittelfristig für einen Anstieg der Lebensbedingungen. Es kommt zu einer Angleichung der Lebensverhältnisse. 8.2 Theoretische Überlegungen zur Kohäsion in der Union 201 <?page no="202"?> Kohäsion bedarf gezielter wirtschaftspolitischer Interventionen Die alternative Sicht betont, dass eine zielgerichtete Kohäsionspolitik erforderlich ist. Die Schaffung von Rahmenbedingungen reicht nicht aus, da die Marktkräfte und Marktprozesse entweder den Ausgleich der Lebensverhältnisse nicht herbeiführen oder dies nur in langen sozial und politisch nicht akzeptablen Zeiträumen erreicht wird. Eine spezifische Politik zur Herstellung der Kohäsion ist notwendig. Die Argumenta‐ tion rekurriert dabei auf mehrere theoretische Überlegungen. Kohäsion und infrastrukturelle Vorleistungen des Staates Zunächst wird auf die klassische Funktion des Staates verwiesen, die infrastrukturelle Basis für Wachstum und Entwicklung zu garantieren. Der Staat muss Bildungsinves‐ titionen tätigen, er muss die physische Infrastruktur schaffen. Der Staat hat mit seinen Investitionen die Externalitäten zu berücksichtigen, die im Kalkül der privaten Investoren nicht ausreichend bedacht werden. Regionalpolitik als Teil der Kohäsions‐ politik ist somit klassische staatliche Wirtschaftspolitik und unerlässlich, um ein nachhaltiges Wachstum zu erzeugen. Zu beachten ist allerdings, dass die Regierungs- und Institutionenqualität kein Entwicklungshemmnis darstellt, das regionale Einkom‐ mensdisparitäten zwischen den Mitgliedstaaten begründet oder verstärkt. Kohäsion und Clusterbildung Mit Bezug auf die „neue Wirtschaftsgeografie“ wird auf die Tendenz zur geografischen Konzentration wirtschaftlicher Aktivitäten verwiesen. Insbesondere die Beiträge von Paul Krugman zur Neuen Wirtschaftsgeographie und Michael Porter zu den Bedin‐ gungen der Herausbildung von Clustern haben die volkswirtschaftliche Diskussion über die Voraussetzungen erfolgreicher ökonomischer Entwicklung und der Bedeutung regionaler Wirtschaftspole belebt. Ökonomen befassen sich heute verstärkt mit den Prozessen, welche das Entstehen von Räumen wirtschaftlicher Konzentration erklären können. Es lassen sich Cluster allgemeiner Konzentration (z. B. Paris oder Hamburg) von Clustern mit speziellem Fokus (z. B. Automobilindustrie in Baden-Württemberg) unterscheiden. Weiterhin kann man nach Clustern mit einem zentralen „Ankerunter‐ nehmen“ (VW in Wolfsburg) und Clustern mit zahlreichen starken auch im Wettbewerb stehenden Akteuren (Finanzzentrum London oder Frankfurt/ Main) unterscheiden. In manchen Fällen ist die Entstehung des Clusters Ergebnis gezielter Wirtschaftsförde‐ rung, in anderen Fällen ist das Clusterergebnis unabhängig von staatlichen Initiativen entstanden. 202 8 Kohäsion in der Europäischen Union und die Bedeutung der Regionalpolitik <?page no="203"?> Box 47 | Die Neue Wirtschaftsgeografie Die Neue Wirtschaftsgeografie beschreibt die Kräfte, welche die weitere Konzen‐ tration unterstützen (Agglomerationskräfte) oder dieser entgegenstehen (Streu‐ ungskräfte). Die Agglomerationskräfte: Positive geografisch begrenzte externe Effekte der Produktion unterstützen die Clusterbildung ebenso wie das Vorhandensein eines großen spezifischen Arbeitsmarktes (Arbeitskräftepool). Die Agglomeration wird zudem über die Nachfrage unterstützt, die durch vermehrte Beschäftigung in einer Region entsteht und es für andere Unternehmen attraktiv macht, dort zu investieren. Die Streuungskräfte: Löhne und Mieten in Ballungsräumen sorgen für eine umgekehrte Entwicklung. Mit wachsender Attraktivität des Agglomerationsraums kommt es zu Lohn- und Preissteigerungen. Diese haben zur Folge, dass Unter‐ nehmen ihre Standortentscheidung überdenken und es in einigen Fällen zur Verlagerung der Industrie in andere Regionen kommt. Schlussfolgerungen für die Regionalpolitik: In vielen Regionen bemüht sich die Wirtschaftsförderung einerseits gezielt um die Schaffung günstiger Bedingun‐ gen für die Entwicklung von Clustern. In einigen Fällen soll die Ansiedlung eines Ankerunternehmens den Nachzug weiterer Produzenten herbeiführen. An‐ dererseits lässt sich kritisch einwenden, dass staatliche Institutionen über kein besonderes Wissen über die Dynamik von Clusterbildung verfügen, eine gezielte Förderung mithin problematisch ist. Kohäsion und Sozialkapital Ein anderer theoretischer Ansatz, der ebenfalls zu erklären sucht, weshalb es zu dau‐ erhaften persistenten Entwicklungsunterschieden kommt, stellt auf die Bildung von „Sozialkapital“ ab. Dieses in verschiedenen Varianten in der Ökonomie und anderen Sozialwissenschaften reflektierte Phänomen des Vorhandenseins von Vertrauen, von Stabilität der sozialen Beziehungen in bestimmten Kontexten, sucht zu erklären, warum es an bestimmten Orten zur Expansion kommt und an anderen nicht. Sozialkapital lässt sich als der Wert der sozialen Netzwerke für wirtschaftliche Entwicklung betrachten (vgl. Putnam 2000a). Sozialkapital kann Ergebnis der Erwartung einer Gegenleistung für eine Handlung sein („spezifische Reziprozität“). Wichtig ist auch die „generelle Reziprozität“: Personen erbringen eine Vorleistung, ohne dass sie unmittelbar konkrete Gegenleistungen erwarten. Dies erfolgt gleichwohl in der Erwartung, dass andere ebenso handeln und in der langen Frist die erbrachte Vorleistung auch andere Personen veranlasst, so zu handeln. Je mehr eine Gesellschaft durch generelle Reziprozität ge‐ kennzeichnet ist, desto eher kommt es zur wirtschaftlichen Entwicklung (vgl. Putnam 8.2 Theoretische Überlegungen zur Kohäsion in der Union 203 <?page no="204"?> 2000a, S. 21). Sozialkapital kann zwischen Akteuren entstehen, die in homogenen Grup‐ pen eng miteinander arbeiten („verbindendes Sozialkapital“), und zwischen Menschen und Gruppen, die durch die Kooperation zusammengebracht werden („überbrückendes Sozialkapital“) (vgl. Putnam 2000b, S. 96). Die Überlegungen zu der Bedeutung des Sozialkapitals können für die Entwicklung einer erfolgreichen Kohäsionspolitik nutz‐ bar gemacht werden: Nicht der Aufbau der physischen Infrastruktur, der Straßen, der Flughäfen, der Industriegebiete ist entscheidend für die Entwicklung von Regionen, sondern die Schaffung von Bedingungen für Vertrauen, für intakte Netzwerke, für das Wirken sozialer Gruppen, die gemeinsam an der Entwicklung einer Region arbeiten. Dies ist im Vergleich zur Schaffung der physischen Infrastruktur eine ungleich schwerere Aufgabe. ⁈ Verständnisfrage | Nehmen Sie die Position eines Kritikers der Kohäsionspo‐ litik ein und argumentieren Sie, dass es einer gezielten Kohäsionspolitik nicht bedarf. Die Verantwortung für die Kohäsion in einer Mehrebenenpolitik Wird eine systematische Förderpolitik als notwendig erachtet, ist die Frage zu klären, welche institutionelle Ebene damit betraut werden soll. Während tendenziell Konsens besteht, dass Konzipierung und Umsetzung in den regionalen Zuständigkeitsbereich fallen (Subsidiaritätsprinzip), ist die Frage nach der Verantwortung insgesamt und der Finanzierung weniger leicht zu beantworten. Die Theorie des Fiskalischen Föderalismus kann hinsichtlich der Frage des Designs und der Umsetzung der Politik Orientierung geben. Haben die regionalpolitischen Maßnahmen starke externe Effekte, sind sie nur in koordinierten Aktionen sinnvoll. Hat die höhere Ebene kein ausreichendes Wissen über den Bedarf an Unterstützung in den einzelnen Regionen, so ist eher ein dezentrales Vorgehen zu wählen und ein lokaler Politikansatz angebracht. Box 48 | Pro und Kontra supranationale Verantwortung für regionale Disparitäten Pro supranationale Verantwortung: Mehrere Argumente werden von den Befürwortern einer supranational finanzierten Kohäsionspolitik vorgebracht: Es ist ethisch geboten, den Menschen in weniger entwickelten Gebieten vergleich‐ bare Lebensverhältnisse zu ermöglichen; die Solidarität in Europa erfordert die Unterstützung; es ist auch im wohlverstandenen Eigeninteresse aller Europäer, da schwierige Lebensbedingungen in weniger entwickelten Regionen Spannungen in der Union produzieren. Die Migration in überlastete Agglomerationsräume ist 204 8 Kohäsion in der Europäischen Union und die Bedeutung der Regionalpolitik <?page no="205"?> nicht wünschenswert. Die Zufriedenheit mit der Politik der EU ist auch abhängig davon, dass regionale Unterschiede gering sind. Kontra supranationale Verantwortung: Die Staaten oder die Regionen sind grundsätzlich gemäß dem Subsidiaritätsprinzip für die Gestaltung ihres Schicksals verantwortlich. Sie aus ihrer Verantwortung zu entlassen, sorgt für Fehlanreize. Wenn in Mitgliedstaaten der Union die Bekämpfung der regionalen Ungleichheit eine niedrige politische Priorität hat, dann kann es nicht Aufgabe der Union sein, hier tätig zu werden. Der Wettbewerb der Länder oder Regionen um die beste Politik ist ein starker Mechanismus, um innovative Wege zu identifizieren. 8.3 Kohäsion und Regionalpolitik Der Begriff „Kohäsionspolitik“ bezeichnet den politischen Rahmen für Maßnahmen zur Sicherung des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts in der Union und der Solidarität auf europäischer Ebene. Seit vielen Jahren gehört die Kohäsion zu den wichtigsten Etatposten, in diesen Bereich fließen rund ein Drittel der Haushaltsmittel der EU. 8.3.1 Politische Interessen Die grundlegende Entscheidung für eine spezifische Politik zur Unterstützung von Anpassungsprozessen in Regionen mit Entwicklungsdefiziten fiel bereits während der Verhandlungen über den Vertrag von Rom, als Italien auf Unterstützung für unterentwickelte Regionen drang: Der „Europäische Sozialfonds“ wurde geschaffen. Einen weiteren Schritt auf dem Weg zu einer ausdifferenzierten Regionalpolitik stellten die Verhandlungen im Rahmen der ersten Erweiterungsrunde dar: Auf Drängen des Vereinigten Königreichs wurde 1975 der „Europäische Fonds für Regionale Entwick‐ lung“ errichtet. Mit der Aufnahme weiterer Mitglieder aus dem Süden Europas in den 1980er-Jahren wuchs das politische Gewicht jener Länder, die wenig Interesse an dem Zugriff auf die Mittel aus der Agrarpolitik hatten, sondern stattdessen regionalpoliti‐ sche Unterstützung einforderten. Mit der großen Erweiterung der EU im Jahr 2004 war in vielen Ländern der EU eine vergleichbare politökonomische Interessenlage gegeben: Die absolute Ausweitung der Mittel für Regionalpolitik und ihr relativer Anteil an den Gesamtausgaben der EU wie auch die konkrete Ausgestaltung der Mittel (vgl. Bachtler 2022) ist ohne die politökonomische Konstellation und ohne das Abstimmungssystem im Rat der Europäischen Union, welches den betroffenen Ländern implizit eine Vetomacht ermöglichte, nicht zu verstehen (vgl. Baldwin/ Wyplosz 2022). 8.3 Kohäsion und Regionalpolitik 205 <?page no="206"?> 8.3.2 Rechtliche Grundlagen Die wichtigsten Regelungen zur Regional- und Kohäsionspolitik finden sich in Artikel 174-178 AEUV. Die Union verpflichtet sich zu einer Politik zur „Stärkung ihres wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts, um eine harmonische Entwicklung der Union als Ganzes zu fördern“ (Artikel 174 AEUV). Unterschiede des Entwicklungsstands der Regionen und der Rückstand der am stärksten benachteiligten Gebiete sollen verringert werden. Für die Umsetzung der Kohäsionspolitik 2021-2027 sind darüber hinaus die im or‐ dentlichen Gesetzgebungsverfahren erlassenen Verordnungen über die europäischen Struktur- und Investitionsfonds bedeutsam. Eine Dachverordnung (VO (EU) 2021/ 1060) enthält einen gemeinsamen Rechtsrahmen für acht Fonds mit geteilter Mittelverwal‐ tung; in weiteren Verordnungen sind spezifische Bestimmungen für einzelne Fonds geregelt. 8.3.3 Regionalpolitik und Do-no-harm-to-Cohesion-Ansatz Die Bedeutung der allgemeinen wirtschaftspolitischen Rahmensetzungen für Kohä‐ sion wird in Artikel 175 AEUV herausgestellt: „Die Mitgliedstaaten führen und koordinieren ihre Wirtschaftspolitik in der Weise, dass auch die in Artikel 174 genannten Ziele erreicht werden“. Bei der Gestaltung der Binnenmarktpolitik, der Wettbewerbspolitik, der Klima- und Umweltpolitik sowie weiterer Politikfelder sollen die regionalpolitischen Implikationen bedacht werden. Neben der Forderung, anstelle von Inputs und Förderung aufgrund getätigter Auszahlungen stärker die Outputs wie Erreichung bestimmter Programmziele zu adressieren (leistungsbasierte Erstattung), geht es bei dem von der Europäischen Kommission (2022) im achten Kohäsionsbericht eingeführten Grundsatz „dem Zusammenhalt nicht zu schaden“ darum, die Kohärenz zwischen der Kohäsionspolitik und anderen EU-Politikbereichen zu stärken. Daher sollen keine Maßnahmen ergriffen werden, die die soziale und wirtschaftliche Konver‐ genz der EU-Regionen behindern oder zu regionalen Disparitäten beitragen können. Um dies gewährleisten zu können, wird vorgeschlagen (COTER-VII/ 026), territoriale Folgenabschätzungen (Prüfungen der regionalen Auswirkungen) in der Konzeptionswie in der Bewertungsphase neuer EU-Strategien vorzunehmen (vgl. Committe of the Regions 2023). Als erforderlich wird darüber hinaus eine stärkere Verknüpfung der kohäsionspolitischen Investitionsförderung mit dem Europäischen Semester zur Stärkung des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts angesehen (vgl. D'Ambrogio 2023, Fontàs 2023, Hunter 2023, Europäische Kommission 2024b, S.-236-239). 8.3.4 Gezielte Regionalpolitik Wenn die allgemeine Wirtschaftspolitik nicht ausreicht, die Ungleichheiten zu besei‐ tigen, so verpflichtet sich die Union zur gezielten Hilfe für die weniger entwickelten 206 8 Kohäsion in der Europäischen Union und die Bedeutung der Regionalpolitik <?page no="207"?> Gebiete. Projekte, die im Rahmen der Kohäsionspolitik realisiert werden, sollen das von der EU angestrebte intelligente, nachhaltige und integrative Wachstum befördern. Jenseits einer reinen Umverteilung von Mitteln ist die Kohäsionspolitik wichtigstes investitionspolitisches Instrument der EU und ihre Perspektive daher langfristig aus‐ gerichtet. Konkrete Zielvorgaben der Regionalpolitik sind ihr Beitrag zu „Investieren in Wachstum und Beschäftigung“ und „Europäische territoriale Zusammenarbeit“. Der Fokus liegt auf Investitionen vor allem in den Bereichen Innovation, Digitalisierung und CO 2 -arme Wirtschaft. Bei der Gestaltung und Maßnahmenplanung der Kohäsi‐ onspolitik sind ortsbezogenen („place-based“) Ansätzen besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Box 49 | Investitionsprioritäten der Kohäsionspolitik 2021-2027 1. ein intelligenteres Europa durch Innovation, Digitalisierung, wirtschaftlichen Wandel, Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen; 2. ein grüneres, CO 2 -freies Europa, das das Übereinkommen von Paris umsetzt und in die Energiewende, in erneuerbare Energien und in die Bekämpfung des Klimawandels investiert; 3. ein stärker vernetztes Europa mit strategischen Verkehrs- und Digitalnetzen; 4. ein sozialeres Europa, das die europäische Säule sozialer Rechte umsetzt und hochwertige Arbeitsplätze, Bildung, Qualifizierung, soziale Inklusion und den gleichberechtigten Zugang zu medizinischer Versorgung fördert; 5. ein bürgernäheres Europa durch Unterstützung lokal geführter Entwicklungs‐ strategien und einer nachhaltigen Stadtentwicklung in der gesamten EU. Quelle: Europäische Kommission 2023a Die Umsetzung der Regionalpolitik erfolgt im Rahmen spezieller Fonds (vgl. Bundes‐ ministerium für Wirtschaft und Klimaschutz 2024a): • Der Europäische Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) ist der größte Strukturfonds und investiert in die soziale und wirtschaftliche Entwicklung aller Regionen und Städte der EU. Um die regionalen Unterschiede auszugleichen, werden vor allem die Gebiete mit Entwicklungsrückstand bzw. mit schweren und dauerhaften natürlichen oder demografischen Nachteilen unterstützt. • Der Europäische Sozialfonds Plus (ESF Plus) ist das zentrale beschäftigungs‐ politische Instrument der Europäischen Union mit dem Ziel, Arbeitsplätze zu fördern und eine faire und sozial integrative Gesellschaft in den EU-Ländern zu schaffen. • Der-Fonds für einen gerechten Übergang ( Just Transition Fonds - JTF)-ist ein neuer Strukturfonds im Förderzeitraum 2021-2027. Als Teil des europäischen Green Deal werden Regionen gefördert, die am stärksten vom Übergang zu einer nachhaltigen und klimaneutralen Wirtschaft betroffen sind. 8.3 Kohäsion und Regionalpolitik 207 <?page no="208"?> • Der Kohäsionsfonds dient dazu, in den weniger wohlhabenden EU-Ländern in Umwelt und Verkehr zu investieren. Zu den Förderprinzipien, an denen sich die Union orientiert, zählen mehrjährige Pro‐ grammplanung und partnerschaftliche Abstimmung, Zusätzlichkeit und Kofinanzie‐ rung, Subsidiarität und Nachhaltigkeit. Die Ordnungsmäßigkeit der Mittelverwendung muss gewährleistet sein. Aus → Abb.-52 lassen sich die Kohäsionsmittel entnehmen, die im Zeitraum 2021- 2027 zur Verfügung stehen. Vom Gesamtbetrag in Höhe von 529,0 Mrd. € entfallen 368,1 Mrd. € auf die EU, während 161,0 Mrd. € durch einzelstaatliche Kofinanzierung aufgebracht werden. Der größte Teil der Mittel ist für weniger entwickelte Regionen (Einkommen von kleiner als 75 % des EU-Durchschnitts) vorgesehen. Übergangsregio‐ nen (Regionen im Wandel) mit einem Einkommen von 75-100 % des EU-Durchschnitts‐ einkommens profitieren in geringerem Umfang von der Förderung. Auch stärker entwickelte Regionen (Einkommen höher als 100 % des EU-Durchschnitts) können noch unterstützt werden (VO (EU) 2021/ 1058). Die Mittelzuweisungen für die letzten beiden Jahre (2026 und 2027) erfolgen erst nach einer sog. Halbzeitüberprüfung, um gegebenenfalls erforderliche Programmanpassungen vornehmen zu können. Neben dem Pro-Kopf-Einkommen ist zu erwägen, für die Zuweisung kohäsionspolitischer Mittel auch solche Größen wie Jugendarbeitslosigkeit, niedriges Bildungsniveau oder Migrantenanteil einzubeziehen. - EU-Mittel nationale Mittel insgesamt Europäischer Fonds für regionale Entwicklung 214,3 96,6 310,9 Europäischer Sozial‐ fonds Plus 95,1 47,0 142,1 Fonds für einen ge‐ rechten Übergang 19,7 7,2 26,9 Kohäsionsfonds 39,0 10,1 49,2 insgesamt* 368,1 161,0 529,0 * Rundungsabweichungen Abb.-52: EU - Mittel und nationale Mittel der Kohäsionspolitik, 2021-2027, in Mrd. Euro | Quelle: 🔗 cohesiondata.ec.europa.eu (Stand: 01.08.2024) Mit dem Ziel, den massiven wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen der Covid-19-Pandemie zu begegnen, wurde die Aufbauhilfe für den Zusammenhalt und die Gebiete Europas (REACT-EU) als zweitwichtigster Bestandteil des Instruments NextGenerationEU (NGEU) beschlossen. Bei den Mitteln im Umfang von gut 50,6 Mrd. € 208 8 Kohäsion in der Europäischen Union und die Bedeutung der Regionalpolitik <?page no="209"?> handelt es sich um eine Aufstockung der Projekte in der Legislatur 2014-2020, die für eine Programmdauer von 2 Jahren (2021-2022) mit Zuteilung (gemäß der Regel „n + 3“) bis Ende 2023 bereitgestellt wurden. Die im Vordergrund von NGEU stehende Aufbau- und Resilienzfazilität (ARF) mit einem Volumen von knapp 724 Mrd. € (Zuschüsse: 338 Mrd. €, Darlehen: 386 Mrd. €) weisen wie die kohäsionspolitischen Strukturfonds ähnliche Investitionsprioritäten auf. Daher bedarf es einer engen Koordinierung, um den sich daraus ergebenden Risiken und Herausforderungen des parallelen Einsatzes von ARF und den Fonds der Kohäsionspolitik zu begegnen (vgl. Koopmann 2022, Europäischer Rechnungshof 2023, Corti/ Pedralli/ Pancotti 2024). 8.3.5 Strukturfonds und Konditionalitäten Zur Gewährleistung der effizienten Nutzung der Struktur-Fonds und zur Erhöhung der Wirksamkeit der Kohäsionspolitik ist die Auszahlung von Fördermitteln an die Einhaltung bestimmter Konditionalitäten gebunden (vgl. Becker 2022). • Die allgemeinen und themenspezifischen Ex-ante-Konditionalitäten sollen sicher‐ stellen, dass die institutionellen und administrativen Voraussetzungen in den Mitgliedstaaten erfüllt sind, um qualitativ hochstehende Innovationsstrategien zu gewährleisten. • Die makroökonomische Konditionalität beinhaltet eine Verknüpfung der För‐ derung durch die Strukturfonds mit der wirtschaftspolitischen Steuerung auf EU-Ebene, was die Vorgaben des Stabilitäts- und Wachstumspakts und die lan‐ desspezifischen Empfehlungen im Rahmen des Europäischen Semesters für die wirtschaftliche Koordinierung angeht. Ziel ist es, die Regelkonformität der Mit‐ gliedsstaaten im Rahmen der wirtschaftspolitischen Steuerung zu stärken, damit die Kohäsionspolitik nicht durch ungünstige haushaltsmäßige und wirtschaftliche Rahmenbedingungen in den Mitgliedsländern konterkariert wird. • Zum Schutz des EU-Haushalts kann mit der Rechtsstaatskonditionalität der Zu‐ gang zu EU-Mitteln eingeschränkt oder ausgesetzt werden, um innenpolitische, gegen die „rule of law“ gerichtete Entwicklungen sanktionieren zu können. 8.4 Evaluation der Kohäsionspolitik Die Beurteilung, in welchem Ausmaß die Kohäsionspolitik tatsächlich zu ökonomi‐ scher Konvergenz und Wirtschaftswachstum in Europa beiträgt, ist ambivalent. Einerseits verweist die Europäische Kommission (2022, S. 267-310, 2024b, S. 266- 298) auf die gesamtwirtschaftlichen Vorteile, die mit der Kohäsionspolitik verbunden sind. Auf der Basis makroökonomischer Modellsimulationen werden die Auswirkun‐ gen der Kohäsionspolitik auf das EU-BIP abgeleitet. In → Abb. 53 ist der positive Effekt der Kohäsionsausgaben im Zeitraum 2021-2027 auf das BIP in der Union bis zum Jahr 2050 dargestellt, das im Jahr 2029 mit geschätzt o,49 Prozent im Maximum und selbst 8.4 Evaluation der Kohäsionspolitik 209 <?page no="210"?> im letzten Betrachtungsjahr noch mit 0,29 Prozent höher ausgewiesen wird als die BIP-Entwicklung gegenüber einem Basisszenario ohne kohäsionspolitische Interven‐ tionen. 25 Jahre nach Beginn der Kohäsionsprogramme wird mit einem kumulativen Multiplikatoreffekt von 2,8 gerechnet (vgl. Europäische Kommission 2023b, Annex 5). An diesen Resultaten wird allerdings das Fehlen eines kontrafaktischen Szenarios bemängelt (EEAG 2018, S. 76), das etwa eine Entwicklung bei alternativer Verwendung der Kohäsionsmittel aufzeigen würde. Abb.-53: Auswirkungen kohäsionspolitischer Investitionen im Zeitraum 2021-2027 auf das EU-BIP bis zum Jahr 2050 | Quelle: Europäische Kommission 2023b, S.-99 Andererseits gelangen zahlreiche empirisch-ökonometrische Untersuchungen zu skeptischen Ergebnissen, was die Effektivität der Kohäsionspolitik betrifft, die auf abnehmende Grenzerträge der eingesetzten Ressourcen und eine marginale Vermin‐ derung der interregionalen Disparität schließen lassen (vgl. Asatryan/ Birkholz/ Hei‐ nemann 2024). Daher werden verstärkt die Bedingungen untersucht, die für die Wirksamkeit der kohäsionspolitischen Maßnahmen bestimmend sein können. Vor dem Hintergrund der Diskussion über die Bedeutung des Sozialkapitals sind eine gute Governance und die Institutionenqualität als wichtige Größen herausgestellt worden, die für die soziale und wirtschaftliche Entwicklung maßgeblich sind und das regionale Wachstum beeinflussen können (vgl. Eurofound 2022, Europäische Kommission 2022, 2024b). Angesichts der Variableninterdependenz sind aber auch diese Feststellungen mit Unsicherheiten verbunden, da es methodisch nicht einfach ist, die Kausaleffekte der Kohäsionspolitik zu isolieren (vgl. Dörr 2017, Busch 2018, EEAG 2018). Box 50 | Pro und Kontra EU-Regionalpolitik Pro: Befürworter der Regionalpolitik sehen in der langfristig beobachtbaren Konvergenz der Lebensverhältnisse zwischen den Mitgliedstaaten einen Beleg für den Erfolg der Politik. Einige unterentwickelte Gebiete haben deutlich aufge‐ 210 8 Kohäsion in der Europäischen Union und die Bedeutung der Regionalpolitik <?page no="211"?> schlossen und belegen die Wirksamkeit der Regionalpolitik. Die Förderung ist ein Akt der Solidarität und konsistent mit dem Geist der europäischen Einigung. Länder werden bei ihren Bemühungen unterstützt, gute Politik zu betreiben. Regionalpolitische Maßnahmen haben durch ihre Akzentsetzung zu Wachstum beigetragen. Insbesondere in der Wirtschafts- und Finanzkrise haben die EU-Fonds stabilisierend gewirkt, die in zahlreichen Mitgliedstaaten ein höheres Niveau an öffentlichen Investitionen ermöglichten als dies ohne Kohäsionspolitik der Fall gewesen wäre. Die Kontrolle der Verwendung der Mittel ist angemessen. Angesichts des Umfangs der Mittel und der Unterentwicklung einiger Länder und Regionen sind administrative Schwächen nicht völlig auszuschließen. Das Monitoring wurde verbessert, Sanktionen wurden verhängt, Zahlungen ausgesetzt, wo dies erforderlich war. Die EU hat detaillierte Regelungen verabredet, die für eine ordnungsgemäße Verwendung der Fördergelder sorgen. Für eine Reduktion des Verwaltungsaufwands könnte die Kontrolle des Mitteleinsatzes zwischen nachweislich effektiven Verwaltungen und Programmen und solchen mit hoher Fehleranfälligkeit differenziert werden. Alle Länder profitieren von der Förderung, nicht allein die am wenigsten entwickelten Länder, sondern auch die stärker entwickelten Länder. Die territoriale Zusammenarbeit wird gestärkt. Kontra: Kritiker verweisen darauf, dass die Entwicklung auch ohne regionalpoliti‐ sche Förderung so oder ähnlich verlaufen wäre. Einen Nachweis für die Wirksam‐ keit der Politik sehen sie darin nicht. Nicht der Vergleich „vorher/ nachher“, sondern „mit/ ohne“ ist relevant. Die Eigenanstrengungen der Regionen und der Mitglied‐ staaten werden durch die Hilfen von außen substituiert. Dies ist nicht „gelebte So‐ lidarität“, sondern schlechte Politik. Die EU höhlt das Subsidiaritätsprinzip aus. Der Ausbau der Regionalpolitik zu einer Politik der allgemeinen Investitionsförderung geht mit einer Verlagerung der Zielrichtung einher, da ein wachstumsorientierter anstelle eines transferorientierten Ansatzes tritt. Durch die makroökonomische Konditionalität werden die Regionen im Falle von Mittelkürzungen bestraft, wenn die Zentralregierungen der Mitgliedstaaten keine solide Finanzpolitik betreiben und ihren Verpflichtungen im Rahmen der wirtschaftspolitischen Koordinierung nicht nachkommen. Es bleibt authentische Aufgabe der Mitgliedstaaten, innerhalb ihrer Länder für Kohäsion zu sorgen. Viele regionalpolitische Projekte sind durch eine niedrige soziale Rendite geprägt. In einigen Mitgliedstaaten sind schwerwie‐ gende Betrugsfälle bekannt geworden. Gemessen an der Höhe der verwalteten Mittel sind die zahlreichen Regelungen für die Verwendung der Mittel aus den Strukturfonds mit einem hohen Verwaltungsaufwand verbunden. Die „Umvertei‐ lungsmaschinerie“ der Regionalpolitik ist kontraproduktiv. Die Zahlungen reicher Länder an die EU, nur um dann später bürokratisch aufwändig Mittel wieder zurückzuerhalten, ist keine kluge Politik. Reiche Länder sollten keine Förderung für Regionalpolitik erhalten. 8.4 Evaluation der Kohäsionspolitik 211 <?page no="212"?> 8.5 Schlussbemerkung Die Kohäsionspolitik ist nicht nur in fiskalischer Hinsicht ein wichtiges Politikfeld der Union. Weniger entwickelte Regionen sehen in der Förderung ein hilfreiches und bedeutsames Instrument zur Unterstützung ihrer wirtschaftlichen Entwicklung. Die Konzipierung einer Politik, die hohe soziale Renditen in unterentwickelten Gebieten erzeugt, ist kein einfaches Unterfangen, zumal die Unterentwicklung häufig mit niedrigem Bildungsstand und schlechten Governance-Strukturen einhergeht, Faktoren also, die wiederum die Wirksamkeit der Regionalpolitik beeinträchtigen. Die ständige Überprüfung der Politik, die Anpassung der Schwerpunkte und Instrumente ist eine Re‐ aktion auf die Herausforderung, auf die Probleme und Erfahrungen der Vergangenheit, auf die Kritik. Für die Zukunft muss die Kohäsionspolitik Antworten finden, die sich aus den Rückwirkungen der globalen Entwicklungen von Demographie und Migration, Klimakrise, grünem und digitalem Übergang (vgl. Maucorps/ Römisch/ Schwab u. a. 2022) und geopolitischer Unsicherheit insbesondere an den östlichen EU-Außengren‐ zen für den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt in Europa ergeben (vgl. Rat der Europäischen Union 2023). Mit Vorlage des Berichts einer von der Europäischen Kommission eingesetzten Gruppe hochrangiger Experten (vgl. Europäische Kommission 2024c) ist die Erörterung über die Zukunft der Kohäsions‐ politik angestoßen. Zahlreiche Akteure mit unterschiedlichen Vorstellungen über das Design der Kohäsionspolitik für die Zeit nach 2027 (vgl. Schwab 2024) sind in diesem Reflexionsprozess beteiligt (vgl. Bachtler 2022, Petzold 2023, Széchy 2023). Für Deutschland hat das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (2024b) eine öffentliche Konsultation zur zukünftigen Ausrichtung der Kohäsionspolitik in die Wege geleitet, um frühzeitig Impulse und Anregungen für die Verhandlungen der Förderperiode 2028-2034 aufnehmen zu können. Wie auch immer die weitere Entwicklung sein wird - die wirtschaftliche, soziale und territoriale Zusammenarbeit bleibt einer der zentralen Aufgabenbereiche der Europäischen Union. ➲ Wichtige Begriffe Konvergenz, Konvergenzkonzepte, Einkommensdisparität, Ordnungspolitik, Regio‐ nalpolitik, Clusterbildung, Neue Wirtschaftsgeografie, Sozialkapital, Mehrebenenpoli‐ tik, Grundsatz „Dem Zusammenhalt der EU nicht schaden“, Kohäsionsfonds, EFRE, Europäischer Sozialfonds Plus, JTF, territoriale Zusammenarbeit, Konditionalität ➲ Literatur Alcidi, Cinzia/ Corti, Francesco/ Georgosouli, Andromachi/ Gros, Daniel/ Kiss-Gálfalvi, Támas (2022): Euro area accession: assessment of the convergence path and COVID-19 implications, European Parliament, PE 733.967 212 8 Kohäsion in der Europäischen Union und die Bedeutung der Regionalpolitik <?page no="213"?> Asatryan, Zareh/ Birkholz, Carlo/ Heinemann, Friedrich (2024): The Heterogenous Output-Im‐ pacts of EU Cohesion Policy - A Review of Recent Literature, in: ZEW (Hrsg.): The Future of EU Cohesion. Final report of the research project: “Ausrichtung der europäischen Struktur‐ politik in der nächsten Förderperiode 2028-2034 aus finanzpolitischer Sicht“ commissioned by the German Federal Ministry of Finance, Mannheim, S.-218-234 Bachtler, J. (2022): „Cohesion policy - Where has it come from? Where is it going? “, in: ECA Journal N o 1: Cohesion and Next Generation EU: concord or clash? , S.-7-12 Baldwin, Richard/ Wyplosz, Charles (2022): The Economics of European Integration, 7. Auflage, Maidenhead, McGrawHill Becker, Peter (2022): Konditionalität als Instrument europäischer Governance. Typen, Ziele, Implementierung, SWP-Studie 2022/ S 06, Berlin Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (2024a): EU-Kohäsions- und Struk‐ turpolitik. Internet: https: / / www.bmwk.de/ Redaktion/ DE/ Artikel/ Europa/ eu-kohaesi‐ ons-und-strukturpolitik.html#A6 Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (2024b): BMWK startet Konsultation zur künftigen Ausrichtung der Kohäsionspolitik für die Förderperiode nach 2027, Pressemittei‐ lung 5.2.2024 Busch, Berthold (2018): Kohäsionspolitik in der Europäischen Union. Bestandsaufnahme und Neuorientierung. IW-Analysen 121. Herausgegeben vom Institut der deutschen Wirtschaft Köln e.-V., Waiblingen Committee of the Regions (2023): Opinion of the European Committee of the Regions on ‘Do no harm to cohesion - A cross-cutting principle contributing towards cohesion as an overall objective and value of the EU‘, Amtsblatt der Europäischen Union, C 257/ 1 Corti, Francesco/ Pedralli, Matteo/ Pancotti, Chiara (2024): The Recovery and Resilience Facility: Key Innovations and the Interplay with Cohesion Policy, in: ZEW (Hrsg.): The Future of EU Cohesion. Final report of the research project: “Ausrichtung der europäischen Strukturpolitik in der nächsten Förderperiode 2028-2034 aus finanzpolitischer Sicht“ commissioned by the German Federal Ministry of Finance, Mannheim, S.-235-257 D'Ambrogio, Enrico (2023): 'Do no harm to EU cohesion' principle, EPRS, European Parliament, PE 747.892 Dörr, Julian (2017): Die Europäische Kohäsionspolitik. Eine ordnungsökonomische Perspektive, Berlin, Boston, De Gruyter Oldenbourg Dolls, Mathias/ Fuest, Clemens/ Krolage, Carla/ Neumeier, Florian/ Stöhlker, Daniel (2018): Con‐ vergence in the EMU: What and How? , European Parliament, PE 614.502 EEAG (2018): EEAG Report on the European Economy: What now, With Whom, Where to - The Future of the EU, München: CESifo Eurofound (2022): Does Europe lead the way in institutional quality? Publications Office of the European Union, Luxemburg Eurofound (2023): EU convergence: Geographical dimension, impact of COVID-19 and the role of policy, Publications Office of the European Union, Luxemburg Europäische Kommission (2022): Kohäsion in Europa bis 2050. Achter Bericht über den wirt‐ schaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt, Luxemburg ➲ Literatur 213 <?page no="214"?> Europäische Kommission (2023a): Priorities for 2021-2027. Internet: https: / / ec.europa.eu/ regio nal_policy/ policy/ how/ priorities_en Europäische Kommisssion (2023b): Cohesion 2021-2027: forging an ever stronger Union. Report on the outcome of 2021-2027 cohesion policy programming, SWD (2023) 134 final, Part 1 und 2, Brüssel Europäische Kommission (2024a): European Innovation Scoreboard 2024, Luxemburg Europäische Kommission (2024b): Neunter Bericht über den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt, Brüssel Europäische Kommission (2024c): Forging a sustainable future together: cohesion for a compe‐ titive and inclusive Europe. Report of the High-Level-Group on the Future of cohesion policy, Brüssel Europäischer Rechnungshof (2023): EU-Finanzierung im Rahmen der Kohäsionspolitik und der Aufbau- und Resilienzfazilität: eine vergleichende Untersuchung, Analyse 01/ 2023, Luxemburg Fontàs, Eugènia L. (2023): Cohesion Policy and the European Semester: a love (or hate) story? , Reflection Paper, CPMR, Brüssel, Rennes Franks, Jeffrey/ Barkbu, Bergljot/ Blavy, Rodolphe/ Oman, William/ Schoelermann, Hanni (2018): Economic Convergence in the Euro Area: Coming Together or Drifting Apart? 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Intereconomics (2019): Economic Convergence or Divergence in the EU? , vol. 54, H. 1 (mit Beiträgen von Cinzia Alcidi, László Andor, Christian Bodewig, Giuseppe Celi, Mathias Dolls, Barry Eichengreen, Clemens Fuest, Dario Guarascio, Carla Krolage, Florian Neumeier, Cristob al Ridao-Cano, Annamaria Simonazzi, Daniel Stöhlker, Charles Wyplosz) Koopmann, Gert J. (2022): „Cohesion policy and the Recovery and Resilience Facility: not just two sides of the same coin“, in: ECA Journal N o 1: Cohesion and Next Generation EU: concord or clash? , S.-27-31 Maucorps, Ambre/ Römisch, Roman/ Schwab, Thomas/ Vujanovic, Nina (2022): The Future of EU Cohesion. Effects of the Twin Transition on Disparities across European Regions, Bertelsmann Stiftung, Berlin 214 8 Kohäsion in der Europäischen Union und die Bedeutung der Regionalpolitik <?page no="215"?> Monfort, Philippe (2020): Convergence of EU Regions Redux. Recent Trends in Regional Disparities, WP 02/ 2020, Luxemburg Petzold, Wolfgang (2023): „Die EU Kohäsionspolitik und die Regionen: Nach der Reform ist vor der Reform“, in: Europäisches Zentrum für Föderalismus-Forschung Tübingen (EZFF) (Hrsg.): Jahrbuch des Föderalismus 2023. Föderalismus, Subsidiarität und Regionen in Europa, Bd. 24, Baden-Baden, Nomos S.-437-453 Pina, Álvaro/ Sicari, Patrizio (2021): Enhancing regional convergence in the European Union, OECD Economic Department Working Papers No. 1696 Putnam, Robert D. (2000a): Bowling alone - The collapse and revival of American community, New York, Simon & Schuster Paperbacks Putnam, Robert D. (2000b): „Niedergang des sozialen Kapitals. Warum kleine Netzwerke wichtig sind für Staat, Wirtschaft und Gesellschaft“, in: Dettling, Warnfried (2000): Denken, Handeln, Gestalten. 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Folgen Sie dem Link oder nutzen Sie den QR-Code. 🔗 https: / / narr.kwaest.io/ s/ 1346 Leitfragen • Weshalb ist die internationale Umweltpolitik wichtig und besonders komplex? • Welche Vorschläge lassen sich aus der ökonomischen Theorie für den Umgang mit Externalitäten und öffentlichen Gütern ableiten? • Welche Eckpunkte charakterisieren die europäische Umweltpolitik? 9.1 Einführung Der Anstieg der Treibhausgasemissionen, die deutlich messbare Erderwärmung um 1,5 Grad gegenüber dem vorindustriellen Niveau, die wachsende Zahl extremer Wet‐ tereignisse, der Verlust an Biodiversität, der steigende Ressourcenverbrauch und die Migration von Menschen in Folge schwieriger werdender klimatischer Bedingungen zeigen beispielhaft, dass Gesellschaften neue Wege des Umgangs mit den natürlichen Grundlagen der Erde finden müssen (vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz 2024a, 2024b). Diese Themen haben zunehmend auch die Agenda der EU beeinflusst. Die europäische Umweltpolitik wurde zu einem zentralen Leitthema der Europäischen Union. 9.2 Theoretische Grundlagen der europäischen Umweltpolitik Die europäische Umweltpolitik ist durch besondere Komplexität geprägt. Sechs öko‐ nomische Aspekte stellen eine besondere Herausforderung für die Ausgestaltung der Politik dar: Die besondere Relevanz transnationaler externer Effekte, die Problematik öffentlicher Güter und des Trittbrettfahrerverhaltens, die Herausforderung des inter‐ nationalen Handels und des Problems des „Carbon Leakage“, die Bepreisung von Verschmutzung, die fehlende Information über Umwelteffekte bzw. die asymmetrisch verteilte Information über Umweltauswirkungen und die Suche nach dem geeigneten Wachstumsmodell. <?page no="217"?> 9.2.1 Transnationale externe Effekte als Herausforderung für die Politik Externe Effekte entstehen, wenn durch Produzenten oder Konsumenten die Wohlfahrt von Dritten positiv oder negativ verändert wird, ohne dass diese Wohlfahrtsänderung durch einen Preis kompensiert wird. Solche Externalitäten können substanzielle Fehl‐ anreize bewirken, da Güter und Ressourcen nicht gemäß ihrer Knappheit eingesetzt werden. Die ökonomische Theorie zeigt verschiedene Wege auf, wie dieses Problem gelöst werden kann: Ordnungsrechtliche Ansätze wie Verbote oder Vorgaben hinsicht‐ lich der verwendeten Technologien stehen der Nutzung von Marktmechanismen wie Steuern und Zertifikatlösungen gegenüber. Ein besonderes Problem stellen transnationale Externalitäten dar, da die oben genannten staatlichen Maßnahmen wegen ihrer nationalen Natur nicht greifen. Grenz‐ überschreitende externe Effekte innerhalb der EU stehen im Zentrum der Begründung für die Notwendigkeit gemeinschaftlichen europäischen Handelns: Gemeinsame Ver‐ abredungen über Regeln, die Abstimmung oder Harmonisierung hinsichtlich der Kosten der Umweltnutzung sind potenziell wohlfahrtssteigernd. Sie sind gleichzeitig kompliziert, da insbesondere Vorstellungen gegenüber Umweltbelastungen nicht nur innerhalb von Ländern, sondern auch zwischen Ländern weit streuen können. So sei etwa auf die Akzeptanz von Atomkraft in Frankreich verwiesen und auf die überwie‐ gende Ablehnung und auch den Konflikt über die Behandlung von Atomkraft als Übergangstechnologie im Jahr 2022 in der europäischen Taxonomie (vgl. Europäisches Parlament 2022). Transnationale externe Effekte der Produktion, welche die Grenzen der EU über‐ schreiten, können nicht innerhalb der EU-Governance-Strukturen gelöst werden. Hier bedarf es anderer Lösungsansätze und Herangehensweisen. 9.2.2 Klimaschutz als öffentliches Gut und die Trittbrettfahrerproblematik Die steigenden Treibhausgasemissionen erfordern kollektives Handeln auf globaler Ebene. Allerdings ist die Zahl der Akteure so groß, dass es trotz des Wissens um die Zusammenhänge nicht zu ausreichenden Maßnahmen zum Klimaschutz kommt. Ein großer Teil der Akteure hofft auf das Handeln anderer und vermeidet eigene Anpassungsschritte. Damit ist das Problem eines öffentlichen Gutes beschrieben: Wenn Länder entschieden gegen weitere Emissionen vorgehen und damit einen Beitrag zur Lösung der Klimakrise leisten, kann niemand von den Vorteilen dieses Handelns ausgeschlossen werden (Nicht-Ausschluss-Prinzip). Jeder Akteur profitiert davon, ohne dass der Nutzen des einen den Nutzen des anderen schmälern würde (Nicht-Riva‐ litäts-Prinzip). Obgleich die Akteure wissen, dass kollektives Nicht-Handeln (oder nur punktuelles Handeln) zur Gefahr für die Welt wird, kommt es nicht zur notwendigen Reaktion. Internationale Verhandlungen sind in einer Welt ohne Weltregierung der naheliegende Lösungsweg (vgl. Tirole 2017). 9.2 Theoretische Grundlagen der europäischen Umweltpolitik 217 <?page no="218"?> 9.2.3 Internationaler Handel, Carbon Leakage und die Schaffung eines Klima-Clubs Ein besonderes Problem umweltpolitischer Regulierung ist die potenzielle Verlagerung der Produktion in ein Land, in dem das Regulierungsniveau niedriger ist, da sich einige Länder möglicherweise kurzfristige Vorteile wie Arbeitsplatzschaffung erhoffen oder die Umwelteffekte anders bewerten. Innerhalb der Europäischen Union kann diesem Problem durch harmonisierte Regeln oder einer einheitlichen Regulierung Rechnung getragen werden. Im Handel mit Staaten außerhalb der Europäischen Union ist dies ein weniger leicht lösbares Problem. Im Kontext der Produktion von Gütern, welche mit der Emission von CO 2 („carbon“) verbunden ist, wird der Effekt der Verlagerung der Produktion in Länder mit niedrigerem Regulierungsniveau als „carbon leakage“ bezeichnet. Aus einer globalen ökologischen Perspektive ist durch die Verlagerung kein positiver Umwelteffekt erzielt. Falls die eingesetzte Technologie weniger modern ist, kann es gar zu einem Anstieg der weltweiten Umweltbelastung kommen. Eine Lösung kann die Gründung eines Clubs von Ländern sein, der gemeinsame ambitionierte Emissionsstandards festlegt, und damit sicherstellt, dass die Produktion unter Berücksichtigung der wahren Kosten erfolgt. Der Import von Gütern, die mit Produktionsstandards, welche höhere Emissionen zulassen, hergestellt wurden, kann komplett ausgeschlossen werden. Somit wird innerhalb des Clubs die Auslagerung der Produktion verhindert (vgl. Nordhaus 2015, S. 1339-1370). Diese Idee eines Klima-Clubs kann mit einem Grenzausgleichssystem kombiniert werden, wenn Im‐ porte aus Ländern mit niedrigeren Standards mit einer entsprechenden Ausgleichszah‐ lung bei Grenzübertritt belastet werden (vgl. Nordhaus 2015, Mahlkow/ Wanner/ Fel‐ bermayer u.-a. 2021, Söllner 2022, S.-609-617). 9.2.4 Die ökonomisch optimale Bepreisung von Verschmutzung Die marktwirtschaftliche Allokationslogik basiert ganz wesentlich auf der Grundlage, dass Wirtschaftssubjekte in der Regel auf ökonomische Anreize reagieren. Höhere Preise für die Nutzung von Ressourcen führen daher tendenziell zu einem geringeren Verbrauch. Übertragen auf den Markt für Energie gilt somit, dass höhere Kosten für den Energieverbrauch auch den Verbrauch senken. Ordnungsrechtliche Regelungen wie Vorgaben hinsichtlich der eingesetzten Technologien sind möglich, aber häufig ineffizient. Eine Steuer oder die Bepreisung von Emissionen durch die Einführung von Zertifikaten, welche den Vorteil einer vorhersehbaren mengenmäßigen Begrenzung implizieren, sind die bevorzugten Lösungen, da sie die Kosten der Vermeidung der Emission in das Kalkül der Akteure bringen. Wichtig ist, dass innerhalb eines Marktes ein einheitlicher Preis gilt. Ideal wäre aus einer ökonomischen Perspektive ein weltweit einheitlicher Preis (vgl. Tirole 2017, S.-229). 218 9 Die Umweltpolitik der Europäischen Union <?page no="219"?> 9.2.5 Informationsasymmetrien auf Märkten und umweltgerechtes Handeln Die optimale Allokation durch Märkte ist entscheidend von der Verteilung relevanter Informationen abhängig. Sind die Marktteilnehmer schlecht bzw. nur einseitig gut informiert, kommt es potenziell zu Fehlallokationen. Die Lösung des Problems der Informationsasymmetrie durch individuelle Informationsbeschaffung kann wegen der damit verbundenen Kosten nur ein Teil der Lösung sein. Meist bedarf es übergreifender Lösungen. Im europäischen Binnenmarkt kann die Europäische Union durch Trans‐ parenz- und Publizitätsstandards dafür sorgen, dass die Informationsbasis und die Qualität der Information das Problem begrenzt. Die Fähigkeit, Umwelteffekte in das Kalkül der Konsumenten, der Produzenten und auch des Finanzsektors einzubeziehen wird ganz wesentlich von der Informationslage bestimmt. 9.2.6 Die Kontroverse um das Wirtschaftsmodell der Zukunft Die Frage, welches Wirtschaftsmodell und welche Lebensweise angesichts des wach‐ senden Ressourcenverbrauchs, steigender Temperaturen, sinkender Biodiversität und anderer spürbarer Veränderungen des Naturkapitals zukunftsfähig ist, wird zuneh‐ mend diskutiert (vgl. Koch/ Frambach 2024). Die Notwendigkeit einer Anpassung wird nicht mehr ernsthaft in Zweifel gezogen. Die Antworten auf die Frage nach der konkreten Ausgestaltung der Anpassung unterscheiden sich jedoch deutlich. Auf der einen Seite des Spektrums dominiert die Zuversicht, dass innerhalb der marktwirt‐ schaftlichen Ordnung die Umweltprobleme angemessen adressiert werden können. Es wird darauf verwiesen, dass es bereits in der Vergangenheit durch veränderte Anreize und systemimmanente Modifikationen zu einer gewissen Entkoppelung von Ressour‐ cenverbrauch und Wirtschaftswachstum kam und dass eine weitere Stärkung dieses Weges als sinnvoll erachtet wird. Ein „grünes Wachstum“ ist aus dieser Perspektive möglich und sogar erforderlich, um die Kosten für die sozial-ökologische Transforma‐ tion tragen zu können. Erforderlich für diesen Kurs sind entschiedenes politisches Handeln, höhere Preise für die Nutzung natürlicher Ressourcen und die Förderung von Innovationen (vgl. von Hauff 1998, Gates 2021, S. 249). Auf der anderen Seite des Spektrums dominiert die Skepsis gegenüber dem Profitstreben der Unternehmen, gegenüber dem marktwirtschaftlichen System, gegenüber der Fähigkeit des politischen Systems, die Grenzen des Wachstums realistisch einzuschätzen. Die Bepreisung von natürlichen Ressourcen, von Biodiversität und der Handel mit Verschmutzungsrechten werden als Irrweg gesehen. Vertreter dieser Denkschule reklamieren ein Ende des Wachstums, eine Reduzierung nicht nur des Ressourcenverbrauchs, sondern auch des Konsumniveaus. Sie fordern eine fundamentale Veränderung der Lebensweise. Diese Position wird meist mit dem Begriff des „De-growth“ beschrieben (vgl. Raworth 2024; Beckert 2024). Die Idee des „Postwachstums“ - in manchen Publikationen gleichgesetzt mit der De-Growth-Idee - ist dazwischen angesiedelt, sie betont den Gedanken der Vorsorge, sie ist wachstumskritisch, besteht aber für eine sozial-ökologische Transfor‐ 9.2 Theoretische Grundlagen der europäischen Umweltpolitik 219 <?page no="220"?> mation nicht zwingend auf einer Reduzierung der Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung (vgl. Holzmann/ Petersen/ Posch u.-a. 2022, S.-37-39). 9.3 Die vertragliche Verankerung der Umweltpolitik der EU In der zweiten Hälfte des 20.-Jahrhunderts wuchs in Europa die Sensibilität für Umwelt‐ fragen. Der Bericht des Club of Rome in den 70er-Jahren verankerte die Erkenntnis der Begrenztheit der Ressourcen in dem öffentlichen Raum (vgl. Dixson-Declève/ Gaffney/ Gosh u. a. 2022). Als sich im Jahr 1992 in Rio de Janeiro Vertreter von 178 Ländern zur UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung trafen, verständigte sich die Weltge‐ meinschaft auf das Leitbild der „nachhaltigen Entwicklung“ und auf Konventionen zum Klimaschutz, zum Schutz der Biodiversität und zur Bekämpfung der Wüstenbildung. Schließlich wuchs auch die Erkenntnis, dass die CO 2 -Emissionen ursächlich für die Erd‐ erwärmung sind und kollektives Handeln gefordert ist. Die Klimakonferenzen spielten für die internationalen Debatten eine wichtige Rolle. Das Kyoto-Protokoll aus dem Jahr 1997 zeigte einen innovativen Weg auf, um gemeinsam auf die Herausforderung zu reagieren. Erstmalig verständigte sich eine große Zahl von Länden auf die Einführung von Emissionszertifikaten und auf Instrumente, um Länder im Globalen Süden dabei zu unterstützen, die Emissionen zu reduzieren. 9.3.1 Die Institutionalisierung der Umweltpolitik in der Europäischen Union Parallel zu der wachsenden Bedeutung der Umweltpolitik schlug sich seit den 80er-Jah‐ ren des 20. Jahrhunderts die Bedeutung der Umweltpolitik als eigenständiges Politik‐ feld auch in der Schaffung von Ministerien, öffentlichen Einrichtungen, Nichtregie‐ rungsorganisationen und anderen auf Umwelt spezialisierten Organisationen nieder. Auf der europäischen Ebene war dieser Zeitabschnitt entscheidend für die Aufnahme umweltpolitischer Themen in den Primärvertrag (vgl. Knill/ Lenschow 2000). Die Ein‐ heitliche Europäische Akte enthielt explizite Regelungen für die gemeinsame Umwelt‐ politik: Ein neuer Titel „Umwelt“ wurde eingeführt, der die erste Rechtsgrundlage für die gemeinsame Umweltpolitik darstellte (vgl. Europäisches Parlament 2024). Die Ziele „Schutz der Umwelt“, „Schutz der menschlichen Gesundheit“ und die „Umsichtige und rationelle Verwendung der natürlichen Ressourcen“ wurden festgeschrieben. In dem Vertrag von Maastricht wurde dies weiter ausgebaut und das Ziel der „nachhaltigen Entwicklung“ festgehalten. In dem Vertrag von Amsterdam wurde die nachhaltige Entwicklung zu einem der vorrangigen Ziele erklärt (vgl. Europäisches Parlament 2024, Delreux/ Happaerts 2016, S.-12-42). In dem 2009 in Kraft getretenen Vertrag über die Europäische Union wird in Artikel 3 die Bedeutung dieses Politikbereiches betont: Die Union soll eine nachhaltige Entwicklung anstreben, und auf ein hohes Maß an Umweltschutz und die Verbesserung der Umwelt‐ qualität hinwirken. In dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union sind die 220 9 Die Umweltpolitik der Europäischen Union <?page no="221"?> zentralen Eckpunkte der Umweltpolitik in Artikel 191-193 beschrieben. In Artikel 191 (1) wird formuliert, dass die Umweltpolitik der EU zur Realisierung der folgenden Ziele bei‐ trägt: Der Erhaltung und dem Schutz der Umwelt sowie der Verbesserung ihrer Qualität, dem Schutz der menschlichen Gesundheit, der umsichtigen und rationellen Verwendung der natürlichen Ressourcen, und der Förderung von Maßnahmen auf internationaler Ebene zur Bewältigung regionaler oder globaler Umweltprobleme und insbesondere zur Bekämpfung des Klimawandels. Das Prinzip der Vorsorge und Vorbeugung findet sich dort ebenso wie die Betonung des Verursacherprinzips. Auch wird explizit in Artikel 191 (4) auf die Zusammenarbeit mit anderen Ländern und den für Umweltfragen zuständigen internationalen Organisationen rekurriert. 9.3.2 Multi-Level Governance in der Umweltpolitik Auch in diesem Bereich ist die Verantwortung für die Umweltpolitik auf mehreren Ebenen angesiedelt („Multi-Level-Governance“). Grundsätzlich muss das Prinzip der Subsidiarität beachtet werden. Dort, wo sich die Umweltbedingungen vor Ort funda‐ mental von anderen Orten unterscheiden, ist, so wie in der Theorie des Fiskalischen Föderalismus empfohlen, die Verantwortung auf der unteren Ebene anzusiedeln. Dort allerdings, wo dezentrales Handeln in einer Konkurrenz um niedrige Standards münden kann, wo transnationale externe Effekte wichtig sind, wo es globale öffentliche Güter gibt, ist zentrales Handeln gefordert. 9.4 Instrumente der Europäischen Umweltpolitik - ein Überblick 9.4.1 Strukturierung umweltpolitischer Instrumente Umweltpolitische Instrumente können nach unterschiedlichen Kriterien klassifiziert werden (vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Ent‐ wicklung 2019) • Die ökonomische Debatte über Umweltpolitik befasst sich stets mit der Frage, in welchen Fällen freiwillige, ordnungsrechtliche, marktwirtschaftliche oder infor‐ mationsorientierte Lösungen angemessen sind. • Bei den marktwirtschaftlichen Instrumenten ist zwischen Steuern, Zertifikaten und Subventionen zu unterscheiden. • Instrumente können harte rechtsverbindliche und einklagbare Ziele festlegen oder sie können angesichts schwer prognostizierbarer Entwicklungen allgemeine Ziele formulieren. • Die EU kann dort mit Verordnungen agieren, wo die Bedingungen sehr ähnlich sind, und mit Richtlinien, wenn die Rahmenbedingungen in den Mitgliedstaaten große Unterschiede aufweisen. 9.4 Instrumente der Europäischen Umweltpolitik - ein Überblick 221 <?page no="222"?> • Instrumente können auf das Mindern („Mitigation“) des Klimawandels oder auf die Anpassung („Adaptation“) an den Klimawandel ausgerichtet sein. 9.4.2 Umweltpolitik als Querschnittaufgabe Von essenzieller Bedeutung ist die Erkenntnis, dass umweltpolitische Ziele nicht allein durch ein eng verstandenes Instrumentarium eines Umweltministeriums erreicht wer‐ den können. Vielmehr ist Umweltpolitik eine Querschnittsaufgabe, wie die folgenden Beispiele zeigen: Agrarpolitische Maßnahmen betreffen die Bodenqualität, sie haben Einfluss auf die Wasserqualität und auf die Biodiversität. Die Handelspolitik kann durch Grenzausgleichsmechanismen dem Carbon Leakage entgegentreten. Die Ent‐ wicklungspolitik kann Staaten darin unterstützen, den global erforderlichen Wandel in den Ländern des globalen Südens anzugehen. 9.5 Die Neuausrichtung der Umweltpolitik seit 2019 Seit 2019 erhielt die Umweltpolitik der EU eine weitere Aufwertung: Die Kommission richtete ihre Politik neu aus, die Umweltpolitik rückte in das Zentrum des politischen Handelns. Dies hatte tiefgreifende Auswirkungen auf die Arbeit der EU. 9.5.1 Ein europäischer Grüner Deal - der Versuch einer umfassenden Berücksichtigung von Umweltaspekten in der Politik der EU Seit dem Jahr 2019 verfolgt die Kommission eine Politik, die in Anlehnung an den New Deal in den USA in der 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts als „Europäischer Grüner Deal“ bezeichnet wird. Eine Umgestaltung der Wirtschaft in der EU mit Blick auf Nachhaltigkeit sollte die EU weltweit als globalen Vorreiter eines neuen Wirtschaftsmodells positionieren. Die Leitlinien wurden in der Mitteilung 2019 mit acht Zielen beschrieben (vgl. Europäische Kommission 2019) und haben seit dieser Zeit die Arbeitsweise der Union bestimmt. Ambitionierte Klimaschutzziele der EU für 2030 und 2050 Die bereits eingeleitete Entkoppelung des Energieverbrauchs vom Wirtschaftswachs‐ tum soll weitergeführt und verstärkt werden. Die Senkung der Treibhausgasemis‐ sionen wird zum zentralen Ziel bestimmt, bis 2050 soll Klimaneutralität erreicht werden. Im Jahr 2021 wurde ein Europäisches Klimagesetz verabschiedet, welches das Ziel rechtsverbindlich festschreibt. In Artikel 2 heißt es unmissverständlich: „Die unionsweiten im Unionsrecht geregelten Treibhausgasemissionen und deren Abbau müssen in der Union bis spätestens 2050 ausgeglichen sein, sodass die Emissionen bis zu diesem Zeitpunkt auf netto null reduziert sind“ (Verordnung (EU) 2021/ 1119). 222 9 Die Umweltpolitik der Europäischen Union <?page no="223"?> Versorgung mit sauberer, erschwinglicher und sicherer Energie Die EU treibt mit ihrer Politik die Dekarbonisierung des Energiesystems weiter voran. Die Verringerung der Nutzung fossiler Brennstoffe, die Verbesserung der Energieeffi‐ zienz und die Reduzierung der Abhängigkeit von Energieeinfuhren wird angestrebt. Erneuerbare Energien sollen an Bedeutung gewinnen. Damit soll der ökologische Fußabdruck der EU substanziell reduziert werden. Zahlreiche Initiativen und Rechts‐ vorschriften setzen diese Politik um. Mit der Erneuerbare-Energien-Richtlinie wird beispielsweise angestrebt, bis 2030 einen Zielwert von 42,5 % den Energieverbrauchs aus erneuerbaren Quellen zu erreichen. Für jeden Sektor werden Zielvorgaben festge‐ legt. Mobilisierung der Industrie für eine saubere und kreislauforientierte Wirtschaft Produktionsprozesse sollen, so die Zielvorstellung, in der Zukunft kreislauforientiert sein. Die Umorientierung der Wirtschaft hin zu einer Kreislaufwirtschaft bedeutet, dass Materialien und Produkte so lange wie möglich genutzt werden. Es sollen weniger Rohstoffe verwendet werden, das Design der Produkte soll den Gedanken der Nachhaltigkeit berücksichtigen, die Herstellung soll umweltschonend und der Vertrieb nachhaltig organisiert sein, Produkte sollen wiederverwendbar und Reparaturen mög‐ lich sein. Produkte sollen nach dem Konsum gesammelt und ggf. recycelt werden, der Abfall behandelt werden (vgl. Europäisches Parlament 2023). Die Kommission legte 2020 einen Aktionsplan für die Kreislaufwirtschaft vor, und folgte zwei Jahre später mit einem Maßnahmenpaket zur Beschleunigung des Übergangs zu einer Kreislaufwirtschaft. Energie- und ressourcenschonendes Bauen und Renovieren Der Wohnbereich ist verantwortlich für einen erheblichen Teil der Emissionen. Die Politik der EU setzt darauf, dass das Potenzial zur Reduzierung der Treibhausgasemis‐ sionen genutzt wird. Um den Energieverbrauch in Gebäuden zu senken, einigte sich die EU auf neue Standards für die Wärmeerzeugung. Die überarbeitete Gebäudeener‐ gieeffizienz-Richtlinie soll dazu beitragen, dass mittelfristig in Gebäuden keine fossilen Brennstoffe mehr genutzt werden. Die Standards für Gebäude sollen so verändert werden, dass der Energieverbrauch gesenkt werden kann. In älteren Gebäuden sollen sukzessive Sanierungsmaßnahmen zur Verringerung des Energiebedarfs führen. Null-Schadstoff-Ziel für eine schadstofffreie Umwelt Teil des Grünen Deals sind Maßnahmen, um die Qualität der Luft, des Bodens und der Gewässer zu verbessern. Auch Schadstoffe in den Konsumgütern sollen verstärkt adressiert werden. Im Jahr 2021 wurde der Aktionsplan „Schadstofffreiheit von Luft, 9.5 Die Neuausrichtung der Umweltpolitik seit 2019 223 <?page no="224"?> Wasser und Boden“ angenommen. In der Folge wurde eine Vielzahl von Maßnahmen ergriffen. Ökosysteme und Biodiversität erhalten und wiederherstellen Die im Jahr 2020 vorgestellte Biodiversitätsstrategie der EU für 2030 stellt ab auf die Erhaltung und Wiederherstellung des europäischen Naturkapitals. Nicht nur, so die Begründung, ist die Vielfalt des Lebens auf der Erde per se schützenswert, sondern diese hat auch essentielle Bedeutung für die Gesundheit und Widerstandsfähigkeit von Gesellschaften sowie konkrete Auswirkungen auf viele Wirtschaftszweige und die Ernährungssicherheit in der EU. Die Strategie enthält Zielvorgaben für Schutzgebiete und Maßnahmen zur Wiederherstellung geschädigter Ökosysteme (vgl. Europäische Kommission 2020). „Vom Hof auf den Tisch“ - Ein faires, gesundes und umweltfreundliches Lebensmittelsystem Das EU-Lebensmittelsystem soll nachhaltiger gestaltet werden (vgl. Kapitel 7). Die Produktion und Bereitstellung von gesunden Nahrungsmitteln sollen stärker als in der Vergangenheit die ökologischen Grenzen beachten. Die Reduktion des Einsatzes von Pestiziden und Düngemitteln wird angestrebt. Die für die ökologische Landwirtschaft genutzte Landfläche soll ausgeweitet werden. Eine Änderung des Konsumverhaltens wird angestrebt. Insgesamt soll der Schutz der Umwelt und die Erhaltung der Biodi‐ versität besser mit dem Ziel der Bereitstellung sicherer und qualitativ hochwertiger Nahrungsmittel verknüpft werden. Im Jahr 2021 wurde ein Aktionsplan für ökologi‐ sche Landwirtschaft verabschiedet. In weiteren Initiativen wurden andere Aspekte der umfassenden Umgestaltung aufgegriffen, so etwa in den 2022 verabschiedeten Schlussfolgerungen zu einer klimaeffizienten Landwirtschaft. Raschere Umstellung auf eine nachhaltige und intelligente Mobilität Die verkehrsbedingten Emissionen sollen durch die Hinwendung zu einer nachhaltigen Mobilität deutlich gedrosselt werden. Dies soll auch durch die verstärkte Nutzung des Schienenverkehrs erreicht werden. Die Kosten von Transportleistungen sollen zukünftig verstärkt die externen Kosten, insbesondere die Auswirkungen auf Umwelt und Gesundheit, berücksichtigen. Die Dekarbonisierung im Straßen-, Schienen- und Seeverkehr soll durch die Entwicklung einer entsprechenden Infrastruktur für das Laden von Energie ermöglicht werden. 224 9 Die Umweltpolitik der Europäischen Union <?page no="225"?> 9.5.2 Ein Grüner Industrieplan als Weiterentwicklung des Grünen Deal Im Jahr 2023 wurde ergänzend und präzisierend ein „Grüner Industrieplan - für mehr Wettbewerbsfähigkeit und den Übergang zur Klimaneutralität“ vorgestellt. Die Kommission benennt vier Säulen dieses Plans: ein vereinfachter regulatorischer Rahmen, ein schnellerer Zugang zu Finanzmitteln, die Stärkung der Kompetenzen der Arbeitskräfte und ein offener Handel für widerstandsfähige Lieferketten (vgl. Europäische Kommission 2023). 9.6 Die Bewertung des Instrumenteneinsatzes Die EU hat eine Vielzahl von Maßnahmen ergriffen; auf einige ökonomisch relevante Ansätze wird nachfolgend eingegangen. 9.6.1 Klimaschutz als globale Herausforderung - europäische Wege zum kollektiven Handeln Das Problem des globalen Temperaturanstiegs ist nur gemeinsam lösbar. Um effektiv zu sein, muss sich eine große Zahl von Staaten auf die Begrenzung verständigen. Die langfristigen Vorteile des kollektiven Handelns sind evident. Box 51 | Erklärungsansätze für nationale Zurückhaltung bei Vereinbarungen zur Emissionsminderung Eine allgemeine Verständigung auf ein globales Ziel ist jedoch leichter als eine spezifische Verpflichtung auf nationale Minderungsziele. Länder haben jeweils aus der eigenen Perspektive Gründe, warum sie nicht die Ersten sein wollen, die handeln: Manche Länder des Globalen Südens argumentieren, dass die meisten Treibhausgasemissionen in der Vergangenheit durch die heutigen Industriestaaten verursacht wurden und die Hauptlast der Einsparung daher im Norden erfolgen muss. Hinzu kommt, dass die Treibhausgasemissionen pro Kopf in Ländern des Nordens weit höher liegen als in Ländern des Globalen Südens. Ihnen würde zudem das Recht auf Entwicklung abgesprochen, wenn ihre Emissionen vor Erreichen eines bestimmten Entwicklungsstandes begrenzt werden. Auch wird verschiedentlich vorgebracht, dass die mit der Produktion verbundenen Emissio‐ nen für Konsumgüter in Industrieländern diesen zugerechnet werden sollten. Schließlich wird auf große Emittenten wie die USA verwiesen, die sich lange Zeit einer Selbstbindung entzogen haben. Darüber hinaus ist die Verringerung der Treibhausgasemissionen meist mit kurzfristigen Kosten verbunden, die möglicher‐ weise von Gruppen zu tragen sind, die vulnerabel sind, oder in manchen Fällen auch besonders artikulationsstark. Ferner ist in Staaten, in denen das umweltpolitische 9.6 Die Bewertung des Instrumenteneinsatzes 225 <?page no="226"?> Bewusstsein noch schwach entwickelt ist, die Bereitschaft zur Anpassung gering. In der Summe gilt, dass für viele Länder der Anreiz zum Trittbrettfahren groß ist. Der entscheidende Weg zum Finden einer von den Ländern mitgetragenen Lösung ist zunächst die Sensibilisierung der Weltöffentlichkeit und der relevanten Zielgruppen für die Notwendigkeit des Handelns. Nachfolgend müssen internationale Verhandlun‐ gen den Weg aufzeigen. Ähnlich wie bei den erfolgreichen GATT-Verhandlungen der Vergangenheit, in denen das Prinzip der Reziprozität und damit der allseitigen Bereitschaft zu Kompromissen wegweisend war, ist auch hier kollektives Handeln nur denkbar, wenn alle Seiten zu Zugeständnissen bereit sind. Im Rahmen der Konferenzen im Rahmen der UN Framework Convention on Climate Change (UNFCC) werden die globalen Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels beraten. Am Ende der COP 21 in Paris (21. „Conference of the Parties“) wurde das wichtige Pariser Klimaabkommen beschlossen. Im Rahmen eines völkerrechtlich bindenden Vertrages verabredeten die Unterzeichner, die Treibhausgasemissionen auf ein Niveau zu reduzieren, welches den Temperaturanstieg auf unter 2 Grad unter das vorindustrielle Niveau bzw. idealerweise auf 1,5 Grad begrenzt. Die Länder einigten sich im Rahmen von nationalen Selbstverpflichtungen auf Einsparungen, deren Erfüllung alle fünf Jahre überprüft wird. Da die Klimapolitik nur dann erfolgreich sein wird, wenn ein großer Teil der Emittenten an der Reduzierung der Emissionen mitwirkt, sah das Pariser Abkommen eine Mindestbeteiligung vor: mindestens 55 Staaten, die mindestens 55 Prozent der globalen Treibhausgasemissionen verursachen, mussten dem Vertrag zustimmen. Dies gelang. Die EU, die USA und China gehören zu den Unterzeichnern des Abkommens. Insbesondere die EU war treibende Kraft in der Verständigung auf dieses globale Abkommen, welches mehr als 190 Staaten unterzeichnet haben. Die EU wirkt im Rahmen anderer internationaler Zusammenkünfte auf ambitio‐ nierte Anstrengungen auf globaler Ebene hin: Zusammenkünfte der G7, der G20 oder der asiatischen und europäischen Mitgliedstaaten des Asia-Europe-Meetings (ASEM) stehen beispielhaft für Initiativen, die von der EU genutzt wurden, um den Dialog über Klimapolitik zu führen und sukzessive Handlungsdruck zu erzeugen. Auch in regionalen Abkommen mit Handelspartnern verabredet die EU gemeinsa‐ mes Vorgehen im Bereich des Klimaschutzes und unterscheidet sich hinsichtlich des Anspruchs hier deutlich von anderen Staaten. Mehrere Handelsabkommen enthalten Kapitel zu Fragen der Nachhaltigkeit (vgl. Gonzales/ Bourgeois 2023, S. 187-189). In dem Freihandelsabkommen zwischen der EU und Japan heißt es beispielsweise in Art 16.4: “Die Vertragsparteien bekräftigen ihre Zusage, das UNFCCC und das am 12. Dezember 2015 von der Konferenz der UNFCCC-Vertragsparteien auf ihrer 21. Tagung in Paris unterzeichnete Übereinkommen von Paris wirksam umzusetzen. Die Vertragsparteien arbeiten gemeinsam darauf hin, den positiven Beitrag des Handels 226 9 Die Umweltpolitik der Europäischen Union <?page no="227"?> beim Übergang zu einer treibhausgasarmen und klimaresilienten Entwicklung stärker zum Tragen zu bringen“. 9.6.2 Der Einsatz von Emissionszertifikaten in der europäischen Umweltpolitik Zentrales Instrument der Steuerung der Emissionsreduktion ist der Zertifikatehandel. Das EU Emission Trading System (EU ETS) begrenzt die Emissionen von Energieer‐ zeugern und anderen energieintensiven Industrien. Das System wurde schrittweise ausgeweitet und im Jahr 2023 grundlegend reformiert. Gemäß der Reform werden die Emissionsberechtigungen weiter gesenkt und einige der in der Vergangenheit erfolgten kostenlosen Zuteilungen werden nicht mehr gewährt. Auch im Seeverkehr werden ab 2024 Zertifikate zur Begrenzung der Emissionen eingesetzt: Fahrten innerhalb des Eu‐ ropäischen Wirtschaftsraums werden in den Emissionshandel vollständig einbezogen. Auch im Luftverkehr werden die Regeln verschärft. Zudem wurde verabredet, dass die Einnahmen aus dem Zertifikatehandel zukünftig in Klimaschutzmaßnahmen oder sozialen Ausgleich fließen müssen (vgl. Umweltbundesamt 2023). Die Bepreisung von Emissionen und das Vorgehen im Rahmen des Cap-and-Trade-Systems, also der Begrenzung („Cap“) und des Handels mit den Berech‐ tigungen („Trade“), ist grundsätzlich dem ordnungsrechtlichen Regulierungsansatz und detaillierten Vorgaben überlegen: Es kommt zur Wahl der kostengünstigsten Option der Emissionsvermeidung (statische Effizienz) und Unternehmen haben ein Eigeninteresse an Innovationen (dynamische Effizienz). Allerdings ist sowohl inner‐ halb der EU als auch und vor allem außerhalb der EU die Bepreisung von Emissionen sehr unterschiedlich geregelt. Gegenwärtig haben 97 % aller weltweiten Emissionen einen geringeren Preis pro Emissionseinheit als im europäischen Emissionshandel (vgl. Bardt 2024, S. 307). Die EU muss bei dem Einsatz dieses Instrumentes bedenken, dass durch die globale Unterschiedlichkeit der Preise für Emissionen Wettbewerbsverzer‐ rungen resultieren. Die punktuellen Erleichterungen und Übergangsregeln dürften ein notwendiges Zugeständnis an die komplexe Realität sein. Box 52: Emissionshandel Beim Emissionshandel werden Zertifikate gehandelt, die das Recht beinhalten, die Umwelt mit Schadstoffen zu belasten. Staatliche Instanzen legen eine Gesamt‐ emissionsmenge (E*) für einen Zeitraum fest und geben eine entsprechende Anzahl an Emissionsberechtigungen aus, die auf dem Markt frei gehandelt werden können. Dadurch bildet sich ein Preis für diese Umweltzertifikate, so dass Anreize für Emittenten gesetzt werden, ihren Schadstoffausstoß zu vermindern. Intention des Emissionshandels ist es, politisch fixierte Umweltziele zu erreichen, kosteneffizient zu wirtschaften und Innovationen zugunsten einer Emissionsreduktion anzuregen. In → Abb.-54 wird das Prinzip des Emissionshandels vereinfacht dargestellt. 9.6 Die Bewertung des Instrumenteneinsatzes 227 <?page no="228"?> P N Euro/ Emissionseinheit Euro/ Emissionseinheit E max Emissionsniveau E* A E max Emissionsniveau GKV1 GKV2 E‘ E‘‘ P 1,2 Abb.-54: Prinzip des Emissionshandels | Quelle: nach Pindyck/ Rubinfeld 2018 Auf dem Zertifikatemarkt (→ Abb. 54 links) ergibt sich im Schnittpunkt der Nachfragefunktion nach Umweltzertifikaten (N) und der starr verlaufenden Ange‐ botsfunktion (A) zu vorgegebener Emissionsobergrenze (E*) ein Zertifikatepreis (P). Diesen Preis wird jeder Emittent mit seinen Grenzkosten der Verschmutzungs‐ vermeidung vergleichen (→ Abb. 54 rechts) und sich für eine Emissionsreduktion oder den Kauf von Verschmutzungsrechten anderer Produzenten mit geringeren Reduktionskosten entscheiden. Ausgehend von einer Situation ohne Umweltpo‐ litik (E max ) wird das erste Unternehmen mit Grenzkosten der Emissionsvermei‐ dung GKV1 sein Emissionsniveau bis auf E' verringern, bei dem der Preis des Verschmutzungsrechts für eine Emissionseinheit den Grenzkosten der Reduktion um diese Emissionseinheit entspricht. Links davon lohnt sich der Kauf eines Umweltzertifikats, da dann P < GKV1 ist. Entsprechend verhält sich das zweite Unternehmen und realisiert das Emissionsniveau E'', bei dem P = GKV2 gilt. Da die Grenzvermeidungskosten einer Einheit für beide Produzenten gleich sind, ist die Emissionsreduktion kosteneffizient (vgl. Pindyck/ Rubinfeld 2018, S. 771-772, Varian 2016, S. 747-749). Käme es infolge technischer Entwicklung dazu, dass das erste Unternehmen nun Grenzkosten der Emissionsvermeidung von GKV2 aufweist, wäre beim Emissionsniveau E' der Preis eines Umweltzertifikats höher als die Grenzvermeidungskosten (P > GKV2) und das Unternehmen hätte einen Anreiz, den Schadstoffausstoß (bis auf E'') weiter zu verringern (vgl. Pindyck/ Rubinfeld 2018, S.-772-773). Wird in einer späteren Periode die politisch vorgegebene Ober‐ grenze der Emissionen (E*) verknappt und dadurch die Angebotsfunktion auf dem Zertifikatemarkt nach links verlagert, steigt der Preis für Emissionsberechtigungen und der Druck auf die Schadstoffproduzenten nimmt zu, umweltschonend zu wirtschaften. 228 9 Die Umweltpolitik der Europäischen Union <?page no="229"?> 9.6.3 Die Schaffung eines CO 2 -Grenzausgleichssystems Die Europäische Union hat sich 2023 für die Einführung eines Grenzausgleichsystems entschieden, welches ab 2026 mit Einfuhrabgaben auf Produkte arbeiten soll. Der Anwendungsbereich umfasst die Produktion von Eisen und Stahl, Aluminium, Zement, Düngemittel, Strom und Wasserstoff. Die Verlagerung der Produktion und damit der Verlust an heimischen Arbeitsplätzen und Wertschöpfung in der Folge ambitionierter Umweltstandards (Carbon Leakage) soll damit verhindert werden (vgl. Germanwatch 2023). Offen ist gegenwärtig, ob diese Maßnahme mit internationalen Regeln der WTP kompatibel ist und wie die Handelspartner auf diese Initiative reagieren werden: Die EU erhofft sich eine Anhebung von Umweltstandards auch in Ländern außerhalb der EU. Denkbar ist allerdings, dass es vor allem zu einer Umlenkung von Handelsströmen kommt. Interessengruppen können das Argument niedriger Umweltschutzstandards in anderen Ländern als Argument für ohnehin gewünschte protektionistische Maß‐ nahmen nutzen. Eine weitere Eskalation in Handelsauseinandersetzungen ist nicht auszuschließen (vgl. Wolf 2022, S.-731-734, Söllner 2022, S.-609-617). 9.6.4 Berichtspflichten als Instrument zur Erhöhung der Transparenz Umweltgerechtes Verhalten setzt das Wissen über Umwelteffekte voraus. Die EU hat mit zahlreichen Initiativen die Berichtspflichten der Unternehmen hinsichtlich der ökologischen Wirkungen ihrer Tätigkeit erweitert. Drei Initiativen sind besonders relevant: Die Corporate-Sustainability-Reporting-Richtlinie und deren Umsetzung in natio‐ nale Gesetzgebung verpflichtet EU-weit rund 50.000 Unternehmen, Nachhaltigkeits‐ berichte zu erstellen und darin ausführlich über Umweltbelange zu informieren. Enthalten ist dort auch die Vorgabe, darzustellen, inwiefern die Geschäftsmodelle der Unternehmen mit dem Pariser Abkommen zur Begrenzung der globalen Erwärmung kompatibel sind (vgl. Eckhardt 2023). Die EU-Taxonomie stellt den Versuch dar, ein EU-weit gültiges System zur Klassi‐ fizierung von nachhaltigen Wirtschaftsaktivitäten zu etablieren. Die Taxonomie ist insbesondere für den Finanzmarkt von zentraler Bedeutung. Die EU erhofft sich damit eine Umsteuerung der Investitionen hin zu nachhaltigen, klimaschonenden Tätigkeiten. Aufgrund der im Jahr 2024 verabschiedeten Lieferkettenregulierung (der Corporate Sustainability Due Diligence Directive) müssen sich die Unternehmen mit den Risiken ihrer Unternehmensführung auch in ihren Lieferketten befassen. Darunter fallen auch zahlreiche umweltpolitische Anliegen. Die von der Regulierung betroffenen Unternehmen müssen Informationen über Auswirkungen, Risiken und Präventions- und Abhilfemaßnahmen der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen. 9.6 Die Bewertung des Instrumenteneinsatzes 229 <?page no="230"?> 9.6.5 Europa und die Reform des Wirtschaftsmodells Der European Green Deal wurde von der EU als neue umfassende Wachstumsstrate‐ gie kommuniziert. Tatsächlich ist der Grüne Deal ein entschiedener Versuch, das Wirtschaften in Europa mit ökologischen Herausforderungen zu verbinden und eine wirkliche Transformation des Wirtschaftens herbeizuführen. Die Vielzahl der Neure‐ gelungen im Rahmen des „Fit für 55“ Paktes zeigen, dass der im Jahr 2019 formulierte Anspruch des Umsteuerns umgesetzt wird. Die eingesetzten Instrumente bewegen sich innerhalb des marktwirtschaftlichen Systems und sind von der Überzeugung getragen, dass die Ressourcenintensität der Produktion und des Konsums reduziert werden kann und die Entkoppelung des Ressourcenverbrauchs von dem Wirtschaftswachstum möglich ist. Eine große Zahl von Regelungen soll die Transformation herbeiführen und steuern. Dabei ist die Über‐ zeugung von Bedeutung, dass Preise die Allokation der Produktionsfaktoren und der Güter übernehmen. Gleichzeitig spielen ordnungsrechtliche Regelungen eine starke Rolle. Das Etikett des „grünen Wachstums“ beschreibt das verfolgte Wirtschaftsmodell am besten. Der Begriff des „Grünen Deal“ ist mehr als nur ein attraktiv klingender Ausdruck für ein überholtes Modell, welches kaum verändert wird. In keiner anderen Region der Welt wird mit einer vergleichbaren umfassenden Logik die Reform des Wirtschaftsmodells angegangen. 9.7 Schlussbemerkung Eine so umfassende Neuorientierung der Umweltpolitik, die fast alle Lebensbereiche, Sektoren, Regionen und Menschen betrifft, ist in demokratisch verfassten Gesellschaf‐ ten Gegenstand kontroverser Diskussionen und Auseinandersetzungen. Die Politik hat die Aufgabe, vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Interessen, der Zielkonflikte, der kurz-, mittel- und langfristigen Wirkungen Lösungen zu finden, die effektiv sind, d. h. helfen, die Ziele zu erreichen. Die Lösungen sollten auch effizient sein, also die Zielerreichung zu möglichst geringen Kosten ermöglichen. Sie sollten eingebettet sein in die Wirtschaftsordnung und idealerweise Impulse für Innovationen ermöglichen. Lösungen müssen sozial verantwortbar sein. Sie müssen sich im Rahmen der politischen Vorstellungen vor dem Hintergrund der Vorstellungen von Freiheit und individueller Rechte realisieren lassen. Sie müssen das Prinzip der Subsidiarität beachten. Sie müssen vor dem Hintergrund unterschiedlicher Anspruchsniveaus und politischer Vorstellungen auf Akzeptanz in der ganzen Union stoßen. Und schließlich müssen sie auch kompatibel sein mit internationalen Vereinbarungen und Kooperatio‐ nen. Die Liste der Kriterien für gute Politik zeigt, dass die Debatten über Umweltpolitik, welche die vergangenen Jahre geprägt haben, zu einer reifen Demokratie gehören, und unvermeidlich den gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen vorangehen und sie begleiten. 230 9 Die Umweltpolitik der Europäischen Union <?page no="231"?> ➲ Wichtige Begriffe Externalitäten, Informationsasymmetrie, öffentliche Güter, Carbon Leakage, Klima-Club, Emissionszertifikate, CO 2 -Grenzausgleichssystem, Biodiversität, Grüner Deal, Klimaneutralität, Kreislaufwirtschaft, Wirtschaftsmodell, Berichtspflicht ➲ Literatur Bardt, Hubertus (2024): „CO 2 -Bepreisung und Industriepolitik“, in: Wirtschaftsdienst, Jg. 104, H. 5, S.-306-309 Beckert, Jens (2024): Verkaufte Zukunft - Warum der Kampf gegen den Klimawandel zu scheitern droht, Suhrkamp Verlag Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (2024a): „Kosten des Klimawandels - Neueste Erkenntnisse aus der Forschung“, in: Schlaglichter der Wirtschaftspolitik, Juli 2024, S.-8-12 Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (2024b): „Planetare Grenzen - ein wesent‐ liches Konzept zur Gestaltung einer nachhaltigen Wirtschaftsordnung“, in: Schlaglichter der Wirtschaftspolitik, Oktober 2024, S.-18-23. 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Wirtschaftspolitische Ziele und Zielkonflikte in der ökologischen Transfor‐ mation, Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh Knill, Christoph/ Lenschow, Andrea (Hrsg.) (2000): Implementing EU environmental policy - New directions and old problems, Manchester University Press Koch, Lambert T./ Frambach, Hans A. (2024): Transformative Wirtschaftspolitik - Die Nachhal‐ tigkeitswende gestalten, München, UVK Verlag Mahlkow, Hendrik/ Wanner, Joschka/ Felbermayer, Gabriel/ Peterson, Sonja (2021): EU-Klimapo‐ litik, Klimaclubs und CO 2 -Grenzausgleich, Kurzstudie des Instituts für Weltwirtschaft im Auftrag der Bertelsmann Stiftung, Gütersloh Nordhaus, William (2015): „Climate Clubs: Overcoming Free-riding in International Climate Policy“, in: American Economic Review, April 2015, S.-1339-1370 Pindyck, Robert S./ Rubinfeld, Daniel L. (2018): Mikroökonomie, 9. 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Auflage, Berlin, Boston von Hauff, Michael (1998): Zukunftsfähige Wirtschaft - Ökologie und Sozialverträgliche Konzepte, Regensburg, transfer verlag Wolf, André (2022): „Auswirkungen eines CO 2 -Grenzausgleichs auf nachgelagerte Industrien“, in: Wirtschaftsdienst, Jg. 102, H. 9, S.-731-734 232 9 Die Umweltpolitik der Europäischen Union <?page no="235"?> Teil V ∙ Die Wirtschafts- und Währungsunion <?page no="236"?> 10 Währungspolitik und Europas Weg vom Bretton-Woods-System bis zum Europäischen Währungssystem eLearning | zu diesem Kapitel finden Sie einen eLearning-Kurs online. Folgen Sie dem Link oder nutzen Sie den QR-Code. 🔗 https: / / narr.kwaest.io/ s/ 1347 Leitfragen • Wie hat sich die Währungspolitik in der Nachkriegszeit entwickelt? • Welche Lehren lassen sich aus der Theorie der optimalen Währungsunion für die europäische Währungsunion ableiten? • Welche institutionellen Strukturen bestimmen die Geldpolitik in der Wäh‐ rungsunion? 10.1 Einführung Wichtig für das Verständnis der Währungsunion, ihrer Stärken und Schwächen, ihrer Vor- und Nachteile ist die Währungsgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg. Die währungspolitische Zusammenarbeit im Rahmen des Bretton-Woods-Systems bestimmte die Währungspolitik in der Nachkriegszeit bis 1973. Nach einer sechs‐ jährigen Interimsphase einigten sich die westeuropäischen Länder auf eine enge europäische Währungszusammenarbeit, bevor die Währungsunion die einheitliche Währung brachte. Bis zum Beginn der Währungsunion mussten sich die europäischen Länder ent‐ scheiden, ob sie feste oder flexible Wechselkurse bevorzugen. Jedes System hat unterschiedliche Implikationen für die Wirtschaftspolitik, für die Geldpolitik und die Anpassung an makroökonomische Schocks. 10.2 Die Wahl des Währungsregimes - feste versus flexible Wechselkurse Der Wechselkurs ist der Preis einer Währung, ausgedrückt in Einheiten einer anderen Währung. Der Preis eines Euros in Einheiten von US-$ wird als „Mengennotierung des Euros“ bezeichnet. Wird hingegen angegeben, wie viel Euro ein Dollar wert ist, bezeichnet man diesen Wert als die „Preisnotierung des Euros“. Von einer Aufwertung <?page no="237"?> des Euros spricht man dann, wenn der Gegenwert des Euros in Dollar steigt, sich also die Mengennotierung (Preisnotierung) des Euros verbessert (verschlechtert). Wie bei Gütern wird der Preis für Währungen durch Angebot und Nachfrage bestimmt. Käufer von Waren im Ausland fragen Devisen nach, Verkäufer von Waren im Ausland erhalten Devisen und bieten diese an. Neben dem früher dominierenden Waren- und später dem Dienstleistungsverkehr ergibt sich heute ein Großteil der Devisennachfrage und des Devisenangebots aus Finanztransaktionen. Die konkrete Form der Bestimmung des Preises hängt von dem von Regierungen oder Zentralbanken gewählten Wechselkursregime ab. Dabei sind insbesondere die beiden Idealformen „flexibles Wechselkurssystem“ und „festes Wechselkurssystem“ zu unterscheiden. In einem System flexibler Wechselkurse wird der Preis tagtäglich am Devisenmarkt neu bestimmt. Zentralbanken beteiligen sich grundsätzlich nicht am Marktgeschehen, erhebliche Kursausschläge sind jederzeit möglich. In einem festen Wechselkurssystem legen Regierungen oder deren Zentralbanken einen Wechselkurs der betreffenden Währungen fest. Die Zentralbanken sind dann verpflichtet, durch Interventionen am Devisenmarkt Nachfrage- und Angebotslücken so auszugleichen, dass alle gewünschten Transaktionen zu dem festgelegten Kurs erfolgen können. In → Abb. 55-1/ 2/ 3 ergibt sich der Preis in US-$ für den Euro (Mengennotierung des Euros) aufgrund des Angebotes A und der Nachfrage nach Euro, dargestellt durch die Nachfragekurve N 1 . Wenn sich die Nachfrage nach Euro erhöht, z. B. weil Amerikaner mehr Güter in Europa kaufen, lässt sich dies grafisch als Rechtsverschiebung der Nach‐ fragekurve darstellen. Dann steigt der Preis des Euros: im Beispiel wird der Euro nun für 1,2 US-$ je Euro gehandelt. In US-$ gerechnet ist der Euro teurer geworden, in Euro betrachtet erhält man mehr US-$ je Euro. Der Euro hat aufgewertet, der US-$ hat abgewertet. In der → Abb. 55-2 wählt die Zentralbank einen festen Wechselkurs mit einem Band um die gewählte Parität. Die Bandränder dürfen nicht überbzw. unterschritten werden. Ergibt der Markt einen Wechselkurs von weniger als 1,30 US-$ pro Euro und mehr als 0,8 US-$ pro Euro, so bildet sich der Kurs wie in einem flexiblen Wechselkurssystem, d. h. ohne Intervention der Zentralbank; der Preis beläuft sich auf p 1 bei einer Menge von x 1 . In der → Abb. 55-3 wird der Fall dargestellt, dass der durch das Marktangebot und die Marktnachfrage resultierende Kurs oberhalb des festgelegten Kurses von 1,30 US-$ pro Euro liegt, z. B. wegen einer besonders starken Nachfrage nach europäischen Gütern und damit einer starken Devisennachfrage der Amerikaner nach Euro. Jetzt ist die Zentralbank verpflichtet, mit Interventionen den Wechselkurs zu stabilisieren. Sie wird das Marktangebot x 2 durch das eigene Devisenangebot im Umfang von x 3 - x 2 ergänzen. Damit wird der Kurs am oberen Rand des Bandes stabilisiert. Die Befürworter flexibler Wechselkurse argumentieren, dass die Bestimmung des Kurses über das ungehinderte Spiel der Marktkräfte den marktgerechten Wechselkurs erbringt. Und selbst wenn konzediert wird, dass gelegentlich Märkte zu Übertreibungen neigen, so sehen die Befürworter der Bestimmung der Kurse durch Märkte die implizite Annahme 10.2 Die Wahl des Währungsregimes - feste versus flexible Wechselkurse 237 <?page no="238"?> eines Wissensvorsprungs der Zentralbanken und der Politik als wenig überzeugend an. Die Zentralbanken sind in dem System frei schwankender Wechselkurse nicht zur Intervention gezwungen. Sie sind damit in ihrer Geldpolitik autonom, ein wichtiger Vorteil für die Ausgestaltung der nationalen Wirtschaftspolitik. Spekulationen gegen die Zentralbanken haben in einem solchen System keinen Platz. Ein flexibles Wechselkurssystem gibt währungspolitischen Interessen der Regierungen weniger Raum zu Manipulationen. Euro US-$/ Euro p 0 =1 p 1 =1,2 x 0 x 1 A N 1 N 2 Abb.-55-1: Preisbildung in einem flexiblen Wechselkurssystem bei steigender Nachfrage 0,8 p 1 Euro US-$/ Euro x 0 x 1 1,3 A N 1 N 2 p 0 Abb.-55-2: Angebot und Nachfrage bei Veränderung innerhalb eines Bands 238 10 Währungspolitik <?page no="239"?> Euro N 3 0,8 US-$/ Euro 1,3 N 1 A N 2 x 0 x 1 x 2 x 3 p 1 p 0 Abb.-55-3: Angebot und Nachfrage bei steigender Nachfrage und notwendiger Intervention Der Wechselkurs spielt eine zentrale Rolle bei der Herbeiführung eines außenwirt‐ schaftlichen Gleichgewichtes. Bei einem Importüberschuss steigt die Nachfrage nach ausländischer Währung, da für die Durchführung der Transaktionen mehr ausländi‐ sche Währung benötigt wird. In einem System flexibler Wechselkurse kommt es damit tendenziell zu einer Abwertung der eigenen Währung. Diese Abwertung der eigenen Währung sorgt nun bei gleichen Inlandspreisen in beiden Ländern dafür, dass die Importe (in eigener Währung gerechnet) teurer werden und die eigenen Exporte für die Handelspartner günstiger werden, da derselbe Inlandspreis aufgrund des neuen Wechselkurses für den Handelspartner weniger Devisen erfordert. Umgekehrt werden bei Vorliegen eines Exportüberschusses durch eine Aufwertung der eigenen Währung Importe günstiger und Exporte teurer. Der Wechselkurs kann somit ganz entscheidend sein, ein außenwirtschaftliches Gleichgewicht herbeizuführen. In einem System fester, aber anpassungsfähiger Wechselkurse muss die Zentralbank bei einem Importüberhang und damit einer erhöhten Nachfrage nach ausländischer Währung mit dem Verkauf von Devisenbeständen antworten. Damit kommt es zu einem Abschmelzen der Devisenbestände der Zentralbank, gleichzeitig erhält sie im Gegenzug einheimische Währung. Wenn dieser Prozess über einen längeren Zeitraum anhält, ist die Zentralbank gezwungen, in Abstimmung mit dem Handelspartner den Wechselkurs anzupassen. 10.2 Die Wahl des Währungsregimes - feste versus flexible Wechselkurse 239 <?page no="240"?> Box 53 | Wechselkursanpassung bei Inflationsdifferentialen und Ausgleich der Handelsströme Wenn Land A systematisch eine deutlich höhere Inflationsrate als Land B hat, dann ist tendenziell davon auszugehen, dass die Exporte des Landes A wegen der gestiegenen Inlandspreise zurückgehen und dessen Importe wegen der im Ausland günstigeren Preise zunehmen. Damit kommt es zu einem Handelsbilanzdefizit des Landes A. Wenn nun die Währung des Landes A abwertet, dann würden die Exporte des Landes A für die Handelspartner günstiger und umgekehrt würden die Importe teurer. Das Land könnte den Weg zurück zu einem außenwirtschaft‐ lichen Gleichgewicht finden, ohne dass im Inland die Nominallöhne und die nominalen Preise substanziell angepasst werden müssen. Zwar müssen die Bürger des Landes A nun mehr Inlandswährung für die Importe geben, so dass von einer Reallohnsenkung gesprochen werden kann; aber der Mechanismus funktioniert über den Wechselkurs und nicht über den politisch schwierig zu vermittelnden Anpassungsprozess von Löhnen und Preisen im Inland. Befürworter flexibler Wechselkurse sehen in dem Automatismus auf Währungsmärk‐ ten eine starke Kraft, welche tendenziell und zumindest mittelfristig zu einem außen‐ wirtschaftlichen Gleichgewicht hinführt. Gelegentliche Phasen volatiler Kurse werden nicht abgestritten. Allerdings ist aus dieser Perspektive die Auffassung, staatliche Ak‐ teure hätten einen Wissensvorsprung gegenüber Märkten und könnten die „richtigen“ Kurse festlegen, nicht haltbar. Hingegen sind die Befürworter fester Wechselkurse skeptisch gegenüber den Markt‐ kräften, welche durch Übertreibungen und Spekulation nicht zu einem Ausgleich der Güter- und Dienstleistungsströme beitragen. Mit einem Festkurssystem (mit Bandbreiten), so die Argumentation, wird ein heilsamer Druck auf die Politik erzeugt, eine verantwortungsvolle und stabilitätsorientierte Wirtschaftspolitik zu betreiben. Kurssicherungskosten werden vermieden, wechselkursrisikobedingte Zinsaufschläge entfallen und die Kosten in Folge spekulativer Kapitalbewegungen sinken. 10.3 Das Bretton-Woods-Regime - eine einfache Lösung für die Währungszusammenarbeit der europäischen Nationen Noch vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurden in dem US-amerikanischen Bretton Woods die Eckdaten der Währungsordnung der Nachkriegszeit vereinbart: 1944 wurde ein „Abkommen über den Internationalen Währungsfonds“ unterzeichnet. Ein multilaterales System fester gegenüber dem US-$ fixierter Wechselkurse wurde eingeführt. Die beteiligten Währungen waren grundsätzlich konvertibel. Länder waren in ihren wirtschaftspolitischen Zielsetzungen unabhängig. Die an dem System betei‐ ligten Staaten verpflichteten sich zur Aufrechterhaltung der festen Wechselkurse, die 240 10 Währungspolitik <?page no="241"?> festgelegten Paritäten durften jeweils 1 % nach oben und unten von dem so festgelegten Kurs abweichen, bevor die Zentralbanken verpflichtet waren, am Devisenmarkt mit Devisenkäufen oder -verkäufen zu intervenieren. Kam es jedoch zu erheblichen und dauerhaften Ungleichgewichten in den Leistungsbilanzen der Länder und damit zu Spannungen auf dem Devisenmarkt, so wurden die Paritäten angepasst. Der Interna‐ tionale Währungsfonds übernahm die koordinierende Rolle in der Währungspolitik. Die Staaten waren grundsätzlich frei, die ihnen angemessen erscheinende Geldpolitik zu verfolgen (vgl. Deutsche Bundesbank 2016, S.-33-36). Ende der 1960er-Jahre stiegen die Spannungen in dem System. Die Heterogenität der wirtschaftlichen Entwicklung der beteiligten Länder - und damit deren Wachstums‐ raten - war groß und führte zur Belastung des Systems. Auch die Inflationsraten der Länder unterschieden sich erheblich. Signifikante Leistungsbilanzungleichgewichte waren die Konsequenz. Die US-Wirtschaft war durch den Vietnamkrieg besonderen Herausforderungen ausgesetzt, es kam zu einer erheblichen Ausweitung der Geld‐ menge, und damit sank aufgrund der limitierten Goldvorräte das Vertrauen in die Deckung des US-$ durch Gold. Die Rolle des US-$ als Leitwährung und die Golddeckung des US-$ erwiesen sich als Hypothek für das Währungsregime. Die USA beendeten im Jahr 1971 die Gold-Bindung des US-$. Aus dem Gold-Dollar-Standard wurde ein Dollar-Standard. Nach einem Versuch der Rettung des Systems durch die Ausweitung der Schwankungsbreiten im Rahmen des „Smithsonian Agreements“ endete schließlich im Jahr 1973 auch formal das Bretton-Woods-System fester Wechselkurse mit dem US-$ als Leitwährung. Die USA entschieden sich grundsätzlich für flexible Wechselkurse, die sie seit dieser Zeit gegenüber der großen Mehrzahl ihrer Handelspartner haben. 10.4 Auf der Suche nach einer europäischen Nachfolgeregelung für das Bretton-Woods-Regime Aufbauend auf theoretischen Vorarbeiten in den 1960er-Jahren und in Antizipation eines denkbaren Endes der Paritäten gegenüber dem US-$ wurde im Jahr 1970 der so‐ genannte „Werner-Plan“ vorgestellt. Der damalige luxemburgische Ministerpräsident Werner hatte eine Arbeitsgruppe geleitet, welche Vorschläge für die Entwicklung einer Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion zum Inhalt hatte. Dieser Plan sah die Koordination der Wirtschaftspolitiken der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und die Vorbereitung auf die Einführung einer Währungsunion vor. Ein Konsens über diesen aus der damaligen Sicht kühnen Schritt konnte jedoch nicht erzielt werden. Vor dem Hintergrund des Endes des Bretton-Woods-Systems dominierte in den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft das Unbehagen über flexible Wechselkurse für den Handel innerhalb der Gemeinschaft. Im Jahr 1972 unterzeichneten die damaligen sechs EWG-Länder das „Basler Abkommen zwischen den EG-Notenbanken“, welches feste Paritäten zwischen den Währungen der EG-Mitgliedstaaten vorsah. Diese soll‐ ten innerhalb einer Bandbreite von +/ -2,25-% um die festgelegte Parität schwanken 10.4 Auf der Suche nach einer europäischen Nachfolgeregelung für das Bretton-Woods-Regime 241 <?page no="242"?> dürfen. Großbritannien, Irland und Dänemark schlossen sich dem System an. Die Notenbanken verpflichteten sich zur gegenseitigen Hilfestellung bei den notwendi‐ gen Interventionen am Devisenmarkt. Die Kurse bewegten sich somit gemeinsam gegenüber anderen Währungen wie dem US-$ oder dem japanischen Yen, woraus sich der in der Öffentlichkeit dafür benutzte Begriff „Währungsschlange“ herleitet. Auch in diesem System kam es zu beträchtlichen Spannungen. In Folge abweichender wirtschaftspolitischer Prioritätensetzungen gab es erhebliche Unterschiede in den Steigerungsraten der Preise und Nominallöhne; die Anpassung der Paritäten war regelmäßig notwendig und unvermeidlich, wollte man den Aufbau großer außen‐ wirtschaftlicher Ungleichgewichte und Veränderungen der Währungsreserven der Notenbanken verhindern. Staaten wie etwa Frankreich mussten temporär das Fest‐ kursystem verlassen. Ende der 70er-Jahre kristallisierte sich ein Hartwährungsblock heraus, mit Deutschland, den Niederlanden, Belgien, Luxemburg und Dänemark. Diese Staaten verfolgten grundsätzlich eine stabilitätsorientierte Politik, während die weiteren Mitgliedstaaten der Gemeinschaft andere wirtschaftspolitische Ziele in den Mittelpunkt ihrer Politik rückten. Insbesondere der Konflikt zwischen Bekämpfung der Inflation und der Arbeitslosigkeit spielte eine große Rolle und wurde von den Regierungen unterschiedlich gesehen. Box 54 |-Arbeitslosigkeit oder Inflation - Die Phillipskurve Der Ökonom Alban Phillips hatte für Großbritannien für einen fast hundertjähri‐ gen Zeitraum (1861-1957) einen stabilen negativen Zusammenhang zwischen dem Anstieg der Nominallöhne und der Arbeitslosenquote ermittelt. Auch für andere Länder wurde ein ähnlicher Zusammenhang beobachtet. Der über die Arbeitspro‐ duktivität hinausgehende Lohnanstieg schlägt sich in einer höheren Inflationsrate nieder („cost-push“). Für die Wirtschaftspolitik schien ein Zielkonflikt zu bestehen: Will eine Regierung eine niedrigere Arbeitslosenquote realisieren, so kann dies durch eine leicht höhere Inflationsrate erreicht werden. Dieses Denken war in Europa und den USA einflussreich, in einigen Ländern wurde mit Verweis auf diese Erkenntnis eine höhere Inflation zugelassen. In den 80er-Jahren wuchs die Skepsis gegenüber dem postulierten Zusammenhang. In vielen Ländern waren beide Raten gestiegen. Robert Lucas, Milton Friedman und andere argumentierten, dass Wirtschaftssubjekte langfristig aus den Inflati‐ onserfahrungen lernen und ihre Erwartungen anpassen. Ist dies der Fall, kann die Beschäftigung durch Inflation nicht positiv beeinflusst werden. Die langfristige Phillipskurve verläuft vertikal. 242 10 Währungspolitik <?page no="243"?> Arbeitslosenquote Inflationsrate Phillipskurve kurzfristig Phillipskurve langfristig Abb.-56: Die kurz- und langfristige Phillipskurve Viele Ökonomen halten jedoch an dem Zusammenhang fest, sehen die Annahme rationaler Erwartungen als wirklichkeitsfremd an und erachten mit Blick auf die Beschäftigungssicherung eine übermäßig restriktive Geldpolitik zur Durchsetzung besonders niedriger Inflationsraten als kontraproduktiv (vgl. Akerlof/ Shiller 2009, S.-107-115). Analytisch wird die Phillipskurve als ein konzeptioneller Rahmen für die Unter‐ suchung und Vorausschätzung der Inflationsentwicklung sowohl für die einzel‐ nen Euroländer wie für das Euro-Währungsgebiet insgesamt verwandt. Dabei werden verschiedene Spezifikationen für Phillipskurven-Beziehungen zwischen dem Anstieg der Preise und unterschiedlichen Messgrößen der wirtschaftlichen Unterauslastung zugrundegelegt (vgl. Eser/ Karadi/ Lane u.-a. 2020). 10.5 Das Europäische Währungssystem von 1979-1989 - Europas Präferenz für feste Wechselkurse Im Jahr 1979 wurde vor dem Hintergrund der gemachten Erfahrungen das System weiterentwickelt: Das Europäische Währungssystem trat in Kraft. Die Vereinbarung beinhaltete ein System fester, aber anpassungsfähiger Wechselkurse mit Schwankungs‐ breiten von 2,25 % um die vereinbarte Parität, für einige Länder allerdings mit erweiterten Bandbreiten von +/ -6 %. Die Europäische Währungseinheit ECU (European Currency Unit) wurde geschaffen, eine künstliche Größe, die sich aus einem Korb europäischer Währungen zusammensetzte. Die Staaten verabredeten einen Kreditmechanismus, der die gegenseitigen Hilfen der Zentralbanken der beteiligten Staaten regelte. 10.5 Das Europäische Währungssystem von 1979-1989 - Europas Präferenz für feste Wechselkurse 243 <?page no="244"?> Die Erfahrungen während des Bretton-Woods-Systems und der Zeit der Währungs‐ schlange hatten den Staaten gezeigt, dass währungspolitische Stabilität die Bereitschaft der Staaten voraussetzt, zu einer wirtschaftspolitischen Abstimmung zu kommen. Unterschiede in den Inflationsraten waren in den 70er-Jahren ein großes Problem; im Jahr 1979 hatte beispielsweise Deutschland eine Inflationsrate von 2,7 % p. a. gegenüber Italien mit einer Rate von jährlich 12,1 %. Diese Unterschiede nahmen seit Mitte der 80er-Jahre sukzessive ab. Gleichwohl gab es auch in den 80er-Jahren vielfach noch Turbulenzen, die Paritäten mussten zwischen März 1979 und Januar 1987 elf Mal angepasst werden. Das Band um die vereinbarte Parität musste im Jahr 1993 für die meisten Länder auf +/ -15 % ausgeweitet werden. Großbritannien und Italien sahen sich gezwungen, für einige Zeit den Wechselkursmechanismus zu verlassen. Einige Länder führten wieder Kapitalverkehrskontrollen ein. Box 55 |-Trilemma des Wechselkursregimes Während dieser Phase der Währungszusammenarbeit (von 1979-1989) wurde im‐ mer wieder deutlich: Feste Wechselkurse, freier Kapitalverkehr und geldpolitische Autonomie implizieren einen Zielkonflikt, der die gleichzeitige Erreichung aller drei Ziele ausschließt - ein als „Trilemma des Wechselkursregimes“ bezeichnetes Problem. Es sind stets nur maximal zwei Ziele gleichzeitig erreichbar. Beispiels‐ weise kann ein Land geldpolitisch nicht mehr autonom handeln, wenn es freie Kapitalbewegungen zulässt und gleichzeitig Wechselkursstabilität garantieren möchte: Ein starker Zufluss von Kapital würde eine Wechselkursaufwertung herbeiführen. Da Wechselkursstabilität gegeben sein soll wird die Zentralbank ausländische Währung kaufen und eigene Währung verkaufen und damit die eigene Geldmenge erhöhen. Damit wäre das dritte Ziel verletzt. Wechselkursstabilität freie Kapitalbewegungen geldpolitische Autonomie flexibler Wechselkurs Abb.-57: Trilemma des Wechselkursregimes | Quelle: Krugman/ Obstfeld/ Melitz 2019 244 10 Währungspolitik <?page no="245"?> ⁈ Verständnisfrage | Erläutern Sie am Beispiel eines festen Wechselkurses, warum eine Politik der Kapitalverkehrskontrollen die geldpolitische Autonomie sichern kann. 10.6 Die Entscheidung für eine Währungsunion in Europa Bereits Ende der 80er-Jahre, aber mit Entschiedenheit vor allem zu Beginn der 90er-Jahre wurde die Entscheidung getroffen, eine Währungsunion einzuführen. Die wirtschaftswissenschaftliche Theorie gibt wichtige Hinweise für einen solchen Schritt. 10.6.1 Die Theorie optimaler Währungsräume Die Einführung einer Währungsunion ist ein mutiger (und seltener) Schritt, da Staaten ihre geldpolitische Autonomie aufgeben. In der Folge gibt es für die teilnehmenden Staaten nur noch eine Zinspolitik wie auch nur noch eine Wechselkurspolitik ge‐ genüber anderen Währungen. Bei erheblichen Divergenzen in der wirtschaftlichen Entwicklung der beteiligten Länder und damit möglicherweise verbundenen Leis‐ tungsbilanzungleichgewichten ist eine auf dieses Land zugeschnittene Zinspolitik ebenso wenig möglich wie eine Auf- oder Abwertung, welche nur diesem Land hilft, die Krise zu bewältigen. Divergenzen in der wirtschaftlichen Entwicklung können unter anderem Ergebnis guter oder schlechter wirtschaftspolitischer Entscheidungen sein, die Folge verschiedener Wachstumstrends aufgrund wirtschaftspolitischer Spezialisie‐ rung oder von unterschiedlichen Lohn- und Preissteigerungen. Auch bestimmte wirt‐ schaftspolitische Ereignisse, die als „makroökonomische Schocks“ bezeichnet werden, können besondere Probleme bereiten. Beispiele hierfür sind eine Bankenkrise in einem Land, der Zusammenbruch der Exportwirtschaft, ein Kollaps des Immobilienmarktes. Wenn nur ein Teil der Union von einem solchen Schock betroffen ist, dann liegt ein „asymmetrischer makroökonomischer Schock“ vor. Die Theorie optimaler Währungsräume, die wesentlich durch die Arbeiten von Robert Mundell (1961) angestoßen und beeinflusst wurde, beschreibt die Vorausset‐ zungen, die gegeben sein müssen, damit eine Währungsunion die innere Stabilität besitzt, um dauerhaft die Grundlage für Wohlstand und Entwicklung zu schaffen. Es lassen sich mehrere Bedingungen benennen, die einen Wirtschaftsraum auch zu einem „optimalen Währungsraum“ machen. • Diversifikation der Produktion: Die Produktion in den beteiligten Ländern sollte möglichst breit gestreut sein, da ein hoher Diversifikationsgrad die Wahr‐ scheinlichkeit asymmetrischer Schocks mit substanziellen Auswirkungen auf die Volkswirtschaft deutlich senkt. • Offene Märkte und flexible Preise: Sind die Mitgliedstaaten einer Währungs‐ union intensiv in internationale Handelsbeziehungen einbezogen, sorgen die 10.6 Die Entscheidung für eine Währungsunion in Europa 245 <?page no="246"?> Preisbewegungen auch ohne Wechselkursbewegungen für Anpassungsprozesse auf den Märkten; das Instrument der Wechselkursanpassung ist nicht erforderlich. • Mobilität der Arbeitskräfte: Kommt es zu wesentlichen Unterschieden in der wirtschaftlichen Entwicklung der beteiligten Länder, z. B. aufgrund asymmetri‐ scher Schocks, und kann das schwächere Land nicht durch eine eigenständige Geldpolitik und Abwertung der eigenen Währung seine Wettbewerbsfähigkeit zurückgewinnen, kann die Mobilität der Produktionsfaktoren Abhilfe schaffen. Wenn Arbeitskräfte innerhalb des Währungsraums mobil sind, dann werden Arbeitskräfte und Kapital an den Ort höherer Produktivität wechseln. Arbeitslo‐ sigkeit und Fehlallokation des Kapitals wird somit vermieden, der Mechanismus der Wechselkursanpassung ist nicht erforderlich. • Homogene Präferenzen: In dem Währungsraum müssen homogene Präferenzen in Bezug auf die Grundzüge der Wirtschaftspolitik vorliegen. Verfolgen Länder unterschiedliche Strategien hinsichtlich Preisstabilität, Haushaltsdisziplin oder anderer zentraler Aspekte der Wirtschaftspolitik, und haben Länder unterschied‐ liche Vorstellungen über die Arbeitsweise der zentralen wirtschaftspolitischen Institutionen wie Notenbank, Staat, Tarifparteien, kommt es zu Spannungen in der Währungsunion. • Fiskaltransfers: Transferzahlungen der starken Länder an die schwachen Länder können zur Linderung der Anpassungsprobleme und zu einer Belebung der wirt‐ schaftlichen Entwicklung in dem schwachen Land führen, ein Mechanismus, der in den meisten Staaten via Steuersystem, staatliche Investitionen, Sozialversiche‐ rungssystem oder ähnliches funktioniert: Verläuft die wirtschaftliche Entwicklung in einer Region schleppend, und in anderen Regionen gut, erhält die schwächere Region diskretionär oder regelgebunden Unterstützung (in Deutschland beispiels‐ weise über den Länderfinanzausgleich). • Solidarität: Solidarisches Handeln in einer Währungsunion ist erforderlich, um temporären Spannungen zu begegnen, die auch dann auftreten können, wenn die oben genannten Bedingungen erfüllt sind. Die Frage, ob die Europäische Union oder die sich an der Währungsunion beteiligenden Staaten einen optimalen Währungsraum darstellten, war zu Beginn der 90er-Jahre um‐ stritten. Befürworter sahen die Kriterien grundsätzlich als gegeben an oder hatten die Erwartung, dass die Währungsunion genügend Druck erzeugen würde, diese Kriterien mittelfristig zu erfüllen. Dies galt beispielsweise für die Hoffnung, dass die Flexibilität der Löhne zunehmen würde und die Tarifparteien in Staaten mit einer bis dahin wenig ausgeprägten Stabilitätskultur die Notwendigkeit, die Lohnentwicklung von der Produktivitätsentwicklung abhängig zu machen, erkennen würden. Sie postulierten, dass die Union nicht nur den Weg der ökonomischen Konvergenz beschreiten würde, sondern hatten auch die Hoffnung, dass die Elemente einer politischen Union, die für das Funktionieren notwendig sind, mittelfristig erkannt und umgesetzt werden. Den Befürwortern standen zahlreiche Kritiker gegenüber, die den Schritt zu einer Währungsunion als verfrüht oder als grundsätzlich falsch ansahen. Sie verwiesen 246 10 Währungspolitik <?page no="247"?> darauf, dass die ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen für eine Wäh‐ rungsunion nicht vorlägen und warnten, dass die Einführung einer gemeinsamen Währung nicht zur Einigung, sondern vielmehr zur Spaltung Europas führt. Viele Staaten Europas seien ökonomisch, politisch, sozial und kulturell zu verschieden, um für diesen Weg vorbereitet zu sein, der Verzicht auf den Wechselkursanpassungsme‐ chanismus sei falsch (vgl. Scharpf 2013). Entscheidend für die Einführung waren jedoch nicht ökonomische Argumente, sondern politische Überlegungen. Aus französischer Sicht war die Einführung einer gemeinsamen Währung der Preis für die Zustimmung zur deutschen Einheit, erhofft war damit die Einbindung Deutschlands und der Deutschen Bundesbank in ein Gesamteuropa, welches weniger durch die Führungsposition Deutschlands geprägt sein sollte (vgl. Marsh 2013, S.-17). 10.6.2 Die Kriterien für den Beitritt Im Jahr 1990, in Reaktion auf die Weiterentwicklung des Binnenmarktes und auf die fundamentalen Veränderungen in Europa wurde die Schaffung einer europäischen Wirtschafts- und Währungsunion fest vereinbart. Diese wurde in dem Maastricht Vertrag, der 1993 in Kraft trat, festgeschrieben. Vorgesehen war die Einführung einer gemeinsamen Währung in drei Stufen vor. Die erste Stufe umfasste die Liberalisierung des Kapitalverkehrs innerhalb der Union. Auch die zweite Stufe diente der Vorberei‐ tung: die nationalen Zentralbanken mussten rechtlich unabhängig werden, was bis dahin noch nicht in allen Mitgliedstaaten der Fall war. Das Europäische Währungsin‐ stitut als Vorgängerinstitution der Europäischen Zentralbank wurde gegründet und die Koordination der Geldpolitik untereinander intensiviert. Die dritte Stufe bestand in der eigentlichen Einführung der gemeinsamen Währung in jenen Ländern, welche die Voraussetzungen erfüllten. Hierfür wurde ein Kriterienkatalog verabredet, der Referenzwerte für fiskalische und monetäre Indikatoren festlegte. Nur wenn Staaten alle Kriterien erfüllten, sollten diese der Währungsunion beitreten dürfen. Damit sollte die Stabilität der Währungsunion gesichert werden. Die fiskalische Konvergenz wurde anhand zweier Verschuldungskriterien gemessen. Die Forderung einer „auf Dauer tragbaren Finanzlage der öffentlichen Hand, ersichtlich an einer öffentlichen Haushaltslage ohne übermäßiges Defizit“, wurde präzisiert: • Das öffentliche Defizit, gemessen in Prozent des Bruttoinlandsproduktes, sollte unter 3-Prozent liegen. • Der öffentliche Schuldenstand, gemessen in Prozent des Bruttoinlandsproduktes, sollte unter 60-Prozent liegen. Darüber hinaus einigte man sich auch auf drei Indikatoren, welche die monetäre Konvergenz aufzeigen sollten: 10.6 Die Entscheidung für eine Währungsunion in Europa 247 <?page no="248"?> • Die Inflationsrate eines zukünftigen Mitgliedstaates des Euro-Währungsgebietes sollte höchstens 1,5 Prozentpunkte über jener Rate der drei Mitgliedstaaten mit den besten Ergebnissen auf dem Gebiet der Preisstabilität liegen. • Kriterium des langfristigen Zinssatzes: Die langfristigen Nominalzinssätze eines Landes sollten nicht mehr als 2 Prozentpunkte vom Nominalzins für langfristige Schuldverschreibungen der drei Mitgliedstaaten abweichen, die in Bezug auf die Preisstabilität das beste Ergebnis haben. • Wechselkurskriterium: Ein Mitgliedstaat musste in den letzten beiden Jahren vor der Entscheidung die normalen Bandbreiten des Wechselkursmechanismus des Europäischen Währungssystems ohne starke Spannung eingehalten haben. Box 56 |-Nettokreditaufnahme und Schuldenstand des Staates Die fiskalischen Konvergenzkriterien der Schuldenstandsquote und der Defizit‐ quote des Staates sind nicht unabhängig voneinander. Bei gegebener Wachstums‐ rate des nominellen BIP (w BIP ) resultiert der Wert für die Neuverschuldungsquote aus der Festlegung der Schuldenstandsquote; umgekehrt wird die Höhe der Schuldenstandsquote von der Normierung der Defizitquote beeinflusst (vgl. Blan‐ chard/ Illing 2021, Kapitel 22.2). Der Schuldenstand in der Periode t (D t ) entspricht dem Schuldenstand der Vorpe‐ riode (D t-1 ) und dem laufenden Defizit (Nettokreditaufnahme) (NK t ) des Staates: D t = D t-1 + NK t . Für die Nettokreditaufnahme in Relation zum BIP gilt: NK t = αBIP t = αBIP t-1 (1 + w BIP ) Die Vorgabe einer Schuldenstandsquote von (maximal) 60 % (D t = 0.6BIP t bzw. D t-1 = 0.6 BIP t-1 ) führt zu: 0.6 = D t / BIP t = (D t-1 + NK t )/ BIP t = (D t-1 + NK t )/ BIP t-1 (1 + w BIP ). Wird ein Anstieg des nominellen BIP von 5-% pro anno unterstellt, erhält man: 0.6 = (0.6BIP t-1 + αBIP t-1 (1.05))/ BIP t-1 (1.05). Auflösen nach der Defizitquote erbringt für α den Wert (0.6 × 0.05)/ 1.05 = 0.0286 bzw. gerundet 3 % (vgl. Ribhegge 2011, S. 120). Schon nach dem Modell der Staats‐ schuldenentwicklung von Domar (1944) lässt sich zeigen, dass bei konstanter Net‐ tokreditaufnahme im Verhältnis zum BIP (α) und einer exogen gegebenen Wachs‐ tumsrate (w BIP ) die Schuldenstandsquote gegen den Grenzwert lim t ∞ B t BI P t = ∝ W BI P konvergiert. Die Einhaltung einer Schuldenstandsquote von 60 % bedeutet, dass die Neuverschuldungsquote beim angenommenen Wirtschaftswachstum den Wert von 3-% pro anno nicht übersteigen darf. 248 10 Währungspolitik <?page no="249"?> Mit der Festlegung der Kriterien für den Eintritt bekundeten die Staaten, dass sie der Gefahr begegnen wollten, eine Union zu schaffen, die durch wirtschaftliche Instabilität in den Mitgliedsstaaten und damit auch der Union geprägt ist. Die Regelung zur maximalen Staatsverschuldung sollten das Interesse an inflationären Entwicklungen im Keim ersti‐ cken. Und die Vorgabe ähnlich hoher Inflationsraten dokumentierte die Erkenntnis, dass stark unterschiedliche Lohn- und Preissteigerungen die Stabilität einer Währungsunion, die ja keine Möglichkeit der Währungsabwertung für die Teilnehmerstaaten mehr hat, gefährden. 1999 führten zunächst elf Mitgliedstaaten den Euro als gemeinsame Währung ein, von 2001 bis 2023 kamen neun weitere Länder hinzu. In → Abb. 57 wird die zeitliche Struktur des Euro-Beitritts wiedergegeben. Mit der Einführung des Euros wurden die Umrechnungskurse der Währungen der teilnehmenden Staaten unwiderruflich gegenüber dem Euro festgelegt. ab 1. Januar Land vorherige Währung Umrechnungskurs: 1 Euro =… Währungseinheiten 1999 Belgien Belgischer Franc 40,3399 - Deutschland Deutsche Mark 1,95583 - Finnland Finnmark 5,94573 - Frankreich Französischer Franc 6,55957 - Irland Irisches Pfund 0,787564 - Italien Italienische Lira 1 936,27 - Luxemburg Luxemburgischer Franc 40,3399 - Niederlande Holländischer Gulden 2,20371 - Österreich Schilling 13,7603 - Portugal Escudo 200,482 - Spanien Peseta 166,386 2001 Griechenland Drachme 340,750 2007 Slowenien Tolar 239,640 2008 Malta Maltesische Lira 0,429300 - Zypern Zypern-Pfund 0,585274 2009 Slowakei Slowakische Krone 30,1260 2011 Estland Estnische Krone 15,6466 2014 Lettland Lettischer Lats 0,702804 2015 Litauen Litauischer Litas 3,45280 2023 Kroatien Kroatischer Kuna 7,73450 Abb.-58: Zeitliche Struktur des Euro-Beitritts und Umrechnungskurse 10.6 Die Entscheidung für eine Währungsunion in Europa 249 <?page no="250"?> 10.7 Schlussbemerkung Europas Währungspolitik seit 1945 ist durch einschneidende Veränderungen geprägt gewesen. Die Länder sammelten sowohl Erfahrungen mit festen als auch mit flexiblen Wechselkursen. Der Schritt hin zu einer Währungsunion, den zwanzig Staaten getan haben, ist politisch und ökonomisch weitreichend. Um mit den besonderen Problemen einer gemeinsamen Währung umzugehen, wird die Union auch in den kommenden Jahren gefordert sein. ➲ Wichtige Begriffe Bretton-Woods-System, feste Wechselkurse, flexible Wechselkurse, Golddeckung, Werner-Plan, Phillipskurve, Europäische Währungseinheit, Trilemma des Wechsel‐ kursregimes, fiskalische Konvergenz, optimaler Währungsraum ➲ Literatur Akerlof, George A./ Schiller, Robert J. (2009): Animal Spirits - How Human Psychology Drives the Economy and Why it Matters for global capitalism, Princeton / Oxford, Princeton University Press Blanchard, Olivier/ Illing, Gerhard (2021): Makroökonomie, 8. Auflage, Hallbergmoos, Pearson Deutsche Bundesbank (2016): Die Deutsche Bundesbank. Notenbank für Deutschland, Frankfurt Domar, Evsey D. (1944): „The „Burden of the Debt“ and the National Income“, in: American Economic Review, vol. 34, S. 798-827 Eser, Fabian/ Karadi, Peter/ Lane, Philip R./ Moretti, Laura/ Osbat, Chiara (2020): The Phillips Curve at the ECB, ECB Working Paper Series, No 2400/ May 2020, Frankfurt Krugman, Paul/ Obstfeld, Maurice/ Melitz, Marc (2019): Internationale Wirtschaft: Theorie und Politik der Außenwirtschaft, 11. Auflage, Pearson Studium Marsh, David (2013): Europe’s deadlock - How the Euro Crisis could be solved - and why it won’t happen, Totton Mundell, Robert A. (1961): „A Theory of Optimum Currency Areas“, in: American Economic Review, vol. 51(4), S.-657-665 Ribhegge, Hermann (2011): Europäische Wirtschafts- und Sozialpolitik, 2. Auflage, Sprin‐ ger-Verlag, Berlin, Heidelberg Scharpf, Fritz W. (2013): „Entmündigung als Lösung? Noch mehr Souveränitätsverzicht kann den Euro auch nicht retten …“, in: Internationale Politik und Gesellschaft, Dezember 2013 250 10 Währungspolitik <?page no="251"?> 11 Die Geldpolitik in der Europäischen Währungsunion eLearning | zu diesem Kapitel finden Sie einen eLearning-Kurs online. Folgen Sie dem Link oder nutzen Sie den QR-Code. 🔗 https: / / narr.kwaest.io/ s/ 1348 Leitfragen • Welche institutionellen Strukturen bestimmen die Geldpolitik in der Wäh‐ rungsunion? • Welche geldpolitischen Instrumente stehen der EZB zur Verfügung? • Warum ist in den letzten Jahren die Politik der EZB umstritten gewesen? 11.1 Einführung Die Europäische Zentralbank ist eines der sieben Organe der Union. Sie wurde 1998 gegründet und steht im Mittelpunkt der Geld- und Währungspolitik. 11.2 Der institutionelle Rahmen zur Durchführung der einheitlichen Geld- und Währungspolitik in der Europäischen Union Die Europäische Zentralbank (EZB) und die nationalen Zentralbanken aller EU-Mit‐ gliedstaaten bilden das Europäische System der Zentralbanken (ESZB). Die EZB und die Zentralbanken jener Länder, die den Euro eingeführt haben, bilden das Eurosystem (Artikel 282 AEUV). Das Direktorium der EZB besteht aus dem Präsidenten, dem Vizepräsidenten und vier weiteren fachkundigen Mitgliedern (Artikel 283 AEUV). Der Rat der Europäischen Zentralbank, das zentrale Beschlussorgan des Systems, setzt sich aus den sechs Mitgliedern des Direktoriums der Europäischen Zentralbank und den Präsidenten der nationalen Zentralbanken zusammen, deren Währung der Euro ist. Der erweiterte Rat der EZB wird als Übergangsgremium aufgelöst, sobald alle EU-Mitgliedstaaten den Euro eingeführt haben. Die detaillierten Regelungen zur Geld- und Währungspolitik finden sich in der „Sat‐ zung des europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank“, welche als Protokoll Nr. 4 dem Lissabon Vertrag angefügt ist. Die grundlegenden Aufgaben des Europäischen Systems der Zentralbanken beste‐ hen in der <?page no="252"?> • Festlegung und Durchführung der Geldpolitik der Union, • Durchführung von Devisengeschäften im Einklang mit dem Lissabon Vertrag, • Verwaltung der offiziellen Währungsreserven, • Förderung des reibungslosen Funktionierens der Zahlungssysteme (Protokoll Nr. 4 zum Lissabon Vertrag, Artikel 3). Die Europäische Zentralbank und das System der Europäischen Zentralbank sind unabhängig. Box 57 |-Unabhängigkeit der Zentralbank - Pro und Kontra Die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank und der nationalen Zentral‐ banken ist im Europarecht verankert und hat vier Dimensionen: die EZB ist institutionell unabhängig, ihre funktionelle Unabhängigkeit ist gewährleistet, die personelle Unabhängigkeit der Mitglieder des EZB-Rates ist rechtlich garantiert, und die EZB ist finanziell unabhängig. Pro Unabhängigkeit: Erfahrungen haben gezeigt, dass in Ländern ohne Unab‐ hängigkeit der Zentralbank die Inflationsraten höher liegen. Regierungen nutzten in der Vergangenheit häufig ihren Einfluss, um ihnen genehme geldpolitische Entscheidungen herbeizuführen. Insbesondere der Abbau der realen Verschuldung von Staaten durch eine Phase höherer Inflation ist häufig verlockend gewesen und mit hohen Kosten für die Gesellschaft verbunden. Die Abschottung dieses für eine Volkswirtschaft zentralen Handlungsfeldes gegenüber politischen Interessen ist essenziell. Kontra Unabhängigkeit: Zentrale wirtschaftspolitische Entscheidungen werden in die Hände von Technokraten gegeben, die kein entsprechendes politisches Mandat haben. Die Entscheidungen der Zentralbanken haben erhebliche Auswir‐ kungen, ohne dass die Entscheider für falsche Entscheidungen zur Rechenschaft gezogen werden. Die Transparenz ihres Handelns ist gering. 11.3 Die Geldpolitik des Eurosystems - Ziele und Instrumente Das vorrangige Ziel des Eurosystems ist die Gewährleistung der Preisstabilität (in der deutschen Literatur wurde in der Vergangenheit meist von „Preisniveaustabilität“ gesprochen, um zu betonen, dass es nicht um die Stabilität einzelner Preise geht, sondern um jene des Preisniveaus). Die Bedeutung des Ziels der Preisstabilität wird mit den Kosten der Inflation und insbesondere den sozialen Folgen inflationärer Entwicklungen begründet. Die Europäische Zentralbank hat das in den Verträgen nicht exakt quantifizierte Ziel konkretisiert. Mit Vorlage der neuen geldpolitischen Strategie der Europäischen Zentralbank (2021) wird unter Preisstabilität der Anstieg des Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI) für das Euro-Währungsgebiet von 252 11 Die Geldpolitik in der Europäischen Währungsunion <?page no="253"?> 2 % pro anno über die mittlere Frist verstanden. Abweichungen von diesem Zielwert nach oben wie nach unten werden gleichermaßen als unerwünscht angesehen (sym‐ metrisches Inflationsziel). Damit wird die bisher geltende Zieloperationalisierung einer Teuerungsrate von unter, aber nahe 2 % gegenüber dem Vorjahr ersetzt. Eine Inflationsrate von 0 % wird nicht angestrebt, da mit einer solchen Zielgröße und den Schwankungen der Preissteigerungsraten die Gefahr einer Deflation verknüpft wird. Soweit das Ziel der Preisstabilität nicht beeinträchtigt wird, unterstützt die Geldpolitik die allgemeine Wirtschaftspolitik. Wirtschaftliche und strukturelle Veränderungen wie die Globalisierung und Digitali‐ sierung, Anpassung an den Klimawandel, Rückgang des gleichgewichtigen Realzinses, Art der öffentlichen Kommunikation oder auch institutionelle Reformen im Euroraum u. a. haben Rückwirkungen auf die geldpolitische Entscheidungsfindung (vgl. Euro‐ päische Zentralbank 2021, S. 89-92). Anstelle der bestehenden Zwei-Säulen-Strategie wird daher ein integrierter Analyserahmen zugrunde gelegt, der die beiden Stränge der „wirtschaftlichen Analyse“ und der “monetären und finanziellen Analyse“ zusam‐ menführt. In der wirtschaftlichen Analyse werden Daten über die Konjunktur, Preise und Kosten im Euro-Währungsgebiet erhoben und ausgewertet. Vierteljährlich werden gesamtwirtschaftliche Projektionen erstellt. Risiken für die Preisstabilität werden aufgrund der so gewonnen Ergebnisse identifiziert und geben Orientierung für die Durchführung der Geldpolitik. Entsprechend wird in der monetären und finanziellen Analyse die Entwicklung von Geldmenge, Kredit- und Zinsvariablen mit Bezug auf künftige Preisrisiken erfasst. Im Vordergrund steht die Untersuchung der Transmission geldpolitischer Impulse durch den Finanzsektor in die Realwirtschaft. Auch eine Beur‐ teilung von Finanzstabilitätsrisiken wird in der monetären und finanziellen Analyse berücksichtigt (vgl. Deutsche Bundesbank 2021). Für die Umsetzung der Geldpolitik stehen dem Eurosystem drei Standardinstru‐ mente zur Verfügung: die Offenmarktgeschäfte, die ständigen Fazilitäten und die Mindestreservepflicht. • Die Offenmarktgeschäfte sind für die Steuerung der Liquiditätsbedingungen des Bankensektors das wichtigste Instrument der EZB. Die von den Zentralbanken des Eurosystems durchgeführten Offenmarktgeschäfte werden in Hauptrefinan‐ zierungsgeschäfte, längerfristige Refinanzierungsgeschäfte, Feinsteuerungsopera‐ tionen und strukturelle Operationen unterschieden. Die beiden erst genannten Instrumente werden von den Zentralbanken regelmäßig eingesetzt und sind wesentlich für die Bereitstellung von Liquidität für die Banken des Eurosystems. Feinsteuerungsoperationen wie etwa Devisenswapgeschäfte werden nicht regel‐ mäßig eingesetzt, sie kommen nur im Bedarfsfall zum Einsatz. Bei strukturellen Operationen können anders als bei den üblichen Hauptrefinanzierungsgeschäften endgültige Käufe und Verkäufe von Schuldverschreibungen vorgenommen wer‐ den, ein Instrument, das in der Eurokrise an Bedeutung gewonnen hat. • Die ständigen Fazilitäten bieten den Banken die Möglichkeit, über Nacht Liquidität bei der Zentralbank anzulegen (Einlagefazilität) oder Liquidität über Nacht zu 11.3 Die Geldpolitik des Eurosystems - Ziele und Instrumente 253 <?page no="254"?> erhalten (Spitzenrefinanzierungsfazilität). Die beiden Zinssätze legen den Korridor fest, innerhalb dessen sich der Geldmarktzins bildet. • Der Rat der Europäischen Zentralbank verlangt von im Euro-Währungsgebiet an‐ sässigen Kreditinstituten, Mindestreserven auf Konten der nationalen Zentralban‐ ken zu halten. Die Mindestreservesätze werden für die mindestreservepflichtigen Bilanzpositionen der Kreditinstitute festgelegt. Mit diesem Instrument stabilisiert die Zentralbank die Geldmarktsätze. Box 58 | Geldpolitisches Instrumentarium der EZB geldpolitische Geschäfte Transaktionsart Laufzeit Rhythmus Verfahren Liquiditätsbe‐ reitstellung Liquiditätsab‐ schöpfung Offenmarktgeschäfte Hauptrefinan‐ zierungsin‐ strument befristete Transaktion eine Wo‐ che wöchent‐ lich Standardten‐ der längerfristige Refinanzie‐ rungsge‐ schäfte befristete Transaktion drei Mo‐ nate monatlich Standardten‐ der Feinsteue‐ rungsoperatio‐ nen ▶ befristete Transaktionen ▶ Devisen‐ swaps ▶ Devisen‐ swaps ▶ Herein‐ nahme von Termineinla‐ gen ▶ befristete Transaktionen nicht stan‐ dardisiert unregel‐ mäßig ▶ Schnellten‐ der ▶ bilaterale Geschäfte - endgültige Käufe endgültige Verkäufe unregel‐ mäßig bilaterale Ge‐ schäfte strukturelle Operationen befristete Transaktionen Emission von Schuldver‐ schreibungen standardi‐ siert / nicht standardi‐ siert regelmä‐ ßig und unregel‐ mäßig Standardten‐ der 254 11 Die Geldpolitik in der Europäischen Währungsunion <?page no="255"?> geldpolitische Geschäfte Transaktionsart Laufzeit Rhythmus Verfahren Liquiditätsbe‐ reitstellung Liquiditätsab‐ schöpfung - endgültige Käufe endgültige Verkäufe unregel‐ mäßig bilaterale Ge‐ schäfte Ständige Fazilitäten Spitzenrefi‐ nanzierungs‐ fazilität befristete Transaktionen über Nacht Inanspruchnahme auf Initia‐ tive der Geschäftspartner Einlagefazili‐ tät - Einlagenan‐ nahme über Nacht Inanspruchnahme auf Initia‐ tive der Geschäftspartner Quelle: Europäische Zentralbank 2011, S.-103 Mit dem Einsatz der drei Instrumente zielt die Geldpolitik auf ihr operatives Ziel, die Steuerung des kurzfristigen Geldmarktzinssatzes, ab. Sie verspricht sich damit einen Einfluss auf das Preisniveau. Box 59 |-Hauptrefinanzierungsgeschäfte und Tenderverfahren In weit überwiegendem Maße erfolgt die Liquiditätsbereitstellung des Banken‐ sektors durch das Eurosystem über die Hauptrefinanzierungsgeschäfte, denen Tenderverfahren zugrundliegen. Beim Mengentender gibt die Notenbank den Zinssatz (i') vor, zu dem sie bereit ist, Zentralbankgeld zur Verfügung zu stellen. Die Geschäftsbanken geben Gebote ab, welche Geldbeträge sie abrufen wollen. Werden alle Gebote bedient, hängt die Geldmenge (M) von der Geldnachfrage (L) ab. Schwankungen der Geldnachfrage beeinflussen den Zinssatz nicht (→ Abb. 59). Übersteigt das Bietungsvolumen einen von der Notenbank vorgegebenen Zuteilungsbetrag, werden die Gebote in Relation des Zuteilungsbetrags zum Bietungsvolumen proportional erfüllt (Repar‐ tierung). 11.3 Die Geldpolitik des Eurosystems - Ziele und Instrumente 255 <?page no="256"?> Zins i' M, L M` L Abb.-59: Allokation via Mengentender Beim Zinstender legt die Notenbank eine Obergrenze fest, wie viel Zentralbankgeld dem Bankensektor zugeteilt werden soll (M'), und gibt in aller Regel einen Mindestbietungssatz (i'') vor. Die Gebote der Geschäftsbanken enthalten neben der Betragshöhe auch den Zinssatz, mit dem sie sich am Hauptrefinanzierungsgeschäft beteiligen. Veränderungen der Geldnachfrage führen beim Zinstender zu Zinsände‐ rungen (→ Abb. 60). Die Zuteilung des Zentralbankgeldes auf die Geschäftsbanken kann entweder zu den individuellen Bietungssätzen (amerikanisches Verfahren) oder zu einem einheitlichen Zinssatz (holländisches Verfahren) erfolgen, der dem letzten von der Notenbank angenommenen Gebot (marginaler Zinssatz) entspricht (vgl. Spahn 2012; Görgens/ Ruckriegel/ Seitz 2013) i'' Zins M' M, L L Abb.-60: Allokation via Zinstender 256 11 Die Geldpolitik in der Europäischen Währungsunion <?page no="257"?> 11.4 Die Wechselkurspolitik der Eurozone Die grundlegenden Entscheidungen hinsichtlich der Währungspolitik sind im Lissa‐ bon-Vertrag dem Rat der Europäischen Union übertragen. Der Rat der Europäischen Union kann entweder auf Empfehlung der Europäischen Zentralbank oder auf Emp‐ fehlung der Kommission und nach Anhörung der Europäischen Zentralbank Verein‐ barungen über ein Wechselkurssystem für den Euro gegenüber den Währungen von Drittstaaten treffen. Die enge Abstimmung ergibt sich vor dem Hintergrund der erheblichen Rückwirkungen währungspolitischer Beschlüsse auf die Durchführung der Geldpolitik. Die Umsetzung der Währungspolitik obliegt wiederum der EZB. Der Wechselkurs des Euro ist für das Eurosystem grundsätzlich keine Zielgröße. Der Euro wird gegenüber den großen Handelspartnern außerhalb Europas zu flexiblen Wechselkursen gehandelt. Dies gilt auch gegenüber einigen Währungen in Europa, insbesondere dem britischen Pfund (vgl. Deutsche Bundesbank 2020, S.-20). Für einige europäische Länder sind feste, aber anpassungsfähige Wechselkurse vereinbart: Mit dem Beginn der letzten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion wurde das Europäische Währungssystem durch den Wechselkursmechanismus II abgelöst: Damit sind die Währungen von EU-Mitgliedstaaten außerhalb des Euro-Wäh‐ rungsgebietes, mit einigen Ausnahmen, an den Euro gebunden. Diese Währungen sind gegenüber dem Euro in Form eines Leitkurses festgelegt, der grundsätzlich +/ -15 % um den Leitkurs schwanken kann. Bei Erreichen der Ober- oder Untergrenze sind die Zentralbanken der betroffenen Länder und die EZB verpflichtet, automatisch und unbegrenzt an den Devisenmärkten zu intervenieren. Dieses System wurde zum Zeitpunkt der Schaffung grundsätzlich als Übergangssystem betrachtet, da von einer späteren Einführung des Euro in den an dem Wechselkursmechanismus teilnehmenden Staaten ausgegangen wurde. Mit der Einführung des Euro war auch die Erwartung verbunden, dass dieser als Recheneinheit, als Zahlungsmittel, als Währung zur Wertaufbewahrung und als Ankerwährung eine wichtige Rolle im internationalen Währungssystem einnehmen würde. Da insbesondere die DM in Europa diese Funktion partiell übernommen hatte, war angenommen worden, dass dies auch zukünftig für den Euro so sein würde. 11.5 Die Geld- und Währungspolitik der EZB in der Praxis - Themen und Herausforderungen 11.5.1 Die Entscheidungsstruktur des Euro-Währungssystems Die Entscheidungsstruktur und die entsprechenden Verfahren in der Währungsunion („Governance“) waren in den Verhandlungen zum Maastricht Vertrag lange und kontrovers debattiert worden. Strittig waren vor allem die Entscheidungsverfahren im EZB-Rat, die Besetzung des Direktoriums der EZB und die Abstimmungsmechanismen mit den anderen Organen und Institutionen, die für die Durchführung der Geld- und Währungspolitik von Belang sind. Im EZB-Rat gibt es keine Stimmgewichtung auf 11.4 Die Wechselkurspolitik der Eurozone 257 <?page no="258"?> Basis der Größe der Volkswirtschaft oder der Bevölkerung, jeder Mitgliedstaat des Euro-Währungsgebietes hat grundsätzlich eine Stimme. Mit der wachsenden Zahl der Mitglieder der Eurozone wurde für Abstimmungen im EZB-Rat ein Rotationsverfahren eingeführt, welches für die Präsidenten der nationalen Notenbanken gilt. Die Mitgliedsstaaten bilden entsprechend ihrer Wirtschaftskraft zwei Gruppen. Die Gruppe der fünf wirtschaftsstarken Länder besteht aus Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und den Niederlanden. Diese Länder verfügen über vier Stimmen, die rotierend wahrgenommen werden, so dass ein Land bei jeder fünften Sitzung nicht stimmberechtigt ist. Die zweite Gruppe der 14 oder mehr kleineren Mitgliedstaaten (15 Länder seit Kroatiens Beitritt am 1. Januar 2023) verfügen über 11 Stimmen und üben ebenfalls nach einem Rotationsprinzip das Stimmrecht aus. Schließlich haben die sechs Direktoriumsmitglieder der EZB jeweils eine Stimme (vgl. Europäische Zentralbank 2009). Bei mehr als 21 Eurostaaten werden drei Gruppen gebildet; während die erste Gruppe unverändert bleibt, erhält die zweite Gruppe mit der Hälfte der Mitgliedstaaten acht Stimmen und auf die verbleibende Gruppe der kleinsten Länder entfallen drei Stimmrechte. Die Einführung der Rotation wurde in der Fachöffentlichkeit durchaus kritisch diskutiert. Die nationalen Zentralbanken spielen also nicht nur bei der Durchführung, sondern auch bei der Festlegung der Politik weiterhin eine wichtige Rolle. Mit Blick auf das damit verbundene Problem, dass Nationalbankpräsidenten zu sehr ihre nationale Perspektive einbringen, wurde bereits 2013 ein Reformvorschlag präsentiert, welcher die Abkehr von der nationalen Vertretung im EZB-Rat durch die Einführung von länderübergreifenden Distrikten, wie es die US-amerikanische Notenbank praktiziert, empfiehlt (vgl. Burda 2013). Gelegentlich wurde die Besorgnis geäußert, dass mit der großen Zahl relativ hoch verschuldeter Länder und deren Stimmrecht im EZB-Rat das Interesse an einer expan‐ siven Geldpolitik mit unkonventionellen Zentralbankoperationen zur Refinanzierung der Staaten an Bedeutung gewinnen könnte. Box 60 |-Die Euro-Einführung und das Entstehen zweier Entscheidungssysteme Die Euroeinführung ist ein Beispiel für ein Europa der zwei Geschwindigkeiten. 20 Länder haben den Euro eingeführt, andere können später unter bestimmten Bedin‐ gungen folgen. Aus der Tatsache, dass zwar die Mehrheit der Mitgliedstaaten der Union den Euro eingeführt, bisher aber nicht alle EU-Mitgliedstaaten diesen Schritt getan haben, entsteht eine besondere Problematik der Abstimmung. Wesentliche geldpolitische Entscheidungen fallen im Eurosystem und damit dem EZB-Rat; der erweiterte EZB-Rat hat hier eine geringe Bedeutung. Spiegelbildlich stellt sich das Problem auch bei der Abstimmung der Finanzminister der Europäischen Union. Wichtige den Euro betreffende wirtschaftspolitische Entscheidungen werden von den Finanzministern der Euro-Staaten im Rahmen der „Euro-Gruppe“ getroffen, andere Beschlüsse werden von dem ECOFIN, dem 258 11 Die Geldpolitik in der Europäischen Währungsunion <?page no="259"?> Treffen aller Finanzminister der EU, gefasst. Dies erfordert entsprechende Koordi‐ nationsmechanismen sowohl untereinander als auch mit anderen Organen und Einrichtungen der Europäischen Union. 11.5.2 Das Mandat der EZB Das Mandat der EZB ist expressis verbis auf Preisstabilität bezogen. Dies ist das vorrangige Ziel. Wenn dies ohne die Beeinträchtigung des primären Zieles der Preis‐ stabilität möglich ist, dann unterstützt die EZB die allgemeine Wirtschaftspolitik. Diese Priorisierung war und bleibt umstritten. Die Federal Reserve in den USA verfolgt ausdrücklich sowohl das Ziel der Preisstabilität als auch das Ziel eines hohen Beschäf‐ tigungsstands. Kritiker des EZB-Mandats warnten vor einem verengten Verständnis des Beitrags der Geldpolitik. In der Praxis der Geldpolitik der letzten Jahre wurde allerdings häufig die Einschät‐ zung geäußert, dass die EZB-Politik einen starken Fokus auf die Wirtschaftsentwick‐ lung hat, und die Zinspolitik nur vordergründig der Einhaltung des Inflationsziels dient, sondern eigentlich auf die Unterstützung der Refinanzierungsbemühungen hoch verschuldeter Staaten abzielt. Im Zuge der Überprüfung der geldpolitischen Strategie wurde herausgestellt, dass der Klimawandel etwa durch häufigere Extremwetterereignisse (physische Risiken) und erforderliche Anpassungen der Lebensumstände an die sich ändernden Bedin‐ gungen (Transitionsrisiken) spürbare wirtschaftliche Auswirkungen haben wird, die für die Gewährleistung von Preisstabilität bedeutsam sein können (vgl. Deutsche Bundesbank 2021, S. 51-54). Im Rahmen des Mandats der EZB sind daher Schritte zu unternehmen, um Klimaschutzerwägungen stärker im geldpolitischen Handlungsan‐ satz einzubeziehen (vgl. Europäische Zentralbank 2021, S.-102, 2022a). 11.5.3 Das Ziel der Preisstabilität Die → Abb. 61 zeigt die Entwicklung der jährlichen Preissteigerung seit 1999. Bedenkt man die erheblichen Inflationsraten in vielen europäischen Staaten vor Gründung der Währungsunion, so hat die Europäische Zentralbank ihr zentrales Ziel der Sicherung der Preisstabilität aus Sicht der meisten Beobachter erreicht. In den ersten Jahren von 2000 bis 2007 lag die Veränderungsrate des HVPI nahe um die 2 %-Marke und fiel im Zuge der Eurokrise mit negativen Teuerungsraten deutlich. Im Zeitraum 2008 bis 2012 kam es zu relativ starken Schwankungen im Preisanstieg, der sich danach wieder verlangsamte und mit Befürchtungen einer deflationären Entwicklung einherging. Als Folge der Corona-Pandemie 2019/ 2020 und durch den Ausbruch des Krieges gegen die Ukraine 2022 kam es zu Störungen der globalen Lieferketten und zu anziehenden Nahrungsmittel- und Energiepreisen. Nachdem mit einem Wert von 10,6 % (Oktober 2022) die höchste Inflationsrate seit Bestehen der Eurozone erreicht wurde, nähert 11.5 Die Geld- und Währungspolitik der EZB in der Praxis - Themen und Herausforderungen 259 <?page no="260"?> sich die Teuerung wieder dem Inflationsziel an und wird auf 1,8 % (September 2024) gegenüber 2,2-% (August 2024) geschätzt (Eurostat - Schnellschätzung). -2,0 0,0 2,0 4,0 6,0 8,0 10,0 12,0 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016 2018 2020 2022 2024 Abb. 61: Inflationsraten im Euro-Währungsgebiet, 1999-2024 | Quelle: Europäische Zentralbank 2024a Neben dem Durchschnittswert der Inflationsrate ist die Preisdispersion zwischen den Mitgliedsländern der Eurozone zu beachten (vgl. Allayioti/ Beschin 2024). Gemessen an der Standardabweichung der Gesamtinflationsrate in den Ländern des Euro-Wäh‐ rungsgebietes zeigt sich, dass die Streuung in Krisenzeiten ansteigt (vgl. Bernoth/ Dietz/ Lastra u. a. 2024, S. 11-13), was eine Herausforderung für die einheitliche Geldpolitik darstellt. 11.5.4 Der Außenwert des Euro Das zentrale Ziel der Geldpolitik der EZB ist der Binnenwert des Geldes. Der Außen‐ wert des Geldes, der sich im Wechselkurs ausdrückt, wird davon beeinflusst, wird aber auch von anderen Größen bestimmt. Ein Währungsgebiet, in dem Preisstabilität herrscht, hat gemäß der Kaufkraftparitätentheorie tendenziell einen stabilen Außen‐ wert gegenüber anderen Währungen mit vergleichbarer Preisstabilität. Die folgende → Abb. 62 zeigt die Entwicklung des Außenwertes des Euro gegenüber dem US-$ seit 1999. Nach einer anfänglichen Phase der Abwertung des Euro gewann der Euro an Wert, erreichte im Jahr 2008 seinen Höhepunkt und wertete später wieder ab. Aktuell beläuft sich der Wechselkurs auf 1,12 US-$/ 1-€ (19.9.2024). 260 11 Die Geldpolitik in der Europäischen Währungsunion <?page no="261"?> Euro (right-hand-scale) US dollar (left-hand-scale) Other currencies (right-hand-scale) 75 73 71 69 67 65 63 61 59 57 99 01 03 05 07 09 11 13 15 17 19 21 23 7 9 11 13 15 17 19 21 23 25 Abb.-63: Anteil des Euro an den Währungsreserven (gemessen zu konstanten Wechselkursen), 1999- 2023 0.8 0.9 1.0 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016 2018 2020 2022 2024 Abb.-62: Die Entwicklung des Wechselkurses-€/ US-$ von 1999-2024 (Dollar pro Euro) | Quelle: Euro‐ päische Zentralbank 2024a 11.5.5 Die Rolle des Euro im Weltwährungssystem Eine führende Rolle des Euro im Welt‐ währungssystem bedeutet, dass der Euro weltweit als Transaktionswährung be‐ nutzt wird, Zentralbanken ihre Wäh‐ rungsreserven in Euro anlegen oder der Euro bei internationalen Transaktio‐ nen als Recheneinheit verwendet wird. Es war kein explizites Ziel der Union, dass der Euro eine führende Rolle im Weltwährungssystem spielt. Gleichwohl wurde erwartet, dass der Euro eine starke Stellung einnehmen würde. Der Anteil des Euro an den Währungsre‐ serven lag zu Beginn der gemeinsa‐ men Währung bei 18 Prozent, stieg bis 2009 auf 27 Prozent und fiel infolge der Finanz- und Eurokrise fast auf das ursprüngliche Niveau zurück. Derzeit beträgt sein Anteil an den Weltwäh‐ rungsreserven gut 20 % (→ Abb. 63). 25 Jahre nach Einführung stellt der Euro damit nach dem US-$ die zweitwichtigste Währung im Weltwährungssystem dar (vgl. Europäische Zentralbank 2024c). 11.5 Die Geld- und Währungspolitik der EZB in der Praxis - Themen und Herausforderungen 261 <?page no="262"?> 11.5.6 Das außenwirtschaftliche Gleichgewicht des Euro-Währungsgebietes Die Europäische Union bzw. die Eurozone strebt grundsätzlich ein außenwirtschaftli‐ ches Gleichgewicht an. Der wichtigste Indikator hierfür ist die Leistungsbilanz und der Leistungsbilanzsaldo bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt. In → Abb. 64 ist die Entwicklung des Leistungsbilanzsaldos des Euro-Währungsgebietes wie auch der EU zwischen 2013 und 1. Quartal 2024 dargestellt. Abb.-64: Leistungsbilanzsaldo des Euro-Währungsgebietes und der EU in Prozent des BIP, 2013-1. Quartal 2024) | Quelle: Eurostat 2024 (online) Die unproblematisch erscheinende Entwicklung für den Gesamtraum insgesamt ver‐ deckt jedoch die Ungleichgewichte innerhalb der Eurozone. Der Wechselkurs des Euro war für einige Staaten zu niedrig, sie bauten Leistungsbilanzüberschüsse auf. Für andere Staaten war der Euro zu teuer, ihre Exportgüter und Exportdienstleistungen waren im internationalen Handel wenig wettbewerbsfähig, Importe waren dort zu günstig, sie bauten Leistungsbilanzdefizite auf, die mit einer Ausweitung der nationalen Verschuldung gegenüber dem Rest der Welt einhergingen. Diese Ungleichgewichte spielten eine wesentliche Rolle in der Finanzkrise. 262 11 Die Geldpolitik in der Europäischen Währungsunion <?page no="263"?> ⁈ Verständnisfrage | Suchen Sie zunächst über Eurostat, die OECD oder die Weltbank Daten für die Leistungsbilanzsalden der letzten Jahre von Portugal und Lettland. Wie schätzen Sie die Entwicklung ein? Divergierende wirtschaftliche Entwicklungen in Teilgebieten einer Währungsunion stellen ein zentrales Problem dar. Die Geld- und Währungspolitik richtet sich an dem Gesamtraum aus. Kommt es nur in einem Land oder einer Region zu einer Abschwä‐ chung der Konjunktur und zu einem Leistungsbilanzdefizit, dann müssen interne Mechanismen die Wirkung des Wechselkurses ersetzen. Preise und Löhne müssen angepasst werden, um die Wettbewerbsfähigkeit zurückzuerlangen. Das Problem, dass eine Währungsunion nur noch einen Wechselkurs gegenüber den Partnerländern hat, ist ein immanentes Problem der Währungsunion, das eine umsichtige Wirtschaftspo‐ litik und Flexibilität erfordert. 11.6 Exkurs: Die Finanzkrise in Europa - Eurokrise Die Bewertung der Einführung des Euros zehn Jahre nach dem Start war überwie‐ gend positiv (vgl. Europäische Zentralbank 2008). Dies änderte sich im Gefolge der Finanz- und Wirtschaftskrise, die ihren Ausgangspunkt in den USA nahm. Dort hatte ein Immobilienboom Hauseigentümer, Kreditnehmer und Kreditgeber unvorsichtig werden lassen und zu Geschäften verleitet, die sich als wenig solide erwiesen. Die Freude darüber, dass nicht nur die Menschen mit bester Bonität (das „prime segment“) Kredite erhielten, sondern auch jene mit deutlich schwächerer Bonität (das „sub-prime segment“) schlug um in Irritation und Frustration. Verantwortliche in der Politik, der Zentralbank und der Finanzaufsicht hatten die Gefahren nicht erkannt, es entstand die „Sub-prime-Krise“. Die Erkenntnis wuchs, dass die zuvor viel gepriesenen Finanzinno‐ vationen schwerwiegende negative Wirkungen für die Stabilität des Finanzsystems hatten. Schließlich löste in den USA die Insolvenz von Lehman Brothers - eine der größten Investmentbanken - im Jahr 2008 eine massive Erschütterung aus, die sich schnell im weltweit vernetzten Finanzsystem niederschlug. Der Glaube an die Integrität des Finanzsystems war schwer belastet, das Vertrauen in Banken, Versicherungen, aber auch in die Institutionen der Finanzmarktregulierung ging verloren. Ratingagenturen, welche eine zentrale Rolle in der Bewältigung des dem Finanzmarkt inhärenten Problems der Informationsasymmetrie spielten, wurden als Mitverantwortliche an der Krise gesehen. Die Weltwirtschaft stand vor dem schwersten Einbruch seit den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts. Panik beherrschte die Märkte, die wirtschaftliche Ungewissheit war auf einem historischen Hoch. In diesem Klima wurden traditionelle Kapitalbewegungen hinterfragt und Bewertungen aus der Vergangenheit überprüft. Dies betraf auch Staaten, Finanzinstitutionen und Unternehmen aus Europa. 11.6 Exkurs: Die Finanzkrise in Europa - Eurokrise 263 <?page no="264"?> Box 61 |-Die Kontroverse um das Rating von Wertpapieren Für Käufer und Verkäufer von Wertpapieren ist das Rating der Anlage von zentraler Bedeutung. Ratingagenturen bereiten Informationen auf, sie ermöglichen Käufern in einem schwierigen Umfeld mit sehr detaillierten Regelungen für einzelne Finanzprodukte durch kompakte Informationen die Entscheidungsfindung. Das Rating reduziert Transaktionskosten, insbesondere die Kosten für die Beschaffung und Verarbeitung von Informationen. Die Informationsverdichtung auf eine Kennzahl, die Ratingnote, vermindert die Komplexität erheblich. Das Rating stellt dabei eine Beurteilung der Bonität eines Schuldners dar und gibt die Schätzung für das Ausfallrisiko einer Anlage wieder. Die Ausfallwahrscheinlichkeiten werden in Klassen zusammengefasst. Die drei führenden Ratingagenturen Standard & Poors, Moody’s und Fitch nutzen leicht unterschiedliche Systeme. Bereits in früheren Finanzkrisen und so auch während der Finanz- und Wirtschaftskrise wurde die Rolle der Ratingagenturen sehr kontrovers diskutiert: Die Sicht der Ratingagenturen: Die Agenturen stellen hilfreiche ergänzende Informationen bereit, sie bündeln das verfügbare Wissen und geben Entscheidern Orientierung. Im Kontext der substanziellen Informationsasymmetrie und der hohen Kosten für die Beschaffung und Verarbeitung von Informationen senken sie Transaktionskosten, insbesondere für Anleger mit kleineren Anlagebeträgen. Die Risikomodelle der Ratingagenturen helfen, mit der Komplexität des Finanzsektors umzugehen. Der Ratingprozess gleicht dem der Banken bei ihren Kreditverga‐ beentscheidungen. Die Formalisierung der Bewertung ist hilfreich und objektiviert Entscheidungsprozesse. Die Sicht der Kritiker der Ratingagenturen: Ratingagenturen haben Eigenin‐ teressen, die ihre Unabhängigkeit beeinträchtigen. Sie haben in der Vergangen‐ heit mehrfach substanzielle Bewertungsfehler gemacht. Die Abhängigkeit des Finanzsystems von Entscheidungen der Ratingagenturen ist zu weitgehend. Das Herdenverhalten von Kapitalanlegern ist teilweise dieser Abhängigkeit geschuldet und für die Instabilität des Finanzsystems mitverantwortlich. Ratingagenturen haben darüber hinaus einen „home bias“: sie bewerten Anleihen des eigenen Landes besser als andere Anleihen (vgl. Fuchs/ Gehring 2013). Besondere Dynamik erhielt die Krise in Europa, welche die EU unvorbereitet traf, mit der wachsenden Skepsis hinsichtlich der Fähigkeit der griechischen Regierung, die Staatsschulden zu bedienen. In kurzen Abständen weitete sich die Sorge auf die Zahlungsfähigkeit auch anderer EU-Länder aus. Zweifel an der Fähigkeit der Eurozone, die Probleme der Finanzkrise unbeschadet zu überstehen, führten zur sog. Eurokrise. Zu niedriges Eigenkapital der Banken, Anreizprobleme in den Finanzinstitutionen („moral hazard“ und „too big to fail“), mangelnde Mechanismen zur Abwicklung von 264 11 Die Geldpolitik in der Europäischen Währungsunion <?page no="265"?> Banken und Fehler in der Finanzaufsicht waren einige der Probleme, die in der Krise offenbar wurden. In der Summe mussten Banken substanzielle Verluste hinnehmen, die Aktienkurse der Banken gaben dramatisch nach. Manche Banken wurden geschlossen. Das Ausmaß der Probleme in den Ländern Europas war unterschiedlich ausgeprägt, abhängig von der Internationalisierung der nationalen Finanzmärkte und der Akteure, deren Strategien und der Qualität der Aufsichtsstrukturen der Länder. Die Belastun‐ gen waren in Europa asymmetrisch verteilt, am stärksten waren Irland, Spanien und Griechenland betroffen. Auch in Deutschland wurde das Finanzsystem schwer erschüttert. Angesichts der systemischen Relevanz der Banken verhinderten viele Regierungen mit umfangreichen Rettungsmaßnahmen einen Kollaps großer Institute und ihrer nationalen Bankensysteme. Während des Höhepunkts der Eurokrise erklärte der EZB-Präsident 2012 in London, dass die Zentralbank innerhalb ihres Mandats bereit sei, „alles Notwendige (zu) tun, um den Euro zu erhalten“. Diese Ankündigung markierte einen wichtigen Wendepunkt in der Krise, Spekulationen gegen den Euro kamen zu einem Ende. Box 62 |-Geldpolitische Maßnahmen in der Finanz- und Wirtschaftskrise Um den geldpolitischen Transmissionsmechanismus zu gewährleisten und die Stabilität des Finanzsystems sicherzustellen wurden von der Europäischen Zen‐ tralbank eine Reihe von Maßnahmen ergriffen. Dazu gehören • Herabsetzung des Mindestreservesatzes, • Umstellung vom Zinstender auf einen Mengentender mit Vollzuteilung, • Erweiterung des Sicherheitenrahmens für Kreditaufnahmen beim Eurosystem, • Bereitstellung von Liquidität über Feinsteuerungsmaßnahmen und einer Serie gezielter längerfristiger Refinanzierungsgeschäfte, • Programme zum Ankauf von Vermögenswerten. Die in der Krise notwendigen Rettungs- und Stabilisierungsmaßnahmen trieben die Staatsausgaben in die Höhe. Und die staatlichen Ausgaben für die Bankenrettung ließen die Staatsverschuldung in einigen Ländern deutlich anwachsen. Im Jahr 2012 hatten alle EU-Staaten eine höhere Staatsverschuldung (gemessen in Prozent des BIP) als im Jahr 2008. Der Stabilisierung des Euroraums stand auch das noch nicht hinreichend gelöste Problem des Staaten-Banken-Nexus entgegen, um Staatsanleiherisiken in den Bankbilanzen wirksam vorzubeugen (vgl. Bundesministerium der Finanzen 2024a). Die Banken- und Staatsschuldenkrise ging zudem mit einer makroökonomischen Krise einher, der durch eine Austeritätspolitik begegnet wurde, die sich auf Strukturreformen vor allem in den notleidenden Eurostaaten konzentrierte. 11.6 Exkurs: Die Finanzkrise in Europa - Eurokrise 265 <?page no="266"?> -5 -4 -3 -2 -1 0 1 2 3 4 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 Wachstum in der Eurozone in % Wachstum in den USA in % Abb.-65: Reales BIP-Wachstum in der Eurozone und in den USA, 2007-2017, in Prozent | Quelle: International Monetary Fund 2019 (www.imf.org/ external/ datamapper/ datasets) Zahlreiche nationale und internationale Maßnahmen waren nötig, um die Funktionsfä‐ higkeit des Finanzsystems zurückzugewinnen. Neben makroprudenziellen Instrumen‐ ten zur Überwachung der Finanzstabilität wurde in Reaktion auf die Krise die Einfüh‐ rung einer Bankenunion beschlossen, um die Widerstandskraft der Kreditinstitute gegenüber Schocks zu stärken und generell die Resilienz der Eurozone zu erhöhen (vgl. ifo Schnelldienst 2024). Diese Bankenunion umfasst mehrere Elemente, häufig auch mit „Säulen“ beschrieben: eine gemeinsame Finanzaufsicht, ein gemeinsames System für die Abwicklung von Banken und ein gemeinsames Einlagenversicherungssystem (vgl. Hallak 2024). Die im Rahmen der Stärkung der Finanzaufsicht ergriffenen Maßnahmen enthielten bessere Regeln für die Aufsicht von Banken und auch sogenannter Schattenbanken (vgl. Deutsche Bundesbank 2014). Banken müssen mehr Eigenkapital vorhalten, auch die Anforderungen an die Qualität des Eigenkapitals (Basel III) wurden erhöht (vgl. Deutsche Bundesbank 2024). Neue Regelungen für den Umgang mit Finanzinnovati‐ onen, insbesondere Finanzderivaten wurden erlassen. Zahlreiche Reformen zielten auf die Beseitigung oder zumindest Begrenzung der Anreizprobleme („moral hazard“) ab, die sich aus Bonusregeln für Bankmanager und aus Vorschriften zum Ausweis notleidender Kredite ergeben. Regelungen zur Abwicklung von Banken stellen die zweite Säule der Bankenunion dar. Während Konsens über die Notwendigkeit eines regulatorischen Rahmens für die Abwicklung von Banken herrschte, gab es erheblichen Dissens, wie dies prozedural und institutionell ausgestaltet werden sollte. Der seit Januar 2016 funktionsfähige „Einheitliche Abwicklungsmechanismus“ hat die Aufgabe, im Notfall eine geordnete Abwicklung von Instituten zu gewährleisten, ohne dass die Stabilität des Finanzsys‐ 266 11 Die Geldpolitik in der Europäischen Währungsunion <?page no="267"?> tems gefährdet ist (vgl. Bundesministerium der Finanzen 2024b). Ziel ist es, im Fall einer Bankenabwicklung sicherzustellen, dass die Anteilseigner und Gläubiger der Banken die Last tragen, und nicht der Steuerzahler (vgl. Bundesministerium der Finanzen 2021). Die Schaffung eines europäischen Einlagenversicherungssystems (European Depo‐ sit Insurance Scheme) stellt die dritte Säule der Bankenunion dar. Solche Systeme basieren auf dem Versicherungsgedanken und sorgen dafür, dass für Einleger bei einer Bank im Fall des Zusammenbruchs der Bank die Anlage oder zumindest ein Teil davon gesichert ist. Die Existenz eines solchen Systems verhindert Panik der Anleger, die bei Schieflagen einer Bank entstehen kann und im weiteren Prozess das Problem verschärft. Die Konstruktion einer solchen Versicherung muss gewährleisten, dass diese tatsächlich stabilisiert und nicht wegen Fehlanreizen eher destabilisiert: Eine nicht optimal beaufsichtigte Bank könnte angesichts der garantierten Einlagen eine riskantere Strategie wählen als dies ohne die Versicherung der Fall wäre. Die Schaffung einer Versicherung erfordert zwingend Mechanismen, die das moralische Risiko, welches einer Versicherung immanent ist, begrenzt. 11.7 Einheitliche Geldpolitik für das Euro-Währungsgebiet Eine einheitliche Geldpolitik impliziert einheitliche Zinssätze für das Euro-Währungs‐ gebiet. Das reale Auseinanderdriften der konjunkturellen Entwicklung und der Infla‐ tion in der Eurozone hätte in dem ersten Jahrzehnt des Bestehens des Eurosystems differenzierte Zinssätze erfordert. Auch diesbezüglich gilt, dass bei asymmetrischen Schocks oder asymmetrischer Wirtschaftsdynamik die einheitliche Geld- und damit Zinspolitik durchaus problematische Ergebnisse hat. 11.7.1 Geldpolitische Strategie Geldmengensteuerung Die EZB verfolgt, anders als seinerzeit die Deutsche Bundesbank, die ihre Geldpolitik im Wesentlichen am Wachstum der Geldmenge ausgerichtet hatte, einen geldpoliti‐ schen Ansatz, der primär einer Inflationssteuerung entspricht. Geldmengenaggregate werden im integrierten Analyserahmen zwar noch berücksichtigt, stehen aber wegen der Schwankungen der Geldnachfrage und der instabilen Beziehung zwischen Geld‐ menge und dem Preisniveau nicht mehr im Vordergrund. Box 63 |-Geldpolitische oder fiskalische Dominanz für das Preisniveau? Analytischer Ansatzpunkt der Geldmengensteuerung (monetaristischer Ansatz) ist die Quantitätsgleichung, die einen Zusammenhang zwischen Geldmenge (M), Umlaufgeschwindigkeit des Geldes (V) und dem nominellen Bruttoinlandsprodukt (Y n = P × Y r ) postuliert: M × V = P × Y r . In Wachstumsraten ausgedrückt und 11.7 Einheitliche Geldpolitik für das Euro-Währungsgebiet 267 <?page no="268"?> nach w M aufgelöst, erhält man: w M = w P + w Yr - w V . Die Wachstumsrate der Geldmenge entspricht der Inflationsrate einschließlich der Wachstumsrate des BIP real abzüglich der Veränderungsrate der Umlaufgeschwindigkeit des Geldes. Inflation ist nur dann möglich, wenn die Geldmenge stärker als das um die Umlaufgeschwindigkeit korrigierte BIP real steigt. Auch im Falle der Zinssteuerung durch die Notenbank (neu-keysianischer Ansatz) ist prinzipiell die Geldpolitik für das Erreichen der Preisstabilität ausschlaggebend (vgl. Bofinger 2019). Dieser klassischen Auffassung der geldpolitischen Dominanz für den Geldwert steht die sogenannte Fiskaltheorie des Preisniveaus gegenüber, die auf die Bedeu‐ tung der Fiskalpolitik für die Inflation insbesondere bei ausgeprägter öffentlicher Verschuldung hinweist. Grundlage dafür ist die intertemporale Budgetgleichung des Staates, wonach stark vereinfacht der reale Schuldenstand des Staates (No‐ minalschuld (D)/ Preisniveau (P)) in der Gegenwart den diskontierten preisberei‐ nigten Primärüberschüssen (Steuereinnahmen abzüglich Staatsausgaben ohne Zinszahlungen) in der Zukunft (PÜ*) entsprechen muss: D/ P = PÜ* (vgl. Chris‐ tiano/ Fitzgerald 2000). Wird einmal angenommen, dass die reale Staatsschuld höher als der Gegenwartswert der künftigen Primärüberschüsse ist, bedarf es zur Einhaltung der Budgetgleichung entweder einer strikten Konsolidierungspolitik (Austerität) durch Steigerung von PÜ* (Ausgabenkürzung bzw. Steuererhöhung) oder eines Schuldenschnitts zur Verminderung von D durch Staatsinsolvenz mit Umschuldung. Sofern beide Alternativen politisch nicht umsetzbar erscheinen, verbleibt der Weg, über eine Anpassung des Preisniveaus P durch Inflation die Solvenz des Staates sicherzustellen. Die Rolle der Zinssätze Aus → Abb. 66 ist die Entwicklung der von der EZB festgelegten Zinssätze von 1999- 2024 zu entnehmen. Für die Beschreibung und Einschätzung der Zinsentwicklung sind vier Zinssätze von besonderer Bedeutung: Der Zinssatz für die Hauptrefinanzierungs‐ geschäfte (Leitzins), der Zinssatz für die Einlagefazilität (zu diesem Satz können Banken bei der Zentralbank Einlagen tätigen), der Zinssatz für die Spitzenrefinanzierungsfazi‐ lität (zu diesem Zinssatz können sich Banken kurzfristig Geld von der Zentralbank leihen). Häufig wird als viertes der EONIA („Euro Overnight Index Average“) genannt, der Zinssatz, der sich bei Geldgeschäften zwischen den Banken bildet (Geldmarktzins). In der Zinspolitik der EZB lassen sich mehrere Phasen unterscheiden. Nach einer Zinssteigerungstendenz in den ersten Perioden zeigte sich bei fallenden Sätzen eine relativ stabile Zinsentwicklung, die im Zeitraum zwischen 2006 und 2008 von suk‐ zessive wieder zunehmenden Zinssätzen abgelöst wurde. Durch den Ausbruch der Vertrauenskrise im Jahr 2008 und in jüngerer Zeit auch der Corona-Pandemie kam es zu einem Konjunkturabschwung mit geringeren Preissteigerungen und niedrigeren Inflationserwartungen. Das Eurosystem reagierte mit deutlichen Verminderungen der 268 11 Die Geldpolitik in der Europäischen Währungsunion <?page no="269"?> Leitzinsen; im Juni 2014 wurde erstmals ein Negativzins für die geldpolitisch immer wichtiger werdende Einlagefazilität (vgl. Schnabel 2023) festgesetzt. Mit dem Anstieg der Inflationsrate ab dem Jahr 2021 hob die EZB die Leitzinsen nach mehr als 6 Jahren schrittweise wieder an. Der Zinssatz für die Hauptrefinanzierungsgeschäfte erreichte im September 2023 seinen Höchstwert von 4,5 %; entsprechend beliefen sich die Zinssätze für die Einlagenbzw. die Spitzenrefinanzierungsfazilität auf 4,0 % bzw. 4,75 %. Nach einer kurzen Phase des Abwartens, um die Auswirkungen der geldpolitischen Straffung zu bewerten, wurden die Leitzinsen im Juni 2024 jeweils um 0,25 Prozentpunkte reduziert. Eine nochmalige Zinssenkung erfolgte im September 2024; der Zinssatz für die Einlagefazilität wurde auf 3,5 %, für die Hauptrefinanzierung auf 3,65 % und für die Spitzenrefinanzierungsfazilität auf 3,90 % festgelegt. Weitere Zinsschritte hängen von der zukünftigen Preisentwicklung und den Konjunkturerwar‐ tungen im Euroraum ab. Abb.-66: Zinsentwicklung in der Eurozone, 1999-2024 Box 64 |-Wie lässt sich die Zinspolitik der EZB bewerten? Die Zinspolitik einer Zentralbank steht grundsätzlich im Fokus öffentlicher Debat‐ ten und Kritik. Dies gilt selbstverständlich auch für die Politik der EZB. Kritik an der Zinspolitik einer Zentralbank orientiert sich z. B. an der Zielerreichung, an der Befolgung von in der Geldpolitik gültigen Prinzipien und Regeln, an der Wirkung auf die Gesamtwirtschaft oder auf Sektoren, an der Frage der Zeitverzögerung bei der Wirkung geldpolitischer Impulse, an der Wirkung in dem gesamten Währungsraum oder in Regionen, an der Bewertung eines Problems und an der Einschätzung der Handlungsmöglichkeiten einer Zentralbank in einem Konjunkturzyklus. 11.7 Einheitliche Geldpolitik für das Euro-Währungsgebiet 269 <?page no="270"?> Zur Beurteilung der Zinspolitik einer Notenbank kann das Konzept der Taylor-Re‐ gel herangezogen werden (vgl. Taylor 1993). Ermittelt wird der sog. Taylor-Zins, der ein mit dem Ziel der Preisstabilität und der konjunkturellen Entwicklung kompatibles Geldmarktzinsniveau angibt: i t = r g + π t + α (π t - π*) + β (y t - y tpot ), mit i t = Taylor-Zins, r g = 2 = natürlicher (gleichgewichtiger) Realzins, π t = (er‐ wartete) Inflationsrate, π* = 2 = Zielinflationsrate, y t = aktueller Output und y tpot = potenzieller Output. Die Parameter α und β stellen mit einem Wert von jeweils 0,5 Gewichtungsfaktoren für das Inflationsziel und das Outputziel dar. Ist in einem Gleichgewicht die Inflationslücke (π t - π*) und die Outputlücke (y t - y tpot ) gleich Null, dann entspricht der Taylor-Zins dem Realzins plus der (erwarteten) Inflationsrate („Fisher-Gleichung“). Bei Abweichungen der aktuellen Inflationsrate vom Preisstabilitätsziel bzw. des tatsächlichen vom Potenzialoutput ist der Zins entsprechend anzupassen. Eine Einschätzung der Geldpolitik ist möglich, wenn der Taylor-Zins mit dem aktuellen Geldmarktzins verglichen wird. Liegt der Geldmarktzins niedriger als der Taylor-Zins, ist die Geldpolitik der Zentralbank zu expansiv; liegt der tatsächliche Zins oberhalb des Taylor-Zinses, dann sind die monetären Bedingungen restriktiv (vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 2022, S.-119-122; 2023, S.-43-45). Im Umfeld der sehr niedrigen Inflationsraten waren mit Annäherung der Leitzinsen an die Zinsuntergrenze die Möglichkeiten der klassischen Zinspolitik erschöpft. Ein Spielraum für weitere Zinssenkungen in den negativen Bereich ist wegen der Existenz des Bargeldes begrenzt (vgl. Europäische Zentralbank 2021, S. 98). Daher ergriff das Eurosystem eine Reihe innovativer Maßnahmen, die als Sonderinstrumente der Ergänzung des geldpolitischen Handlungsrahmens dienen. Wertpapierankaufprogramme der EZB In der Krise begann die EZB mit der Ankündigung und Umsetzung innovativer Pro‐ gramme zum Ankauf von Vermögenswerten („Quantitative Easing“). Sowohl hinsicht‐ lich des quantitativen Umfangs als auch hinsichtlich des Kaufs von Vermögenswerten, die in früheren Zeiten nicht als qualitativ ausreichend („notenbankfähige Sicherhei‐ ten“) bewertet wurden, beschritt die EZB eine neue Welt. Besonders kontrovers war die Bekanntgabe des OMT-Programms („Outright Monetary Transactions“), mit dem gegebenenfalls unbegrenzt Anleihen von europäischen Krisenstaaten am Sekundär‐ markt aufgekauft werden können. Der Ankauf ist mit der Bedingung verknüpft, dass die betroffenen Staaten ein wirtschaftliches Anpassungsprogramm im Rahmen der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität/ des Europäischen Stabilitätsmechanismus durchführen. Befürworter der Maßnahme sahen in diesem Programm ein positives Signal der EZB zur Beruhigung der Märkte und zur Stabilisierung der Erwartungen. Kritiker sehen darin eine Maßnahme, die der Refinanzierung von Staaten dient, was 270 11 Die Geldpolitik in der Europäischen Währungsunion <?page no="271"?> mit dem Mandat der EZB nicht kompatibel ist. In Deutschland stand dieses Programm im Mittelpunkt der 2013 eingereichten Klage beim Bundesverfassungsgericht; bisher wurde das Programm nicht angewandt. Der von der EZB Mitte 2014 initiierte Ansatz zum Ankauf von Vermögenswerten (Asset-Purchase-Programme (APP)) wurde 2015 über die bestehenden Programme für Asset-Backed Securities (ABSPP) und für gedeckte Schuldverschreibungen (CBPP3) hinaus erweitert und auf Käufe von Anleihen ausgedehnt, die von Zentralregierungen im Euroraum und weiteren europäischen Institutionen begeben wurden (PSPP). Im Jahr 2016 wurde das CSPP-Programm aufgelegt, das sich auf Ankäufe von Unter‐ nehmensanleihen des Nicht-Finanzsektors bezieht. Infolge der unkonventionellen geldpolitischen Maßnahmen nahm die Überschussliquidität (Überschussreserven und Guthaben in der Einlagefazilität) im Bankensystem in beträchtlichem Ausmaß zu. → Abb. 67 zeigt, in welchem Umfang das Eurosystem im Rahmen dieses Ansatzes Finanzaktiva erworben hat. Mit dem Beschluss, die Tilgungsbeträge aus dem APP ab Juli 2023 nicht wieder anzulegen, sinkt der APP-Bestand, der Ende August 2024 noch 2,994 Billionen-Euro betrug (vgl. Europäische Zentralbank 2024b). Abb.-67: Ankauf von Vermögenswerten durch das Eurosystem im Rahmen des APP-Programms Um die Folgen der Covid-19-Pandemie für die Wirtschaft des Euroraums abzumildern, wurde von der EZB im Jahr 2020 das zeitlich befristete Pandemic Emergency Purchase Programme (PEPP) zum Ankauf von Anleihen öffentlicher wie privater Schuldner aufgelegt. Das Volumen belief sich ursprünglich auf 750 Mrd. Euro, das später auf insgesamt 1.850 Mrd. Euro aufgestockt wurde. Beabsichtigt ist, die Wiederanlage der Tilgungsbeträge bei Fälligkeit der im Rahmen von PEPP erworbenen Wertpapiere zum Jahresende 2024 einzustellen (vgl. Europäische Zentralbank 2023a). 11.7 Einheitliche Geldpolitik für das Euro-Währungsgebiet 271 <?page no="272"?> Die Rückführung der Wertpapierbestände durch das Eurosystem trägt dazu bei, die aktuell noch hohe Überschussliquidität im Bankensystem abzubauen. Instrument zur Absicherung der Transmission Zielsetzung des Transmissionsschutzinstruments (Transmission Protection Instru‐ ment) ist es, zu einer einheitlichen Geldpolitik in allen Ländern des Euroraums beizutragen (vgl. Europäische Zentralbank 2022b) Im Fall einer ungerechtfertigten, ungeordneten Marktentwicklung können Staatsschuldpapiere einzelner Länder in unbegrenzter Höhe auf dem Sekundärmarkt angekauft werden, um einer Verschlech‐ terung der Finanzierungsbedingungen zu begegnen, die nicht in länderspezifischen Fundamentaldaten begründet ist. Für die Ankaufsfähigkeit sind bestimmte Kriterien zu erfüllen, zu denen die Einhaltung des fiskalischen Regelwerks der EU gehören wie die Tatsache, dass keine makroökonomischen Ungleichgewichte vorliegen. Forward Guidance - die Orientierung über die künftige Entwicklung der Geldpolitik Vor dem Hintergrund volatiler Finanzmärkte ist die Verständigung der geldpolitischen Schritte und der Strategie von essenzieller Bedeutung. Die Europäische Zentralbank kommuniziert in vielfältiger Form ihre Intentionen und Aktionen, durch Pressekonfe‐ renzen, Presseinformationen, Veröffentlichungen. In der Eurokrise übernahm die EZB im Jahr 2013 die in den USA eingeführte und als „Forward Guidance“ bezeichnete Kommunikationspolitik (vgl. Europäische Zentralbank 2014). Sie soll Orientierung über die Ausrichtung der Geldpolitik und einen Ausblick auf die zukünftige Zinsent‐ wicklung geben. Die EZB verfolgt damit stärker als zuvor die Stabilisierung der Erwartungen, ohne sich rechtlich und verbindlich festzulegen. Befürworter sehen darin ein angemessenes Instrument zur Beruhigung und Orientierung der Märkte, Kritiker halten diese Politik für problematisch, die Antizipation zukünftiger Schocks sei nicht möglich, ein Vertrauensverlust bei einem notwendigen Kurswechsel vorprogrammiert. Im Zusammenhang mit der Überprüfung der geldpolitischen Strategie wurde die Forward Guidance für die Zinssätze angepasst, indem klargestellt wird, dass die Leitzinsen erst dann angehoben werden, wenn das Inflationsziel erreicht ist (vgl. Lane 2021). Mit der Leitzinserhöhung im Juli 2022 wurde angekündigt, dass die EZB bei ihren Zinsentscheidungen zu einem Sitzung-zu-Sitzung-Ansatz übergeht und damit das Prinzip der Forward Guidance aufgibt (vgl. Sachverständigenrat 2022, S.-122). Neuer geldpolitischer Handlungsrahmen der EZB Im Rahmen der Überprüfung des geldpolitischen Handlungsrahmens (März 2024) wurden verschiedene Parameter bekanntgegeben, die für die zukünftige Umsetzung der Geldpolitik relevant sind (vgl. Europäische Zentralbank 2024d). Insbesondere 272 11 Die Geldpolitik in der Europäischen Währungsunion <?page no="273"?> werden die Leitzinsen näher beieinander liegen, weil die Zinsdifferenz zwischen dem Einlage- und dem Hauptrefinanzierungssatz (von 50 auf 15 Basispunkte) verringert wird. Erwartet wird, dass sich dadurch der Geldmarktzins dem Einlagesatz annähert, über den der geldpolitische Kurs gesteuert werden soll. Die Zinsdifferenz zwischen dem Spitzenrefinanzierungssatz und dem Hauptrefinanzierungssatz wird nicht geän‐ dert. Die Deckung des strukturellen Liquiditätsbedarfs der Banken erfolgt weiterhin über die Hauptrefinanzierungs- und die längerfristigen Refinanzierungsgeschäfte mit dreimonatiger Laufzeit; bei Bedarf sind neue längerfristige Refinanzierungsgeschäfte und ein strukturelles Wertpapierportfolio vorgesehen, deren Design noch entwickelt werden muss. Einführung eines digitalen Euro Angesichts der zunehmenden Digitalisierung der Wirtschaft, rückläufiger Bargeldzah‐ lungen und verstärkter Online-Einkäufe wird von der Europäischen Zentralbank (2023b) gemeinsam mit den nationalen Zentralbanken des Euroraums die Einführung eines digitalen Euro geprüft. Dazu hat die Europäische Kommission (2023) zwei Legis‐ lativvorschläge über Euro-Bargeld als gesetzliches Zahlungsmittel und zur Schaffung des Rechtsrahmens für einen möglichen digitalen Euro vorgelegt. Mit dem digitalen Euro würde das Eurosystem neben Bargeld eine zusätzliche Form von Zentralbankgeld bereitstellen. 11.7.2 Die Grenzen der Geldpolitik Die Geld- und Währungspolitik ist von herausragender Bedeutung für die wirtschaft‐ liche Entwicklung eines Landes und der europäischen Volkswirtschaft. Die Geldpolitik kann wichtige Signale setzen, sie kann wesentlich auf die Dynamik des wirtschaftlichen Geschehens Einfluss nehmen. Wenn die Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten der Währungsunion jedoch nicht stabilitäts- und zukunftsorientiert ist, wird die Geldpoli‐ tik überfordert, missbraucht und langfristig beschädigt. Die eigentliche Grundlage für die Stabilität einer Währung ist nicht die Währungspolitik, sondern eine solide Wirt‐ schaftspolitik. Spätestens die Eurokrise hat diesen Zwiespalt deutlich werden lassen: Gelingt es den Staaten nicht, ihre fiskalischen Probleme zu lösen, schaffen die Länder es nicht, die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Wirtschaft zu erhöhen, dann ist die Geldpolitik überfordert (vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 2018, S. 172-233, Gern/ Kooths/ Stolzenburg 2019). Die Staaten sind für eine stabilitätsgerechte Politik verantwortlich. 11.7 Einheitliche Geldpolitik für das Euro-Währungsgebiet 273 <?page no="274"?> 11.7.3 Die EZB als „Lender of Last Resort“ - Liquiditätsgeber der letzten Instanz Die Befassung mit den Eigenheiten einer Währungsunion im Vorfeld ihrer Einführung in Europa ließ einen wichtigen Aspekt einer solchen Gemeinschaft vergessen: die Lender-of-Last-Resort-Funktion der Zentralbank ändert sich (vgl. Marsh 2013, S. 31- 35). Die EZB übernimmt diese Funktion für die Währungsunion als Ganzes. Dies gilt aber nicht für einzelne Mitgliedsstaaten (vgl. Illing/ König 2014). Box 65 |-Gemeinsame Währung und „Lender of Last Resort“ „ A country that gives up its monetary sovereignty by dollarising or adopting the euro may gain greater credibility on inflation but may have to pay more to compensate investors for counter-party risk. […]. This can be seen starkly by comparing Britain with Spain … Based on debts, deficits and inflation, Britain should be the riskier credit. But British bonds yield around 2.3 % whereas Spain’s yield around 5.5 %. One reason is that Britain can still devalue to boost growth; Spain can’t. Another is that it has a lender of last resort; Spain doesn’t” (Economist 2011). 11.8 Schlussfolgerung Die Geld- und Währungspolitik wird auch in den kommenden Jahren einen zentralen Platz in der Entwicklung der Europäischen Union und der Eurozone einnehmen. Die Volatilität in der Weltwirtschaft, die Schwäche einiger europäischer Staaten, und die nicht vollendete Wirtschafts- und Währungsunion weisen der Geldpolitik eine besondere Verantwortung zu. Ganz wesentlich sind aber auch andere Politikbereiche gefordert, die Eurozone und die europäische Wirtschaft auf eine solide Grundlage zu stellen. ➲ Wichtige Begriffe Europäische Zentralbank, Preisstabilität, Zwei-Säulen-Strategie, Offenmarktgeschäft, Ständige Fazilitäten, Mindestreservesätze, Tenderverfahren, Mandat der EZB, au‐ ßenwirtschaftliches Gleichgewicht, Geldmengensteuerung, Sicherheiten, OMT-Pro‐ gramm, Forward Guidance, Liquiditätsgeber der letzten Instanz, Taylor-Zins, digitaler Euro 274 11 Die Geldpolitik in der Europäischen Währungsunion <?page no="275"?> ➲ Literatur Allayioti, Anastasia/ Beschin, Anna (2024): „Inflationsunterschiede und ihre Entwicklung im Euroraum“, in: EZB, Wirtschaftsbericht, 5/ 2024, S.-64-70 Bernoth, Kerstin/ Dietz, Sara/ Lastra, Rosa/ Pekanov, Atanas (2024): ECB monetary policy: Past, present and future, PE 755.719, Brüssel Bofinger, Peter (2019): Grundzüge der Volkswirtschaftslehre: Eine Einführung in die Wissen‐ schaft von den Märkten, 5. aktualisierte Auflage, Hallbergmoos, Pearson Bundesministerium der Finanzen (2021): „Aktuelle Herausforderungen der europäischen Ban‐ kenabwicklung“, in: Monatsbericht Mai 2021, S.-31-36 Bundesministerium der Finanzen (2024a): „25-Jahre Euro“, in: Monatsbericht Juni 2024, S.-8-12 Bundesministerium der Finanzen (2024b): „Acht Jahre europäische Bankenabwicklung - was wurde erreicht und wohin geht die Reise? “, in: Monatsbericht August 2024, S.-44-51 Burda, Michael (2013): „Plädoyer für eine neue EZB“, in: WirtschaftsWoche, 17.6.2013, S. 28 Christiano, Lawrence J./ Fitzgerald, Terry J. 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Juni 2023 Europäische Zentralbank (2008): Monatsbericht, 10 Jahre EZB, Frankfurt Europäische Zentralbank (2009): „Rotation der Stimmrechte im EZB-Rat“, in: Monatsbericht Juli 2009, S. 101-110 Europäische Zentralbank (2011): Die Geldpolitik der EZB, Frankfurt Europäische Zentralbank (2014): „The ECB's forward guidance“, in: Monthly Bulletin, April 2014, S. 65-73 Europäische Zentralbank (2021): „Überblick über die geldpolitische Strategie der EZB“, in: Wirtschaftsbericht Ausgabe 5/ 2021, S.-89-106 Europäische Zentralbank (2022a): EZB unternimmt weitere Schritte, um Klimaschutz starker in ihre geldpolitischen Geschäfte einzubeziehen, Pressemitteilung, 4. Juli 2022 Europäische Zentralbank (2022b): Geldpolitische Beschlüsse, Pressemitteilung, 21. Juli 2022, Frankfurt Europäische Zentralbank (2023a): Geldpolitische Beschlüsse, Pressemitteilung, 14. Dezember 2023, Frankfurt ➲ Literatur 275 <?page no="276"?> Europäische Zentralbank (2023b): A stocktake on the digital euro. 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Folgen Sie dem Link oder nutzen Sie den QR-Code. 🔗 https: / / narr.kwaest.io/ s/ 1349 Leitfragen • Warum erzwingt die Schaffung einer Währungsunion die Schaffung einer Wirtschaftsunion? • Welche Mechanismen wurden im Vertrag von Lissabon vorgesehen, um die Zusammenarbeit im Rahmen der Wirtschaftsunion zu organisieren? • Welche Veränderungen der Wirtschaftsunion wurden in Folge der Eurokrise vorgenommen? • Welche Herausforderungen ergeben sich für die Zukunft der Wirtschafts‐ union? 12.1 Einführung Bereits in dem Vertrag von Rom zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemein‐ schaft wurde die „schrittweise Annäherung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaa‐ ten“ gefordert, eine „harmonische Entwicklung des Wirtschaftslebens innerhalb der Gemeinschaft“ war das Ziel. Das Bekenntnis der EU-Staaten zur Notwendigkeit der Abstimmung der Wirtschaftspolitik findet sich in den später unterzeichneten EU-Verträgen und so auch im Vertrag von Lissabon. In Artikel 5 des AEUV heißt es, dass die Mitgliedstaaten ihre Wirtschaftspolitik innerhalb der Union koordinieren. Die Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten wird als eine „Angelegenheit von gemein‐ samem Interesse“ bezeichnet. Die multilaterale Überwachung wurde in Artikel 121 festgeschrieben. Klare prozedurale Wege wurden vereinbart, um die Konvergenz der Wirtschaftsleistungen der Mitgliedstaaten zu gewährleisten. 12.2 Währungsunion und Wirtschaftsunion - die zwei Seiten einer Medaille Eine wachsende Einsicht in die Notwendigkeit der Koordination der Wirtschaftspoli‐ tik ergab sich aus den Erfahrungen mit der währungspolitischen Zusammenarbeit. Bereits in den 60er-Jahren kam es zu wirtschaftspolitischen Spannungen, da sich die wirtschaftliche Dynamik, aber auch die Inflationsraten der europäischen Länder, <?page no="278"?> zum Teil erheblich unterschieden und somit regelmäßige Wechselkursanpassungen notwendig waren. Als Anfang der 70er-Jahre das Bretton-Woods-System kollabierte, wählten die Mitgliedstaaten der Union nicht den Weg flexibler Wechselkurse. Sie wollten vielmehr die Währungsschwankungen innerhalb der Gemeinschaft im Rah‐ men eines festen Wechselkurssystems begrenzen. Damit war klar, dass die währungs‐ politische Zusammenarbeit eine besondere wirtschaftspolitische Disziplin und die Weiterentwicklung der Koordination der Wirtschaftspolitik notwendig macht. Trotz neuer Abstimmungsmechanismen waren aber auch die 80er-Jahre und 90er-Jahre durch zum Teil schmerzhafte Auseinandersetzungen über die währungspolitische Zusammenarbeit geprägt. Mit der Entscheidung Anfang der 90er-Jahre für die Einführung einer gemeinsamen Währung und damit der Verfolgung einer einheitlichen Geld- und Währungspolitik wurde dieser Koordinationsbedarf der Mitgliedstaaten noch dringlicher und stärker. Mehrere Gründe sind zu nennen: • In einer Währungsunion, in der es das Instrument der Abwertung der eigenen Währung der Mitgliedstaaten nicht mehr gibt, können unterschiedliche Inflations‐ raten, hohe Haushaltsdefizite und in der Folge eine hohe öffentliche Verschuldung, instabile Finanzmärkte, Ungleichgewichte in der Zahlungsbilanz und andere wirtschaftspolitische Fehlentwicklungen die Stabilität der gesamten Währungsge‐ meinschaft bedrohen. • Erhebliche Unterschiede in der wirtschaftlichen Dynamik können in einer Wäh‐ rungsunion wirtschaftliche und soziale Spannungen erzeugen. • In einer Währungsunion verfügen Mitgliedstaaten nicht mehr über das makro‐ ökonomische Instrument einer eigenständigen Geld- und Währungspolitik. Umso wichtiger ist dann, dass fiskalpolitische Impulse in Krisenzeiten so genutzt werden, dass optimale Ergebnisse für die Volkswirtschaften erzielt werden. • Die Fehlentwicklung in einem Land ist potenziell mit Externalitäten für andere Mitglieder der Währungszone verbunden: Zahlungsschwierigkeiten eines Landes können die Bonität anderer Länder beeinflussen und damit die Zinsbelastung erhöhen. Abstimmungs- und Koordinierungsmechanismen mussten daher der neuen währungs‐ politischen Ära angepasst werden. Im Vertrag von Maastricht wurde ein institutionelles Rahmenwerk zur Koordination der Wirtschaftspolitik beschlossen und nachfolgend mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt von 1997 ergänzt. Box 66 |-Der Stabilitäts- und Wachstumspakt Der 1997 unterzeichnete Stabilitäts- und Wachstumspakt enthielt die zentralen Eckpunkte der Koordinierung in der Wirtschaftsunion. Im Mittelpunkt standen zu‐ nächst die Fiskalkriterien: Die öffentliche Neuverschuldung sollte 3 % des BIP nicht überschreiten, die gesamtstaatliche Verschuldung sollte maximal 60 % gemessen 278 12 Die Wirtschaftsunion <?page no="279"?> am BIP betragen. In dem Pakt werden Regeln unterschieden, die präventiv wirken und Schieflagen vermeiden sollen, und Regeln, die korrektiv wirken, d. h. dann greifen, wenn ein Problem eingetreten ist. Die Befürworter der fiskalischen Regel einer Maximalverschuldung von 60 Prozent sind skeptisch gegenüber der Politik. Ohne solche Verabredungen falle es der Po‐ litik schwer, die Staatsverschuldung zu begrenzen. Sie verweisen auf Erfahrungen aus anderen Ländern, in denen die öffentliche Verschuldung in Verbindung mit hohen Zinsen zu kaum mehr tragbaren Belastungen für die Staatshaushalte geführt hat. Die Kritiker der Regel verweisen auf Länder wie die USA oder Japan, die deutlich höhere Verschuldungsquoten aufweisen, ohne dass die Märkte die Zahlungswür‐ digkeit der Staaten in Frage stellen. Die Grenze von 60 Prozent sei artifiziell. Wenn Investitionen in die Zukunft von Gesellschaften, wie etwa in Bildung oder Klimaschutz, unterblieben, um die Grenzwerte einzuhalten, dann sei klar erkennbar, dass die Regel einer ökonomischen Rationalität entbehrt. Insbesondere die Eurokrise von 2009-2013 und die Corona-Pandemie in den Jahren 2020-2022 führten zu wichtigen Anpassungen der Regeln der Wirtschaftsunion. Im Jahr 2024 sind neue Regeln eines reformierten Stabilitäts- und Wachstumspaktes in Kraft getreten. 1992 Maastricht-Ver‐ trag Der Vertrag begrenzt das öffentliche Defizit auf 3 % des BIP und die Staatsverschuldung auf 60-% des BIP oder auf eine ausreichende Annäherung an dieses Niveau in zufriedenstellendem Tempo 1997 Stabilitäts- und Wachstumspakt Die EU-Mitgliedstaaten vereinbaren, die Überwachung und Koor‐ dinierung der nationalen Finanz- und Wirtschaftspolitik zu ver‐ stärken, um die Defizit- und Schuldengrenzen durchzusetzen 2005 Reform Bessere Berücksichtigung der individuellen landesspezifischen Ge‐ gebenheiten (Vorgabe mittelfristiger Haushaltsziele) und stärkere wirtschaftliche Begründung der Vorschriften 2011 Six Pack Europäisches Semester; „Richtwert für die Ausgaben“ in der prä‐ ventiven Komponente hinzugefügt und 1/ 20-Regel für den Schul‐ denabbau in der korrektiven Komponente in Kraft gesetzt 2012 Fiskalpakt Nationale Bestimmungen zur Ausrichtung auf die im Stabilitäts- und Wachstumspakt festgelegten Haushaltsziele 2013 Two Pack Verstärkte wirtschaftspolitische Koordinierung und Einführung neuer Überwachungsinstrumente 2015 Flexibilität Stärkung der Verknüpfung zwischen Strukturreformen, Investitio‐ nen und verantwortungsvoller Haushaltspolitik zur Förderung von Beschäftigung und Wachstum 12.2 Währungsunion und Wirtschaftsunion - die zwei Seiten einer Medaille 279 <?page no="280"?> 2020 Überprüfung Europäische Kommission startet öffentliche Konsultation zu Mög‐ lichkeiten einer Verbesserung des Rahmens für die makroökono‐ mische Überwachung in der EU 2022/ 2023 Reform Kommission erarbeitet Leitlinien für eine Reform der wirtschafts‐ politischen Steuerung (Vereinfachung, stärkere nationale Eigen‐ verantwortung und bessere Durchsetzung als Schlüsselelemente) 2024 Wiedereinfüh‐ rung Ausweichklausel des EU-Stabilitäts- und Wachstumspakts läuft am Jahresende aus - Aufhebung Aktivierung der allgemeinen Ausweichklausel (Aussetzung der Durchsetzung der Regeln in Ausnahmezeiten - Covid-19/ Krieg in der Ukraine) - Legislativpaket Neugestaltung der Regelungen zur fiskalpolitischen Steuerung (insbesondere zur präventiven Komponente des Stabilitäts- und Wachstumspakts) Abb. 68: Entwicklung des fiskalpolitischen Rahmens der EU | Quelle: Jobst/ Martini/ Utermöhl 2022, S. 9, Europäischer Rechnungshof 2023, S.-54, Haroutunian/ Bańkowski/ Bischl u.-a. 2024 12.3 Die Anforderungen der Koordinierung der Wirtschaftspolitik - Vier Themenfelder Angesichts des Spannungsverhältnisses von dezentraler Finanzpolitik und supranatio‐ naler Geld- und Währungspolitik bedarf es der engen wirtschaftspolitischen Koordi‐ nierung der Mitgliedstaaten. Für die Weiterentwicklung der Wirtschaftsunion sind vor allem vier Problemfelder essentiell: • Solide Staatsfinanzen, welche das Vertrauen in die staatliche Leistungsfähigkeit unterstreichen; • stabile Wirtschaftssysteme, welche sowohl makroökonomischen Schocks wider‐ stehen können als auch Wachstum generieren; • resiliente Finanzsysteme, welche sicherstellen, dass diese die Funktion der Finanz‐ intermediation sinnvoll und effektiv wahrnehmen können; • eine Einigung darüber, welche Rolle die Fiskalpolitik in einer Eurozone spielen kann, welchen Spielraum die Einzelstaaten benötigen, und wieviel gesamteuropäi‐ sche Steuerung zweckmäßig und möglich ist. 12.3.1 Das Europäische Semester als Instrument der Koordination Seit 2011 erfolgt die Koordinierung der Wirtschafts-, Finanz- und Beschäftigungspolitik im Wesentlichen im Rahmen des sogenannten „Europäischen Semesters“. Mit diesem Begriff wird ein Zyklus von Maßnahmen bezeichnet, der mit dem Herbstpaket der Europäischen Kommission beginnt und mit länderspezifischen Empfehlungen für die Mitgliedstaaten endet (→ Abb. 69). Im November eines jeden Jahres werden von 280 12 Die Wirtschaftsunion <?page no="281"?> der Kommission in der Jährlichen Strategie für nachhaltiges Wachstum (zuvor: Jahres‐ wachstumsbericht) die wichtigsten finanz-, wirtschafts- und beschäftigungspolitischen Herausforderungen für die Europäische Union benannt. Der Warnmechanismus-Be‐ richt stellt darauf ab, rechtzeitig makroökonomische Ungleichgewichte innerhalb der EU zu erkennen und korrigieren zu können. Die Empfehlungen für die Eurozone betreffen Aspekte, die für das Eurosystem von Bedeutung sind. Auf dieser Basis formuliert der Europäische Rat Leitlinien für die Wirtschafts- und Finanzpolitik, um die Mitgliedsländer dabei zu unterstützen, eine nachhaltige und wachstumsorientierte Politik zu verfolgen. Im Zuge der jüngsten Reform der EU-Fiskalregeln erarbeiten die Mitgliedstaaten ihre jeweiligen mittelfristigen Haushaltsstrategien und stellen je nach Dauer der Legislaturperiode Fiskalstrukturpläne für die nächsten vier oder fünf Jahre vor. Der Umsetzung dienen die jährlich zu erstellenden Fortschrittsberichte, die die bisher aufzustellenden Programme (Stabilitätsbzw. Konvergenzprogramme, Nationale Reformprogramme) ersetzen. Im Frühjahrspaket legt die Kommission für jeden Mitgliedstaat den aktuellen Länderbericht, eine Stellungnahme zum Fortschritts‐ bericht und neue länderspezifische Empfehlungen vor, die vom Rat behandelt und nach Billigung durch den Europäischen Rat formal im Rat beschlossen werden (vgl. Bundesministerium der Finanzen 2024a). Mit dem Europäischen Semester ist ein Mechanismus gefunden worden, der einen engen Dialog der Staaten mit den europäischen Organen und untereinander möglich macht. Dabei hat sich in den letzten Jahren für die Abstimmung des Europäischen Parlamentes, des Ministerrates und der Europäischen Kommission der Begriff des Trilogs etabliert. Die interinstitutionelle Zusammenarbeit dieser drei Organe kann formelle oder auch informelle Formen annehmen und dient der Annäherung der Positionen. - November Januar/ März April Mai Juni/ Juli August/ Oktober Euro‐ päische Kom‐ mis‐ sion Herbstpa‐ ket, u.-a. mit ▶ Jahresbe‐ richt zum nachhalti‐ gen Wachs‐ tum - ▶ Warnme‐ chanismus‐ bericht - ▶ Eurozonenempfehlun‐ gen - - Frühjahrs‐ paket, u.-a. mit ▶ Länderbe‐ richten zur jeweiligen wirtschaftli‐ chen Situa‐ tion - ▶ haushalts‐ politischen Leitlinien für die Mit‐ gliedstaaten (länderspe‐ zifische Empfehlun‐ gen) - - 12.3 Die Anforderungen der Koordinierung der Wirtschaftspolitik - Vier Themenfelder 281 <?page no="282"?> November Januar/ März April Mai Juni/ Juli August/ Oktober Rat der Euro‐ päi‐ schen Union - ▶ Annahme der Schluss‐ folgerungen zum Jahres‐ bericht zum nachhalti‐ gen Wachs‐ tum und Warnme‐ chanismus‐ bericht - ▶ Empfeh‐ lung des Ra‐ tes zur Wirt‐ schaftspolitik für den Eu‐ roraum - - Annahme der länder‐ spezifischen Empfehlun‐ gen nach Billigung durch den Europäi‐ schen Rat - Euro‐ päi‐ scher Rat - Billigung des Ent‐ wurfs der Empfehlung des Rates zur Wirtschafts‐ politik des Euro-Wäh‐ rungsgebie‐ tes - - Billigung der länder‐ spezifischen Empfehlun‐ gen - Euro‐ päi‐ sches Parla‐ ment - Beratung über den Jahresbe‐ richt zum nachhalti‐ gen Wachs‐ tum; Initia‐ tivbericht möglich - - - - Mit‐ glied‐ staaten - - Vorlage der mittelfristi‐ gen struktu‐ rellen fi‐ nanzpolitischen Pläne bzw. der jährli‐ chen Fort‐ schrittspläne zur Beurteilung durch die Kommission - - Einbezie‐ hung der länderspezi‐ fischen Empfehlun‐ gen in die Reform-, In‐ vestitions- und Haus‐ haltspläne für das fol‐ gende Jahr Abb.-69: Ablauf des Europäischen Semesters | Quelle: Europäische Kommission 2024a 282 12 Die Wirtschaftsunion <?page no="283"?> 12.3.2 Verantwortungsvolle Haushaltspolitik und die Begrenzung der Staatsverschuldung Für die öffentlichen Haushalte war bereits in dem Stabilitäts- und Wachstumspakt von 1997 die Obergrenze für die Nettoneuverschuldung von 3 % des BIP und für den öffentlichen Schuldenstand von 60 % des BIP verbindlich festgelegt worden. Nur jene Länder, welche diese Grenzwerte nicht überschritten, sollten den Euro einführen dürfen. Die Disziplin, mit der diese Werte Beachtung fanden, war jedoch von Anfang an begrenzt. Staaten wie Italien, Belgien und mit leichter Verspätung Griechenland durften den Euro einführen, obgleich ihre Verschuldung weit über dem verabredeten Grenzwert lag. Und Staaten wie Deutschland und Frankreich verstießen nach der Einführung des Euros gegen die verabredete Neuverschuldungsgrenze, ohne dass Sanktionen ergriffen wurden. Nachdem im Zuge der Finanzkrise in den Mitgliedsländern der EU die Staatsver‐ schuldung stark anstieg, waren neue Maßnahmen erforderlich. Im Jahr 2012 beschlos‐ sen 25 Staaten der EU den Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion („Fiskalvertrag“), in dem die Verabredungen strikter als im Stabilitäts- und Wachstumspakt von 1997 gefasst wurden. Unter anderem wurden Klage- und Sanktionsmöglichkeiten, Verschärfungen bei Nichteinhaltung der Grenzwerte und stärkere Transparenz verabredet. Die Reduzierung des Schuldenüber‐ hangs wurde klarer gefasst. Das Ausgabenwachstum der öffentlichen Hand wurde grundsätzlich auf das Wachstum des mittelfristigen Potenzialwachstums begrenzt. Ein wesentlicher Fortschritt war die Verabredung und Verpflichtung der Mitgliedstaaten, auf nationaler Ebene Institutionen einzuführen, welche den Druck zur Einhaltung von Defizit- und Schuldengrenzen erhöhen (durch die sogenannten Six-Pack-“ und „Two-Pack-Verordnungen). Box 67 |-Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen Ein wesentliches Element wirtschaftspolitischer Stabilität besteht darin, die Trag‐ fähigkeit der öffentlichen Finanzen zu gewährleisten. Darunter ist die Fähigkeit eines Staates zu verstehen, seine Verbindlichkeiten auf lange Sicht bedienen zu können (vgl. Europäische Kommission 2022, Bundesministerium der Finanzen 2024b). In → Abb. 70 sind schematisch die Einnahmen und Ausgaben des Staates für ein gegebenes Jahr t gegenübergestellt. Ein Budgetdefizit (Nettokreditaufnahme) ergibt sich demnach als Summe aus einem Primärdefizit PD (Staatsausgaben ohne Zinszahlungen abzüglich Steuern) und den Zinsausgaben (mit i = Zinssatz) aus der Bedienung der aufgelaufenen Staatsschuld (vgl. Blanchard 1990): NK t = D t - D t-1 = E t - T t + iD t-1 = PD t + iD t-1 . Bei einem schuldenfreien Staat (D t-1 = 0) stimmen Primär- und Budgetdefizit überein. Liegen Schulden aus der Vergangenheit vor, übersteigt das Budgetdefizit das Primärdefizit um die zusätzlichen Zinszahlungen 12.3 Die Anforderungen der Koordinierung der Wirtschaftspolitik - Vier Themenfelder 283 <?page no="284"?> (Sekundärdefizit). Während das Primärdefizit durch die Änderung von Einnahmen und Ausgaben des Staates aktuell noch beeinflussbar ist, stellt ein Sekundärdefizit das Ergebnis zurückliegender und nicht mehr korrigierbarer Entscheidungen dar (vgl. Homburg 2005, S. 7-8). Erst wenn negative Primärdefizite, d. h. Primärüber‐ schüsse, (T t - E t ) erzielt werden, die höher als die laufenden Zinsausgaben sind, kann der Schuldenstand vermindert werden. T = Steuern Einnahmen Ausgaben G = Personal- Sachausgaben Tr = Transfers E E - T = Primärdefizit NK = Netto- Kreditaufnahme iD = Zinsen auf aufgelaufene Staatsschuld Abb.-70: Öffentlicher Haushalt und Schuldentragfähigkeit Durch Auflösen nach D t ergibt sich als Gleichung für den Schuldenstand zum Ende des Jahres t: D t -=-PD t + (1 + i) D t-1 . Um eine Ländervergleichbarkeit vornehmen zu können, werden die Größen relativ zum BIP ausgedrückt. Wächst das BIP mit der Rate w BIP pro anno, lässt sich für die Schuldenstandquote schreiben: D t / BIP t = PD t / BIP t + (1 + i) D t-1 / (1 + w BIP )BIP t-1 bzw. pd t = p t + [(1 + i)/ (1 + w BIP )] d t-1 . Nach geeigneter Erweiterung erhält man als dynamische Gleichung der Schuldenakkumulation: ∆d t = pd t + [(i - w BIP )/ (1 + w BIP )] d t-1 . Neben der Primärdefizitquote hat das Verhältnis von Zinssatz und BIP-Wachstumsrate („Schneeballeffekt“) einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der Staatsschuldenquote. Zur Erreichung einer stabilen oder sinkenden Schuldenquote (∆d t -≤ 0) müssen daher ausreichend hohe Primärüberschüsse erwirtschaftet werden, wenn das Zins-Wachstumsdifferential positiv ist (vgl. Checherita-Westphal 2019, Fuest/ Gros 2019). Die Projektionen auf der Grundlage dieser konventionellen Schuldendienstfähigkeitsanalyse un‐ 284 12 Die Wirtschaftsunion <?page no="285"?> terliegen aber Einschränkungen. Abgesehen von Eventualverbindlichkeiten und impliziten Schulden des Staates (vgl. Priewe 2023) dürfen die Interdependenzen zwischen den Bestimmungsgrößen nicht außer Acht gelassen werden (vgl. Euro‐ päische Zentralbank 2012, Europäische Kommission 2022). Die Mitgliedstaaten der Eurozone einigten sich darauf, dass sich die Bewertung der Haushaltsposition nicht nur an dem absoluten Wert der Verschuldung oder dessen Relation zum Bruttoinlandsprodukt orientiert. Die Unterscheidung des Defizits in eine strukturelle und eine konjunkturelle Komponente gewann an Bedeutung. Im Fall einer konjunkturellen Krise erscheint ein Anstieg der konjunkturellen Komponente des Defizits - auch mit Blick auf das Wirken der automatischen Stabilisatoren - und damit der relativen Verschuldung vertretbar, solange die strukturelle Komponente des Defizits nicht ebenfalls steigt. Durch diese Unterscheidung und den Fokus auf das strukturelle Defizit sollte vermieden werden, dass im konjunkturellen Abschwung die Krise durch Ausgabenkürzungen verschlimmert wird. Die mittelfristige Konsoli‐ dierung sollte gegenüber der kurzfristigen Einhaltung von Indikatoren betont werden. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht daher das strukturelle Defizit, dessen Anstieg eine dauerhafte Belastung für eine Volkswirtschaft darstellen kann. Nach Jahren der Debatten, nach dem Aussetzen der europäischen Fiskalregeln während der Corona-Zeit und zahlreichen Änderungsvorschlägen (vgl. z. B. Blanchard/ Sapir/ Zettelmeyer 2022, Tordoir/ van Dijk/ Ziesemer 2023, Kronberger Kreis 2023) einigte sich die EU im Jahr 2024 auf ein neues Regelwerk der fiskalpolitischen Steuerung (vgl. Bundesministerium der Finanzen 2024c, S. 8-13). Die Mitgliedstaaten halten in dem reformierten Stabilitäts- und Wachstumspakt an den Schuldenstand- und Defizitkriterien fest: sie sind die Referenzwerte, an denen die Politik ausgerich‐ tet werden soll. Die Verordnung (EU) 2024/ 1263 und die Verordnung (EG) 1467/ 97 beschreiben die Regeln für die Begrenzung (präventive Komponente) und ggf. Rückfüh‐ rung (korrektive Komponente) zu hoher Staatsschuldenquoten. Mit der Richtlinie (EU) 2024/ 1265 des Rates werden die Anforderungen an die haushaltspolitischen Rahmen der Mitgliedstaaten (wie z, B, die Einrichtung unabhängiger Fiskalinstitutionen zur dezentralen Überwachung der Fiskalregeln) weiter präzisiert. Vor allem die präventive Komponente des reformierten Stabilitäts- und Wachstums‐ paktes sieht wesentliche Änderungen vor. Aufgrund der neuen Regelung sind die Mitgliedstaaten aufgefordert, mit der Kommission mittelfristige finanzpolitisch-struk‐ turelle Pläne (Fiskalstrukturplan) zu verabreden, die für einen mehrjährigen Zeitraum beschreiben, wie sich die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen entwickeln soll. Die Regelung enthält explizit die Erkenntnis, dass der Abbau von öffentlicher Verschuldung Zeit braucht; die Konsolidierungsanstrengungen sind im Dialog zu erarbeiten und transparent zu benennen. Für Mitgliedstaaten, welche die Schuldenkriterien nicht erfüllen, werden von der Europäischen Kommission länderspezifische Referenzpfade auf der Grundlage einer 12.3 Die Anforderungen der Koordinierung der Wirtschaftspolitik - Vier Themenfelder 285 <?page no="286"?> Schuldentragfähigkeitsanalyse (vgl. Europäische Kommission 2024b) vorgegeben. Für jedes Mitgliedsland wird das maximal zulässige Wachstum der Nettoausgaben (Aus‐ gaben bereinigt u. a. um Zinsausgaben, zyklische Arbeitslosenausgaben, Einnahmenveränderungen aufgrund neuer Beschlüsse, EU-kofinanzierte Ausgaben) ermittelt (Nettoausgabenpfad), das eine mit ausreichend hoher Wahrscheinlichkeit rückläufige Entwicklung der Schuldenquote nach dem Zeitraum für die Haushaltsanpassung si‐ cherstellt. Der Referenzpfad muss bestimmte Mindestvorgaben gewährleisten: Staaten mit einer öffentlichen Verschuldung, die 90 v. H. des BIP übersteigt, müssen die Schul‐ denquote um 1 Prozentpunkt pro Jahr zurückführen; für Länder mit einer Verschuldung zwischen 60 v. H. und 90 v. H. des BIP beläuft sich die Reduktion auf 0,5 v. H.-Punkte jährlich (Absicherung der Schuldentragfähigkeit). Die zweite Vorgabe (Absicherung der Defizitresilienz) sieht eine Sicherheitsmarge für das (strukturelle) Budgetdefizit vor, das mit einem Wert von 1,5 v. H. unter dem Referenzwert von 3 v. H. des BIP liegt (vgl. de Lemos Peixoto / Loi 2024, S. 6). In aller Regel wird der Nettoausgabenpfad in den Fiskalstrukturplan des jeweiligen Mitgliedstaates übernommen. Durch Verlängerung des haushaltspolitischen Anpassungszeitraums auf bis zu sieben Jahre kann die erfor‐ derliche Konsolidierung auch langsamer erfolgen, wenn das Mitgliedsland ein Reform- und Investitionspaket umsetzt, das resilienz- und wachstumfördernde Maßnahmen in Übereinstimmung mit den Prioritäten der EU enthält (vgl. Europäischer Rat/ Rat der Europäischen Union 2024). Nach einer positiven Stellungnahme der Europäischen Kommission werden die von den Ländern übermittelten Fiskalstrukturpläne inklusive der Nettoausgabenpfade vom Rat der EU angenommen (vgl. Budgetdienst 2024). Zur Umsetzung der Pläne werden von den Mitgliedsländern jährliche Fortschritts‐ berichte erstellt, die Grundlage der regelmäßigen Haushaltsüberwachung bilden. Die Kommission prüft diese Berichte auf Einhaltung der Referenzpfade; Abweichungen vom vereinbarten Nettoausgabenpfad werden auf einem Kontrollkonto erfasst. Mit Auslaufen des Planungszeitraums sind neue mittelfristige finanzpolitisch-strukturelle Pläne mit der Kommission auszuhandeln. In → Abb. 71 wird das Vorgehen im Rahmen der präventiven Komponente des reformierten Stabilitäts- und Wachstumspaktes überblicksartig skizziert. Die starke Rolle der Kommission bei der Erstellung der Tragfähigkeitsanalyse und dem Aushandlungsprozess des Anpassungsplans bei Ländern mit hoher Verschuldung war kontrovers diskutiert worden: Einige sehen in dem bilateralen Verhandlungsspiel‐ raum einen richtigen Schritt hin zu diskretionären Entscheidungen und zu dem in der Realität notwendigen Ermessensspielraum bei der Beurteilung ökonomisch und politisch verantwortbarer Entscheidungen, andere bemängeln dies als Einfallstor für politische Bewertungen (vgl. Deutsche Bundesbank 2023, S.-71-77). 286 12 Die Wirtschaftsunion <?page no="287"?> I: Planungsphase: alle 4-5 Jahre bzw. bei Regierungswechsel EU-Kommission leitet Referenzpfad zu Bis 15. Januar vor Übermittlung an Kommission: - Technischer Dialog Mitgliedstaat / Kommission - Stakeholder-Einbindung - Fiskalstrukturplan an Parlament (optional) Mitgliedstaat übermittelt Fiskalstrukturplan an Kommission bis 30. April; Fristverlängerung möglich Fiskalstrukturplan - Dauer: Legislaturperiode - Nettoausgabenpfad / Referenzpfad - Reform - und Investitionsprogramm erforderlich für Verlängerung des Anpassungszeitraums auf 7 Jahre max. 6 Wochen Europäische Kommission überprüft Plan und gibt Empfehlung an Rat der EU in der Regel / max. 6 Wochen Rat entscheidet über Annahme des Plans / Nettoausgabenpfad Rat verlangt Überarbeitung kein (überarbeiteter) oder nicht ausreichender Plan übermittelt Rat billigt Plan Rat empfiehlt Referenzpfad als Nettoausgabenpfad Mitgliedstaat setzt in den nächsten 4-5 Jahren den festgelegten Nettoausgabenpfad sowie ggfs. das Reform- und Investitionsprogramm um II. Umsetzungsphase: jährlich Mitgliedstaat übermittelt Fortschrittsbericht bis 30. April Diskussion mit Stakeholdern und Parlament (optional) Kommission veröffentlicht Bewertung der Umsetzung durch den Mitgliedstaat Monitoring über Kontrollkonto III. Korrekturverfahren Bei wesentlicher Abweichung: Einleitung eines Verfahrens bei übermäßigem Defizit Abb.-71: Reformierte fiskalpolitische Steuerung | Quelle: Budgetdienst 2024, S.-32 Was den korrektiven Arm im Rahmen des neuen Fiskalregelwerkes angeht, kann wie bisher ein defizitbasiertes Verfahren bei Überschreiten der 3 v. H.-Schwelle für das Haushaltsdefizit ausgelöst werden. Für die Eröffnung eines schuldenstandbasierten Verfahrens kommt es nunmehr auf deutliche Abweichungen vom Nettoausgabenpfad an; die Regel, nach der bei einem Schuldenstand von mehr als 60 v. H. des BIP jährlich 1/ 20 des Abstands bis zur Staatsschuldenquote abzubauen ist, wird ersetzt. 12.3.3 Die Koordinierung der allgemeinen Wirtschaftspolitik - Stabile Wirtschaftssysteme Nicht nur haushaltspolitische Ungleichgewichte stellen in einer Währungsunion Risiken für das einzelne Land und die Gemeinschaft dar. Makroökonomische Ungleichgewichte 12.3 Die Anforderungen der Koordinierung der Wirtschaftspolitik - Vier Themenfelder 287 <?page no="288"?> im internationalen Handel, dem Arbeitsmarkt, dem Finanzmarkt, dem Immobilienmarkt können ebenfalls erhebliche Auswirkungen auf die Stabilität von Volkswirtschaften und der Union haben. Die „Überwachung“ („surveillance“) der EU-Staaten wurde daher auf diese Felder ausgeweitet. Das Erkennen von Risikobereichen soll erleichtert, ein Dialog im Rahmen der damit befassten EU-Organe angeregt und ein frühzeitiges Gegensteuern so ermöglicht werden. Eine wichtige Lücke im Koordinierungsrahmen wurde damit geschlossen. In der folgenden → Abb. 72 werden die Leitindikatoren beschrieben, welche in dem „Scoreboard des wirtschaftspolitischen Überwachungsverfahrens“ aktuell erfasst werden. Die Auswahl der Größen unterliegt einer regelmäßigen Überprüfung (vgl. Eurostat 2024). Im Kontext der wirtschaftspolitischen Koordinierung ist eine Erweiterung des Scoreboards vorgeschlagen worden (vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Kli‐ maschutz 2023), um makroökonomische Ungleichgewichte aufgrund ungleich verteilter Klimarisiken und unterschiedlich hoher Kosten des Klimawandels für die Mitgliedstaaten der EU künftig stärker berücksichtigen zu können. Leistungsbilanzsaldo (Dreijahresdurchschnitt in % des BIP) - 4 % + 6 % Nettoauslandsvermögensstatus in % des BIP - 35 % Realer effektiver Wechselkurs, 42 Handelspartner, HVPI-Deflator, Dreijahresveränderung in % +/ - 3 % (Euroländer) +/ - 10 % (Länder außerhalb des Eurowährungsgebietes) Exportleistung gegenüber fortgeschrittenen Volkswirtschaften, Dreijahresveränderung in % - 3 % Index der nominalen Lohnstückkosten (pro Arbeitsstunde), Dreijahresveränderung in % 9 % (Euroländer) 12 % (Länder außerhalb des Eurowährungsgebietes) Gesamtstaatlicher Bruttoschuldenstand, in % des BIP 60 % Verschuldung der privaten Haushalte (einschließlich privater Organisationen ohne Erwerbszweck), konsolidiert, in % des BIP 55 % Verschuldung der nichtfinanziellen Kapitalgesellschaften, konsolidiert, in % des BIP 85 % Kreditfluss der privaten Haushalte (einschließlich privater Organisa‐ tionen ohne Erwerbszweck), konsolidiert, in % des Schuldenstands (t-1) 14 % Kreditfluss der nichtfinanziellen Kapitalgesellschaften (ohne ausländi‐ sche Direktinvestitionen), konsolidiert, in % des Schuldenstands (t-1) 13 % Nominaler Hauspreisindex, Veränderung zum Vorjahr in % 9 % Arbeitslosenquote (% der Erwerbsbevölkerung im Alter von 15 bis 74 Jahren) 10 % Erwerbsbeteiligungsquote, Dreijahresveränderung in Prozentpunkten, (% der Bevölkerung im Alter von 15 bis 64 Jahren) - 0,2 Prozentpunkte Abb.-72: Scoreboard für das Verfahren bei makroökonomischen Ungleichgewichten | Quelle: Europäi‐ sche Kommission 2024c, Eurostat 2024 288 12 Die Wirtschaftsunion <?page no="289"?> Die entsprechenden Daten sind Teil der von der Kommission erstellten Berichte, in denen Ungleichgewichte beschrieben und analysiert werden. Unter anderem auf dieser Basis entwickelt die Kommission „länderspezifische Empfehlungen“ für jedes Land. In besonders gefährdeten Staaten werden nachfolgend eingehende Überprüfungen der wirtschaftlichen Lage und der Handlungsoptionen durchgeführt. Die Kommission kann den Staaten Korrekturmaßnahmen empfehlen. Bei schwerwiegenden makroöko‐ nomischen Ungleichgewichten sind Sanktionen möglich. Allerdings stößt das Instrumentarium an Grenzen. Wenn Staaten nicht bereit sind, die Empfehlungen umzusetzen und gar in der Öffentlichkeit ein Konflikt zwischen den Nationalstaaten und der Kommission ausgetragen wird (wie der Konflikt im Jahr 2012 zwischen dem griechischen Finanzminister sowie im Jahr 2019 zwischen der italieni‐ schen Regierung und den EU-Organen) wird deutlich, wie sehr das formale System der Wirtschaftsunion an Grenzen stößt, wie sehr es von der Kompromissbereitschaft der Akteure abhängig ist, wie sehr Mechanismen der informellen Vermittlung notwendig sein können. ⁈ Verständnisfrage | Suchen Sie auf der Internetseite der Europäischen Kom‐ mission die nationalen Reformprogramme von zwei Mitgliedstaaten und verglei‐ chen Sie die länderspezifischen Empfehlungen. Box 68 |-Stabilisierung der Wirtschaft kontrovers Der optimistische Blick auf das Erreichte zeigt, dass in vielen Ländern eine Stabilitätskultur entsteht; das Bewusstsein, dass Fehlentwicklungen schwerwie‐ gende soziale Erschütterungen zur Folge haben können, hat die Bereitschaft zu Veränderungen in den Mitgliedstaaten gestärkt. Die Erhebung von Daten, die Erstellung von Länderberichten, die Erarbeitung von Empfehlungen sind hilf‐ reich, um ein funktionsfähiges Frühwarnsystem zu etablieren. Kritiker verweisen demgegenüber auf die hartnäckigen makroökonomischen Ungleichgewichte, die erheblichen Leistungsbilanzsalden, die Diskrepanzen zwischen den nationalen Ar‐ beitslosenquoten oder die potenziellen Immobilienblasen. Trotz der regelmäßigen Thematisierung dieser Entwicklungen ist die Bereitschaft der Staaten, entschieden gegenzusteuern, gering. 12.3.4 Die Stabilisierung der Finanzmärkte Die Instabilität des Finanzsektors eines Landes kann angesichts der europa- und weltweiten Vernetzung der Akteure schnell zu Problemen in anderen Ländern führen. Angesichts der Bedeutung der Finanzmärkte für die wirtschaftliche Entwicklung und der engen Verbindung zwischen der Entwicklung der Staatshaushalte und der 12.3 Die Anforderungen der Koordinierung der Wirtschaftspolitik - Vier Themenfelder 289 <?page no="290"?> Situation der Banken ist die wirtschaftliche Koordinierung im Bereich der europäischen Finanzarchitektur intensiviert worden Eine Währungsunion erfordert die Zusammenarbeit im Bereich der Finanzaufsicht, damit die Stabilität des privaten Finanzsystems gesichert werden kann (vgl. Sachver‐ ständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 2017, Kapitel 5, 2018, S. 215-221, 2023, S. 199-201). Die Stabilität soll durch makroprudenzielle (das ganze Bankensystem betreffende) und mikroprudenzielle (einzelne Finanzinter‐ mediäre betreffende) Regulierung erreicht werden. Zahlreiche institutionelle Reformen wurden beschlossen, um einen einheitlichen Aufsichtsmechanismus für Banken in Europa zu installieren, Fehlentwicklungen und einem Vertrauensverlust in das Ban‐ kensystem vorzubeugen und eine Fragmentierung des europäischen Finanzmarktes zu verhindern. Die Mitgliedstaaten haben die Regulierung der nationalen Finanzmärkte verbessert. Die Koordinierung der Maßnahmen wurde intensiviert. Die Vorgaben für die Eigen‐ kapitalausstattung der Banken wurden verschärft. EU-weit koordinierte Stresstests werden genutzt, um auf Problemlagen aufmerksam zu machen. Das Europäische Finanzaufsichtssystem (European System of Financial Supervision, ESFS) mit der Europäischen Bankenaufsicht (European Banking Authority, EBA), der Aufsicht über Versicherungen und betriebliche Altersversorgung (European Insurance and Occu‐ pational Pensions Authority, EIOPA), der Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (European Securities and Markets Authority, ESMA) und dem Europäischen Ausschuss für Systemrisiken (European Systems Risk Board, ESRB) wurden geschaffen. Die Euro‐ päische Zentralbank ist die federführende Institution bei der Aufsicht systemrelevanter Banken. Verfahren zur Abwicklung von Banken sind etabliert, das Bankenabwick‐ lungsrecht wurde überarbeitet. Die Stabilität und Widerstandskraft des europäischen Bankensystems ist in den Jahren deutlich gestärkt worden (vgl. Deutsche Bundesbank 2019). Angesichts struktureller Veränderungen und erhöhter geopolitischer Unsicher‐ heiten ist ein resilienter Finanzsektor essentiell (vgl. Internationaler Währungsfonds 2024). Box 69 |-Die Reform der Finanzarchitektur kontrovers Aus positiver Sicht wird angeführt, dass zahlreiche Reformmaßnahmen ergriffen, neue Institutionen geschaffen, die Vielzahl der Anreizprobleme erkannt und bearbeitet wurden. Die bessere Kapitalisierung der Banken und der Rückgang der notleidenden Kredite weisen in die richtige Richtung. Aus Sicht der Kritiker waren die Reformen der europäischen Finanzmarktarchitek‐ tur nicht ausreichend. Die europäischen Banken haben mit Blick auf ihre Erträge, ihren Börsenwert und ihre internationale Rolle in den letzten Jahren erheblich an Bedeutung verloren. 290 12 Die Wirtschaftsunion <?page no="291"?> 12.3.5 Fiskalpolitik in der Wirtschafts- und Währungsunion - die Aufgabe der Koordinierung Ohne Option einer eigenständigen Geldpolitik kommt der Fiskalpolitik in einer Wirt‐ schafts- und Währungsunion eine besondere Bedeutung zu. Eine Reihe von Aspekten sind zu berücksichtigen: • Die europäischen Länder müssen eine Antwort auf die Frage finden, wie ein fiskalpolitisch expansiver Kurs zu bewerten ist, wenn ein Land die Fiskalkriterien der Staatsverschuldung und des Haushaltsdefizites bereits zu Beginn der Krise überschreitet. • Da die konjunkturellen Zyklen in den Eurostaaten häufig gleich oder sehr ähnlich verlaufen, besteht bei fehlender Abstimmung der nationalen Maßnahmen die Gefahr, dass nicht das optimale Ergebnis erzielt wird. Sowohl ein insgesamt zu starker wie auch ein zu geringer Impuls ist ohne Koordinierung denkbar. • Ein fiskalpolitischer Impuls hat aufgrund der Integration der europäischen Märkte und des Ausmaßes der Außenhandelsorientierung einzelner Länder potenziell starke Auswirkungen auch in anderen Ländern (vgl. Alloza/ Cozmanca/ Ferdinan‐ dusse u.-a. 2019). Das Design eines von den Mitgliedern der Eurozone gemeinsam getragenes fiskalpo‐ litisches Konzept ist trotz des Reformprogramms NextGenerationEU nicht zu erkennen. Die europäische Kommission (2017) arbeitet an der Entwicklung einer „Stabilisie‐ rungsfunktion“; eine deutliche Zurückhaltung auf Seiten einiger Mitgliedsländer ist festzustellen. 12.4 Herausforderungen der wirtschaftspolitischen Koordinierung Die allgemeine Wirtschaftspolitik der EU muss bestimmte gemeinsam vereinbarte und akzeptierte Grundprinzipien beachten. Fiskalisch sind die Staaten gefordert, einen verantwortlichen Kurs zu fahren. Die Kontrolle der nationalen Finanzsysteme kann angesichts der Externalitäten von Bankenkrisen keine Angelegenheit der einzelnen Mitgliedstaaten sein. Eine effektive Steuerung der Konjunktur durch Fiskalpolitik erfordert den Dialog mit den Mitgliedstaaten der Eurozone. Über den Abstimmungsbedarf besteht grundsätzlich Konsens. Die Mechanismen der Kooperation, die konkrete institutionelle Umsetzung der Zusammenarbeit, die Frage, ob und welche Eingriffe in die Souveränitätsrechte der Staaten erlaubt, angemessen und geboten sind, bleiben umstritten. Der intensive Diskurs über die Reform der Architektur der Wirtschaftsunion, also der Economic Governance, und insbesondere die Reform der Regeln für eine nachhal‐ tige Haushaltspolitik, die sich in einer umfassenden Reform im Jahr 2024 niederschlug, zeigte, wie schwierig es ist, einen Konsens über das Regelwerk zu erzielen. 12.4 Herausforderungen der wirtschaftspolitischen Koordinierung 291 <?page no="292"?> Trotz der Einigung der EU-Organe und der Mitgliedstaaten auf eine Begrenzung der Staatsverschuldung ist diese vor dem Hintergrund der Herausforderungen der Zeit und dem Handeln der politischen Akteure nicht gelungen. Betrachtet man den Zeitraum 2013-2023, so ist die Staatsverschuldung insbesondere in den großen Ländern gestiegen. Die folgende Grafik zeigt die Entwicklung für sechs Länder und die Eurozone insgesamt. 0 20 40 60 80 100 120 140 160 Euroraum (20) Deutschland Spanien Frankreich Italien Irland Niederlande Bruttoverschuldung des Staates in % des BIP 2013 2018 2023 Abb.-73: Bruttoverschuldung des Staates in Prozent des BIP für ausgewählte EU-Staaten | Quelle: Eurostat 2024 (online) Die Bewertung der Entwicklung der Verschuldung, der alten und der reformierten Fis‐ kalregeln, der Macht der EU-Organe und der Diskussion ist stark von den grundlegen‐ den wirtschaftspolitischen Paradigmen geprägt und lässt sich mithilfe der Eckpunkte des Debattenspektrums deutlich machen: Aus einer keynesianischen Perspektive ist die Obergrenze für die Staatsverschul‐ dung zu niedrig. Aus diesem Blickwinkel werden die wachstumsstimulierenden Wir‐ kungen von Staatsschulden unterschätzt und der Staat in seiner Fähigkeit, diesen Prozess zu steuern, verkannt. Die langfristigen Wirkungen erhöhter Investitionen für den Lebensstandard zukünftiger Generationen werden unterschätzt. Die Wachstums‐ effekte zunehmender Staatsausgaben in den USA weisen aus keynesianischer Sicht den Weg. Insbesondere mit Blick auf den Klimawandel und die notwendigen Ausgaben in die militärische Sicherheit sind erhöhte Investitionen sinnvoll. Die Maastricht-Kri‐ terien waren aus dieser Sicht arbiträr festgelegt worden und stellen ein zu enges Korsett dar. Daher wird die Anpassung des fiskalpolitischen Handlungsrahmens auch mittelfristig notwendig bleiben. Staaten müssen die Spielräume für stabilisierungsori‐ entiertes Handeln zurückerhalten. 292 12 Die Wirtschaftsunion <?page no="293"?> Aus einer angebotspolitischen Perspektive wird die Fähigkeit des Staates, konjunk‐ turelle Impulse zielgenau und effektiv zu setzen, und die Kapazität des Staates, im Kontext des starken öffentlichen Drucks und der Eigeninteressen der politischen Entscheidungsträger ökonomisch rational zu handeln, überschätzt. Nachhaltige Haus‐ haltspolitik braucht die Regelbindung: Schuldenregeln schützen nachfolgende Gene‐ rationen vor zu hohen Schulden. Der Druck auf die Politik, kurzfristigen Interessen nachzugeben und die langfristige Tragfähigkeit zu vernachlässigen, ist zu groß. Aus dieser Perspektive gibt es angesichts historisch hoher Staatsausgaben ausreichend Spielräume für notwendige Investitionen, solange die Politik den Mut aufbringt, die Begrenzung von Konsumausgaben durchzusetzen. ➲ Wichtige Begriffe Konvergenz, Koordinierung, Europäisches Semester, Stabilitäts- und Wachstumspakt, reformierte fiskalpolitische Steuerung, makroökonomisches Ungleichgewicht, struk‐ turelles Defizit, Systemrisiken, Schuldentragfähigkeit ➲ Literatur Alloza, Mario/ Cozmanca, Bogdan/ Ferdinandusse, Marien/ Jacquinot, Pascal (2019): „Fiskalische Ausstrahlungseffekte in einer Währungsunion“, in: Europäische Zentralbank, Wirtschafts‐ bericht, Ausgabe 1/ 2019, S. 73-85 Blanchard, Olivier (1990): Suggestions for a New Set of Fiscal Indicators, OECD, Department of Economics and Statistics, Working Papers, No 79 Blanchard, Olivier/ Sapir, André/ Zettelmeyer, Jeromin (2022): The European Commission's fiscal rules proposal: a bold plan with flaws that can be fixed, Bruegel, Brüssel Budgetdienst (2024): Update neue EU-Fiskalregeln und Europäisches Semester 2024: Referenz‐ pfad und länderspezifische Empfehlungen. Information, Parlament Österreich, 2. Juli 2024 Bundesministerium der Finanzen (2024a): „Das Europäische Semester 2024“, in: Monatsbericht des BMF, September 2024, S.-42-49. Bundesministerium der Finanzen (2024b) Tragfähigkeitsbericht 2024. Sechster Bericht zur Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen, Berlin Bundesministerium der Finanzen (2024c): „Reform des Europäischen Stabilitäts- und Wachs‐ tumspaktes“, in: Monatsbericht des BMF, Mai 2024, S.-8-13 Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (2023): „Kosten und Risiken des Klimawan‐ dels: Neue Herausforderungen für die wirtschaftspolitische Koordinierung auf EU-Ebene“, in: Schlaglichter der Wirtschaftspolitik. Monatsbericht 12/ 23, S.-18-21 Checherita-Westphal, Cristina (2019): „Zins-Wachstums-Differenzial und Entwicklung der Staats‐ verschuldung“, in: Europäische Zentralbank, Wirtschaftsbericht, Ausgabe 2/ 2019, S. 65-70 de Lemos Peixoto, Samuel/ Loi, Giacomo (2024): The new EU fiscal governance framework, EGOV, European Parliament, PE 760.231 ➲ Wichtige Begriffe 293 <?page no="294"?> Deutsche Bundesbank (2019): „Das europäische Bankenpaket - Die Überarbeitung der EU-Ban‐ kenregulierung“, in: Monatsbericht, Juni 2019, S. 31-50 Deutsche Bundesbank (2023): „Öffentliche Finanzen“, in: Monatsbericht, Mai 2023, S.-60-78 Europäische Kommission (2017): Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat und die Europäische Zentralbank. Neue Haushaltsinstrumente für ein stabiles Eurowährungsgebiet innerhalb des Unionsrahmens, COM(2017) 822 final, Brüssel Europäische Kommission (2022): Fiscal Sustainability Report 2021. Volume 1, European Eco‐ nomy Institutional Paper 171, Luxemburg Europäische Kommission (2024a): Das Europäische Semester, Internet: https: / / commission.eur opa.eu/ business-economy-euro/ european-semester_de Europäische Kommission (2024b): Debt Sustainability Monitor 2023, European Economy Insti‐ tutional Paper 271, Luxemburg Europäische Kommission (2024c): Scoreboard. Information on headline and auxiliary indicators included in the macroeconomic imbalance procedure scoreboard. Internet: https: / / economy-f inance.ec.europa.eu/ economic-and-fiscal-governance/ macroeconomic-imbalance-procedure / scoreboard_en? prefLang=de Europäischer Rat/ Rat der Europäischen Union (2024): Rahmen für die wirtschaftspolitische Steuerung, Internet: https: / / www.consilium.europa.eu/ de/ policies/ economic-governance-fra mework/ Europäischer Rechnungshof (2023): Reform der wirtschaftspolitischen Steuerung der EU: Chan‐ cen, aber auch Risiken und Herausforderungen, Analyse 05, Luxemburg Eurostat (2024): Verfahren bei makroökonomischen Ungleichgewichten. Informationen zu den Daten, Internet: https: / / ec.europa.eu/ eurostat/ web/ macroeconomic-imbalances-procedure/ i nformation-data Europäische Zentralbank (2012): „Analyse der Tragfähigkeit der Staatsverschuldung im Euro-Währungsgebiet“, in: Monatsbericht April, S. 63-79 Fuest, Clemens/ Gros, Daniel (2019): Government debt in times of low interest rates: the case of Europe, EconPol Policy Brief 16, München Haroutunian, Stephan/ Bańkowski, Krzysztof/ Bischl, Simeon/ Bouabdallah, Othman/ Haupt‐ meier, Sebastian/ Leiner-Killinger, Nadine/ O'Connell, Marguerite/ Arruga Oleaga, Iñigo/ Abra‐ ham, Laurent/ Trzcinska, Agnieszka (2024): The path to the reformed EU fiscal framework: a-monetary policy perspective, ECB Occasional Paper Series No 349, Frankfurt Homburg, Stefan (2005): Nachhaltige Finanzpolitik für Niedersachsen, Hannover Internationaler Währungsfonds (2024): Global Financial Stability Report. The last mile: Financial Vulnerabilities and Risks, Washington, DC Jobst, Andreas/ Martini, Maddalena/ Utermöhl, Katharina (2022): EU fiscal rules - quo vadis? Full force ahead for a simplified expenditure rule, Allianz Research, München Kronberger Kreis (2023): Flexibilität statt Solidität? Zur Reform der europäischen Fiskalregeln, Schriftenreihe Band-72, Stiftung Marktwirtschaft, Berlin Priewe, Jan (2023): „Schuldentragfähigkeit mit impliziten Staatsschulden - Leitbild oder Irr‐ licht? “, in: Wirtschaftsdienst, 103. Jg., H. 3, S.-198-204 294 12 Die Wirtschaftsunion <?page no="295"?> Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2017): Für eine zukunftsorientierte Wirtschaftspolitik. Jahresgutachten 2017/ 2018, Wiesbaden Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2018): Den Strukturwandel meistern. Jahresgutachten 2018/ 2019, Wiesbaden Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2023): Wachs‐ tumsschwäche überwinden - In die Zukunft investieren, Jahresgutachten 2023/ 2024, Wiesbaden Tordoir, Sander/ van Dijk, Jasper/ Ziesemer, Vinzenz (2023): Five proposals for enforceable EU fiscal rules, Centre for European Reform, London, Brüssel, Berlin ➲ Literatur 295 <?page no="297"?> Teil VI ∙ Ausblick <?page no="298"?> 13 Herausforderungen und Perspektiven der europäischen Integration eLearning | zu diesem Kapitel finden Sie einen eLearning-Kurs online. Folgen Sie dem Link oder nutzen Sie den QR-Code. 🔗 https: / / narr.kwaest.io/ s/ 1350 Die Europäische Union steht vor zahlreichen Herausforderungen. Im Folgenden werden diese in Form von Thesen zusammenfassend dargestellt. Die Verteidigung der Freiheit Europas rückt in das politische Zentrum Die europäische Integration war sowohl eine Antwort auf die Zerstörungen während des Zweiten Weltkrieges als auch auf die Bedrohung durch die damalige Sowjetunion. Mit dem Umbruch in Osteuropa und Russland, der Wiedervereinigung Deutschlands, der Unabhängigkeit vieler vorher abhängiger Staaten und deren Hinwendung zu demokratischen Ordnungen bestimmte die Vorstellung vom Ende kriegerischer Kon‐ flikte auf europäischem Boden das Denken. Staaten reduzierten ihre Budgets für Verteidigung, die Hoffnung auf dauerhaften Frieden auf europäischem Boden war allgegenwärtig. Mit der Besetzung der Krim durch Russland im Jahr 2014 und dem offenen Krieg seit 2022 zwischen Russland und der Ukraine und damit den westlichen Ländern ist diese Hoffnung auf ein friedvolles Europa ohne Waffen zerstört. Der Krieg findet an der direkten Grenze der EU statt. Die Sorge ist groß, dass auch Staaten innerhalb der Gemeinschaft wie etwa baltische Staaten mit beträchtlichen russischen Minderheiten in ihrer Sicherheit unmittelbar gefährdet sind. Die Mitgliedstaaten der EU müssen Antworten auf diese Bedrohung finden und klären, welche eigenen gemeinsamen Strukturen zur Verteidigung Europas in Ergänzung zu den Bemühungen innerhalb der NATO erforderlich sind. Die EU muss veränderte Prioritäten der USA bedenken Seit Beginn der europäischen Integration standen die Vereinigten Staaten von Amerika an der Seite der westeuropäischen und später auch der osteuropäischen Länder, welche die Europäische Union heute prägen. Politisch, wirtschaftlich und kulturell waren die Europäer und die USA stets enge Partner, die europäische Integration war ein besonde‐ res Anliegen der amerikanischen Politik. Die außenpolitische Schwerpunktsetzung der USA hat sich verändert. Asien rückte in den Fokus. Wirtschaftspolitisch ist für die USA der Handel mit den aufstrebenden Volkswirtschaften in Asien wichtiger geworden. Sicherheitspolitisch ist der Konflikt zwischen China auf der einen Seite und den USA <?page no="299"?> und dem Westen auf der anderen Seite das dominierende Thema in den USA. Europa ist aufgerufen, sich auf diese neue amerikanische Perspektive einzustellen. Neue Akteure werden die Weltordnung mitgestalten Große ökonomisch und politisch aufstrebende Länder wie China, Indien, Brasilien und Südafrika artikulieren mit Macht ihren Anspruch auf Mitsprache und Mitgestaltung der internationalen Ordnung (vgl. Münkler 2023). Die Welt, in der die USA - und an ihrer Seite Europa - die wesentlichen Aspekte der globalen Governance-Architektur bestimmen konnten, ist zu Ende. Die Länder, die dem Globalen Süden zugerechnet werden, treten mit neuem Selbstbewusstsein auf und sind nicht bereit, die Überlegen‐ heit des westlichen bzw. europäischen Gesellschaftsmodells als gegeben zu betrachten. Diese neue Realität muss im Auftreten der EU in der Welt Berücksichtigung finden. Europa muss seine Stellung in einer sich neu ordnenden Welt ausloten All dies bedeutet, dass die EU sich darauf besinnen muss, sich stärker als Akteur im weltweiten Ringen um die Weiterentwicklung der Regeln für Sicherheit und Wohlstand zu engagieren. Dies ist vor dem Hintergrund der Heterogenität der Ideale, der Sichtwei‐ sen und Vorstellungen von verantwortungsvoller Einflussnahme ein anspruchsvolles Unterfangen. Denken in Szenarien wichtig für Europa Die Geschichte der Union wurde und wird ganz wesentlich von schwer vorhersehbaren politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ereignissen, den Besonderheiten historischer Momente und dem Handeln von Personen geprägt. Auch in Zukunft wird dies so sein. Dies entbindet die Union, die Verantwortlichen in den Mitgliedstaaten, die Wissenschaft und die Zivilgesellschaft nicht von der Pflicht, über denkbare Entwick‐ lungspfade und Handlungsoptionen nachzudenken, Pläne für die Zukunft der Union zu entwickeln und Europa mit Weitsicht auf die Herausforderungen vorzubereiten. Die 2017 in einem Weißbuch zur Zukunft Europas vorgestellten fünf Szenarien für die Entwicklung der EU waren ein hilfreicher Versuch, die notwendige Diskussion über denkbare Entwicklungswege anzuregen (vgl. Europäische Kommission 2017). Vor dem Hintergrund der neuen geopolitischen Herausforderungen wäre ein abermaliger Versuch zur Strukturierung der Debatte lohnenswert. Die EU muss ihre zukünftige Rolle im Welthandel neu bestimmen Der Wohlstandsgewinn der letzten Jahrzehnte ist in großen Teilen Ergebnis der Globalisierung: des Abbaus von Zöllen und anderen Handelshemmnissen, der Öffnung der Grenzen für Investitionen und des grenzüberschreitenden Austauschs von intel‐ 13 Herausforderungen und Perspektiven der europäischen Integration 299 <?page no="300"?> lektuellen Eigentumsrechten. Die Einkommen sind in der Folge in weiten Teilen der Welt gestiegen. Der Trend der Öffnung der Grenzen ist einem Trend der Beschränkung gewichen. Die gegenwärtige Lage ist von industriepolitisch angeregten Subventionen, umweltpolitisch begründeten Beschränkungen und geopolitisch motivierten Eingrif‐ fen geprägt. Die Europäische Union muss auf diese neue Realität der Restriktionen Antworten finden. Die operative Umsetzung des von der EU-Kommission geforderten De-Risking ist schwierig und anspruchsvoll. Welche Eingriffe in die Marktfreiheit der Unternehmen sind sinnvoll? Sind in der tief arbeitsteiligen Struktur der Wertschöpfung Staaten oder die EU in der Lage, die Restriktionen oder Impulse zielgenau zu setzen? Oder ist dies ein Beispiel der von Hayek beschriebenen „Anmaßung des Wissens“ und bedeutet dies eine Überforderung der Staaten und der marktwirtschaftlichen Systeme? Wie sind Wettbewerb und politische Rivalität mit Staaten wie China gleichzeitig möglich? Welche neuen Regeln für Handel und Investitionen sind nötig, um Ordnung in diese neu entstehende Welt zu bringen? Die Zufriedenheit mit der europäischen Demokratie ist eine permanente Herausforderung für die Union Repräsentative Befragungen zur Zufriedenheit mit der Funktionsweise der europäi‐ schen Demokratie, mit der Arbeitsweise der Organe der Europäischen Union und dem Vertrauen in die Europäische Union insgesamt (vgl. Europäische Kommission 2024) zeigen, wie unterschiedlich die Wahrnehmungen in den Mitgliedsstaaten sind. Die Feststellung, ob man sich mit der Europäischen Union verbunden fühlt, wurde im Jahr 2023 von 59 Prozent der Befragten bestätigt. Die höchsten Werte wurden in Luxemburg (77 %) und Polen (76 %) gemessen. In der Tschechischen Republik lag der Wert nur bei 39 Prozent (vgl. Europäische Kommission 2024, S. 16). Der Durchschnittswert für die EU lag im Jahr 2017 bei 54 %. Deutschland stellt einen Ausnahmefall dar: Die Verbundenheit sank von 2017 bis 2023 von 67-Prozent auf 60-Prozent. Die Legitimation der EU ist keine Selbstverständlichkeit und muss immer wieder neu gesichert werden Die Akzeptanz des konkreten Handelns der EU, die Legitimation des Systems in den Augen der Bürger ist das Ergebnis einer Vielzahl von Faktoren. Die Unterscheidung von drei Dimensionen der Legitimation von politischen Systemen ist hilfreich. Akzeptanz und Verbundenheit eines politischen Systems wird gespeist aus der Input-Legitimation, d. h. der Wahrnehmung der Funktionsweise des Systems und dessen Anspruch, dass die politischen Entscheidungen die Präferenzen der Bürger reflektieren. Akzeptanz ist auch Ergebnis der Output-Legitimation, also der Frage, ob die Entscheidungen dem öffentlichen Interesse dienen und das System Probleme besser löst als politische Alternativen. Und schließlich spielt die Dimension der Prozess-Legitimation, die auf die Qualität der Entscheidungsprozesse und deren Transparenz abstellt, eine wichtige 300 13 Herausforderungen und Perspektiven der europäischen Integration <?page no="301"?> Rolle. Die EU ist gefordert, sich dem (gestiegenen) Bedarf ihrer demokratischen Legitimation zu stellen (vgl. von Ondarza 2023, S. 7-11). Bürger sind heute, so zeigen die Wahlergebnisse national und auf EU-Ebene, stärker bereit, das herrschende politische System zu hinterfragen. Innovationen wie etwa die „Konferenz zur Zukunft Europas“, welche Bürger eine neue Form der Mitsprache ermöglichte oder die Schaffung eines Transparenzregisters, welches die Einflussnahme auf Politik deutlich macht, können dazu beitragen, die Akzeptanz der EU zu stabilisieren und zu erhöhen. Die praktische ersetzt die emotionale Perspektive Für viele Europäer ist die EU ein emotional höchst bedeutsames Projekt. Dies war in den Nachkriegs- und Gründungsjahren der Union besonders wichtig. Diese Emotio‐ nalität erlebte eine Renaissance in den 90er-Jahren, als Länder Osteuropas Mitglied der EU wurden. Heute dominieren für viele Akteure praktische Erwägungen, die Mitgliedschaft ist mehr Ergebnis eines nüchternen Kosten-Nutzen-Kalküls. Damit steht die EU permanent unter Druck, die Vorteile der Integration für Bürger, gesellschaftliche Gruppen, Staaten und Regionen zu sichern und herauszustellen. Der Klimawandel fordert die EU in besonderer Weise Der Klimawandel stellt eine einzigartige Sicherheitsbedrohung für die Welt dar. Die Herausforderung, diesem Klimawandel zu begegnen, ist gewaltig und ohne Vorbild. Nationale oder regionale Lösungen sind wichtig und unabdingbar, und gleichzeitig sind sie nicht ausreichend. Der Anspruch der Europäischen Union, Vorreiter in der Bekämpfung des Klimawandels zu sein und die Machbarkeit von Lösungen aufzuzei‐ gen, wird von den Bürgern der EU überwiegend geteilt. Gleichzeitig muss es ein Anliegen der EU sein, andere Staaten zu gewinnen, gemeinsam den Kampf gegen den Klimawandel anzugehen. Mit einem Anteil von weniger als 10 Prozent an den globalen Treibhausemissionen muss die EU bedenken, dass nicht die Klimaneutralität der EU das eigentliche Ziel ist, sondern die weltweite Klimaneutralität. Die Instrumente zur Erreichung des Ziels auf Ebene der EU sind nicht die gleichen wie die zur Erreichung des Ziels auf globaler Ebene. Die Stabilisierung von Staaten in politischer und ökonomischer Hinsicht durch Integration ist wichtig Sechs Staaten haben die Europäische Gemeinschaft gegründet, im Jahr 2024 hat die Union - nach dem Austritt des Vereinigten Königreiches im Jahr 2020 - 27 Mitgliedstaaten. Mehrere Staaten in Osteuropa stehen ante portas: Beitrittsgespräche werden mit mehreren Ländern geführt, einige Länder sind Kandidatenländer, anderen Ländern wurden Verhandlungen zugesichert, sobald sie wirtschaftlich und politisch die Voraussetzungen erfüllen. Die Erweiterungsschritte der Vergangenheit folgten häufig 13 Herausforderungen und Perspektiven der europäischen Integration 301 <?page no="302"?> vor allem der Logik der Stabilisierung junger Demokratien und Volkswirtschaften. Dies kann retrospektiv überwiegend als gelungen und als Gewinn für Europa betrachtet werden. Gleichzeitig zeigt die Anfälligkeit der Demokratisierungsprozesse in vielen Ländern Osteuropas das Ausmaß der Herausforderung. Die Entwicklung demokrati‐ scher Systeme ist ein höchst komplexes Unterfangen, welches Jahrzehnte erfordert. Dieser Prozess kann von externer Seite nur begrenzt beeinflusst werden. Insbesondere die Entwicklung in Ungarn und die Beziehung Ungarns mit der EU machen deutlich, wie kompliziert die Einflussnahme auf nationale Prozesse sind. Vor dem Hintergrund der Erwartungen an die Entwicklung europäischer Staaten und der Notwendigkeit, bei wichtigen Entscheidungen Einstimmigkeit zu gewährleisten, ist es in den letzten Jahren zu konfrontativen Beziehungen gekommen. Die EU muss mit Klugheit und einem realistischen Verständnis der Langsamkeit der Entwicklung demokratischer Traditionen diesen Prozess begleiten. Die Erweiterung muss auch aus sicherheitspolitischer Perspektive gesehen werden Der Blick auf die Erweiterung muss neben der Frage, ob dies ökonomisch für die Länder und für die EU vorteilhaft ist, und ob diese Länder politisch auf einem guten Weg der Demokratisierung sind, auch die sicherheitspolitische Perspektive im Blick behalten. Das außenpolitische Handeln Russlands der letzten Jahre macht deutlich, wie sehr die Fragilität der Länder ausgenutzt werden kann, um antidemokratische Entwicklungen zu fördern. Die Integration von Ländern wie Albanien, Moldau, Montenegro und Her‐ zegowina, Nord-Mazedonien und Serbien in die EU muss auch aus dieser Perspektive beurteilt werden. Eine erneute Erweiterungsrunde erfordert neue Abstimmungsregeln im Rat der Europäischen Union In der Folge des Wachstums der Mitgliederzahl sind Meinungsbildungsprozesse in der Union komplexer geworden. Die konsensuale Gestaltung einer zukunftsorientierten Politik wurde schwieriger, die Vorstellungen von einer zukünftigen Union weichen heute stärker voneinander ab als dies in den 80er- oder 90er-Jahren der Fall war. Mehrheiten für wichtige Reformen sind häufig schwer zu organisieren. Auch mit Blick auf zukünftige Erweiterungen muss die Union daran arbeiten, die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit zu sichern. Eine Vertragsreform muss für dieses Problem eine angemessene Lösung finden. Europa der zwei Geschwindigkeiten Die Öffnung für neue Mitglieder kann vor dem Hintergrund der Heterogenität der ökonomischen und politischen Realitäten und auch der Erwartungen an die EU ein 302 13 Herausforderungen und Perspektiven der europäischen Integration <?page no="303"?> Vorgehen erfordern, welches den Neumitgliedern explizit die Option einräumt, den Prozess der Integration über einen längeren Zeitraum oder auch gemäß eigenen Vorstellungen zu realisieren. Das Schengen-Abkommen und die Eurozone sind die bekanntesten Beispiele für die Idee des Europas der zwei Geschwindigkeiten. Die stärkere Anwendung dieses Prinzips ist stets kontrovers diskutiert worden. Eine Neubewertung des Potenzials dieser Idee könnte einen Weg aufzeigen, die Erweiterung erfolgreich zu realisieren. Verschiedene Wege zur Integration - intergouvernemental oder föderal Ein föderales Europa und ein intergouvernementales Europa sind die beiden Eckpunkte des Kontinuums der Governance-Struktur der EU. Beide Prinzipien haben ihren Platz in der politischen Architektur der EU. Die für die Entwicklung der EU politisch verantwortlichen Akteure haben den Konsens in teilweise harten Verhandlungen errungen. Eine Änderung dieser Grundlagen kann nur in einer neuen Vertragsreform erfolgen. Versteckte Verschiebungen in diesem System der Entscheidung gefährden das Integrationsprojekt. Exekutivlastigkeit ist akzeptabel in der Krise, aber nicht als permanente Form der Steuerung Krisen sind typischerweise Phasen der Exekutive. Während der Schuldenkrise, der Corona-Krise und der Energie-Krise kam es innerhalb der EU zu einer Verschiebung der Verantwortlichkeiten zugunsten der Exekutive (vgl. von Ondarza 2023). Allerdings darf eine solche Exekutivlastigkeit nicht zum Dauerzustand werden und die Zukunft der EU bestimmen. Nur ein Europa, das gemeinsam von den EU-Organen, den nationalen Organen und der Zivilgesellschaft getragen wird, wird ein erfolgreiches Europa sein können. Institutionelle Reformen finden ständig statt Die Arbeits- und Funktionsweise der Organe der EU wurde in den großen Vertragsre‐ formen immer wieder angepasst. Sie wurden auch von Personen geprägt, denen es gelang, den Spielraum, den ein unfertiges politisches Projekt den Gestaltern ließ, zu nutzen. Auch in Zukunft werden die Institutionen der Union dem Wandel unterliegen. Die Union ist gefordert, jede einzelne Institution und das Gesamtgefüge den Erforder‐ nissen der Zeit anzupassen, und dabei die Handlungsstärke der einzelnen Institutionen und der Union als Ganzes im Blick zu behalten. Die Vorstellungen von der Weiterent‐ wicklung unterscheiden sich erheblich und werden von dem Demokratieverständnis, von nationalen Rechtstraditionen, von den Erfahrungen mit der Leistungsfähigkeit staatlicher Institutionen, von dem Vertrauen in die Verantwortung der politischen Elite geprägt. Kleine Länder blicken anders auf Europa als große, Menschen in 13 Herausforderungen und Perspektiven der europäischen Integration 303 <?page no="304"?> wohl etablierten Demokratien sehen Europa anders als Menschen in jungen fragilen Staatswesen. Eine neue Vertragskonferenz, so kompliziert und herausfordernd sie auch ist, ist notwendig. Die Wirtschafts- und Währungsunion erfordert Abstimmung Die weitere Ausgestaltung des Binnenmarktes und der Wirtschafts- und Währungs‐ politik fordert die Union in besondere Weise. Die nationalen Egoismen und nationalen politischen Impulse gefährden immer wieder die Realisierung eines echten Binnen‐ marktes und die Stabilität der Wirtschaftsunion. Es besteht die Gefahr, dass nationale wirtschaftspolitische Entscheidungen die ökonomische Logik der Wirtschafts- und Währungsunion missachten. Der Währungsunion ist der Zwang zur Konvergenz der wirtschaftlichen Entwicklung systemimmanent. Die Eurokrise hat die Verwundbarkeit der EU bei Missachtung dieser Logik gezeigt. Vor dem Hintergrund der größer wer‐ denden Eurozone und der wachsenden Schuldenstände bei zahlreichen Mitgliedern der Wirtschafts- und Währungsunion muss die Union die Mechanismen der Abstimmung weiterentwickeln. Fiskalregeln sind in einer Währungsunion unerlässlich Es ist nicht möglich, eine einheitliche Währung zu haben, ohne dass wirtschaftlich eng zusammengearbeitet wird. Hohe öffentliche Finanzierungsdefizite und in der Folge zunehmende Schuldenquoten in einzelnen Mitgliedsländern können die Stabilität der Wirtschafts- und Währungsunion gefährden. Die europäischen Fiskalregeln zielen darauf ab, die Sicherung solider Staatsfinanzen zu gewährleisten und die Schuldentrag‐ fähigkeit sicherzustellen. Schuldenbegrenzende Fiskalregeln tragen zur Vertrauensbil‐ dung der Wirtschaftsakteure bei und stellen kein Hindernis einer zukunftsgerichteten Aufgabenwahrnehmung in der Europäischen Union dar. Die Wirksamkeit des moder‐ nisierten fiskalischen Regelwerks der Europäischen Union bleibt abzuwarten. Flüchtlingsproblematik bleibt für die EU eine Herausforderung Die große Zahl der Flüchtlinge, die in Europa ein neues Leben beginnen wollen, stellt die EU vor eine große Herausforderung. Wieviel Flüchtlinge muss und kann die EU aufnehmen, wie sind die Flüchtlinge innerhalb der Union zu verteilen? Wie kann die Integration gelingen? Die Debatte über die Verantwortung Europas, die Werte, für die Europa stehen möchte, und über Potenzial und Grenzen der Aufnahmefähigkeit wird die EU auch in den kommenden Jahren beschäftigen. Dabei gilt es, den Konflikt zwischen jenen, die engere Grenzen für die Aufnahmefähigkeit sehen und jenen, die aufgrund einer anderen Einschätzung der Möglichkeiten und auch der moralischen Vorstellungen weitere Grenzen ziehen, zu lösen. 304 13 Herausforderungen und Perspektiven der europäischen Integration <?page no="305"?> Die soziale Dimension der Wirtschaft in Europa ist von großer Bedeutung Die Angleichung der Lebensverhältnisse bleibt ein wichtiges Anliegen für die Bürger Europas. In der Kohäsionspolitik wird dies vor allem im Sinne regionaler Disparitäten interpretiert. Die Disparität manifestiert sich aber auch innerhalb der Gesellschaften in wachsender Einkommens- und Vermögensungleichheit, in den unterschiedlichen Chancen, die den Einzelnen gewährt werden. In der Union muss die soziale Durchläs‐ sigkeit Teil der sozialen und wirtschaftlichen Realität sein. Die soziale Dimension der europäischen Marktwirtschaft muss in der Debatte über die Zukunft der EU eine wichtige Rolle spielen. Die EU hat nur ein begrenztes Mandat für sozialpolitische Fragen Gemäß Artikel 4 des AEUV hat die EU geteilte Zuständigkeit für Sozialpolitik hinsicht‐ lich der im Lissabon-Vertrag genannten Aspekte. Z. B. wird in Art. 153 AEUV genannt, dass die EU die Mitgliedstaaten bei Fragen der sozialen Sicherheit, dem Schutz der Ar‐ beitnehmer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses oder der Chancengleichheit von Männern und Frauen unterstützt. Während der Corona-Krise betrat die EU mit SURE, einem Instrument zur Stabilisierung der Sozialsysteme der Mitgliedstaaten, Neuland. Gleichzeitig wurde angesichts der Heterogenität der Sozialsysteme im Vertrag von Lissabon der EU keine starke Rolle zugewiesen. Die Architektur der Sozialsysteme und die Erwartungen der Menschen sind tief verwurzelt in der Ökonomie und der Kultur der Länder. Am Beispiel der europäischen Arbeitslosenversicherung kann gezeigt werden, wie komplex eine Supranationalisierung der Systeme ist. Die EU muss klären, in welchem Ausmaß eine Europäisierung wirklich Vorteile bringt. Das Subsidiaritätsprinzip muss beachtet werden Das Subsidiaritätsgebot findet sich an prominenter Stelle im Lissabon-Vertrag. Die EU darf nicht alles machen. Jenseits wichtiger abstrakter Argumente für bessere Lösungen auf der höheren oder der niedrigeren Ebene oder der Existenz externer Effekte müssen Menschen in Europa das Gefühl bewahren, ihr Schicksal selbst gestalten zu können (vgl. Schmidt 2000, S.-143-144). Die EU muss sich auch zurücknehmen können. Europäische Werte und Kultur sind wichtig für Bürger der EU Die EU sieht sich zentralen ökonomischen Herausforderungen gegenüber. Diese sind zweifellos wichtig für die Zukunft Europas. Sie sind aber immer nur ein Ausschnitt der gesellschaftlichen Realität: Europa ist auch ein gemeinsamer kultureller Raum, Europa versteht sich als Ort demokratischer Teilhabe, Europa will ein Bündnis der Solidarität und sozialer Gerechtigkeit sein. Die Präambel des Lissabon-Vertrages betont das umfassende Selbstverständnis hinsichtlich der Identität Europas. In Umfragen wird diese Multidimensionalität des Blicks auf die EU deutlich. Im Eurobarometer 2023 13 Herausforderungen und Perspektiven der europäischen Integration 305 <?page no="306"?> wurden Teilnehmer an der Umfrage gebeten, Punkte anzugeben, die am stärksten ein Gemeinschaftsgefühl erzeugen. Die häufigsten Antworten waren „Werte“, „Wirtschaft“ und „Kultur“. Die EU muss diese Perspektive der Bürger im Blick behalten (vgl. Europäische Kommission 2024, S.-29). Diskussionen über die Zukunft Europas sind positiv zu bewerten: Das Pro und Contra trägt zur Klärung bei und ist nicht als Zeichen von Spaltung der Gesellschaft zu interpretieren Die heutige Europäische Union, entstanden als Ergebnis historischer Prozesse und unzähliger Kompromisse, ist ein einzigartiges institutionelles Gebilde, welches genutzt werden kann, um den Herausforderungen der Zeit zu begegnen. Die Union ist nicht fertig, sie ist ständig im Werden. Man wird nie von dem finalen Ergebnis der Einigung sprechen können. Die politischen Handlungskapazitäten müssen fortlaufend den realen Herausforderungen nachwachsen (vgl. Habermas 2011, S. 104). Dazu bedarf es der steten Offenheit für neue Lösungen, der Reflexion geeigneter Wege, der offenen gesellschaftlichen Debatte, manchmal auch der Rücknahme früherer Entscheidungen. Vorschläge für weitere institutionelle Reformen und für neue Wege sind ebenso wie skeptische Einwände oder Kritik an bestehenden oder empfohlenen Lösungen im Sinne der Suche nach besten Lösungen positiv zu sehen. Mehr Europa in manchen Bereichen ist genauso wie weniger Europa in anderen Bereichen eine denkbare Antwort auf die Herausforderungen der Zeit. Die EU muss die Politik, die Zivilgesellschaft, die Medien und die Wissenschaft ermutigen, zu dieser Suche nach dem richtigen Weg beizutragen. ➲ Wichtige Begriffe Sicherheit in Europa, Zufriedenheit mit europäischer Demokratie, institutionelle Re‐ formen, soziale Dimension in Europa ➲ Literatur Europäische Kommission (2017): Weißbuch zur Zukunft Europas - Die EU der 27 im Jahr 2025 - Überlegungen und Szenarien, Brüssel Europäische Kommission (2024): Die europäische Bürgergesellschaft - Eurobarometer - Bericht Oktober-November 2023, Brüssel Habermas, Jürgen (2011): Zur Verfassung Europas - Ein Essay, Berlin, edition suhrkamp Münkler, Herfried (2023): Welt in Aufruhr - Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert, Berlin, rowohlt Verlag Schmidt, Helmut (2000): Die Selbstbehauptung Europas - Perspektiven für das 21. Jahrhundert, Stuttgart/ München, Deutsche Verlags-Anstalt 306 13 Herausforderungen und Perspektiven der europäischen Integration <?page no="307"?> von Ondarza, Nikolai (2023): Die Krisengovernance der Europäischen Union - Mehr Verant‐ wortung braucht mehr demokratische Legitimation, SWP-Studie, Berlin ➲ Literatur 307 <?page no="309"?> Register Abschöpfungen-184 absolute Kostenvorteile-152 Acquis Communautaire-52, 71 Acquis-Kriterium-35 Agglomerationskräfte-203 Allmendeproblematik-79 Ankerunternehmen-202 Anmaßung des Wissens-300 anpassungsfähiger Wechselkurs-239 Anreizprobleme-266 Arbeitnehmerfreizügigkeit-116 Arbeitslosenquote-196 Architektur der Wirtschaftsunion-291 Asset-Purchase-Programme (APP)-271 ausschließliche Zuständigkeit-53, 162 Ausschuss der Regionen-69 Außen- und Sicherheitspolitik (GASP)-33 Bandbreite-241 Bankenaufsicht-290 Bankenunion-266f. Basler Abkommen-241 Beihilfekontrolle-141 Berufsqualifikationen-114 Beschlüsse-52 Bestimmungslandprinzip-107 bilaterale Zusammenarbeit-164 Binnenmarkt-96 Biodiversität-224 Brain Drain-116 Branchenkonzentration-136 Bretton-Woods-System-236, 240 Brexit-40 Budgetrecht-73 Bürokratiekosten-100 Cap-and-Trade-System-227 Carbon Leakage-216 Cassis-de-Dijon-Urteil-108 Cecchini-Report-97 Chicago School-127f. Churchill, Winston-22 Clubtheorie-34 Cluster-202 Common-pool-Problem-79 Corporate-Governance-Systeme-32 Corporate-Sustainability-Reporting-Richtlinie 229 Decoupling-43 Defizitquote-248 De-growth-219 De-Risking-166 Devisenangebot-237 Devisengeschäfte-252 Dienstleistungsverkehr-103, 110 Direktzahlungen-189 Diversifikation-245 drittstaatliche Subventionen-142 Dynamische Effekte-101 ECU (European Currency Unit)-243 EGKS-25 Eigenkapitalausstattung-290 Eigenmittel-79 Einkommenselastizität-178 Emissionshandel-227 Energieeffizienz-223 Erweiterung-28 EU Emission Trading System (EU ETS)-227 EURATOM-24 Euro-249, 261 Euro, Außenwert-260 Euro, digitaler-273 Euro, Einführung-258 Euro, Krise-40 Euro, Währungsgebiet-262 Europa à la carte-31 Europa der zwei Geschwindigkeiten-302 <?page no="310"?> Europäische Akte-30, 97 europäische Einigung-33 Europäische Föderation-20 Europäische Freihandelsassoziation (EFTA)-27 Europäische Freihandelszone (EFTA)-169 Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS)-23 Europäische Kommission-66 Europäischer Gerichtshof-67f. europäischer Grüner Deal-222 europäischer Mehrwert-83 Europäischer Rat-58f. Europäischer Rechnungshof-68 Europäischer Wirtschaftsraum (EWR)-156, 169 Europäisches Parlament-55, 57 Europäisches Semester-280 Europäisches Währungsinstitut-247 Europäische Zentralbank (EZB)-69, 251 EU-Steuer-81 EU-Taxonomie-229 Evaluation-209 EWG-24 Exekutivlastigkeit-303 Exporterstattungen-185 Externalitäten-83, 180 Faktorproportionen-Theorem-152, 160 Feinsteuerungsoperationen-253 Finalität-45 Finanzarchitektur-290 Finanzderivaten-266 Finanzinnovationen-266 Finanzrahmen, mehrjährig-82 fiskalische Konvergenzkriterien-248 fiskalischer Föderalismus-221 Fiskalregeln-304 Fiskaltransfer-246 Flüchtlingsproblematik-304 Föderalismus-25, 204, 221 Förderprinzipien-208 Fortschrittsbericht-286 Forward Guidance-272 Fragilität der Länder-302 Freiburger Schule-127 Freihandel-96 Freihandelsabkommen-168 Freiheiten, vier-102 Friedensnobelpreis-18 Friedenssicherung-44 funktionsfähiger Wettbewerb-127 Fusionskontrolle-138 Geldpolitik-252, 267 Gemeinsame Agrarpolitik (GAP)-176 Gemeinsamer Markt-24 General Agreement on Tariffs and Trade (GATT)-21, 163 generelle Reziprozität-203 Gerechtigkeit, soziale-305 Gesetzgebungsverfahren-65 Gini-Index-197 Golddeckung-241 Google-138 Governance-257 Governance-Architektur, globale-299 Gradualismus-45 Gravitationsmodelle-153 Greening-189 Grenzausgleichssystem-218 Grenzkontrollen-38 Grünbücher-97 Güter, digitale-144 Handelsabkommen-162 Handelskonflikte-163 Handelspolitik-152, 162, 166 Handelsschaffung-99, 164 Handelsumlenkung-99f., 164 Hauptrefinanzierungsgeschäfte-253 Haushaltsplan-73f., 76 Haushaltspolitik-283 Herfindahl-Hirschman-Index-136 310 Register <?page no="311"?> Homogene Präferenzen-246 Hüterin der Verträge-103 Immobilienblasen-289 Immobilienboom-263 Industriepolitik-146 Inflationssteuerung-267 Informationsasymmetrie-219, 263 Inkrementalismus-45 innergemeinschaftlicher Handel-177 Input-Legitimation-300 Institutionenqualität-210 Integrationsschritte-97 intelligente Mobilität-224 Interessengruppen-70 intergouvernementalen Zusammenarbeit-26 Intergouvernementalismus-25 Internetökonomie-144 inter-regionale Liberalisierung-162 Interventionen-237 intraindustrielles Handeln-153 Juste-retour-Mentalität-88 Just Transition Fonds-207 Kalter Krieg-19 Kandidatenländer-301 Kapitalbilanz-158 Kapitalexport-159 Kapitalverkehr-103 Kapitalverkehrsfreiheit-118 Kartelle-134 Klimaabkommen-226 Klima-Club-218 Klimakonferenzen-220 Klimaneutralität-39, 222 Klimaschutz-188 Klimawandel-43 Kohäsion-198 Kohäsionsfonds-208 Kohle- und Stahlindustrie-23 komparative Kostenvorteile-152, 198 Konsens-163 Konsumentenrente-99 Konsumentenwohlfahrt-128 Konvent zur Zukunft der Europäischen Union-36 Konvergenz-194 Konvergenz, Konzepte-198 Konvergenz, Zwang-304 Konzentrationsrate-136 Kopenhagen-Kriterien-35 Koreakrieg-22 Kreislaufwirtschaft-223 Kronzeugenregelung-135f. Kurssicherungskosten-240 Legitimation der EU-300 Leistungsbilanz-158 Leistungsbilanz, Saldo-159, 262 Leistungsbilanz, Überschuss-159f. Leitbilder der Wettbewerbspolitik-127 Leitwährung-241 Lender of Last Resort-274 level playing field-165 Liberalisierung-143, 151 Lissabon-Strategie-36 Maastricht-Vertrag-33 makroökonomisches Ungleichgewicht-289 Marktbeherrschung-136, 138 Märkte, Öffnung-131f. Marktstabilisierung-179 Marktversagen-177 Marktwirtschaft-124 Marshall-Plan-21 Mehrebenenpolitik-204 Mehrheitsentscheidungen-45 Mehrheitswahl-61 Mehrwertsteuer-Eigenmittel-80 Meistbegünstigung-163 Menschenrechte-168 Merkantilismus-19 Mindestreservepflicht-253 Register 311 <?page no="312"?> Monnet, Jean-22 Monopol-125 Monopol, natürliches-143 multilaterale Handelsliberalisierung-162, 166 Multiplikatoreffekt-210 Nachhaltigkeit-171 NATO-298 Nettoempfängerländer-86 Nettoposition-86 Nettozahlerländer-86 Netzwerkeffekte-144 Netzwerkexternalitäten-144 NextGenerationEU-42 Nichtdiskriminierung-163 Nicht-Rivalitäts-Prinzip-217 Niederlassungsfreiheit-111 Offenmarktgeschäfte-253 öffentliche Güter-216 öffentliche Unternehmen-132 OMT-Programm-270 Opportunitätskosten-152 optimale Allokation-116 optimaler Währungsraum-246 ordentliche Gesetzgebungsverfahren-65 Ordnungspolitik-198 Ordoliberalismus-127, 130 Output-Legitimation-300 Paradigma der Wettbewerbspolitik-130 Paritäten-241, 243 Personenverkehr-114 Phillipskurve-242 Plurilaterale Kooperation-164 Politische Gemeinschaft-24 Polypol-125 positive Skalenerträge-101 Präferenzsystem-170 präventive Komponente-285 Preisstabilität-252, 259 Prozess-Legitimation-300 qualifizierte Mehrheit-63 Quorum-61 Rat der Europäischen Union-59, 63 Rat der Europäischen Zentralbank-254 Rating-264 Rechte des geistigen Eigentums (TRIPS)-163 Refinanzierungsgeschäfte-253 Regionale Integration-164 Re-Nationalisierung-181 resiliente Finanzsysteme-280 Resilienz-161 Ressourcenverbrauch-219 Revealed Comparative Advantage-160 Reziprozität-163 Richtlinie-52 Rotationsverfahren-258 Rotterdam-Antwerpen-Effekt-87 Schengen-Abkommen-30, 115 Schuldenkrise-39 Schuldenstandsquote-248 Schuldentragfähigkeitsanalyse-286 Schuman, Robert-23 Selbstverpflichtungen-226 Six-Pack-Verordnung-283 Skaleneffekte-152 Solidarität-246 soziale Dimension-305 Soziale Marktwirtschaft-130 Sozialkapital-203 Spielarten der Marktwirtschaft-32 staatliche Beihilfen-131 Staatsschuldenquoten-285 Staatsverschuldung-39, 283 Stabilisierungsfunktion-291 Stabilitätskultur-289 Stabilitäts- und Wachstumspakt-278, 285 ständige Fazilitäten-253 statische Effekte-99 Steuergestaltung-119 Steuerhinterziehung-119 312 Register <?page no="313"?> Steuersysteme-106 strategische Autonomie-171 Streitschlichtungsverfahren-163, 167 Streuungskräfte-203 Sub-prime-Krise-263 Subsidiarität-53 Subsidiaritätsprinzip-305 Subventionen-165 sui generis-26 Szenarien-45, 299 Taylor-Regel-270 Tenderverfahren-255 Transaktionswährung-261 Transparenz-163 Treibhausgasemissionen-216 Trilemma-244 Trittbrettfahrerverhalten-216 Two-Pack-Verordnungen-283 Überwachung-288 unilaterale Liberalisierung-162 Unilaterale Liberalisierung-165 Unionsrecht-52 Unionsverträge-50 Ursprungslandprinzip-108 Verordnung-51 Verschmutzungsrechte-228 Verteidigung der Freiheit-298 Vertiefung der Zusammenarbeit-29, 45 Vertragskonferenz-304 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union-51 Vertrag von Lissabon-50 Vertrag von Rom-24 vier Freiheiten-30 vollständige Konkurrenz-127 vom Hof auf den Tisch-224 Wachstumsmodell-28, 216 Währungsfonds-241 Währungsgeschichte-236 Währungsräume, optimale-245 Währungsreserven-252 Währungsunion-236, 277 Währungszusammenarbeit-236 Warenverkehr-104 Wechselkurs-236 Wechselkursmechanismus II-257 Wechselkurspolitik-257 Wechselkursstabilität-244 Weißbücher-97 Weltordnung-20 Werner-Plan-29, 241 Wertpapierankaufprogramme-270 Wettbewerbsbeschränkungen-133 Wettbewerbspolitik-124 Wettbewerbspolitik, neue-130 Wettbewerbsrecht-131 Wirtschaftsgeografie, neue-202f. Wirtschafts- und Sozialausschuss-69 Wirtschaftsunion-277 Wissensexternalitäten-153 Wohlfahrtseffekt-105 World Trade Organization (WTO)-163 X-Ineffizienz-102, 128 Zahlungsbilanz-158 Zertifikatlösungen-217 Zollunion-99, 104 Zwei-Säulen-Strategie-253 Register 313 <?page no="314"?> Europäische Integration 4. A. Adam | Mayer Hans Adam | Peter Mayer Europäische Integration 4. Auflage Geht auf aktuelle Herausforderungen ein Der Europäische Binnenmarkt ist der größte der Welt. Das Wissen um die Europäische Integration ist deswegen für Studierende elementar. Hans Adam und Peter Mayer skizzieren die Geschichte des europäischen Einigungsprozesses und stellen die institutionelle Struktur der EU vor. Die zentralen europäischen Politikfelder analysieren sie jeweils in Theorie und Praxis. Auf die aktuellen Herausforderungen, die sich aus dem ökologischen Wandel, der wirtschaftlich-technologischen Transformation und den geopolitischen Unsicherheiten ergeben, gehen sie ein. Jedes Kapitel zeichnet sich durch Lernziele, eLearning und Zusammenfassungen aus. Das Lehrbuch richtet sich an Studierende der Volks- und Betriebswirtschaftslehre. Auch für Studierende der Sozial- und der Politischen Wissenschaften ist die Lektüre des Buches empfehlenswert. utb+ Das Lehrwerk mit dem digitalen Plus Wirtschaftswissenschaften Politikwissenschaft ISBN 978-3-8252-6249-5 Dies ist ein utb-Band aus dem UVK Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehr- und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem T itel mit eLearning- Kurs 2025-03-05_6249-5_Adam_Mayer_L_4110_PRINT.indd Alle Seiten 2025-03-05_6249-5_Adam_Mayer_L_4110_PRINT.indd Alle Seiten 05.03.25 13: 18 05.03.25 13: 18
